Hermann Samuel Reimarus (1694–1768): Natürliche Religion und Popularphilosophie 9783110726558, 9783110652130

This volume is the first to provide an overview of the works of the philologist, philosopher, and bible critic H. S. Rei

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German Pages 429 [430] Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Zur Einleitung: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768)
1 Logik und Erkenntnislehre
»Natürliche Weltweisheit«
Reimarus’ Vernunftlehre
Vom vernünftigen Zweifel
Über die Bedeutung des Begriffs der »gesunden Vernunft« in Reimarus’ Schriften
Reimarus über Zeugnisglauben
2 Bibelkritik und Rationaltheologie
Zeugenschaft und Historizität
Die Zerstörung des Christentums durch kritische Philologie
»Wir sind nicht geboren, Atheisten zu seyn«
Reimarus über den Nutzen der Religion
»Die besonderen Absichten Gottes im Thierreiche«
3 Naturphilosophie und Anthropologie
Zum Unendlichkeitsbegriff bei Hermann Samuel Reimarus
Kein Freund von Epikur?
Von den Trieben und der Lebensart der Tiere
Reimarus und die Debatte über die Bestimmung des Menschen
»Wir wohnen in einer großen Stadt Gottes«
4 Anhang
Zeittafel
Siglenverzeichnis
Bibliografie
Personenregister
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Hermann Samuel Reimarus (1694–1768): Natürliche Religion und Popularphilosophie
 9783110726558, 9783110652130

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Hermann Samuel Reimarus (1694–1768)

Werkprofile

Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Frank Grunert, Stefan Klingner, Udo Roth und Gideon Stiening Wissenschaftlicher Beirat: Wiep van Bunge, Knud Haakonssen, Marion Heinz, Martin Mulsow, Stefanie Buchenau und John Zammito

Band 18

Hermann Samuel Reimarus (1694–1768)

Natürliche Religion und Popularphilosophie Herausgegeben von Dieter Hüning und Stefan Klingner

ISBN 978-3-11-065213-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-072655-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-072708-1 ISSN 2199-4811 Library of Congress Control Number: 2021949854 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Hermann Samuel Reimarus Kupferstich von unbekanntem Künstler Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Signatur P 23 : R 21

Inhalt Dieter Hüning, Stefan Klingner  Zur Einleitung: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) Natürliche Religion und Popularphilosophie  | 1

1 Logik und Erkenntnislehre  Frank Grunert  »Natürliche Weltweisheit« Ein Element von Reimarusʼ Vernunftlehre in der Beziehung zu ihren Vorläufern  | 19 Marion Heinz  Reimarus’ Vernunftlehre Untersuchungen zur Grundlegung der Logik und zur Theorie des Begriffs  | 37 Giuseppe Motta  Vom vernünftigen Zweifel Die Wahrscheinlichkeitslehre von Hermann Samuel Reimarus  | 69 Sebastian Abel  Über die Bedeutung des Begriffs der »gesunden Vernunft« in Reimarus’ Schriften | 87 Achim Vesper  Reimarus über Zeugnisglauben | 103

2 Bibelkritik und Rationaltheologie  Holger Glinka  Zeugenschaft und Historizität Elemente einer kritischen Hermeneutik nach Hermann Samuel Reimarus  | 123 Wilhelm Schmidt-Biggemann  Die Zerstörung des Christentums durch kritische Philologie Reimarus’ Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes  | 177

VIII | Inhalt

Dieter Hüning  »Wir sind nicht geboren, Atheisten zu seyn« Reimarus’ Kritik am moralischen Nihilismus La Mettries in den Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion  | 195 Stefan Klingner  Reimarus über den Nutzen der Religion | 223 Gideon Stiening  »Die besonderen Absichten Gottes im Thierreiche« Theologie und Metaphysik in Reimarusʼ Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere  | 243

3 Naturphilosophie und Anthropologie  Mischa von Perger  Zum Unendlichkeitsbegriff bei Hermann Samuel Reimarus | 271 Andree Hahmann  Kein Freund von Epikur? Reimarus über spontane Erzeugung und natürliche Teleologie  | 293 Udo Roth  Von den Trieben und der Lebensart der Tiere Zum naturgeschichtlichen Kontext in Reimarus’ Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere  | 317 Stefanie Buchenau  Reimarus und die Debatte über die Bestimmung des Menschen | 335 Hans-Peter Nowitzki  »Wir wohnen in einer großen Stadt Gottes« Reimarus’ Anthropologie  | 353

Inhalt | IX

4 Anhang  Zeittafel | 387 Siglenverzeichnis | 391 Bibliografie | 393 Personenregister | 415

Dieter Hüning, Stefan Klingner

Zur Einleitung: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) Natürliche Religion und Popularphilosophie

1 Zwischen Frömmigkeit und Gotteslästerung – Reimarus im Spiegel seiner Zeitgenossen In seiner abschließenden Abwägung verschiedener Gottesbeweise, die er in der letzten »Abtheilung« seiner 1763 erschienenen Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes unternimmt, hebt Immanuel Kant trotz der ›logischen Genauigkeit und Vollständigkeit‹ seines eigenen ›ontologischen‹ Beweises die besondere Bekömmlichkeit des ›kosmologischen‹ Beweises hervor: [D]a es ohne Zweifel von mehr Erheblichkeit ist, den Menschen mit hohen Empfindungen, die fruchtbar an edler Thätigkeit sind, zu beleben, indem man zugleich den gesunden Verstand überzeugt, als mit sorgfältig abgewogenen Vernunftschlüssen zu unterweisen, dadurch daß der feinern Speculation ein Gnüge gethan wird, so ist, wenn man aufrichtig verfahren will, dem bekannten kosmologischen Beweise der Vorzug der allgemeinern Nutzbarkeit nicht abzusprechen. Es ist demnach kein schmeichlerischer Kunstgriff, der um fremden Beifall buhlt, sondern Aufrichtigkeit, wenn ich einer solchen Ausführung der wichtigen Erkenntniß von Gott und seinen Eigenschaften, als Reimarus in seinem Buche von der natürlichen Religion liefert, den Vorzug der Nutzbarkeit gerne einräume über einen jeden andern Beweis, in welchem mehr auf logische Schärfe gesehen worden, und über den meinigen. Denn ohne den Werth dieser und anderer Schriften dieses Mannes in Erwägung zu ziehen, der hauptsächlich in einem ungekünstelten Gebrauche einer gesunden und schönen Vernunft besteht, so haben dergleichen Gründe wirklich eine große Beweiskraft und erregen mehr Anschauung als die logisch abgezogene Begriffe.1

Dass Kant hier ausgerechnet auf das ›Buch von der natürlichen Religion‹ von Hermann Samuel Reimarus verweist, ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (wenigstens im deutschsprachigen Raum) weder sonderlich originell, noch ist es bloß die Überzeugung des noch ›vorkritischen‹ Königsberger Privatdozenten.2 Auch

|| 1 Immanuel Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. In: AA II, S. 63–163, hier S. 161. 2 Im selben Jahr empfiehlt Kant übrigens an anderer Stelle auch ausdrücklich »die Logik des Reimarus«, um sich über Beweise für die oft »unbemerkte«, aber »bewunderungswürdige Geschäfhttps://doi.org/10.1515/9783110726558-001

2 | Dieter Hüning, Stefan Klingner

knapp dreißig Jahre später findet sich ein ganz ähnlicher Gedanke mit einem fast identischen Verweis auf Reimarus wieder – und zwar in der »Allgemeinen Anmerkung zur Teleologie«, mit der Kant seine dritte Kritik beschließt und in der er wie 1763 seinen zuvor dargestellten Gottesbeweis – der hier nicht mehr der ontologische, sondern ein ›moralischer‹ ist – an anderen, etwa an dem früher ›kosmologisch‹ genannten Beweis, misst: D[as] aus der physischen Teleologie genommene Argument ist verehrungswerth. Es thut gleiche Wirkung zur Überzeugung auf den gemeinen Verstand, als auf den subtilsten Denker; und ein Reimarus in seinem noch nicht übertroffenen Werke, worin er diesen Beweisgrund mit der ihm eigenen Gründlichkeit und Klarheit weitläuftig ausführt, hat sich dadurch ein unsterbliches Verdienst erworben.3

Dass mit dem ›noch nicht übertroffenen Werk eines Reimarus‹ hier wieder dessen ›Buch von der natürlichen Religion‹ gemeint ist, steht außer Frage. Und tatsächlich gibt es im 18. Jahrhundert wohl kein deutschsprachiges Buch physikotheologischen Inhalts, das in puncto Umfang, Kenntnisreichtum und Eloquenz an die 1754 erstmals erschienenen Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion heranreicht.4 Entsprechend drückt nicht nur Kant in seiner kleinen Schrift zur Rationaltheologie und deren naturphilosophischer Relevanz seine Wertschätzung aus, auch etwa Moses Mendelssohn lobt die ›Fasslichkeit‹ der Vornehmsten Wahrheiten und empfiehlt sie »jedem Liebhaber der Wahrheit«.5 Besondere Anerkennung erfuhren sie außerdem von theologischer Seite, vor allem aufgrund der ihnen zugesprochenen apologetischen Überzeugungskraft gegenüber ›Atheisten‹, ›Freidenkern‹ und (die Vorsehung leugnenden) ›Deisten‹.6 || tigkeit […] in den Tiefen unsres Geistes« zu informieren (Immanuel Kant: Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen. In: AA II, S. 165–204, hier S. 191). 3 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: AA V, S. 165–486, hier S. 476f. 4 Vgl. auch Günter Gawlick: Einleitung. In: Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (Gesammelte Schriften). 2 Bde. Hg. von Günter Gawlick unter Mitarbeit von Michael Emsbach und Winfried Schröder. Göttingen 1985, S. 9–50, hier S. 14–16 und S. 26. Vgl. zur deutschen Physikotheologie Henrik Petersen: B. H. Brockes, J. A. Fabricius, H. S. Reimarus – Physikotheologie im Norddeutschland des 18. Jahrhunderts zwischen theologischer Erbauung und Wissensvermittlung. Kiel 2009, zu Reimarus’ besonderer Stellung in ihr bes. S. 46–51. 5 Moses Mendelssohn: Briefe, die neueste Litteratur betreffend. 8. Theil. Berlin 1762, 130. Brief, S. 233. Zudem verweist er im Phädon ausdrücklich auf Reimarus’ Argumente für die Unsterblichkeit der Seele. Vgl. Gawlick: Einleitung (s. Anm. 4), S. 42. Vgl. für etliche Beispiele für die schulphilosophische Rezeption der Vornehmsten Wahrheiten bis in die 1790er Jahre ebd., S. 46–48. 6 Beispiele sind Christian Wilhelm Friedrich Walch: Compendium historiae ecclesiasticae recentissimae. Gotha 1757, § LXI, hier S. 195, Johann Anton Trinius: Freydenker-Lexicon oder Einleitung in die Geschichte der neuern Freygeister, ihrer Schriften und deren Widerlegungen. Leipzig 1759, S. 360 (unter den ›Widerlegungen‹ La Mettries) und S. 439f. (unter den ›Widerlegungen‹ Spinozas), oder Gottfried Leß: Wahrheit der Christlichen Religion. Schaffhausen 21773, S. 36 (gegen Rousseau). Vgl. auch Gawlick: Einleitung (s. Anm. 4), S. 43f. Vgl. zur positiven Rezeption durch die

Zur Einleitung: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) | 3

Etwa zur gleichen Zeit, in der sich Kant erstmals so begeistert von Reimarus’ ›Buch von der natürlichen Religion‹ zeigt, wird der Altonaer Deist Georg Schade auf die Insel Christiansø nahe Bornholm verbannt, nachdem seine 1760 zwar anonym publizierte, aber bereits kurz darauf auf ihn zurückgeführte Schrift Die unwandelbare und ewige Religion öffentlich in Hamburg verbrannt wurde.7 Relevant ist dieser Umstand hier insofern, als Schade ein Bekannter Reimarus’ war und dieser die Reaktionen der Behörden auf Schades Veröffentlichung seiner theologischen Überlegungen genau verfolgte.8 Sie dürften dann auch ein wichtiger Grund dafür gewesen sein, dass Reimarus die Veröffentlichung eines nicht unerheblichen Teils seiner eigenen theologischen, nicht in den Vornehmsten Wahrheiten präsentierten Überlegungen immer wieder aufschob, so dass sie auch erst nach seinem Ableben ins Visier der Orthodoxie geraten konnten.9 Es war dann auch tatsächlich der bereits 1760 ins Amt des Seniors der Hamburger Geistlichkeit gekommene und an Schades Denunziation wohl nicht unbeteiligte Johann Melchior Goeze,10 der federführend und harsch gegen die zwischen 1774 und 1778 von Gotthold Ephraim Lessing herausgegebenen Fragmente eines Ungenannten agitierte,11 die nichts anderes als Auszüge aus einem von Reimarus geheim gehaltenen Manuskript mit dem Titel »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« darstellten.12 Goeze sah in ihnen nicht bloß einen klaren Fall von Blasphemie, sondern auch die Gefahr, dass sie die Dignität der christlichen Religion breitenwirksam und nachhaltig unterminieren: Sie sind keine bescheidene Einwürfe gegen die christliche Religion, sondern die lauteste Lästerung derselben. Ihre Wirkungen sind in unsern gegenwärtigen Zeiten schon sehr betrübt, und werden noch schröcklicher werden. Den Juden wird insonderheit das letzte Fragment sehr willkommen seyn, u. ihnen zur Bestärkung in ihrem Unglauben, und in ihrer feindseligen Gesinnung gegen Jesum und seine Religion, beßere Dienste thun, als ihr Toldos Jeschu. Wie

|| Orthodoxie auch Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk. Tübingen 2009, S. 263f. 7 Vgl. Georg Schade: Die unwandelbare und ewige Religion (1760). In: ders.: Die unwandelbare und ewige Religion (1760). Dokumente. Hg. von Martin Mulsow. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 56–294. Vgl. zu Schade ausführlich Martin Mulsow: Monadenlehre, Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Aufklärungsgesellschaft 1747–1760. Hamburg 1998. 8 Vgl. zur Bekanntschaft Schades und Reimarus’ Mulsow: Monadenlehre, Hermetik und Deismus (s. Anm. 7), S. 163ff. 9 Vgl. Klein: Hermann Samuel Reimarus (s. Anm. 6), S. 62–67. 10 Vgl. ebd., S. 64. 11 Vgl. zu Goeze Ernst-Peter Wieckenberg: Johan Melchior Goeze. Hamburg 2007, bes. S. 82–89, S. 127ff. und zum Fragmentenstreit S. 186ff., sowie die Beiträge in Heimo Reinitzer, Walter Sparn (Hg.): Verspätete Orthodoxie – über D. Johann Melchior Goeze (1717–1786). Wiesbaden 1989. 12 Vgl. dazu ausführlich Gerhard Alexander: Einleitung. In: Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (Gesammelte Schriften). 2 Bde. Hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 1, S. 9–38, hier S. 27f.

4 | Dieter Hüning, Stefan Klingner

schwarz und wie stumpf zugleich die Sele des Verfassers gewesen, kann man allein aus dem vierten Fragmente sehen, in welchem seine Hauptabsicht dahin gehet, die Jünger Jesu als die ärgsten Bösewichter anzuschwärzen, indem er es als eine ausgemachte Wahrheit annimmt, daß sie den Leib Christi gestohlen, und hernach die Welt mit der schandbaren Lüge von seiner Auferstehung betrogen hätten, ja da er so frech ist […] von der Erzählung Matthäi Kap. 28, 62 f. zu sagen, daß er solche allein aus seinem Gehirne ersonnen, weil er auf die Beschuldigung etwas antworten wollen, und nichts beßeres finden können.13

Für Goeze stellen die Fragmente somit nichts anderes als einen direkten Angriff auf »die Wahrheit der christlichen Religion, die Ehre und Unschuld der heil. Apostel, und selbst unsers ewigen Königes«14 dar. Entsprechend schreibt er warnend: »Ich würde vor meiner Todesstunde zittern, wenn ich besorgen müsste, daß von der Ausbreitung dieser boshaften, so vielen Selen höchstgefährlichen, und der Ehre unsres großen Erlösers so nachtheiligen Aufsätze, die Rechenschaft an jenem Tage von mir würde gefordert werden.«15 Diese Warnung vor dem gerechten Zorn Gottes ist freilich an Lessing als Herausgeber der Fragmente gerichtet. Reimarus wäre dieser Streit um seine ›boshaften Aufsätze‹, den er nicht mehr miterlebte, wohl eine Bestätigung seiner Vorsicht und Geheimhaltung des Manuskripts gewesen. Dass die Verfasserschaft der Fragmente dabei nicht nur einem sehr kleinen Kreis an Vertrauten bekannt gewesen sein kann, zeigt ein Brief, den der Göttinger Privatdozent Michael Hißmann im Dezember 1778 an seinen Siebenbürger Landsmann Johann Filtsch schreibt, wo Reimarus ausdrücklich genannt wird: Ich weis nicht, ob ich Ihnen schon etwas von der Schrift, die HE Lessing aus den Papieren eines Ungenannten, des seel. Reimarus, vom Zweck Jesu u. seiner Jünger Wolfenb[üttel] 1778, 8. gesagt habe. Diese hat, wie billig in ganz Deutschland ein erstaunliches Auffsehn gemacht; weil der V[erfasser] nichts weniger, als zu beweisen sucht, daß Jesus eigentlich ein weltlich Reich habe errichten wollen, u. daß die Apostel, wie sie sahen, daß ihr Anführer gekreuzigt wurde, aus dem weltl[ich] ein geistl[iches] Reich gemacht, folgl[ich] eine neue Rel. gepredigt, als ihr Meister, folgl[ich] Betrüger seyen. Und dies sagt der V[erfasser] alles mit der Mine des ehrlichsten Untersuchers, so daß es scheint, er avancire keinen Satz, ohne ihn bewiesen zu haben. Man muß nothwendig nach der Lektüre des Buchs gestehn, daß er der gründlichste Bestreiter der [chri]stl[ichen] Rel[igion] ist, den die Geschichte kennt. [...] Reimarus hat fast sein ganzes Leben auf die Ausfertigung dieses Werkes verwandt.16

|| 13 Johann Melchior Goeze: Freywillige Beyträge zu den hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit 5, Nr. 55/56 (1777), S. 433–447, hier S. 446f. 14 Johann Melchior Goeze: Etwas Vorläufiges gegen des Herrn Hofraths Leßings mittelbare und unmittelbare feindselige Angriffe auf unsre allerheiligste Religion, und auf den einigen Lehrgrund derselben, die heilige Schrift. Hamburg 1778, S. IV. 15 Goeze: Freywillige Beyträge (s. Anm. 13), S. 447. 16 Michael Hißmann: An Johann Filtsch, 13. Dezember 1778. In: ders.: Briefwechsel. Hg. von HansPeter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening und Falk Wunderlich. Berlin, Boston 2016, S. 49–54, hier S. 50f.

Zur Einleitung: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) | 5

Zumindest Teilen der Gelehrtenwelt war somit bereits damals bekannt, dass Reimarus’ Haltung in puncto Religion nur als eine zweischneidige verstanden werden kann: Er war offenkundig nicht nur ein glühender Vertreter der natürlichen Religion, sondern zugleich ein Leugner der besonderen ›Wahrheit‹ des Christentums.17

2 Natürliche Religion und Popularphilosophie – Reimarus’ philosophische Schriften Der Philologe und Philosoph Hermann Samuel Reimarus war zweifelsohne eine der bekanntesten und einflussreichsten Persönlichkeiten der deutschen Hochaufklärung.18 Als ›Professor des Hebräischen und der übrigen orientalischen Sprachen‹ lehrte Reimarus ab 1727 am Gymnasium Johanneum in Hamburg, war dort ein angesehenes, gut vernetztes Mitglied des höheren Bürgertums und beschäftigte sich hauptsächlich mit klassischer Philologie. Erst in den Jahren zwischen 1754 und 1760 erschienen seine philosophischen Hauptwerke: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, die Vernunftlehre und die Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere. Alle drei Schriften stießen auf ein starkes Interesse und eine weite Verbreitung in den damaligen deutschsprachigen Ländern, wovon nicht zuletzt die zahlreichen, teilweise posthum erschienen Neuauflagen zeugen – im Fall der Vornehmsten Wahrheiten immerhin fünf, der Vernunftlehre vier und der Allgemeinen Betrachtungen drei weitere Auflagen. Zudem erfuhren die Vornehmsten Wahrheiten bzw. die Allgemeinen Betrachtungen bereits in den 1760ern Übersetzungen ins Nie-

|| 17 Vgl. auch Joseph Anton Weissenbach: Kritisches Verzeichniß der besten Schriften, welche […] zum Beweise und zur Vertheidigung der Religion herausgekommen. Basel 1784, S. 173, der bei der Besprechung der Vornehmsten Wahrheiten die Gerüchte um Reimarus’ Autorschaft auch öffentlich nennt: »Reimarus habe auf einer Seite alles niedergerissen, was er auf der anderen aufgebauet: und so oft er über die natürliche Theologie hinausgeht, sey ihm niemals zu trauen. Man hat sogar Gründe, warum man vermuthet, daß kein anderer als eben er der Verfasser der Wolffenbüttelschen Fragmente sey« (zitiert nach Gawlick: Einleitung [s. Anm. 4], S. 45). 18 Vgl. die neueren Überblicksdarstellungen von Werner Raupp im Bloomsbury Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers (Hg. Heiner F. Klemme und Manfred Kuehn. London 2016, S. 611–614) und von Winfried Schröder im Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Band 5 (Hg. von Helmut Holzhey und Vilem Mudroch. Basel 2014, S. 310–319) sowie den ausführlichen Bericht von Wilhelm Schmidt-Biggemann: Einleitung. In: Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Göttingen 1994, S. 9–65. Für weitere Titel zu Leben und Werk Reimarus’ vgl. die Forschungsbibliografie im Anhang des vorliegenden Bandes.

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derländische, Englische und Französische. Geschätzt wurde besonders ihr klarer und populärer Stil – nicht zuletzt auch beim nicht-akademischen Publikum.19 Die Vornehmsten Wahrheiten stellen vor allem eine populäre Darstellung der natürlichen Religion dar und können als wichtigstes deistisches Werk der deutschen Aufklärung gelten, das seinerseits unter dem Einfluss des englischen Deismus entstanden ist, den Reimarus während seiner Studienreise in die Niederlande und nach England in den Jahren 1720/21 kennengelernt hatte.20 Hinzu kommt seine Vertrautheit mit der deutschen Physikotheologie, die sich nicht zuletzt in seiner persönlichen Bekanntschaft mit Johann Albert Fabricius und Barthold Heinrich Brockes widerspiegelt.21 Reimarus behandelt in den Vornehmsten Wahrheiten die kosmologischen, teleologischen und moralphilosophischen Grundlagen der natürlichen Religion und übt scharfe Kritik am Atheismus des französischen Materialismus, besonders an Julien Offray de La Mettrie.22 Allerdings zeichnet sich der Text durch eine gewisse »Doppelbödigkeit«23 aus: Zwar verschweigt Reimarus seine Auffassung, dass die natürliche Religion für die Bedürfnisse der Menschen ausreichend und insofern die Offenbarungsreligion überflüssig sei. Zugleich versucht er aber den Anschein zu erwecken, als betrachte er selbst die natürliche Religion als die praeambula fidei, also als Hinführung zur Offenbarungsreligion. Obwohl es schon kurz nach dem Erscheinen der Vornehmsten Wahrheiten vereinzelt den Verdacht gab, Reimarusʼ Buch beabsichtige, die Offenbarungsreligion zu untergraben, war seine Verschleierungstaktik dennoch erfolgreich und Reimarus galt vornehmlich als ›Vorkämpfer der Religion‹.24 Eine besondere Eigenart seiner Apologie der natürlichen Religion ist dabei die profunde Aufarbeitung des Diskussionsstands der jeweils relevanten Naturwissenschaften.25 Diese in apologetischer Absicht und aus dezidiert physikotheologischer Perspektive unternommene Beschäftigung mit den zeitgenössischen Naturwissenschaften findet ihren Niederschlag besonders in den Allgemeinen Betrachtungen, die eine ausführliche Ausarbeitung der naturphilosophischen Überlegungen der Vor|| 19 Vgl. z. B. Klein: Hermann Samuel Reimarus (s. Anm. 6), S. 262f., und Petersen: B. H. Brockes, J. A. Fabricius, H. S. Reimarus (s. Anm. 4), S. 213–219. 20 Vgl. Günter Gawlick: Reimarus und der englische Deismus. In: Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Hg. von Karlfried Gründer und Karl Heinrich Rengstorf. Heidelberg 1989, S. 43–54. Vgl. zum Deismus auch ders.: Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg. Hg. von der Joachim Jungius-Gesellschaft. Göttingen 1973, S. 15–43. 21 Vgl. Petersen: B. H. Brockes, J. A. Fabricius, H. S. Reimarus (s. Anm. 4), S. 49–51. 22 Vgl. u. a. Wolfgang Gericke: Hermann Samuel Reimarus und die Untergrundliteratur seiner Zeit. In: Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 18 (1993), S. 118–131. 23 Gawlick: Einleitung (s. Anm. 4), S. 14. 24 Ebd., S. 13f. 25 Vgl. ebd., S. 18 und 22f., Schröder: Reimarus (s. Anm. 18), S. 317 sowie Petersen: B. H. Brockes, J. A. Fabricius, H. S. Reimarus (s. Anm. 4), bes. S. 213ff.

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nehmsten Wahrheiten darstellen. Dort legt Reimarus eine eigenständige Theorie zum tierischen Instinktverhalten vor, der zufolge Tieren spezifische ›Triebe‹ angeboren sind, durch die ihr Verhalten teleologisch festgelegt ist. Damit gilt Reimarus in der Wissenschaftsgeschichte gelegentlich als Begründer der Ethologie als biologischer Teildisziplin,26 wobei jedoch zumeist der dezidiert rationaltheologische Hintergrund seiner Überlegungen ausgeblendet wird und die zeitgenössischen naturphilosophischen sowie anthropologischen Kontexte noch immer nicht als hinreichend erforscht beurteilt werden können. Die Vernunftlehre stellt wiederum eine wichtige Verbindung zwischen den Logikkonzeptionen von Christian Wolff und Immanuel Kant dar.27 Zwar galt sie geraume Zeit lediglich als eine weitere der zahlreichen Darstellungen einer Logik wolffschen Typs, allerdings sind ihr einige signifikante Abweichungen von der Vernunftlehre Wolffs eigen, auf die zwar in der logikhistorischen Forschung – vor allem mit Blick auf die Urteilstheorie und Methodenlehre – bereits gelegentlich hingewiesen wurde, die aber bisher in ihren Einzelheiten und ihrem Umfang längst nicht erschlossen und erst recht nicht systematisch erfasst worden sind.28 Trotz des hohen Maßes an Popularität der drei philosophischen Hauptwerke Reimarus’ gilt deren Wirkung als auf das 18. Jahrhundert beschränkt.29 Für die Vernunftlehre und die Vornehmsten Wahrheiten scheint dies zutreffend zu sein, hinsichtlich der Allgemeinen Anmerkungen mag der Nachweis dieser Behauptung noch ausstehen.30 Dagegen ist unumstritten, dass Reimarusʼ große religionskritische

|| 26 Vgl. Julian Jaynes, William Woodward: In the shadow of the Enlightenment: I. Reimarus against the Epicureans. II. Reimarus and his theory of drives. In: Journal of the History of Behavioral Sciences 10 (1974), S. 3–15 und S. 144–159; Jürgen von Kempski: Hermann Samuel Reimarus als Ethologe. In: Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe. 2 Bde. Hg. von Jürgen von Kempski unter Mitarbeit von Stefan Lorenz und Winfried Schröder. Göttingen 1982, Bd. 1, S. 21–56; Jean-Sébastien Bolduc: La théorie des instincts d’Hermann Samuel Reimarus. In: Dix-Huitieme Siecle 45 (2013), S. 585–603. 27 Vgl. Norbert Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der Vernunftlehre von Hermann Samuel Reimarus. In: Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur »Vernunftlehre« von Hermann Samuel Reimarus. Hg. von Wolfgang Walter und Ludwig Borinski. Göttingen 1980, S. 9–32. 28 Vgl. zur älteren Einschätzung z. B. Carl von Prantl: [Art.] Reimarus, Hermann Samuel. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 27. Leipzig 1888, S. 702–704, hier S. 703. Vgl. zur Eigenart der Logik von Reimarus besonders mit Blick auf die Urteilslehre Hans-Jürgen Engfer: Die Urteilstheorie von H. S. Reimarus und die Stellung seiner »Vernunftlehre« zwischen Wolff und Kant. In: Logik im Zeitalter der Aufklärung (s. Anm. 27), S. 33–58 sowie (mit besonderem Blick auf Kant) Peter Schulthess: Relation und Funktion. Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur theoretischen Philosophie Kants. Berlin, New York 1981, S. 39–45. 29 So Schröder: Reimarus (s. Anm. 17), S. 318. 30 Als Gegenbeispiel ließe sich etwa Marxʼ Lektüre der Allgemeinen Anmerkungen anführen (vgl. Mikhail Lifshits: The Philosophy of Art of Karl Marx. New York 1973, S. 12 sowie den Hinweis im Beitrag von Udo Roth im vorliegenden Band).

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Schrift – die erst 1972 vollständig veröffentlichte Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes31 – nicht nur für eine der folgenreichsten philosophisch-theologischen Diskussionen der deutschen Spätaufklärung sorgte, der von Lessings Herausgabe einiger Auszüge aus ihr ausgelöst wurde und als »Fragmentenstreit« in die Geschichtsschreibung einging.32 Diese Schrift ist vielmehr auch eine wichtige Quelle der Religionskritik des 19. Jahrhunderts33 und wirkte in der evangelischen Theologie bis in das 20. Jahrhundert hinein.34 Hans Blumenberg bezeichnete die Apologie daher sogar als »Hauptwerk der deutschen Aufklärung«.35 Reimarus arbeitete seit der Mitte der 1730er Jahre im Verborgenen an ihr und allererst durch Lessings Herausgabe wurden einige Teile von früheren Fassungen über einen engeren Kreis an Vertrauten hinaus bekannt. Lessing präsentierte die »Fragmente« als einen Fund aus der Wolfenbütteler Bibliothek, so dass Reimarusʼ Verfasserschaft bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts weitgehend unbekannt blieb, als Reimarusʼ Sohn Johann Albert Hinrich sie 1814 kurz vor seinem Tode publik machte.36 In der Apologie analysiert Reimarus mithilfe einer kritischen Hermeneutik die biblischen Erzählungen und Lehren, attackiert dabei besonders die Wunderberichte, prangert die mangelnde Moralität der biblischen Figuren an und versucht, den menschlichen Ursprung der Bibel und der auf ihr fußenden christlichen Religion nachzuweisen.37 Obwohl in den ›Wolfenbütteler Fragmenten‹ noch einige weitere

|| 31 Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Gerhard Alexander. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1972. 32 Vgl. bes. William Boehart: Politik und Religion. Studien zum Fragmentenstreit (Reimarus, Goeze, Lessing). Schwarzenbek 1988. Vgl. zudem und mit besonderem Blick auf Lessings Religionsphilosophie Christoph Bultmann, Friedrich Vollhardt (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin, New York 2011 sowie Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. München 2016, S. 105–110. 33 Vgl. David Friedrich Strauß: Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Leipzig 1862 sowie Jürgen von Kempski: Spinoza, Reimarus, Bruno Bauer – drei Paradigmen radikaler Bibelkritik. In: Hermann Samuel Reimarus (s. Anm. 20), S. 96–112. 34 Vgl. Albert Schweitzer: Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Tübingen 1906, August Christian Lundsteen: Hermann Samuel Reimarus und die Anfänge der Leben-Jesu-Forschung. Copenhagen 1939 sowie im Überblick Emanuel Hirsch: Geschichte der neueren evangelischen Theologie. Bd. 4. Gütersloh 1952, S. 120–204. 35 Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1988, S. 490. 36 Vgl. Alexander: Einleitung (s. Anm. 12), S. 17. 37 Vgl. z. B. Max Loeser: Die Kritik des Hermann Samuel Reimarus am Alten Testament. Berlin 1941; Fausto Parente: La storicizzazione della figura di Gesu e lʼopera di Hermann Samuel Reimarus. In: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, Classe di lettere e filosofia, Serie III, Bd. 6 (1976), S. 147–208; Peter Stemmer: Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus. Göttingen 1983; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Erbauliche versus rationale Hermeneutik. Hermann Samuel Reimarus’ Bearbeitung von Johann Adolf Hoffmanns »Neue Erklärung des Buchs Hiob«. In: Herrmann Samuel Reimarus 1694–1768. Beiträge zur Reimarus-Renaissance in

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nicht gerade dem religiösen Zeitgeist entsprechende Überlegungen der Letztfassung fehlten, war ihre Herausgabe durch Lessing für eine weite Verbreitung und nachhaltige Wirkung der Apologie verantwortlich, die besonders das theologische und religionsphilosophische Denken am Ende des 18. Jahrhunderts beeinflusste.38 Angesichts der breiten Wirkung von Reimarusʼ rationaltheologischen und bibelkritischen Überlegungen ist es nicht überraschend, dass bereits bei älteren, im Zuge der vor allem historisch interessierten Erforschung der ›deutschen Philosophie‹ am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Arbeiten eine Fokussierung der Beschäftigung mit Reimarus auf religionsphilosophische Themen auffällt.39 Nur vereinzelt wurde Reimarus als eigenständiger, sich nicht ausschließlich an religionskritischen Fragen abarbeitender Philosoph thematisiert.40 Diese Forschungslinie setzte sich im 20. Jahrhundert und bis heute fort, wobei vor allem die Entstehung der Apologie und die genauen Hintergründe des »Fragmentenstreits« vonseiten der Philologie und Literaturwissenschaft sowie der Philosophie- und Regionalgeschichte eingehend untersucht wurden.41 Von wenigen

|| der Gegenwart. Hg. von Wolfgang Walter. Göttingen 1998, S. 23–52; Hans Hübner: Die »orthodoxe« hermeneutica sacra des Hermann Samuel Reimarus. In: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Manfred Beetz und Giuseppe Cacciatore. Köln, Wien, Weimar 2000, S. 99–111; Johann Anselm Steiger: Ist es denn ein Wunder? Die aufgeklärte Wunderkritik. Oder: Von Spinoza zu Reimarus. In: 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Kultur zwischen Tradition und Zukunft. Hg. von Johann Anselm Steiger. Berlin, New York 2005, S. 113–132; Jonathan I. Israel: Le contexte philosophique de criticisme biblique radical de Hermann Samuel Reimarus. In: Orthodoxie et hétérodoxie. Libertinage et religion en Europe au temps des Lumières. Hg. von MarieHélène Quéval. Saint-Étienne 2010, S. 89–101; Wulf Kellerwessel: Hermann Samuel Reimarusʼ Bibelund Religionskritik. In: Aufklärung und Kritik 17 (2010), S. 159–169. 38 Vgl. neben Schmidt-Biggemann: Erbauliche vs. Rationale Hermeneutik (s. Anm. 37) u. a. auch ders.: Die destruktive Potenz philosophischer Apologetik oder der Verlust des biblischen Kredits bei Herrmann Samuel Reimarus. In: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Hg. von Henning Graf Reventlow, Walter Sparn und John Woodbrigde. Wiesbaden 1988, S. 193–204, Gerhard Freund: Ein Trojaner. Lessings Reimarus-Fragmente als Anfrage an die zeitgenössische Theologie. In: 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Kultur zwischen Tradition und Zukunft. Hg. Johann Anselm Steiger. Berlin, New York 2005, S. 133–152. 39 Vgl. etwa Karl Mönckeberg: Hermann Samuel Reimarus und Johann Christian Edelmann. Hamburg 1867; Karl Christoph Scherer: Der biologisch-psychologische Gottesbeweis bei Reimarus. Eine philosophisch-geschichtliche Studie. Würzburg 1899; Rudolf Schettler: Die Stellung des Philosophen Hermann Samuel Reimarus zur Religion. Leipzig 1904; Joseph Engert: Der Deismus und die Religions- und Offenbarungskritik des Hermann Samuel Reimarus. Wien 1916; Hermann Köstlin: Das religiöse Erleben bei H. S. Reimarus und J. S. Semler. Borna-Leipzig 1919. 40 Vgl. bes. Hermann Richardt: Darstellung der moralphilosophischen Anschauungen des Philosophen Hermann Samuel Reimarus. Leipzig 1907 und Joseph Engert: Hermann Samuel Reimarus als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Metaphysik. Paderborn 1908. 41 Vgl. neben den in den Anm. 32, 37 und 38 genannten Titeln etwa die Beiträge des von der Joachim Jungius-Gesellschaft herausgegebenen Bandes: Hermann Samuel Reimarus (s. Anm. 20) und mit Blick auf Lessing Martin Bollacher: Lessing – Vernunft und Geschichte. Untersuchungen zum

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Ausnahmen abgesehen wird Reimarusʼ Beiträgen zur Logik und Erkenntnistheorie, zur Metaphysik und Anthropologie42 sowie zu den empirischen Wissenschaften seiner Zeit43 kaum Beachtung geschenkt. Auch den im Werk von Reimarus durchaus vorhandenen Überlegungen zu Themen der praktischen Philosophie wird nicht nachgegangen.44 Die umrissene Forschungslage gibt mit Blick auf die nicht gerade geringe Bedeutung von Reimarus’ philosophischem Werk für die Geschichte der deutschen Hochaufklärung sowie ihre Wirkung auf die Spätaufklärung (und über diese hinaus) hinreichend Anlass für weitere Forschungen. Besonders die Rekonstruktion des ihm zugrunde liegenden systematischen Zusammenhangs, der die bislang nur vereinzelten, daher entweder einzelthematisch fokussierten oder mitunter beliebigen Bezüge auf Reimarusʼ Werk integriert und auf die zeitgenössischen philosophischen bzw. wissenschaftlichen Diskussionen Bezug nimmt, stellt bis heute ein Desiderat dar. Günter Gawlicks vor nunmehr über 35 Jahren geäußerte Behauptung, dass erst, wenn eine geschriebene »Geschichte der Philosophie zwischen Wolff und Kant […] vorliegt, werden wir den Beitrag des Reimarus zu der Gesamtentwicklung angemessen würdigen und das Verhältnis von Tradition und Innovation in seinem Denken || Problem religiöser Aufklärung in den Spätschriften. Tübingen 1978, 1. Teil; Eckhard Heftrich: Lessings Aufklärung. Zu den theologisch-philosophischen Spätschriften. Frankfurt a. M. 1978. Vgl. auch den Bericht (mit Nennung und Diskussion weiterer Titel) von Gerhard Alexander: Neue Erkenntnisse zur ›Apologie‹ von Hermann Samuel Reimarus. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 65 (1979), S. 145–159 sowie die Bibliografie von Wilhelm Schmidt-Biggemann: Hermann Samuel Reimarus. Handschriftenverzeichnis und Bibliographie. Göttingen 1979. In den letzten Jahren sind erschienen die Monografien von Klein: Hermann Samuel Reimarus (s. Anm. 6) und Ulrich Groetsch: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Classicist, Hebraist, Enlightenment Radical in Disguise. Leiden 2015 sowie der Sammelband von Martin Mulsow (Hg.): Between philology and radical Enlightenment. Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Leiden, Boston 2011. 42 Vgl. – neben den Beiträgen zur Logik in Walter, Borinski (Hg.): Logik im Zeitalter der Aufklärung (s. Anm. 27) und Schulthess: Relation und Funktion (s. Anm. 28) – zur Anthropologie etwa Gerhard Alexander: Das Verständnis des Menschen bei H. S. Reimarus. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1 (1974), S. 47–68, Jürgen Overhoff: Vernunft und Menschlichkeit. Hermann Samuel Reimarus als Wegebereiter der philanthropischen Pädagogik. In: Bildungsgeschichte(n) in Quellen. Hg. von Jörg-Werner Link und Frank Tosch. Bad Heilbrunn 2007, S. 29–40, Michael Franz, Reimar Müller: Der Tier-Mensch-Vergleich bei Reimarus und Herder. Zur Rezeptionsgeschichte und diskursiven Aktualität der antiken Anthropologie. In: Weimarer Beiträge 57.1 (2011), S. 101–129 sowie John H. Zammito: Herder between Reimarus and Tetens. The Problem of an Animal-Human Boundary. In: Herder. Philosophy and Anthropology. Hg. von Anik Waldow und Nigel DeSouza. Oxford 2018, S. 127–146. 43 Vgl. neben den in Anm. 26 genannten Titeln auch Cinzia Ferrini: Kant, H. S. Reimarus e il problema degli »aloga zoa«. In: Studi Kantiani 15 (2002), S. 31–63, Thomas Cheungs: Hermann Samuel Reimarus’ Theorie der »Lebensarten« und »Triebe«. In: Sudhoffs Archiv 90 (2006), S. 143– 160 sowie John H. Zammito: The Gestation of German Biology. Philosophy and Physiology from Stahl to Schelling. Chicago 2018, S. 134–138. 44 Vgl. auch die Einschätzung von Schröder: Reimarus (s. Anm. 18), S. 316f.

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richtig einschätzen können«,45 gilt einerseits heute noch, darf andererseits aber auch relativiert werden. Zwar ist auch die aktuelle Philosophiegeschichtsschreibung noch weit entfernt von einer umfassenden und sowohl historisch als auch sachlich adäquaten Einsicht in die Entwicklung der deutschen Aufklärungsphilosophie ›zwischen Wolff und Kant‹. Allerdings darf dieser Umstand nicht dazu verleiten, Bemühungen um eine Rekonstruktion von Reimarusʼ philosophischen Positionen aus dessen eigenen Schriften heraus und mit Rekurs auf den Kontext der jeweils in ihr konkret verhandelten Probleme von vornherein auszubremsen. Gerade durch eine sorgfältige Berücksichtigung des Verhältnisses der Überlegungen Reimarusʼ zu relevanten philosophischen Traditionen und ihre differenzierte Beurteilung vor dem Hintergrund der späteren bis neueren Philosophiegeschichte ist eine produktive Auseinandersetzung mit den Inhalten der Philosophie Reimarus’ möglich, die wiederum sowohl etwas mehr Licht auf die noch ungeschriebene ›Geschichte der Philosophie zwischen Wolff und Kant‹ zu werfen vermag, als auch ihre Beurteilung »unter reinen Sachgesichtspunkten«46 erlaubt. Als ein Beitrag zu einer solchen histohistorisch-versierten und zugleich sachlich-kritischen Einschätzung von Reimarus’ philosophischem Gesamtwerk sind die Beiträge des vorliegenden Bandes zu verstehen.47

3 Aufbau und Beiträge des Bandes Die Gliederung des vorliegenden Bandes richtet sich einerseits nach der für die Reihe Werkprofile üblichen systematischen Einteilung von wissenschaftlichen Diszipli-

|| 45 Gawlick: Einleitung (s. Anm. 4), S. 26. 46 Ebd., S. 27. 47 Vgl. als Beispiele für die ungebrochene Kontinuität der philosophiehistorischen Forschung zu einzelnen Autoren der deutschen Aufklärung allein die seit Gawlicks Einschätzung erschienenen Sammelbände: Werner Schneiders (Hg.): Christian Thomasius (1655−1728). Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989; Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997; Walter Jaeschke, Birgit Sandkaulen (Hg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hamburg 2004; Oliver-Pierre Rudolph, Jean-François Goubet (Hg.): Die Psychologie Christian Wolffs. Systematischer Ort, Konstitution und Wirkungsgeschichte. Tübingen 2004; Guido Naschert, Gideon Stiening (Hg.): Ernst Platner (1744–1819). Konstellationen der Aufklärung zwischen Philosophie, Medizin und Anthropologie. Hamburg 2007; Hans-Joachim Kertscher, Ernst Stöckmann (Hg.): Ein Antipode Kants? Johann August Eberhard im Spannungsfeld von spätaufklärerischer Philosophie und Theologie. Berlin, Boston 2012; Stefanie Stockhorst (Hg.): Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung. Berlin 2013; außerdem die Veröffentlichungen zu Johann Christoph Gottsched, Christian August Crusius, Georg Friedrich Meier, Johann Georg Sulzer, Johann Nikolaus Tetens, Johann Georg Heinrich Feder, Michael Hißmann und Christian Garve in der Reihe Werkprofile.

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nen, berücksichtigt dabei aber andererseits die Eigenart von Reimarus’ philosophischem Werk, indem sie dessen Distanz zu traditionellen Einteilungen wie der in theoretische und praktische Philosophie oder der einer Binnengliederung der Metaphysik in allgemeine und spezielle ernst nimmt und sich stattdessen eher an den in den vier großen philosophischen Schriften abgehandelten Themen orientiert. Entsprechend ist der Band in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil stehen Probleme der »Logik und Erkenntnislehre« im Zentrum, mithin liegt ein besonderes Augenmerk auf der Vernunftlehre; der zweite Teil thematisiert dagegen religionsphilosophische Fragestellungen, mit Blick auf Reimarus also seine Auffassungen zu »Bibelkritik und Rationaltheologie«, wobei einerseits die Apologie, andererseits die Vornehmsten Wahrheiten und auch die Allgemeinen Anmerkungen die Referenztexte abgeben; im dritten Teil geht es dagegen um – traditionell gesprochen – kosmologische und naturhistorische, psychologische und moralphilosophische Themen, so dass er mit Blick auf den populärphilosophischen Charakter von Reimarus’ Schriften mit »Naturphilosophie und Anthropologie« überschrieben ist und in dem nicht nur auf die Vornehmsten Wahrheiten und die Allgemeinen Anmerkungen, sondern auch auf kleinere Arbeiten von Reimarus Bezug genommen wird. 1. Logik und Erkenntnislehre. Die ersten drei Beiträge ergänzen die bisherigen Forschungen zu Reimarus’ Logik. Zuerst ordnet Frank Grunert Reimarus’ Vernunftlehre in den zeitgenössischen Kontext ein, indem er nach ihrer Nähe zu Vernunftlehren thomasianischer und wolffianischer Provenienz fragt. Ausgehend von der Konzeption einer »natürlichen Weltweisheit«, die Reimarus in der ersten Auflage seiner Vernunftlehre noch als eigenständige Erkenntnisstufe profiliert hatte, zeigt er anhand von Verweisen auf die Darstellungen der Logik von Christian Thomasius, Johann Georg Walch, August Friedrich Müller, Georg Friedrich Meier und Johann Franz Budde, dass Reimarus unter Beibehaltung eines traditionellen, an Wolff orientierten Wissenschaftsideals zugleich den Praxis- und Erfahrungsbezug aller Philosophie sowie deren Zugänglichkeit für das nicht-gelehrte Publikum sichern wollte. Marion Heinz stellt einerseits Reimarus’ ›eigenständigen Ansatz‹ gegenüber der wolffschen Logik heraus und gibt anschließend die bisher ausführlichste Erörterung zu Reimarus’ Begriffslehre. Damit führt sie die Forschungen zur ›Logik im Zeitalter der Aufklärung‹ und der besonderen Stellung der Logik von Reimarus ›zwischen Wolff und Kant‹ weiter. Reimarus’ bisher – ähnlich wie im Fall der Begriffslehre – nicht weiter erforschtem Beitrag zu einem anderen wesentlichen Thema traditioneller »Vernunftlehren« widmet sich Giuseppe Motta der Wahrscheinlichkeitslehre. Er zeigt, dass Reimarus diese im Anschluss an die thomasianische Tradition vor allem als ›Lehre vom vernünftigen Zweifel‹ und damit als Instrument der Irrtumsvermeidung begreift. Der vierte Beitrag dieses Teils nimmt zwar einen auch für die Logik Reimarus’ zentralen Begriff in den Blick, geht aber darüber hinaus noch dessen Funktion für andere philosophische Überlegungen von Reimarus nach. Sebastian Abel grenzt zuerst Reimarus’ Begriff der ›gesunden Vernunft‹ deutlich von anderen Vermögen wie ›Witz‹ oder ›Gemeinsinn‹ ab, erläutert ihn dann als Erkenntnis

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›vermittels undeutlicher Regeln über undeutliche Begriffe‹ und zeigt, dass diese Erkenntnisart nicht nur der ›Kunst-Logik‹ der Vernunftlehre zugrunde liegt, sondern dass Reimarus ihr auch Kompetenz in puncto Theologie, Naturteleologie und Psychologie zuspricht, was nicht zuletzt auch auf dessen populärphilosophischen Anspruch neues Licht wirft. Der diesen Teil abschließende, zugleich aber bereits auf den folgenden Teil hinführende Beitrag rekonstruiert in einem ersten Schritt Reimarus’ Konzeption des »Zeugnisses anderer« als eigenständiger Erkenntnisquelle. Achim Vesper macht damit nicht nur die fast schon ›ideologiekritisch‹ zu nennende Eigenart dieser Zeugniskonzeption sichtbar, sondern zeigt in einem zweiten Schritt auch, dass in der Lehre vom Zeugnis anderer und der dort aufgestellten Kriterien für Glaubwürdigkeit der methodische Ansatz für die Bibelkritik der Apologie zu finden ist. 2. Bibelkritik und Rationaltheologie. Auch wenn Reimarus’ Religionsphilosophie als der am besten erforschte Teil seines Philosophierens gelten darf, ist sie bis heute weder in ihrem sachlichen Gehalt noch in ihrer systematischen Relevanz angemessen aufgearbeitet. Die ersten beiden Beiträge des zweiten Teils ergänzen die bisherigen Forschungen zur Apologie in unterschiedlicher Hinsicht. Holger Glinka bringt Reimarus’ »kritische Hermeneutik« zur Darstellung, die in der bisherigen Geschichtsschreibung zur Hermeneutik trotz ihrer Differenziertheit und Originalität nicht zur Kenntnis genommen wurde. Dabei stellt er ›Zeugenschaft‹ und ›Historizität‹ als die beiden wesentlichen Elemente der Hermeneutik von Reimarus heraus und zeichnet dessen Versuch, sie am Material der heiligen Schrift zu bewähren, ausführlich und unter Berücksichtigung aktueller theologischer Erkenntnisse nach. Auf die Konsequenz von Reimarus’ kritisch-philologischem Herangehen an die Bibel – nämlich nichts Geringeres als die »Destruktion der zentralen Lehren des Christentums« – richtet sich der Blick im folgenden Beitrag. Wilhelm SchmidtBiggemann stellt die Bibelkritik der Apologie als Fortführung der rationalistischen Weltsicht der leibnizschen Theodizee dar und hält es angesichts der ihr eigenen Konsequenz und Präzision in seinem Resümee für ›überraschend‹, dass das Christentum trotz dieser ›Destruktion‹ überhaupt noch existiert. Dass Reimarus zugleich auch ein glühender Verfechter einer natürlichen (oder auch ›vernünftigen‹) Religion war, die nicht nur am monotheistischen Gottesbegriff, sondern auch an der Erkennbarkeit der Existenz Gottes und seiner Eigenschaften sowie an seiner ›Vorsehung‹ festhält, mag angesichts Reimarus’ radikaler Kritik an den Quellen des Christentums leicht vergessen werden. Den besonderen Charakter der natürlichen Religion, die Reimarus zufolge sämtliche Lebensbereiche und Wissenschaften durchzieht, thematisieren die drei anderen Beiträge dieses Teils. Dieter Hüning stellt anhand von Reimarus’ Kritik an Julien Offray de La Mettries ›moralischem Nihilismus‹ die religionsapologetische Funktion der Vornehmsten Wahrheiten deutlich heraus. Dabei zeigt er, dass Reimarus’ Atheismus-Kritik in ihren einzelnen Argumenten keineswegs als besonders originell beurteilt werden kann, ihr aber eine durchgehend individualpsychologisierende Perspektive eigen ist. Auch Stefan Klingner stellt zuerst

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die anti-atheistische Stoßrichtung des Philosophierens Reimarus’ heraus und zeigt anhand der Vornehmsten Wahrheiten, dass für Reimarus die Religion das Mittel der Wahl ist, um wissenschaftliche Erkenntnis zu haben, in guter Gesellschaft zu leben und ein zufriedener Mensch zu sein. Insofern diese ›Vorteile‹ der Religion allein auf der teleologischen Naturauffassung fußen, diese aber nicht mehr überzeugen kann, bleibt von Reimarus’ Anti-Atheismus bestenfalls ein günstiger psychologischer Effekt übrig. Gideon Stiening weist im Anschluss ausführlich nach, dass sich Reimarus’ Theismus konsequenterweise auch in dessen scheinbar innovativen Überlegungen zu den »Trieben« der Tiere in den Allgemeinen Betrachtungen niederschlägt. Reimarus entwickelt dort weniger eine Naturgeschichte als eine Naturtheologie, indem ihm zufolge in den ›Trieben, Fertigkeiten oder Künsten der unvernünftigen Tiere‹ die Absichten und das Wirken Gottes besonders deutlich zu erkennen seien. Vor diesem Hintergrund muss nicht nur das Bild von Reimarus als einem radikalen Religionskritiker, sondern auch das von ihm als Begründer der Ethologie wenigstens relativiert werden. 3. Naturphilosophie und Anthropologie. Der dritte Teil beginnt mit zwei Beiträgen zu klassischen Themen der traditionellen Kosmologie. Im ersten Beitrag wird Reimarus’ Unendlichkeitsbegriff analysiert, der in der ersten Abhandlung der Vornehmsten Wahrheiten im Zentrum steht, wo sich Reimarus entschieden gegen die Unendlichkeit von Ursachenketten ausspricht. Mischa von Perger rekonstruiert dafür zuerst die Bezüge dieses zentralen Theorems von Reimarus’ Kosmologie zu dessen dreißig Jahre früher veröffentlichtem Aufsatz De Natura Infiniti Mathematici Observatio und zeigt abschließend, wie eine solche Detailanalyse auch für die adäquate Einschätzung der sog. Vorstufen zur Apologie nützlich sein kann. Der folgende Beitrag nimmt mit der Frage nach der ›spontanen Erzeugung‹ einerseits Reimarus’ Leugnung einer Unendlichkeit der Natur (bzw. ihrer Ursachenketten) auf, wendet aber den Blick besonders auf dessen naturteleologische Bestimmung der Welt. Andree Hahmann zeichnet nicht nur Reimarus’ Schluss von der Unzulänglichkeit zeitgenössischer nicht-theistischer Erklärungsversuche der Entstehung zweckmäßig organisierter Lebewesen auf ein außerhalb der Natur stehendes zwecksetzendes Wesen in den Vornehmsten Wahrheiten nach, sondern zeigt zudem, wie Reimarus in diesem Kontext sowohl stoische als auch epikureische Argumente verwendet oder kritisiert und damit ›eine bemerkenswerte Synthese beider antiker Schulen‹ vorlegt. Die naturgeschichtliche Thematik fortführend geht Udo Roth im nächsten Beitrag ausführlich auf die Allgemeinen Betrachtungen ein und bettet sie in den zeitgenössischen Wissenschaftskontext ein. Ähnlich wie Stiening im zweiten Teil kommt er zu dem Schluss, dass Reimarus’ Erklärung des Verhaltens von Tieren theologischen und mechanistischen Erklärungen nicht überlegen ist. Die beiden abschließenden Beiträge sind Reimarus’ Anthropologie gewidmet. Anthropologische Überlegungen stehen im Zentrum von zahlreichen seiner Schriften, besonders auffällig aber in den Vornehmsten Wahrheiten. Stefanie Buchenau zeigt in ihrem Beitrag, dass die von Reimarus dort vorgelegten theologischen, teleologischen und ethologischen Über-

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legungen als Hilfsmittel für die anthropologische Selbsterkenntnis des Menschen dienen. Dabei ordnet sie Reimarus’ Anthropologie in die zeitgenössische Debatte um die ›Bestimmung des Menschen‹ ein und stellt deutlich ihren Einfluss auf die Diskussion in der Spätaufklärung heraus. Hans-Peter Nowitzki legt schließlich die erste ausführliche Darstellung von Reimarus’ Anthropologie vor, die nicht nur ein Werk in den Blick nimmt, sondern das Ergebnis einer Durchsicht des Gesamtwerks ist. Er weist mit ihr nach, dass Reimarus’ Ablehnung des – und sei es auch nur methodischen – Atheismus einerseits und seine Kritik am Christentum andererseits sich auch in einer eigenartigen Zwischenstellung seiner Anthropologie widerspiegeln, nämlich zwischen naturwissenschaftlicher und religiöser Anthropologie. Die für Reimarus’ Denken (nicht nur in der Anthropologie) konstitutive ›Einbettung‹ in einen zwar nicht-christlichen, aber ausdrücklich theistischen Schöpfungsbegriff ist es dann Nowitzki zufolge auch – und die Herausgeber schließen sich dieser Diagnose vollkommen an –, die eine Fortführung und längerfristige Wirkung von Reimarus’ eigenständigen und konstruktiven Beiträgen zur Philosophie unmöglich machte.

Die Herausgeber sind zahlreichen Personen zu aufrichtigem Dank verpflichtet. An erster Stelle danken wir für die vielfältige Unterstützung bei den beiden Tagungen, die wir organisiert haben und aus denen die Texte dieses Bandes hervorgegangen sind. Am 12. und 13. April 2018 konnte im Haus am Dom in Frankfurt am Main die erste Tagung unter dem Titel »Hermann Samuel Reimarus: Natürliche Religion und Popularphilosophie« stattfinden, was erst durch das organisatorische Talent und die Gastfreundschaft von Günter Kruck und dessen Team ermöglicht und für alle Teilnehmer:innen zu einem unvergesslichen Erlebnis wurde. Etwas später, am 14. und 15. Juni 2018, fand an der Georg-August-Universität Göttingen die zweite Tagung unter dem Titel »Wissen, Zeugnis, Religion bei Hermann Samuel Reimarus« statt, die durch die großzügige finanzielle Hilfe vonseiten des Universitätsbunds Göttingen e.V. und der Professur für Philosophie mit Schwerpunkt Geschichte der Philosophie von Bernd Ludwig sowie die organisatorische Unterstützung von Gisela Holler, Iris Karakuş und Karsten Engel nicht nur zustande kommen, sondern auch zu einem Erfolg werden konnte. Weiterhin bedanken wir uns bei den Autorinnen und Autoren, die uns ihre Vorträge unter Berücksichtigung der gemeinsamen Diskussionen auf den beiden Tagungen in – zum Teil stark – überarbeiteter Form für diesen Band zur Verfügung gestellt und Geduld bei der Veröffentlichung bewiesen haben. Mischa von Perger danken wir zudem für seine sorgfältige und kaum zu unterschätzende Zuarbeit zur Bibliografie von Reimarus’ Schriften im Anhang dieses Bandes. Nicht zuletzt danken wir dem Verlag für die unkomplizierte Zusammenarbeit. Für alle Beteiligten mag es überflüssig erscheinen, für uns ist es aber mehr als eine Pflicht, an dieser Stelle besonders Gideon Stiening für sein Engagement, seine Ratschläge und sein Wohlwollen zu danken.

| 1 Logik und Erkenntnislehre

Frank Grunert

»Natürliche Weltweisheit« Ein Element von Reimarusʼ Vernunftlehre in der Beziehung zu ihren Vorläufern

1 Im »Vorbericht« zu seinem 1979 veranstalteten Nachdruck der ersten Auflage von Reimarusʼ Vernunftlehre berichtet Frieder Lötzsch von Vorarbeiten zu einer Logik, die Reimarus bereits in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts unternommen hatte, und die darauf zielten, »dem einschlägigen älteren Werk von Christian Thomasius ein gleichnamiges Pendant an die Seite zu stellen«.1 Der Hinweis deutet darauf hin, dass der bei Max Wundt2 nicht einmal erwähnte und früher häufig dem Wolffianismus zugerechnete Hermann Samuel Reimarus seiner philosophischen Herkunft nach, etwa über sein Studium bei Johann Franz Budde in Jena, oder sein Interesse für Andreas Rüdiger, nähere theoretische Bekanntschaft mit Autoren hatte, die schulmäßig eher Christian Thomasius bzw. seinem Umfeld zugehörig waren. Die Formulierung, Reimarus habe der Vernunftlehre von Christian Thomasius ein »gleichnamiges Pendant an die Seite« stellen wollen, lässt – sofern sie zutrifft – zweierlei vermuten: Einerseits will Reimarus im Ausgang von Thomasius über diesen hinausgehen, und andererseits legt die Formulierung nahe, dass er dabei eine Vernunftlehre entwickeln will, die der von Christian Thomasius nicht gegenüber, sondern eben an die Seite gestellt wird. Und das heißt, dass Reimarus in seiner eigenen Vernunftlehre Elemente der damals – d. h. in den dreißiger Jahren – immerhin schon gut vierzig Jahre alten Vorlage erhalten wollte. Als die Vernunftlehre von Reimarus schließlich 1756 zum ersten Mal in Hamburg erschien, lag die Publikation der Vernunftlehre von Thomasius – die »Einleitung« und die »Ausübung« – genau 65 Jahre zurück;3 seither war viel Zeit vergangen, in der viele gewichtige Werke er-

|| 1 Frieder Lötzsch: Vorbericht des Herausgebers. In: Hermann Samuel Reimarus: Vernunftlehre. Nachdruck der ersten Auflage von 1756 mit fortlaufenden Hinweisen auf die Parallelen der dritten Auflage von 1766. Hg. von Frieder Lötzsch. München 1979, S. VII. 2 Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945 (ND Hildesheim, Zürich, New York 1992). 3 Christian Thomasius: Einleitung zu der Vernunfft-Lehre/ Worinnen durch eine leichte/ und allen vernünfftigen Menschen waserley Standes oder Geschlechts sie seyn, verständliche Manier der Weg gezeiget wird/ ohne die Syllogistica das wahre/ wahrscheinliche und falsche von einander zu entscheiden/ und neue Wahrheiten zu erfinden. Halle 1691 sowie ders.: Außübung der VernunfftLehre/ oder: Kurtze deutliche und wohlgegründete Handgriffe/ wie man in seinem Kopffe https://doi.org/10.1515/9783110726558-002

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schienen waren, nicht nur innerhalb dessen, was man der Einfachheit halber Thomasianismus nennen kann, sondern auch die einschlägigen Werke Wolffs, die freilich schon vor den dreißiger Jahren publiziert worden waren: Die Deutsche Logik bereits 1713,4 die Lateinische Logik5 und der dazugehörige Discursus praeliminaris de philosophia in genere 1728. Ob und inwieweit Reimarus seine ursprüngliche Absicht realisiert hat, eine Vernunftlehre vorzulegen, die immerhin mit denjenigen in einer nachvollziehbaren Verbindung steht, die von Thomasius entweder selbst verfasst und/oder in seinem theoretischen Umfeld entstanden sind, scheint daher insofern eine interessante Frage zu sein, als damit der Typus und der historische Ort von Reimarus‘ Vernunftlehre genauer beschrieben werden kann. Die sich in diesem Zusammenhang stellende Frage lautet: Welchen Anspruch verfolgte Reimarus mit welchen theoretischen Mitteln in seiner Vernunftlehre, und zwar in Nähe und Distanz zu Vernunftlehren sowohl des thomasianischen als auch des wolffianischen Umkreises? Die Beantwortung dieser Frage dürfte aufschlussreich sein, doch ist sie mitnichten originell, denn der schmale, aber zweifellos verdienstvolle, von Wolfgang Walter und Ludwig Borinski herausgegebene Sammelband Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur ‚Vernunftlehre‘ von Hermann Samuel Reimarus6 bot bereits Anlass, sich mit dieser Frage zu befassen. Insbesondere der mit »Praktische Logik« betitelte Beitrag von Werner Schneiders lässt vermuten, dass sich hier bereits eine erschöpfende Antwort auf die oben gestellte Frage findet. Auch der von Norbert Hinske im selben Band publizierte Beitrag – »Reimarus zwischen Wolff und Kant« – zielt in eine ähnliche Richtung. Allerdings rückt seine im Titel angekündigte, von Wolff über Reimarus zu Kant gehende Perspektive andere Akzente in den Vordergrund. Ein genauerer Blick auf die genannten Arbeiten zeigt jedoch, dass die gestellte Frage tatsächlich noch nicht hinreichend beantwortet worden ist. Dennoch sind die beiden Beiträge geeignet, den Blickwinkel der hier vorzustellenden Beobachtungen zu präzisieren. Werner Schneiders betont, dass im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert die Logik »in den Dienst einer Aufklärung mit praktischer Zielsetzung« tritt, || auffräumen und sich zur Erforschung der Warheit geschickt machen; die erkandte Warheit andern beybringen; andere verstehen und auslegen; von anderer ihrer Meinungen urtheilen/ und die Irrthümer geschickt widerlegen solle. Worinnen allenthalben viel allgemeine heut zu Tage im Schwang gehende Irrthümer angezeiget/ und deutlich beantwortet werden. Halle 1691. 4 Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. Halle 1713 (2., vermehrte Aufl. Halle 1719). 5 Christian Wolff: Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata et ad Usum Scientiarum atque vitae aptata. Præmittitur Discursus Præliminaris de Philosophia in Genere. Frankfurt a. M., Leipzig 1728. Siehe zum Discursus praeliminaris de philosophia in genere die von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl übersetzte, eingeleitete und herausgegebene historischkritische Ausgabe Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. 6 Wolfgang Walter, Ludwig Borinski (Hg): Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur ›Vernunftlehre‹ von Hermann Samuel Reimarus. Hamburg 1980.

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»die nicht mehr auf die Begründung einer modernen Naturwissenschaft«, sondern auf »eine geistige Erneuerung des Lebens ausgerichtet ist«.7 Dies war insbesondere bei Christian Thomasius der Fall, doch beschränkt sich nach Schneidersʼ Darstellung die »praktische Logik« mehr und mehr auf eine Anleitung zur richtigen Praxis des Denkens und wird eben nicht mehr, bzw. deutlich weniger als eine Anleitung zum richtigen Denken verstanden, die sich an einer richtigen Praxis im Leben und Handeln orientiert und von hier aus reguliert wird. Indem Logik – wieder klassisch – als eine Regelkunst konzipiert wird, unterbleibt eine »besondere Betonung ihres praktischen Charakters«.8 Dies gilt insbesondere für Christian Wolff und die WolffSchule, aber – nach Auffassung von Schneiders – auch für die Wolff-Gegner, so dass er schließlich feststellt, dass »es in der Frage des Praxisbezuges der Logik zwischen Wolff-Anhängern und Wolff-Gegnern keine grundsätzlichen Unterschiede« gebe, vielmehr existietren allenfalls »verschieden starke Akzente in der Betonung des Regel- oder Anleitungscharakters der Vernunftlehre«.9 Mit Blick auf Reimarus konstatiert Schneiders ganz ähnliche Interessen: Reimarus ziele nicht auf die »methodische Disziplinierung der Lebenspraxis«, sondern auf ein »systema logicum als der Rekonstruktion der idealen formalen Gedankenverhältnisse«.10 Hier lohnt es sich einzuhaken und den praktischen Impetus von Reimarus’ Vernunftlehre noch einmal genauer in den Blick zu nehmen, und damit nach einer Praxisorientierung zu fragen, die über den Anspruch einer Praxis des Denkens hinausgreift und dabei die gelebte Praxis in einer Weise einbringt, die dem Denken selbst ein Telos oder einen Rahmen, einen Maßstab und damit eine regelrechte Anleitung gibt. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, die von Reimarus sehr sicher oder auch nur sehr wahrscheinlich rezipierten Theorievorgänger auf seine Vernunftlehre zu beziehen. Zieht man zusätzlich den Beitrag von Norbert Hinske heran, dann wird deutlich, dass sich die Fragestellung auf eine nähere Untersuchung des Begriffs »natürliche Weltweisheit« zuspitzen lässt. Hinske spricht von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Logiken Wolffs und der Vernunftlehre von Reimarus und nennt – bei bemerkenswerter Vernachlässigung der Differenzen – »sechs markante Punkte«, »an denen Reimarus in seiner Vernunftlehre im großen und ganzen den Auffassungen Wolffs«11 folgt. Die Unterscheidung und die Charakterisierung von Stufen der menschlichen Erkenntnis als ganzer hat Norbert Hinske in seine Liste von Übereinstimmungen zwischen Wolff und Reimarus aufgenommen. Dabei übersieht er natürlich nicht das Offensichtliche, nämlich dass Reimarus zwar genauso || 7 Werner Schneiders: Praktische Logik. In: Walter, Borinski (Hg.): Logik im Zeitalter der Aufklärung (s. Anm. 6), S. 78. 8 Ebd., S. 80. 9 Ebd., S. 81. 10 Ebd., S. 83. 11 Norbert Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant. In: Walter, Borinski (Hg.): Logik im Zeitalter der Aufklärung (s. Anm. 6), S. 14.

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wie Wolff die historische, die philosophische und die mathematische Erkenntnis voneinander unterscheidet, diesem dreistufigen Modell aber mit der »natürlichen Weltweisheit«, die durch die »sich gelassene[], ungekünstelte[], gesunde[] Vernunft«12 angeleitet wird, eine weitere Stufe hinzugefügt hat. Sie wird von Reimarus als zweite Stufe nach der historischen Erkenntnis und vor der »philosophischen oder gelehrten Erkenntniß« angesiedelt. Hinske sieht darin aber keinen sachlichen, sondern nur einen didaktischen oder kompositorischen Unterschied, zumal er in Wolffs Ausführungen zum mittleren Grad zwischen philosophischer und historischer Erkenntnis im Discursus praeliminaris de philosophia in genere eine Art der Annäherung zwischen historischer und philosophischer Erkenntnis sieht, die der Vorstellung von einer »natürlichen Weltweisheit«, wie Reimarus sie konzipiert, sehr nahe kommen soll.13 An der Stelle, die Hinske anführt, spricht Wolff von der Möglichkeit, Lehrsätze der Philosophie im Modus der historischen Erkenntnis durch Experimente und Beobachtung zu bestätigen, so dass philosophische Kenntnisse auf historischem Wege erworben werden können. Auf diese Weise kann historisch erkannt werden, »daß das geschehen kann, wovon der Philosoph durch die Vernunft erkennt, daß es geschehen kann«.14 Weil damit aber nicht der Grund selbst erkannt wird, bleibt es eine historische Erkenntnis, wenn auch in einem hohen Grade. Insofern bleibt die kategoriale Unterscheidung zwischen historischer und philosophischer Erkenntnis bestehen. Die von Hinske betonte Formulierung vom »Medius inter cognitionem philosophicam & historicam gradus«15 schafft wohl eine Verbindung zwischen den beiden Erkenntnisformen, doch eine regelrechte Vermittlung als Relativierung ist grundsätzlich ausgeschlossen, zumal Wolff selbst im angeführten Paragraphen den prinzipiellen Unterschied noch einmal betont. Reimarus geht es offenbar ohnehin um etwas anderes. Die Einführung einer weiteren Stufe der Erkenntnis, die der ersten Stufe, der historischen Erkenntnis, nachgeordnet ist, und daher grundsätzlich einen anderen Erkenntnistypus als die historische Erkenntnis auf der einen Seite und als die philosophische oder gelehrte Erkenntnis auf der anderen darstellt, hat tatsächlich ein systematisches Gewicht und muss daher entsprechend ernst genommen werden. Die Frage ist: Was leistet diese weitere Stufe und woher kommt sie? Denn eine »natürliche Weltweisheit« – wie sie Reimarus vorschwebt – gibt es, so viel steht fest, bei Wolff schlicht nicht. Wobei freilich berücksichtigt werden muss, dass die unterschiedlichen Stufen der menschlichen Erkenntnis mit der im Unterschied zu Wolff markant eingeführten zweiten Stufe tatsächlich nur ein Phänomen der ersten Auflage von Reimarusʼ Vernunftlehre dar|| 12 Hermann Samuel Reimarus: Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Wiederspruchs hergeleitet. Hamburg 1756 (ND München 1979), S. 4. 13 Vgl. Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant (s. Anm. 11), S. 14f. 14 Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere (s. Anm. 5), § 54, vgl. auch § 26. 15 Ebd., § 54.

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stellt. In der nur wenig später, nämlich 1758 erschienenen »zweyte[n] verbesserte[n] und mehr zu Vorlesungen eingerichtete[n] Auflage«16 taucht die Unterscheidung der vier Erkenntnisstufen nicht mehr auf und von »natürlicher Weltweisheit« ist nur noch am Rande die Rede. Reimarus hat hier ganz deutlich die Akzente verschoben – doch davon später.

2 Die »natürliche Weltweisheit« schließt sich bei Reimarus an die historische Erkenntnis an, d. h. sie setzt diese voraus und baut auf ihr auf. Die historische Erkenntnis beobachtet, »was wirklich ist und geschieht oder geschehen ist«.17 Sie ist daher nichts Niedriges oder Verachtenswertes, denn sie ist die Grundlage aller »übrigen Forschung und Erfindung […], wo man nicht Schlösser in die Luft bauen will«.18 Historische Erkenntnis stellt das Wirklichkeitssubstrat einer jeden Erkenntnis dar und verhindert, dass ganze Lehrgebäude nichts anderes als »eitle[] Hirngespinste« sind, Reimarus spricht in diesem Zusammenhang markant von der »Bemerkung des Wirklichen«.19 Diese von Reimarus solcherart beschriebene historische Erkenntnis kommt in der Tat – bis hin zu ihrer entschiedenen Wertschätzung – mit Wolffs Begriff der »cognitio historica« überein. Auf der zweiten Stufe der Erkenntnis wird das Material der historischen Erkenntnis aufgegriffen und mit ihm umgegangen: Eine »natürliche Weltweisheit« – oder »Philosophie du bon Sens« – sieht Reimarus für gegeben, »wenn Menschen, ohne deutliche Regeln zu wissen, nach dem Maaße ihrer Fähigkeit, Erfahrung und Uebung, anfangen, über die Dinge, welche wirklich sind, und über deren innere Beschaffenheit, Ursachen, Wirkungen und Nutzen zu denken und zu urtheilen«.20 Erkenntnisse der »natürlichen Weltweisheit« sind demnach tatsächlich Erkenntnisse, d. h. echte Urteile, allerdings ohne Deutlichkeit, sie verdanken sich den Erfahrungen der alltäglichen Praxis und werden auch in dieser wirksam, d. h. sie sind auf diese alltägliche Praxis eingeschränkt. Mit Blick auf den Stellenwert dieser »natürlichen Weltweisheit« legt Reimarus Wert darauf, dreierlei festzuhalten: || 16 Hermann Samuel Reimarus: Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in dem Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs hergeleitet. Zweyte verbesserte und mehr zu Vorlesungen eingerichtete Auflage. Hamburg 1758. Siehe dazu auch den von Frieder Lötzsch mit fortlaufenden Hinweisen auf die Parallelen der zweiten und vierten Auflage herausgegebenen Nachdruck der dritten Auflage von 1766 (München 1979). 17 Reimarus: Vernunftlehre, 1. Aufl. (s. Anm. 12), S. 3. 18 Ebd., S. 4. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 4f.

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1. Die »natürliche Weltweisheit« ist Voraussetzung für eine als Wissenschaft betriebene Weltweisheit, denn demjenigen wird letztere »ganz unbegreiflich seyn, welcher zuvor nimmer nach seinem natürlichen Vermögen versucht hat eine Einsicht von den Dingen zu erhalten«. Denn – so argumentiert Reimarus weiter – »die Natur leidet keinen Sprung, sondern geht stuffenweise: und je mehr einer von der natürlichen Weltweisheit zur Wissenschaft mitbringet, desto mehr wird er Vortheil davon ziehen«.21 In Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur »natürlichen Logik«, dem Organon der »natürlichen Weltweisheit«, bekräftigt Reimarus noch einmal diese Abfolge: Weil »die Natur keinen Sprung leidet«,22 sei die natürliche Logik Voraussetzung der wissenschaftlichen Vernunftlehre und so lasse sich »die natürliche Fertigkeit im Denken leicht in eine Vernunftkunst verwandeln«.23 Wer über diese natürliche Fähigkeit zu denken, von Reimarus auch »Mutterwitz«24 genannt, nicht verfügt, sich eine unnatürliche Art zu denken angewöhnt hat, oder auch nachher die Vernunftlehre nicht zur Übung und Fertigkeit gebracht hat und es bei einem bloßen Wissen bewenden lässt, sei mit all seiner logischen Wissenschaft, die dann eine tote Wissenschaft darstellt, demjenigen bei weitem unterlegen, der über diese natürliche Fertigkeit verfügt und sie zudem »durch ein vernünftiges Gespräch und Lesen solcher Bücher oder durch eigenes Nachsinnen«25 kultiviert hat. 2. Der damit bereits angedeutete Rang der »natürlichen Weltweisheit« wird bekräftigt, wenn Reimarus festhält, dass es nicht weiter verwerflich sei, sollte man – weil es die »eigene Lebens-Art« nicht zulässt – auf dieser zweiten Stufe verbleiben und die dritte oder vierte Stufe der Erkenntnis gar nicht erreichen: Wenn einer nur der gesunden Vernunft und den klaren Begriffen nachgehet, und seine Denkungs-Art nicht durch Vorurtheile und angewöhnte Unordnung verdorben hat: so kann auch ein Handwerks- Kauf- Kriegs- Hof- und Staats-Mann, so kann auch das Frauenzimmer die nöthigsten und nützlichsten Wahrheiten zur menschlichen Glückseligkeit verständlich begreifen.26

Dass der Großstädter Reimarus hier nur Bürger aufzählt und die Landbevölkerung – also: Bauern – nicht in Betracht zieht, kann man als eine wissenssoziologische Note verstehen, der Begriff »natürliche Weltweisheit« lässt die Exklusion eines Standes oder einer Gruppe auf jeden Fall nicht zu. Bei Thomasius ist in einem ähnlichen Zusammenhang davon die Rede, dass die »Gelahrheit« jedem, »waserlei Standes oder Geschlechtes« er oder sie sein wolle, zugemutet werden könne.

|| 21 Ebd., S. 5. 22 Ebd., S. 5, 19. 23 Ebd., S. 19. 24 Ebd., S. 5, 19. 25 Ebd., S. 19. 26 Ebd., S. 6.

»Natürliche Weltweisheit« | 25

3. Die »natürliche Weltweisheit« ist gleichwohl begrenzt: Sie urteilt »nur nach der gemeinen Erfahrung«, aus klaren aber undeutlichen Begriffen und bezieht sich nur auf besondere Fälle. Den Grund und die Ursache der Dinge vermag sie nur selten einzusehen, sozusagen aufgrund der zufälligen Erfahrungsumstände. Die Einzelheiten ihrer Einsichten und Meinungen kann sie nicht miteinander verbinden, dazu fehlen ihr übergeordnete Gesichtspunkte. Insofern irrt sie leicht, auch wenn sie richtig denkt, ist daher eher Zweifeln unterworfen und somit weniger »zum Lehren und Widerlegen«27 geeignet. Die Umkehrung dieser Grenzen profiliert die Leistungen der dritten Stufe der Erkenntnis, »der philosophischen oder gelehrten Erkenntniß«: Sie ist es, die »aus allgemeinen deutlich erklärten Begriffen und Grundsätzen, durch richtige und an einander hängende Vernunftschlüsse, die Wahrheiten beweiset, und (so viel Menschen möglich ist) zu einem Lehrgebäude der ganzen Weltweisheit zu bringen sucht«.28 Die philosophische oder gelehrte Erkenntnis richtet sich als »echte Wissenschaft« gegen »Unwissende, Verächter, Irrwische und Zweifler, welche nur ins Wilde hinein denken und schwätzen«, und verschafft – vor allem, wenn sie mit der Gewissheit verbürgenden Mathematik verbunden ist – »allen Lebens-Arten der Menschen, vom Landwirte und Handwerker an bis zum Staatsregenten […] unzählige nützliche Wahrheiten und Erfindungen«, die durch die bloße natürliche Erkenntnis »nimmer würden ans Licht gekommen seyn«.29 Die sich anschließende mathematische Erkenntnis ist dadurch gekennzeichnet, dass sie »das Verhältnis der Größen nach Zahl und Maaß aufs genauste bestimmt«.30 Sie stellt als vierte Stufe der Erkenntnis wegen der mit ihr verbundenen höchsten Gewissheit die höchste Stufe der Erkenntnis dar, die ihrer sachlichen Leistungsfähigkeit wegen aber der dritten Stufe, also der philosophischen Erkenntnis, als deren Instrument vorgeschaltet werden sollte.31 Insofern kann die philosophische Erkenntnis im Grunde erst dann zu einer gewissen Wissenschaft werden, wenn sie sich der Mathematik bedient. Die vorgeführten Stufen der Erkenntnis sind im Erkenntnisprozess der Philosophie präsent, doch lassen sich diese nicht mit der Letzteren identifizieren. Auch wenn »die philosophische oder gelehrte Erkenntnis« vom Begriff her in diese Richtung weist, kann sie als Erkenntnisform doch erst durch ihren Gegenstand und ihr Ziel in einem vollen Sinne zur Philosophie, bzw. – in der Diktion des Textes – zur »Weltweisheit« werden. Indem er die Stufen der Erkenntnis von der Philosophie abhebt, folgt Reimarus übrigens ziemlich genau der Vorgabe Wolffs. Bemerkenswert ist dabei, dass er seine eigene Definition der Philosophie, nämlich Philosophie als

|| 27 Ebd., S. 7. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 7f. 30 Ebd., S. 8. 31 Vgl. ebd., S. 9.

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»Wissenschaft aller beträchtlichen [d. h. theoretischen] und sittlichen Hauptwahrheiten, die in der Menschen Glückseligkeit einschlagen«,32 ausdrücklich in Übereinstimmung sowohl mit der klassischen als auch mit der von Wolff vorgelegten Definition der Philosophie sieht: Die »Alten« – so hält Reimarus fest – hätten »eben dasselbe sagen wollen, da sie die Weltweisheit als eine Wissenschaft aller göttlichen und menschlichen Dinge beschrieben haben«.33 Und die in »neuerer Zeit« gegebene Definition, die die »Weltweisheit als eine Wissenschaft des Möglichen, so ferne es möglich ist«, ziele auf den Grund allen Seins und umfasse daher auch göttliche und menschliche Dinge, oder eben »beträchtliche und thätige Wahrheiten«, so dass Reimarus hier die antike Position ‒ die sich übrigens auch, und zwar genauso bei Johann Franz Budde finden lässt34 ‒ und die ganz rezente Auffassung von Christian Wolff mehr oder weniger unterschiedslos miteinander vermittelt. Dies, obwohl auf der Hand liegt, dass der Abstand zwischen einer Philosophie, die als eine Wissenschaft aller göttlichen und menschlichen Dinge aufgefasst wird, und einer Philosophie als Wissenschaft vom Möglichen als Möglichen doch kaum zu überbrücken ist. Dies sei an dieser Stelle ebenso wenig weiterverfolgt wie die tatsächliche Gegnerschaft zwischen Budde und Wolff, vielmehr soll nun nach der Herkunft und den Hintergründen von Reimarusʼ Konzept der »natürlichen Weltweisheit« gefragt werden.

3 Im Zusammenhang mit seiner Unterscheidung zwischen der historischen Erkenntnis, der »natürlichen Weltweisheit« und der »philosophischen oder gelehrten Weltweisheit« greift Reimarus über Wolff hinaus und auf Vorstellungen zurück, die unmittelbar vor dem Erscheinen von Reimarus’ Logik von Georg Friedrich Meier in dessen zuerst 1752 publizierter Vernunftlehre artikuliert wurden, sachlich allerdings weiter zurückgehen und bei Reimarus’ Jenaer Lehrer Johann Franz Budde und dessen Umfeld, also Johann Georg Walch, aber auch bei eigentlichen Thomasianern eine Rolle spielten. Wichtige Stichworte für die gesamte Diskussion hat Christian Thomasius in seiner Einleitung zu der Vernunftlehre gegeben. Er spricht hier in Abgrenzung von einer

|| 32 Ebd., S. 13. 33 Ebd. 34 »Philosophia, si vocem spectes, est amor, vel studium sapientiae, si rem ipsam, est notitia rerum divinarum humanarumquem prout ductu rectae rationis cognosci possunt, ad veram hominum felicitatem aut acquirendam, aut conservandam comparata.« Ioannes Franciscus Buddeus: Elementa Philosophiae Instrumentalis. Tomus Primus. Editio Septima. Halle 1719, § 1, S. 4.

»Natürliche Weltweisheit« | 27

als Wissenschaft betriebenen Philosophie oder »Welt-Weißheit« von »Gelahrheit«, die er als eine Erkenntnis begreift, durch welche ein Mensch geschickt gemacht wird das wahre von den falschen, das gute von dem bösen wohl zu unterscheiden, und dessen gegründete wahre, oder nach Gelegenheit wahrscheinliche Ursache zu geben, umb dadurch sein eigenes als auch anderer Menschen in gemeinen Leben und Wandel zeitliche und ewige Wohlfahrt zu befördern.35

Diese eminent praktisch perspektivierte Erkenntnis hat »ihren Sitz im Verstande«, und weil »dieser allen Menschen gemein ist«, sind »alle Menschen fähig, die Gelahrheit zu erlangen«,36 und zwar unabhängig von ihrem Stand oder ihrem Geschlecht, denn »Weibes-Personen« – so hält Thomasius ausdrücklich fest ‒ »sind der Gelahrheit so wohl fähig, als Manns-Personen«.37 Dabei geht es nicht darum, aus der »Gelahrheit« eine Profession zu machen; für gelehrt kann vielmehr bereits jemand gelten, der »etliche wenige Wahrheiten gewiß weiß, die er zum gemeinen Nutzen anwenden, und daraus in allerhand Wissenschafften [d. i. allgemeine Kenntnisse, F.G.] andere Warheiten wieder herleiten kan«.38 Weil die »Gelahrheit« den Menschen aus seiner »Unvollkommenheit« herausreißt, sollten alle Menschen sich »billig« darum bemühen. Allerdings räumt Thomasius ein, dass der »Unterscheid der Stände denen meisten so viel zu thun giebt, daß sie die Zeit, so zu Erlangung der Gelahrheit erfordert wird, dem gemeinen Wesen zum besten zu was andern anwenden müssen«.39 Diese Belastung durch Arbeit befreit diese Menschen allerdings nicht von der Pflicht, mit Hilfe eigener Erfahrung und der »Rathfragung der Gelehrten« so viel zu erkennen, wie ihr Stand eben zulässt, um auf diese Weise die eigene und die fremde Glückseligkeit zu befördern, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass sie »von andern Ständen keine Wissenschafft haben, auch von den Ihrigen nicht eben deutliche Rechenschafft zu geben wissen«.40 Die hier greifbare Unterscheidung zwischen einer undeutlichen Erkenntnis, zu der auch der nichtprofessionelle und eher alltagsweltliche »Gelahrte« in der Lage ist, und einer deutlichen Erkenntnis, die auf dem Verstand als dem »natürlichen Licht« beruht, wird von Thomasius nicht hinreichend systematisch ausgeführt. Denn einerseits behält er die Erkenntnis der Unterscheidung zwischen dem natürlichen und dem übernatürlichen, d. h. dem geoffenbarten Licht jenen vor, die »von der Gelahrheit profession machen«, andererseits aber ist klar, dass das natürliche Licht allen Menschen zukommt, zumal sich seine Vernunftlehre bereits im Titel als »leichte, und allen

|| 35 Thomasius: Einleitung zu der Vernunfft-Lehre (s. Anm. 3), S. 75f. 36 Ebd., S. 76. 37 Ebd., S. 87. 38 Ebd., S. 78. 39 Ebd., S. 79. 40 Ebd.

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vernünfftigen Menschen, waserley Standes oder Geschlechts sie seyn, verständliche Manier« anpreist, das Wahre, Wahrscheinliche und Falsche voneinander zu unterscheiden. Wenn Thomasius in diesem Zusammenhang von »natürlichem Verstand«41 spricht, dann grenzt er diesen von dem übernatürlichen Licht ab, das mit der Offenbarung Gottes gegeben ist. Elemente dieser Ausführungen wurden in der Folge aufgegriffen und weiter ausgebaut. Die allen hier in Frage kommenden Autoren gemeinsame Problemlage betrifft die Unterscheidung zwischen einer natürlichen Erkenntnis und einer gelehrten oder philosophischen Erkenntnis sowie das Verhältnis der beiden Erkenntnistypen untereinander. Es handelt sich im Kern um die Frage, wie Theorie und Praxis sowohl theoretisch als auch pragmatisch miteinander vermittelt sind, was Probleme der exoterischen Theorievermittlung einschließt. Es handelt sich insofern um eine der zentralen Fragen der Philosophie der Aufklärung, die auch verschiedentlich schon Gegenstand des philosophiehistorischen Interesses gewesen sind, wobei dieses Interesse sich zumeist auf spätere Erscheinungsformen popularer Philosophie richtete.42 Weil es hier um eine eher systematische Frage in einem definierten Theoriekontext geht, soll es mit Blick auf die von Reimarus vorgenommenen Unterscheidungen an dieser Stelle lediglich um ähnlich gelagerte Differenzierungen gehen, die bei der Einschätzung dessen, was Reimarus vor Augen gehabt hat, hilfreich sein könnten. An eine vollständige, systematische Rekonstruktion ist an dieser Stelle selbstverständlich nicht zu denken, so wünschenswert ein solches Unternehmen auch sein mag. Hier kann es nur darum gehen, einige wenige Spuren zu verfolgen. Die umrissene Problemlage taucht bei Johann Georg Walch, etwa in dessen Philosophischem Lexicon als Differenzierung zwischen gemeiner Erkenntnis (»cognitio vulgaris«) und gelehrter Erkenntnis (»cognitio erudita«) auf: Erstere geschieht durch die Sinne, das Ingenium und das Gedächtnis und ist ausdrücklich das »Werk aller Menschen, die einen Verstand haben«, daher rühre auch der Terminus »gemeine Erkenntnis«.43 Die gelehrte Erkenntnis ist das Resultat des Judiciums, das als || 41 Ebd., S. 85. 42 Vgl. etwa Christoph Binkelmann, Nele Schneidereit (Hg.): Denken fürs Volk? Popularphilosophie vor und nach Kant. Würzburg 2015. Siehe auch die Berücksichtigung früherer Positionen in Werner Schneiders: Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne. In: ders.: Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie. Gesammelte Studien. Zu seinem 70. Geburtstag hg. von Frank Grunert. Berlin 2005, S. 343–364. Kritisch zur Verwendung des Begriffs ›Popularphilosophie‹ siehe unlängst Johan van der Zande: What was Popular Philosophy. In: Das achtzehnte Jahrhundert 45 (2021), S. 28–50. 43 Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon, Darinnen Die in allen Theilen der Philosophie, als Logic, Metaphysic, Physic, Pneumatic, Ethic, natürlichen Theologie und Rechts-Gelehrsamkeit, wie auch Politic fürkommenden Materien und Kunst-Wörter erkläret und aus der Historie erläutert; die Streitigkeiten der ältern und neuern Philosophen erzehlet, die darin gehörigen Bücher und Schrifften angeführet, und alles nach Alphabetischer Ordnung vorgestellet werden. Leipzig 1726, Sp. 795.

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Vermögen zu unterscheiden und zu vergleichen die Grundlage jeder wahren Gelehrsamkeit abgibt. Dass die gelehrte Erkenntnis die höherwertige ist, liegt selbstverständlich auf der Hand, doch behält die gemeine Erkenntnis insofern ihren Wert und Stellenwert, als deren Erträge die Materialien der gelehrten Erkenntnis darstellen und das Judicium nicht etwas für wahr oder falsch ausgeben kann, was »den Sinnlichkeiten zuwider ist«.44 Was hier auf der Ebene der unterschiedlichen Erkenntnisvermögen als Vermögen der Seele verhandelt wird, ist allerdings nicht das, was Reimarus vor Augen hatte. Eher hilfreich mag die Differenzierung sein, die der Rüdiger-Schüler August Friedrich Müller offenbar in engem Kontakt mit seinem Lehrer in seiner zunächst 1728 und dann 1733 in einer überarbeiteten Version erschienenen Einleitung in die philosophischen Wissenschaften vorlegte.45 Zumindest gibt es hier eher terminologische und systematische Gemeinsamkeiten: Um zu einer Definition von Philosophie zu gelangen, unterscheidet Müller diese von der Gelehrsamkeit und die Gelehrsamkeit von der Weisheit. Denn die Philosophie ist seines Erachtens ein Teil der Gelehrsamkeit und diese ist eine wichtige menschliche Geschicklichkeit, die wiederum als Mittel dafür eingesetzt werde, die Glückseligkeit der Menschen zu befördern. Weil nun derjenige, »der seine, und anderer menschen glückseligkeit vernünftig zu befördern weiß, billig ein weiser Mann« genannt wird, ist für Müller klar, dass die »wahre gelehrsamkeit« aus der »natur wahrer weisheit« ermittelt werden muss.46 Bei Müller geht also ähnlich wie bei Reimarus der Gelehrsamkeit eine Weisheit voraus, die – so unklar sie im Einzelnen auch bleiben mag – auf der Basis der natur- bzw. gottgegebenen Gemütsvermögen im intellektuellen und voluntativen Streben nach Glückseligkeit besteht und insofern der Gelehrsamkeit das Ziel vorgibt. Gelehrsamkeit ist als scharfes und künstliches Nachdenken, jenseits der sinnlichen, auch gemein oder natürlich genannten Erkenntnis in der Lage, die Wahrheit zu erkennen und damit zu einer wahren Weisheit zu machen. Gelehrsamkeit ist bei Müller ein theoretisches Vermögen, die Erlangung der Glückseligkeit praktisch zu betreiben. Dabei räumt er allerdings ein, dass eine Gelehrsamkeit ohne weise Anleitung ebenso möglich ist wie eine nur einfältige Weisheit, die bloß auf der gemeinen Erkenntnis beruht und daher ohne Gelehrsamkeit bleibt und damit auch auskommt. Müller stellt dazu fest, dass »in einem ungelehrten, der iedoch die regeln der tugend und klugheit, so viel ihm nach seinem verstande von nöthen, durch guten unterricht, bloß auf gemeine art erkennet, eine wahrhafte

|| 44 Ebd., Sp. 797. 45 Siehe zu August Friedrich Müller Kay Zenker: Vorwort. In: August Friedrich Müller: Einleitung in die Philosophischen Wissenschaften. Hg. von Kay Zenker. Hildesheim, Zürich, New York 2008, S. 5*–29*. 46 August Friedrich Müller: Einleitung in die Philosophischen Wissenschaften, Erster Theil, welcher den Eingang, die Logic, und Physic in sich enthält. Zweyte, vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig 1733 (ND Hildesheim, Zürich, New York 2008 [s. Anm. 45]), S. 3f.

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weißheit ohne gelehrsamkeit seyn könne«.47 Allerdings heißt das nicht, dass das gesamte menschliche Geschlecht – sozusagen zur Not – auch ohne Gelehrsamkeit eine hinlängliche Weisheit erlangen könnte. Vielmehr gilt – und hier bringt Müller ein geradezu soziologisches Motiv ins Spiel – das Folgende: [G]leichwie der allgemeine nuz des menschlichen geschlechts erfodert, daß eine gnugsame anzahl von bauren, handwerckern, kaufleuten in der menschlichen gesellschaft sey; obgleich nicht eben ein ieder ein bauer, handwercker, kaufmann, seyn muß: also erfodert auch der allgemeine nuz des menschlichen geschlechts, daß eine gnugsame anzahl rechtschaffener und mit gründlicher einsicht begabter gelehrten unter den menschen zu finden sey; obgleich ebenfals nicht eben ein ieder gelehrt seyn muß.48

Bei Müller finden sich also – trotz aller Unterschiede im Detail – wichtige Elemente, auf die es Reimarus bei seinen Ausführungen zur »natürlichen Weltweisheit« und ihrem Verhältnis zur »philosophischen oder gelehrten Erkenntnis« ankommt. Zu nennen wären 1. die grundlegende und orientierende Funktion einer der Gelehrsamkeit vorgelagerten als natürlich apostrophierten Weisheit, 2. der eigenständige Stellenwert der natürlichen Erkenntnis – sowohl bei Reimarus als auch bei Müller wird in diesem Zusammenhang, und zwar möglicherweise nach dem Vorbild von Thomasius, auf gesellschaftliche Verhältnisse Bezug genommen – und schließlich 3. die Einsicht in die Notwendigkeit einer epistemologisch höherwertigen Gelehrsamkeit, die das letztliche Ungenügen einer nur natürlichen oder gemeinen Erkenntnis kompensiert. Zeitlich und vor allem sachlich näher an Reimarus ist die 1752 erschienene Vernunftlehre von Georg Friedrich Meier. Sie ist nicht zuletzt deswegen von Interesse, weil Meier sich – durchaus mit einer gewissen Eigenständigkeit – im Fahrwasser von Christian Wolff bewegt.49 Im Unterschied zu Reimarus spricht Meier nicht ausdrücklich von unterschiedlichen Stufen der Erkenntnis, doch differenziert er ganz analog zwischen einer gemeinen oder historischen Erkenntnis, einer vernünftigen Erkenntnis und einer noch einmal davon abgehobenen »gelehrten oder philosophischen Erkenntnis«, wohl wissend, dass »gemeiniglich« zwischen einer vernünftigen Erkenntnis und einer gelehrten oder philosophischen Erkenntnis nicht unterschieden wird.50 Eine mathematische Erkenntnis wird als eine eigenständige Erkenntnis

|| 47 Ebd., S. 33. 48 Ebd., S. 34. 49 Vgl. zu Meiers Vernunftlehre insbesondere Riccardo Pozzo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«. Eine historisch-systematische Untersuchung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000; siehe zu Meier allgemein die Beiträge in Frank Grunert, Gideon Stiening (Hg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als »Wahre Weltweisheit«. Berlin, Boston 2015. 50 Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Nach der bei Johann Justinus Gebauer in Halle 1752 erschienenen ersten Auflage in zwei Teilen herausgeben, bearbeitet und mit einem Appendix versehen von Günter Schenk. Teil 1 §§ 1–280. Halle 1997, S. 45.

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nicht, bzw. nicht auf dieser Ebene thematisiert. Bemerkenswert sind insbesondere seine Ausführungen zur gemeinen oder historischen Erkenntnis. Sie unterscheidet sich von der vernünftigen insofern, als sie »nicht vermögend ist aus denen Gründen auf eine deutliche Art zu zeigen, daß die Sache sei, daß sie so und nicht anders sei«.51 Die gemeine Erkenntnis verfügt nicht über diese Gründe, und d. h. diese spezifischen Gründe, ansonsten mag die historische Erkenntnis, die eigentlich mehr eine gemeine ist, sein wie sie will: So kann »jemand sehr viele Sachen erkennen, er kann von einer Sache eine sehr weitläufige Erkenntnis besitzen, er kann eine deutliche Erkenntnis haben, er kann die Möglichkeit, die Würklichkeit, die Beschaffenheiten, die Größen, und wer weiß wie vielerlei von einer Sache erkennen«52 und dennoch hat er deswegen nur eine gemeine Erkenntnis, weil er nicht in der Lage ist, aus den Gründen auf eine deutliche Art zu zeigen, dass die Sache sei, dass sie so und nicht anders sei. Diese Erkenntnis ist als unbegründete Erkenntnis mehr gemein als in dem von Wolff oder Reimarus exponierten Sinne historisch. Sie kommt wegen der mit ihr realisierten unterschiedlichen Erkenntnisformen eher in die Nähe der »natürlichen Weltweisheit«. Und ganz ähnlich wie Reimarus betont Meier, dass die gemeine Erkenntnis nicht gering zu schätzen sei. Sie werde als gemein bezeichnet, »weil alle Menschen, auch so gar der Pöbel, eine solche Erkenntnis haben, und weil der größte Teil der menschlichen Erkenntnis, im ganzen betrachtet, bloß historisch ist«.53 Sie sei gleichwohl in der beschriebenen Weise beschränkt, und doch – so hebt Meier ausdrücklich hervor und darin besteht wiederum eine bemerkenswerte Parallele zu Reimarus – ist sie für die vernünftige Erkenntnis insofern unentbehrlich, als die vernünftige Erkenntnis ohne die gemeine Erkenntnis »niemals« erlangt werden kann. Denn – so heißt es bei Meier, und zwar interessanterweise bild- und wortgleich mit der von Reimarus’ im gleichen Zusammenhang geäußerten Auffassung – »die Natur übereilt sich niemals, sie tut niemals einen Sprung«,54 und so verhalte sich die gemeine Erkenntnis zu der vernünftigen »wie die Morgenröte zum hellen Tag«.55 Zwar ist deutlich, dass bereits die gemeine Erkenntnis bei Meier Züge der »natürlichen Weltweisheit« von Reimarus aufweist, doch verfügt diese insofern auch über eine Schnittmenge mit der vernünftigen Erkenntnis bei Meier, als Meier die vernünftige Erkenntnis noch einmal von der »gelehrten und philosophischen Erkenntnis« absetzt. Obwohl die vernünftige Erkenntnis Meiers nach den Kriterien von Reimarus bereits der gelehrten Erkenntnis zugehörig ist, ist die Unterscheidung zwischen vernünftiger Erkenntnis einerseits und gelehrter Erkenntnis anderseits doch einigermaßen markant, zumal bei beiden impliziert ist, dass ein Ungelehrter

|| 51 Ebd., S. 42. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 44. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 44f.

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über vernünftige Erkenntnis (bei Meier) bzw. über eine »natürliche Weltweisheit« (bei Reimarus) verfügt. Bei Meier ist die gelehrte oder philosophische Erkenntnis von der vernünftigen durch ihren Grad unterschieden, »eine vollkommenere vernünftige Erkenntnis ist, eine gelehrte oder eine philosophische Erkenntnis«.56 Wobei Meier – auch das ist charakteristisch und grenzt ihn zumindest deutlich von Müller ab – Wert auf die Feststellung legt, dass »nicht alle gelehrte Erkenntnis eine amtsmäßige Erkenntnis der Gelehrten sei«, so dass »kein Frauenzimmer und kein Kavalier« sich von dieser gelehrten Erkenntnis erschrecken lassen sollte.57 60 Jahre nach der Einleitung der Vernunftlehre von Christian Thomasius schlägt hier sein Erbe doch ganz unverkennbar durch.

4 Um – mit Blick auf ein mögliches Resümee – Reimarusʼ Konzeption von denjenigen seiner Vorläufer schärfer zu konturieren, dürfte noch ein Blick auf Johann Franz Budde, notabene den Lehrer von Reimarus, hilfreich sein. Von Budde wird das Verhältnis von gelehrter Erkenntnis und »natürlicher Weltweisheit«, um bei der Terminologie von Reimarus zu bleiben, – durchaus wirkmächtig – als Unterschied und Beziehung von bzw. zwischen »Welt- und Schul-Gelahrtheit« verhandelt, wobei es ihm ausdrücklich darum geht, beide miteinander zu vermitteln.58 Denn sowohl die verbreitete Verachtung der »Schul-Gelahrtheit« als auch die Vernachlässigung der als »rechte Gelahrtheit« bezeichneten »Welt-Gelahrtheit« führt nach Buddes Auffassung zu »höchst gefährliche[n] Consequentien«.59 In dem 1709 erstmals erschienenen und Martin Musigs Licht der Weisheit vorangestellten Philosophischen Discurs von dem Unterscheid der Welt- und Schul-Gelahrtheit definiert Budde »WeltGelahrheit« als »gründliche und wahrhaftige Erkänntniß göttlicher und natürlicher Dinge, an und vor sich selbst, wie man sich derselben, zu Beförderung der ewigen und zeitlichen Glückseligkeit bedienet«.60 Er stellt ihr die disziplinär betriebene »Schul-Gelahrtheit« gegenüber, womit all das bezeichnet wird, »dessen sich die Lehrer zubedienen pflegen, diese Erkänntniß zu erlangen, zu vermehren, andern beyzubringen, fortzupflanzen, wieder die Feinde der Wahrheit zu beschützen und

|| 56 Ebd., S. 45. 57 Ebd., S. 46. 58 Ioannes Franciscus Buddeus: Philosophischer Discurs von dem Unterscheid der Welt- und Schul-Gelahrtheit. In: Martin Musig: Licht der Weisheit/ In denen Nöthigsten Stücken der wahren Gelehrsamkeit/ zur Erkänntniß Menschlicher und Göttlicher Dinge Nach Anleitung der Philosophund Theologischen Grund-Sätze Herrn Io. Francisci Buddei. Frankfurt a. M., Leipzig 31726. 59 Ebd., § II. 60 Ebd., § IV.

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zuvertheydigen«.61 Der »Welt-Gelahrheit« gebührt dabei der »Vorzug«; sie gilt Budde als »Kleinod«, das »zu verwahren, zu erhalten, fortzupflanzen, die SchulGelahrtheit erfunden, geheget, und mehr und mehr excoliret« wurde.62 Insofern ist Letztere ein Werkzeug, auf das die »Welt-Gelahrheit« angewiesen ist. Sie sei »nach den heutigen Umständen des menschlichen Geschlechts« ebenso wenig entbehrlich wie die »Welt-Gelahrtheit«: »Ist sie eine Schaale, darinn der Kern, die WeltGelahrtheit, lieget, so glaube man, daß sie eine solche Schaale ist, die zu Bewahrung und Erhaltung des Kerns so nöthig, als in dem Reich der Natur eine Schaale nöthig seyn kan.«63 Zum Gewicht der auf die materiale Erkenntnis des praktisch Nützlichen zielenden »Welt-Gelahrtheit« – Budde zählt sieben »Wissenschaften« auf, die von der »gründlichen Erkänntniß der wahren Religion und des thätigen Christenthums« bis zur »Erkänntniß von dem Zustand der Republique«64 reichen – gehört, dass sie sowohl allen Ständen als auch allen Geschlechtern zugemutet werden kann.65 In diesem Zusammenhang spricht Budde – ähnlich wie Thomasius zuvor – nicht nur von der grundsätzlichen Befähigung, sondern von einer Verpflichtung jedes vernunftbegabten Menschen, die »Welt-Gelahrtheit« zu erlangen. Dies wird ausdrücklich mit der Erwartung verbunden, dass »eine grosse Verbesserung der Kirchen und Republique« das Ergebnis sein würde, »wenn man in allen Ständen viele solche Leute anträffe, die eine solche Gelahrtheit erlanget, und nach derselben lebten, das ist, in allen ihren Thun Christlich, vernünftig, klüglich sich aufführeten«.66 Trotz des von Budde betonten Vorzugs der »Welt-Gelahrtheit« zeichnet sich bei ihm doch zugleich eine bemerkenswerte Korrektur der auf den ersten Blick nur instrumentellen Zweitrangigkeit der »Schul-Gelahrtheit« ab. Bereits die Definition der »Schul-Gelahrtheit« machte klar, dass diese die auf zeitliche und ewige Glückseligkeit zielende »gründliche und wahrhaftige Erkenntnis göttlicher und natürlicher Dinge« nicht nur sichern und tradieren, sondern auch »erlangen« und »vermehren« soll, womit eine inhaltlich produktive Funktion der »Schul-Gelahrtheit« sichtbar wird, die deutlich über die formale Sicherung anderweit ermittelter Inhalte hinausgeht. Wenn er mit Blick auf theologische Fragestellungen bemerkt, dass ohne die spezifischen Leistungen der »Schul-Gelahrtheit«, d. h. ohne die Kenntnis von Sprachen und der Geschichte der »wahre Sinn des Heil. Geistes nach dem Grund-Text« nicht ermittelt werden könne, dann wird vollends deutlich, dass die »SchulGelahrtheit« hier ein exklusives Medium der Wahrheitsfindung ist, die der Reich-

|| 61 Ebd. 62 Ebd., § XIX. 63 Ebd., § XXII. 64 Ebd., § XLI. 65 Vgl. ebd., § XL. 66 Ebd., § XLII.

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weite einer laienhaften und nur intuitive Richtigkeit beanspruchenden »WeltGelahrtheit« am Ende doch (wieder) überlegen ist.67 Vergleicht man Buddes Ausführungen mit den Überlegungen von Reimarus, dann liegt auf der Hand, dass Letzterer eine ganze Reihe von Anregungen aufgreift, die eben auch – freilich nicht nur – sein unmittelbarer Lehrer zu Beginn des 18. Jahrhunderts artikuliert hat. Wenn Reimarus etwa den Nutzen und die Bedeutung einer »natürlichen Weltweisheit« beschreibt, zugleich ihre theoretische Unterlegenheit, ja Wehrlosigkeit betont und schließlich die Vorteile einer auf Erhalt, Verteidigung und Weiterentwicklung der Wahrheit zielenden gelehrten Erkenntnis hervorhebt, dann hatte er ganz offenkundig die entsprechenden Überlegungen von Budde vor Augen. Freilich mit Akzentsetzungen, die – von Budde vorbereitet und in Kenntnis des von Wolff artikulierten Wissenschaftsanspruchs – auf ein höheres Maß an Wissenschaftlichkeit zielen. Reimarus schwebt nämlich, durchaus im Sinne Wolffs, eine Philosophie als Wissenschaft vor, die aus der »gesunden Vernunft« den Grund und den zusammenhängenden Beweis aller Sätze gibt. Daher werden alle ansonsten sehr nützlichen Betrachtungen und Handlungen, die »zu keiner Wissenschaft zu bringen« sind, also auf »bloßer Erfahrung, Glauben, Kunst, Handwerk, willkührlicher Gewohnheit und Stiftung« beruhen, von der eigentlichen, der als Wissenschaft betriebenen Weltweisheit abgesetzt.68 Allerdings räumt Reimarus ausdrücklich ein – und verbindet damit ein von Budde artikuliertes Motiv mit dem Wissenschaftsanspruch von Christian Wolff –, dass mit der Hilfe der wissenschaftlich betriebenen Weltweisheit zum einen »die Richtigkeit und Vollkommenheit« dieser nützlichen, aber nicht wissenschaftlich erlangten Erfahrungen bestimmt werden kann, zum anderen sich durch die wissenschaftlich betriebene Weltweisheit »viel Gutes« in den vor-wissenschaftlichen Erfahrungen und Erkenntnissen finden lassen, und schließlich diese Erkenntnisse mit Hilfe der eigentlichen Weltweisheit besser ausgeübt und unterrichtet werden können.69 Reimarus geht es ganz offensichtlich um dreierlei: um die Sicherung des Einfallstors von Praxis und Erfahrung in die Gelehrsamkeit, um die Gewährleistung ihrer Zugänglichkeit für ein nichtprofessionelles Publikum ‒ dies wird deutlich, wenn er wiederholt anstelle von »unnöthigen Kunstwörtern«, ganz im Sinne Meiers, eine »menschliche Sprache« einklagt,70 und schließlich geht es ihm um die Realisierung eines Wahrheits- und Wissenschaftsideals, das mit den Mitteln einer »natürlichen Weltweisheit« freilich

|| 67 Ebd., § XXIV, siehe dazu auch die ähnlich akzentuierten Hinweise auf die Medizin, die Rechtswissenschaften und die Philosophie in §§ XXVf. Vgl. dazu Frank Grunert: Die Pragmatisierung der Gelehrsamkeit. Zum Gelehrsamkeitskonzept von Christian Thomasius und im Thomasianismus. In: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibniz und Lessing. Wiesbaden 2005, S. 153. 68 Reimarus: Vernunftlehre, 1. Aufl. (s.Anm. 12), S. 14. 69 Ebd., S. 15. 70 Ebd., S. 24.

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nicht mehr zu gewährleisten ist. Eine Vereinseitigung in die eine wie die andere Richtung will Reimarus nicht. Dies alles gilt allerdings – wie oben bereits erwähnt – nur für die erste Auflage der Vernunftlehre. In der bereits wenig später erschienenen zweiten und »mehr zu Vorlesungen eingerichteten Auflage« hat Reimarus ganz offenkundig die Akzente verschoben. Im Vordergrund steht jetzt die Vernunftlehre als »Wissenschaft«, und zwar »von dem rechten Gebrauche der Vernunft im Erkenntniß der Wahrheit«.71 Sie ist eine »Wissenschaft der Vernunftkunst«, so dass bei ihrer Ausführung dasjenige beobachtet werden muss, »was eine Wissenschaft erfordert«.72 Von den vier Stufen der menschlichen Erkenntnis, von ihren Funktionen und ihrem Bezug untereinander ist nun nicht mehr die Rede. Weil aber die Natur – wie Reimarus auch hier festhält – ›keinen Sprung leidet‹ und sich daher die angestrebte deutliche Erkenntnis nur aus der undeutlichen entwickeln kann, räumt Reimarus ein, dass »ein jeder schon eine gesunde natürliche Logik zur Vernunftlehre und Vernunftkunst mitbringen« müsse.73 Diese »natürliche Logik« ist eine auf bloßen Naturkräften und Übung beruhende »Fertigkeit im Gebrauche der Vernunft nach undeutlich erkannten Regeln«.74 Die von Reimarus gelieferte Liste von Unzulänglichkeiten – »keine genaue Ordnung«, keinen Anspruch auf Allgemeinheit, Unfähigkeit zu ausführlicher, sachangemessener Komplexität, Irrtumsanfälligkeit75 – macht klar, dass die als Voraussetzung unverzichtbare natürliche Logik zugunsten der deutlichen Erkenntnis überwunden werden muss. Sie ist der eigentlichen, d. h. der wissenschaftlichen und damit deutlichen Erkenntnis als Voraussetzung vorgeschaltet, doch kommt ihr kein eigenständiger erkenntnistheoretischer oder epistemischer Stellenwert zu. Weil die natürliche Logik das Organon der »natürlichen Weltweisheit« ist, betrifft dieser Befund die Letztere in gleicher Weise: Um ein »Philosoph« zu werden, muss jemand »schon etwas natürliche Weltweisheit besitzen, d. i. durch fleißige Uebung im Nachdenken schon eine undeutliche Einsicht in die Beschaffenheit der Dinge erworben haben«.76 »Natürliche Weltweisheit« wird hier gerade noch so erwähnt, doch nicht mehr als eine eigenständige Stufe der menschlichen Erkenntnis, sondern lediglich als defizienter Modus einer zu überwindenden Voraussetzung für die eigentliche, nämlich wissenschaftliche Erkenntnis, die der natürlichen Erkenntnis nun in jeder Hinsicht überlegen ist. Vergleicht man die beiden Auflagen in dieser Hinsicht miteinander, dann wird man feststellen können, dass Reimarus in der zweiten Auflage radikalisiert, was in der ersten der Tendenz nach mindestens angelegt war. Dass dabei Traditionsbestände der vorausgegangenen Vernunftlehren || 71 Reimarus: Vernunftlehre, 2. Aufl. (s. Anm. 16), S. 2. 72 Ebd., S. 3. 73 Ebd., S. 5. 74 Ebd., S. 4. 75 Ebd., S. 4f. 76 Ebd., S. 5.

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schlicht aufgegeben werden, ist – zwei Jahre nach Wolffs Tod – allerdings der Bemerkung und womöglich der weiteren Untersuchung wert.

Marion Heinz

Reimarus’ Vernunftlehre Untersuchungen zur Grundlegung der Logik und zur Theorie des Begriffs Zweifellos ist Reimarus’ Logik1 der Schule des Wolffianismus zuzuordnen; aber unbeschadet der frappanten Übereinstimmung zahlreicher Lehrstücke mit Wolff stellt sie einen eigenständigen Ansatz vor, der in seinem einheitlichen systematischen Anspruch noch nicht hinreichend gewürdigt worden ist. Reimarus beabsichtigt, die Logik als selbständigen Systemteil der Philosophie grundzulegen, indem der Begriff der Vernunft zum Fundament dieser Wissenschaft gemacht wird. Die damit vollzogene Loslösung der Logik von der Ontologie ist ein wichtiger Schritt zur Vorbereitung der kantischen Logik.2 In der Absicht, den von Reimarus erreichten Fortschritt im Vergleich mit Wolff sichtbar zu machen, erörtere ich im ersten Teil seine Grundlegung der Logik; im zweiten Teil untersuche ich bestimmte Lehrstücke der Begriffstheorie. Die Anbahnungen zu den durch Kant erbrachten Neuerungen der Logik bei Reimarus, die mein Interesse an seiner Vernunftlehre motivieren, können hier ebenso wenig behandelt werden, wie die Bedeutung dieser Logik für Reinholds späte sprachphilosophisch grundierte ontologische Logik oder für Herders Metakritik an Kant.

|| 1 Hermann Samuel Reimarus: Die Vernunftlehre als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs hergeleitet. Hamburg 1756; 2. Aufl. ebd. 1758, 3. Aufl. ebd. 1766, 4. Aufl., hg. von Johann Albert Heinrich Reimarus. Hamburg, Kiel 1782. Im Folgenden wird die 3., verbesserte und zu Vorlesungen eingerichtete Auflage der Vernunftlehre von 1766 verwendet. 2 Kant besaß ein Exemplar dieser Vernunftlehre (1756) und hat sie gelegentlich positiv erwähnt. Vgl. Norbert Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant. In: Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur »Vernunftlehre« von Hermann Samuel Reimarus. Hg. von Wolfgang Walter und Ludwig Borinski. Göttingen 1980, S. 9–32, hier S. 20f.; Arthur Warda: Immanuel Kants Bücher. Bibliographien und Studien. Hg. von Martin Breslauer. Bd. 3. Berlin 1922, S. 53, Nr. 94; sie ist u. a. positiv erwähnt in der Schrift über die negativen Größen (vgl. Immanuel Kant: Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen. In: AA 2, S. 191). Schulthess weist auf die Bedeutung von Reimarus’ Urteilslehre für Kants vorkritische Logik hin (vgl. Peter Schulthess: Relation und Funktion. Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Studie zur theoretischen Philosophie Kants. Berlin, New York 1981, S. 42); auf Präfigurationen kantischer Theorieelemente machen auch Norbert Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant (s. Anm. 2), Hans-Jürgen Engfer: Die Urteilstheorie von H. S. Reimarus und die Stellung seiner »Vernunftlehre« zwischen Wolff und Kant. In: Logik im Zeitalter der Aufklärung (s. Anm. 2), S. 33–58 und Hans Werner Arndt: Die Logik von Reimarus im Verhältnis zum Rationalismus der Aufklärungsphilosophie. In: Logik im Zeitalter der Aufklärung (s. Anm. 2), S. 59–74 aufmerksam. https://doi.org/10.1515/9783110726558-003

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1 Zur Grundlegung der Logik als Wissenschaft Am Ende seiner »Einleitung« in die Vernunftlehre erklärt Reimarus: Nach dieser Grundlage der Vernunftlehre ist nur noch der Entwurf ihrer Ausführung zum voraus zu merken. Der Iste betrachtende Theil der Vernunftlehre handelt von den drey Verrichtungen des Verstandes, oder von den dreyerley Arten unserer Gedanken: nämlich 1. von Begriffen; 2. von Urtheilen; 3. von Schlüssen. Der IIte ausübende Theil der Vernunftlehre handelt 1. von den Quellen unserer Erkenntniß […]. 2. von Erfindung, Prüfung, Beweisung und Rettung der Wahrheit. 3. von der Gewißheit, Wahrscheinlichkeit, Irrthümern und Zweifeln.3

Es ist unübersehbar, dass diese Gliederung der Logik im Vergleich mit Wolff ein Novum darstellt, insofern »Grundlage« und »Ausführung« unterschieden werden und Letztere erst in die Teile der wolffschen Logik – betrachtender und ausübender – eingeteilt wird. Damit wird der bei Wolff fundierende betrachtende Teil der Logik seinerseits einer Grundlegung der Logik als solcher systematisch nachgeordnet. Aus diesem Aufbau ist ersichtlich, dass sich Reimarus mit dem Versuch, in der Logik das Fundament der Logik bereitzustellen, gegen Wolffs Auffassung von der materialen Abhängigkeit dieser Disziplin von Ontologie und Psychologie wendet.4 Zum Verständnis der Eigenständigkeit von Reimarus’ Logik kommt es demnach insbesondere darauf an, die einleitend vorgetragene Grundlegung angemessen zu interpretieren. Den Ausgangspunkt dafür bildet die im ersten Teil der »Einleitung« dargelegte Bestimmung des Verhältnisses von »natürlicher Logik«, »Wissenschaft von dem rechten Gebrauch der Vernunft im Erkenntniß der Wahrheit«5 und »Vernunftkunst«:6 »Natürliche Logik nennet man eine Fertigkeit im Gebrauche der Vernunft nach undeutlich erkannten Regeln, welche Menschen sich schon durch bloße Naturkräfte und durch Uebung […] erwerben.«7 Wie Wolff rät Reimarus »höchlich«8 an, Mathematik zu betreiben, um »ordentlich und gründlich […] denken [zu lernen], ehe man noch die Regeln davon deutlich versteht.«9 Denn die richtige und zuverlässige

|| 3 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 28, S. 22. 4 Zur Fundierung der wolffschen Logik in der Psychologie vgl. Jean-Francois Goubet: In welchem Sinne ist die Wolffische Psychologie als Fundament zu verstehen? Zum vermeintlichen Zirkel zwischen Psychologie und Logik. In: Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen. Hg. von Oliver-Pierre Rudolph und Jean-Francois Goubet. Tübingen 2004, S. 51– 60. Reimarus besaß alle wichtigen Werke Wolffs. Vgl. dazu detaillierter Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant (s. Anm. 2), Fn 6, S. 11, Fn 9, S. 12, Fn 16, S. 13. 5 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 3, S. 2. 6 Ebd., § 5, S. 3. 7 Ebd., § 7, S. 4. 8 Ebd., § 10, S. 6. 9 Ebd.

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Ausübung dieser Regeln bildet die Grundlage dafür, sie in der Vernunftlehre als Wissenschaft klar und deutlich zu erkennen. Dieses ist wiederum die Voraussetzung dafür, sie zu Vorschriften der Vernunftkunst machen zu können, die im Unterschied zur natürlichen Logik »regelmäßig und regelverständig« ist,10 d. h. diese Regeln explizit erfasst und anwendet.11 In der Absicht, die Vernunftlehre als »Wissenschaft von dem Gebrauche der Vernunft«12 grundzulegen, erinnert Reimarus zunächst an die von Wolff geltend gemachten methodischen Erfordernisse einer jeden Wissenschaft: Nämlich, 1) nichts, was nicht an sich selbst klar und offenbar ist, eher setzen, bis es aus dem vorhergehenden zu verstehen und zu beweisen ist: 2) zum Verstande und Beweise, zuerst, ausführlich deutliche Begriffe oder Erklärungen von dem Gegenstande geben: 3) aus solchen Erklärungen allgemeine Grundsätze oder Regeln ziehen; oder, in Ermangelung deutlicher Begriffe, klare Erfahrungen zugrunde legen: 4) aus diesen Sätzen alles übrige, durch richtige Schlüsse, in unzertrennter Verbindung, beweisen.13

Angewandt auf die Vernunftlehre ergibt sich nach der synthetischen Methode: »Die Wissenschaft von dem Gebrauche der Vernunft erfordert zuerst einen solchen ausführlich deutlichen Begriff von ihrem Gegenstande, d. i. von der Vernunft selbst, woraus sich die Grundregeln der Vernunftlehre und aller Wahrheit herleiten lassen.«14 Dieser Ansatz, den Begriff der Vernunft zum Fundament der deduktiv verfahrenden Wissenschaft der Logik zu machen, ist die entscheidende Neuerung der Vernunftlehre des Reimarus im Vergleich mit derjenigen Wolffs. Reimarus »entwickel[t]«15 den wissenschaftlichen, d. h. deutlichen Begriff der Vernunft aus dem unbestimmten Begriff »[a]lle[r] Menschen«, demgemäß sie »diejenige Kraft sey, woraus alle unsere Vorzüge vor den unvernünftigen Thieren entspringen.«16 Die undeutliche Vorstellung aller Menschen von sich selbst als Menschen ist mithin der Ausgangsbegriff, aus dem er – seinem ersten Punkt der wissenschaftlichen Methode gemäß – erst den deutlichen Begriff der Vernunft durch einen Schluss gewinnt. Die Erklärung, die Vernunft mache die Vorzüge des Menschen vor den Tieren aus, bildet die Major, aus der die Conclusio erzeugt werden kann, Vernunft – die bisweilen Verstand genannt wird – ist die Kraft zu reflek-

|| 10 Ebd., § 5, S. 3. 11 Zu den entsprechenden Lehrstücken bei Wolff vgl. §§ 1–29 der Prolegomena zur Lateinischen Logik (Christian Wolff: Discursus praeliminares de philosophia in genere. Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata. Pars II. In: WGW II, 1.2); vgl. auch Goubet, Wolffische Psychologie als Fundament (s. Anm. 4), v. a. S. 54–57. 12 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 11, S. 6. 13 Ebd., § 6, S. 3. 14 Ebd., § 11, S. 6. 15 Ebd., § 11, S. 7. 16 Ebd., § 11, S. 6.

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tieren.17 Die in der Minor genannte These, dass diese Kraft die Ursache aller Vorzüge des Menschen sei, wird durch empirisch-psychologische Befunde begründet: In ontogenetischer Perspektive zeige sich nämlich nicht nur, dass sich diese Kraft schon bei »zarten Kindern« äußere, sondern auch, dass aus ihr die Fähigkeit zur Bildung allgemeiner Begriffe und zur Sprache erwachse, die ihrerseits die Grundlage aller anderen Vorzüge des Menschen bilde.18 Diese Kraft zu reflektieren wird genauer bestimmt »als ein Vermögen und Bemühen des menschlichen Verstandes, durch Vergleichung der vorgestellten Dinge einzusehen, ob und wie weit sie mit einander einerley sind, oder nicht, sich einander wiedersprechen, oder nicht.«19 Aus diesem Begriff der Vernunft sind im nächsten Schritt diejenigen »Grundsätze oder Regeln [zu] ziehen«, auf denen die Logik beruht.20 Zu Recht ist in der Forschung herausgestellt worden, diese Logik zeichne sich in ihrem Ansatz vor der Wolffischen dadurch aus, dass die Vernunft hier im wortwörtlichen Sinne autonom wird,21 indem sie als eine Kraft definiert wird, deren Wirken durch ihr selbst entstammende Regeln, also nicht mehr wie bei Wolff durch die ihr in der Ordnung der Dinge vorgegebenen Gesetze des Satzes vom Widerspruch und des Satzes vom Grund22 bestimmt ist. Wie jede Kraft ist auch die Vernunft als »Kraft der Menschen« in ihrem Wirken durch Regeln bestimmt, und, wie schon die Erläuterung des Reflektierens andeutet, sind es die »Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs«, mittels derer sie »über die vorgestellten Dinge zu reflektiren« in der Lage ist.23 Die Vernunft ist demnach eine »Naturkraft«,24 deren durch ihre eigenen Regeln bestimmten Wirkungen Realisierungen ihrer selbst sind – die mithin nichts in anderem bewirkt, sondern sich nur selbst betätigt. Es sind diese Prinzipien, principium identitatis und principium contradictionis,25 die – wie Reimarus im Folgenden zeigt – den Operationen der Vernunft in der Erkenntnis der Wahrheit zugrunde liegen26 und daher zugleich das Fundament für die Theorie der Wahrheit bilden, die Reimarus im Grundlegungsteil der Vernunftlehre erarbeitet.27

|| 17 Vgl. ebd., § 12, S. 7. 18 Vgl. ebd., § 13, S. 7f. 19 Ebd., § 12, S. 7. 20 Ebd., § 6, S. 3. 21 Vgl. Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant (s. Anm. 2), S. 25. 22 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 8, S. 4; § 14, S. 8f. 23 Ebd., § 15, S. 9 (Hervorhebung M.H.). 24 Ebd., § 8, S. 4. 25 Vgl. ebd., § 14, S. 8f. 26 Vgl. ebd., § 19, S. 13f. 27 Vgl. zur Stellung der Wahrheitstheorie bei Wolff Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964‒1970, Bd. 2, S. 601: »Kernstück des praktischen Teils der wolffischen Logik ist zweifellos die Theorie der Wahrheit und des Beweises.«

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Die logische Wahrheit, d. h. die »Wahrheit im Denken (Veritas Logica) besteht in der Übereinstimmung unserer Gedanken mit den Dingen, woran wir gedenken«.28 Mit diesem Begriff logischer Wahrheit ist ein doppeltes Verhältnis zwischen Gedanke und Ding postuliert. Zum einen wird geltend gemacht, dass sich alles Denken auf ein Ding als seinen intentionalen Gegenstand, also dasjenige, »woran wir gedenken«, bezieht, zum anderen ist die Übereinstimmung zwischen Gedanke und Ding, also die Wahrheit des Gedankens, erforderlich. Es ist die auf die Bedingungen ihres Vollzugs sowie auf die der Wahrheit ihrer Gedanken reflektierende Vernunft, die mit dieser doppelten Forderung den Rückgang auf die metaphysische oder »wesentliche Wahrheit in den Dingen«29 notwendig macht und die erkennt, dass es in beiden Fällen die nun als Prinzipien der Dinge verstandenen Regeln von Einstimmung und Widerspruch sind, durch die diese Bedingungen zu erfüllen sind. Die sich in ihren Voraussetzungen begreifende Vernunft sieht ein, dass ihre Gedanken sich auf ein »Etwas, nicht aber ein Unding, Nichts, oder Schimäre«30 beziehen31 und dass dieses auf den metaphysischen Prinzipien der Einstimmung und des Widerspruchs beruht: »Ein jedes Ding ist mit sich selbst einerley oder sich selbst ähnlich und gleich«32 lautet der »allgemeine Satz« der Einstimmung, und »[e]in Ding kann nicht zugleich seyn und nicht seyn«33 der des Widerspruchs. Des Weiteren werden diese Prinzipien der Dinge als der Grund zu »gedenken« geltend gemacht: Die Regel der ontologischen Einstimmung »ist der Grund alles dessen, was man sich als wirklich oder nothwendig gedenkt«34, und die des ontologischen Widerspruchs »ist der Grund alles dessen, was wir uns als unmöglich oder möglich gedenken«.35 Die metaphysischen Prinzipien der Dinge sollen also den Gegenstandsbezug allen Denkens – differenziert nach seiner Modalität – sichern. Die Vernunft als Vermögen der Reflexion »nach den Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs«36 erhebt den Anspruch auf Wahrheit, und d. h. sie denkt das Verhältnis von Gedanken und Ding nicht nur als ein solches der Bezogenheit des einen auf das andere, sondern zugleich als mögliche Übereinstimmung zwischen ihnen. Reimarus’ Logik beabsichtigt, eine allgemeine Theorie der Wahrheit zu begründen, indem das Verhältnis der Übereinstimmung zwischen Ding und Gedanke,

|| 28 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 17, S. 11. 29 Ebd. 30 Ebd., § 17, S. 11. 31 Arndt: Die Logik von Reimarus (s. Anm. 2), S. 63, spricht daher davon, der Begriff des Dinges werde aus dem Begriff der Reflexion gleichsam »herausprojiziert als ein durch diesen Begriff Postuliertes«. 32 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 14, S. 8f. 33 Ebd., § 14, S. 9. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd., § 15, S. 9.

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von Objekt und Subjekt, als ein Verhältnis gedacht wird, dessen Relata ihrerseits als durch – unabhängig voneinander existierende – Regeln bestimmte Verhältnisse verstanden werden.37 Die »wesentliche Wahrheit der Dinge [richtet sich] nach eben den Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs […], wonach wir auch denken«.38 Um den Gegenstand nicht nur als intentionales Objekt, sondern als möglichen Wahrmacher von Gedanken zu qualifizieren, greift Reimarus auf die wolffsche Ontologie zurück: Das Ding hat nämlich ein Wesen, oder seine innere erste Möglichkeit; vermöge der Regel des Widerspruchs. Es hat seine Eigenschaften, oder solche Beschaffenheiten, die in dem Wesen völligen Grund haben; vermöge der Regel der Einstimmung. Es hat auch wohl, ausser diesen wesentlichen und beständigen, seine zufällige oder veränderliche Beschaffenheiten, welche theils in dem Wesen, nach der Möglichkeit, theils in äusserlichen Ursachen, nach der Wirklichkeit, Grund haben; vermöge beyder obigen Regeln.39

Wolff hatte das Wesen und die übrigen Bestimmungen eines Dinges nach dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit und dem Satz vom Grund wie folgt gefasst: Dinge sind durch die von keinem anderen abhängigen essentialia, die nur dem Satz vom Widerspruch genügen müssen, und den durch diese allein determinierten attributa als ihren unveränderlichen inneren Bestimmungen bestimmt, zu denen die veränderlichen, und daher zufälligen modi und relationes hinzutreten, für die nur gilt, dass sie den ersteren nicht widersprechen dürfen, die aber nicht in ihnen ihren zureichenden Grund haben.40 Ist unter Rückgriff auf Wolffs Ontologie erwiesen, dass die für die Vernunft geltend gemachten Prinzipien auch die Ordnung der Teile des Dinges bestimmen, kann Wahrheit als übergeordnete Übereinstimmung von Übereinstimmungen in Dingen und Gedanken oder von zwei verschiedenen Wahrheiten definiert werden. Es »muß auch zwischen der logischen und wesentlichen Wahrheit eine Einstimmung seyn; d. i. wenn wir nach den Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs denken: so müssen auch unsere Gedanken mit den Dingen selbst

|| 37 Risse: Logik der Neuzeit (s. Anm. 27), Bd. 2, S. 601, charakterisiert Wolffs Logik als eine Theorie der Wahrheit folgendermaßen: »Weil Wolff den Begriff statt als abstrakten, in sich beruhenden Bedeutungsgehalt als konkreten, subjektgebundenen Bedeutungsträger […] versteht, dem aufgrund der prästabilierten Harmonie eo ipso ein Sachverhalt entspricht, sind für ihn die beiden Definitionen der Wahrheit als Übereinstimmung des Urteils mit der Sache wie als Zukommen des Prädikats zum Subjekt bedeutungsgleich.« Im Unterschied zu Reimarus werde hier »die Reduktion der Sache auf den Begriff« gelehrt. 38 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 17, S. 11. 39 Ebd., § 17, S. 11f. 40 Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. In: WGW I, 1, §§ 33–44 (im Folgenden: Deutsche Metaphysik).

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übereinstimmen, oder wahr gedacht sein.«41 In der Isomorphie der Regeln oder Prinzipien liegt demnach der allgemeine Grund der Wahrheit. Subjektiv stellt sich die Harmonie zwischen Gedanke und Ding als Unmöglichkeit dar, wissentlich den in einem Ding instantiierten allgemeinen Regeln der Identität und des Widerspruchs zuwiderlaufende Vorstellungen zu bilden.42 Bringt die Vernunft als Naturkraft gesetzlich handelnd den Dingen formaliter konforme Vorstellungen hervor, sind ihre Regeln wie Naturgesetze zu verstehen, die in der natürlichen Logik angewendet werden.43 Sofern sie jedoch in der Vernunftlehre deutlich erkannt und begründet werden, können sie als Normen richtigen Denkens für die in ihr begründete Vernunftkunst aufgestellt werden: »Die Vernunftlehre schreibt der Vernunftkunst keine andere Regeln vor, als die der deutliche Begriff ihres Gegenstandes, nämlich der natürlichen Vernunft, giebt.«44 Wie beides zu vereinbaren ist, zeigt z. B. die Begriffslehre: Das »Verfahren[…], welches uns die Natur selbst bey der ersten Erzeugung der Begriffe lehret«,45 ergibt durch seine Regeln noch keine »sichere Übereinstimmung unserer Begriffe mit den Dingen selbst, und also keine zuverläßige Wahrheit, wo wir nicht hernach unsere Begriffe nach den Regeln der Vernunft einrichten.«46 Damit begründet Reimarus, dass die Vernunft – unbeschadet dessen, dass sie eine Naturkraft ist – zugleich eine kritische Vernunft in dem Sinne ist, dass »alles […] unter das Gebiete und vor den Richtstuhl der Vernunft« gehört.47 Dem Anspruch nach ist diese Wahrheitstheorie das erste und fundamentale Ergebnis der Reflexion der Vernunft: Ihr erster Akt besteht darin, auf ihre eigenen Voraussetzungen zu reflektieren, um sich des Begriffs eines möglichen Gegenstandes des Denkens einerseits und der Bedingungen der Wahrheit ihrer Gedanken andererseits zu vergewissern.48 Wenn die notwendige Bedingung des Dinges als Übereinstimmung mit sich selbst erkannt ist, kann aufgrund des jeder bestimmten Dingerkenntnis vorhergehenden Vergleichs zwischen Subjekt und Objekt, Vernunft und Ding, die Identität der jedes der Relata je für sich fundierenden Regeln oder ihre Ähnlichkeit in Hinsicht auf diese Regeln, festgestellt werden. Damit ist nach Reimarus’ Begriffstheorie zugleich der allgemeine Begriff dieser Regeln gewonnen.

|| 41 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 17, S. 11. 42 Vgl. ebd., § 16, S. 9f. 43 Vgl. ebd., § 7, S. 4. 44 Ebd., § 8, S. 4. 45 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 91, S. 103. 46 Ebd. 47 Ebd., § 38, S. 42f. Ausgeschlossen von dieser Beurteilung sind Vorstellungen, die keine Klarheit erlangen können (vgl. ebd., 1. Aufl., § 38). Zu Kants Übernahme der Metapher vom Richterstuhl der Vernunft vgl. Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant (s. Anm. 2), Fn 98, S. 22. 48 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 17, S. 11.

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Nach der Vorrede des Sohnes in der posthum erschienenen vierten Auflage der Vernunftlehre (1782) kritisierte der Verfasser, dass mit Unrecht jene Regeln ehemals von der Vernunftlehre abgesondert und bis in die Grundwissenschaft (Ontologie) versparet [wurden], gleich als ob dieselben nur für die wesentliche Wahrheit der Dinge und nicht für die logische Wahrheit im Denken gehörten, da doch beides zusammenhängt, und die besondern logischen Regeln sich ganz natürlich aus den allgemeinen ableiten lassen.49

Reimarus’ Ansatz erreicht also mit diesem Gedanken von allgemeinen Regeln eine höhere Abstraktionsstufe, die es ermöglicht, eine die Prinzipien von Ontologie und Logik übergreifende Theorie der Wahrheit aufzustellen. Wenn Reimarus geltend macht, dass diese Regeln »zureichend sind, alle Wahrheit und Richtigkeit aller unserer Gedanken auszumachen«,50 bezieht er sich implizit auf die Wolffische Gliederung der Erkenntnis in historische Erkenntnis und Schlusserkenntnis.51 Auch für ihn ist die Erstere Erkenntnis des Wirklichen, und d. h. des Einzelnen durch Erfahrung, und die Letztere eine Erkenntnis von Dingen vermittelst des Erweises der Übereinstimmung zweier Begriffe durch einen dritten im Syllogismus. Die historische Erkenntnis erfasst Reimarus zufolge die Dinge durch Empfindung, und d. h. unmittelbar, ohne Bezugnahme auf ihre inneren oder äußeren Gründe.52 Er unterstellt auch diese Erkenntnisart den Prinzipien von Einstimmung und Widerspruch und kann sie so in seine Wahrheitstheorie integrieren: »Des historischen Erkenntnisses Wahrheit wird durch die Einstimmung unserer Vorstellung mit dem Empfundenen bestimmt; wie hingegen historisch unwahr ist, wo das Empfundene der Vorstellung widerspricht.«53 Wenn aus dem Begriff der Vernunft diejenigen Prinzipien entwickelt werden können, die alle Wahrheit ermöglichen, kann man sagen, diese Logik enthalte den Versuch, sich durch sich selbst als »autarke Erkenntnislehre zu fundieren«.54

|| 49 Hermann Samuel Reimarus: Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in dem Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs hergeleitet. Hamburg, Kiel 1782, hier Vorrede, Textkritischer Apparat, S. XXf. 50 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 18, S. 12 (Hervorhebung M.H.). 51 Vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 39), 3. Cap., § 372. 52 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 18, S. 12f., § 80, S. 72. 53 Ebd., § 18, S. 13. Zur Aufwertung der Erfahrungserkenntnis bei Reimarus vgl. die Ausführungen dazu in der 1. Auflage (§ 4, S. 4), wo er erklärt, dass die historische Erkenntnis des Wirklichen »bey aller übrigen Forschung und Erfindung zum Grunde gelegt werden [müsse], wo man nicht Schlösser in der Luft bauen will« oder »eitle[] Hirngespinste weben« will. Vgl. dazu auch Engfer: Die Urteilstheorie von H. S. Reimarus (s. Anm. 2), S. 50–52. 54 Vgl. Arndt: Die Logik von Reimarus (s. Anm. 2), S. 62.

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Wie schon aus den vorstehenden Analysen klar wird, bringt diese Grundlegung der Logik eine Neuerung hinsichtlich der Systematik der logischen Regeln mit sich.55 Innerhalb der Logiken des 18. Jahrhunderts ist Reimarus’ Vernunftlehre die einzige,56 die allein die Regeln von Einstimmung und Widerspruch als »Grundregeln«57 in Anschlag bringt und zu zeigen beabsichtigt, »daß alle logische Regeln aus [ihnen] entspringen«.58 Anders als bei Leibniz und Wolff wird der Satz vom Grund damit in eine nachrangige Position gerückt; erst in der Urteilslehre wird er eingeführt.59 Denn erst im Urteil wird die Behauptung aufgestellt, dass die logischen Verhältnisse mit denen der Dinge übereinstimmen, womit Letztere als Grund der Wahrheit verstanden werden. Bei Reimarus wird der Satz vom Grund zu einem Metaprinzip, das die durch die Prinzipien der Identität und des Widerspruchs bestimmten logischen und metaphysischen Verhältnisse regelt. Dieser Satz hat in der Logik den Charakter eines Postulats, dem die Vernunft dadurch genügt, dass sie auf die Einstimmungsund Widerspruchsverhältnisse in einem Ding rekurriert, die bereits in der Erklärung seiner metaphysischen Wahrheit den ontologisch verstandenen Grund-FolgeVerhältnissen seiner Determinationen vorgeordnet werden: Dass dem Ding ein We-

|| 55 Vgl. Schulthess: Relation und Funktion (s. Anm. 2); zu den logischen Prinzipien in Kants vorkritischen Schriften vgl. Engfer: Die Urteilstheorie von H. S. Reimarus (s. Anm. 2). 56 Vgl. ebd., S. 55f. 57 Vorrede des Sohnes zur 4. Auflage (s. Anm. 49), textkritischer Apparat, S. XX. 58 Ebd. – Reimarus begründet die Notwendigkeit, außer dem Satz vom Widerspruch den Satz der Identität als zweites Prinzip anzusetzen, damit, dass dieser das Prinzip aller Bejahung darstellt. Würde allein jener Satz angeführt, würde der Beweis der Bejahungen nur aus der Unmöglichkeit des Gegenteils geführt werden können, und dies würde von »dem eigentlichen Grunde des Bejahens, nämlich der Einstimmung, abführen« (Reimarus: Vernunftlehre [s. Anm. 1], 1. Aufl., § 33, S. 36). Das Prinzip des Widerspruchs subsumiert das bloß Verschiedene unzulässig unter das Widersprüchliche (vgl. ebd., § 19). Vgl. Engfer: Die Urteilstheorie von H. S. Reimarus (s. Anm. 2), S. 41–47. 59 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), §§ 120–122; vgl. Engfer: Die Urteilstheorie von H. S. Reimarus (s. Anm. 2), S. 40f., auch zur Stellung dieses Satzes bei Leibniz und Wolff. Vgl. auch Hans Werner Arndt: Einleitung des Herausgebers. In: Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. In: WGW I, 1 (im Folgenden: Deutsche Logik), S. 7–102, hier S. 66. Vgl. zu Leibniz Arndt: Einleitung (s. Anm. 59), S. 67f.; zu Wolffs Versuch der Ableitung des Satzes vom Grund aus dem Satz vom Widerspruch in seiner lateinischen Ontologie § 70 vgl. ebd. 255f., Anm. 5 (Christian Wolff: Philosophia prima, sive Ontologia, methodo scientifica pertractata, qua omnis cognitionis humanae principia continentur. In: WGW II, 3 [im Folgenden: Lateinische Ontologie]); zu einem etwas abweichenden, aber ebenfalls zirkulären Versuch der Ableitung des Satzes vom Grund aus dem Satz vom Widerspruch vgl. auch Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 40), § 31. Zur zeitgenössischen Diskussion über den Satz vom Grund vgl. Gideon Stiening: »Ein jedes Ding muß seinen Grund haben«? Eberhards Version des Satzes vom zureichenden Grunde im Kontext der zeitgenössischen Kontroverse um das principium rationis sufficientis. In: Ein Antipode Kants? Johann August Eberhard im Spannungsfeld von spätaufklärerischer Philosophie und Theologie. Hg. von Hans-Joachim Kertscher und Ernst Stöckmann. Berlin, Boston 2012, S. 7–42. Vgl. auch Schulthess: Relation und Funktion (s. Anm. 2), S. 40 und Risse: Logik der Neuzeit (s. Anm. 27), Bd. 2, S. 609.

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sen als seine »innere erste Möglichkeit« zukommt, könne ebenso wie das Zukommen der Attribute als der im Wesen zureichend gegründeten Eigenschaften nur »vermöge der Regel des Widerspruchs« bzw. »vermöge der Regel der Einstimmung« der Fall sein. »Folglich ist die Einstimmung und der Widerspruch [in den Dingen] nichts anders, als ein zureichender Grund, sowohl der wesentlichen als logischen Wahrheit«60 – so lautet die noch näher zu begründende These. Im Falle des bejahenden Urteils verhält es sich so, dass die Übereinstimmung zwischen Vorder- und Hinterglied des Satzes, also zwischen Subjekt und Prädikat, behauptet wird, die der des Dinges entsprechen muss, wenn der Satz wahr ist. Wenn es das Vorderglied, also der Subjektbegriff, ist, der das Ding repräsentiert, besteht diese Übereinstimmung darin, dass das Prädikat teilweise oder ganz im Subjektbegriff enthalten ist.61 Das Sein des Prädikats ist das inesse subjecto, das im Subjektbegriff erfasst ist. Das Verhältnis der Übereinstimmung zwischen Prädikat und Subjekt im Subjekt ist mithin der Wahrmacher des Urteils. Aus diesem Gedanken entwickelt Reimarus den Begriff des zureichenden Grundes und den Satz vom zureichenden Grund: Es »muß sich aus dem Vordergliede völlig verstehen lassen, warum das Hinterglied von ihm zu bejahen oder zu verneinen sey. Nun nennet man dasjenige einen zureichenden Grund, woraus sich völlig verstehen läßt, warum etwas sey oder nicht sey.«62 Der Satz vom zureichenden Grund besagt demnach: Wenn man setzet, daß etwas sey oder nicht sey, (d. i. bejahet oder verneinet), so muß auch etwas seyn, woraus sich völlig verstehen läßt, warum es sey oder nicht sey. (d. i. warum es bejahet oder verneinet werde.) Demnach haben alle vernünftige Urtheile den Satz des zureichenden Grundes zur unmittelbaren Richtschnur.63

Mit dem Urteilsakt qua Assertion – kantisch gesprochen – oder als Setzung von etwas als seiend, wie Reimarus formuliert, ist demnach das Postulat des zureichenden Grundes verknüpft. Die Geltung dieses Grundsatzes sucht Reimarus zu erweisen, indem er zeigt, dass und wie er »mit den Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs aufs genaueste verknüpft« ist:64 Wenn nun in dem A [Subjekt] nichts wäre, worinn B [Prädikat] mit ihm einerley seyn, oder worinn es dem A widersprechen sollte, folglich woraus die Einstimmung oder der Widerspruch mit A verstanden werden könnte: so würde nicht allein der Satz des zureichenden Grundes, sondern die gesetzte Übereinstimmung und der gesetzte Widerspruch wieder aufgehoben. B

|| 60 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 123, S. 122. 61 Vgl. ebd. 62 Ebd., § 120, S. 120f. 63 Ebd., § 122, S. 121. 64 Ebd., § 123, S. 121f.

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wäre eins mit A (indem es dem A zukömmt) und doch in nichts eins; (insoferne es in ihm keinen Grund hat.).65

In dieser apagogischen Argumentation wird also zunächst die Aufhebung des Satzes vom Grund für den Fall gefolgert, dass das Vorderglied kein möglicher Wahrmacher des Urteils sein könnte. Soll aber die Geltung dieses Satzes positiv aus der Analyse des Urteils erwiesen werden, ist die Behauptung, ohne jenen Grund würde die »gesetzte Übereinstimmung« resp. der Widerspruch aufgehoben, das punctum saliens der Argumentation: Die Möglichkeit des Urteilens, für dessen Begriff die Behauptung der Wahrheit qua Übereinstimmung der logischen mit der metaphysisch gedachten Übereinstimmung definierend ist, würde zunichte gemacht, wenn die im Subjektbegriff angenommene metaphysische Übereinstimmung im Ding in ihrer Möglichkeit aufgehoben wäre. Es gäbe dann nichts, womit die logische Übereinstimmung der Begriffe im Urteil übereinstimmen könnte und damit wäre das Urteil seiner Form nach als das die objektive Gültigkeit seiner Verbindung von Subjekt und Prädikat reklamierende logische Gebilde selbst unmöglich. Der Satz vom zureichenden Grund wird mithin als Implikation des Urteils, insofern es der logische Ort der Wahrheit im zuvor definierten Sinne der Übereinstimmung von Verhältnissen der Übereinstimmung in Gedanken und Dingen ist, abgeleitet.66 Daraus erhellt auch, wie dieser Satz »mit den Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs aufs genaueste verknüpft« ist: Der durch diese Regeln bestimmte Urteilsakt ist Erkenntnisgrund der Geltung des Satzes vom Grund als der notwendigen Bedingung allen Urteilens. Außerdem fungieren die Regeln der Übereinstimmung und des Widerspruchs als Konstitutionsprinzipien des als Grund geltend gemachten Subjektbegriffs, sofern er als logischer Repräsentant des Dinges in Anspruch genommen ist. Man kann in diesem wahrheits- und urteilslogischen Erweis eine indirekte Kritik an Wolffs Versuch, diesen Satz zu beweisen, sehen. Bei Wolff wird der ontologisch verstandene Satz des zureichenden Grundes dahingehend erklärt, dass »alles, was ist, seinen zureichenden Grund haben [muss], warum es ist, das ist, es muß allezeit etwas seyn, daraus man verstehen kann, warum es würcklich werden

|| 65 Ebd., § 123, S. 122f. 66 Reimarus hat damit die Auffassung Kants vorbereitet, der Satz vom Grund sei »das allgemeine logische Princip der Sätze« (Immanuel Kant: Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll. In: AA VIII, S. 194 Anm.). Auch Kants Begründung, dass andernfalls ein Widerspruch im Begriff des Satzes auftrete, stimmt mit der Argumentation von Reimarus überein: »Das assertorische Urtheil: Ein jeder Körper ist theilbar, sagt mehr als das blos problematische (man denke sich, ein jeder Körper sei theilbar etc.) und steht unter dem allgemeinen logischen Princip der Sätze, nämlich ein jeder Satz muß gegründet (nicht ein blos mögliches Urtheil) sein, welches aus dem Satze des Widerspruchs folgt, weil jener sonst kein Satz sein würde« (ebd.).

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kann«.67 Er wird in der Metaphysik zweifach begründet: entweder damit, dass es unmöglich ist, dass etwas aus Nichts entsteht,68 oder daraus, dass aus seiner Aufhebung Widersprüchliches folgen würde.69 Zum ersten Argument heißt es: Wo kein zureichender Grund »vorhanden ist, da ist nichts, woraus man begreiffen kann, warum etwas ist, nehmlich, warum es würcklich werden kann, und also muß es aus Nichts entstehen.«70 Aus Nichts kann aber nichts entstehen, folglich muss alles einen zureichenden Grund haben.71 Wegen seiner Zirkularität ist dieses Argument ebenso untriftig wie wegen der Hypostasierung von Grundlosigkeit zu einem Nichts.72 Um diesen einleitenden Teil abzuschließen und zur Begriffslehre überzugehen, ist noch der Begriff des Reflektierens zu explizieren. Die als Vergleichung vorgestellter Dinge73 nach den Regeln von Einstimmung und Widerspruch definierte Handlung des Reflektierens ist das subjektive Gegenstück zur objektiven Darstellung dieser Regeln als metaphysische und logische Wahrheit. Denn Vergleichen ist das Bemühen, »einzusehen, ob und wie weit Dinge miteinander einerley sind, oder nicht; und wenn sie nicht einerley sind, ob und wie weit sie sich widersprechen oder nicht.«74 Indem Reimarus den Gebrauch der Vernunft ganz allgemein dahingehend bestimmt, dass die »allgemeinen Regeln […] der Einstimmung und des Widerspruchs, bey dem Reflektieren über besondere Dinge« angewendet werden, definiert er die oberen Erkenntnisvermögen nicht mehr wie Wolff durch das Kriterium der Deutlichkeit ihrer Vorstellungen,75 sondern bringt eine neue Bestimmung des Denkens als mittelbares Vorstellen in Anschlag. Dementsprechend heißt es, »im Gebrauche der Vernunft [dürfe] alles [Hervorhebung M.H.] in die Frage aufgelöst wer-

|| 67 Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 40), § 30, S. 16. 68 Vgl. ebd., § 28–30. 69 Vgl. ebd., § 31–37. 70 Ebd., § 30, S. 16. 71 Vgl. ebd., § 28. 72 Vgl. auch Wolff: Deutsche Logik (s. Anm. 59), Vorbericht, § 4: »Weil von Nichts sich nichts gedencken lässet; so muß alles, was seyn kan, einen zureichenden Grund (oder eine raison) haben, daraus man sehen kan, warum es vielmehr ist, als nicht ist«. Vgl. Wolff: Lateinische Ontologie (s. Anm. 59), § 70 zu Wolffs Versuch, den Satz vom Grund aus dem Satz vom Widerspruch abzuleiten. Zur Kritik an Wolffs Herleitung des Satzes vom Grund vgl. Risse: Logik der Neuzeit (s. Anm. 27), Bd. 2, S. 607–609. 73 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 12, S. 39, S. 266. 74 Ebd., § 12, S. 7. 75 Ebd., § 19, S. 13. Vgl. Wolff: Anmerckungen zur Deutschen Metaphysik. In: WGW I, 2; vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 40), § 277; vgl. ebd., § 282 zur Abgrenzung der Verstandeserkenntnis von den undeutlichen Vorstellungen der Sinne und der Einbildungskraft. Die Vernunft bestimmt Wolff als das Vermögen der Einsicht in den Zusammenhang der Dinge – vermittelst des Schließens (vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik [s. Anm. 40], §§ 368, 378, 381).

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den: Ob und wie weit Eins mit dem andern einerley sey, oder nicht?«76 Oder im Falle der Verschiedenheit: »Ob und wie weit Eins dem Andern widerspreche oder nicht?«77 Die mit dem Ausdruck »alles« gemeinten verschiedenen Anwendungen der Reflexion werden in der ersten Auflage genauer aufgeschlüsselt, indem vier »Classen« unterschieden werden:78 »Die erste begreift die Verschiedenheit unserer Gedanken oder Verrichtungen des Verstandes an sich selbst«, also Begriffe, Urteile und Schlüsse. »Die zweyte betrifft die Verschiedenheit des Grundes oder der Quellen« der Erkenntnis: »die Empfindung, woraus […] Erfahrung« entsteht, ebenso wie die »Einsicht in den Zusammenhang allgemeiner Wahrheiten oder […] die objective genommene Vernunft«, woraus die wissenschaftliche Erkenntnis »fliesset«. Schließlich »[d]as Zeugniß Anderer, davon die entstehende Erkenntnis Glaube genannt wird.« »Die dritte Classe betrifft die verschiedene Art, wie wir uns dieser Quellen bedienen«: entweder etwas daraus erfinden oder schon Erfundenes prüfen oder Geprüftes beweisen. »Die vierte Classe enthält die verschiedene Wirkung unsers Gebrauchs der Vernunft; 1) theils nach der Richtigkeit desselben, da wir die Irrthümer vermeiden, und die Wahrheit einsehen; 2) theils nach der verschiedenen Klarheit und Deutlichkeit unserer Vorstellungen«. Diese Systematisierung der Vernunftoperationen auf der Grundlage der Reflexion bringt einen einheitlichen Begriff von Denken als mittelbarer Vorstellung in Ansatz, sofern nämlich jedes Vergleichen von etwas mit etwas ein Merkmal79 als tertium comparationis voraussetzt, vermittelst dessen Identität oder Verschiedenheit des Verglichenen zu eruieren sind, indem dieses selbst ein identisches Merkmal sein kann oder nicht.80 Die Gewinnung dieses Vergleichsmoments setzt zumindest klare Begriffe, durch die die Identität eines Dinges und sein Unterschied zu anderen festgestellt werden, voraus.81 Durch die Verdeutlichung der Teile des Begriffs wird es weitergehend möglich zu vergleichen, »wie weit«, d. h. in welchen Stücken sie übereinstimmen.82 Fragt man nach den Vorbildern für Reimarus’ Privilegierung der Reflexion als Grundoperation der Vernunft, so wird man zuerst an Lockes Bestimmung des Verstandes (»understanding«) als »Perception of the Connexion or Repugnancy, Ag-

|| 76 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 19, S. 13. 77 Ebd. 78 Vgl. zum Folgenden Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 46, S. 52f. 79 Zum Begriff ›Merkmal‹ vgl. ebd., § 83, S. 91: »Dasjenige, woran wir ein Ding kennen und von andern unterscheiden, nennen wir ein Merkmaal oder Kennzeichen.« 80 Vgl. dazu die prägnanten Ausführungen der 1. Auflage in den §§ 26 und 27. Reimarus lässt keinen Zweifel daran, dass über Dinge »in ihrer Vorstellung« reflektiert wird, d. h. dass das Ding nur als Vorgestelltes Gegenstand der Reflexion ist. Produkte der Reflexion sind also Metavorstellungen, Vorstellungen von Vorstellungen. 81 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 20. 82 Ebd., § 20, S. 14.

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reement or Disagreement, that there is between any of our Ideas«83 denken müssen. Locke ist zweifellos das Vorbild für Reimarus’ Versuch, die Vernunft bzw. den Verstand überhaupt durch die Operation des Reflektierens zu bestimmen, womit der Logik ein neues Fundament gelegt wird. Das schließt nicht aus, dass auch Elemente von Wolffs Konzeption der Reflexion für Reimarus von Bedeutung sind. Wolff bestimmt Reflexion als fortgesetzte Aufmerksamkeit (»directio attentionis successiva«) auf dasjenige, was in den Vorstellungen ist, und schreibt ihr für das Bewusstsein und die Begriffsbildung eine zentrale Rolle zu.84 Dabei ist unter ›attentio‹ die Beachtung des Teils einer ganzen Vorstellung verstanden, dessen Klarheit durch Reflexion zunimmt. Die Reflexion kann sich auch vergleichend auf verschiedene Vorstellungen richten, um deren Identität bzw. Verschiedenheit zu ermitteln: Denn wir unterscheiden sie [die Sachen] von einander, wenn wir in der einen wahrnehmen, was wir nicht in die Stelle dessen setzen können, das wir in der andern antreffen, […]. Wenn wir das mannigfaltige gegen einander halten, und von einander unterscheiden, nennen wir es überdenken [reflektieren].85

Durch den Test der Substituierbarkeit eines Teils der Sache resp. ihres Merkmals wird also die Identität oder Diversität des Verglichenen festgestellt, um dadurch die Ähnlichkeit der Sachen zu erkennen, die ihrerseits die Grundlage für die Bildung universaler Begriffe darstellt. Der Beitrag der Reflexion für das Bewusstsein besteht darin, dass sie auch die Einsicht in die Identität des Gedankens und dessen Bewusstsein erbringt, die erst die Unterscheidbarkeit des Subjekts von der vorgestellten Sache ermöglicht: Nehmlich wenn wir etwas gedencken; so behalten wir einen Gedancken durch eine merckliche Zeit, und unterscheiden ihn gleichsam von sich selbst durch die Theile der Zeit, die wir, ob zwar nur undeutlich von einander unterscheiden. Wir halten ihn gegen ihn selbst, und erkennen, daß er noch derselbe ist, und auf solche Weise bedencken wir zugleich, daß wir ihn forthin gehabt. Und also bringet das Gedächtniß und das Ueberdencken das Bewußtseyn hervor.86

|| 83 John Locke: An essay concerning human understanding. Hg. von Peter H. Nidditch. Oxford 1975, S. 236. 84 Vgl. Christian Wolff: Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata, qua ea, quae de anima humana indubia experientiae fide constant, continentur et ad solidam universae philosophiae practicae ac. In: WGW II, 5, hier § 257, S. 187; vgl. auch ebd., §§ 258, 264–266. Die deutschen Äquivalente sind »gedenken« oder »überdenken«, wozu das Vergleichen gehört (vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik [s. Anm. 40], §§ 733–735). 85 Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 40), § 733, S. 457f.; vgl. ders.: Anmerckungen zur Deutschen Metaphysik (s. Anm. 75), § 86 (eigentlich § 88), S. 161. 86 Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 40), § 735, S. 458f.

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Aus dem oben bereits angesprochenen Bemühen, in die Theorie der Wahrheit »des historischen Erkenntnisses Wahrheit«87 zu integrieren, ergibt sich, dass die Operation des Reflektierens, nicht nur auf das logische Verhältnis von Begriffen, sondern auch auf das alogische Verhältnis von Ding und Vorstellung zu beziehen ist.88 In Reimarus’ empiristischer Erkenntnislehre ist es die durch das Ding verursachte Empfindung, mit der die Vorstellung in Hinsicht auf Übereinstimmung und Widerspruch zu vergleichen ist, um die historische Wahrheit zu ermitteln:89 »Des historischen Erkenntnisses Wahrheit wird durch die Einstimmung unserer Vorstellung mit dem Empfundenen bestimmt; wie hingegen historisch unwahr ist, wo das Empfundene der Vorstellung widerspricht.«90 Aus der Einsicht in die Verhältnisse dieser Relata erwächst eine Art Denkzwang: »Wenn wir völlig klar und deutlich einsehen, daß unsre Vorstellung […] mit dem Empfundenen […] wesentlich einerley sey: so muß man beydes zusammen gedenken und Eins von dem Andern bejahen. Z. B. […] das Feuer brennt«.91 Das Resultat dieser Vergleichung sind »klare Erfahrungssätze«, die mit den »identische[n] Grundsätzen der Vernunft« als Arten von Urteilen, die per se verae sind, parallelisiert werden.92 Es ist klar, dass es sich im Falle historischer Erkenntnis nicht um ein logisches Verhältnis von Einstimmung und Widerspruch im Sinne der formalen Identität oder des formalen Widerspruchs handeln kann. Hier geht es vielmehr um die Vergleichung der Wirkung mit ihrer Ursache, die als äußerer Grund neben die inneren Gründe der Vergleichung von Begriffen tritt.93 Damit ist unterstellt, dass die naturgesetzlich geregelten Wirkungszusammenhänge, in denen die menschliche Vernunft mit anderen Dingen der Natur steht, durch Reflexion so verstanden werden können, dass aus den Wirkungen der Dinge auf uns, d. h. aus den Empfindungen, die als solche nur »Erscheinungen, (Phaenomena)«94 sind, Gründe ihrer Unterscheidung voneinander gewonnen werden können:95 »Unterdessen sind doch die Dinge auch an den Erscheinungen zu kennen und zu unterscheiden, soferne einerley Dinge in einerley Umständen, auf einerley sinnliche Werkzeuge, auch einerley Wirkung thun.«96

|| 87 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 18, S. 13. 88 Vgl. ebd., § 18. 89 Vgl. ebd., § 35. 90 Ebd., § 18, S. 13. 91 Ebd., § 24, S. 18. 92 Ebd., § 128, S. 127. Vgl. Engfer: Die Urteilstheorie von H. S. Reimarus (s. Anm. 2), S. 46f.; vgl. Wolff: Deutsche Logik (s. Anm. 59), Kap. 5, § 1, wo Wolff die aus der Erfahrung stammenden Urteile »Grund-Urtheile« nennt. 93 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 81. 94 Ebd., § 88, S. 80. 95 Vgl. ebd., §§ 83–88. 96 Ebd., § 88, S. 80. Vgl. Wolff: Deutsche Logik (s. Anm. 59), Kap. 5, S. 189.

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Fazit des ersten Teils: Mit den vorstehenden Analysen sind jene Theoreme der »Einleitung in die Vernunftlehre« dargelegt worden, die »die Grundlage« dieser Logik bilden.97 Die Logik wird – anders als bei Wolff – als ein sich selbst begründender Systemteil der Philosophie etabliert,98 der seine Prinzipien – wie später bei Kant ‒ aus der Selbsterkenntnis der Vernunft entwickelt, und sich damit von Ontologie und Psychologie unabhängig macht.99 Wie die Vernunft so wird auch die Vernunftlehre autonom und verliert ihren Status als eine »Sekundärwissenschaft«,100 den sie in Wolffs System hat. Dafür, dass Reimarus mit dieser Grundlegung möglicherweise eine Kritik an Wolff verknüpft, spricht sein Kommentar zu dessen Begriff der Vernunft als Einsicht in den Zusammenhang der Dinge:101 Diejenigen, welche die Vernunft durch eine Einsicht in den Zusammenhang allgemeiner Wahrheiten erklären, geben nicht sowohl einen Begriff von der Vernunft an sich, so ferne sie eine Kraft ist, (ratione subjectiva) als [vielmehr] von ihrer vorzüglichen Wirkung und von ihrem Gegenstande der allgemeinen Wahrheiten. (ratione objectiva.) Solche Erklärung ist aber sehr unbestimmt und unbrauchbar.102

Die entscheidenden Kritikpunkte lauten: Erstens wird kein criterium veritatis angegeben, mittels dessen Wahrheiten von Unwahrheiten zu unterscheiden sind. Und zweitens wird nicht gezeigt, »wie wir zur Erkenntniß des Wahren, und zwar allgemeiner Wahrheiten gelangen.«103 Reimarus macht also für seine Logik geltend, die verkehrte Ordnung von Ursache bzw. Kraft und Wirkung durch eine genetische Darstellung zu korrigieren, die die sich selbst begreifende Vernunft zum Dreh- und Angelpunkt des Systems der Logik macht.

2 Zur Begriffslehre Reimarus’ Vernunftlehre folgt – wie diejenige Wolffs – der Logik von Port Royal, indem sie vom Einfachen zum Komplexen, vom Begriff zum Schluss fortschreitet.104 Begriffe sind »der Grund aller übrigen Handlungen des Verstandes; oder alles Den-

|| 97 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 28, S. 22. 98 Zur Einteilung der Philosophie und zu ihrem Zweck vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., §§ 9–15. 99 Vgl. Wolff: Discursus Praeliminaris (s. Anm. 11), § 89, S. 96f. 100 Goubet: Wolffische Psychologie als Fundament (s. Anm. 4), S. 52. 101 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 34, S. 37. Vgl. Wolff: Lateinische Ontologie (s. Anm. 59), §§ 856–860. 102 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 34, S. 37. 103 Ebd., S. 38. 104 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 29, S. 23.

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kens«, wie es in der ersten Auflage heißt.105 Die Definition des Begriffs lautet: »Ein Begriff (Denkbild oder Idee) ist also eine einzelne Vorstellung eines Dinges, dabey wir uns sowohl unserer Vorstellung als auch des vorgestellten Dinges bewußt sind.«106 Der Begriff wird als eine dreigliedrige Relation aufgefasst, in der eine Vorstellung so auf ein Ding bezogen wird, dass ein Bewusstsein dieses Dinges erzeugt wird, das seinerseits ein Bewusstsein des Vorstellenden, also ein apperzeptives Selbstbewusstsein ermöglicht. Wenn Reimarus betont, die »bloße Vorstellung, an sich, [gibt] noch keinen Begriff, sondern es muß erst das Bewußtseyn hinzukommen, d. i. wir müssen dabey auch wissen, daß wir uns etwas vorstellen, und was wir uns vorstellen«,107 wird klar, dass eine Vorstellung sich erst zum Begriff qualifizieren muss, indem sie bewusst gemacht wird, so dass ein Wissen nicht nur des vorgestellten Inhalts (»was«), sondern auch des durch ihn vorgestellten Dinges (»etwas«) und des Vorstellenden selbst (»wir«) erlangt wird. Erläutern wir zunächst die Rolle des inneren Sinnes für das Zustandekommen des Bewusstseins, das den für den Begriff definierenden Bezug der Vorstellung auf das Subjekt erbringt. Die zuerst entstehenden äußeren und inneren Empfindungen sind ein Bewusstsein der Dinge vermittelst der durch sie hervorgerufenen »Veränderungen in uns«. Dieses Bewusstsein verdankt sich nach Reimarus dem inneren Sinn: »Da nun dasjenige, welches ein Bewußtseyn der Veränderungen betrifft, zur inneren Empfindung gehöret: so ist die innere Empfindung mit der äusseren verknüpft.« Nun ist die »einzige Seele« als das »Subjectum sensionis« dasjenige »Wesen in uns, das sich aller Veränderungen [im Körper und in der Seele] bewußt ist«. Damit die Seele sich als Subjekt ihrer selbst bewusst werden kann, muss von den äußeren Empfindungen und damit von körperlichen Veränderungen abstrahiert werden. Dadurch wird »die Seele selbst der Gegenstand ihrer eigenen Vorstellungen, und geht in sich selbst hinein«, d. h. sie wendet sich von ihren Wirkungen und Erleidnissen zurück auf sich als deren Subjekt. Mit dem Erfordernis des Dingbezugs, durch den der Begriff von der bloßen Vorstellung unterschieden wird, wendet sich Reimarus gegen die Auffassung Wolffs, dass es die simplex apprehensio ist, durch die der Begriff konstituiert wird, indem eine in der Wahrnehmung oder in der Einbildung bereits präsente Sache durch die

|| 105 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 91, S. 103. 106 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 30, S. 23. 107 Ebd., § 31, S. 25 (Hervorhebungen M.H.); vgl. ebd., § 42, S. 32. Reimarus’ Auffassung vom Begriff weist erstaunliche Übereinstimmung zu Reinholds Fassung des Bewußtseins auf: »Das Bewußtsein überhaupt besteht aus dem Bezogenwerden der bloßen Vorstellung auf das Objekt und Subjekt und ist von jeder Vorstellung überhaupt unzertrennlich« (Karl Leonhard Reinhold: Theorie des Vorstellungsvermögens. Teilband 2. Hg. von Ernst-Otto Onnasch. Hamburg 2012, S. 315 [Drittes Buch, § 38]; vgl. auch ebd. S. 317f.).

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Aufmerksamkeit dem »Geist auf irgendeine Weise vorgestellt wird.«108 Für Wolffs Begriffslehre gilt, dass »Begriffe […] dem Verstand […] nicht von außen eingegeben [sind], sondern sie [ihn] veranlassen […] als gleichsam in ihm eingegrabene Zeichen, das ihnen aufgrund der prästabilierten Harmonie entsprechende Außending zu meinen«.109 Reimarus dagegen vertritt eine empiristische Erkenntnistheorie110 und arbeitet eine neue Lehre vom Begriff aus, die sich sowohl die Möglichkeit des Dingbezug als auch die der objektiven Realität111 des Begriffs als zu lösendes Problem vorlegen muss. Die Vorstellung als solche wird als eine bloß subjektive Gemütsbestimmung verstanden, aus der der durch Referenz auf das Ding definierte Begriff durch Handlungen des Verstandes erzeugt werden muss. Begriffe entsprängen bloß ihrer Materie nach aus äußerer oder aus innerer Wahrnehmung, sie seien jedoch niemals »bloße Leidenschaften [Erleidnisse, M.H.] oder Bilder […], die von aussen ins Gemüth, als die Figuren in ein Siegelwachs, gedruckt werden: indem so viele Handlungen dazu nöthig sind.«112 Erst der vermittelst der »Veränderung in unsern sinnlichen Werkzeugen«, und d. h. der Empfindung, hervorgebrachte Begriff kann den empirischen Vorstellungsgehalt »den Dingen beimessen«, sie daran »kennen«.113 Am Anfang seiner Begriffstheorie wiederholt Reimarus zwar die Lehre Wolffs, wonach »das erste, was sich von einem Dinge gedenken läßt, seine innere Möglichkeit«,114 also sein Wesen sei, sofern dieses der zureichende oder unzureichende Grund aller anderen Bestimmungen ist. Widerspruchsfreiheit ist also die notwendige formale Bedingung dafür, dass sich eine Vorstellung auf ein ›Etwas‹ beziehen kann.115 Aber das logisch und sachlich Erste der inneren Möglichkeit oder des Wesens eines Dinges ist – empiristisch gedacht – nicht das Erste, das erkannt wird. In einer genetischen Betrachtung ist daher zu zeigen, wie aus Empfindungen vermittelst der Reflexion und der durch sie erbrachten »Empfindung und Einsicht der

|| 108 »Unde simplex apprehensio nobis est attentio ad rem sensui vel imaginationi praesentam seu menti quomodocunque repraesentatam« (Christian Wolff: Philosophia rationalis sive logica. In: WGW II, 2, § 33, S. 126f.; vgl. auch ebd., § 34 [im Folgenden: Lateinische Logik]); vgl. Winfried Lenders: Die analytische Begriffs- und Urteilstheorie von G. W. Leibniz und Chr. Wolff. Hildesheim, New York 1971, S. 68–70. 109 Risse: Logik der Neuzeit (s. Anm. 27), Bd. 2, S. 591. 110 Vgl. etwa Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), §§ 218, 220. 111 Reimarus spricht von der Wahrheit des Begriffs. Vgl. ebd., § 83. 112 Ebd., § 43, S. 33; zu Materie und Form der Begriffe vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl. § 158, S. 251. 113 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 87, S. 79; ebd., § 40, S. 30. Vgl. noch ebd., § 43, S. 33, § 44, S. 34f. 114 Ebd., § 31, S. 24. 115 Ebd., § 42, S. 32, § 83. Im Zusammenhang mit der Unterscheidung von materiellen und immateriellen Begriffen führt Reimarus als Komplement zum Begriff des Subjekts der Empfindung den des Objekts bzw. Gegenstandes ein (vgl. ebd., § 44).

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Ähnlichkeit«116 zuerst Begriffe werden. Das ist Thema der Lehre vom ursprünglichen Begriff. Die ontogenetisch zuerst erzeugten Begriffe sind auch begriffstheoretisch die ursprünglichen Begriffe, die als unveränderte das Fundament aller anderen durch Veränderungen an ihnen qua Abstraktion (Weglassen) oder Determination (Hinzufügen) erzeugten Begriffe darstellen.117 Kennzeichnend für jene ist, dass es sich um Begriffe wirklicher einzelner Dinge handelt, während diese Allgemeinbegriffe sind, die sich auf Klassen118 von Dingen beziehen. Die Begriffe von Einzeldingen sind das erste Element des Erfahrungswissens,119 das die Grundlage aller »vernünftige[n] Schlußerkenntnis« – auch in der Mathematik – bildet.120 Die »ursprünglichen Begriffe«121 entstammen ihrer Materie nach entweder den äußeren oder inneren Empfindungen, die als Veränderungen im Körper resp. in der Seele definiert sind.122 Zur Erzeugung dieser Begriffe sind folgende Handlungen erforderlich: Aus dem Eindruck der Sinne entsteht zunächst eine »undeutliche Vorstellung aller derjenigen gegenwärtigen Dinge auf einmal, welche unsere Sinne zugleich gerührt haben«;123 »z. B. im Sehen [stellen wir] vieles auf einmal vor […], dessen wir uns doch nicht auf einmal bewußt sind.«124 Unter den Bedingungen der Bewusstheit und des Gegenstandsbezugs begrifflicher Vorstellungen ergibt sich die Forderung, die zunächst gegebene Komplexität durch Separierung von Teilen so zu reduzieren, dass ein Einzelding von anderen unterschieden wird. Dies ist die genuine Leistung des ursprünglichen Begriffs, die durch folgende Teilhandlungen erreicht wird: Durch »unwillkürliche Beachtung« (›attentio‹) nach dem stärkeren Eindruck oder durch »willkürliche« gemäß dem im Subjekt erregten Reiz von Lust oder Unlust125 wird ein Teil der komplexen Vorstellung klar, wodurch andere Teile verdunkelt werden; durch Assoziation »äussert sich« bei dem »klärsten Theile der ganzen gegenwärtigen Vorstellung«126 eine Vorstellung von Vergangenem, die etwas diesem Ähnliches enthält.127 Auf diese passiv durch Eindrücke, Reize und Assoziation entstandene gegenwärtige oder vergangene || 116 Ebd. 117 Vgl. ebd., §§ 51, 54f., 69ff., 214; zu Wolff vgl. Wolff: Deutsche Logik (s. Anm. 59), Cap. 1, §§ 26, 30. 118 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 51. Zum Begriff »Classe« vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 90, S. 85. 119 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 218. 120 Ebd., § 217, S. 228; vgl. § 218. 121 Ebd., § 51, S. 41. 122 Vgl. ebd., § 44, S. 34. 123 Ebd., § 35, S. 27. 124 Ebd., § 31, S. 24f. 125 Vgl. ebd., §§ 36, 37, S. 28. 126 Ebd., § 38, S. 29. 127 Vgl. ebd., § 38.

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Vorstellung eines Teils der gegebenen Vorstellungsmannigfaltigkeit richtet sich der Vernunftakt der Reflexion, um sie nach den Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs zu vergleichen.128 Erst dadurch soll es möglich werden, das Ding zu kennen und von anderen zu unterscheiden.129 Denn [d]urch die Reflexion entsteht eine Empfindung und Einsicht der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit der Dinge, soferne sie einerley oder nicht einerley Vorstellung geben. Die Reflexion giebt [...] zu empfinden, daß U und U einerley, hergegen U und N, und wiederum N und M, nicht einerley sind.130

Damit ist erstens behauptet, dass aus der Reflexion eine Empfindung höherer Stufe hervorgeht; zweitens, dass diese reflektierte Empfindung sich auf die Ähnlichkeit von Dingen bezieht; desweiteren, dass diese Ähnlichkeit unter der Bedingung steht, dass durch diese »einerley« Vorstellung entsteht – eine Feststellung, die den Vergleich verschiedener Vorstellungen voraussetzt. Nicht nur die Knappheit der Ausführungen steht dem Verständnis dieser Thesen entgegen, komplizierend ist zudem der Einwand, mit dieser Geltendmachung von Ähnlichkeitserkenntnis werde die Möglichkeit eines ursprünglichen Begriffs von Einzeldingen nicht begründet, sondern zunichte gemacht. Denn nach Wolff sind Begriffe von der Ähnlichkeit der Dinge allgemeine Begriffe von dem, worin verschiedene Dinge übereinstimmen, d. h. von dem, was ihnen gemeinsam ist.131 Reimarus hat dieses Problem in der ersten Auflage so formuliert: Nun habe ich aber gesagt, daß wir uns eines Dinges nicht eher bewußt sind, bis wir es zu seinen Aehnlichen in Gedanken hingesellen, und dadurch kennen, und von andern unterscheiden können. […] Daraus scheinet zu folgen, daß wir eher allgemeine Begriffe von Arten und Geschlechtern, als Begriffe von einzelnen Dingen haben müßten; welches der Erfahrung entgegen läuft.132

Entscheidend ist aber, dass die Vorgängigkeit allgemeiner Begriffe aufgrund logischer Überlegungen ausgeschlossen ist. Denn nach Reimarus werden Allgemeinbegriffe erst im Ausgang von den ursprünglichen Begriffen durch Abstraktion gebildet, können also für diese nicht vorausgesetzt werden, was jedoch der Fall sein

|| 128 Vgl. ebd., §§ 39, 40. 129 Vgl. ebd., § 39, S. 30. 130 Ebd., § 40, S. 30. 131 Vgl. Wolff: Deutsche Logik (s. Anm. 59), Cap. 1, § 28; zu Wolffs Definition von Ähnlichkeit vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 40), Cap. 1, § 18: »Zwey Dinge A und B sind einander ähnlich, wenn dasjenige, woraus man sie erkennen und von einander unterscheiden soll, [...] beyderseits einerley ist.« Vgl. Hans Poser: Die Bedeutung des Begriffs »Ähnlichkeit« in der Metaphysik Wolffs. In: Studia Leibnitiana 11 (1979), S. 62–81. 132 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 74, S. 79.

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müsste, wenn ein Einzelding nur durch den Vergleich mit anderen in Hinsicht auf seine Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit mit ihnen erkannt werden könnte.133 Aus Reimarus’ Begründung dafür, dass der ursprüngliche Begriff, der »schlechterdings vorstellen [soll], was wir von wirklichen Dingen empfunden haben«,134 als solcher ein unveränderter Begriff sein muss, erhellt der leibnizianische Problemhorizont dieses Bedenkens: Reimarus zufolge implizieren Veränderungen der Vorstellung, dass mit ihnen ein Wechsel des Objekts der Vorstellung einhergeht:135 Begriffe einzelner Dinge sind Begriffe von wirklichen Dingen, und müssen also unverändert bleiben. Denn, wenn wir was hinzusetzten, was wir in dem einzelnen wirklichen Dinge nicht wahrgenommen, oder wenn wir Bestimmungen wegliessen, zumal solche, die das einzelne Ding von andern unterscheiden: so würden wir uns in beyden Fällen nicht dieses einzelne Ding, sondern ein anderes vorstellen.136

Diese Überlegung stützt sich auf Leibniz’ principium identitatis indiscernibilium, wonach die Identität oder Verschiedenheit der Dinge durch die ihrer inneren Merkmale begründet ist. Reimarus nimmt von Leibniz auch das Konzept des Individuums als »in allen Stücken bestimmte[s]«137 Ding auf und ebenso den Gedanken, dass es möglich ist, dieses durch den Begriff zu repräsentieren.138 Im Kontext der auf die menschliche Vernunft gegründeten Logik von Reimarus stellt sich das Problem, wie ein Begriff, der per definitionem eine durch Reflexion erzeugte Vorstellung von Dingen ist, das Einzelne als Einzelnes durch seine inneren Merkmale und zugleich vermittelst der der Reflexion entstammenden Ähnlichkeitserkenntnis kenntlich machen kann. Reimarus’ Lösungsversuch kombiniert zwei disparate Mittel: Er führt empiristisch der Empfindung entstammende individuelle Merkmale ein und stützt sich auf die – von ihm rationalistisch transformierte – Lehre von Identity and Diversity bei Locke. Die im Begriff des wirklichen Einzeldings resultierende Reflexion richtet sich auf seine »beständigen besonderen Bestimmungen«, die das »Merkmaal einzelner Dinge, (characterem individualem) und deren Unterschied von andern einzelnen Dingen (Differentiam numericam seu individualem) [geben], woran man sie stets

|| 133 Dass Allgemeinbegriffe durch Abstraktion gebildet werden, lehrt auch Wolff (vgl. Wolff: Deutsche Logik [s. Anm. 59], §§ 26–28). 134 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 51, S. 41. 135 Vgl. ebd., § 51f., S. 41f. 136 Ebd., § 51, S. 41f. 137 Ebd., § 52, S. 42. 138 Zu Leibniz vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie. In: ders.: Monadologie und andere metaphysische Schriften. Hg. von Ulrich Johannes Schneider. Hamburg 2014, Nr. 8, 9 und ders.: Nouveaux essais sur l’entendement humain / Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Hamburg 1971, Teil II, Kap. 27, §§ 1, 3.

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kennen und von andern unterscheiden kann«.139 Beispiele für besondere Bestimmungen bei Menschen sind Gesicht und Stimme, bei Sternen ist es der Ort.140 Zur erkenntnistheoretischen Relevanz dieser Klasse von Bestimmungen heißt es: Es sei ein Glück für uns Menschen, daß es nicht vollkommen ähnliche Dinge giebt noch geben kann, sondern ein jedes etwas Eigenes an sich hat, und daß entweder alle besondere Bestimmungen zusammen genommen ein undeutliches Merkmaal des einzelnen Dinges in sich halten, oder doch wenige besondere Bestimmungen zureichen, jedes einzelne Ding dabey zu kennen und von allen andern auf der Welt zu unterscheiden.141

Auf diese Charaktere richtet sich die Reflexion: Dinge werden mit sich selbst in Hinsicht darauf verglichen, »welche Bestimmungen in ihnen beständig und allezeit einerley sind«.142 Denn man »kennet und unterscheidet einzelne Dinge, soferne man bey verschiedenen Zeiten und Umständen einsieht, daß ein Ding eben dasselbe einzelne Ding sey, welches wir zur andern Zeit und unter andern Umständen vor uns gehabt haben.«143 Außer mit sich selbst müssen die Dinge »zur Unterscheidung von Andern, mit andern sonst ähnlichen verglichen [werden], um zu sehen, welche beständige Bestimmungen jedem einzelnen Dinge besonders und eigen sind.«144 In der ersten Art von Vergleich wird die Identität von Bestimmungen desselben Dinges in Relation zur Verschiedenheit der Zeiten und Umstände seines Auftretens ermittelt, die in der ersten Auflage als »beständige Ähnlichkeit des Dinges mit sich selbst«145 bezeichnet wird; die zweite Vergleichsart bezieht sich auf verschiedene Dinge, um das Individuum von anderen derselben Art zu unterscheiden. Geht es im ersten Vergleich um die Identität eines Komplexes individueller Merkmale des Dinges, also nicht um eine im abstrakten Begriff erfasste, von der Gesamtheit seiner Bestimmungen abgelöste Bestimmung, die mit denen anderer Dinge übereinstimmt, so erbringt der zweite Vergleich keinen positiven Gehalt von Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Dingen, aus dem ein allgemeiner Begriff gebildet werden könnte. Es wird nur die negative Einsicht gewonnen, dass die wahrgenommenen positiven Bestimmungen keine verschiedenen Dingen gemeinsamen Bestimmungen sind, womit sie als individuelle gesichert werden. Allerdings ist doch ein dunkler Begriff

|| 139 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 53, S. 43; vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 72. 140 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 53, S. 44. 141 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 72, S. 76f.; vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 53, S. 44. 142 Ebd., § 53, S. 43. 143 Ebd.; vgl. ebd., § 92, S. 85. 144 Ebd., § 53, S. 43. 145 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 83, S. 91.

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der Ähnlichkeit verschiedener Dinge vorausgesetzt, ohne diese jedoch »an sich«, d. h. abgetrennt von der Gesamtvorstellung zu erkennen.146 In Reimarus’ Versuch, das Konzept der notion individuelle auf dem Boden menschlicher Vernunft zu reformulieren, muss der leibnizsche Gedanke der – allein vom göttlichen Verstand zu erfassenden – notio completa im Sinne des sämtliche dem Individuum zukommenden, notwendigen und zufälligen, Merkmale enthaltenden Begriffs aufgegeben werden.147 Es sind stattdessen die in der Empfindung gegebenen individuellen Merkmale, durch die das Individuum kenntlich werden soll. Ist aber Empfindung eine »Vorstellung vermittelst der Veränderungen in uns«,148 entsteht die Frage, wodurch die gegebenen Merkmale zu einem Begriff gemacht werden können,149 also zu einem Gedanken, der durch Referenz auf das Ding von der bloßen Vorstellung unterschieden ist. Um dieses systematische Problem, wie – kantisch gesprochen – aus bloßen Gemütsbestimmungen anschauliche Vorstellungen eines Einzeldings werden können, zu lösen, bringt Reimarus die durch Reflexion entstehende »Empfindung […] der Ähnlichkeit«150 ins Spiel. Ähnlichkeit wird nun allerdings – anders als im Kontext des allgemeinen Begriffs – als »Ähnlichkeit des Dinges mit sich selbst«151 verstanden. Versucht man, aus den wenigen Andeutungen die von Reimarus vorgeschlagene Lösung zu rekonstruieren, ergibt sich Folgendes: Die als Ergebnis der Reflexion erzielte Einsicht in die Identität ist zweifach: objektiv ist es die in die Identität individueller Merkmale eines Dinges in wechselnden Zeiten und Umständen, subjektiv ist es die in die Identität der Vorstellung ihrer synthetischen Einheit. Offenbar meint »einerley Vorstellung«152 das im Wechsel der Gemütszustände identisch bleibende »Anschauen«153 »alle[r] besonderen Bestimmungen [des Dinges] zusammen genommen«.154 Nur der in seiner Identität erkannte Komplex individueller Merkmale kann vermittelst der Einsicht in die Identität der Vorstellung zu einem Merkmal höherer Stufe gemacht werden, durch das Dinge erkannt werden, »soferne sie einerley oder nicht einerley Vorstellung geben«.155 Die der Identität der Merkmale korrespondierende Identität der Vorstellung kann unter der Voraussetzung der Übereinstimmung von subjektiver und objektiver Vernunft als der Erkenntnisgrund

|| 146 Vgl. ebd., § 74, S. 79f. 147 Vgl. Engfer: Die Urteilstheorie von H. S. Reimarus (s. Anm. 2), S. 45f. 148 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 43, S. 33 (Hervorhebung M.H.). 149 Vgl. ebd., § 218, S. 229, wo es ausdrücklich heißt, ursprüngliche Begriffe »entstehen […] aus Empfindung«. 150 Ebd., § 40, S. 30. 151 Ebd., § 83, S. 91. 152 Ebd., § 40, S. 30. 153 Ebd., § 41, S. 31. 154 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 72, S. 76f. 155 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 40, S. 30.

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dafür in Anschlag gebracht werden, dass es sich um »eben dasselbe einzelne Ding«156 handelt, das durch die gegebenen Merkmale materialiter kenntlich wird. Kann der für den Begriff als solchen konstitutive Ding-Bezug im Fall der ursprünglichen Begriffe noch nicht vermittelst des – mehreren Dingen gemeinsamen – Wesens hergestellt werden, bleibt nur die Möglichkeit, die empirisch gefundenen Merkmale wirklicher Dinge vermittelst des der Vernunft verdankten Gedankens ihrer Identität in wechselnden Zeiten ebenso wie der Identität des »Anschauens« im Vertrauen auf die Isomorphie logischer und metaphysischer Strukturen zu begründen. So wird der ursprüngliche Begriff als eine Hybridbildung aus Anschauen und Reflexion – als reflektierte Empfindung von wirklichen Einzeldingen – gedacht, die nach Reimarus’ Logik als Begriff zu bezeichnen ist. An diese Überlegungen schließt Reimarus die Formulierung einer die Ähnlichkeit verschiedener Dinge betreffenden ›Regel‹ an: Man solle ähnliche Dinge in der Vorstellung miteinander verknüpfen, verschiedene trennen. Daher entsteht es, daß die Vorstellung vieler Dinge, so ferne sie einander ähnlich und von einerley Beschaffenheit sind, in eine einzige Vorstellung zusammenfließt, und daß alsdenn die Vorstellung ihrer Verschiedenheit davon getrennet und ausgeschlossen wird.157

Die Metapher des Zusammenfließens verschiedener Vorstellungen ähnlicher Dinge »in eine einzige« weist darauf hin, dass es auch hier nicht um die Bildung des abstrakten Begriffs der Ähnlichkeit vieler Dinge geht. Die »einzige Vorstellung«, in die die Vorstellung verschiedener ähnlicher Dinge zusammenfließt, kann wohl nur als eine anschauliche Vorstellung dessen, worin viele Dinge einander ähnlich sind, verstanden werden; es würde sich dann um so etwas wie das Schema im kantischen Sinne handeln: eine zugleich anschauliche und allgemeine Vorstellung des »U« zum Beispiel. So würde Reimarus’ Versuch verständlich, dem ursprünglichen Begriff zugleich beide Funktionen zuzuschreiben, das Einzelne als Einzelnes und das Ding einer Art kenntlich zu machen, ohne auf einen abstrakten Begriff der Ähnlichkeit zurückzugreifen. Anstelle des abgesonderten Begriffs soll das Wort die Funktion übernehmen, das Ähnliche vorstellig zu machen, sodass das Einzelding durch es nach seiner »Aehnlichkeit mit andern Dingen«, also als Teil einer Klasse vorgestellt werden kann.158 Die ursprünglichen Begriffe sind das Fundament für die durch Bearbeitungen der Vernunft159 gebildeten abstrakten und – für Reimarus anders als für Wolff160 – als

|| 156 Ebd., § 53, S. 43. 157 Ebd., § 40, S. 30. 158 Ebd., § 41, S. 31. 159 Vgl. ebd., § 214. 160 Wolff unterscheidet abstrakte und konkrete Begriffe und außerdem einzelne und allgemeine Begriffe. Abstrakte Begriffe stellen eine Determination eines Dinges losgelöst von dem Ding vor;

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solche allgemeinen Begriffe. Dazu heißt es in der ersten Auflage auf Kants Unterscheidung von Materie und Form der Begriffe vorausweisend: [A]lle unsere Begriffe [entstehen] aus der verschiedenen Empfindung […], wiewohl wir sie hernach durch Weglassen oder Zusammensetzen verändern können. Die unveränderten [ursprünglichen] Begriffe sind also bloße Erfahrungen; die veränderten aber sind nur, der Materie oder dem Stoffe nach, Erfahrungen, die Form aber haben wir ihnen willkürlich gegeben.161

Die Form des allgemeinen Begriffs erbringt der Vergleich verschiedener einzelner Dinge, wodurch man »nicht allein Bestimmungen [sieht], darinn sie von einander verschieden sind, sondern auch andere Bestimmungen, die in verschiedenen einzelnen Dingen einerley sind. Verschiedene Dinge aber, soweit sie auf einerley Weise bestimmt sind, nennet man ähnlich.«162 Indem die in den ursprünglichen Begriffen bereits dunkel vorgestellte »Aehnlichkeit der Dinge«, die zunächst im Wort festgehalten ist, von »ihrer Verschiedenheit« abgesondert wird, entstehen in uns abgesonderte Begriffe. Weil aber das Aehnliche in allen einerley, und also allen gemein ist: so sind alle abgesonderten Begriffe von der Aehnlichkeit der Dinge allgemeine Begriffe; (Notiones universales) und umgekehrt, alle allgemeine Begriffe sind abgesonderte Begriffe.163

Um die Neuerung im Verständnis der Allgemeinheit des Begriffs durch Betonung der Annäherung an die Kantische klar zu machen, kann man sagen: Die ursprünglichen Begriffe bilden die Materie des Begriffs, und die spezifische Form des Begriffs verdankt sich einer auf die Vorstellung des vielen verschiedenen Dingen gemeinsamen Teils gerichteten Abstraktion. Wie für Wolff164 ist auch für Reimarus das Universale eine »Erdichtung: […] das Abgesonderte ist, abgesondert, und ausser den einzelnen Dingen, nicht wirklich.«165 Denn »alle wirklichen Dinge [sind] einzelne Dinge, und folglich in allen Stücken bestimmt.«166 Die Absonderung hat keinen Grund in den Dingen, sondern in der Beschaffenheit des Subjekts. Wir können »uns vieler und mancherley Dinge nicht auf einmal, sondern zur Zeit nur des beachteten, und nach seiner Aehnlichkeit mit andern erkannten, bewußt sein«.167 Die Schwäche der menschlichen Seele, die daraus resultiert, dass ihre Vorstellungszustände als Ver-

|| dabei ist noch nicht entschieden, ob diese Determination als in verschiedenen Dingen ähnliche gedacht ist oder nicht (vgl. Wolff: Lateinische Logik [s. Anm. 108], §§ 110, 112, S. 168f.). 161 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 159, S. 251. 162 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 54, S. 44. 163 Ebd., § 54, S. 44f. 164 Vgl. Wolff: Lateinische Ontologie (s. Anm. 59), § 230, S. 19; vgl. Lenders: Analytische Begriffsund Urteilstheorie (s. Anm. 108), S. 78, auch S. 77. 165 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 58, S. 49. 166 Ebd., § 58, S. 50. 167 Ebd.

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änderungen der Seele in der Zeit stattfinden, besteht darin, dass Deutlichkeit und Vielheit von repräsentierten Dingen einander ausschließen. Diese Unfähigkeit, zugleich deutlich und vielerlei Dinge vorzustellen, wird durch die Bildung abstrakter Ähnlichkeitsvorstellungen kompensiert: vermittelst ihrer werden viele Dinge zugleich bewusst, allerdings um den Preis, nur in ihrem gemeinsamen Teil gedacht zu werden. Wie bei Wolff dient auch bei Reimarus die Ähnlichkeitskonzeption dazu, die objektive Realität allgemeiner Begriffe zu gewährleisten. Sie sind Erdichtungen, nur insofern ihnen als abgesonderten kein wirkliches Ding entsprechen kann,168 aber sie sind keine entia rationis, insofern sie nämlich etwas repräsentieren, »was in allen einzelnen Dingen, die darunter gehören, wirklich ist«.169 In Reimarus’ Logik kommt der Theorie des ursprünglichen Begriffs die Funktion zu, die objektive Realität der universalen Begriffe zu begründen: Wenn die komplexen Vorstellungen, aus denen die allgemeinen Begriffe durch Abstraktion gewonnen werden, Begriffe von wirklichen Einzeldingen sind, sind damit diejenigen Bestimmungen, die in den universalen Begriffen erfasst sind, als in Individuen wirkliche, und folglich als real mögliche verbürgt. Eine bedeutsame Veränderung der wolffschen Lehre vom allgemeinen Begriff beruht darauf, dass Reimarus das Konzept der Ähnlichkeit von der Hierarchie der internen Bestimmungen der Dinge, also von ihrer durch den Satz vom Grund bestimmten Stufung in Wesen, Attribute und Modi,170 ablöst, an die es bei Wolff gebunden ist.171 In Wolffs Lateinischer Logik dient dieses Lehrstück aus der Ontologie dazu, die »Ordnungsklassen«172 von Dingen, die Prädikabilien Art (species), Gattung (genus) usw. zu unterscheiden, die wiederum den Allgemeinheitsstufen der Begriffe zugrunde gelegt werden.173 Die Ablösung der Ähnlichkeitskonzeption von der den Satz vom Grund voraussetzenden Hierarchie der intrinsischen Determinationen bzw. den sog. »Seinskategorien«174 und die damit verbundene Ablösung der Stufen allgemeiner Begriffe von diesen und den Ordnungsklassen beweist die von Reimarus eingeführte Klassifikation der Arten von Ähnlichkeit. Er unterscheidet Ähnlichkeit in drei Arten: Neben die an Wolffs Ontologie orientierte Ähnlichkeit im || 168 Aus diesem Verständnis der Allgemeinheit des Begriffs leitet Reimarus wie Wolff eine Kritik der Metaphysik her, der vorgeworfen wird, die Gedanken dieser Begriffe zu »abstrakten Schimären« zu hypostasieren (vgl. ebd., § 95, S. 87f., § 295, S. 333). 169 Ebd., § 96, S. 88; vgl. §§ 58, 94. 170 Vgl. dazu Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 40), § 176–181 und erläuternd dazu ders.: Anmerckungen zur Deutschen Metaphysik (s. Anm. 75), § 53. 171 Vgl. Poser: Die Bedeutung des Begriffs »Ähnlichkeit« (s. Anm. 131). 172 Vgl. Lenders: Analytische Begriffs- und Urteilstheorie (s. Anm. 108), S. 83 und ebd., Fn. 43, S. 28. 173 Vgl. Wolff: Lateinische Logik (s. Anm. 108) §§ 59–76 und §§ 112–114; siehe auch ders.: Anmerckungen zur Deutschen Metaphysik (s. Anm. 75), § 53 und Lenders: Analytische Begriffs- und Urteilstheorie (s. Anm. 108), S. 79–83. 174 Vgl. ebd.

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Wesentlichen und Zufälligen oder »dem Beständigen und Veränderlichen« der Dinge175 tritt die »Aehnlichkeit der Dinge im Ganzen, oder in Theilen« – wie Tisch oder Platte; und schließlich die »Aehnlichkeit der Dinge in ihren Substanzen oder Accidenzen« – wie Holz oder Härte zum Beispiel.176 Substanz heißt hier also anders als bei Wolff die materia ex qua eines zusammengesetzten Dinges.177 Das Prinzip dieser Einteilung ist undurchsichtig. In der ersten Auflage fungieren die Unterscheidungen von Ganzem und Teil und die von Substanz und Akzidenz als Beispiele für die Möglichkeit der Erzeugung abgesonderter oder abstrakter Begriffe, die als solche noch keine allgemeinen Begriffe sind.178 Hier werden also anders als in der dritten Auflage Wolff folgend allgemeiner und abgesonderter Begriff noch nicht gleichgesetzt. Absonderung ist eine Operation, die lediglich die Vorstellung von etwas, das in den Dingen mit anderem verbunden ist, heraustrennt, ohne jedoch dieses Abgetrennte schon als Allgemeines zu denken. Indem Reimarus in der dritten Auflage in Bezug auf beliebige abgesonderte Teile eines Dinges Arten von Ähnlichkeit konstatiert, wird die Vorstellung dieser Teile nicht nur mehr als abgesonderter, sondern als allgemeiner Begriff gedacht und zugleich die Hierarche logischer Allgemeinheit von Begriffen von der der Seinskategorien und Ordnungsklassen abgelöst. Dieser Versuch – abgesehen von den ursprünglichen Begriffen –, den Begriff als solchen in seiner Form als Allgemeinvorstellung zu fassen, beruht auf folgendem Gedanken: Jedwede Vorstellung irgendeines abgesonderten Teils der Gesamtvorstellung eines Dinges kann dazu gebraucht werden, die Ähnlichkeit verschiedener Dinge in Hinsicht auf diese festzustellen; die Teilvorstellung wird so als identischer Teil in ansonsten von ihr verschiedenen Dingen gedacht. Entsprechend finden in allen drei Klassen von Ähnlichkeit die Begriffe species, genus, höheres Geschlecht und Stammgeschlecht (genus summum) Anwendung, die rein formal wie bei Wolff definiert werden: »Eine Art (Species) ist ein abgesonderter allgemeiner Begriff, welcher bloß das Aehnliche einzelner Dinge vorstellet; und folglich die Verschiedenheit der einzelnen Dinge (Differentiam individualem) wegläßt. […]Ein Geschlecht (Genus) ist ein abgesonderter allgemeiner Begriff, welcher bloß das Aehnliche verschiedener Arten vorstellet; und folglich die Verschiedenheiten der Arten (Differentiam specificam) wegläßt.« 179 Aber ein entscheidender Unterschied zu Wolff besteht darin, dass Reimarus hier von Art und Gattung nur als Begriffen von Begriffen, und nicht wie jener von ihnen als von Ordnungsklassen der Dinge

|| 175 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 55, S. 46. 176 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 55, S. 45. Anders als Wolff rechnet Reimarus auch Größen zu den durch Ähnlichkeit bestimmbaren Prädikaten (vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik [s. Anm. 40], § 55). 177 Zu Substanz bei Wolff vgl. ders.: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 40), § 114; ders.: Anmerckungen zur Deutschen Metaphysik (s. Anm. 75), § 39. 178 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), 1. Aufl., § 77, S. 82. 179 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 56, S. 46f.

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spricht.180 In Reimarus’ Logik wird demnach die für die wolffsche Logik charakteristische Bindung der Hierarchie universaler Begriffe an die der Ontologie zugehörenden »Ordnungsklassen«,181 also an die durch die Seinskategorien eines Dinges bestimmten Klassen der Ähnlichkeit zwischen Dingen, gelöst.182 Zwar beziehen sich Art- und Gattungsbegriffe wie bei Wolff auf das Ähnliche der Dinge, aber dessen Lehre von der Ordnung der realen Gattungen und Arten, die in der wissenschaftlichen Erkenntnis zu ermitteln und in Systemen darzustellen ist, wird als Richtschnur für die Logik aufgegeben.183 Den Inhalt von Begriffen bilden nach Reimarus die in ihrem ontologischen Status unbestimmten Merkmale: »Das Verschiedene, welches in einem deutlichen Begriffe befasst wird, besteht in dessen Theilen, die, zusammengenommen, Merkmaale des Ganzen [Dinges] sind.«184 Entsprechend wird der Begriff des Merkmals nur von seiner Funktion für die Erkenntnis her definiert:185 »Ein Merkmaal oder Kennzeichen (Notam, seu characterem) nennet man dasjenige, woran man ein Ding kennet und von andern unterscheidet«.186 Auf dem Boden dieses Begriffs von Merkmal kann Reimarus rein formal die Relation von Teil und Ganzem zum Prinzip187 der

|| 180 Freilich redet auch Reimarus von »Arten der Dinge«. Vgl. z. B. ebd., § 75, S. 68. 181 Vgl. Lenders: Analytische Begriffs- und Urteilstheorie (s. Anm. 108), S. 83–85. Nach Arndt: Einleitung (s. Anm. 59), S. 78, geht es in Wolffs Begriffslogik zum einen darum, die »einen Begriff in seine Merkmale zu analysieren und die Abhängigkeitsbeziehungen der Merkmale voneinander zu betrachten. Zum anderen [geht] es darum, die durch Analyse eines Begriffs gewonnenen Merkmale nach steigender Allgemeinheitsstufe zu ordnen, d. h. die Ordnung eines Gefüges von Gattungs- und Artbegriffen zu induzieren. […] Die Ordnung der Merkmale nach Gattungen und Arten ist nun keineswegs willkürlich. Vielmehr bildet das Gefüge der Gattungen und Arten die Grundgesetzlichkeit der Dinge, die wir durch unsere Begriffe vorstellen.« 182 Die Verschränkung von Ontologie und Logik in Bezug auf die Lehre vom allgemeinen Begriff bei Wolff kann hier nicht genauer erörtert werden. Die Grundlagen stellt Lenders: Analytische Begriffs- und Urteilstheorie (s. Anm. 108), S. 77–97 vor. Nur als Beispiel verweise ich auf Folgendes: Bei Wolff können die allgemeinen Begriffe von Modi keine Arten, sondern nur »besondere Arten« bilden; damit stellt er klar, dass sich die Einteilung der Dinge in »Ordnungsklassen« (species, genus etc.) nach der inneren Struktur der Dinge (Wesen, Attribute, Modi) richtet, sodass die dieser Einteilung entsprechende logische Ordnung der Begriffe das lineare Gefüge des universum ordinata auszubilden hat. Vgl. dazu Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 40), § 18, §§ 175–182, ders.: Anmerckungen zur deutschen Metaphysik (s. Anm. 75), § 53 und als Ausführung dieser Lehren am Beispiel der Mathematik ders.: Von Verfertigung und Nuzen der Tabellen. In: WGW I, 21.2, 669–731. 183 Vgl. Wolff: Anmerckungen zur Deutschen Metaphysik (s. Anm. 75), § 53, S. 118: »Es hat aber die Lehre von den Praedicabilibus […] nicht geringen Nuzen in den Wissenschafften«; wir ersehen daraus, »wie wir unsere Begriffe zu ordiniren haben.« 184 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 69, S. 60. 185 Bei Wolff hingegen ist das Merkmal als Teil der inneren Bestimmungen eines Dinges gefasst. (Vgl. Wolff: Lateinische Logik [s. Anm. 106], § 79, vgl. Lenders: Analytische Begriffs- und Urteilstheorie (s. Anm. 106). 186 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 68, S. 59; vgl. ebd., § 75. 187 Er spricht von den Grundsätzen dieses Verhältnisses (vgl. ebd., § 58, S. 49).

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logischen Bestimmung des Allgemeinen und Besonderen machen:188 »Die ganze Vorstellung der allgemeinern Begriffe ist in allen ihren besondern enthalten, wovon sie abgesondert ist«.189 Invers verhält es sich in Bezug auf das Enthaltensein des besonderen Begriffs im allgemeinen: »Was die besondern Begriffe vorstellen, das ist nicht alles in ihren allgemeinen enthalten.«190 Die Prinzipien von Reflexion, Einstimmung und Widerstreit sind demzufolge hinreichend, um ohne Rekurs auf die Ontologie (Seinskategorien und Ordnungsklassen) allein durch die Relation des Enthaltenseins des Allgemeinbegriffs qua Teil in besonderen Vorstellungen als relativen Ganzen die Allgemeinheit eines Begriffs überhaupt ebenso wie die Stufen seiner Allgemeinheit zu begründen.191 Durch Reflexion wird die Identität des Teils als das logische Äquivalent der Ähnlichkeit von Dingen erkannt: »Der ganze allgemeine Begriff ist also nur mit einem Theile der besondern einerley, nämlich mit dem, worinn die Aehnlichkeit der besondern Dinge stecket, nicht aber mit dem, worinn sie verschieden sind.«192 Während das Allgemeine im Besonderen enthalten ist, steht das Besondere »unter« dem Allgemeinen.193 Entsprechend unterscheidet Reimarus eine zweifache Deutlichkeit des Begriffs – nach seinem Inhalt und nach seinem Umfang: Ein deutlicher Begriff (Notio distincta) ist, wenn man das Verschiedene, welches der Begriff in und unter sich befasset, erkennen und unterscheiden kann. […] Das Verschiedene, welches in einem deutlichen Begriffe befasset wird, besteht in dessen Theilen, die, zusammen genommen, Merkmaale des Ganzen sind. Das Verschiedene, welches unter einem deutlichen Begriffe befasset wird, besteht in besondern Arten, die zusammen eine Aehnlichkeit in dem Geschlechte haben.194

Anders als bei Wolff tritt bei Reimarus die Einteilung als diejenige logische Operation, durch die die Arten des Begriffs bestimmt werden, gleichrangig neben die »Analysin notionum«, durch die die in einem Begriff bereits enthaltenen Teile deutlich werden.195

|| 188 Bei Wolff hingegen ist es das Prinzip der Determination oder der »Einschränkung«, das den Satz vom Grund insofern voraussetzt, als die eine Determination entweder der zureichende oder der unzureichende Grund einer anderen ist (vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik [s. Anm. 40], § 183). 189 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 57, S. 47f. 190 Ebd., § 57, S. 48. 191 Vgl. Schulthess: Relation und Funktion (s. Anm. 2), S. 40. Vgl. Arndt: Die Logik von Reimarus (s. Anm. 2), S. 64. Richtigkeit des Begriffs bei Wolff heißt: Er entspricht der vorgegebenen Seinsordnung; bei Reimarus: Er ist regelrecht gebildet (vgl. Reimarus: Vernunftlehre [s. Anm. 1], §§ 74, 77). 192 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 57, S. 48. 193 Vgl. ebd., § 58, 69. 194 Ebd., § 69, S. 60 (Hervorhebung M.H.). 195 Vgl. ebd., § 69, S. 61, § 111, S. 111f. Wenn Reimarus ausnahmsweise sagt, die durch Einteilung zu findenden Teile unter dem Begriff könnten schon undeutlich in dem Begriff enthalten sein (vgl. ebd., § 76, S. 68), meint er offenbar nur, dass die Arten eines Geschlechts »schon undeutlich« be-

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Weder in der Deutschen noch in der Lateinischen Logik handelt Wolff von der Einteilung,196 wohl aber in seiner Schrift Von Verfertigung und Nuzen der Tabellen (1730),197 wo er erklärt, dieses Stück noch zu den Schriften zu rechnen, »welche die Ausführung der Vernunftlehre erläutern.«198 Tabellen sind entweder Überblicksdarstellungen eingeteilter Begriffe oder einander untergeordneter Sätze.199 Sie setzen den Lehrbegriff einer Sache voraus, in dem durch Erklärung (Definition) und Beweis die Wahrheit einer Sache erkannt wird.200 Die gewonnenen Wahrheiten werden in Tabellen so angeordnet, dass das Erkannte »beysammen vorkommen, und mit einem Blik alles übersehen werden [kann], was auf einige Weise zu derselbigen Sache gehöret.«201 Wie schon der Name »tabulas mnemonicas«202 anzeigt, besteht der Nutzen der Tabellen darin, »dem Gedächtnis auf[zu]helfen«,203 indem die durch beweisende Methode gewonnenen Resultate – ohne ihre Beweise – festgehalten204 und »in eine solche Ordnung gebracht [werden], worinnen [sie] auch leicht gemerket, und […] lang behalten werden« können.205 Tabellen sind also Darstellungen der Wahr-

|| kannt seien (vgl. § 78, S. 70). Dafür spricht, dass die unter dieser Bedingung vorgeführte Einteilung von einzelnen Fällen ausgeht. – Die Lehre von der Einteilung findet sich noch nicht in der ersten Auflage von Reimarus’ Logik; zur ausführlichen Behandlung der divisio in der 3. Aufl. vgl. die im Register angegebenen Stellen, insbesondere ebd., §§ 112f. 196 In der Lateinischen Logik stellt Wolff zwar das Verfahren zur Bildung besonderer Begriffe im Ausgang von allgemeineren dar, ohne jedoch die Einteilung als Methode zur Ausmessung der Sphäre eines Begriffs einzuführen: »Im Gegentheil [zu dem Verfahren der Verallgemeinerung durch Abstraktion] hat man den Begriff eines Geschlechtes, so kan man die Begriffe der Arten daraus herleiten, wenn 1) von einander unterschieden wird, was in de Begriffe des Geschlechtes bestimmet ist, und was man darin nicht bestimmt findet; 2.) das unbestimmte dergestalt bestimmet wird, daß es demjenigen, was schon bestimmet ist, nicht zuwider läufft. Denn auf so viele Weisen es sich solchergestalt bestimmen lässet, so viel gibt es Arten, welche unter dem gegebenen Geschlechte enthalten sind.« Diese Übersetzung von § 712 der Lateinischen Logik gibt Wolff in seiner Schrift Von Verfertigung und Nuzen der Tabellen (s. Anm. 183), S. 688. 197 Vgl. Wolff: Von Verfertigung und Nuzen der Tabellen (s. Anm. 183). 198 Ebd., S. 669, A. 1. 199 Wolff unterscheidet allgemeine und besondere Tabellen: »Die allgemeinen sind diejenigen, die das hauptsächlichste von einer ganzen Wissenschaft, als die von der Vernunftlehre, Grundwissenschaft und Sternkunst enthalten. Die besondern aber stellen uns einen einen besonderen Vorwurff vor (obiectum), dergleichen zum Beyspiele in der Feldmeßkunst das Dreyeck, in der Grundlehre ein allgemeines Ding (ens universale) […] sind, wenn ihr deutlicher Begriff nach einer gewissen Ordnung auseinander gesetzet worden ist« (ebd., S. 676); vgl. auch ebd., S. 679. 200 Ebd., S. 677. 201 Ebd. 202 Ebd., S. 675. 203 Ebd., S. 669. 204 Vgl. ebd., § 4, S. 681–683. 205 Ebd., S. 675. Wolff verweist auf die in der empirischen Psychologie vorgetragenen Regeln des Gedächtnisses, die eine andere Ordnung, die Sache vorzutragen, erfordern als die dem Verstand gemäße Ordnung (vgl. ebd., S. 675, 680).

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heit einer Sache für das Gedächtnis. Außer ihrem Inhalt und Nutzen ist für den Vergleich mit Reimarus insbesondere die Art ihrer Ordnung bedeutsam.206 Dazu heißt es: »[D]urch Hülfe des Unterscheides der Beschaffenheiten [werden] allgemeine Classen eingerichtet, und diese wiederum in besondere getheilet […], bis keine weitere Eintheilung statt hat, weil sie sonst auf das einzelne gehen müste.«207 Es sollen demnach die ontologischen Begriffe eines Dinges, der Unterschied zwischen seinem im Begriff gefassten Wesen und seinen bedingten oder unbedingten Beschaffenheiten208 »zur Richtschnur« dienen, um »die Classen in den Tabellen nach den logischen Regeln« einzurichten. Daraus erhellt, dass das Verfahren der Einteilung für Wolff einerseits psychologisch, durch die Lehre vom Gedächtnis, andererseits ontologisch, durch die Lehre vom Ding, fundiert ist. Während die Einteilung für Wolff also nur die Funktion hat, den erkannten Inhalt des Begriffs für das Gedächtnis zu ordnen, ist sie für Reimarus ein Verfahren zur Teilung der Sphäre des Begriffs qua Begriff, das als Komplement zu dem der Teilung seines Inhalts seinen systematischen Ort in der Logik hat.209 Es genügt die Einteilung in bloß mögliche Arten, um inhaltsreichere deutliche Begriffe zu erzeugen, die richtig zu nennen sind, »sofern sie [nämlich] etwas Mögliches vorstellen.«210 Damit bestätigt Reimarus’ Lehre von der diviso nicht nur die allgemeine Tendenz zur Verselbständigung der logischen Prinzipien; sie indiziert auch den gegenüber Wolff fortgeschritteneren Begriff vom Begriff: Dessen Bestimmung des allgemeinen Begriffs als Teilvorstellung wird weiterentwickelt zu der Auffassung, dass diese als Unterscheidungsgrund vieler Dinge fungiert, sodass der Begriff als solcher, d. h. allein aufgrund seiner logischen Form, einen Umfang hat, dessen Verdeutlichung ein bloß logisches Verfahren ist.

|| 206 Vgl. ebd., § 5, S. 683–689. 207 Ebd., S. 686. 208 Vgl. ebd., S. 684. 209 Allerdings fordert er, als Einteilungsgrund müsse ein »wesentlicher Unterschied« fungieren (vgl. Reimarus: Vernunftlehre [s. Anm. 1], § 111, S. 111). 210 Ebd., § 281, S. 308. Vgl. auch ebd., § 75, S. 67: Ein Geschlecht kann auch in bloß mögliche Arten eingeteilt werden.

Giuseppe Motta

Vom vernünftigen Zweifel Die Wahrscheinlichkeitslehre von Hermann Samuel Reimarus

1 Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Wiederspruchs hergeleitet 1755 veröffentlicht Hermann Samuel Reimarus in Hamburg ein (oder besser »sein«) Logikbuch (mit der Angabe »1756« auf dem Titelblatt).1 Im Panorama der Philosophie seiner Zeit wirkte der (hier oben als Überschrift der ersten Sektion des Aufsatzes wiedergegebene) Titel des Werkes sicherlich weder besonders neu noch besonders originell. Schon das allererste Logikbuch auf Deutsch, das Christian Thomasius noch im 17. Jahrhundert veröffentlicht hatte, enthielt eine ähnliche, wenn auch längere und etwas barocke Ausdeutung des Wortes ›Vernunftlehre‹: Außübung der Vernunfft-Lehre. Oder: Kurtze, deutliche und wohlgegründete Handgriffe, wie man in seinen Kopffe aufräumen und sich zu Erforschung der Wahrheit geschickt machen; die erkandte Warheit andern beybringen; andere verstehen und auslegen; von anderer ihren Meinungen urtheilen, und die Irrthümer geschicklich widerlegen solle.2 Thomasius’ Übertragung von »Logica« bzw. »Dialectica« durch »Vernunftlehre« setzte sich dann in die spätere deutsche Tradition der Logikbücher durch: von 1691 bis Reimarus’ Logik von 1755 und darüber hinaus. Das hing sicherlich auch von der an sich vagen, unterschiedlich interpretierbaren Bedeutung des Wortes ›Vernunftlehre‹ ab. Diese sei die Disziplin, die das vernunftmäßige Urteilen, Schließen, Räsonieren, Verstehen, Erkennen, Denken usw. lehrt. Auch Autoren, die wenig oder gar nicht mit der Tradition der thomasianischen Philosophie vertraut waren, fanden somit das Wort zu seinem Zweck passend, und wir finden beispielsweise am Anfang || 1 Hermann Samuel Reimarus: Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauch der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Wiederspruchs. Hamburg, 1756. Nachdruck hg. von Frieder Lötzsch. München 1979. 2 Christian Thomasius: Außübung Der Vernunfft-Lehre. Oder: Kurtze deutliche und wohlgegründete Handgriffe wie man in seinen Kopffe aufräumen und sich zu Erforschung der Wahrheit geschickt machen; die erkandte Warheit andern beybringen; andere verstehen und auslegen; von anderer ihren Meinungen urtheilen, und die Jrrthümer geschicklich widerlegen solle. Halle 1691. https://doi.org/10.1515/9783110726558-004

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des Auszugs aus der Vernunftlehre von Georg Friedrich Meier eine ähnliche (zugleich aber nicht gleiche) Erklärung des Titels: »Die Vernunftlehre [...] ist eine Wissenschaft, welche die Regeln der gelehrten Erkentniß und des gelehrten Vortrages abhandelt«.3 Und weiter: »Die Vernunftlehre ist ein Mittel, ohne welchem man keine gelehrte Erkentniß und Wissenschaft erlangen kan, und durch dessen gehörigen Gebrauch eine gelehrte Erkentniß und Wissenschaft erlangt wird«.4 Reimarus’ Ausdeutung der »Vernunftlehre« als eine »Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit« kann erst als interessant und informativ gelten, wenn man die Worte dieses Titels in Verbindung mit den Hauptinhalten der »Einleitung« und somit des ganzen Werkes selbst versteht. Charakteristisch für seine Vernunftlehre sind ganz im Allgemeinen: (1) der subjektivistische Ansatz der Untersuchung: »Wir verstehen hier, durch das Wort Vernunft, nicht die Wahrheiten selbst, die oder deren Zusammenhang der menschliche Verstand einsiehet; sondern die Kraft des Verstandes, wodurch wir sie einsehen«;5 (2) die Autonomie der Vernunftlehre, ihre Unabhängigkeit von jeder metaphysischen (ontologischen oder auch psychologischen) Annahme;6 (3) der rekurrierende Hinweis auf den natürlichen (also menschlichen) Charakter der Kraft der Vernunft als Denkkraft: »Wenn wir [...] bey allen Menschen, auch selbst bey Kindern, eine Kraft wahrnehmen, woraus alle diese Vorzüge vor den Thieren entstehen: so kann kein Zweifel übrig seyn, daß es diejenige Kraft sey, welche wir Vernunft heissen«;7 (4) die sehr enge (unterschiedlich definierbare) Verbindung von Theorie und Praxis – der Verstand sucht die Wahrheit mit dem Willen, welcher nach Glückseligkeit strebt: »Die Erfahrung lehret uns, daß es auch sehr viel von unserm Willen abhängt, was und wie wir denken«;8 (5) die zentrale epistemische Rolle und Wichtigkeit der »natürlichen Weltweisheit« zwischen »historischer« und »philosophischer« bzw. »mathematischer« Erkenntnis9 und die hiermit verbundene Behauptung des Primats der empirischen Erkenntnis;

|| 3 Georg Friedrich Meier: Auszugs aus der Vernunftlehre. Halle 1752, § 1. 4 Ebd., § 4. 5 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 24. 6 Vgl. Hans Werner Arndt: Die Logik von Reimarus im Verhältnis zum Rationalismus der Aufklärungsphilosophie. In: Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur »Vernunftlehre« von H. S. Reimarus. Hg. von Wolfgang Walter und Ludwig Borinski. Göttingen 1980, S. 59–74, hier S. 62. 7 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 26; vgl. ebd. § 25. 8 Ebd., § 44. 9 Vgl. dazu ebd., §§ 4–8.

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(6) die Ausübung der Vernunftlehre als »Heilung« und somit die Auffassung der Rolle der Aufklärung selbst nach einem alten medizinischen Modell als Beseitigung und Milderung der natürlichen Fehler und Irrtümer des Menschen;10 (7) die entsprechende vornehmlich praktische Definition der Logik in ihrer gesamten Entfaltung. Zu diesem letzten Punkt sollte man Folgendes bedenken: Die traditionelle Teilung der Logik in drei theoretische und eine praktische Sektion (nach dem Muster: 1. Begriffslehre, 2. Urteilslehre, 3. Lehre der Syllogismen / 4. Methodenlehre) wird von Reimarus dadurch wiedergegeben, dass er im Werk zwei Teile unterscheidet: »Der erste Theil der Vernunftlehre« trägt den Titel: Von den Handlungen des Verstandes. Hier werden die drei Lehren der Begriffe, Urteile und Schlüsse fundamental praktisch bzw. dynamisch definiert.11 »Der zweyte ausübende Theil« besteht seinerseits aus drei Kapiteln, welche respektive die Quellen, die Ausübung und die Resultate des Gebrauchs der Vernunft beschreiben. Interessanterweise werden am Ende der »Einleitung« die drei Kapitel des zweiten Teils doch in Kontinuität mit dem gesamten ersten Teil dargestellt, als hätten wir de facto vier fundamentale Sektionen des gesamten Werkes (nach dem umgekehrten Muster: 1. theoretisch und praktisch / 2., 3., 4. nur praktisch). So schreibt Reimarus: Ich werde demnach in vier Theilen zeigen, I. wie man richtige Begriffe, Urtheile und Schlüsse zu machen habe: II. wie man genaue Erfahrungen, gründliche Wissenschaft und zuverläßigen Glauben erhalte: III. wie man Wahrheiten erfinden, prüfen, beweisen und vertheidigen müsse: IV. wie wir Irrthümer vermeiden, wo und wie wir zur Gewißheit, oder doch zur Wahrscheinlichkeit kommen können, oder wenigstens vernünftig zweifeln.12

Die oben aufgelisteten Merkmale (1–7) und die Struktur des Werkes prägen und erklären also zum Teil den ersten Teil des Titels: Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit. Der zweite Teil des Titels, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Wiederspruchs hergeleitet, fügt ein neues, wichtiges Element hinzu: eine subjektivistische und empiristische Definition der Grundprinzipien der Vernunftlehre selbst. In der »Einleitung« erklärt Reimarus dementsprechend, dass die Allgemeine[n] Regeln der Vernunft (so der Titel des § 29) für unsere Denktätigkeit sowohl im Bejahen (Titel des § 30) als auch im Verneinen (Titel des § 31) wesentlich sind. Diese Re-

|| 10 Vgl. dazu Werner Schneiders: Praktische Logik. Zur Vernunftlehre der Aufklärung im Hinblick auf Reimarus. In: Logik im Zeitalter der Aufklärung (s. Anm. 6), S. 75–92, hier S. 78 und S. 84. 11 Vgl. dazu Arndt: Die Logik von Reimarus (s. Anm. 6), S. 63–71. 12 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 47; vgl. dazu aber vor allem ebd., § 46 und § 157.

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geln werden von ihm als die Richtschnur alles vernünftigen Denkens (Titel des § 32) dargestellt. Jeder braucht sie täglich (»im gemeinen Leben«), wenn auch mehr oder weniger unbewusst (»nach undeutlicher Einsicht«).13 Schon im ersten Abschnitt der »Einleitung« hatte Reimarus den durchaus natürlichen Charakter dieser Regeln betont: »Wenn wir [...] auf die natürliche Bestimmung unserer Vernunftkraft, nach der inneren Empfindung, achten: so finden wir, daß wir in gewissen Fällen so denken müssen, und das Gegentheil nicht denken können«.14 Dieselben Regeln, das erklärt er dann ausführlich im zweiten Abschnitt, müssen zwiefach gefasset werden (so der Titel des § 33), denn »alles, was wir denken können, [...] besteht theils in der Verbindung, theils in der Trennung unserer Vorstellungen. Jenes hat seinen eigentlichen Grund in der Regel der Einstimmung, dieses in der Regel des Wiederspruchs«.15 Aus diesen zwei Regeln fließe nichts weniger als »die nächste Richtschnur aller unserer Urtheile und Wahrheiten« hervor, nämlich der Satz des zureichenden Grundes. Denn man muss ja in einem jeden Urteil »einen zureichenden Grund der Bejahung und Verneinung in dem Begriffe des Vordergliedes haben [...], woraus die Einstimmung oder der Wiederspruch beider Begriffe erhellet«.16 Reimarus schließt somit an eine damals sehr bekannte These der thomasianischen Tradition an, die Christian August Crusius am besten in § 15 vom Entwurf der nothwendigen Vernunftwahrheiten von 1745 zum Ausdruck gebracht hatte. Nach dem »Satz des nicht zu trennenden« können wir Folgendes festhalten: »Was sich nicht ohne einander denken läßt, das kan auch nicht ohne einander seyn«; nach dem »Satz des nicht zu verbindenden«: »Was sich nicht mit und neben einander denken läßt, das kan auch nicht mit und neben einander seyn«.17 Crusius’ Entwurf basierte auf dem interessanten Paradox einer Theorie, welche einerseits die Notwendigkeit ins Zentrum der Metaphysik selbst setzt (Entwurf der nothwendigen Vernunftwahrheiten), andererseits dadurch gar keine Theorie der Objektivität, sondern eher einen neuen, entschlossenen Subjektivismus und Empirismus behauptet, wie der Titel des Werkes suggeriert. Ein ähnlicher Subjektivismus und ein ähnlicher Empirismus prägen nun sowohl Titel als auch Inhalte der Vernunftlehre von Reimarus.

|| 13 Ebd., § 32. 14 Ebd., § 17. 15 Ebd., § 33. 16 Ebd., § 120. 17 Christian August Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzt werden. Leipzig 1745, § 15. Vgl. dazu auch ders.: Entwurf (s. Anm. 15), § 122; ders.: Dissertatio philosophica de usu et limitibus principii rationis determinantis vulgo sufficientis. Leipzig 1743, § XXVII; ders.: Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß. Leipzig 1747, § 262; und v. a. schon Adolph Friedrich Hoffmann: Vernunftlehre, darinnen die Kennzeichen des Wahren und Falschen aus den Gesetzen des menschlichen Verstandes hergeleitet werden. Leipzig 1737, § 669.

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2 Die thomasianische Schule So viel zum Titel und zu den im Titel angedeuteten Hauptcharakteristika der Vernunftlehre von Reimarus. Es sei mir erlaubt, bevor wir das eigentliche Thema dieses Aufsatzes (die Wahrscheinlichkeitslehre) in Betracht nehmen, kurz an die historischen Konturen seines allgemeinen Thomasianismus zu erinnern. Die Jahre 1714–1716, in denen Reimarus in Jena die Vorlesungen des Thomasianers18 Johann Franz Budde besuchte, gelten als besonders wichtig in seiner philosophischen Entwicklung.19 Als Reimarus später (in den dreißiger Jahren) begann, an einer Vernunftlehre zu arbeiten, zeigte sich diese Prägung vor allem dadurch, dass er den Plan einer doppelten Veröffentlichung konzipierte: Parallel zu seinem Text sollte eine neue Auflage der Einleitung zu der Vernunfft-Lehre und der Außübung Der Vernunfft-Lehre von Thomasius erscheinen.20 Wir wissen mit Sicherheit, dass Reimarus mehrere Texte von Budde, aber auch zum Beispiel von Rüdiger besaß, kannte und in seine Spekulationen eingliederte.21

|| 18 Der Begriff des ›Thomasianismus‹ kann sowohl in engem als auch in sehr breitem Sinne verstanden werden. Man kann versuchen, die Reihe der Anhänger (und der Anhänger der Anhänger) von Christian Thomasius darunter zu ordnen. Man denke zum Beispiel in Leipzig an Andreas Rüdiger (1673–1731), welcher bis 1695 als Hauslehrer bei Christian Thomasius in Halle gearbeitet hatte, an dessen Schüler und Nachfolger August Friedrich Müller (1684–1761), an die oben erwähnten Adolph Friedrich Hoffmann (1703–1741) und Christian August Crusius (1715–1741) oder in Jena an den oben erwähnten Lehrer von Reimarus, Johann Franz Budde (1667–1729) und an seinen viel engeren Schüler Johann Georg Walch (1693–1775), dessen Philosophisches Lexicon wesentlich zur Verbreitung der Philosophie von Thomasius beitrug. In der Stadt schließlich, in der Thomasius selbst am längsten (seit 1690) wirkte, Halle an der Saale, blieben auch eine Reihe von mehr oder weniger expliziten Anhängern seiner Philosophie, wie Nikolaus Hieronymus Gundling (1671–1729) oder der Jurist Johann Gottlieb Heineccius (1681–1741). In viel breiterem Sinne des Wortes assoziiert man mit dem ›Thomasianismus‹ eine neue freie und kritische Denkweise im öffentlichen Diskurs und die allgemeine Verbreitung der Werte der Aufklärung in Deutschland. Als typisch thomasianische Positionen gelten bekanntlich der Versuch, die Rolle der Religion in allen Disziplinen und Doktrinen der praktischen Philosophie zu begrenzen, die strikte Trennung der Bereiche des Rechts und der Moral und die Entfaltung einer langen Reihe von Reformen im Bereich sowohl des Zivil- wie auch des Strafrechtes. Im Zentrum der Forschungen von Thomasius stand vor allem ein starkes und fundamentales anthropologisches Interesse, welches in zahlreiche psychologische und pädagogische Veröffentlichungen im Laufe des 18. Jahrhunderts ausstrahlte. 19 Siehe dazu Arndt: Die Logik von Reimarus (s. Anm. 6), S. 74. 20 Siehe dazu Frieder Lötzsch: Vorbericht des Herausgebers. In: Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), S. VII–XXIX, hier S. VII. 21 Vgl. Johann Andreas Gottfried Schetelig: Auktionskatalog der Bibliothek von Hermann Samuel Reimarus. Hamburg 1769/1770. Hg. von der Reimarus-Komission der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V. Hamburg und der Lessing-Akademie e.V. Wolfenbüttel. Hamburg 1978; dazu Lötzsch: Vorbericht (s. Anm. 20), S. VIII, IX, XXII, XXIII.

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Das alles erklärt in seinem Werk die Reihe der wenn auch selten expliziten Bezüge und Auseinandersetzungen mit diesen Autoren und es ermöglicht auch eine (sicherlich partielle und etwas besondere) historische Zuordnung zu dieser Tradition des Denkens. In Reimarus zwischen Wolff und Kant versucht Norbert Hinske eine strikte Kontinuität eher zwischen Christian Wolff und Reimarus festzulegen.22 Sicherlich war Reimarus nicht von dem scharfen Anti-Wolffianisums seines Lehrers in Jena geprägt. Bekanntlich griff Budde Wolff in einer Reihe von Streitschriften an, welche sich in einem (direkt von ihm oder von nahe stehenden Personen propagierten) ideologischen Streit verbreiteten.23 In der Tat lassen sich auch in Reimarus’ Vernunftlehre Elemente (formaler oder auch inhaltlicher Natur) leicht bemerken, die direkt von Wolff oder innerhalb der wolffschen Tradition entwickelt und verbreitet worden waren. Hinske zählt in dem Sinne sechs Punkte auf, an denen Reimarus »im großen und ganzen« den Auffassungen Wolffs gefolgt sei: 1. Die Unterscheidung und Charakterisierung der Stufen oder Schritte (gradus) der menschlichen Erkenntnis als ganzer; 2. Die Untergliederung der Metaphysik in Einzelabteilungen; 3. Die Benennung der verschiedenen philosophischen Disziplinen; 4. Der Philosophiebegriff; 5. Der Wissenschaftsbegriff; und 6. Der Vorbildcharakter der Mathematik für die Philosophie [...].24

Auf den folgenden Seiten wird Reimarus’ Auffassung der ›Wahrscheinlichkeit‹ nach seiner ausführlichen Behandlung des Themas am Ende der Vernunftlehre, in Kapitel 3. des II. Teils des Werkes, diskutiert. Eine Reihe von beachtlichen Unterschieden zu Wolff, genauso wie die enge Kontinuität mit den Thesen der Thomasianer, kann dadurch leicht beleuchtet werden. Die Originalität dieser Seiten liegt aber nicht in Reimarus’ Thomasianismus, sondern vor allem in der konsequenten Lokalisierung der Lehre der Wahrscheinlichkeit selbst im Kontext einer Theorie der Irrtümer, der Vorurteile und der Grenzen unserer Erkenntnis. Der Titel des Kapitels, in dem Reimarus die Wahrscheinlichkeit erörtert, lautet dementsprechend:

|| 22 Norbert Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der Vernunftlehre von Hermann Samuel Reimarus. In: Logik im Zeitalter der Aufklärung (s. Anm. 6), S. 9–32. 23 Vgl. dazu Horst Schröpfer: Die Polemik zwischen Christian Wolff und Johann Franz Buddeus – ein Orientierungspunkt für die philosophie-historische Einordnung der Wolffschen Philosophie. In: Christian Wolff als Philosoph der Aufklärung in Deutschland. Hallesches Wolff-Kolloquium 1979 anläßlich der 300. Wiederkehr seines Geburtstages. Hg. von Hans-Martin Gerlach, Günter Schenk und Burchard Thaler. Halle 1980, S. 93–100, oder neuerdings Clemens Schwaiger: Christian Wolffs Deutsche Metaphysik und die Thomasianer Nicolaus Hieronymus Gundling und Johann Franz Budde. In: Archivio di filosofia 87.1 (2019), S. 27–38. 24 Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant (s. Anm. 22), S. 14.

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3 »Von Vermeidung der Irrthümer, Mitteln zur Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit, und vom vernünftigen Zweifel« Das Kapitel wird mit einer allgemeinen Definition des Irrtums eröffnet: »Der Irrthum ist das Gegentheil der Wahrheit. Nun besteht die Wahrheit in der Uebereinstimmung unserer Gedanken mit der Sache, woran wir gedenken. […] Folglich besteht der Irrthum in der Abweichung unserer Gedanken von der Sache, woran wir gedenken«.25

3.1 Irrtümer aus Unwissenheit seiner eigenen Grenzen Irrtümer entstehen nach Reimarus vor allem deswegen, weil wir etwas bejahen oder verneinen (also weil wir urteilen), ohne in unserer Vorstellung zureichende Klarheit und Deutlichkeit von den Dingen selbst zu haben: »Wir mißbrauchen die Vernunft und irren, so oft als wir, ohne zureichend klare und deutliche Einsicht der Einstimmung oder des Wiederspruchs, etwas bejahen, verneinen, für möglich oder gewiß halten«.26 Am wichtigsten sei es jedoch festzustellen, dass Irrtümer nicht bloß aus den durchaus natürlichen Mängeln unserer Erkenntnis stammen, sondern – und hiermit wird die Aufgabe selbst einer Vernunftlehre nach Reimarus deutlich – aus der Unwissenheit dieser Mängel selbst. Das wird am besten von Reimarus in einem schönen Beispiel erklärt: Wenn ich einen Menschen in der Ferne nur dunkel und undeutlich sehe, aber dabey merke, daß es diesem Bilde in meinen Augen noch an erforderlicher Klarheit und Deutlichkeit fehlt, um eine gewisse Person zu kennen und von andern zu unterscheiden: so werde ich mein Urtheil, wer der Mensch sey, zurückhalten, und also auch nicht irren.27

Um Irrtümer zu vermeiden, brauche man also nicht nur – das sei ja selbstverständlich – die angeborenen Kräfte und Fähigkeiten, die das Urteilen ermöglichen, sondern auch und vor allem die Disposition, welche im Grunde eine philosophische ist, über die Anwendung dieser Kräfte selbst in den unterschiedlichen Kontexten des Erkennens zu reflektieren. Mit anderen Worten, bevor man etwas über bestimmte Gegenstände sagt (bejaht oder verneint), muss man genau die Grenze, die Dispositi-

|| 25 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 210. 26 Ebd., § 212. 27 Ebd., § 210.

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onen und die Quellen der Erkenntnis im Verhältnis zu ihren spezifischen Gegenständen abschätzen und abwiegen.

3.2 Irrtümer aus Vorurteilen und Neigungen Werden dagegen die Urteile voreilig und unreflektiert gefällt, dann werden Irrtümer unvermeidlich. Vorurteile sind dementsprechend nach Reimarus nichts Anderes als Grundsätze, welche man immer wieder »ohne Untersuchung und unvermerkt, als ungezweifelte Grundwahrheiten«28 annimmt. Sie widersprechen Sinn und Essenz einer Vernunftlehre selbst, welche im Grunde bloß eine Einladung enthält, von Grund aus und regelmäßig über die eigenen Fähigkeiten und über die Quellen der Urteile zu reflektieren. Daher heißt es ziemlich abwertend in § 213: Ich will mir nicht die unnöhtige Mühe machen, für ein jedes Vorurtheil, nach seinem Inhalt, einen eigenen Namen auszudenken. Denn sie sind unendlich; und ich müßte Vorurtheile der Ahndung, Vorurtheile der Träume, Vorurtheile der Rockenphilosophie, Vorurtheile des Aberglaubens, Vorurtheile des Unglaubens, Vorurtheile der mathematischen Methode, und ich weis nicht, was noch mehr, besonders benennen.29

Einfluss auf Irrtümer und Vorurteile hat zunächst der Wille des Menschen, welcher durchaus von Neigungen und Affekten beeinflusst wird: »Furcht und Schrecken machen, daß die Leute gleichsam nicht sehen noch hören«.30 Aber nicht nur unbewusste oder bewusste Affekte oder Neigungen, sondern auch klares Interesse und Parteilichkeit können Einfluss auf das Urteilen der Menschen üben und es sogar komplett eintrüben, wie Reimarus in folgendem schönen Beispiel erklärt: Redi schreibt, er habe von einem alten ehrwürdigen Peripatetiker die gewisse Nachricht, daß er nimmer durch eine Fernröhre habe sehen wollen, damit er nicht genöhtiget würde, die neuen Sterne des Galilaei und andere vormals am Himmel nicht bemerkten Dinge zu erkennen.31

3.3 Wahrheit und Wahrscheinlichkeit So fordert Reimarus am Ende von § 214, dass man sich im Namen einer »ernstlichen und reinen Wahrheitsliebe« von allen Neigungen, Affekten und Interessen, die unsere Urteile beeinflussen, zu befreien versucht.32 Das Resultat dieser durchaus notwendigen (wenn auch sehr schwierigen, letztendlich unmöglichen) Aktion sei inte|| 28 Ebd., § 213. 29 Ebd. 30 Ebd., § 214. 31 Ebd. 32 Vgl. ebd.

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ressanterweise darin zu sehen, dass man das an sich Wahre und Falsche vom Wahrscheinlichen bzw. Unwahrscheinlichen zu trennen lernt. In § 40 der »Einleitung« hatte Reimarus diese zwei fundamentalen Domänen der Erkenntnis ‒ Wahrheit / Wahrscheinlichkeit ‒ deutlich getrennt: Die klare und deutliche Einsicht der wesentlichen und völligen Einstimmung, oder des wesentlichen und völligen Wiederspruchs, macht Gewißheit. Und solche Einsicht hat zugleich in sich das Kennzeichen der Wahrheit. (Criterium veritatis.)« / »Hergegen macht die klare und deutliche Einsicht von der Einstimmung der Umstände Wahrscheinlichkeit, und von dem Wiederspruche derselben Unwahrscheinlichkeit.33

Dieselbe klare Unterscheidung wird dann in § 215 ausführlich dargestellt: [E]s giebt Dinge, davon wir nicht völlig klare und deutliche Vorstellung haben, folglich, deren Einstimmung oder Wiederspruch wir nicht zureichlich einsehen, und also entweder gar nichts davon urtheilen, oder doch zu keiner Gewißheit, sondern höchstens nur zu einer Wahrscheinlichkeit gelangen können.34

Interessanterweise definiert Reimarus beide Domänen als ›regelmäßig‹, denn die Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs gelten sowohl für das Wahre als auch für das Wahrscheinliche.35 Beide seien im Prinzip auch ›vernünftig‹.36 Von einem »Mißbrauch der Vernunft« solle erst dann geredet werden, »wenn man über die Schranken seiner klaren und deutlichen Einsicht etwas [...] bejahet oder verneinet«.37 Da sich nun konstitutiv jede Behauptung einer Wahrscheinlichkeit nicht vom Irrtum frei sagen darf,38 soll diese nach Reimarus unbedingt im Rahmen einer allgemeinen Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit der Vermeidung von Irrtümern behandelt werden. Die Erkenntnis seiner Grenze und die Vermeidung von Fehlern machen es möglich – das werden wir in 3.9 sehen –, dass man etwas mit Vernunft, also vernünftig als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich erklärt.

3.4 Modalbegriffe Auf dieser Basis bestimmt Reimarus alle Begriffe der Modalität in einer Weise, die unmittelbar an die Definitionen der Philosophen der thomasianischen Tradition erinnert. So hatten Rüdiger, Müller, Hoffmann und Crusius Gewissheit und Wahr-

|| 33 Ebd., § 40. 34 Ebd., § 215. 35 Vgl. ebd., § 40. 36 Vgl. ebd., § 41. 37 Ebd., § 42. 38 Vgl. ebd., § 43.

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scheinlichkeit deutlich getrennt und nach dieser fundamentalen Trennung das Notwendige als das nachweislich Wahre, das ›Unmögliche‹ als das nachweislich Falsche, das ›Zufällige‹ als das wahrscheinlich Wahre und das ›Mögliche‹ als das wahrscheinlich Falsche definiert.39 Das daraus ableitbare Schema der Modalbegriffe, welches (auch) Reimarus’ Auffassung der Modalität prägt, ist dementsprechend folgendes: NOTWENDIG

ZUFÄLLIG

Wahrheit

Wahrscheinlichkeit UNMÖGLICH

MÖGLICH

Die alte, strenge Abtrennung der sicheren Wissenschaften vom an sich vagen Bereich der Meinungen wurde dadurch radikal überholt, dass ausgerechnet die ›Wahrscheinlichkeit‹ unserer Meinungen nun eine ganz andere (nicht absolute) Form der Gewissheit definiert, welche komplementär zu der absoluten eine zentrale Rolle in der Bestimmung der Objektivität überhaupt übernimmt.40

3.5 Gegen die mathematische Methode Auf dieser Basis kritisiert Reimarus zugleich jede Form von Skeptizismus und von Dogmatismus. Es gebe einerseits Menschen, die alles für ungewiss halten. Bewusst verzichteten sie auf die Instrumente der Erkenntnis und genössen diesen Verzicht selbst in der Überzeugung, alles sei konstitutiv unklar und undeutlich: »Sie machen es, als wenn einer den Gebrauch des Compasses und der Seekarten nicht verstünde, oder für unnütze hielte, und daher die Fahrt auf der See für ungewiß und unsicher erklärte«.41 Zu verwerfen sei andererseits die Einstellung derjenigen, »die alles zu demonstriren wissen, und lauter unumstößliche Lehrgebäude aufzurichten suchen«.42 Es sei zwar nicht zu leugnen, dass die Mathematik Grundsätze, Erklärungen und sogar ›Erfahrungen‹ eingeführt hat, die bei weitem unsere Erkenntnis der Dinge gefördert haben. »Allein«, das schreibt Reimarus in einer etwas bitteren und bissigen Bemerkung gegen Wolff und den Wolffianismus, »dieses Gute haben wir nicht dem Äusserlichen, sondern bloß dem Wesentlichen der mathematischen Lehr-Art

|| 39 Vgl. dazu z. B. Giuseppe Motta: Hypotheses. The Concept of Possibility in Ch. A. Crusius’ Theory of Objectivity. In: Rivista di Filosofia Neo-Scolastica, 112.3 (2020), S. 655–670. 40 Vgl. dazu David Hume: A Treatise of Human Nature. Vol. I. London 1739, Part III, Sect. XI. 41 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 1), § 216. 42 Ebd.

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zu danken«.43 In ihrer bloß äußerlichen Form sei die mathematische Methode eher Ursache von »vielen Unbequemlichkeiten«.44 Denn, so weiter Reimarus: 1) [Sie macht] darin ein Blendwerk, daß alle Sätze durch einander gleich demonstrativ und gewiß aussehen, da sie es doch nicht sind. [...] 2) [Sie macht] die Sache sehr weitläuftig, weil vieles der Methode halber muß gesetzt und wiederholt werden, welches sonst nicht nöhtig wäre [...]. 3) [Sie ist] nicht für jedermann [...]. 4) Kommt dazu, daß sich diese Lehr-Art in besondern Materien, die mitten aus einer Wissenschaft herausgenommen sind, nicht füglich anbringen läßt [...]. 5) Bey einigen mathematischen Beweisen mögte man auch wünschen, daß sie mehr mit dem gemeinen Manne sprächen [...].45

3.6 Erkenntnis aus »erweiterter Erfahrung« und »faßlichen Beweisen« § 217 enthält demzufolge die Schätzung jeder Erkenntnis, welche zunächst reflexiv verstehe, dass Erkenntnis selbst auf »richtigen Erfahrungen« und »guten Erklärungen« basiert. Vollkommenere Begriffe stammen aus »erweiterten Erfahrungen«, die man in gewissen Fällen durch die mathematische Wissenschaft in ihrer Bestimmung (durch Experimente) der Naturlehre ergänzen kann.46 »Faßliche Beweise«, welche einer »unmittelbaren Einsicht, durch einen kurzen Zusammenhang identischer Sätze« entstammen und welche vor allem das »wirkliche Ding« immer vor Augen halten, seien darüber hinaus – und hier hat Reimarus offensichtlich nochmals Wolff kritisch im Visier – einer unkontrollierten Vermehrung »subtiler Beweise« deutlich vorzuziehen.47

3.7 Nochmals zur Trennung Wahrheit / Wahrscheinlichkeit Innerhalb einer Theorie der Erkenntnis, welche auf der sinnlichen Erfahrung basiert, mag die Trennung selbst des Wahren vom Wahrscheinlichen etwas problematisch zu definieren sein: »Allein die Stuffen in jeder Art zu unterscheiden, ist schon weit schwerer, und die niedrigen Grade der Gewißheit kommen den höheren Graden der Wahrscheinlichkeit so nahe, daß man kaum bestimmen kann, zu welcher Art der Erkenntniß die gegebene hinzurechnen sey«.48 In den fünf zentralen Sektionen des § 219 präzisiert und profiliert Reimarus dementsprechend in den zwei Bereichen

|| 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd., § 217. 47 Ebd., § 218. 48 Ebd., § 219.

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des Absoluten (Wahren / Falschen) und des Relativen (Wahrscheinlichen / Unwahrscheinlichen) respektive (1) »die verschiedene Gründlichkeit der Erklärungen«, (2) »die verschiedene Faßlichkeit des Beweises«, (3) »die verschiedene Entfernung eines Beweises von der unmittelbaren Einsicht eines Satzes«, (4) »die verschiedene Anzahl der Vernunftsgründe an sich, und der Erfahrungen an sich; insonderheit aber beider Arten Uebereinstimmung«, (5) »die verschiedenen Stuffen einer bestimmten Klarheit und Deutlichkeit der Begriffe«49 und definiert dann erneut am Anfang von § 220 die Begriffe der Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit: Die Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit besteht in einer klaren und deutlichen Einsicht der Einstimmung oder des Wiederspruchs mit den Umständen eines Dinges. […] Der Unterschied […] von der Gewißheit entsteht daher, daß diese Einsicht nur aus den Umständen, die Gewißheit aber aus dem Wesentlichen der Sachen fliesset; diese also unzureichend, jene zureichend ist.50

Diese fundamentale Unterscheidung zwischen der Einsicht »aus dem Wesentlichen der Sachen«, welche die Gewissheit ermöglicht, und der Einsicht »aus den Umständen«, welche zu wahrscheinlichen Urteilen führt, wird von Reimarus durch das (in diesem Paragrafen wiederholte) Beispiel der Einschätzung des Reichtums einer Person (Titius) erläutert. Um diesen festzustellen, so Reimarus in § 220, benötigen wir zunächst die klare (also wahre) Vorstellung der Bedeutung des Begriffs Reichtum. Auf dieser Basis können wir dann zwei fundamental unterschiedliche Formen von Einsicht in Titius’ Vermögen unterscheiden: Wenn man [...] den wahren Zustand der Mittel des Titius, nach seiner inneren und wesentlichen Beschaffenheit, aus einem richtigen Verzeichnisse seiner Capitalen, und Besitzes, wie auch jährlichen Einnahme und Ausgabe, wissen könnte: so würde die Einsicht des Urtheils, daß Titius reich sey, eine Gewißheit haben. […] Allein, wenn man in seine Bücher nicht gucken darf, so schließt man solches nur wahrscheinlich aus den Umständen, die mit dem Begriffe des Reichthums übereinstimmen.51

Es sei mir erlaubt, an dieser Stelle kurz eine Parallele zu skizzieren, die einerseits vielleicht historisch schwer zu belegen ist, andererseits doch von Bedeutung für das Verständnis der Entwicklung der Geschichte der Philosophie des 18. Jahrhunderts sein kann: Die hier dargestellte, damals sehr verbreitete Trennung von zwei Formen der Gewissheit (Wahrheit versus Wahrscheinlichkeit) kann (und soll meiner Meinung nach) als breite und fundamentale Basis für die spätere Differenzierung vom ›Analytischen‹ und ›Synthetischen‹ und daher selbst für die normative Bestimmung des Synthetischen innerhalb der kantischen Philosophie betrachtet werden. Die

|| 49 Alle Zitate ebd. 50 Ebd., § 220. 51 Ebd.

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Kopernikanische Wende basiert ausgerechnet auf der Annahme, man könne (und solle) eine Notwendigkeit des Nicht-Analytischen, also des Nicht-Wesentlichen zu definieren versuchen.

3.8 Die Umstände Etwas kantisch ante litteram mag wohl auch Reimarus’ Bestimmung und Einschätzung der Hauptcharakteristika der ›Umstände‹, die den Grad einer Wahrscheinlichkeit zu definieren ermöglichen, erscheinen. Dieser Grad hängt nach § 221 zuerst von der Quantität52 dieser Umstände, dann von der Qualität53 derselben und schließlich von ihrer gegenseitigen Relation54 ab. Erst in diesem letzten Kontext können Wahrscheinlichkeiten mathematisch berechnet werden: »So ist wahrscheinlicher, daß man mit zwo Würfeln 6, 7 oder 8 wirft, als daß man 4, 5, 9 oder 10 damit werfe, weil jene Augen auf dreyerley Art, diese nur auf zweyerley Art geworfen werden können«.55

3.9 Vom vernünftigen Zweifel Die Einschätzung und die Berechnung aller Umstände bewahren jedoch nicht vor Irrtum: »[...] weil zuweilen eine gegenseitige Möglichkeit seyn kann, die man nicht einsiehet: so ist man auch alsdenn vor dem Irrthum nicht gänzlich gesichert«.56 § 222 trägt dementsprechend den schönen Titel: »Vom vernünftigen Zweifeln«, und ist komplett dem Zweifel in Verbindung mit einer korrekten Einschätzung des Wahrscheinlichen gewidmet. Was heißt nun ›Zweifel‹? Reimarus schreibt am Anfang des Paragrafen: »Wir zweifeln an einem Satze, wenn wir unsern Beyfall, wegen gewisser Umstände, die dem Satze zu wiedersprechen scheinen, zurückhalten«.57 ›Vernünftig‹ heißt der Zweifel, wenn er »an sich seine Richtigkeit« hat.58 Er darf vor allem weder ein

|| 52 Ebd., § 221: »Es ist leicht zu erachten, daß die Umstände, welche mit einem Dinge übereinstimmen, oder demselben zu wiedersprechen scheinen, an Zahl und Vielheit verschieden seyn können«. 53 Ebd.: »Allein die Umstände sind mehrentheils an sich unterschieden, und einer allein oft wichtiger als viele andere zusammen genommen«. 54 Ebd.: »Auf solche Weise muhtmaßet ein Arzt die Krankheiten, ein Politicus die Absichten, ein Naturkündiger die Ursachen, ein Richter den Thäter desto wahrscheinlicher, je näher die wirklichen übereinstimmenden Umstände den wesentlichen Merkmaalen einer gewissen Sache treten, und je geringer die Möglichkeit des Gegentheils ist«. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Ebd., § 222. 58 Ebd.

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»ungegründeter« ‒ wenn »der gesetzte Umstand an sich nicht vorhanden ist« ‒ noch ein »unerheblicher« ‒ wenn »er dem Satze in der That nicht wiederspricht, sondern nur wegen dunkeler und undeutlicher Vorstellung einen falschen Schein des Wiederspruchs giebt« ‒ sein.59 Wichtig ist es, dass er (der Zweifel) einem oder mehreren Umständen, nicht aber dem Wesen selbst der Sache widerspricht. In dem Fall würden wir nicht an etwas zweifeln, sondern die Sache einfach komplett leugnen. So darf zum Beispiel ein Zweifel nicht die Bedeutung des ›Reichtums‹ an sich betreffen (was heißt es überhaupt, ›reich‹ zu sein?), sondern zum Beispiel nur die Umstände, die mit der Einschätzung des Reichtums von Titius verbunden sind. Da nun ein Zweifel nicht das Wesentliche, sondern nur die Umstände einer Sache betrifft, ist er auch konstitutiv mit wahrscheinlichen (also nicht mit gewissen) Sätzen verbunden. Am Anfang mögen Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit im Gleichgewicht der zwei Seiten der Waage der Einschätzung stabil sein.60 Fundamental wichtig für die Bemessung des Grades der Wahrscheinlichkeit / Unwahrscheinlichkeit einer Behauptung sind dann die Antworten auf eine möglichst lange Reihe von nicht »ungegründete[n]« (siehe die obige Definition) und von nicht »unerhebliche[n]« (siehe die obige Definition) Zweifeln. Dementsprechend schließt Reimarus in § 224 das dritte Kapitel, den zweiten Teil (und somit die ganze Vernunftlehre) mit den zwei folgenden Regeln: I. Zweifel, welche auf keine richtigen Sätze gebauet werden, oder deren Wiederspruch sich nur auf Unwissenheit gründet, sind unvernünftig, und zumal gegen offenbare Wahrheiten gar nicht zu achten. II. Dagegen sind gegründete und erhebliche Zweifel gegen eine eingebildete Gewißheit, oder gegen wahrscheinliche Sätze, ein vernünftiges Mittel, den Irrthümern zu steuren und die Wahrheit in ein helleres Licht zu setzen; folglich muß man dieselben weder bey sich selbst unterdrücken, noch andern verargen.61

In helleres Licht der Wahrheit kann schließlich etwas nur durch vernünftige Zweifel gebracht werden, also durch Negationen, die man nicht als bloß negativ, sondern eher in ihrer positiven Funktion einschätzen soll.

4 Der Kontrast zu Wolff Immer wieder kritisiert Reimarus, wenn auch in einer sehr subtilen und distanzierten Weise, Wolff und manche Grundeinstellungen der damaligen Schulphilosophie. Das haben wir in Kapitel 3.5 bezüglich einer nicht korrekten Erweiterung und Anwendung der sogenannten mathematischen Methode oder in 3.6 bezüglich der

|| 59 Ebd. 60 Vgl. ebd., § 223. 61 Ebd., § 224.

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unnützlichen Vermehrung ›subtiler Beweise‹ gesehen. Leicht lassen sich aber auch andere fundamentale Unterschiede zwischen Wolff und Reimarus in der Definition der ›Wahrscheinlichkeit‹ beschreiben, welche unabhängig von einer mehr oder weniger expliziten Polemik einfach zwei getrennte Paradigmen der Philosophie und des Philosophierens bezeichnen. Christian Wolff war der Meinung (wie Reimarus und viele andere vor ihm), dass eine systematische Theorie der Wahrscheinlichkeit unbedingt entwickelt werden sollte. Dies sei nämlich der beste Weg, um der wissenschaftlichen Forschung und der damit immer enger verbundenen experimentellen Methode der empirischen Wissenschaften eine theoretische Grundlage zu sichern. Darüber hinaus zweifelte er nicht an der Wichtigkeit einer Logik (oder einer Kunst) des Wahrscheinlichen für eine bessere Bestimmung der Urteile im täglichen Leben. So lesen wir zum Beispiel in § 402 (in Kap. 3: »Von der Seele überhaupt«) der Deutschen Metaphysik: »[D]a es in den menschlichen Geschäften meistentheils auf Wahrscheinlichkeit ankommet, und man dannenhero das wahrscheinlichste erwehlen soll; so wäre es eine sehr nützliche Arbeit, wenn man diese Kunst zu Stande brächte«.62 Von der Entwicklung einer Wahrscheinlichkeitslehre erwartete Wolff sogar die Erweiterung und die Bestätigung der Gültigkeit seiner Wahrheitslehre in den (fremden) Kontexten, in denen die mathematische Methode ihre Grenze zu finden schien – der Feldforschung oder des Alltagslebens zum Beispiel. Reimarus teilte diesen allgemeinen Optimismus des Wissens und vor allem diesen dezidierten Objektivismus im Wissen grundsätzlich nicht. Er glaubte sicherlich nicht, die mathematische Methode könne ausgerechnet durch eine Lehre des Wahrscheinlichen auch im Bereich der Empirie unbegrenzt erweitert werden. Das Wahrscheinliche wird von ihm eher im Rahmen einer breiten Untersuchung der Prozesse der Erkenntnis angesiedelt, welche grundsätzlich und vor allem die Irrtümer und die konstitutiv fehlerhaften Erkenntniskapazitäten des Menschen thematisieren soll. Es geht also für Reimarus gar nicht darum, dass man die Erkenntnis über die sicheren Grenzen des Rationalen erweitert, sondern ganz im Gegenteil darum, dass man die Fehler und die mehr oder weniger konstitutiven Irrtümer im Akt des Erkennens möglichst vermeidet. Formen oder Aspekte der Wahrheit entstehen, wenn auch sporadisch, quasi als der Rest dieser eher negativen Arbeit. Dieser unterschiedlichen Einschätzung des Sinnes und der Rolle einer Wahrscheinlichkeitslehre korrespondiert eine entgegengesetzte Auffassung des Begriffs des Wahrscheinlichen im Kontext der Definitionen der anderen Modalbegriffe. Während Reimarus – das haben wir in 3.4 gesehen – das Unmögliche / Notwendige vom Möglichen / Wirklichen (bzw. Zufälligen) deutlich trennt und somit, kohärent zu der

|| 62 Christian Wolff: Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Halle 1720, § 402 (im Folgenden: Deutsche Metaphysik).

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Modalphilosophie der Schule in Leipzig, die zwei Dimensionen des Wahren und des Wahrscheinlichen zu distanzieren pflegt, reduziert Wolff alle Formen der Modalität auf eine einzige: die ›Möglichkeit‹, und auf die progressive Steigerung von unterschiedlichen Formen des Möglichen selbst, welche dann eventuell in die unterschiedlichen Formen des Notwendigen und des Wirklichen übersetzt werden. Bekanntlich definiert Wolff die Philosophie (in allen ihren Teilen und Unterteilen) als die »Wissenschaft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind«.63 Der systematische Philosoph sei einerseits mit einer dauernden Suche nach Möglichkeiten von Dingen und Ereignissen beschäftigt. Er bleibe andererseits – als Philosoph – in eine reflexive Vertiefung des Sinnes selbst des Begriffs der ›Möglichkeit‹ involviert. Seine Hauptaufgabe bestehe vor allem darin, die wirkliche (also existierende) Welt in ihrem Grund bzw. in ihren unterschiedlichen Gründen aufzufassen. Etwas in seinem Grund zu begreifen heiße aber nichts anderes, als es als möglich zu definieren. Die Philosophie bleibt somit konstitutiv und fundamental im Bereich des Möglichen. Dass man nun die Möglichkeit selbst sehr unterschiedlich verstehen und beschreiben kann, das hängt nach Wolff nicht nur von der Pluralität der Substanzen und der Ereignisse der Welt, sondern zunächst und vor allem von der extremen Komplexität des Sinnes dieses konstitutiven Begriffs der Philosophie ab. Die unterschiedlichen Teile der Deutschen Metaphysik von 1720 in Korrelation mit der Entfaltung des Themas in der Philosophia prima, sive Ontologia von 1730 geben uns dementsprechend sehr differenzierte Sinne des Begriffs wieder: I. Das Mögliche durch Widerspruchsfreiheit, welches ein rein logisches Konzept ist, da es unmittelbar vom logischen Begriff des ›Unmöglichen‹ im Sinne von widersprüchlich abgeleitet wird. Wolff nennt dies die innere logische Möglichkeit. Sie findet ihren Ort ganz am Anfang des Systems der Modalitäten und definiert das Wesentliche selbst, indem sie es zunächst für möglich erklärt. II. Das Mögliche durch Verträglichkeit (non repugnantia) der wesentlichen Bedingungen bzw. der inneren Beschaffenheiten eines Dinges (essentialia), worauf das Wesen selbst des Dinges basiert. Wir können dies auch den Grund der wesentlichen Eigenschaften eines Dinges nennen. Also (nochmals wie vorher in I.) eine ›innere Möglichkeit‹ (possibilitas intrinseca), dieses Mal positiv betrachtet: als Möglichkeit des Wesens (possibilitas rei) und des Soseienden. III. Die Möglichkeit der Existenz als Fähigkeit des Existierens (potentia existendi) bzw. als Nicht-Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit selbst des Dinges. Im Übergang von der Möglichkeit des Wesens (II.) zur inneren Möglichkeit der Existenz selbst wird die Fähigkeit zu existieren (possibilitas existendi bzw. possibilitas rei) zum Wesen hinzugefügt. Erst diese Existenz-Möglichkeit definiere das Wesen als

|| 63 Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes Und ihrem richtigen Gebrauche in Erkänntnis der Wahrheit. Halle 1713, Vorbericht, § 1.

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solches. In den Worten der Ontologia: »Ens dicitur, quod existere potest, consequenter cui existentia non repugnat«.64 IV. Die Real-Möglichkeit als äußere Möglichkeit (possibilitas extrinseca), welche einerseits mit einer (wohl inneren oder äußeren) Kraft (potentia) assoziiert ist, andererseits immer in einer Kette von Ursachen und Wirkungen lokalisiert werden muss. Der inneren Möglichkeit des Wesens korrespondiert somit eine ›äußerliche Möglichkeit‹ oder ›Real-Möglichkeit‹, welche mit einer Form von Kausalität verbunden ist. Diese zerfällt ihrerseits wiederum in eine innere (mit der inneren Kraft des Bewirkens verbunden) und in eine äußerliche Möglichkeit (durch die externe Ursache der Ereignisse entstanden). Diese graduelle Einstufung der unterschiedlichen Niveaus der Möglichkeit ist ein wesentlicher Aspekt der Philosophie Wolffs, welche sich letztendlich auf der Grundlage der graduellen Verbindung des Logischen bzw. des Mathematischen mit dem Realen (Wirklichen) strukturiert. Dieselbe Einstufung wird – wie oben erwähnt – am besten verstanden, wenn sie in Zusammenhang mit der Entfaltung der unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs der ›Notwendigkeit‹ gebracht wird. Eine wichtige Rolle spielen in dieser Hinsicht vor allem: I. die Gleichsetzung von absoluter Notwendigkeit und innerer (logischer) Möglichkeit;65 II. die Behauptung der (absoluten) Notwendigkeit aller Wesen;66 III. die Gleichsetzung von ›relativer Notwendigkeit‹ und ›Zufälligkeit‹;67 IV. die Behauptung der Zufälligkeit aller existierenden Dinge.68 Somit wird aber auch offensichtlich eine rein quantitative (mathematische) und kontinuierliche, also graduelle Unterscheidung in Betracht der Domäne der absoluten Gewissheit einerseits und der Wahrscheinlichkeit andererseits definiert. Der Kontrast der zwei Domänen des Wahren und des Wahrscheinlichen und die entsprechende vierförmige Struktur der Begriffe der Modalität, wie sich diese (von Leibniz her) in die Philosophie der thomasianischen Tradition bis zur Vernunftlehre von Reimarus verbreitet und entwickelt hatte, wurde von Wolff somit von Anfang an radikal negiert.

|| 64 Christian Wolff: Philosophia prima, sive ontologia, methodo scientifica pertractata, qua omnis cogitationis humanae principia continetur. Frankfurt a. M., Leipzig 1730. 2. Aufl. 1736, § 134. 65 Vgl. z. B. Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 62), § 36 und § 575. 66 Vgl. ebd., § 38. 67 Vgl. ebd., §§ 39–42 und § 581. 68 Vgl. z. B. ebd., § 575.

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5 Schluss Aus der Perspektive einer Untersuchung des Begriffes der Wahrscheinlichkeit lässt sich die Vernunftlehre von Reimarus in enger Kontinuität mit ähnlichen Theorien und Betrachtungen innerhalb der thomasianischen Schule begreifen. In diesem Kontext leuchtet am besten die Besonderheit einer Theorie hervor, welche die Einschätzung des Wahrscheinlichen und der Wahrheit selbst vom »vernünftigen Zweifel« abhängig sieht, also letztendlich im systematischen und geregelten Versuch, Irrtümer zu vermeiden.

Sebastian Abel

Über die Bedeutung des Begriffs der »gesunden Vernunft« in Reimarus’ Schriften Wer einen Blick in Reimarus’ Schriften wirft, dem fällt auf, dass dort immer wieder auf einen sogenannten »gesunden Verstand« bzw. eine »gesunde Vernunft« rekurriert wird. Auch von »gesunden Begriff[en]«1 ist dort die Rede, ebenso wie von einem »gesunden System«2 und sogar von einer »gesunden Religion«.3 Und wenn selbst Kant noch von der »gesunden und schönen Vernunft«4 schwärmt, die aus Reimarus’ Werken leuchtet, dann stellt sich die Frage, was unter dieser »gesunden Vernunft« eigentlich näherhin zu verstehen ist. Neu ist dieser Terminus freilich nicht:5 Bereits Cicero unterscheidet in seinem Vernuftbegriff zwischen einer gewissermaßen ›instrumentellen‹ Vernunft und einer bona ratio.6 Während erstere indifferent gegenüber den gesetzten Zwecken ist, kann die bona ratio gute von schlechten Zwecken unterscheiden.7 Neben diesem eher auf die Lebenspraxis bezogenen Begriff spricht er in De legibus dann aber auch von

|| 1 Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Gerhard Alexander. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 1, S. 703. 2 Ebd., S. 721. 3 Ebd., S. 817. 4 Immanuel Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. In: AA II, S. 63–163, hier S. 161. 5 Das Historisch-kritische Wörterbuch der Philosophie führt den Begriff der »gesunden Vernunft« bis auf Aristoteles’ »koinae aiesthesis« (De Anima) zurück, da die Übersetzungen dieses Begriffs (etwa sensus communis oder common sense) insbesondere bei vielen neuzeitlichen Autoren die gesunde Vernunft bezeichnen (vgl. Alexander von Maydell, Reiner Wiehl: [Art.] Gemeinsinn. In: Historischkritisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Basel, Stuttgart 1974, Bd. 3, Sp. 243– 247). Es ist jedoch nicht ohne weiteres einzusehen, was jener »Gemeinsinn« im aristotelischen Sinne mit gesunder Vernunft zu tun haben soll, da dieser, grob gesprochen, vielmehr die qualitativ unterschiedlichen Sinneseindrücke unterscheidet und zusammenführt (damit erinnert er eher an das, was bei Leibniz und später bei Kant unter dem Begriff Apperzeption firmiert). Daher verwendet auch Reimarus den Begriff des Gemeinsinns (er spricht von einem communi sensorio, vgl. Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet. Hamburg 31766, S. 477f., Anm. 4) nicht unter Bezugnahme auf gesunde Vernunft, sondern – der Sache nach auf Aristoteles’ koinae aiesthesis zurückgehend – als Bezeichnung für den Punkt, an dem »alle Erschütterungen aller Nerven sich vereinen, und von der Seele empfunden und vorgestellet werden können« (ebd., Hervorhebung S.A.). 6 Vgl. Marcus Tullius Cicero: Vom Wesen der Götter / De natura deorum. Lateinisch-Deutsch. Hg. von Olof Gigon und Laila Straume-Zimmermann. Düsseldorf, Zürich 1996, S. 276f. 7 »In derselben Weise, in der die Vernunft korrekt vorgeht [ratione recte fiat], in derselben Weise wird auch mit der Vernunft ein Verbrechen begangen [ratione peccentur]« (ebd., S. 277). https://doi.org/10.1515/9783110726558-005

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einer recta ratio,8 deren Aufgabe – als einer Art reiner Rechtsvernunft – darin besteht, das richtige Maß für Rechtspflichten oder Verbote zu finden. Sie ist somit ein Beurteilungskriterium für die Qualität von positivem Recht. Seneca verwendet einen ähnlichen Begriff, namentlich bona mens,9 welcher in den Epistulae morales die richtige Geisteshaltung bezeichnet und somit eine gewisse Nähe zu Ciceros bona ratio besitzt. Übernommen und tradiert wurden diese Termini beispielsweise von Hobbes, der ebenfalls eine recta ratio kennt, welche ein von »höchst deutlichen Grundsätzen«10 ausgehendes, folgerichtiges Schließen bezeichnet, das zudem »auf dem direktesten Weg«11 vorgeht. Descartes eröffnet bekanntlich seinen Discours de la Méthode mit einer Definition des bon sens, d. h. des gesunden Menschenverstandes, die besagt, dass uns dieses Vermögen dazu befähigt, »richtig zu urteilen und Wahres von Falschem zu unterscheiden«.12 Zuletzt sei noch Jean-Baptiste de Boyer genannt, der eine ganze »Philosophie der gesunden Vernunft«13 verfasste – ein Kompendium, das die höfische Welt in verschiedenste Wissensbereiche einführen sollte. Kurzum: Eine einheitliche Definition oder Theorie der »gesunden Vernunft« lässt sich aus den verschiedenen Werken, denen die obigen Zitate entnommen sind, nicht extrapolieren. Wie noch zu zeigen sein wird, führen Reimarus’ oft eher beiläufige Anmerkungen zu diesem Vermögen weder auf den Witz bzw. den Mutterwitz (der in seinen Werken natürlich auch eine Rolle spielt), noch auf einen Gemeinsinn bzw. einen sensus communis. Vielmehr fügt sich die gesuchte Theorie einer »gesunden Vernunft« nahtlos in die Vernunftkonzeption der – an Wolffs Logik angelehnten – Vernunftlehre ein. Zunächst scheint daher ein Blick auf ebenjene Vernunftlehre geboten, um, ausgehend von einigen allgemeinen Anmerkungen über die Vernunft überhaupt, die Frage nach der gesunden Vernunft im Speziellen zu stellen.

|| 8 Vgl. Marcus Tullius Cicero. De legibus. Paradox Stoicorum. Lateinisch-Deutsch. Hg. von Rainer Nickel. München, Zürich 32004, S. 46f.: »Es gibt nämlich nur ein einziges Recht, dem die menschliche Gemeinschaft verpflichtet ist und dem ein einziges Gesetz eine Grundlage gibt: Dieses Gesetz ist die richtige Vernunft [quae lex est recta ratio] im Bereich des Befehlens und Verbietens«. 9 Lucius Annaeus Seneca: Epistulae morales ad Lucilium / Briefe an Lucilius über Ethik. Hg. von Marion Giebel. Ditzingen 2018, Bd. 1, S. 342. 10 Thomas Hobbes: De cive / Vom Bürger. Lateinisch-Deutsch. Hg. von Andree Hahmann und Dieter Hüning. Stuttgart 2017, S. 483. 11 Ebd. 12 René Descartes: Discours de la Méthode. Französisch-Deutsch. Hg. von Christian Wohlers. Hamburg 2011, S. 5. 13 Der Originaltitel lautet vollständig: La philosophie du bon-sens, ou reflexions philosophiques sur l’incertitude des connoissances humaines à l’usage des Cavaliers et du beau-sexe. Das Werk erschien im Jahr 1737 und wurde 1756 in deutscher Übersetzung (ohne Angabe des Übersetzers) veröffentlicht.

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Denn die ureigenste Tätigkeit der Vernunft besteht für Reimarus darin, zu reflektieren, d. h. »ein Ding mit dem andern in seiner Vorstellung zu vergleichen«14 und festzustellen, ob es identisch oder nicht identisch ist.15 Diese Reflexion verdankt sich der Anwendung zweier Regeln, die, was noch wichtig sein wird, unserer Vernunft »eingeprägt«16 sind. Gemeint sind hierbei die Regeln der Identität und Widerspruchs, aus denen letztendlich auch die gesamte Vernunftlehre entwickelt ist.17 Entwickelt heißt hier vor allem: Zu größerer Deutlichkeit gebracht, denn auch die Logik besitzt gegenüber der Mathematik den Nachteil, dass in ihr »die ersten Begriffe, woraus alles hergeleitet werden soll, […] nicht allenthalben so klar, deutlich, bestimmt und vollkommen, als die Begriffe von Zahlen und Größen sind«.18 Doch unabhängig davon, ob wir über ein deutliches Bewusstsein dieser Regeln verfügen oder nicht, ist es uns unmöglich, sie wissentlich zu verletzen.19 Reimarus schreibt hierzu: »Wer aber diese Regeln nicht achtet, folglich unwissend [!] widersprechende Dinge in seinen Gedanken verbindet, einstimmige Dinge trennet, dessen Begriffe, Urtheile und Schlüsse sind unrichtig und falsch«20. Demgemäß beruhen fehlerhafte Urteile und Schlüsse immer auf einer mangelhaften Einsicht in den Sachzusammenhang, etwa indem es den Begriffen an Deutlichkeit fehlt. Richtig angewandt, lassen sich mit Hilfe dieser Regeln dunkle und sinnliche Begriffe zu klaren und allgemeinen Begriffen entwickeln, welche letzteren zu Urteilen verbunden werden können.21 Aus der Vergleichung und Verbindung von Urteilen entstehen die Vernunftschlüsse, welche letztendlich, in ein System gebracht, eine Wissenschaft ausmachen.22 Da wir nun nur eine Vernunft besitzen, lässt sich – wenigstens vorläufig – folgern, dass auch die gesunde Vernunft etwas mit der Reflexion unter Anwendung

|| 14 Hermann Samuel Reimarus: Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntnis der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs hergeleitet. Hamburg 1756. ND hg. von Frieder Lötzsch. München 1979, S. 26; S. 29; vgl. auch Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. In: WGW I, 1, S. 136 (im Folgenden: Deutsche Logik): »Wenn wir die Begriffe verschiedener Dinge gegen einander halten; so treffen wir entweder etwas an, das sie mit einander gemein haben, oder worinnen sie einander ähnlich [d. h. partiell identisch, S.A.] sind; oder wir finden nichts, das sie mit einander gemein hätten«. Vgl. hierzu auch die Parallelstelle in Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. In: WGW I, 2, S. 152 (im Folgenden: Deutsche Metaphysik). 15 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 14), S. 39f. 16 Ebd., S. 25. 17 Vgl. ebd., S. 21f. 18 Ebd., S. 462. 19 Vgl. ebd., S. 25; Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 757. 20 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 14), S. 36. 21 Vgl. ebd., S. 145f. 22 Vgl. ebd., S. 30.

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der Regeln der Identität und des ausgeschlossenen Widerspruchs zu tun haben wird. Der Witz nun unterscheidet sich von der Vernunft überhaupt dadurch, dass in ihm bloß eine der beiden Regeln zur Anwendung kommt, nämlich diejenige, vermöge derer wir Vorstellungen als identisch oder partiell identisch erkennen. In der Vernunftlehre definiert Reimarus den Witz daher als die »Geschicklichkeit, die Ähnlichkeit der Dinge einzusehen, insonderheit wenn die Dinge sonst sehr verschieden zu seyn scheinen, und also ihre Ähnlichkeit nicht sogleich offenbar ist«.23 Dieses Einsehen von Ähnlichkeit, d. h. von partieller Identität, wird ermöglicht durch eine »Vergleichung eines […] Dinges mit dem andern«24 – oder anders formuliert: Durch eine Reflexion. Folglich ist der Witz kein von der Vernunft unterschiedenes Vermögen, sondern ist als eine Art Untervermögen derselben anzusehen, welches uns, indem es bloß auf Identitäten attendiert, »durch den Nebel der Verschiedenheiten«25 führt. Diese bloß auf Identität abzielende Reflexion ist jedoch für sich genommen defizitär, weshalb Reimarus den »ungebändigten« Witz an vielen Stellen auch als »flatterhaft« bezeichnet oder als etwas, durch das »ins Wilde hinein«26 gedacht wird. Der Grund hierfür ist offensichtlich: Da fast alle Vorstellungen in irgendeiner Weise partiell identisch sind, kann der Witz die abenteuerlichsten Verbindungen herstellen, ohne darauf zu achten, worin sie eben nicht identisch sind. Daraus erklärt sich auch, warum Reimarus insbesondere La Mettrie einen solchen »flatterhaften«27 Witz attestiert: In den Vornehmsten Wahrheiten wird ausführlich dargelegt, dass sich »Kunstmaschinen«28 und »natürliche Maschinen«29 bloß durch den Organisationsgrad unterscheiden.30 Man könnte stattdessen auch von unvollkommenen Maschinen (etwa einer Uhr) und von vollkommenen Maschinen (etwa dem menschlichen Körper)31 sprechen. La Mettrie hielt nun aber aufgrund dieser Ähnlichkeit Mensch und Maschine für vollständig identisch, weil er nicht auf das reflektierte, worin sie eben nicht identisch sind: Der Mensch hat, anders als die Maschine, ein Bewusstsein und eine Seele, doch diese Verschiedenheit sieht der bloße Witz nicht ein. Daher ist es notwendig, dem Witz die »Zügel gesunder Vernunft«32 anzulegen –

|| 23 Ebd., S. 333. 24 Ebd., S. 334. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 416; vgl. ebd., S. 419. 27 Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 469f. 28 Ebd., S. 170 29 Ebd. 30 Vgl. hierzu auch ebd., S. 579ff. 31 Reimarus spricht in diesem Zusammenhang sogar von »menschliche[n] Maschinen« (ebd., S. 168), ohne darum den Thesen des von ihm ausführlichst kritisierten Werkes L’homme machine zuzustimmen. 32 Ebd., S. 273.

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diese bestehen in dem Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs und dem Satz des zureichenden Grundes.33 Witz und gesunde Vernunft ergänzen sich also gegenseitig, wenngleich ihre Reflexionstätigkeiten in einem bestimmten (noch auszuführenden) Fall ineinander übergehen. Ähnlich sind sie sich hingegen darin, dass sie bei jedem Individuum unterschiedlich ausgeprägt sind: Bezüglich des Grades an zugeteiltem Witz oder gesunder Vernunft mögen sich Menschen also unterscheiden,34 doch bezüglich der der Vernunft eingeprägten Regeln sind alle gleich. Nachdem nun etwas Licht auf das Verhältnis von Vernunft überhaupt und Witz geworfen wurde, bleibt das Verhältnis von Vernunft überhaupt und gesunder Vernunft als letztes in Frage stehendes übrig. Aufschluss über dieses gibt der erste Teil der Vernunftlehre, in dem nicht nur drei Erkenntnisquellen35 unterschieden werden, sondern auch vier Stufen36 menschlicher Erkenntnis, deren zweite in gesunder Vernunft gründet. Damit setzt sich Reimarus über die Einteilung Wolffs hinweg, welcher lediglich zwischen historischer, philosophischer und mathematischer Erkenntnis unterschied.37 Vermutlich direkt auf de Boyers Werk anspielend, wird jene zweite Stufe der Erkenntnis in der Vernunftlehre auch als »Philosophie du bon Sens«38 bezeichnet. Sie enthält bereits die unserer Vernunft eingeprägten Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs – allerdings auf einem Reflexionsniveau, welches noch keine deutliche Erkenntnis ebenjener Regeln gestattet. Eine bloß auf gesunder Vernunft beruhende Logik lässt sich daher auch als eine natürliche Logik bezeichnen. Reimarus’ Definition entsprechend ist sie also »eine Fertigkeit im richtigen Gebrauche der Vernunft nach undeutlicher Einsicht der Regeln«39 und aus ihr soll – dies ist das Anliegen der Vernunftlehre – eine sogenannte Kunst-Logik kultiviert werden. In dieser Kunst-Logik ist schlussendlich ein deutliches Bewusstsein von Regeln und Schlüssen anzutreffen, welche zudem in einem System vereinigt

|| 33 Auch Rousseau erfreute sich einer »vorzüglichen Lebhaftigkeit des Witzes« (ebd., S. 494), ließ es aber in seiner Reflexion über die natürliche Bestimmung des Menschen an (gesunder) Vernunft fehlen, da er den »Satz des Widerspruchs […] nicht genug zu Rathe gezogen« (ebd., S. 500) habe. 34 Man kann mehr oder eben auch weniger an gesunder Vernunft »mitbringen« (vgl. Reimarus: Vernunftlehre [s. Anm. 14], S. 19). 35 Das sind: ›Empfindung‹, ›Vernunft‹ und das ›Zeugnis Anderer‹ (vgl. Reimarus: Vernunftlehre [s. Anm. 14], S. 249). Wolff dagegen unterscheidet bloß zwei Quellen: ›Erfahrung‹ und ›Vernunft‹ (vgl. Wolff: Deutsche Metaphysik [s. Anm. 14], § 372). 36 Das sind: ›historische‹, ›natürliche‹, ›philosophische‹ und ›mathematische Erkenntnis‹ (vgl. Reimarus: Vernunftlehre [s. Anm. 14], S. 3ff.). 37 Zu Wolffs Dreigliederung der Erkenntnis und der Kritik an derselben vgl. Hans Werner Arndt: Die Logik von Reimarus im Verhältnis zum Rationalismus der Aufklärungsphilosophie. In: Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur »Vernunftlehre« von Hermann Samuel Reimarus. Hg. von Wolfgang Walter und Ludwig Borinski. Göttingen 1980, S. 59–74, hier S. 60f. 38 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 14), S. 4. 39 Ebd., S. 18.

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sind, weshalb in ihr bereits der Schritt zur dritten Erkenntnisstufe, der philosophischen Erkenntnis, vollzogen ist. Zu fragen ist hier allerdings, wie dieser Prozess der Deutlichmachung näherhin zu verstehen ist. Denn anders als Kant, der davon ausging, dass die (formale) Logik »seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat tun dürfen«,40 vertrat Reimarus die Auffassung, dass in der Antike keineswegs bereits vollkommene Deutlichkeit in der Erkenntnis der logischen Grundsätze erreicht wurde. Vielmehr habe Aristoteles seine Schüler mitunter auch »durch lange Umwege, Dornen und Disteln, in ein ziemlich wüstes Feld geführt«.41 Um die gewünschte – weder von Aristoteles, noch von den »Schulgelehrten«42 erreichte – Deutlichkeit zu erzielen, müsse das zu Erkennende in einem noch zu präzisierenden Sinne von fremden Beimengungen, Hypothesen oder auch Vorurteilen abgesondert werden. Denn wer seine »Denkungs-Art […] durch Vorurtheile und angewöhnte Unordnung verdorben hat«,43 der wird nicht im Stande sein, die »natürliche[n] Bestimmung[en] unserer Vernunftkraft«44 reflexiv erschließen zu können. Ist man aber in der Lage, ebenjene bereits in der gesunden Vernunft (bzw. in der natürlichen Logik) enthaltenen Bestimmungen rein und isoliert darzustellen, so ist die daraus entwickelte Vernunftlehre gleichsam auch eine »gesunde Vernunftlehre«.45 Um dies leisten zu können, ist es erforderlich, sauber zwischen innerer und äußerer Empfindung zu unterscheiden. Reimarus vertritt nämlich die Auffassung, dass alle Begriffe und Regeln »aus der Empfindung erzeugt«46 werden, wobei aber, wie bereits erwähnt, zwischen einer äußeren und einer inneren Empfindung zu unterscheiden ist. Zunächst fällt auf, dass diese Einteilung quer zu Reimarus’ Annahme von drei verschiedenen Erkenntnisquellen steht, doch er räumt selbst ein, dass das »Zeugnis Anderer«, welches die Einteilung sprengt, »theils zur ersten […] theils zur andern Classe« gerechnet werden kann.47 Während der Stoff, den uns die äußere Empfindung zu Vorstellungen gibt, letztendlich in unseren fünf Sinnen gründet, können wir vermittels der inneren Empfindung die Eigenbestimmtheit der Vernunft selbst begrifflich erfassen. Im Rahmen der Exposition der Erkenntnisquellen im zweiten Teil der Vernunftlehre || 40 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl.). In: AA III, S. 7. 41 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 14), S. 22. 42 Ebd., S. 22. 43 Ebd., S. 6. 44 Ebd., S. 18. 45 Ebd., S. 449. 46 Ebd., S. 68. 47 Konsequenterweise müsste man eigentlich sagen, dass das Zeugnis Anderer in jedem Fall durch die Sinnesorgane vermittelt ist und insofern immer zur äußeren Empfindung gehört. Enthält das Zeugnis Anderer Vernunftwahrheiten, so wird man – wenigstens im Rahmen der wolffschen Erkenntniskonzeption – durch jenes Zeugnis dazu gebracht, sie selbst zu entdecken, indem man nämlich, beispielsweise im Gespräch, das selbst denkt, was das Gegenüber beim Sprechen auch dachte (vgl. hierzu Wolff: Deutsche Logik [s. Anm. 14], § 2, S. 151).

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spricht Reimarus daher auch nicht von innerer und äußerer Empfindung, sondern schlicht von äußerer Empfindung einerseits und Vernunft andererseits.48 Daraus folgt, dass unser Begriff von der Seele und auch von allem, was Anspruch darauf erheben kann, Teil der Kunst-Logik zu sein, aus innerer Empfindung entwickelt ist. Solange nun aber diese innere Empfindung nicht zum Gegenstand der Reflexion erhoben wird, sind die ihr korrespondierenden Regeln anwendbar, verbleiben aber im Zustande der Undeutlichkeit. Aus diesem Sachverhalt wird nun auch der enge Zusammenhang zwischen natürlicher Logik und gesunder Vernunft verständlich, denn das Urteilen vermittels natürlicher Logik bezeichnet Reimarus als ein Urteilen, »ohne sich der Regeln, wonach man so und nicht anders denken muß, deutlich bewußt zu sein«:49 Natürliche Logik ist damit nichts anderes als »die undeutliche Vernunftkunst«.50 Für die gesunde Vernunft ist das Charakteristikum der Undeutlichkeit nun in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Erstens in Beziehung auf die Regeln, vermittels derer geurteilt wird, zweitens in Beziehung auf die Begriffe, über die geurteilt wird. Als Definition ausgedrückt: Gesunde Vernunft fällt wahre Urteile vermittels undeutlicher Regeln über undeutliche Begriffe. Da, wie bereits ausgeführt wurde, jeder Mensch einen je unterschiedlichen Grad an gesunder Vernunft besitzt, ergibt sich zwischen dieser und den Begriffen im Urteil gleichzeitig auch ein Abhängigkeitsverhältnis: Je undeutlicher ein Begriff ist, desto mehr ist gesunde Vernunft erfordert, da sie auch die (Nicht-)Übereinstimmung von undeutlichen Begriffen richtig beurteilen kann. Pointiert formuliert, kompensiert gesunde Vernunft das Fehlen von Deutlichkeit in unseren Begriffen. Wem es hingegen vollständig an gesunder Vernunft gebricht, der wird, insofern er denn korrekt urteilen will, alle Begriffe zu größter Deutlichkeit, mithin zur Ausführlichkeit entwickeln müssen. Der Gegenbegriff zu »gesund« ist daher konsequenterweise »schwach«51 (und nicht etwa »krank«), denn die »schwache Vernunft« ist eine solche, die »keine Anleitung«52 hat und die daher inmitten undeutlicher Begriffe herumtappt, bis ihr durch deutliche Begriffe (etwa solche in Büchern) der Weg zu höheren Erkenntnissen bereitet wird. Veranschaulichen lässt sich dies alles beispielsweise am Begriff Gottes: Auch ein der Metaphysik Unkundiger wird urteilen, dass Gott in seiner Weisheit nicht eingeschränkt sein kann – ohne genau zu wissen, warum er so urteilen muss, d. h. ohne über deutliche Begriffe von »Gott« und »Weisheit« zu verfügen – und im Übrigen auch ohne zu wissen, dass jenes Urteil auf einer Identität von Subjekts- und Prädikatsbegriff beruht. Dies ist es, was Reimarus meint, wenn er schreibt, dass sich gesunde Vernunft

|| 48 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 14), S. 249. 49 Ebd., S. 452. 50 Ebd., S. 445. 51 Vgl. Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. VII. 52 Ebd., S. VII.

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»nach undeutlich erkannten Regeln«53 richtet. Gleiches gilt dann auch für den Begriff der gesunden Vernunft selbst: Wer diesen Begriff hört, weiß ungefähr, was er davon zu denken oder eben nicht zu denken hat, ohne genau angeben zu können, was gesunde Vernunft eigentlich auszeichnet, d. h. ohne distinkte Merkmale angeben zu können. Dass gesunde Vernunft Einstimmung und Widerstreit beurteilen kann, liegt, um noch eine letzte Bestimmung des Begriffs vorzunehmen, daran, dass sie, anders als der Witz, nach beiden elementaren Vernunftregeln reflektiert: Sie »zügelt«54 zwar den Witz vermittels des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch, doch das heißt nicht, dass sie nicht selbst Identitäten feststellen könnte. Wenigstens also im Falle bejahender Urteile – bei denen eine ebensolche Identität vorliegt – lässt sich also nicht trennscharf zwischen Witz und gesunder Vernunft unterscheiden. Im Falle verneinender Urteile tritt der Unterschied jedoch klar zu Tage, insofern nämlich der Witz zu solchen überhaupt nicht fähig ist. Nun lässt sich aus gesunder Vernunft nicht allein eine »Kunst-Logik« kultivieren, sie lässt sich vielmehr »auch zum Erkenntnisse ihres Schöpfers«55 anwenden und stellt damit, wie Reimarus bereits auf den ersten Seiten der Vornehmsten Wahrheiten zu erkennen gibt, die wichtigste Erkenntnisquelle der natürlichen Religion dar. Eine in gesunder Vernunft gründende natürliche Religionslehre basiert – dem oben Ausgeführten entsprechend – also auf undeutlichen Begriffen, die aber so beschaffen sein müssen, dass sie sich im Prozess ihrer Deutlichmachung zu einem System zusammenfügen. Treten umgekehrt bei der Deutlichmachung Widersprüche hervor, so ist dies ein sicheres Kennzeichen dafür, dass sich »fremde Einbildungen, Hypothesen und Schlüsse«56 unter die ersten Begriffe gemischt haben. Beispielhaft erläutert werden soll dieses Vorhaben zunächst an Reimarus’ kosmologischem Beweis, da sich an diesem gut exemplifizieren lässt, was es heißt, bei undeutlichen Begriffen anzufangen. Denn anders als im Falle der »Kunst-Logik« ist der Blick in uns, d. h. das Attendieren auf die innere Empfindung, nicht ausreichend, um Gottes Dasein, seine Eigenschaften und seine Vorsehung zu erkennen, sondern wir sind vielmehr auf das Dasein der an sich kontingenten Welt verwiesen, welches allerdings noch zu beweisen ist. Hier kommt daher auch äußere Empfindung, mithin, wie Reimarus mehrfach betont, die »gemeine[] Erfahrung[]«57 zur Geltung, aus der schlussendlich eine Art ›Widerlegung des Idealismus‹ entwickelt wird. Knapp zusammengefasst lautet der Beweis wie folgt: Wenn gesunde Vernunft über die undeutlichen Vorstellungen reflektiert, die vermittels äußerer Empfindung gegeben sind, so wird sie gewahr,

|| 53 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 14), S. 17. 54 Vgl. Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 273. 55 Ebd., S. III. 56 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 14), S. 119. 57 Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. IX, vgl. ebd., S. 207.

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dass diese Vorstellungen in irgendeiner Weise bedingt sind. Zur Deutlichkeit gebracht, wird dieses Bedingtsein als Anwendungsfall des Satzes vom zureichenden Grunde erkannt, welcher in der Vernunftlehre folgendermaßen definiert wurde: »Man nennet einen zureichenden Grund dasjenige, woraus sich völlig verstehen läßt, warum etwas sey, oder nicht sey«.58 Wenn das Subjekt also nicht »alle Regeln, woran sein eigen denkend Wesen gebunden ist, verleugnen« will,59 so muss es anerkennen, dass die Vorstellungen, die ihm gegeben sind, aus einem Grunde gegeben sind und dass dieser Grund die äußere, unsere Sinnesorgane affizierende Welt ist. Umgekehrt erweist sich nun auch jene uns umgebende Welt als bedingt, nämlich als bedingt durch ein selbstständiges, ewiges und notwendiges Wesen, da sie, wenn sie als etwas gedacht würde, das keinen ersten Grund besitzt, aus Nichts entstanden60 und somit schlechthin zufällig wäre, was nicht mit der gesunden Vernunft zusammen bestehen könnte.61 Ohne die Tragfähigkeit der einzelnen Beweise (etwa derjenige einer endlichen Zeit) genauer untersuchen zu können, lässt sich festhalten: Das Faktum sinnlicher Vorstellungen erweist sich als bedingt durch eine äußere Welt, die äußere Welt erweist sich als bedingt durch ein selbstständiges Wesen. Ergo: Es ist also ein Gott, und wir können unserer gesunden Vernunft, ohne den Begriff von einem solchen Wesen, nicht einmal in den gemeinsten Erfahrungen von unserem Ursprunge, und der körperlichen leblosen Welt ausser uns, Genügen thun.62

Dieses – für beide Gottesbeweise notwendige – Zwischenfazit eröffnet nun zwei Möglichkeiten: Wir können versuchen, was aus dem ersten Begriffe von Gott durch genaue Vernunftschlüsse zu erkennen ist; wir können auch seine Vollkommenheiten in seinem Werke, als einem sinnlichen Spiegel der göttlichen Kräfte und Eigenschaften wahrnehmen.63

Die erste Möglichkeit führt auf den hier zu untersuchenden kosmologischen Gottesbeweis, die zweite auf den teleologischen. Wie bereits erwähnt, geht auch der kosmologische Gottesbeweis von dem Bedingten, der kontingenten Welt, zu dessen

|| 58 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 14), S. 163f. 59 Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 3. 60 In diesem Zusammenhang ist zwischen einer Schöpfung aus dem Nichts und einer Schöpfung durch das Nichts zu unterscheiden. Nur die letztgenannte Variante lehnt Reimarus ab (vgl. ebd., S. 162f.). 61 Vgl. ebd., S. 3; ebd., S. 207. 62 Ebd., S. 207. 63 Ebd. ‒ Dies entspricht im wesentlichen auch Wolffs Auffassung, denn auch nach diesem enthält die natürliche Religion dasjenige, »[w]as sich von Gott aus der dem Licht der Vernunft oder der Natur erkennen lässet« (Christian Wolff: Natürliche Gottesgelahrtheit nach beweisender Lehrart abgefasset. In: WGW I, 23.1, S. 3).

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Bedingung, Gott, über. Der so gewonnene Gottesbegriff bleibt aber undeutlich, solange nicht seine Merkmale klar voneinander unterschieden sind, insofern besteht auch hier – wie im Falle der Kunst-Logik – die weitere Arbeit in einer Deutlichmachung des Begriffs. Die nun folgenden Überlegungen sind eng an Wolffs Metaphysik angelehnt,64 daher sollen sie hier nur kurz zusammengefasst werden: Weil Gott der Urheber der Welt ist, muss man ihn als mit drei Grundeigenschaften ausgestattet denken, die da sind: Notwendigkeit, Ewigkeit und Selbständigkeit. Der Satz des zureichenden Grundes als »das Band, welches alle ersinnliche Wahrheiten verbindet«,65 führt auf ein Wesen, das den Grund seiner Wirklichkeit nicht in einem Anderen, sondern in sich selbst hat und insofern notwendig ist. Da es den Grund seiner Wirklichkeit in sich selbst trägt, ist es nicht eines von ihm verschiedenen Seienden bedürftig und insofern selbstständig. Und da dieses Wesen – eben als notwendiges – existieren muss, kann es keine Zeit geben, in der es noch nicht existiert hat, folglich ist es ewig.66 Aus der Notwendigkeit folgt nun die Unveränderlichkeit, aus der Unveränderlichkeit die Unendlichkeit, aus der Unendlichkeit die Einzigkeit, aus der Selbstständigkeit dagegen die Vollkommenheit, die selbst wiederum unveränderlich, unendlich und einzig ist usw.67 Auch hier zeigt sich: Ein Begriff, der zunächst undeutlich ist, sich aber, wie gesehen, zu einem System von zusammenhängenden Begriffen entfalten lässt, ist ein Begriff, der auf gesunder Vernunft beruht. Damit wird auch deutlich, was Reimarus meint, wenn er von den bereits in der Einleitung erwähnten »gesunden Begriff[en]«68 spricht. Mischt sich dagegen beispielsweise »Aberglaube, der gefährlichste Feind alles Verstandes und Witzes«,69 in die Begriffe, ergibt sich kein systematisches Wissen, sondern allenfalls eine in sich widersprüchliche Aggregation von Hypothesen und Folgerungen. Anders nun als den Gottesbegriff können wir die Seelenunsterblichkeit, wie schon die Kunst-Logik, »aus den eingepflanzten Regeln des Verstandes«70 erkennen. Nun sind jene uns nicht dergestalt eingepflanzt, dass wir immer schon über ein deutliches Bewusstsein von ihnen verfügen: Besäßen »die Menschen gleich deutliche Begriffe […], so würden sie wegen ihrer Seele nicht haben streitig sein können«.71 Dennoch weiß sich jeder Mensch »vermöge seiner eigenen Empfindung und

|| 64 Vgl. hierzu z. B. Wolff: Natürliche Gottesgelahrtheit (s. Anm. 63), §§ 25, 39, 45, 65–68; s. auch Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 14), §§ 928–940. 65 Moses Mendelssohn: Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften. In: ders.: Metaphysische Schriften. Hg. von Wolfgang Vogt. Hamburg 2008, S. 23–90, hier S. 64. 66 Vgl. Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 3. 67 Vgl. ebd., S. 208ff. 68 Reimarus: Apologie (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 703. 69 Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 81; vgl. auch Reimarus: Apologie (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 151ff. 70 Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 690. 71 Ebd., S. 446.

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gesunden Vernunft«72 als identisch, was natürlich umgekehrt bedeutet, dass es demjenigen, der die Seelenunsterblichkeit anzweifelt, an deutlichen Begriffen, gesunder Vernunft oder an beidem gebricht. Aus dem, was gesunde Vernunft bereits richtig, aber vermittels undeutlicher Begriffe denkt, entwickelt Reimarus schließlich einen an Locke angelehnten73 Beweis der personalen Identität: Die Seele (als das »Wesen in uns, welches sich bewußt ist«)74 ist sich ihrer personalen Identität »aufs klärste bewußt«,75 insofern sie sich nämlich notwendig als das Subjekt ihrer Erinnerungen denken muss – tatsächlich wäre es ein Widerspruch, mir einerseits Erinnerungen zuzuschreiben, mich aber andererseits nicht als das Subjekt dieser Erinnerungen zu denken. Auf die materielle Identität lässt sich hingegen nicht schließen: Wir wissen nicht einmal, ob »ein einziges Stäubchen«76 uns unser ganzes irdisches Dasein begleitet oder ob die Materie, aus der unser Körper besteht, sich beständig auswechselt. Da sich nun die personale Identität beweisen lässt, die materielle hingegen nicht, folgt, dass von der einen nicht auf die andere geschlossen werden darf; d. h. das Faktum, dass unser Körper verwest, beweist nicht, dass die Seele mit ihm verschwindet. Durch diesen Beweis sehen wir allerdings die bloße Möglichkeit77 einer unsterblichen Seele ein, »feste Versicherung«78 davon erhalten wir erst in der Erkenntnis der »Absicht und Vorsehung unseres Schöpfers«.79 Denn dieser postmortale geistige Zustand, von dem wir bloß einsehen, dass er möglich ist, ist zugleich auch vollkommener als das diesseitige Dasein der Seele. Und da alles Handeln Gottes auf Vollkommenheit abzweckt, dürfen wir annehmen, dass er auch das, was wir bloß der Möglichkeit nach einsehen, verwirklicht hat.80 Der sich auch in diesem Beweis eröffnende systematische Zusammenhang der Begriffe zeigt zugleich aber auch an, dass man nunmehr von dem Bereich der gesunden Vernunft bzw. der »natürlichen Weltweisheit«81 in den der »philosophischen Erkenntnis«82 vorgedrungen ist, da sich letztere, wie bereits erwähnt, durch deutliche Begriffe in »an einander hängende[n] Vernunftschlüsse[n]«83 kennzeichnet.

|| 72 Ebd., S. 694. 73 Vgl. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding. Hg. von Peter H. Nidditch. Oxford 1975, Bd. 2, Kap. 27,9. 74 Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 694. Vgl. auch Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 14), § 192. 75 Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 694. 76 Ebd. 77 Vgl. ebd., S. 691. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Vgl. ebd., S. 700ff. 81 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 14), S. 4. 82 Ebd., S. 7. 83 Ebd.

98 | Sebastian Abel

Es sei in Bezug auf die Vornehmsten Wahrheiten noch auf ein Problem aufmerksam gemacht, das einen Sonderfall der auf gesunder Vernunft beruhenden Beweise betrifft. Die Leistungsfähigkeit derselben ist nämlich insbesondere dort begrenzt, wo die Undeutlichkeit einer Vorstellung ihren Grund in einem Fehlen von äußerer Empfindung hat. So widerspräche es beispielsweise nicht der gesunden Vernunft, »ex argumento analogiae«84 zu schließen, dass alle sichtbaren Himmelskörper bewohnt sind – schließlich könnten sie, wie Reimarus in Bezug auf ebenjenes Beispiel selbst ausführt, keine innere Vollkommenheit und auch keine äußere Vollkommenheit85 besitzen, wenn sie bloß aus lebloser Materie bestünden.86 Wirft man nun allerdings mit modernen Teleskopen einen Blick auf jene Himmelskörper, dann muss man feststellen, dass sie, anders als der Vernunftschluss nahelegt, unbewohnt sind. An anderer Stelle führt Reimarus jedoch aus, dass solche Analogieschlüsse – auch wenn sie der gesunden Vernunft nicht widerstreiten mögen – bloß einen eingeschränkten Wahrheitswert besitzen: [Wenn jemand] z. B. die Einwohner der Planeten bloß deswegen leugnete, weil sie ihm kein Fernrohr entdecket, der würde der menschlichen Erkenntniß viele andere offene Wege versperren. Die Vernunft heißt uns dann dasjenige schließen, was das Auge nicht erreichen kann, und Schlüsse, welche auf die Analogie der Erfahrung, im Zusammenhange mit allgemeinen sichern Wahrheiten, gebaut sind, haben den größten Grad der Wahrscheinlichkeit.87

Ganz ähnlich gelagert ist die Frage nach der »Wahrheit der mikroskopischen Thierchen«:88 Sie werden nicht wegen ihrer Entfernung zum Betrachter, sondern wegen ihrer Größe bloß undeutlich erkannt. Hier widerstreite es, so Reimarus, der »Erfahrung und Vernunft«,89 der Welt eine »Zeugungskraft«90 anzudichten, vermöge welcher sie beispielsweise aus dem verdorbenen Käse Maden hervorbringt, da eine solche spontane Erzeugung eines zureichenden Grundes entbehrte und damit der gesunden Vernunft widerstritte. Die daraus resultierende Forschungshypothese besteht also in der Annahme von Organismen, die mit menschlichem Auge nicht zu erkennen sind.91 Zur Hypothesenbildung ist also auch die gesunde Vernunft ein probates, wenn nicht unerlässliches Mittel, zumal die Ergebnisse, wie Reimarus selbst bekundet, nicht mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit auftreten. Wäre

|| 84 Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 229. 85 Zum Begriff der äußeren Vollkommenheit vgl. ebd., S. 154f. 86 Vgl. ebd., S. 307. 87 Ebd., S. 182 Anm. 88 Ebd., S. 104. 89 Ebd., S. 112. 90 Ebd. 91 Vgl. hierzu auch Wolff: Deutsche Logik (s. Anm. 14), § 22, S. 134f. Gerade in diesem Punkt zeigt sich, dass Reimarus – wie auch schon Wolff – von Leibniz’ strengem Rationalismus gelegentlich abweicht.

Über die Bedeutung des Begriffs der »gesunden Vernunft« in Reimarus’ Schriften | 99

dem so, könnte die Diskussion der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in den Vornehmsten Wahrheiten geradezu als Widerlegung der reimarusschen Vernunftkonzeption verstanden werden, da viele der Schlüsse – wie etwa derjenige auf ein belebtes Sonnensystem oder auf eine absolut statische Natur –92 nach heutigen Maßstäben überholt, wenn nicht falsch sind. Da Reimarus aber an keiner Stelle behauptet, dass gesunder Vernunft genügende Schlüsse jederzeit mathematische Gewissheit besitzen, lässt seine Theorie solche Irrtümer zu. Zuletzt sei noch ein Blick auf Reimarus’ umfangreichstes Werk, die Apologie, geworfen, welche ebenfalls den »principiis der gesunden Vernunft und Sittenlehre« folgt.93 Was genau hat das nun zu bedeuten? Erste Aufschlüsse gibt die von Reimarus angewandte, doppelte Argumentationsstrategie: Erstens geht es darum, die innere Widersprüchlichkeit der biblischen Erzählungen aufzuweisen – man denke etwa an die zehn Widersprüche der Apostel in Bezug auf die Auferstehung Jesu;94 zweitens darum, zu zeigen, dass der biblische Gottesbegriff oftmals der Vernunft widerstreitet: »Gott fährt vom Himmel herunter auf die Erde, und sitzt da in einem kleinen Busch oder Strauche. Was giebt das für eine niederträchtige Vorstellung von dem unendlich großen und erhabenen Wesen?«95 Der Nachweis dieses doppelten Widerstreits – einmal den der Bibel mit sich selbst, einmal den mit einem vernünftigen Gottesbegriff – kann womöglich als das primäre Beweisziel der Apologie angesehen werden. Eine konkrete Anwendung finden die genannten »principiis der gesunden Vernunft« – diese sind, wie gezeigt worden ist, keine anderen als die Sätze der Identität und des Widerspruchs – bereits in der Behandlung des Auszuges der Juden aus Ägypten und deren Gang durch das rote Meer. Bekanntlich rechnet Reimarus vor, dass der Tross – insofern die Angaben in der Bibel korrekt sein sollen – viel länger gewesen sein müsste als das rote Meer selbst. Wer sich nun bloß an die biblische Erzählung hält, der weiß zunächst nicht mehr, als dass unter den ausgezogenen Juden 600.000 Männer in wehrfähigem Alter waren.96 Und wer nicht über diese Vorstellung reflektiert, meint womöglich, es seien 600.000 Juden ausgezogen – ohne an Begleitung, Proviant etc. zu denken. Wer daher »alle diese unentbehrliche Dinge aus seiner Vorstellung wegläßt, der denkt gewiß noch sehr undeutlich und unvollständig«.97 Gesunde Vernunft sieht in ihrer Reflexion nun aber ein, dass die Menge der kampfbereiten Männer und die Menge der Juden insgesamt nicht identisch sind, mithin, dass die letztgenannte Menge ungleich größer sein muss. Dieses bereits richtige, aber immer noch auf undeutlichen Begriffen beruhende Urteil || 92 Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 88f. 93 Reimarus: Apologie (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 672. 94 Ebd., Bd. 2, S. 207ff. 95 Ebd., Bd. 1, S. 284. 96 Vgl. ebd., S. 304. 97 Ebd., S. 307.

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bringt Reimarus nun zur Deutlichkeit, indem er akribisch nachrechnet, dass mindestens von drei Millionen Menschen98 auszugehen ist, die zudem noch Tiere und Hausrat bei sich führten. Und diesen mathematischen (d. h. in höchstem Grade deutlichen) Beweis wird nun auch derjenige einsehen müssen, der über eine bloß »schwache« Vernunft verfügt. Widersprüchlich ist aber auch, um noch ein zweites, schwerwiegenderes Beispiel zu nennen, die Schilderung von Wundern insbesondere im Alten Testament. Wie bereits in den Vornehmsten Wahrheiten demonstriert wurde, führt uns unsere gesunde Vernunft auf einen Weltbegriff, der sich durch (äußere) Vollkommenheit kennzeichnet. Die Welt ist damit, wie auch der unbeseelte Körper, eine vollkommene Maschine. Eine vollkommene Maschine99 ist aber keiner nachträglichen Eingriffe – sprich: Wunder – bedürftig. Deshalb können sie für Reimarus »in keine vernünftige Betrachtung kommen«.100 Dieser Gedanke ist bereits bei Wolff angelegt, der jedoch an der Möglichkeit von Wundern festhalten wollte und dazu einen nicht geringen Begründungsaufwand betreiben musste. Denn um die Welt im Zustande ihrer ursprünglichen Vollkommenheit zu erhalten, muss jedes Wunder von einem weiteren Wunder begleitet werden, welches die durch das erste Wunder »eingerissene Unordnung« wieder aufhebt »und alles in den Stand gesetzet wird, wie es würde gewesen seyn, wenn das Wunder-Werck nicht geschehen wäre«.101 Konsequenter ist es daher, mit Reimarus anzunehmen, dass die Annahme von Wundern dem Begriff einer vollkommenen Welt widerstreitet. Besonders offensichtlich wird dies etwa, wenn Moses ohne Not eine weitere Quelle aus dem Berg Sinai entspringen lässt, obwohl sich auf diesem bereits natürliche Quellen und Flüsse zur Verpflegung der Reisenden finden.102 Bei den Wundern des neuen Testaments, etwa die der Heilung von Blinden, Lahmen, Tauben und Stummen103 verhält es sich nicht anders, auch wenn sie »nicht so vollkommen widersinnig und übertrieben«104 sind wie die des alten Testaments. Es obliegt also einer »gesunden Philosophie […], über solche vorgegebene Facta zu reflectieren«,105 da nur in einer solchen Reflexion der Widerspruch als Widerspruch hervortritt.

|| 98 Vgl. ebd., S. 312. 99 Vgl. etwa Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 14), § 557; ebd., § 1081; Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 580. 100 Ebd., S. 588. 101 Wolff: Deutsche Metaphysik (s. Anm. 14), § 639. Diese Art von Wunder wird in der schulphilosophischen Tradition auch als »Miraculum Restitutionis« bezeichnet (s. hierzu etwa Johann Christian Förster: Philosophische Abhandlung über die Wunderwerke. Halle 1761, S. 135). 102 Reimarus: Apologie (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 355. 103 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 380. 104 Ebd., S. 378. 105 Ebd., S. 386.

Über die Bedeutung des Begriffs der »gesunden Vernunft« in Reimarus’ Schriften | 101

Dabei ist es jedoch nicht bloß so, dass viele der biblischen Erzählungen aufgrund ihrer inneren Widersprüchlichkeit fragwürdig sind. Reimarus scheint die Annahme einer übersinnlichen Normenquelle – mithin die Notwendigkeit einer Offenbarung – überhaupt abzulehnen und antizipiert damit bereits wichtige Elemente der Religionsphilosophie Kants. »Est Deus in nobis; dafür haben wir gesunde Vernunft«,106 schreibt Reimarus, folglich ist diese Vernunft auch das »reelle Kennzeichen dessen was göttlich oder ungöttlich ist«.107 Normen, die, wie Kant schreiben würde, bloß statutarischen Charakter haben, erhalten nicht dadurch die Dignität einer absoluten Wahrheit, dass sich ihr Verkünder auf eine göttliche Eingebung beruft. Das Wahre wird durch Inspiration nicht wahrer, ebensowenig wie die Lügen eines angeblich Inspirierten zur Wahrheit werden.108 So enthalten beispielsweise die »Sitten-Sprüche«109 aus den Büchern Salomo nichts, was sich nicht auch aus »gesunder Vernunft wissen oder ziehen«110 lässt. Und auch die von Jesus gepredigte »praktische Religion«111 enthält keine Vorschriften, als »welche die gesunde Vernunft zur Vollkommenheit und zur Besserung der Menschen überhaupt vorschlagen kann.«112 Das bedeutet letztendlich, dass der Mensch, sofern er von Vorurteilen und Aberglauben frei ist, immer schon weiß, was er zu tun hat, obgleich er, auf dem Reflexionsniveau der gesunden Vernunft, noch über keine deutliche Erkenntnis der Normen verfügt, nach denen er handeln soll. Gleiches gilt, wie oben bereits gezeigt wurde, auch für die natürliche Logik: Auch ein Mensch, der über keine Kunst-Logik verfügt, weiß vermöge gesunder Vernunft immer schon, was er zu denken hat. Zusammenfassend also lässt sich sagen, dass sich allein mit Hilfe gesunder Vernunft bereits undeutliche Einsichten in die Logik, in Gott, die Zweckmäßigkeit der Welt sowie die menschliche Seele gewinnen lassen. Sie findet ebenso Anwendung als Instrument einer rudimentären Bibelkritik. Wenn Reimarus daher – wie in den Vornehmsten Wahrheiten – betont, dass ein Werk aus gesunder Vernunft entwickelt sei, 113 so gibt er damit zu erkennen, dass seine Methode vornehmlich darin besteht, von vernunftgemäßen, aber undeutlichen Begriffen auszugehen, um sie zu einer systematischen Wissenschaft zu entfalten. Zugleich ist damit Reimarus’ Methode – die, wie erwähnt, bei undeutlichen Vorstellungen und »gemeinen Erfahrungen«114 anhebt – als eine im besten Sinne des Wortes populäre charakterisiert.

|| 106 Ebd., Bd. 1, S. 366. 107 Ebd., S. 286. 108 Vgl. ebd. 109 Ebd., S. 708. 110 Ebd., S. 709. 111 Ebd., Bd. 2, S. 30. 112 Ebd., S. 174. 113 Vgl. Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 5), S. III. 114 Ebd., S. IX.

Achim Vesper

Reimarus über Zeugnisglauben Als Verfasser der Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Vertreter Gottes hat Reimarus besondere Berühmtheit erlangt. Unter anderem durch den Fragmentenstreit, die Monografie von David Friedrich Strauß aus dem Jahr 18621 und die vollständige Edition der Endfassung von 1972 hat das von Reimarus selbst nicht veröffentlichte Werk, in dem das biblische Offenbarungszeugnis in Zweifel gezogen wird, die Aufmerksamkeit der Nachwelt auf sich gezogen. Zu Lebzeiten hingegen ist Reimarus durch seine Bücher Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754), Vernunftlehre (1756) und Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere (1760) vor der literarischen Öffentlichkeit als Popularphilosoph in Erscheinung getreten.2 Dabei stellt sich die Frage, welche gedanklichen Verbindungen zwischen seinen publizierten Werken und der von ihm geheim gehaltenen Apologie bestehen. Zwar ergänzen sich die Offenbarungskritik der Apologie und die dem Anspruch nach allein auf Vernunft basierende Religionslehre der Vornehmsten Wahrheiten als negative und positive Seite seiner Religionsphilosophie, Zusammenhängen zwischen seiner Logik und Religionskritik wird jedoch kaum nachgegangen. Im Folgenden zeige ich auf, dass Reimarus mit der Apologie in einem wichtigen Aspekt der Vernunftlehre folgt. Wie ich darstellen werde, lässt sich der methodische Rahmen für die Auseinandersetzung mit den biblischen Inhalten und ihrer Tradierung in der Apologie in den Ausführungen über das Zeugnis anderer in der Logik wiederfinden. Während die Vernunftlehre die Kriterien aufzeigt, unter denen die Übernahme des Zeugnisses anderer gerechtfertigt ist, werden diese in der Apologie auf den speziellen Fall der biblischen Überlieferung bezogen. In anderen Worten kommen in der Apologie die in der Vernunftlehre entwickelten Maßstäbe zur Beurteilung der Verlässlichkeit des Zeugnisses anderer zur Anwendung. Obgleich die Behandlung des Zeugnisses anderer bei Reimarus auch unabhängig davon Interesse verdient, so kommt ihr aufgrund der Verbindung zur Offenbarungskritik eine besondere Bedeutung zu. Nachfolgend gehe ich im ersten Teil auf die Zeugniskonzeption der Vernunftlehre und ihre Besonderheiten ein und zeichne im zweiten Teil Verbindungen zur Apologie nach.

|| 1 David Friedrich Strauß: Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Leipzig 1862. 2 Im Folgenden stütze ich mich auf die Ausgaben im Rahmen der von der Joachim JungiusGesellschaft beauftragten Gesammelten Schriften: Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt a. M. 1972; ders.: Vernunftlehre. Hg. von Frieder Lötzsch. Bd. 1: Nachdruck der ersten Auflage von 1756, Bd. 2: Nachdruck der dritten Auflage von 1766. München 1979; ders.: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Hg. von Günter Gawlick. Göttingen 1985. https://doi.org/10.1515/9783110726558-006

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1 Das Zeugnis anderer in der Vernunftlehre Zwar wird das Zeugnis anderer in der Philosophie der deutschen Aufklärung oft behandelt, ihm wird in der Regel jedoch eine sehr viel geringere Zuverlässigkeit als der eigenen Erfahrung und dem eigenen Nachdenken zugeschrieben.3 Allgemein betrachtet scheint die Aufklärungsphilosophie einer individualistischen Erkenntnistheorie zu folgen, nach der ein genereller Vorrang von durch Selbstdenken gebildeten Überzeugungen vor der Übernahme der Überzeugungen anderer besteht.4 Damit wird unter anderem der Vorstellung Ausdruck gegeben, dass wir uns auf unsere Meinungen auch gegen mehrheitlich geteilte Meinungen oder gegen die Meinung sozial anerkannter Experten berufen dürfen. Besonders deutlich bringt Wolff den Vorrang des Selbstdenkens in seiner Theorie der philosophischen Erkenntnis zum Ausdruck.5 Ihm zufolge besteht die Freiheit des Philosophierens darin, nur solche Meinungen anzunehmen, die sich mithilfe des eigenen Verstandes beweisen lasen.6 Übernimmt ein Philosoph dagegen die Meinungen anderer, weil diese bei Dritten in hohem Ansehen stehen, so begibt er sich nach Wolff in die Sklaverei: Und hierinnen besteht die Freyheit zu philosophiren, daß man sich in Beurtheilung der Wahrheit nicht nach andern, sondern nach sich richtet. Denn wenn man gehalten ist etwas für wahr

|| 3 Zeugnisse anderer bilden traditionell den Gegenstandsbereich der Hermeneutik, die sich ausgehend von der Autorität der überlieferten Texte mit Methoden ihrer richtigen Auslegung beschäftigt. Aufgrund der Frage nach seiner Verlässlichkeit wird das Zeugnis anderer in der Aufklärung jedoch als Thema von der Logik übernommen. Für eine Übersicht vgl. Oliver R. Scholz: Von Rom, den Antipoden und von Wundern: Das Zeugnis anderer in Logiken der Neuzeit. In: Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850. Hg. von Carlos Spoerhase, Dirk Werle und Markus Wild. Berlin, New York 2009, S. 245–268. 4 Die Philosophie der Aufklärung folgt damit der auch in der älteren Philosophie der Neuzeit besonders bei Locke prominenten Überzeugung, dass eine besondere epistemische Autorität der ersten Person besteht. Für eine nähere Darstellung vgl. Achim Vesper: Selbstdenken und Zeugnis anderer in Georg Friedrich Meiers Vernunftlehre. In: Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit«. Hg. von Frank Grunert und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2015, S. 145– 162. – Dass die Philosophie der deutschen Aufklärung dem epistemischen Individualismus folgt, bestreitet dagegen Axel Gelfert: Kant and the Enlightenment’s Contribution to Social Epistemology. In: Episteme 1 (2010), S. 79–99. Zu Recht aber weist Gelfert darauf hin, dass sich zumindest bei Thomasius und Kant die antiindividualistische Auffassung finden lässt, dass das Zeugnis anderer im Regelfall ungeprüft akzeptiert werden darf (vgl. ebd., bes. S. 6–8). 5 Zum Begriff des Selbstdenkens bei Wolff und Meier vgl. Vesper: Selbstdenken und Zeugnis anderer (s. Anm. 4), bes. S. 147‒150. 6 Zur libertas philosophandi bei Wolff vgl. Kay Zenker: Denkfreiheit. Libertas philosophandi in der deutschen Aufklärung. Hamburg 2012, bes. S. 241–259.

Reimarus über Zeugnisglauben | 105

zu halten, weil es ein anderer saget, daß es wahr sey, und den Beweis deswegen muß gelten lassen, weil ihn der andere für überzeugend ausgiebt; so ist man in der Sclaverey.7

Meier schließt sich in seiner 1752 publizierten Vernunftlehre der Auffassung an, dass eigene Einsicht für die philosophische oder nach seiner Bezeichnung gelehrte Erkenntnis grundlegend ist; anders als Wolff behauptet er jedoch, dass die Fähigkeit zu philosophischer Erkenntnis egalitär verteilt ist und nicht nur Philosophen, sondern allen Menschen zukommt. Entsprechend gilt für alle in der Vernunftlehre unterrichtete Menschen, dass sie durch eigene Erfahrung und eigenes Nachdenken verlässliche Meinungen bilden können und zum Zweifel an von anderen mitgeteilten Meinungen ungeachtet deren Ansehens berechtigt sind. Zwar nimmt Meier auch deshalb keine globale zeugniskritische Position ein, weil er die Autorität der biblischen Überlieferung nicht antasten möchte, er spricht dem Zeugnis jedoch eine sehr viel geringere Verlässlichkeit als dem Selbstdenken zu.8 Auch wenn sich Reimarus grundsätzlich positiv zur philosophischen Methode nach Wolff verhält, so löst er anders als dieser oder Meier die Spannung zwischen Selbstdenken und dem Zeugnis anderer nicht zugunsten der epistemischen Autorität des Selbstdenkens auf. Wie zu zeigen sein wird, nimmt Reimarus eine Sonderstellung in der wolffianischen Tradition ein, weil er nicht für den epistemischen Individualismus Partei ergreift. Nach Reimarus gilt weder für Menschen im Allgemeinen noch für Philosophen im Besonderen, dass sie von ihrer sozialen Umgebung epistemisch unabhängig sind. Stattdessen ist Reimarus auf eine Erkenntnistheorie festgelegt, die eine Aufwertung des Zeugnisses anderer nach sich zieht.

1.1 Angewiesenheit auf das Zeugnis anderer Betrachtet man die Eingangsaussagen im der ausübenden Vernunftlehre gewidmeten zweiten Teil des Buchs, so fällt zunächst auf, dass Reimarus das Zeugnis anderer neben Empfindung und Vernunft als eine eigene Erkenntnisquelle aufführt: Quellen, woraus wir Erkenntniß nehmen [...]: Ich habe deren (§ 46) drey gerechnet; nämlich 1) die Empfindung, woraus Erfahrung entstehet; 2) die Vernunft, (im engeren Verstande) oder die Einsicht in die allgemeinen Wahrheiten, woraus wir die Wissenschaft herleiten; 3) das Zeugniß Anderer, worauf sich Glauben gründet.9

|| 7 Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit heraus gegeben. In: WGW I, 9, S. 132f. 8 Vgl. detailliert zu Meiers Zeugniskonzeption Vesper: Selbstdenken und Zeugnis anderer (s. Anm. 4), bes. S. 155‒160. 9 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 2), 1. Aufl., § 157, S. 249.

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Aus dem größeren Zusammenhang geht allerdings hervor, dass Reimarus das Zeugnis anderer nicht als eine der Empfindung und der Vernunft gleichrangige Erkenntnisquelle versteht. Ein Grund dafür besteht darin, dass er den epistemischen Wert des Zeugnisses anderer als vom epistemischen Wert der Erfahrung abgeleitet betrachtet. Ausgezeichnet ist die Erfahrung dadurch, dass ihr die größte Sicherheit unter den Erkenntnisquellen zukommt. Wie Reimarus hervorhebt, besitzt eine aufgrund eigener Erfahrung gebildete Meinung den höchsten Grad von Gewissheit: »Und überhaupt haben wir Menschen nichts zuverläßigers und gewissers, was in aller Erkenntniß der Dinge zum Grunde zu legen ist, als klare Erfahrungen. Sein eigenes starkes Gefühl kann niemand verleugnen oder in Zweifel ziehen.«10 Da die Erfahrung gegen Zweifel immun ist, erkennt Reimarus in ihr auch eine erforderliche Grundlage für die Wissenschaft. Ihm zufolge sind wissenschaftliche Behauptungen nicht nur im Bereich der Naturlehre, sondern in allen Disziplinen allein durch Schlüsse aus der Erfahrung gerechtfertigt, sodass Erfahrung »bey aller [...] Forschung und Erfindung zum Grunde gelegt werden« muss.11 In der Folge muss laut Reimarus für die Wissenschaften ein Fundament in der Erfahrung bestehen: Es ist daher gleich anfangs erinnert (§ 4) worden, daß die historische Erkenntniß, oder die Beobachtung dessen, was wirklich ist und geschieht oder geschehen ist, ich meyne, die klare Erfahrung, allenthalben veste zu setzen sey, ehe man anfängt ein Lehrgebäude aufzurichten; sonst wird man Schlösser in der Luft bauen, und sich um die Wissenschaften übel verdient machen.12

Auch wenn sich die Frage aufdrängt, worin der Erfahrungsbezug in den einzelnen Teilbereichen der von Reimarus als Weltweisheit bezeichneten Philosophie oder in der Mathematik liegen soll, verhält er sich gegenüber den Erfolgschancen einer rein rationalen Untersuchung allgemein skeptisch. Die Aufgabe der Vernunft erkennt er stattdessen darin, Urteile aus der Erfahrung zu verallgemeinern und zu systematisieren. Während ohne Bezug auf Erfahrung überhaupt keine Gewissheit erlangt werden kann, ist die Vernunft in ihrer systematisierenden Funktion notwendig, um zu einer vollständigen Gewissheit zu kommen.13 || 10 Ebd., § 161, S. 255. 11 Das Zitat bezieht sich auf die Notwendigkeit der historischen Erkenntnis als »Beobachtung dessen, was wirklich ist und geschieht oder geschehen ist« (ebd., § 4, S. 3). Die Textstelle lautet vollständig: »Wer diese, als etwas niedriges und geringes, verachtet oder versäumet, der macht sich übel um die Wissenschaften verdient. Denn sie muß bey aller übrigen Forschung und Erfindung zum Grunde gelegt werden, wo man nicht Schlösser in die Luft bauen will« (ebd., § 4, S 3f.). Ohne Aufnahme von historischer Erkenntnis haben sich die Menschen nach Reimarus in allen Bereichen der Philosophie »nur ein eiteles Hierngespinste gewebt« (ebd., § 4, S. 4). 12 Ebd., § 161, S. 255f. 13 Entsprechend behauptet er in seiner Ausführung über mathematische Erkenntnis, dass die Systematisierung einzelner Erkenntnisse hinzukommen muss, um vollständige Gewissheit zu erreichen. So soll ihm zufolge die mathematische Erkenntnis noch vor der Weltweisheit erlernt werden,

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Wie weit der Empirismus bei Reimarus tatsächlich reicht, erschließt sich zum Beispiel aus seiner Aufgabenbestimmung der Vernunftlehre. Zumindest für die von ihm ausgearbeitete Logik als »Wissenschaft von dem richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntnis der Wahrheit« erhebt er den Anspruch, auf Tatsachen der Erfahrung aufzubauen.14 Nach seiner Auffassung muss sich die Vernunftlehre auf die natürliche Logik stützen, indem sie von der Natur gegebene denkpsychologische Regeln, über die ein jeder undeutlich verfügt, zur Deutlichkeit bringt.15 Damit behauptet Reimarus auch für die Logik, dass sie über eine Basis in der Beobachtung verfügen muss.16 Ähnlich behauptet er in den Vornehmsten Wahrheiten in Bezug auf die philosophische Gotteserkenntnis, dass sie über ein Fundament in der Beobachtung verfügen muss. Im Rahmen der von ihm vertretenen Physikotheologie können wir ausgehend von der Beobachtung der Natur sowohl auf die Existenz als auch auf Eigenschaften Gottes schließen. In der Sache ist es nicht überraschend, dass Reimarus’ weitreichende Parteinahme für den Empirismus eine positive Wertschätzung des Zeugnisses anderer nach sich zieht. Da wir nur mit einem engen Kreis von Gegenständen durch eigene Erfahrung bekannt sein können, sind wir von Berichten anderer über ihre Erfahrung abhängig: Denn weil unsere Erfahrung nicht hinreicht, alles mit eigenen Augen und Sinnen wahrzunehmen: so haben wirs mit Dank zu erkennen, wenn uns andere Menschen berichten, was sie erfahren haben. Ein Zeugniß ist also der Bericht eines Andern von seiner Erfahrung.17

Aus dem Zitat geht hervor, dass Reimarus aus der Angewiesenheit auf die Erfahrung auf die Angewiesenheit auf die Erfahrungsberichte anderer schließt. Weil wir nur in begrenztem Ausmaß mit Gegenständen durch eigene sinnliche Wahrnehmung in Kontakt treten können, bedürfen wir der mitgeteilten Erfahrung anderer. Auch in der dritten und in Teilen veränderten Auflage von 1766 bringt Reimarus deutlich || damit der Verstand »von der unwiederstreblichen Klarheit und Deutlichkeit des Zusammenhangs der Wahrheiten, welche uns eine volle Gewissheit zu geben vermögend ist, [...] einen Maaßstab bekomme.« (Ebd., § 8, S. 9.) 14 Vgl. ebd., § 16, S. 17. 15 Für die Vernunftlehre muss man, wie Reimarus schreibt, »die natürliche Logik schon mitbringen, und dann die undeutliche Einsicht der Regeln in eine deutliche verwandeln.« (Ebd., § 23, S. 24f.) Entsprechend haben Vernunftlehre und natürliche Logik keine verschiedenen Regeln, sondern sind nur nach dem Grad der Einsicht unterschieden. 16 Reimarus zieht eine Parallele zwischen seinem Forschungsprogramm in der Logik und dem Verfahren in der Naturlehre: »Woher kommt es denn, daß wir bisher in den Logiken oder Vernunftlehren die Natur nicht fleißiger zu Rahte gezogen haben? [...] Wir thun ja solches in der Naturlehre, daß wir die Bestimmung der körperlichen Bewegungskräfte in allgemeine deutliche Regeln oder Gesetze der Bewegung bringen: warum nicht auch in der Vernunftlehre bey der Bestimmung der Vernunftskraft?« (Ebd., § 23 S. 25f.) 17 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 2), 1. Aufl., § 169, S. 280f.

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zum Ausdruck, dass der epistemische Wert des Zeugnisses anderer vom epistemischen Wert der Erfahrung abgeleitet ist: »Wegen des Mangels unsrer eigenen Erfahrung, nehmen wir auch eine fremde Erfahrung zum Grunde unsers Erkenntnisses. Ein Zeugniß ist der Bericht eines anderen von seiner Erfahrung«.18 Auch in dieser Passage behauptet Reimarus, dass Menschen der Berichte anderer über ihre Erfahrung bedürfen, weil sie ohne Erfahrung kein Wissen erlangen können und den individuellen Möglichkeiten zum Gewinn von Erfahrung enge Grenzen gezogen sind. Für die Einstellung, in der wir eine Meinung aufgrund des Zeugnisses anderer annehmen, ohne über eigene Evidenz über die Richtigkeit des Zeugnisinhalts zu verfügen, wählt Reimarus die Bezeichnung des Glaubens: »Wenn wir dem Zeugniß Beyfall geben, das ist, glauben: so setzen wir eine fremde Erfahrung in die Stelle unsrer eigenen, und halten sie für einerley, das ist eben so wahr und gewiß, als wenn wir das Ding selbst mit eigenen Augen gesehen hätten.«19 Durch die von Reimarus als Glauben bezeichnete Übernahme eines Zeugnisses sind wir in die Lage versetzt, auch mit Gegenständen außerhalb der Reichweite unserer eigenen sinnlichen Wahrnehmung durch Erfahrung bekannt zu werden. Seine empiristische Grundannahme ist dafür verantwortlich, dass Reimarus dem Zeugnis anderer einen grundsätzlich positiven Wert zuschreibt und es als Erkenntnisquelle ernstnimmt. Er vertritt die zum Beispiel mit Blick auf die Naturwissenschaften, historische oder geographische Sachverhalte plausible These, dass wir in vielen Fällen nur deshalb zu Wissen gelangen können, weil wir uns auf das Wort anderer verlassen können.20

1.2 Glaubwürdigkeit des Zeugnisses Daneben besteht nach Reimarus noch ein anderer Grund, aus dem keine Gleichrangigkeit zwischen dem Zeugnis anderer und den anderen Erkenntnisquellen vorliegt. Eine basale Erkenntnisquelle wie die Erfahrung bildet das Zeugnis anderer auch deshalb nicht, weil wir ihm nach Reimarus keinen Glauben schenken dürfen, ohne uns auf andere Erkenntnisquellen zu stützen. Obwohl eine große Abhängigkeit von dem Zeugnis anderer besteht, so darf es ihm zufolge dennoch nicht ungeprüft übernommen werden. Einem Zeugnis darf seiner Ansicht nach nur dann geglaubt werden, wenn weder die Person des Zeugen noch der Zeugnisinhalt gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses sprechen. Die Kriterien für die Glaubwürdigkeit eines

|| 18 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 2), 3. Aufl., § 239, S. 251f. 19 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 2), 1. Aufl., § 169, S. 281. 20 Nach Reimarus können lediglich Erfahrungszeugnisse übernommen werden. Auch Meier und Kant sind der Meinung, dass unsere kognitive Abhängigkeit von anderen allein in der Angewiesenheit auf ihr Erfahrungszeugnis besteht. In Bezug auf rein rationale Erkenntnis bedeutet das jedoch, dass sich diese nicht durch Zeugnis übermitteln lässt. Vgl. dazu Gelfert: Kant and the Enlightenment’s Contribution (s. Anm. 4), S. 12.

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Zeugen liegen dabei in der von seinem Verstand abhängigen Geschicklichkeit und der von seinem Willen abhängigen Aufrichtigkeit: »Weil aber die Sache auf eines Andern Verstand und Willen ankommt: so ist ein Zeuge glaubwürdig, wenn er theils die Wahrheit in seiner Erfahrung richtig erkannt, theils, was er richtig erkannt, auch aufrichtig hat sagen wollen.«21 Als in seiner Gewissheit der eigenen Erfahrung ebenbürtig darf man ein Zeugnis nur dann betrachten, wenn der Zeugnisgeber für die wahrheitstreue Übermittlung seiner Erfahrung kognitiv und moralisch qualifiziert ist. In der von Reimarus erstellten ausführlichen Form hat der Schluss auf die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses und die Berechtigung zu seiner Übernahme die folgende Gestalt: Was ein Zeuge sagt, der die Wahrheit in seiner Erfahrung richtig erkannt hat, und aufrichtig hat sagen wollen, dessen Zeugniß ist glaubwürdig, und eben so gut, als ob ichs selbst erfahren hätte. Nun sagt das dieser Zeuge, der etc. Der Untersatz aber läßt sich in vier Sätze auflösen; woraus zugleich erhellet, daß die Glaubwürdigkeit durch die Regel der Einstimmung bestimmet werde. 1. Der vermeynte Zeuge ist eben derselbe, welcher diese Worte gesagt oder geschrieben hat. 2. Der von mir gefaßte Verstand der Worte ist eben derselbe, welchen der Zeuge mit den Worten andeuten wollen. 3. Der Wille des Zeugen ist einerley mit seinen Gedanken von der Wahrheit der Sachen. 4. Die Gedanken des Zeugen sind einerley mit dem, was wirklich geschehen. Also: ist dieses Zeugnis glaubwürdig, und eben so gut, als ob ichs selbst erfahren hätte.22

Die Aufrichtigkeitsbedingung, nach der ein Zeuge nur dann glaubwürdig ist, wenn er seine tatsächlichen Gedanken mitteilt, und die Geschicklichkeitsbedingung, nach der ein Zeuge nur dann glaubwürdig ist, wenn seine Gedanken dem wirklichen Sachverhalt entsprechen, lassen sich in der dritten und vierten Bedingung wiederfinden. Hinzu kommen die Bedingungen, dass einerseits der Zeuge tatsächlich der erste Zeuge und kein Glied einer Zeugenkette ist und andererseits der sprachliche Sinn des Zeugnisses richtig erfasst wird. Mit den letzten beiden Bedingungen soll ausgeschlossen werden, dass der Zeugnisinhalt durch eine Zeugniskette verfälscht weitergegeben oder durch hermeneutische Unsicherheit nicht richtig erfasst wird. Liegen eine Zeugniskette oder Zweifel am Sinn des Zeugnisses vor, so unterliegt der Schluss auf die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses zusätzlichen Anforderungen. Die »Hauptfragen« liegen jedoch darin, wodurch das Vorliegen von Geschicklichkeit und Aufrichtigkeit festgestellt werden kann.23 In der heutigen Debatte besteht eine von vielen geteilte Meinung darin, dass wir auf das Zeugnis anderer angewiesen sind und uns zugleich ohne weitere Rechtferti-

|| 21 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 2), 1. Aufl., § 169, S. 281. 22 Ebd., § 169, S. 282. 23 Ebd.

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gung auf es verlassen dürfen.24 Historisch wird die Auffassung, dass wir das Zeugnis anderer im Standardfall ohne weitere Rechtfertigung übernehmen dürfen, von Reid in seiner Inquiry Into the Human Mind on the Principles of Common Sense von 1764 vertreten, der sich dabei auf die zwei von ihm aufgestellten Prinzipien in der kognitiven Psychologie des Menschen beruft, die Wahrheit zu sagen (principle of veracity) und anderen zu vertrauen (principle of credulity). Reimarus kommt dagegen mit Hume in der Ansicht überein, dass wir nur dann berechtigt sind, ein Zeugnis zu akzeptieren, wenn wir anhand vergangener Beobachtungen auf die Glaubwürdigkeit von Zeugnis und Zeugnisgeber schließen können.25 Damit wählt Reimarus nach seinem Selbstverständnis einen Mittelweg in der Auseinandersetzung mit dem Zeugnis anderer, da er sich einerseits von einem generellen Misstrauen und andererseits von einem generellen Vertrauen gegenüber dem Zeugnis anderer abgrenzt. Auf der einen Seite ist seine Position gegen den ›Unglauben‹ gerichtet, nach dem das Zeugnis anderer per se unzuverlässig ist und Wissen nur aus individuellen Ressourcen erlangt werden kann; auf der anderen Seite schließt er die ›Leichtgläubigkeit‹ aus, nach der wir ein Zeugnis auch ohne Ermittlung seiner Glaubwürdigkeit des Zeugnisgebers für wahr halten dürfen. Mit dieser Zeugniskonzeption möchte Reimarus der Angewiesenheit auf das Zeugnis anderer gerecht werden, ohne einer unkritischen Bindung an die Meinung anderer Vorschub zu leisten.26

|| 24 Im Zentrum der gegenwärtigen Debatte über testimoniale Überzeugungen steht die Frage, ob das Zeugnis anderer eine eigenständige Erkenntnisquelle neben den Erkenntnisquellen von Wahrnehmung, Vernunft und Erinnerung bildet. Antireduktionisten sind der Auffassung, dass das Zeugnis anderer eine von anderen Erkenntnisquellen unabhängige Erkenntnisquelle darstellt, der wir im Standardfall vertrauen dürfen; Reduktionisten sind der Auffassung, dass man durch das Zeugnis anderer nur dann Wissen erwerben kann, wenn seine Glaubwürdigkeit aus anderen Erkenntnisquellen gerechtfertigt ist. Prominent vertreten wird der Antireduktionismus u. a. durch C. A. J. Coady: Testimony. A Philosophical Study. Oxford 1992, der Reduktionismus u. a. durch Elizabeth Fricker (vgl. z. B. Against Gullibility. In: Knowing from Words. Hg. von Arindam Chakrabarti und Bimal Krishna Matilal. Dordrecht, Boston, London 1994, S. 125–162). 25 Die Zeugniskonzeption Humes findet sich im zehnten Abschnitt »Of Miracles« der Enquiry concerning Human Understanding (1748). 26 Die Wahl eines vernünftigen Glaubens alternativ sowohl zu Unglauben als auch zu Leichtgläubigkeit lässt sich auch bei Meier wiederfinden (vgl. Vesper: Selbstdenken und Zeugnis anderer [s. Anm. 4], bes. S. 156). In der Abwehr von Leichtgläubigkeit besteht auch heute die grundlegende Motivation für die Einnahme einer reduktionistischen Position. So schreibt Elizabeth Fricker: »We know too much about human nature to want to trust anyone, let alone everyone, uncritically« (Elizabeth Fricker: Telling and Trusting: Reductionism and Anti-Reductionism in the Epistemology of Testimony. In: Mind 414 [1995], S. 393–411, hier S. 400; vgl. außerdem Fricker: Against Gullibility [s. Anm. 24]). Ich diskutiere an dieser Stelle nicht die sachliche Berechtigung des Reduktionismus. Für eine Darstellung der Kontroverse um Reduktionismus und Antireduktionismus vgl. Axel Gelfert: A Critical Introduction to Testimony. London, New Delhi 2014, bes. S. 95–123.

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1.3 Vermeidung von Leichtgläubigkeit Eine wichtige Besonderheit liegt im Inhalt der Regeln, anhand derer wir nach Reimarus Leichtgläubigkeit ausschließen und uns der Geschicklichkeit und Aufrichtigkeit des Zeugen versichern können. Berichtet ein Zeuge von einer seltenen Erfahrung und besitzt überdies ein Interesse an der Weitergabe des Zeugnisses, so steht die Glaubwürdigkeit seines Zeugnisses laut Reimarus von vornherein in Zweifel. Wird ein Zeugnis mit der Absicht auf Übernahme durch andere mitgeteilt, so verschiebt sich laut Reimarus die Beweislast für die Glaubwürdigkeit vom Zeugnisnehmer auf den Zeugnisgeber. In diesem Fall ist der Zeugnisgeber selbst dazu verpflichtet, positive Evidenz für die Vertrauenswürdigkeit seiner Person zu liefern. Dabei betrachtet Reimarus den Zeugnisgeber, dessen Willen darauf gerichtet ist, dass sein Zeugnis von anderen übernommen wird, als den Regelfall. Anscheinend denkt Reimarus an schriftliche Zeugnisse, die mit dem Ziel der Präsentation vor einer größeren Öffentlichkeit verfasst sind. Mit Blick auf diese kann die Behauptung des Reimarus als plausibel erscheinen: »Denn, wer etwas bezeugt, der will geglaubt seyn. Wie kann er aber das verlangen, wenn er sich selbst nicht glaubwürdig macht, wo es nöthig ist?«27 Nach Reimarus steht der auf die Weitergabe seines Zeugnisses bedachte Zeuge generell unter dem kritischen Verdacht, der Neigung zum Neuartigen nachzugeben oder in der Hoffnung auf persönliche Vorteile zu handeln.28 Im einzelnen steht der Zeugnisgeber laut Reimarus zunächst in der Pflicht, bei der Weitergabe einer seltenen oder auch verborgenen und künstlich gewonnenen Erfahrung, seine »besondere Geschicklichkeit oder Behutsamkeit im Erfahren« zu dokumentieren. Entsprechend lautet die oberste Regel zur Beurteilung der Geschicklichkeit des Zeugen: »Ein Zeuge muß selbst, durch genaue Beschreibung seiner Erfahrung, zeigen, daß er die gehörige Wissenschaft in der Erfahrung besitze, und die benöhtigte Vorsicht wirklich gut gebraucht habe.«29 Nach Reimarus muss ein Zeuge nachweisen, dass er alle Möglichkeiten des Selbstbetrugs ausgeschlossen hat und keine auf Einbildung beruhende trügerische Erfahrung weitergibt. Damit wird etwa von einem Naturforscher verlangt, die Mitteilung neuer experimenteller Ergebnisse durch die Darstellung seiner Versuchsanordnung und den Nachweis seiner Forschungsexpertise zu plausibilisieren. Ein Zeuge, der ein Interesse an der Verbreitung seines Zeugnisses besitzt, muss aber nicht nur Belege für seine intellektuelle Fertigkeit, sondern auch für seine moralische Verlässlichkeit erbringen. Ein Zeuge muss nach Reimarus nicht nur zeigen, dass er über die nötige Geschicklichkeit verfügt und die richtigen Vorkehrungen zur Vermeidung von Selbstbetrug ergriffen hat – zusätzlich muss er aufzeigen, dass er

|| 27 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 2), 1. Aufl., § 170, S. 283. 28 Ebd., § 171, S. 292. 29 Ebd., § 170, S. 283.

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moralisch integer ist und aus Wahrheitsliebe handelt. Auf seiner Seite liegt die Beweislast dafür, dass »er nämlich den Willen gehabt das zu sagen, was er selbst gedacht der Wahrheit der Sachen gemäß zu seyn«.30 Als in seiner Wahrheitsliebe aufrichtig darf man jemanden betrachten, der einen sachbezogenen Bericht liefert, dessen Urteile moralische Qualität besitzen und dessen Lebensweise moralisches Lob verdient: Weil aber äussere Lebens-Umstände seyn können, welche einem Zeugen den Verdacht einer Parteilichkeit zuziehen: so ist ein Geschichtsschreiber schuldig, so viel von seiner Geburt, Vaterlande, Stand, Bedienung, Religion, Begebenheiten und Verknüpfung mit anderen Menschen, an den Tag zu geben, daß der Leser daraus abnehmen könne, ihm habe weder Gutes noch Böses, weder Hoffnung noch Furcht, weder Liebe noch Haß, weder Neigung noch Abneigung, weder Freundschaft noch Feindschaft, Bewegungsgründe gegeben, die Wahrheit wissentlich und willkührlich zu beleidigen oder zu verhelen.31

Durch diese Kriterien sollen Fälle ausgeschlossen werden, in denen ein Zeugnisgeber den »Reizungen des menschlichen Willens gegen die reine Wahrheit«32 nachgibt und aufgrund von Absicht oder Unvermögen fälschlich behauptet, Zeuge von Neuem oder auch Wunderbarem zu sein. Während der Nachweis von Geschicklichkeit einen Selbstbetrug des Zeugnisgebers ausschließen soll, soll der Nachweis von Aufrichtigkeit den Zeugnisempfänger vor der Übernahme von bewussten Falschaussagen schützen. Weist der an der Übermittlung des Zeugnisses interessierte Zeugnisgeber seine Geschicklichkeit nach und kann Selbsttäuschung ausschließen, so überträgt sich das Fürwahrhalten auf den Zeugnisnehmer. Dabei nimmt die »Ueberfuehrung« stufenweise zu, abhängig davon, ob sich der Zeuge schon in der Vergangenheit als verlässlich gezeigt hat, er die Erfahrung gemeinsam mit weiteren Augenzeugen gemacht hat oder andere Personen von ihm unabhängig übereinstimmende Erfahrungen gemacht haben.33 Allerdings muss der Zeugnisnehmer vermeiden, dem »Vorurtheil der Unwissenheit« zu verfallen und die Übernahme eines Zeugnisses allein deshalb zu verweigern, weil der Inhalt des Zeugnisses für ihn neu ist.34 Ergibt sich jedoch ein Widerspruch zu als »klar erkannten Wahrheiten«, so darf ein Zeugnis nicht übernommen werden.35 Dem schließt Reimarus längere Ausführungen über die Vertrauenswürdigkeit von Mittelzeugen – von Zeugen zweiter oder dritter Hand – und über die Rolle der textkritischen Auseinandersetzung für die Ermittlung der Vertrauenswürdigkeit von überlieferten Schriften an. In diesem Zusammenhang

|| 30 Ebd., § 171, S. 288. 31 Ebd., § 171, S. 289f. 32 Ebd., § 171, S. 293. 33 Ebd., § 170, S. 284f. 34 Vgl. ebd., § 170, S. 286f. 35 Vgl. ebd., § 170, S. 287f.

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behauptet er, dass lediglich Zeugen zweiter Hand, die sich auf auffindbare Urkunden oder mündliche Aussagen eines noch lebenden Erstzeugen berufen, Glaubwürdigkeit genießen.36 Ohne eine solche Stütze besteht kein Grund zu der Annahme, dass die Erfahrung eines Erstzeugen durch das Zeugnis übermittelt wird. Außerdem geht Reimarus sehr ausführlich auf die sich ergebenden Fragen ein, nach welchen Regeln die Urheberschaft und die Datierung von Texten zu bestimmen und anhand welcher Hilfsmittel die Textbedeutung zu erschließen ist.37 Zusammengefasst behauptet Reimarus, dass (1) eine generelle Abhängigkeit vom Zeugnis anderer besteht, (2) die Glaubwürdigkeit eines Zeugen vor der Übernahme eines Zeugnisses festzustellen ist und (3) an der Weitergabe ihres Zeugnisses interessierten Zeugen die Beweislast für ihre Glaubwürdigkeit zukommt. Ein besonderes Merkmal dieser Zeugniskonzeption liegt darin, dass die Möglichkeit eines der Aufrichtigkeit und Geschicklichkeit entgegengesetzten Interesses in den Vordergrund tritt. Man kann sogar einen ideologiekritischen Aspekt darin erkennen, dass Reimarus von der Interessengeleitetheit der Zeugnisgeber ausgeht und die Richtigkeit von Zeugnissen vom Einfluss dieser Interessen bedroht sieht. Damit ist Reimarus’ Konzeption auf eine radikale Weise solchen Auffassungen entgegengesetzt, nach denen ein präsumtives Anrecht auf die Akzeptanz eines Zeugnisses besteht. Ihm zufolge ist es für den Zeugnisnehmer zumindest in den meisten Fällen geboten, eine kritische Einstellung gegenüber der Wahrheit eines Zeugnisses einzunehmen, die nur durch den Aufweis seiner Geschicklichkeit und Aufrichtigkeit vom Zeugnisnehmer außer Kraft gesetzt werden kann. Reimarus formuliert hier einen Generalverdacht gegenüber Zeugnisgebern, der über die Vorsichtsregeln anderer auf die Abwehr von Leichtgläubigkeit ausgerichteter Positionen weit hinausgeht. Zwar nimmt er mit Sicherheit eine falsche Generalisierung vor, weil es in Alltagskontexten eine Fülle von als Zeugnissen intendierten, aber in ihrer Glaubwürdigkeit unproblematischen Äußerungen anderer gibt; es gibt aber vermutlich einen realistischen Kern in der Annahme, dass nach der Aufnahme ihres Zeugnisses durch einen größeren Kreis von Personen strebende Zeugen tendenziell unzuverlässig sind und in der Gefahr stehen, die Wahrheit ihres Zeugnisses der Neuigkeit oder dem Erreichen von eigenen Vorteilen unterzuordnen.

|| 36 Vgl. ebd., § 172, S. 294–300. 37 Ebd., § 173, S. 300–318.

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2 Anwendung in der Bibelkritik Die Forschung hat sich in größerem Ausmaß darum bemüht, die für Reimarus’ Entwicklung zum Bibelkritiker verantwortlichen Quellen zu identifizieren.38 Neben der Lektüre der englischen Deisten39 kommen vor allem die hermeneutische Ausbildung durch seine Lehrer Johann Albert Fabricius und Johann Christoph Wolf am Hamburger Akademischen Gymnasium,40 die 1734 erschienene Edition des HiobKommentars von Johann Adolf Hoffmann,41 die Auseinandersetzung mit der sogenannten Wertheimer Bibel im Jahr 173542 oder auch die Beschäftigung mit Johann || 38 Vgl. den Überblick bei Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk. Tübingen 2009, S. 17–47. 39 Vgl. Günter Gawlick: Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg. Göttingen 1973, S. 74–43; Henning Graf Reventlow: Das Arsenal der Bibelkritik des Reimarus. Die Auslegung der Bibel, insbesondere des Alten Testaments, bei den englischen Deisten. In: ebd., S. 44–65. Die These, dass der englische Deismus den entscheidenden Hintergrund für Reimarus’ Religionskritik liefert, hat durch Jonathan Israel kräftigen Widerspruch erfahren: »The frequent stress on English influence in the older historiography about Reimarus [...] is both groundless and highly misleading« (Jonathan I. Israel: The Philosophical Context of Hermann Samuel Reimarus’ Radical Bible Criticism. In: Between Philology and Radical Enlightenment. Hermann Samuel Reimarus [1694–1768]. Hg. von Martin Mulsow. Leiden 2011, S. 183–200). Israel hebt stattdessen den Einfluss freigeistiger Literatur aus den Niederlanden einschließlich Spinozas Tractatus TheologicoPoliticus hervor. 40 Im Rahmen seiner altphilologischen Ausbildung bei Fabricius und Wolf erwirbt Reimarus entscheidende textkritische Kenntnisse und wird mit religionskritischer Literatur bekannt. Vgl. Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) (s. Anm. 38), S. 17–23 sowie Martin Mulsow: Johann Christoph Wolf (1683–1739) und die verbotenen Bücher in Hamburg. In: 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft. Hg. von Johann Anselm Steiger. Berlin, New York 2005, S. 81–111, bes. S. 110. 41 Johann Adolf Hoffmann: Neue Erklärung des Buchs Hiob. Hamburg 1734. Die profane Bibelinterpretation in dem von ihm weitergeführten Hiob-Kommentar spielt laut Schmidt-Biggemann eine besondere Rolle für die intellektuelle Entwicklung des Reimarus. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Die destruktive Potenz philosophischer Apologetik. Der Verlust des biblischen Kredits bei Hermann Samuel Reimarus. In: ders.: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988, S. 73–87, hier S. 79–81; ders.: Edifying versus Rational Hermeneutics: Hermann Samuel Reimarus’ Revision of Johann Adolf Hoffmann’s ›Neue Erklärung des Buchs Hiob‹. In: Between Philology and Radical Enlightenment (s. Anm. 39), S. 41–74. 42 Die Wertheimer Bibel ist ein Übersetzungs- und Kommentierungswerk, in dem der Gebrauch der Vernunft den Weg zum Verständnis der Schrift eröffnen soll. Reimarus widmet ihr und einem anderen Werk ihres Verfassers Johann Lorenz Schmidt zwei Besprechungen. Zum Einfluss der Wertheimer Bibel auf Reimarus vgl. Peter Stemmer: Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus. Göttingen 1983, bes. S. 92–146; Ursula Goldenbaum: The Public Discourse of Hermann Samuel Reimarus and Johann Lorenz Schmidt in the Hamburgische Berichte von gelehrten Sachen in 1736. In: Between Philology and Radical Enlightenment (s. Anm. 39), S. 75– 102.

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Konrad Dippels Kritik der Versöhnungslehre in den 40er Jahren in Betracht.43 Es ist anzunehmen, dass alle diese Episoden in größerem oder kleinerem Ausmaß zur intellektuellen Entwicklung des Reimarus vom Anhänger der lutherischen Orthodoxie zum Kritiker der biblischen Überlieferung beitrugen. Man sollte gleichwohl Abstand davon entnehmen, die Bibelkritik der Apologie lediglich als sachliche Konsequenz seiner Aneignung religionskritischer Auffassungen oder einer an Realien orientierten Textkritik wahrzunehmen. Bei näherer Betrachtung lässt sich in der Lehre vom Zeugnis anderer einschließlich der Kriterien für Glaubwürdigkeit der methodische Ansatz erkennen, der den Rahmen für die Auseinandersetzung mit dem biblischen Text liefert. Näheren Aufschluss bietet bereits das der ersten Fassung der Apologie zugehörige Fragment Was Vernunft und was vernünftig sei aus der Zeit nach 1735, in dem eine längere Ausführung über das Zeugnis anderer und die Bedingungen, unter denen es übernommen werden darf, enthalten ist.44 Ähnlich wie später in der Vernunftlehre behauptet Reimarus hier, dass das Zeugnis anderer einen Nutzen trägt, weil wir uns durch es über die Grenzen unserer eigenen Sinneswahrnehmung hinaus auf Erfahrung stützen können,45 und dass die Übernahme des Zeugnisses anderer in den Grenzen von Unglauben einerseits und Leichtgläubigkeit andererseits erlaubt ist.46 Weiterhin wird eine ›innere Glaubwürdigkeit‹, nach der ein schriftliches Zeugnis nicht nur über Verständlichkeit und Widerspruchslosigkeit verfügen muss, sondern nicht einmal den »Schein der Unmöglichkeit« besitzen darf,47 von einer ›äußeren Glaubwürdigkeit‹ unterschieden, die vor allem das Verhältnis von Textverfasser und dem Zeugen erster Hand betrifft, da beide nicht identisch sein müssen, sondern auch die äußeren Glieder einer Zeugniskette ausmachen können.48 Bereits hier betont Reimarus, dass der an der Weitergabe seines Zeugnisses interessierte Zeuge in der Pflicht steht, seine Glaubwürdigkeit zu untermauern.49 Anders

|| 43 Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) (s. Anm. 38), S. 41–47. 44 Hermann Samuel Reimarus: Was Vernunft und was vernünftig sei. In: ders.: Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Hamburg 1994, S. 431–478, bes. S. 465–477 (§§ 27–31). SchmidtBiggemann merkt an: »Die Zeugnislogik bietet schließlich für die Glaubwürdigkeit von überlieferten Begebenheiten, wie sie in der Bibel vorliegen, das entscheidende Kriterium.« (Wilhelm SchmidtBiggemann: Anmerkungen. In: Reimarus, Kleine gelehrte Schriften [s. Anm. 44], S. 561–652, hier S. 647. Vgl. außerdem Schmidt-Biggemann: Die destruktive Potenz philosophischer Apologetik [s. Anm. 41], S. 82). 45 Reimarus: Was Vernunft und was vernünftig sei (s. Anm. 44), § 27, S. 465. 46 Ebd., § 27, S. 465. 47 Ebd., § 29, S. 470. 48 Ebd., § 30, S. 471. 49 »Wenn nun die Frage ist, wenn und wodurch der Glaube seine Richtigkeit erhalte, daß wir nicht durch blinde Leichtglaubigkeit für wahr halten was nicht glaubwürdig ist, noch durch stoltzen und thörigten Unglauben verwerfen, was doch seine gute Glaubwürdigkeit vor sich hat, so müssen wir

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als in der Vernunftlehre wird in dem Fragment aus der ersten Fassung der Apologie aber noch nicht die moralische Qualität des Zeugen als eigenes Kriterium angeführt. Entsprechend stehen nicht manipulative Zeugnisse im Fokus, sondern von Gerüchten auf der Basis von Hörensagen nicht zu unterscheidende unzuverlässige Zeugnisse. Der Text aus der Frühphase der Entstehung der Apologie gibt den entscheidenden Hinweis darauf, dass sich Reimarus anhand der Theorie des Zeugnisses anderer und der Bedingungen seiner Glaubwürdigkeit einen methodisch abgesicherten Pfad zur Untersuchung der biblischen Überlieferung erschlossen hat. Er kehrt sich dabei von einer hermeneutischen Auseinandersetzung mit der Bibel ab, die den von den Schreibern intendierten Sinn zu rekonstruieren versucht, und wendet sich einer mit den Anforderungen der Vernunftlehre übereinstimmenden Untersuchung ihrer Wahrheit zu. Die Meinungsänderung in der Frage nach der richtigen Methode in der Untersuchung der Bibel dokumentiert sich außerdem in den beiden von Reimarus verfassten Besprechungen der Wertheimer Bibel. Während er in der ersten Besprechung vom Januar 1736 die vom Autor der Wertheimer Bibel erhobenen Forderungen nach einem Möglichkeitsbeweis für biblische Aussagen und ihre Verbindbarkeit mit bekannten Wahrheiten noch als für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bibel unangemessen betrachtet,50 erkennt er in der zweiten Besprechung vom Oktober 1736 einen Vorzug der Wertheimer Bibel darin, dass die Methode aus der Vernunftlehre und nicht aus der Philologie übernommen wird. Entsprechend schreibt er über den Verfasser der Wertheimer Bibel: »Seine Auslegung beruhet aber auf der Grundwissenschaft und Vernunftlehre, an welcher Auslegungslehre wir noch bisher einen Mangel gehabt.«51 Die neue Einsicht des Reimarus besteht darin, dass die hermeneutische Frage nach der Brücke zu der vom Schreiber intendierten Schriftbedeutung eine gegenüber der Frage nach der Zuverlässigkeit der Schrift untergeordnete Rolle besitzt. In der Endfassung der Apologie ist die ausgearbeitete Theorie des Zeugnisses anderer nicht mehr vorhanden. Stattdessen nimmt Reimarus die Ausführungen über || zuvor wissen was des Zeugen Pflicht ist, wenn er sich glaubwürdig machen will.« (Ebd., § 27, S. 465; vgl. außerdem ebd., bes. § 31, S. 473–475.) 50 »Die Art, wie der Wertheimische Dolmetscher die Schrift will geprüfet wißen, kömt auf diese zwei Stücke an. Sinds Geschichte, so will er erst ihre innere Möglichkeit wißen, darnach gelten Zeugniße bei ihm. Sinds Sätze, so muß er dieselbe mit den ihm bekanten Wahrheiten verknüpfen können. Wann dieses beides so viel heißen solte: was ich nicht als möglich begreife, daß glaube ich keinem zu, und was sich aus meinen, mir bekanten Wahrheiten nicht beweiset läßet, daß ist nicht wahr, so würde die Regel wol mit Recht können verworfen werden. Es kömt auf eine deutlichere Erklärung an.« (Hermann Samuel Reimarus: Kritik der Wertheimer Bibel I. In: ders., Kleine gelehrte Schriften [s. Anm. 44], S. 299–309, hier S. 307.) Vgl. zum Hintergrund der beiden Rezensionen u. a. Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) (s. Anm. 38), S. 37–41. 51 Hermann Samuel Reimarus: Kritik der Wertheimer Bibel II. In: ders.: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 44), S. 310–323, hier S. 311.

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das Zeugnis anderer in die Vernunftlehre auf, womit er sie in den größeren Rahmen seiner Erkenntnistheorie stellt.52 Eine direkte Bezugnahme auf das Zeugnis anderer und die Bedingungen für die Glaubwürdigkeit von Zeugnissen lassen sich gleichwohl auch in der Apologie wiederfinden. Im ersten Kapitel argumentiert Reimarus dafür, dass auch das Offenbarungszeugnis der Autorität der Vernunft unterworfen ist. Diese drückt sich insbesondere darin aus, dass die auf Offenbarung zurückgehende übernatürliche Religion den Inhalten der nur auf der Anwendung der Vernunft basierenden natürlichen Religion nicht widerstreiten darf. Allgemein muss die geoffenbarte Religion der Forderung nach Begreiflichkeit nachkommen, wenn sie nicht lediglich auf ›purem‹ oder ›blindem‹ Glauben basieren soll.53 Da es einen Pluralismus an behaupteten Offenbarungen gibt, hängt die Übernahme einer religiösen Überzeugung ohne vernünftige Rechtfertigung lediglich von dem zufälligen Umstand ab, in welcher Gemeinschaft man aufgewachsen ist.54 Auch der Glaube an die geoffenbarte Religion muss nach Reimarus »nach den Regeln der gesunden Vernunft mit reifer Einsicht und Überführung gethan werden«, weil sich die Annahme eines religiösen Glaubens nicht dem Zufall verdanken darf.55 Aufgrund des Anspruchs an Vernunftgemäßheit stellt Reimarus seiner Auseinandersetzung mit Altem und Neuem Testament »allgemeine und faßliche und kurtze Regeln« voran, »wonach alle und jede Wahrheit, und so auch die aller sogenannten Offenbarungsreligionen zu prüfen ist«.56 Unter dem ersten von drei Punkten stellt Reimarus klar, dass göttliche Offenbarungen von menschlichen Zeugen übermittelt werden und für Offenbarungsberichte deshalb die gleichen Bedingungen für Glaubwürdigkeit wie für andere menschliche Zeugnisse auch bestehen: Ihr bekommt diese Offenbarungen nicht von Gott selbst, sondern von Menschen, welche sagen, daß sie von Gott gesandt sind. So ist dies folglich ein menschlich Zeugniß von einer göttlichen

|| 52 In den sachlichen Kontext der Vernunftlehre gehört die Lehre vom Zeugnis anderer auch deshalb, weil sie einen Anwendungsfall der Vernunftprinzipen der Einstimmung und des Widerspruchs darstellt (zu den Vernunftprinzipien vgl. Reimarus: Vernunftlehre [s. Anm. 2], 1. Aufl., § 29, S. 32f.; außerdem den Beitrag von Marion Heinz in diesem Band). In Was Vernunft und was vernünftig sei hebt Reimarus besonders hervor, dass ein Zeugnis nur dann als zuverlässig betrachtet werden kann, wenn durch die Vernunft in unterschiedlichen Hinsichten Einstimmung festgestellt werden kann – vor allem eine hermeneutische Übereinstimmung im Textverständnis von Leser und Autor, eine logische Übereinstimmung in der Verknüpfung der Begriffe und eine personale Übereinstimmung von Erfahrungszeuge und Textverfasser (vgl. Reimarus: Was Vernunft und was vernünftig sei [s. Anm. 44], § 28, bes. S. 467f.). In der Vernunftlehre selbst kommt das Vernunftprinzip der Einstimmung in der Theorie des Zeugnisses anderer darin zum Vorschein, dass alle Bedingungen im Schluss auf die Glaubwürdigkeit eines Zeugnisses als Identitätsfeststellungen formuliert sind. 53 Reimarus: Apologie (s. Anm. 2), Kap. 1, § 5, S. 69–71. 54 Ebd., Kap. 1, § 5, S. 72f. 55 Ebd., Kap. 1, § 5, S. 71. 56 Ebd., Kap. 1, § 6, S. 74.

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Offenbarung, welche die Boten gehabt zu haben behaupten. Die Prüfung muß also nach den Regeln geschehen, wonach man die Wahrheit eines menschlichen Zeugnisses untersucht.57

Nach Reimarus ist über den Wahrheitsanspruch von auf Offenbarung zurückgehenden Meinungen in gleicher Weise wie über den Wahrheitsanspruch aller anderen geäußerten Meinungen zu entscheiden. Daher erklärt er in Übereinstimmung mit der Vernunftlehre, dass die leitenden Kriterien für die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses in der intellektuellen und moralischen Disposition des Zeugen liegen. So ist zu fragen, ob die Zeugen über die erforderliche intellektuelle Fertigkeit verfügen, einen Selbstbetrug durch Einbildung auszuschließen, oder etwa durch den Reiz des Wunderbaren fanatisiert sind: »Haben die Leute auch die Geschicklichkeit gehabt, ihre eigene Einbildungen von einer übernatürlichen göttlichen Einwirkung zu unterscheyden? Oder können sie sich auch selbst als Fanatici betrogen haben?«58 Darüber hinaus bestehen bei Offenbarungszeugen sogar engere Kriterien für die Prüfung ihrer Aufrichtigkeit als bei gewöhnlichen Zeugen: Sind sie wahrhaftig von Gott gesandt: so wird Gott auch solche Personen zu Boten seiner Offenbarung ausersehen haben, deren Reden und Handlungen mit dem göttlichen Zweck übereinstimmen, nicht aber falsche menschliche Absichten, als etwa der Herrschsucht und des Eigennutzes, folglich eine Ertichtung verrahten.59

Da Gott rationalerweise nur solche Zeugen ausgewählt haben kann, die aufgrund ihrer moralisch integren Lebensführung als glaubwürdig gelten, darf man sich nicht auf das Zeugnis von moralisch zweifelhaften Menschen verlassen. Wer in seinem Verhalten das Streben nach Eigennutz oder Macht über andere zum Ausdruck gebracht hat, besitzt nicht die erforderliche Glaubwürdigkeit. Ein zweiter Punkt betrifft den Inhalt von Offenbarungszeugnissen. Hier behauptet Reimarus, dass Zeugnisse nicht akzeptiert werden dürfen, wenn sich ihr Inhalt – die »Lehrbegriffe und Lebenspflichten, welche die Boten der göttlichen Offenbarung mitbringen« – mit den in der natürlichen Religion aufgewiesenen Eigenschaften Gottes in Widerspruch befindet.60 Die Lehren und Vorschrifften wahrere Boten Gottes müssen Gott anständig seyn, und zu den Menschen grösserer Vollkommenheit und Glückseligkeit dienen. Was hergegen sich selbst oder andern offenbaren Wahrheiten, besonders den göttlichen Vollkommenheiten und den Naturgesetzen, wiederspricht, kann keine göttliche Offenbarung seyn.61

|| 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd., Kap. 1, § 6, S. 74f.

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Insofern die Eigenschaften Gottes auch Güte und den Willen, die Welt zu erhalten, umfassen, verdient ein Zeugnis kein Vertrauen, wenn sein Inhalt unmoralisch ist oder die Naturgesetze verletzende Begebenheiten enthält. Allerdings müssen nicht nur Zeugnisgeber und Zeugnisinhalt in der Auseinandersetzung mit einem Zeugnis geprüft werden, auch die Einstellungen des Zeugnisnehmers sind kritisch zu untersuchen. Nach dem dritten Punkt soll die in der Vernunftlehre als Vorurteil der Unwissenheit bezeichnete Voreingenommenheit ausgeschlossen werden, nach der ein Zeugnis lediglich aufgrund der Neuheit und Unvertrautheit seines Inhalts als unglaubwürdig zurückgewiesen wird: Wer noch mit Vorurtheilen seiner väterlichen Religion eingenommen, und nicht gantz gleichgültig ist, was auch für ein Endurtheil aus seiner Untersuchung herauskomme, sondern bey sich selbst einen Hang und Wunsch spührt, daß er seine väterliche Religion wahr finden möge, der ist zu einer aufrichtigen Untersuchung nicht geschickt, und wird sich nur selbst betriegen.62

Wird die Übernahme eines Zeugnisses verweigert, so dürfen die Gründe demnach nicht lediglich in der Verteidigung der gewohnten religiösen Lehre liegen. Umgesetzt wird das Programm der Prüfung des Offenbarungszeugnisses auf seine Glaubwürdigkeit im Verlauf der Apologie auf vielfältige Weise. Reimarus stellt anhand unterschiedlicher Belege fest, dass sich die Offenbarungszeugen nicht wahrheitstreu verhalten und sie der für verlässliche Zeugen erforderlichen Geschicklichkeit und Aufrichtigkeit ermangeln. Die fehlende Aufrichtigkeit kommt zum Beispiel darin zum Ausdruck, dass die politischen Ziele der Gemeinschaft um Jesus verschwiegen werden; die fehlende Geschicklichkeit wiederum manifestiert sich zum Beispiel darin, dass natürliche Phänomene eine übernatürliche Deutung erfahren.63 Damit misst Reimarus die behaupteten Zeugnisse der christlichen Offenbarung an den Maßstäben der Glaubwürdigkeit, die für die berechtigte Übernahme eines Zeugnisses allgemein ausschlaggebend sind. Die Standards für dem Umgang mit den Zeugnissen anderer werden auf den Spezialfall der Bibel angewendet – wobei dem der Behauptung der Zeugnisgeber zufolge heiligen Schriftdokument nach dem Befund des Reimarus keine Glaubwürdigkeit zugebilligt werden kann.

|| 62 Ebd., Kap. 1, § 6, S. 75. 63 Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit inhaltlichen Aspekten von Reimarus’ Bibelkritik vgl. Ulrich Groetsch: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Classicist, Hebraist, Enlightenment Radical in Disguise. Leiden 2015, S. 224–284; Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) (s. Anm. 38), S. 67–168.

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3 Schluss Auf der einen Seite gehört Reimarus nicht in die Reihe der Autoren seiner Zeit, die für den epistemischen Individualismus Partei ergreifen – da Menschen ohne Erfahrung nicht zu Wissen gelangen können und nur über begrenzte Möglichkeiten verfügen, um eigene Erfahrungen zu sammeln, bedürfen sie ihm zufolge der Erfahrungsberichte anderer. Auf der anderen Seite erhebt Reimarus die Vermeidung von Leichtgläubigkeit trotz der Angewiesenheit auf das Zeugnis anderer zu einem übergeordneten Ziel. Ihm zufolge sind wir nur dann berechtigt, ein Zeugnis zu übernehmen, wenn wir uns der Glaubwürdigkeit des Zeugnisgebers und des Zeugnisinhalts sicher sind. Dabei ist laut Reimarus sogar eine allgemein kritische Einstellung gegenüber solchen Zeugnissen geboten, bei denen der Wille des Zeugnisgebers auf die Weitergabe des Zeugnisinhalts gerichtet ist. In diesem Fall unterliegt die Akzeptanz des Zeugnisses seiner Ansicht nach besonders engen Bedingungen, da das Interesse an der Verbreitung oft mit einer der Wahrheitsorientierung abträglichen Faszination durch das Neuartige oder einer Hoffnung auf persönliche Vorteile einhergeht. Wie ich aufgezeigt habe, bietet die Theorie des Zeugnisses anderer aufgrund der engen Glaubwürdigkeitsbedingungen für Reimarus dabei die methodische Grundlage, um die in der Bibel behauptete Offenbarung als Betrug zu entlarven.

| 2 Bibelkritik und Rationaltheologie

Holger Glinka

Zeugenschaft und Historizität Elemente einer kritischen Hermeneutik nach Hermann Samuel Reimarus

1 Vorbemerkungen Die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gezielt betriebene Geschichtsschreibung der Hermeneutik hat der Theologie- und Bibelkritik des Hermann Samuel Reimarus1 nicht den ihr gebührenden Rang zugewiesen.2 Dies verwundert umso mehr, als

|| 1 Reimarus studiert in Jena Philosophie bei Johann Franz Budde und Andreas Rüdiger, Theologie und orientalische Sprachen; im Oktober 1716 wechselt er nach Wittenberg, wo er ein Jahr später sein Magisterexamen ablegt. Von 1720 bis 1722 unternimmt er Studienreisen nach Leiden, Oxford und London. 1722 lehrt er Philosophie in Wittenberg, von 1723 bis 1727 wirkt er an der Stadtschule in Wismar. Mit Unterstützung seines ehemaligen Gymnasiallehrers und späteren Schwiegervaters Johann Albert Fabricius (1668–1736) erlangt er 1728 eine Professur für orientalische Sprachen am Hamburger Akademischen Gymnasium Johanneum, wo er Philosophie unterrichtet, jedoch hauptsächlich hebräische Philologie, die wichtigste Voraussetzung für seine spätere, unabhängig von Luthers Bibelübersetzung ausgeführte Kritik an den testamentarischen Schriften. Unter den philologischen Bildungsanstalten des Landes genießt das Johanneum Anfang des 18. Jahrhunderts einen ausgezeichneten Ruf. Das aus seinen wissenschaftlichen Werken resultierende Ansehen als Gelehrter trägt Reimarus 1761 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Orientalistik an der Universität Göttingen ein, den er jedoch aus Krankheitsgründen ablehnt, sowie die Mitgliedschaft in der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Zu Reimarus’ über den Weg der Akzeptanz kritisch-philologischer Bibelkritik vollzogener Wandlung zum Rationalisten siehe Wolfgang Philipp (Hg.): Das Zeitalter der Aufklärung. Wuppertal 21988, S. 244. Zu Reimarus’ Bibelkritik vgl. Wolfgang Gericke: Zur theologischen Entwicklung von Hermann Samuel Reimarus. In: Theologische Literaturzeitung 114 (1989), Sp. 859–862; Henning Graf Reventlow: Die Auffassung vom Alten Testament bei Hermann Samuel Reimarus und Gotthold Ephraim Lessing. In: Evangelische Theologie 25 (1965), S. 429–448; ders.: Das Arsenal der Bibelkritik des Reimarus. Die Auslegung der Bibel, insbesondere des Alten Testaments, bei den englischen Deisten. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg. Göttingen 1973, S. 44–65. Eine immer noch hilfreiche Übersicht bietet Günter Gawlick: Hermann Samuel Reimarus. In: Die Aufklärung. Hg. von Martin Greschat. Stuttgart u. a. 1983 (ND 1994), S. 299–311. 2 Ein Hinweis auf Reimarus fehlt im Artikel Hermeneutik, biblische. In: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Bd. 7. Leipzig 31899, S. 718–750. Erstaunlicherweise wird Reimarus in Diltheys ausführlicher, »theologielastige[r]« Abhandlung (siehe Matthias Jung: Hermeneutik zur Einführung. Hamburg 52018, S. 13) über die Hermeneutikgeschichte: Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik (1859), nicht erwähnt; der Text bildet die Grundlage für die weit weniger umfängliche Arbeit Die Entstehung der Hermeneutik (1900), für die Gleiches gilt; in anderen Zusammenhängen taucht https://doi.org/10.1515/9783110726558-007

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Reimarus über seine eigenen hermeneutischen Prinzipien nicht nur Rechenschaft ablegt, sondern diese am Textmaterial auch entsprechend zu bewähren sucht. Letztlich dürften die theologischen Schlussfolgerungen, die Reimarus aus dieser seiner eigens entwickelten Praxis zieht, nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass er als Hermeneutiker bis heute ein Schattendasein fristet. Erschwerend kommt hinzu, dass die um ca. 230 Jahre verzögerte postume Publikation der Apologie3 nicht nur eine Verzerrung der Wirkungsgeschichte der reimarischen Theologie- und Bibelkritik bewirkt hat, sondern gleichfalls die Adaption der erst in der Vernunftlehre genauer und auch explizit konzipierten hermeneutischen Prinzipien an die exegetisch konfigurierte Apologie verhindert hat – wiewohl Reimarus’ zunächst noch daran denkt, in einem ersten Buch der Apologie an die Offenbarungsreligion die Maßstäbe von Vernunftlehre und natürlicher Religion zu legen.4 Die Positionierung, die Reimarus innerhalb der Geschichtsschreibung der Hermeneutik verwehrt geblieben ist, kommt ihm dagegen in Teilen der ReimarusForschung zu, firmiert dessen exoterisch-esoterisches Werk5 hier doch mitunter als Beispiel für eine angewandte Hermeneutik.6 Indes bleibt zu konstatieren, dass die

|| Reimarus’ Name bei Dilthey allerdings auf. Siehe Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. Zweiter Band: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie. Aus dem Nachlass von Wilhelm Dilthey. Hg. von Martin Redeker. In: Wilhelm Dilthey: Gesammelte Werke. Bd. 14. Stuttgart 1966, S. 595–787; ders.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Hg. von Georg Misch. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 5. Stuttgart 41964, S. 317–338 (inkl. der Zusätze aus den Handschriften). Auch Gadamers Arbeiten zur Hermeneutik ignorieren Reimarus. Verschiedentlich genauer behandelt Reimarus Klaus Petrus: Genese und Analyse. Logik, Rhetorik und Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin, New York 1997. Gestreift wird Reimarus bei Meinrad Böhl, Wolfgang Reinhard und Peter Walter (Hg.): Hermeneutik. Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart. Wien, Köln, Weimar 2013, S. 215f. Löbliche Ausnahmen machen spezielle Untersuchungen wie z. B. Harald Schnur: Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert. Studien zur Bibelauslegung, zu Haman, Herder und F. Schlegel. Stuttgart, Weimar 1994, S. 40f., und Ulrich L. Lehner: Kants Vorsehungskonzept auf dem Hintergrund der deutschen Schulphilosophie und -theologie. Leiden, Boston 2007, S. 129–141. 3 Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Gerhard Alexander. 2 Bde. Hamburg 1972. Einen (leider immer noch) aktuellen Bericht zur deutschsprachigen Forschung zur Apologie gibt Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694– 1768). Tübingen 2009, S. 7–12. 4 Hermann Samuel Reimarus: Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Göttingen 1994. 5 Als opinio communis gilt, dass die von Stemmer 1983 edierte Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum 1731 lediglich die offizielle Fassade des geheimen Bibelkritikers Reimarus darstellt (Peter Stemmer: Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus. Göttingen 1983). 6 Vgl. z. B. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Erbauliche versus rationale Hermeneutik. Hermann Samuel Reimarus’ Bearbeitung von Johann Adolf Hoffmanns ›Neue Erklärung des Buchs Hiob‹. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Beiträge zur Reimarus-Renaissance in der Gegenwart. Hg.

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Reimarus leitenden hermeneutischen »Regeln«7 bislang weder hinreichend interpretiert noch deren kritisches Potential ausgeschöpft worden sind; eine Ausnahme macht Hübner.8 Dieser Befund setzt voraus, dass sich Reimarus tatsächlich an – entweder eigens konzipierten oder erworbenen – hermeneutischen Prinzipien orientiert. Stemmer zeigt, dass Reimarus’ »kritischer Hermeneutik« Allgemeingültigkeit und vernünftige Rechenschaft inhärieren.9 Unter dieser Voraussetzung kann eine positive Vermittlung von kritischer Exegese und christlicher Dogmatik nur scheitern. Stemmers These, die lutherisch-orthodoxe Haltung des Reimarus sei noch in der Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum (1731) in Geltung und der radikal bibelkritische Deismus der Apologie10 bilde sich erst rund zehn Jahre nach Reimarus’ England-Aufenthalt (1720–1721) heraus, wird durch Mühlpfordts und Schmidt-Biggemanns Arbeiten präzisiert. Diesen zufolge könnte Reimarus bereits während seiner Studienjahre (1714–1716) in Jena, einem bekannten Treffpunkt junger, radikaler Wolffianer, mit offenbarungskritischen Texten in Berührung gekommen sein;11 in Bezug auf den logischen Aspekt der »Stuffen der Wahrscheinlich-

|| von Wolfgang Walter. Hamburg 1998, S. 23–52 (engl. in Martin Mulsow [Hg.]: Between Philology and Radical Enlightenment. Hermann Samuel Reimarus [1694–1768]. Leiden, Boston 2011, S. 41–74); Stemmer: Weissagung und Kritik (s. Anm. 5), S. 147. Auch in der Lessing-Forschung rangiert Reimarus als Hermeneutiker: »Rationalistisch ist Reimarus’ Hermeneutik in der Reduzierung des Glaubwürdigkeits- und Wahrscheinlichkeitscharakters der historischen Zeugnisse auf den Satz des Widerspruchs resp. der Identität. Kritisch ist seine Methode in der Trennung von Ereignis und Bericht, biblischem Dokument und geistlichem System, Geschichte und Offenbarung« (Martin Bollacher: Lessing. Vernunft und Geschichte. Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in den Spätschriften. Tübingen 1978, S. 110); Klaus Bohnen: Leidens-Bewältigungen. Der LessingGoeze-Disput im Horizont der Hermeneutik von »Geist« und »Buchstabe«. In: Verspätete Orthodoxie. Über D. Johann Melchior Goeze (1717–1786). Hg. von Heimo Reinitzer und Walter Sparn. Wiesbaden 1989, S. 179–196. 7 »Ihr bekommt […] Offenbarungen nicht unmittelbar von Gott selbst, sondern von Menschen, welche sagen, daß sie von Gott gesandt sind. So ist dies folglich ein menschlich Zeugniß von einer göttlichen Offenbarung, welche die Boten gehabt zu haben behaupten. Die Prüfung muß also nach den Regeln geschehen, wonach man die Wahrheit eines menschlichen Zeugnisses untersucht« (Reimarus: Apologie [s. Anm. 3], Bd. 1, I. 1. § 6 [S. 74f.]). 8 Hans Hübner: Die »orthodoxe« hermeneutica sacra des Hermann Samuel Reimarus. In: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Manfred Beetz und Giuseppe Cacciatore. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 99–111. 9 Stemmer: Weissagung und Kritik (s. Anm. 5), S. 147. 10 Zum Einfluss von Anthony Collins vgl. Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 1, V. 2. § 2 (S. 728); ebd., Bd. 2, III. 4. § 8, Anm. t (S. 271). Vgl. zu Thematik insgesamt Günter Gawlick: Reimarus und der englische Deismus. In: Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Hg. von Karlfried Gründer und Karl Heinrich Rengstorf. Heidelberg 1989, S. 43–54. 11 Siehe Günter Mühlpfordt: (Rezension zu:) Hermann Samuel Reimarus: Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum 1731. Hg. von Peter Stemmer. Göttingen 1983. In: Theologische Literaturzeitung 113 (1988), S. 199–204. Bestätigend: Wilhelm Schmidt-Biggemann: Die destruktive Potenz philosophischer Apologetik oder der Verlust des biblischen Kredits bei Hermann

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keit«12 geht auch Danneberg in diese Richtung.13 So scheint die Frage, seit wann Reimarus keine Exegese in dogmatischer Absicht mehr betreibt, beantwortet zu sein. Diese zuletzt genannte Anwendung hermeneutischer Logik auf die Bibelkritik ist das Thema vorliegender Abhandlung. Wie sich zeigen wird, befolgt Reimarus’ kritischer Ansatz ein Vergleichsverfahren, in welchem sich insbesondere das Denkgesetz des Satzes vom Widerspruch auswirkt. Reimarus’ Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in dem Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs hergeleitet dokumentiert in ihrem Untertitel die Orientierung an Wolffs Verstandesrationalismus.14 Mithin gründen Reimarus’ hermeneutische Prinzipien in einer an Wolff geschulten rationalistisch-demonstrativen Logik. Das bedeutet jedoch nicht, dass Reimarus erst in Gestalt der wolffschen Philosophie eines Kriteriums zur Beurteilung der biblischen Offenbarung ansichtig werde, quasi am Vorbild der Wertheimer Bibel eines Johann Lorenz Schmidt.15 Im Unterschied zu der im Geheimen abgefass-

|| Samuel Reimarus. In: Historische Kritik und biblischer Kanon in der deutschen Aufklärung. Hg. von Henning Graf Reventlow u. a. Wiesbaden 1988, S. 193–204, wieder abgedruckt in Wilhelm SchmidtBiggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Frankfurt am Main 1988, S. 73–87; ders.: Erbauliche versus rationale Hermeneutik. Hermann Samuel Reimarus’ Bearbeitung von Johann Adolf Hoffmanns ›Neue Erklärung des Buches Hiob‹. In: Hermann Samuel Reimarus 1694–1768. Beiträge zur Reimarus-Renaissance in der Gegenwart. Hg. von Wolfgang Walter. Göttingen 1998, S. 23–52. 12 Hermann Samuel Reimarus: Vernunftlehre. Erster Band: ND der ersten Auflage von 1756 mit fortlaufenden Hinweisen auf die Parallelen der dritten Auflage von 1766. Zweiter Band: ND der dritten Auflage von 1766 mit fortlaufenden Hinweisen auf die Parallelen der zweiten und vierten Auflage. Hg. von Frieder Lötzsch. München 1979, 1. Aufl., § 221 (S. 485). 13 Lutz Danneberg: Der Fragmentenstreit als Streit um die »hermeneutica sacra« und das »testimonium divinum« der Heiligen Schrift. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 19 (2015), S. 239–264. (Version vom 19.4.2017 abrufbar unter: http://fheh.org/wp-content/uploads/ 2015/01/ReimarusLessing.pdf). Siehe zudem ders.: Probabilitas hermeneutica. Zu einem Aspekt der Interpretationsmethodologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Aufklärung 8.2 (1994), S. 27–48. 14 Siehe zur Vernunftlehre den Sammelband von Wolfgang Walter und Ludwig Borinski (Hg.): Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur ›Vernunftlehre‹ von Hermann Samuel Reimarus. Göttingen 1980. Zum Titel der Vernunftlehre: Seit Crusius geht es darum, die Geltung des Satzes vom Widerspruch einzuschränken; seinen Höhepunkt erreicht dieser problemgeschichtliche Vorgang mit Hegels spekulativer Dialektik. Auch wenn die Wolffverehrung in der Vernunftlehre mitunter gekünstelt wirkt, ist der wolffsche Einfluss auf Reimarus doch als beträchtlich zu werten; so hängt wie für Wolff auch für Reimarus z. B. alles von der göttlichen Idee der Perfektibilität ab. Vgl. Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, I. 1. § 8 (S. 31). 15 Reimarus’ beide Rezensionen der Wertheimer Bibel ordnet vortrefflich ein Ursula Goldenbaum: The Public Discourse of Hermann Samuel Reimarus and Johann Lorenz Schmidt in the »Hamburgische Berichte von Gelehrten Sachen« in 1736. In: Between Philology and Radical Enlightenment. Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Hg. von Martin Mulsow. Leiden 2011, S. 75–102.

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ten und zu seinen Lebzeiten auch unveröffentlicht gebliebenen Apologie, an der Reimarus in den Jahren 1735 bis 1768 parallel zu seinem offiziellen Werk arbeitet16 und die vermutlich seit Mitte der 1740er Jahre großteils vorliegt,17 kommt die Vernunftlehre mehrfach zum Druck.18 Reimarus betreibt also bereits Bibelexegese und Philologie, lange bevor diejenigen Schriften publiziert werden, die seinen Ruhm zu Lebzeiten begründen.19 Versteht sich die Thematik vorliegender Abhandlung zunächst also nicht von selbst, ist dies keinesfalls Reimarus, sondern zwei mit der vorangestellten Titelei verknüpften Thesen geschuldet: 1. Reimarus verfügt über eine kritische Hermeneutik. 2. Diese kritische Hermeneutik beinhaltet (mindestens) zwei notwendige Elemente. Diese Elemente, nämlich ›Zeugenschaft‹20 und ›Historizität‹,21 werden im Folgenden näher analysiert. Die Frage, ob sie sogar die hinreichenden Elemente einer kritischen Hermeneutik ausmachen, es also keiner zusätzlichen für einen funktionstüchtigen Begriff von Hermeneutik bedürfe, wäre bei anderer Gelegenheit zu beantworten. Öffentlich legt Reimarus die beiden leitenden Elemente seiner kritischen Hermeneutik jedenfalls erst in der Vernunftlehre dar. Im Folgenden werden, wo es der Aufklärung dient, Reimarus’ Thesen in den Kontext aktueller theologischer Tendenzen gestellt.

|| 16 Gerhard Alexander: Neue Erkenntnisse zur ›Apologie‹ von Hermann Samuel Reimarus. In: Zeitschrift für Hamburgische Geschichte 65 (1979), S. 145–159, hier S. 148. 17 Reimarus: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 4). 18 1756, 1758 und 1766 (»verbesserte und zu Vorlesungen eingerichtete Auflage«); nach Reimarus’ Tod lässt sie sein Sohn Johann Albert Hinrich 1782 und 1790 erneut publizieren. 19 Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet von Hermann Samuel Reimarus. ND der dritten verbesserten und stark vermehrten Auflage Hamburg 1766. Hg. von Günter Gawlick. 2 Bde. Göttingen 1985. Erste Aufl. Hamburg 1754; ders.: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe: Zum Erkenntniß des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst, vorgestellet von Hermann Samuel Reimarus, Professor in Hamburg und Mitgliede der kaiserlichen Academie der Wissenschaften in St. Petersburg. Zweyte Ausgabe, welche mit einem Anhange vermehret worden. Hamburg, bey Johann Carl Bohn. 1762. 20 Zeugenschaft wird im Folgenden nicht als philosophischer Begriff, sondern als eine »soziale Praxis« verstanden. Vgl. Sibylle Schmidt: Zeugenschaft. Ethische und politische Dimensionen. Frankfurt a. M. 2009, S. 7. Reimarus’ Zeugenlehre findet sich in Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 12), 1. Aufl., II. 1. §§ 169–174 (S. 280–318); sowie ebd., 3. Aufl., II. 1. §§ 239–258 (S. 231–278). 21 In vergleichender religionswissenschaftlicher Perspektive plädiert gegenwärtig z. B. von Brück für eine »selbstkritische Hermeneutik […], die die Methoden ihrer Verstehensprozesse als gegenseitig abhängige Faktoren im Prozeß der Geschichtsbildung der Religion(en) selbst begreift, und diese Methode nenne ich historische Hermeneutik« (Michael von Brück: Einführung in den Buddhismus. Frankfurt a. M., Leipzig 2007, S. 15).

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2 Zur Geschichte der Hermeneutik mit Rücksicht auf die hermeneutica sacra Davon, dass die »Hermeneutik« erst im 20. Jahrhundert eine »einigermaßen klar umrissene Bedeutung«22 erlangt habe, kann keine Rede sein. Bereits Platon und Aristoteles entwickeln an Ontologie bzw. Logik orientierte Lehren des Bedeutens. Platon stellt in fünf Schritten den vorgeblich vollständigen – auch sprachlich vermittelten – geistigen Erkenntnisprozeß dar:23 Zunächst werde der Name lautlich vernehmbar ausgesprochen; in einem zweiten Schritt werde sodann die im weiteren Sinne sprachliche, aus Nenn- und Aussagewörtern kombinierte Begriffsbestimmung (z. B. eine geometrische Definition) vollzogen. Gleichwohl wird im klassischen Griechenland bereits das Aussagen als solches als ein Interpretieren (ἑρμηνεύειν) verstanden. Gemäß Aristoteles transformiert die Aussage ein innerlich Gedachtes in geäußerte Sprache. Die Auslegung des Gesprochenen erfordert den umgekehrten Weg von der Äußerung zur gedachten Aussageabsicht: »Das ἑρμηνεύειν erweist sich also durchaus als ein Vorgang der Sinnvermittlung, die vom Äußeren auf ein Inneres von Sinn zurückgeht.«24 Aristoteles’ oben angesprochene logisch-semantische Schrift Περὶ ἑρμενείας (De interpretatione) handelt von der Möglichkeit, wahre oder falsche Aussagesätze zu bilden, d. h. von einer Äußerungsform in ihrer Verbindung von Begriffen, die ihrerseits schon Wahres oder Falsches enthalten (πρότασις; enuntiatio). Streng genommen ist also in Aristoteles’ Organon II die Hermeneutik als eine Auslegungskunst im bislang verstandenen Sinne nicht thematisch, geht es ihr doch um das Urteil, genauer: um die richtige Beurteilung des Inhalts und der Tragweite von Sätzen (›S est P‹). In dieser Perspektive bildet Aristoteles’ Lehre vom Verstehen eine Teildisziplin der Logik. In der Alten Kirche wandelt sich die Hermeneutik allmählich zu einer eigenen Disziplin und tritt neben die Exegese als selbständige Kunst der Bibelkommentierung. Origines versteht Hermeneutik als auch philosophische Fragen berücksichtigende Schriftauslegung. Indem er die Verbindung zur Heiligen Schrift lockert, öffnet

|| 22 Peter J. Brenner: Hermeneutik/Interpretation/Verstehen. In: Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen. Hg. von Helmut Reinalter und Peter J. Brenner. Wien, Köln, Weimar 2011, S. 314–322, hier S. 314. 23 »Erst wenn durch fleißige gegenseitige Vergleichung Namen, definierende Beschreibungen mittels der Sprache, sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in Beziehung auf ihre Aussagen vom Wesen der Dinge in leidenschaftslosen Belehrungen berichtigt werden, und wenn wir hierbei ohne leidenschaftliche Rechthabereien die rechte dialektische Methode anwenden, dann erst geht uns das Licht der rein geistigen Wahrnehmung und der reinen Vernunftauffassung des inneren Wesens der Dinge auf« (Platon: Siebter Brief. In: Platon. Werke in acht Bänden. Hg. von Gunther Eigler. Darmstadt 42005, Bd. 5, 342aff.; 344b). 24 Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik. Darmstadt 22001, S. 37.

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er fortan sowohl allegorischen Interpretationen (»aliud dicitur, aliud significatur«) als auch philosophisch-mystischen Spekulationen die Tür.25 Aufgrund der Überzeugung, dass sowohl der Bibel als auch den Texten der klassischen Antike ein besonderer Wahrheitsgehalt innewohnt, den es freizulegen gilt, stellt sich die Hermeneutik um das Jahr 1500 der Aufgabe, Methodenregeln für die korrekte Auslegung theologischer und zentraler antiker Texte anzugeben. In der Patristik entwickelt sich die Bibelauslegung sodann zu einer eigenständigen Disziplin, von deren Methoden die speziellen Philologien der Folgezeit stark profitieren. Das Alte Testament ist in Hebräisch, das Neue Testament sowie die sog. humanistische Literatur in Griechisch abgefasst – das zu vermittelnde Fremde ist hier augenfällig: für ein gelungenes Verstehen ist eine Kluft zu überbrücken, die Texte sind zu übersetzen – für Rosenzweig ein »bewußtes Hinübertragen des Fremden als eines Fremden ins Eigene«.26 Ein zusätzlicher Bereich der Hermeneutik ist der juristische. Gerade auf diesem Gebiet zeigt sich der Stellenwert der Praxis: nämlich in der Suche nach einer Methode zur verständigen Auslegung der Gesetzestexte des römischen Rechts. Eine erste hermeneutische Wende vollzieht sich mit Martin Luther, d. h. mit dem Einsetzen einer neuzeitlichen biblischen Hermeneutik. Das Prinzip sola scriptura27 fordert, den Text der Bibel aus sich selbst heraus zu verstehen, der Primat der Schrift tritt in neuer Form hervor. Vorausgeschickt sei, dass Reimarus’ Religionsauffassung nicht nur im Widerspruch zum protestantisch-reformatorischen Grundsatz der sola scriptura steht, sondern auch zu der in der römisch-katholischen Kirche vertretenen Lehre der apostolischen Tradition, gemäß welcher zusätzlich zu den Schriften eine tradierte Interpretation, zu der allein die (katholische) Kirche legitimiert sei, angesetzt wird. Das 17. und 18. Jahrhundert schließlich stehen im Zeichen der Bemühungen, die Hermeneutik methodologisch zu fundieren. Die Vor-

|| 25 Siehe: ΟΡΙΓΕΝΥΣ: ΠΕΡΙ ΑΡΧΩΝ ΤΟΜΟΙ Δ. / ORIGINIS DE PRINCIPIIS LIBRI IV. Ediderunt, transtulerunt, adnotationibus criticis et exegeticis instruxerunt Herwig Görgemanns et Heinrich Karpp. / Origines: Vier Bücher von den Prinzipien. Hg. von Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp. Darmstadt 1976, S. 22–25. »Die allegorische Exegese bildet von der Antike bis über die Reformationszeit hinaus eine Hauptform der Auslegung der Heiligen Schrift und ist daher historisch und sachlich zunächst der christlichen Bibelhermeneutik zuzuordnen, hat aber auch Vorläufer in der heidnischen Antike und der hellenistisch-jüdischen Geisteswelt« (Heinz Meyer: Schriftsinn, mehrfacher. In: HWPh 8, Sp. 1431–1439, hier S. 1431). 26 Franz Rosenzweig: Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel. In: ders.: Die Schrift. Aufsätze, Übertragungen und Briefe. Hg. von Karl Thieme. Königstein/Ts. 1984, S. 9–12, hier S. 9. 27 Siehe Martin Luther: Wahrheitsbekräftigung aller Artikel Martin Luthers, die von der jüngsten Bulle Leos X. verdammt worden sind (= D. Martin Luthers Werke. WA 7). Weimar 1897, S. 98 (Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum. 1521). Reimarus positioniert sich hier wie folgt: »Wir Protestanten nehmen nichts zum Principio credendorum an, als die Schrifft. Aber, daß die Schrifft Schrifft sey, wissen wir doch nicht aus der Schrifft selbst, sondern aus menschlichen Meynungen von diesen Büchern« (Reimarus: Apologie [s. Anm. 3], Bd. 2, VI. 3. § 2 [S. 568]).

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stöße dieser Zeit verbindet, dass sie die Hermeneutik entweder als Methode in philologischer Hinsicht zu begründen oder eine Brücke zu dem praktisch-empirischen und historischen Wissen zu schlagen suchen: »eine neue Hermeneutik«.28 Schon bald wendet sich als Teil dieser Entwicklung die theologische Hermeneutik der frühen Aufklärung gegen die Lehre von der Verbalinspiration in dem Interesse, allgemeine Regeln des Verstehens zu entwickeln. Daher findet in dieser Zeit die historische Bibelkritik eine erstmalige hermeneutische Legitimation. Die methodologischen Revolutionierungen innerhalb der theologischen Hermeneutik greifen derart tief, dass sich die Hermeneutik nunmehr zu einer universalen Wissenschaft (hermeneutica universalis) ausweitet, so z. B. bei dem Wolffianer Georg Friedrich Meier.29 1757 skizziert Meier in seiner Schrift Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst diese in § 1 wie folgt: Die Auslegungskunst im weiteren Verstande […] ist die Wissenschaft der Regeln, durch deren Beobachtung die Bedeutungen aus ihren Zeichen können erkannt werden; die Auslegungskunst im engeren Verstande […] ist die Wissenschaft der Regeln, die man beobachten muß, wenn man den Sinn der Rede erkennen, und denselben andern vortragen will.30

Hermeneutik, wird sie wissenschaftlich betrieben, vollziehe sich nach »Regeln« – ein Begriff, der sich, wie zu sehen sein wird, nicht nur im Untertitel der Vernunftlehre des Reimarus findet. Der Begriff der Regel betont hier schon den Allgemeinheitscharakter, um den es fortan geht: nicht um Naturgesetze, Rechtsgesetze oder religiöse Gebote also, sondern um allgemeine Bestimmungen oder Anleitungen, die diesem Anspruch nach voraussetzungslos befolgt werden können. Mit Blick auf das im Titel des vorliegenden Beitrags genannte Element ›Zeugenschaft‹ werden wir auch bei dem Wittenberger evangelischen Theologen und Historiker Johann Martin Chladni alias Chladenius fündig. 1742 führt Chladenius mit dem »Sehepunkt« des Interpreten einen Aspekt in die hermeneutische Theorie ein, der in vielerlei Hinsicht aktuell geblieben ist. Er bemerkt: »Diejenigen Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer ganzen Person, welche machen oder Ursache sind, dass wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den SehePunckt nennen.« Geprägt habe den Ausdruck »Sehepunkt« Chladenius zufolge

|| 28 Vgl. hierzu Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1994; siehe darin auch Oliver R. Scholz: Zeittafel zur Geschichte der allgemeinen Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert. 29 Diese Tendenz findet sich heute in der Theologie, welche die universale Hermeneutik für ihre Zwecke dienstbar macht, z. B. bei dem kanadischen Philosophen Zimmermann, der in der Gefolgschaft Bonhoeffers eine inkarnatorische Hermeneutik zu restituieren sucht. Jens Zimmermann: Theologische Hermeneutik. Ein trinitarisch-christologischer Entwurf. Freiburg, Basel, Wien 2008. 30 Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Hg. von Axel Bühler und Luigi Cataldi Madonna. Hamburg 1996 (ND 1965; Originalausgabe 1757; Hervorhebungen H.G.).

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Leibniz, der so den unaufhebbaren Perspektivismus der Monaden festschreibe.31 Erst die Berücksichtigung dieses Sehepunktes ermögliche ›Objektivität‹, denn nur dadurch ergebe sich die Möglichkeit, die, so Chladenius, individuellen »Abwechselungen, die die Menschen von einer Sache haben«, angemessen zu berücksichtigen. Chladenius geht es also um das richtige Verständnis durch Rückführung auf den sie leitenden Blickwinkel, wie wir heute sagen würden. Ein isolierter Sprachobjektivismus, der den Sehepunkt vernachlässigen würde, ginge an den Sachen vollkommen vorbei. Dies kann als Grundlehre der universalen Hermeneutik gelten.32 Meier und Chladenius behandeln die Auslegungskunst noch im Rahmen von ihr eigens gewidmeten Werken, nachdem diese Wissenschaft zuvor, wie auch noch bei Reimarus, zumeist innerhalb der Logik, d. h. der Vernunftlehre, abgehandelt wird,33 so z. B. bei Johannes Clauberg,34 Christian Thomasius35 und Christian Wolff (bei diesem allerdings eher als Initiator36). Da Meier die Auslegungskunst in die Nähe

|| 31 Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. Leipzig 1742 (ND 1969). Zitiert nach Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik (s. Anm. 24), S. 85. Zu Chladenius’ Hinweis vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Les principes de la philosophie ou la Monadologie. In: ders.: Philosophische Schriften. Bd. 1: Kleine Schriften zur Metaphysik. Hg. von Hans Heinz Holz. Frankfurt a. M. 1965, § 57. 32 Vgl. Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik (s. Anm. 24), S. 86. Vgl. Auszüge von Chladenius in deutscher Übersetzung in Kęstutis Daugirdas: Johann Martin Chladenius: Die allgemeine Hermeneutik und ihre Anwendung auf Geschichte. In: Studienbuch Hermeneutik. Bibelauslegung durch die Jahrhunderte als Lernfeld der Textinterpretation. Portraits – Modelle – Quellentexte (mit CD-Rom). Hg. von Susanne Luther und Ruben Zimmermann. Gütersloh 2014, S. 217–222. Chladenius gilt heute vielfach als Begründer der modernen Geschichtswissenschaft; das ist m. E. zu hoch gegriffen. In seiner »Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften« entwickelt er vielmehr allgemeine Regeln für die Interpretation historischer und dogmatischer (Lehr-)Schriften. Zu Chladenius siehe auch Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 1. Tübingen 1990, S. 186ff. 33 Hierzu immer noch einschlägig Norbert Hinske: Reimarus zwischen Wolff und Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der Vernunftlehre von Hermann Samuel Reimarus. In: Logik im Zeitalter der Aufklärung (s. Anm. 14), S. 9–32. 34 Im dritten Teil seiner Logik: Johannes Clauberg: Logica vetus et nova. Amsterdam 1654; 21658. 35 Christian Thomasius: Introductio ad philosophiam aulicam. Leipzig 1688, S. 213 (Klage über die Auslassung der Hermeneutik in den logischen Abhandlungen); ders.: Ausübung der VernunfftLehre. Halle 1691 (Kap. »Von der Geschickligkeit die von andern vorgelegte Warheit oder Irrthümer zu begreiffen und verstehen«). Zum Thema siehe Axel Bühler und Luigi Cataldi Madonna: Von Thomasius bis Semler. Entwicklungslinien der Hermeneutik in Halle. In: Aufklärung 8.2 (1994), S. 49–70; Lutz Danneberg: Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neuere Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 1997, S. 253–316. 36 Einen kundigen Überblick gibt Hanns-Peter Neumann: Hermeneutik im Wolffianismus. In: Hermeneutik, Methodenlehre und Exegese. Zur Theorie der Interpretation in der Frühen Neuzeit. Hg. von Günter Frank und Stephan Meier-Oeser. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 379–421. Siehe

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derjenigen Wissensform rückt, die heute als Semiotik bezeichnet wird,37 und Chladenius besonders die Rolle der sog. »unteren Erkenntnisvermögen« betont,38 könnte gesagt werden, dass ihre Konzeptionen einerseits über den Rationalismus der Aufklärung hinausreichen; andererseits jedoch sind ihre Ansprüche auf strenge Systematizität, die Orientierung an Wissenschaftlichkeit sowie die Voraussetzung eines primär rational verfahrenden Autors typische Ausdrucksformen allgemein aufklärerischer Hypothesen. Dass solche dem Rationalitätsbegriff der Epoche der Aufklärung verpflichteten hermeneutischen Ansätze schon wenig später unterrepräsentiert bzw. vollständig vergessen scheinen, geht auf die Wirkung Kants zurück. In Kants Unterscheidung zwischen Erscheinungen (»Phaenomena«) und Dingen an sich (»Noumena« oder »Intelligibilia«),39 wie sie sich im menschlichen Erkenntnisapparat als Zusammenspiel von rezeptiver Sinnlichkeit und spontaner Verstandestätigkeit durch synthetisierende Prozesse nach Schemata und Prinzipien realisieren, liege, so Jean Grondin, »eine der geheimen Wurzeln der Romantik und des Aufschwungs, der der Hermeneutik seitdem widerfahren ist«40 – eines freilich stark modifizierten Begriffs von Hermeneutik, wie zu betonen ist. Mit der durch Kant geförderten Einsicht in die vorgeblichen »Grenzen« der menschlichen Erkenntnisfähigkeit stellt sich für die Hermeneutik seit dem 19. Jahrhundert v. a. das Problem der geschichtlichen Gebundenheit menschlichen Denkens und Verstehens. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher reagiert auf die durch Kant bewirkte fundamentale Verunsicherung, wie sie in Bezug auf die Unmöglichkeit eines widerspruchslosen Verstandesgebrauchs sowie die Behauptung der Insuffizienz der theoretischen Vernunft eingetreten ist: deren Verstehensanstrengungen würden seit || auch Luigi Cataldi Madonna: Die Vernunft als Grundlage des Glaubens. In: Aufklärung 23 (2011), S. 41–56, hier S. 51–56. 37 Das erste – freilich der Medizin, genauer: der Pathologie gewidmete – Handbuch der Semiotik gibt Kurt Sprengels bereits 1801 in Halle zum Druck; eine neue Auflage erscheint 1815 in Wien. Allgemeinen zur Semiotik Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. Stuttgart 1985; Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M. 1977. 38 Vgl. hierzu Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica / Metaphysik. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, §§ 519– 533. Kant kennt ein »niederes« Erkenntnisvermögen (Sinnlichkeit, bestehend aus sinnlicher Rezeptivität und Einbildungskraft) und »obere« Erkenntnisvermögen. Es sei anzunehmen, »daß die obere Erkenntniskraft schlechthin nur auf dem Vermögen zu urteilen beruhe«. Die »oberen Erkenntnisvermögen« sind Verstand, Urteilskraft und Vernunft; aus ihnen entspringen bezugsabhängige Begriffe, Urteile und Schlüsse. Siehe Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: AA VII, S. 117–133, § 40. Wenn Kant den Tieren ein »oberes« Erkenntnisvermögen abspricht, weil sie nicht urteilten und daher keine deutlichen Begriffe hätten, widmet im Unterschied dazu Reimarus bekanntlich ein ganzes Werk Themen dieses von Kant ausgesonderten Umkreises. Siehe Immanuel Kant: Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren. In: AA II, S. 45–61, hier 58ff. 39 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: AA III, S. 202–214 (B 294–315). Die angesprochene Unterscheidung tritt in der ersten Auflage deutlicher zu Tage (AA IV, S. 155–168 [A 249–253]). 40 Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik (s. Anm. 24), S. 100.

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Kant prinzipiell als begrenzt, perspektivisch und hypothetisch angesehen. Daher betont Schleiermacher: Das Geschäft der Hermeneutik darf nicht erst da anfangen, wo das Verständniß unsicher wird, sondern vom ersten Anfang des Unternehmens an, eine Rede verstehen zu wollen. Denn das Verständniß wird gewöhnlich erst unsicher, weil es schon früher vernachlässigt worden. Das Ziel der Hermeneutik ist das Verstehn im höchsten Sinne.

Schleiermacher, der Hermeneutik als die »Kunst, sich in den Besitz aller Bedingungen des Verstehens zu setzen«41 und damit als Technik der im hehren Sinne richtigen Auslegung fasst, will deshalb Vorkehrungen gegen ein mögliches Mißverstehen treffen: Der einzelne Gedanke solle aus dem Ganzen des Lebenszusammenhangs, dem er entspringt, gedeutet werden. Das im 18. Jahrhundert noch nicht hinreichend deutlich, im 19. dafür um so genauer austarierte Verhältnis von Hermeneutik und Kritik verbindet sich bei dem Schleiermacher-Schüler August Boeckh in seinen Vorlesungen über Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften42 mit einem neuartigen erkenntnistheoretischen Anspruch. Das Verstehen, so Boeckh, sei eine eigene Form der Erkenntnis, die Individuelles auf intuitive Weise erfasse. Die Aufgabe der Philologie bestimmt Boeckh als das »Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d. h. des Erkannten«.43 Dieser auf Rekonstruktion und Reproduktion basierende Verstehensbegriff bedürfe jedoch einer Methode, und diese bilde den »formalen Theil der Encyklopädie«, den Boeckh wiederum – und daher findet er hier Erwähnung – in Hermeneutik und Kritik unterteilt. Beide zusammen bilden die »Theorie des Erkennens vom Erkennen, d. h. des Verstehens«.44 Da die Grundsätze des Verstehens oder der Hermeneutik universal, d. h. auf alle speziellen Wissensgebiete anwendbar sind, entfällt für Boeckh die Unterscheidung von hermeneutica sacra und hermeneutica profana. Während sich Paläographen lediglich mit der Entzifferung von Schrift und der reine Grammatiker ausschließlich mit Sprache(n) befassen, geht es dem Philologen um die Erkenntnis des Wissens, das in dem durch Sprache Mitgeteilten liegt. Wesentlich für das Verständnis und die Auslegung ist das Bewusstsein davon, wodurch Sinn und Bedeutung des Mitgeteilten bedingt und bestimmt wird. Das Mitteilungsmittel ist die Sprache, deren Erklärung damit zum Zentrum der Auslegung wird. Boeckh unterschiedet vier Interpretationsformen:

|| 41 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Die allgemeine Hermeneutik (1809/10). In: ders.: Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Günter Meckenstock u. a. Zweite Abteilung. Vorlesungen. Bd. 4. Berlin, Boston 2012, S. 1271f. 42 August Boeckh: Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Hg. von Ernst Bratuschek. Leipzig 1877. 43 Ebd., S. 10. 44 Ebd., S. 33.

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I. Verstehen aus den objektiven Bedingungen des Mitgeteilten: a) aus dem Wortsinn an sich – grammatische Interpretation. b) aus dem Wortsinn in Beziehung auf reale Verhältnisse – historische Interpretation. c) aus dem Subjekt an sich – individuelle Interpretation. d) aus dem Subjekt in Beziehung auf subjektive Verhältnisse, die in Zweck und Richtung liegen – generische Interpretation.45 Es wird sich zeigen, dass schon für Reimarus diese vier Formen von grundlegender Bedeutung sind.46 Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat die Hermeneutik im Sinne einer Auslegungswissenschaft keine Bedeutung mehr, innerhalb der Phänomenologie des Geistes (1809) tritt an ihre Stelle die Bildungsgeschichte des Geistes, der in dieser seiner eigenen Geschichte »Erfahrungen« mit sich und auf diese Weise Bewusstsein über sich selbst erlangt47 – eine »Anwendung«, die aus Sicht Hans-Georg Gadamers »dem hermeneutischen Bewußtsein nicht gerecht wird.«48 Auch den religiösen Begriff der Offenbarung – eines theologiekritischen Kardinalthemas des Reimarus also – transformiert Hegel, und zwar in den philosophisch-spekulativen Begriff der »Manifestation«.49 Dies ändert aber nichts daran, dass noch Wilhelm Dilthey die Hermeneutik

|| 45 Vgl. ebd., S. 83. Siehe hierzu insbesondere Günther Pflug: Hermeneutik und Kritik. August Boeckh in der Tradition des Begriffspaars. In: Archiv für Begriffsgeschichte 19 (1975), S. 138–196. 46 Vgl. hierzu Gotthold Ephraim Lessing: AXIOMATA, oder wenn es deren in dergleichen Dingen gibt, X. In: LW 8, S. 149–159. Siehe hierzu insgesamt Christoph Bultmann, Friedrich Vollhardt (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Berlin, New York 2011. 47 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hg. von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 9. Hamburg 1980, S. 53–62 (Einleitung), S. 264–286. 48 Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 1. Tübingen 1990, S. 361. 49 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hg. von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas. In: ders.: Gesammelte Werke (s. Anm. 47). Bd. 20. Hamburg 1992, § 384; »[…] zu wissen, d. i. schlechthin manifestirt zu seyn« (ebd., § 386). Auch wenn Selbstkonstitution schon in Hegels Wesenslogik thematisch ist, werde »absolute Identität« sich selbst erst durchsichtig in »absoluter Negativität«: »[I]ndem sie durch das Moment der absoluten Negativität sich setzt, wird sie manifestirte oder gesetzte Identität, und damit die Freyheit, welche die Identität des Begriffs ist«. Im Bereich der Begriffslogik geht es Hegel darum, besagtes Vorinterpretiertsein auch rückwirkend als das Sichselbstmanifestieren des Begriffs aufzuweisen (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band: Die subjektive Logik [1816]. Hg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke. In: ders.: Gesammelte Werke [s. Anm. 47]. Bd. 12. Hamburg 1981, S. 15). Nach Hegel bestimmt sich auch schon seinslogisch die »Negation der Negation« als »absolute Negativität« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik. Erster Band: Die Lehre vom Sein [1832]. Hg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke. In: ders.: Gesammelte Werke [s. Anm. 47]. Bd. 21. Hamburg 1985, S. 103).

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als »Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen«50 bestimmt – obgleich seine eigenen Arbeiten dieser Maxime durchaus nicht entsprechen. Reimarus’ auf die Bewertung des sog. Zeugnisses anderer und des daraus entstehenden Glaubens51 bezogene Regelsammlung umgreift nicht nur mögliche Formen des Textverstehens – zu denken ist hier insbesondere an die bibelkritischen Analysen der Apologie –, sondern mehr noch elementare erkenntniskritische Aspekte die Mitteilungen anderer betreffend, wie sie in den drei Fassungen der Vernunftlehre abgehandelt werden. So gesehen nährt sich Reimarus’ Erkenntnisinteresse, wie des Weiteren näher zu erörtern sein wird, durchaus an einer universalistisch verfassten Hermeneutik,52 wie sie bis heute ausgehend insbesondere von Heidegger und Gadamer in z. T. sehr unterschiedlichen Varianten betrieben wird.53 Dass der Erkennende und das Erkannte beide historisch vermittelt sind, gilt noch für Gadamer nicht nur als Schranke der Wissenschaft, sondern auch als notwendige Bedingung, Gewesenes überhaupt vergegenwärtigen zu können. Steht noch im Mittelalter das sinnkonforme Auslegen der Bibel im Mittelpunkt, geht es ihm hingegen um menschliche Welt-Erfahrung insgesamt: um jedwedes menschliche Sein, welches nicht nur als ontisches Faktum, sondern auch in seiner historischen Dimension verstanden wird. Damit hat sich der allgemeine Anspruch moderner Hermeneutik, als Kunst des Verstehens zu fungieren, über das Konzipieren von Methoden zu einer Phänomenologie des Verstehens gewandelt mit dem Ziel, sich den Wahrheiten von Wissenschaft und Lebenspraxis anzunähern. Indem Wissen als ein begrenztes anerkannt wird, wird zugleich Wahrheit als Sinnverstehen des Menschlichen gegen beliebig repetierbare Methoden abgegrenzt.

|| 50 Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik (1900). In: ders.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Gesammelte Schriften. Bd. 5. Göttingen 81990, S. 317–338, hier S. 320. 51 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 12), 1. Aufl., § 169 (S. 280–282). 52 Siehe hierzu den Artikel zur Allgemeinen Hermeneutik von Lutz Geldsetzer: https://www.philfak.uni-duesseldorf.de/philo/geldsetzer/herm.htm; zuletzt eingesehen 14.05.2021. Siehe zudem Werner Alexander: Hermeneutica Generalis. Zur Konzeption und Entwicklung der allgemeinen Verstehenslehre im 17. und 18. Jahrhundert. Stuttgart 1993. 53 Siehe Jung: Hermeneutik zur Einführung (s. Anm. 2), S. 136–172.

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3 Reimarus’ kritische Hermeneutik Wer noch mit Vorurtheilen seiner väterlichen Religion eingenommen, und nicht gantz gleichgültig ist, was auch für ein Endurtheil aus seiner Untersuchung herauskomme, sondern bey sich selbst einen Hang und Wunsch spührt, daß er seine väterliche Religion wahr finden möge, der ist zu einer aufrichtigen Untersuchung nicht geschickt, und wird sich nur selbst betriegen. Apologie I, 1. Cap., § 6 Ob der vermeynte Zeuge eben die Person sey, welche die Nachricht gegeben? das gehöret für die Critik. Vernunftlehre (1766), § 240

3.1 Kritik, Logik und Wissenschaft bei Reimarus Reimarus’ Schriften changieren zwischen Philologie, Philosophiehistorie, Physikotheologie54 und bibelkritischer Hermeneutik. Indem Reimarus nicht nur die Bücher des Alten, sondern auch des Neuen Testaments, also beide: sowohl die jüdische als auch die christliche Bibel, nach Wahrheit und Falschheit, d. h. in Ausrichtung am »menschlichen« Urteil der »gesunden« Vernunft, prüft, unterscheidet er sich von früheren Exegeten, die wie auch er zunächst noch die Perspektive der lutherischen Orthodoxie einnehmen. Auch wenn der Begriff der Kritik sich nicht im Sachregister der Vernunftlehre anfindet, durchwirkt er dennoch den Denkstil und das thematische Anliegen des Reimarus entscheidend. Die rezeptionsgeschichtliche Aktualisierung seiner theologiekritischen Intention verdankt sich bekanntlich David Friedrich Strauß’ Monografie über die Schutzschrift.55 Mit der objektiven Betrugsthese56 trägt Strauß eine Kritik an einem zentralen Lehrstück reimarischer Bibelkritik vor.

|| 54 Angesprochen ist Reimarus’ Theorie zum tierischen Instinktverhalten, die in ihren wissenschaftlich haltbaren Teilen heute wohl der vergleichenden Verhaltensforschung zugerechnet würde. Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe: Zum Erkenntniß des Zusammenhangs der Welt, des Schöpfers und unser selbst. Hamburg 1760 (Zweyte Ausgabe, welche mit einem Anhange vermehret worden. Hamburg 1762; 41798; ND 1982). 55 David Friedrich Strauß: Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Leipzig 1861 (die Titelseite trägt das Datum 1862; ND Hildesheim 1991). Rezeptionsgeschichtlich bedeutsam zudem Albert Schweitzer: Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Tübingen 1906 (2. Aufl. unter dem Titel: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Tübingen 1913). Am Ende dieser Entwicklung steht Ernst Käsemann: Das Problem des historischen Jesus. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 51.2 (1954), S. 125–153. Vgl. hierzu Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 1, S. 18f. 56 Die Erklärung des Urchristentums aus einem Jüngerbetrug findet bald Widerspruch. Siehe hierzu z. B. Gerd Theißen und Annette Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch. Göttingen 42011, S. 22f.

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Reimarus’ eigener kritischer Diskurs zwecks Generierung eines positiven Destruktionsresultats: die These einer »natürlichen Religion«,57 weist ihn zum unbestritten besten Bibelkenner seiner Zeit aus.58 Gleichwohl verfestigt sich im Zuge der langjährigen und unbemerkten Abfassung der Schutzschrift in Reimarus die Einsicht, sich außerhalb des hermeneutischen Kanons seiner Zeit zu bewegen; auch über Konsequenzen seiner Untersuchungsergebnisse, würden sie eines Tages ans Licht kommen, ist er sich vollends im Klaren. Noch Lessing, der freilich selbst keine Auslegungslehre ausarbeitet,59 weil er die subjektive Erfahrung, nicht aber die stets ungewisse und für Beweisführungen ungeeignete Historie60 als sicheres Fundament der Religion ausgibt und demgemäß die Bibel von der Religion getrennt wissen will, hält Zurückhaltung für geboten: »Die Schrift mag im Verborgenen, zum Gebrauch verständiger Freunde, liegen bleiben; mit meinem Willen soll sie nicht durch den Druck gemein gemacht werden, bevor sich die Zeiten mehr aufklären.«61 Selbstverständlich intendiert auch Reimarus nicht, noch einmal für die Bibel als Bezugs- oder zukünftigen Referenztext zu werben. Im praktischen Teil der Logik der Vernunftlehre, d. h. im zweiten, ausübenden Teil, wie Reimarus ihn nennt,62 wird im dortigen ersten Kapitel das Thema »Von der Erfahrung, Wissenschaft und Glauben« abgehandelt. Erst hier werden die leitenden methodischen Standards der Bibelkritik, wie sie in der schon früher begonnenen Apologie zur Ausführung gelangen, begrifflich eingeholt. Insbesondere besagter praktischer Teil der reimarischen Logik fußt auf ausführlichen Quellenstudien. Böhling verweist auf »A. Rüdigers hermeneutische Methode, die er in De sensu veri

|| 57 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 19) erscheinen 1754, die 3. Aufl. letzter Hand 1766. 58 Gawlick: Reimarus und der englische Deismus (s. Anm. 10), S. 48f. Die Apologie bietet erheblich mehr bibelwissenschaftliches Material als die von Lessing mitgeteilten Fragmente. 59 »Als ob die innere Wahrheit eine Probe noch brauchte! Als ob nicht vielmehr die innere Wahrheit die Probe der hermeneutischen sein müßte! […] Woher die innere Wahrheit nehmen? Aus ihr selbst. […] die Wahrheit, die keiner Beglaubigung von außen bedarf. […] Jeder hat seine eigene Hermeneutik. Welches ist die wahre?« (Lessing: AXIOMATA X [s. Anm. 46], S. 150–152). Vgl. Spinoza: Ethica / Ethik. Hg. von Konrad Blumenstock. In: ders.: Opera / Werke. Lateinisch und Deutsch. Bd. 2. Darmstadt 41989, Pars II, Prop. 43. 60 Vgl. Lessing: AXIOMATA X (s. Anm. 46), S. 155. 61 Lessing: Anti-Goeze VII (s. Anm. 46), S. 244–249, hier S. 248. Bezogen auf die exegetische Praxis ergebe sich daher die Neutralisierung der Differenz von Inspiration und Historizität: »Wollte man mich noch weiter verfolgen und sagen, ›O doch! das ist mehr als historisch gewiß; denn inspirierte Geschichtsschreiber versichern es, die nicht irren können‹: So ist auch das, leider, nur historisch gewiß; daß diese Geschichtsschreiber inspiriert waren, und nicht irren konnten. Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüber helfen, der tu es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdienet einen Gotteslohn an mir« (Lessing: Über den Beweis des Geistes und der Kraft [s. Anm. 46], S. 13). 62 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 12), 2. Aufl., § 212.

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et falsi (1722) entwickelt hat und die sich in einer ausgefeilten Zeugenlogik niederschlägt, welche auch zur Bibelkritik verwendet werden kann, wie die Apologie […] zeigt.«63 Lötzsch erkennt in diesem grundlegenden Lehrstück »das hermeneutischmethodische Rüstzeug für die spätere ›Schutzschrift‹«.64 Wie gesagt wird Reimarus seine eigene Zeugenlehre aber bestenfalls zur gleichen, sehr wahrscheinlich jedoch erst in späterer Zeit ausgearbeitet haben, nämlich in seiner Vernunftlehre. Unter »Wissenschaft« versteht Reimarus »eine Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten, die aus unleugbaren allgemeinen Grundsätzen durch unzertrennbare Verbindung der Schlüsse bewiesen werden. Sie beruhet also auf die vernünftige Einsicht des Möglichen und Nothwendigen.«65 Reimarus’ Hermeneutik bemisst sich durchweg an der Methode des kritischen Vergleichs: Das Faktum mehrerer einander widerstreitender religiöser Offenbarungen verpflichte zwar zu gewissenhafter vernünftiger Prüfung; die Vernunft könne jedoch unmöglich ihr Widersprechendes oder unzulänglich Begründetes als sich vor ihren Beurteilungsmaßstäben bewährend annehmen und habe bei der Fragwürdigkeit aller anderen Maßstäbe nach dem vernünftigen Gehalt zu urteilen. Vor diesem dezidiert kritischrationalistischen Kriterium erledige sich das in religiöser Offenbarung Behauptete – und damit die Offenbarungstheologie als solche – von selbst. Reimarus prüft also das Verhältnis von Bericht, d. h. die evangelische Überlieferung der Worte Jesu und dessen Taten, und Hergang, d. h. die historischen Tatsachen, soweit sie überhaupt noch rekonstruierbar sind.

3.1.1 Reimarus und Spinoza Eine solche Behandlungsart theologischer Themen hat freilich prominente Vorläufer, zu nennen sind hier der wie Reimarus intensiv mit orientalischen Schriftzeugnissen befasste Richard Simon66 sowie Thomas Hobbes und Baruch de Spinoza, die || 63 Franco Volpi (Hg.): Großes Werklexikon der Philosophie. Bd. 2. Stuttgart 1999, S. 1264 (1. Aufl. der Schrift 1709; dritte Aufl. 1741). Auch Frieder Lötzsch erinnert in seinem »Vorbericht« zu der Edition der Vernunftlehre an diesen problemgeschichtlichen Strang (siehe Reimarus: Vernunftlehre [s. Anm. 12], Bd. 1, S. XI). 64 Lötzsch: Vorbericht (s. Anm. 63), S. XXVII. 65 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 12), 2. Aufl., § 233. 66 Zum Neuen Testament siehe die einleitende Studie Richard Simon: Histoire critique du texte du Nouveau Testament. Rotterdam 1689 (ND Frankfurt a. M. 1968; deutsche Ausgabe: Johann Salomon Semler: Richard Simons Kritische Schriften über das neue Testament. Aus dem Französischen übersetzt von Heinrich Matthias August Cramer. Nebst einer Vorrede und mit Anmerkungen begleitet von D. Johann Salomon Semler. Drei Theile. Halle 1776–1780). Das Werk basiert auf Simons bereits 1678 beendetem wichtigsten, den biblischen Kanon behandelnden Werk Histoire critique du Vieux Testament, das noch im selben Jahr konfisziert wird und erst 1685 in Rotterdam samt einem neuen Vorwort publiziert werden kann. Zu Simon insgesamt Henning Graf Reventlow: Richard Simon

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beide – freilich aus unterschiedlichen Gründen – für ein radikal entsubstantialisiertes Verständnis von Religion streiten.67 In dieser problemgeschichtlichen Linie postuliert auch Reimarus eine Religion der Vernunft, in der ausschließlich die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele sowie die ethischen Prinzipien Jesu Christi zu den unbezweifelbaren Glaubensmaximen gerechnet werden.68 In Orientierung an Wolffs Philosophie sowie als Vertreter der – religionsgeschichtlich gleichwohl nicht sonderlich langlebigen – natürlichen (Vernunft)Religion setzt er sich aber auch gegen Materialismus und Atheismus zur Wehr: Ich brauche es übrigens solchen Atheisten, die sich bloß durch übertriebene Spitzfindigkeit im Denken verirret haben, nicht vorzuhalten, daß sie den natürlichen Neigungen und Begierden der menschlichen Natur entgegen handeln. Sie wissen es selbst, sie fühlen ihre Abweichung von dem Wege der Glückseligkeit, sie beklagen ihren Zustand, sie wünschen oft mit Wehmuth von den denjenigen Wahrheiten überführt zu seyn, welche ihnen eine Ruhe der Seelen, die ihre Natur verlanget, von ferne zeigen.69

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines solchen, ausschließlich dem Irdischen verpflichteten Glückskonzepts sucht Reimarus’ Apologie den biblischen Offenba-

|| (1638–1712). In: Klassiker der Theologie. Zweiter Band: Von Richard Simon bis Dietrich Bonhoeffer. Hg. von Heinrich Fries und Georg Kretschmar. München 1983, S. 9–21. Höchst aufschlussreich zu Semler, der freilich selbst keine Theorie der Hermeneutik erarbeitet Marianne Schröter: Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums. Berlin 2012. Simons Schriften sind nachgewiesen als Bestand der Bibliotheca Reimariana, siehe Johann Anselm Steiger: Der Buchbesitz des Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Zur Morphologie einer Gelehrtenbibliothek zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. In: Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Hg. von Johann Anselm Steiger und Sandra Richter. Berlin 2012, S. 253– 262, hier S. 261 (mit weiteren Dokumentationen in den Anmerkungen). Siehe auch Francesco Saverio Mirri: Richard Simon e il metodo storiocritico de B. Spinoza. Storia di un libro e di una polemica sullo sfondo delle lotte politico-religiose della Francia di Luigi XIV. Firenze 1972. 67 Vgl. hierzu Holger Glinka: Zur Genese autonomer Moral. Eine Problemgeschichte des Verhältnisses von Naturrecht und Religion in der frühen Neuzeit und der Aufklärung. Hamburg 22012, S. 188–190, S. 280–289. 68 »Es ist also ein Gott, und wir können unserer gesunden Vernunft, ohne den Begriff von einem solchen Wesen, nicht einmal in den gemeinsten Erfahrungen von unserm Ursprunge, und der körperlichen leblosen Welt ausser uns, Genüge thun«; »Die Hoffnung, daß unsere Seele, nach diesem Leben, zu einem unendlich dauerhafteren und glückseligern Leben bestimmt sey, gründet sich hauptsächlich auf die göttliche Absicht in der Schöpfung, und auf seine besondere Vorsehung über die Menschen. Wir können zwar aus dem Wesen unserer Seele eine Möglichkeit begreifen, daß sie auch nach dem leiblichen Tode fortdauren, und sich bewußt seyn, folglich leben und glückselig seyn könne; aber die Absicht und Vorsehung unsers Schöpfers kann uns allein die feste Versicherung geben, daß solches auch wirklich geschehen werde« (Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten [s. Anm. 19], Bd. 1, 4. Abh., § 1 [S. 207] bzw. Bd. 2, 10. Abh., § 1 [S. 691]). 69 Ebd., Bd. 2, 10. Abh., § 14 (S. 730).

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rungsglauben samt seiner Wunder zu zersetzen: »Der Zweck der Schöpfung, des einzigen Wunders Gottes, sind die lebenden Wesen und ihre Glückseligkeit.«70 Auch in Spinozas 1670 anonym erschienenem Tractatus theologico-politicus wird auf Basis einer eigens entwickelten Hermeneutik eine Kritik des biblischen Wunderglaubens vorgetragen, die Reimarus quasi erweitert, indem er Jesu politische Sendung durch vorgebliche Wunder diskreditiert sieht.71 In ähnlicher Weise wird auch der Anspruch der Vernunft geltend gemacht, dass nur Vernünftiges, also Mögliches,72 erkenntnistheoretisch akzeptiert werden dürfe. Solche Berichte in der Heiligen Schrift, an denen die Vernunft Anstoß nehme, verlangten, so Spinoza, nach einer natürlichen Erklärung. Gleichwohl beabsichtigten die Autoren der biblischen Bücher nicht, Wissenschaft zu lehren, deshalb dürfe der Unterschied zwischen Vernunft und Glauben nicht aufgehoben werden; Machthaber, die sich hierin versuchen würden, gefährdeten die innere Sicherheit des Staates.73 Das Wort Gottes impliziere lediglich Gottes- und Nächstenliebe, es sei nicht identisch mit der Heiligen Schrift, vermittele diese doch nichts weiter als ein Wissen, das zum Verständnis des göttlichen Liebesgebots erforderlich sei. Anderweitige in der Bibel zu verortende Spekulationen über Gott und die Welt machten nicht den Kern der Offenbarung aus. Der gesamte Inhalt der Schrift sei der menschlichen Auffassungsgabe und Einbildungskraft angepasst, die Wundertaten Jesu, eines in der Sicht gegenwärtiger Theologie charismatischen Heilers und Exorzisten,74 sowie seiner Apostel, von denen v. a. in der Apostelgeschichte ausführlich die Rede ist (apostolisches Zeitalter etwa 30 bis 70), seien deshalb weitgehend metaphorisch zu deuten.75 Die Methode der

|| 70 Philosophen-Lexikon. Handwörterbuch der Philosophie nach Personen. Hg. von Werner Ziegenfuß und Gertrud Jung. Zweiter Band: L–Z. Berlin 1950, S. 331. 71 Vgl. Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 175. Zum Verhältnis von spinozanischer Philosophie und Christentum s. Glinka: Zur Genese autonomer Moral (s. Anm. 67), S. 233–237. 72 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 12), 2. Aufl., § 212; vgl. auch ebd., § 233. 73 S. hierzu Holger Glinka: Der Spielraum der Toleranz und die Dimension der Freiheit. Politik und Philosophie nach Spinoza. In: Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit. Hg. von Michael Multhammer und Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston 2015, S. 217–236. 74 S. z. B. Geza Vermes: Jesus the Jew. A Historian’s Reading of the Gospels. London 1973. 75 Keener, Kritiker der humeschen Wunderkritik, hält fest, dass nach Jesu Tod nicht-Jesus-gläubige Rabbis die Wundertaten Jesu und seiner Jünger zwar bestätigen, sie jedoch oftmals zugleich als schwarze Magie zurückweisen. Thematisch ist hier die nach der Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.) anbrechende Rabbinische Zeit, die sich alsdann zur Hauptströmung des Judentums erweitert und ab ca. 200 n. Chr. maßgeblich Ritus und Theologie prägt. Juden dieser Zeit werfen der christlichen Bewegung nicht selten vor, Jesus sei ein Magier, der Israel zu verführen trachte; das klingt wie die Anerkennung dessen, was die meisten Menschen als Wunder bezeichnen. In Zweifel gezogen wird nicht, dass Jesus spektakuläre, unerklärliche und warmherzige Taten tatsächlich wirke, sondern nur, ob diese Taten von Gott oder nicht vielmehr von Satan kommen. Vgl. Craig S. Keener: Miracles. The Credibility of the New Testament Accounts. 2 Bde. London 2011, Bd. 1, Teil 1.2.f., 2; zur Humekritik: Teil 2.5f.; ergänzend hierzu Paul Rhodes Eddy und Gregory A. Boyd:

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Schrifterklärung möge, so Spinoza, der Methode der Naturerklärung entsprechen, d. h. für den Erkenntnisbegriff sind auch empirische Belege und wissenschaftlich gewonnene Prinzipien anzuerkennen. Texte sollten nach Hinweisen auf ihre Entstehung und Überlieferungsgeschichte befragt, die biblischen Lehren so aus dem geschichtlichen Umkreis ihrer Entstehung heraus verständlich werden. Spinoza erklärt: Ich habe gezeigt, daß die Schrift nichts Philosophisches, sondern allein die Frömmigkeit lehrt und daß ihr ganzer Inhalt der Fassungskraft und den vorgefaßten Meinungen des Volkes angepaßt ist. Wer sie daher der Philosophie anpassen will, der muß natürlich den Propheten vieles andichten, woran sie auch nicht im Traum gedacht haben, und der muß ihre Meinung falsch auslegen. Wer im Gegenteil die Vernunft und die Philosophie zur Magd der Theologie macht, der muß die Vorurteile eines alten Volkes als göttliche Dinge gelten lassen und den Geist durch sie einnehmen und verblenden.76

|| The Jesus Legend. A Case for the Historical Reliability of the Synoptic Jesus Tradition. Grand Rapids, Michigan 2007, S. 105, S. 123–128. 76 »Ostendimus enim Scripturam non res philosophicas, sed solam pietatem docere, et omnia, quae in eadem continentur, ad captum et praeconceptas opiniones vulgi fuisse accommodata. Qui igitur ipsam ad philosophiam accommodare vult, is sanè prophetis multa, quae ne per somnium cogitarunt, affinget, et perperam eorum mentem interpretabitur. Qui autem contra rationem et philosophiam theologiae ancillam facit, is antiqui vulgi praejudicia tanquam res divinas tenetur admittere, et iisdem mentem occupare et obcaecare« (Benedictus de Spinoza: Tractatus theologicopoliticus. In: Benedicti de Spinoza opera quotquot reperta sunt. Recognoverunt J. van Vloten et J. P. N. Land. Editio altera. Tomus Secundus. Hagae comitum MDCCCVC, Cap. XV). Leo Strauss’ Interpretationsthese zu Spinozas Tractatus theologico-politicus koinzidiert mit Reimarus’ Behauptung von »der Zweydeutigkeit der wahren Absichten Jesu« (2. Teil, II. Buch, 1. Cap.), oder wie dieser sagt: »Jesus folgte in seinem Lehramte der Gewohnheit griechischer Weltweisen, welche zweyerlei Lehrlinge, exotericos und esotericos hatten, und dieselben auf verschiedene Weise unterrichteten.« (Reimarus: Apologie [s. Anm. 3], Bd. 2, S. 45). Strauss erkennt in Spinozas Tractatus theologicopoliticus sogar überreiche »Widersprüche[]«. Siehe Leo Strauss: Anleitung zum Studium von Spinozas theologisch-politischem Traktat (1948). In: Texte zur Geschichte des Spinozismus. Hg. von Norbert Altwicker. Darmstadt 1971, S. 300–361, hier 335f.; mit Blick auf »seine Ansichten über theologische Gegenstände« konzidiert er Spinoza zumindest »sehr viel Zurückhaltung« (ebd., S. 325). Kreimendahl plädiert berechtigterweise für eine Abmilderung von Strauss’ These einer im Tractatus theologico-politicus wirksamen exoterischen und einer esoterischen Lehre: »Dies mag für die spezifisch theologischen Kapitel zugestanden werden, obwohl nicht unbeträchtliche Probleme mit einer solchen hermeneutischen Maxime verbunden sind. In den staatsphilosophischen Kapiteln aber schlug Spinoza einen Ton an, wie er für damalige Ohren provokanter kaum sein konnte, und hier gibt es auch keine Widersprüchlichkeiten in dem Sinn, daß Spinoza gegebenenfalls auf andere Textstellen zur Beruhigung der Gemüter hätte verweisen können« (Lothar Kreimendahl: Freiheitsgesetz und höchstes Gut in Spinozas »Theologisch-politischem Traktat«. Hildesheim 1983, S. 52).

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3.2 »Zeugenschaft« als notwendiges Element einer kritischen Hermeneutik nach Reimarus Denn wir sind nicht klug ersonnenen Legenden gefolgt, als wir euch die Macht und Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus wissen ließen, sondern wir sind Augenzeugen seiner herrlichen Majestät gewesen. 2. Petrusbrief 1,16 Und der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr, und er weiß, daß er die Wahrheit sagt, damit ihr glaubt. Joh 19,35 Wenn wir dem Zeugniß Beyfall geben, das ist, glauben: so setzen wir eine fremde Erfahrung in die Stelle unsrer eigenen, und halten sie einerley, das ist eben so wahr und gewiß, als wenn wir das Ding selbst mit eigenen Augen gesehen hätten. Reimarus: Vernunftlehre (1756), § 169

3.2.1 Reimarus über den erkenntnistheoretischen Status des Zeugnisses anderer Die spätestens mit Reimarus einsetzende historisch-kritische Bibelauslegung bestreitet zwar, dass die Evangelien Biografien auf Basis gesicherter Daten vorstellen, sondern vielmehr den Christus des Glaubens bezeugen; dennoch lassen sich unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden, z. B. durch Quellenvergleiche, gesicherte Aussagen über das Leben Jesu treffen. Im Folgenden wird nicht das Zeugnis Jesu selbst interpretiert, das für viele Menschen in den ersten Jahrzehnten des anbrechenden Christentums derartig glaubwürdig erscheint, dass sie das Evangelium annehmen, sie sich also nicht deshalb bekehren, weil sie bereits christlichen Familien entstammen. Der Ausschluss frühchristlicher Schreiber ist in historischer Betrachtung nicht zu rechtfertigen, weil diese Personen die christliche Botschaft auf Grund von Beweisen annehmen und nicht nachträglich nach solchen suchen. Von diesen Beweisen heißt es später bei ihnen selbst, dass sie zu ihrer Bekehrung geführt haben. Entsprechend wird auch in den Evangelien als – unbestritten religiös inspirierte – historische Quellen eine ideologische Zielsetzung verfolgt, vergleichbar mit altertümlichen Biografien. Die Niederschrift von Fakten um einer ›trockenen‹ Chronik willen ist als neuzeitliche Erscheinung anzusehen, formal betrachtet ist sie zur Zeit Jesu undenkbar. Insofern können die Evangelien, insbesondere aber der zweite »Bericht«77 des Arztes Lukas, die Apostelgeschichte, zur Gattung der antiken Monografien gezählt werden. Reimarus macht sich diese Ansicht freilich noch nicht zu eigen, er reflektiert aber, wenngleich abseits des hier thematischen Kontextes, das allgemeine Problem: || 77 Apg 1,1.

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Von den ersten Zeugen kann man nicht alles haben; sondern es giebt viele Dinge in menschlichen Händeln und Begebenheiten, da die, welchen Augenzeugen hätten seyn können, nichts in die Feder fassen; und da wir also genöhtiget sind, den Bericht von Mittelzeugen anzunehmen.78

Wenn Reimarus auf das »Zeugniß Anderer, worauf sich Glauben gründet«, zu sprechen kommt, dann steht für ihn die Unterscheidung zwischen mündlichen und schriftlichen Mitteilungsformen solcher Zeugnisse als Ausdruck gelebter Erfahrung nicht im Vordergrund der Analyse. Gerichtet wird der Fokus dagegen auf Fragen, die 1. die authentische Urheberschaft der fraglichen Mitteilungsform und 2. die Glaubwürdigkeit bzw. Zweifelsfreiheit des Mitgeteilten betreffen. Zu diesem Zweck ermittelt Reimarus Regeln zur Beurteilung der Geschicklichkeit des Zeugen,79 solche zur Beurteilung der Aufrichtigkeit des Zeugen80 und schließlich solche zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit sog. »Mittelzeugen«,81 d. h. nicht der »ersten Zeugen, die ein Ding selbst erfahren«, sondern »die es aus der andern oder dritten Hand haben, […] welche das erste Zeugniß fortpflanzen.«82 Entscheidend für die Einordnung von Reimarus’ hermeneutikgeschichtlicher Bedeutung ist, dass diese Regeln bereits in der Apologie wirksam scheinen; zumindest nennt Reimarus sie dort – wenn auch in anderer Reihenfolge als in der Vernunftlehre – gleich zu Beginn; daher seien sie hier im vollen Wortlaut zitiert: [U]nterdessen kann ich wenigstens allgemeine faßliche und kurtze Regeln zeigen, wonach alle und jede Wahrheit, und so auch [die] aller sogenannten Offenbarungen zu prüfen ist. 1) Ihr bekommt diese Offenbarungen nicht unmittelbar von Gott selbst, sondern von Menschen, welche sagen, daß sie von Gott gesandt sind. So ist dies folglich ein menschlich Zeugniß von einer göttlichen Offenbarung, welche die Boten gehabt zu haben behaupten. Die Prüfung muß also nach den Regeln geschehen, wonach man die Wahrheit eines menschlichen Zeugnisses untersucht. Die Frage ist also: Haben die Leute auch die Geschicklichkeit gehabt, ihre eigene Einbildungen von einer übernatürlichen göttlichen Einwirkung zu unterscheyden? oder können sie sich auch selbst als Fanatici betrogen haben? Hernach aber, wenn dies schwerlich auszumachen wäre, so wird es desto leichter seyn, auf ihre willkührliche Reden und Handlungen Acht zu geben. Sind sie wahrhaftig von Gott gesandt: so wird Gott auch solche Personen zu Boten seiner Offenbarung ausersehen haben, deren Reden und Handlungen mit dem göttlichen Zweck übereinstimmen, nicht aber falsche menschliche Absichten, als etwa der Herrschsucht und des Eigennutzes, folglich eine Ertichtung verrathen. 2) Die Lehrbegriffe und Lebenspflichten, welche die Boten der göttlichen Offenbarung mitbringen, kommen hienächst in Betrachtung. Die Lehren und Vorschrifften wahrer Boten Gottes müssen Gott anständig seyn, und zu den Menschen grösserer Vollkommenheit und Glückseligkeit dienen. Was hergegen sich selbst oder andern offenbaren Wahrheiten, besonders den göttlichen Vollkommenheiten und den Naturgesetzen, wiederspricht,

|| 78 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 12), 1. Aufl., § 172; ähnlich ebd., 2. Aufl., § 247. 79 Ebd., 1. Aufl., § 170. 80 Ebd., § 171. 81 Ebd., § 172. 82 Ebd., § 169.

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kann keine göttliche Offenbarung seyn. Diese Paar Regeln werden zureichen die Wahrheit, wovon die Frage ist, zu untersuchen. Nur muß einer der solches thun will, sich auch 3) selbst prüfen. Wer noch mit Vorurtheilen seiner väterlichen Religion eingenommen, und nicht gantz gleichgültig ist, was auch für ein Endurtheil aus seiner Untersuchung herauskomme, sondern bey sich selbst einen Hang und Wunsch spührt, daß er seine väterliche Religion wahr finden möge, der ist zu einer aufrichtigen Untersuchung nicht geschickt, und wird sich nur selbst betriegen.83

Dabei versteht Reimarus unter »Glauben« nicht bevorzugt Religion – die »ander[e] Classe«, d. h. »ein göttliches Zeugniß statt unserer Vernunft und Wissenschaft« –, sondern vorrangig divergierende Vermutungsformen,84 die wiederum als Bestandteile einer ihrerseits tiefer gelegten Wahrscheinlichkeitslogik fungieren.85 Ausgehend von der »Empfindung, woraus Erfahrung enstehet«,86 erinnert Reimarus an den Anfang seiner Vernunftlehre,87 daß die historische Erkenntniß, oder die Beobachtung dessen, was wirklich ist und geschieht oder geschehen ist, ich meyne, die klare Erfahrung, allenthalten veste zu setzen sey, ehe man anfängt ein Lehrgebäude aufzurichten; sonst wird man Schlösser in der Luft bauen, und sich um die Wissenschaft übel verdient machen.88

Das Zeugnis anderer und der daraus entstehende Glaube ergänzt den naturgemäß reduziblen eigenen Erfahrungsschatz: [S]o haben wirs mit Dank zu erkennen, wenn uns andere Menschen berichten, was sie erfahren haben. Ein Zeugniß ist also der Bericht eines Andern von seiner Erfahrung. Ich verstehe hier durch Zeugen eigentlich nur die ersten Zeugen, die ein Ding selbst erfahren. Denn die es aus der andern oder dritten Hand haben, sind eigentlich keine Zeugen, sondern nur Mittelspersonen, welche das erste Zeugniß fortpflanzen. Wenn wir dem Zeugniß Beifall geben, das ist, glauben: so setzen wir eine fremde Erfahrung in die Stelle unsrer eigenen, und halten sie für einerley, das ist eben so wahr und gewiß, als wir das Ding selbst mit eigenen Augen gesehen hätten.89

3.2.2 Augenzeugenschaft im Lukas- und Markusevangelium Lukas, dessen Fassung des Evangeliums Reimarus keine gesonderte Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt, versichert zu Beginn:

|| 83 Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 1, § 6 (S. 74f.). 84 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 12), 1. Aufl., § 169. 85 Siehe hierzu ebd., S. XXVII. 86 Ebd., § 169. 87 Ebd., § 4. 88 Ebd., § 161. 89 Ebd., § 169.

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Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den Geschichten, die unter uns geschehen sind, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Worts gewesen sind. So habe auch ich’s für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es […] aufzuschreiben […].90

Lukas betreibt also Geschichtsschreibung: Es gelte zu berichten, was die Zeitgenossen beobachten. Die einschlägigen Aussagen sammelt Lukas anscheinend über einen längeren Zeitraum und dokumentiert bei dieser Gelegenheit auch, welche Quellen ihm zur Verfügung stehen; dabei greift er womöglich auf geschriebene Quellen zurück, sofern sie von glaubwürdigen Personen stammen. Vielleicht sind einige Informationen aus zweiter Hand; aber es ist ihm möglich zu prüfen, ob die Zeugen glaubwürdig sind. Lukas schreibt das Evangelium also auf Grundlage einer Faktensammlung und von Zeugenaussagen. Demzufolge kommt ihm nicht die Autorität eines Augenzeugen derjenigen Ereignisse zu, von denen er in seinem Evangelium berichtet; stattdessen tritt er persönlich in seinem Evangelium auf und schildert Berichte aus zweiter und dritter Hand von Menschen, die er »Augenzeugen und Diener des Wortes«91 nennt. Der terminus technicus Diener des Wortes oder Diener am Wort Gottes (verbi divini minister) bezeichnet Menschen – z. B. Prediger – aus jüdischen, römischen und griechischen Kreisen, die für eine genaue mündliche Überlieferung hinsichtlich wichtiger Ereignisse oder Personen verantwortlich sind.92 Diese Vorgehensweise des Lukas erfüllt die I. Regel, die Reimarus zur Beurteilung der Geschicklichkeit eines Zeugen aufstellt: »Ein Zeuge muß selbst, durch genaue Beschreibung seiner Erfahrung, zeigen, daß er die gehörige Wissenschaft in der Erfahrung besitze, und die benöhtigte Vorsicht wirklich gebraucht habe.«93 Lukas’ Arbeitsweise ist insofern zu unterscheiden von mündlicher Überlieferung, die über Generationen – ab einem gewissen Zeitpunkt auch anonym, vergleichbar mit europäischen Märchen – tradiert wird. Dabei kommt mündlicher Überlieferung eine identitätsstiftende und -bewahrende Bedeutung zu.94 Dass die || 90 Lk 1,1–3. Wann Lukas seine Niederschriften anfertigt, kann nicht mit letzter Gewissheit beantwortet werden. 91 Lk 1,1–4. 92 Die ersten sieben Diakone werden in der Apostelgeschichte des Lukas erwähnt (Apg 6,1–7). Ursprünglich haben die von Jesus Christus erwählten Apostel den Auftrag zur Verbreitung der Lehre und daneben die Versorgung der Armen persönlich wahrgenommen, müssen aber bald feststellen, dass sie mit beidem zugleich überfordert sind. Zu ihrer Entlastung und Unterstützung lassen sie daher von der Jerusalemer Urgemeinde sieben Männer »von gutem Ruf und erfüllt von Geist und Weisheit« wählen, die sie dann durch Gebet und Handauflegung für ihren Dienst weihen: Stephanus, Philippus, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas und Nikolaus, ein Proselyt aus Antiochia am Orontes. 93 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 12), 1. Aufl., § 170 (S. 283). 94 Eine ausschließlich mündliche Überlieferung hat es zu dieser Zeit gleichwohl nicht gegeben. Im Altertum findet sich eine interessante Kombination von mündlicher Überlieferung und geschriebenen Zusätzen.

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Autoren der Evangelien selbst daran gezweifelt hätten, dass es sich um wahre Geschichten, stattdessen aber um nichts weiter als der Unterhaltung dienliche Legenden handele,95 stellt ein verfehltes Interpretationsmodell dar, weil weder zwischen den Niederschriften der einzelnen Evangelien noch seit den in ihnen berichteten Geschehnissen Generationen und Jahrhunderte liegen. In Rede steht vielmehr ein verhältnismäßig kurzer Zeitraum, in dem Augenzeugen noch leben. So gesehen bezeichnet das Konzept der Oral History die Arbeit der Evangelisten besser, als sie zu Empfängern mündlicher Überlieferung zu degradieren. Lukas beruft sich auf die Weitergaben einer Vielzahl von Augenzeugen, die wahrscheinlich über lange Zeit gesammelt worden sind. Vermutlich leben die von ihm konsultierten Augenzeugen nicht mehr, als er die Niederschrift seines Evangeliums beendet. Im Sinne der Oral History, dem lebenden Gedächtnis oder desjenigen, was von lebenden Zeugen in Erfahrung gebracht werden kann, agiert er wie andere altertümliche Historiker auch. Die ersten vier Verse des Lukasevangeliums können als Vorwort – das über die Absichten des Autors mehr Details nennt als die anderen Evangelien – verstanden werden. Lukas hat offensichtlich Zugang zu mehreren Quellen, die heute unbekannt sind, vergleichbar mit römischen Geschichtsschreibern wie z. B. Sueton oder Tacitus, die ihre Grundtexte nur gelegentlich nennen. Zu den historischen Chroniken (Entstehungszeit und Alter der vorhandenen Manuskripte im Vergleich):96 Autor(en)

Entstehungszeit

Älteste Manuskripte

Anzahl erhaltener Manuskripte

Livius

59 v. Chr.–17 n. Chr.

4. Jahrhundert

27

Tacitus

56–120 n. Chr.

9. Jahrhundert

3

Sueton

69–140 n. Chr.

9. Jahrhundert

mehr als 200

Thukydides

460–400 v. Chr.

1. Jahrhundert

20

Herodot

484–425 v. Chr.

1. Jahrhundert

75

Neues Testament

ca. 5 v. Chr.–90 n. Chr.

100–150 n. Chr.

5.838

Die vielen tausend Manuskripte des Neuen Testaments zeigen nur sehr geringfügige Varianten. Mit Blick auf die klassischen Autoren vereint Homer die meisten Abschriften auf sich, die Anzahl der Manuskripte seiner Werke beträgt ca. 2.600 (zum Vergleich: Neues Testament ca. 10-mal mehr, werden die Übersetzungen in andere Sprachen mitgezählt). Allein auf Griechisch existieren 2,6 Mio. Manuskriptseiten von Abschriften des Neuen Testaments; zudem wird das Neue Testament auch in Gebieten verbreitet, in denen Griechisch nicht die Hauptsprache ist: es wird über-

|| 95 So wie z. B. die Athener (Apg 17,16–21). 96 Stand: August 2013; Zahlen der nachfolgenden Tabelle nach Keener (s. Anm. 75).

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setzt auf Latein, Syrisch, Koptisch, Georgisch, Gotisch, Armenisch, Äthiopisch. Den semantischen Wert solcher Übersetzungen des Neuen Testaments schätzt Reimarus als hoch ein.97 Es gibt Tausende von Kopien in diesen Sprachen, die genaue Anzahl ist unbekannt, allein in Latein über 10.000 von Hand abgeschriebene Kopien. Sie werden ab dem 2. Jahrhundert übersetzt, als das Evangelium in der westlichen Welt schon weite Verbreitung gefunden hat. Auf Syrisch und Koptisch existieren insgesamt nach vorsichtiger Schätzung ca. 15.000 händisch angefertigte Kopien. Davon überliefert sind jedoch lediglich ca. 60 vollständig erhaltene Kopien des Neuen Testaments auf Griechisch, die übrigen Abschriften sind fragmentarisch erhalten. Gesetzt den Fall, es würden sämtliche Manuskripte verloren gehen, dann könnte immer noch auf die Manuskripte der Kommentare der alten Kirchenväter zurückgegriffen werden. Dem heutigen Wissensstand zufolge existieren über 1 Millionen Zitate der Kirchenväter aus dem Neuen Testament. Textkritische Fragen zum Neuen Testament hängen also nicht mit der zu geringen, sondern eher mit der überwältigenden Menge an verfügbaren Daten zusammen. Insgesamt gilt für das frühe Christentum: je älter die Quelle, desto besser, weil die zeitliche Nähe entscheidend ist. Reimarus thematisiert diesen Aspekt im Rahmen der IV. Regel zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Mittelzeugen: Diejenigen, welche sich auf eine mündliche Nachricht einer namhaften Person, als ersten Zeugen, öffentlich berufen, verdienen, wenn die Person noch lebt und als glaubwürdig bekannt ist, beynahe eben so viel Glauben. Sonst aber, und wenn sie etwas nur aus der dritten oder vierten Hand haben, verlieren sie an ihrer Glaubwürdigkeit nach Proportion immer mehr; und zuletzt wird es eine Sage.98

Die ältesten Manuskripte des Neuen Testaments stammen aus dem 2. Jahrhundert, es sind mindestens vier, vielleicht sogar zwölf; die genaue Entstehungszeit ist überaus schwierig zu bestimmen, da sie nicht wie diejenigen aus späteren Jahrhunderten datiert sind. Im nachfolgend Erörterten ist nicht von solchen Augenzeugen die Rede, deren Aussagen vor Gericht die Grundlage für ein richterliches Urteil, das dem verhandelten Streitfall angemessen ist, darstellt, sondern von Personen, die ein Geschehen wahrgenommen haben und davon einer Zuhörerschaft möglichst genau berichten. Gleichwohl gibt Schmidt zu bedenken: »Die psychologischen Studien zeigen […] nichts anderes, als dass ein Mensch dazu kognitiv überhaupt nicht in der Lage ist. Der psychologische Skeptizismus gegen den Augenzeugen führt also in letzter Kon|| 97 Siehe Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 12), 1. Aufl., § 174, III. Regel, Erläuterung (S. 309); der »Nexus grammatico-logicus« wird nach der VI. Regel erläutert (ebd., S. 312ff.); die Erläuterungen zur VI. Regel (Erfordernis von [historisch vermittelter] Übereinstimmung sowie Widerspruchslosigkeit von Äußerung und Gedanken eines Verfassers) beziehen sich durchgängig auf Beispiele aus dem Neuen Testament (Markus und Paulus). 98 Ebd., 1. Aufl., § 172.

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sequenz dazu, die Kategorie von Augenzeugenschaft schlechthin aufzulösen.«99 In Eph 4,11 wird das »Amt des Apostels« im Verbund mit den Ämtern der Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrern als einer der grundlegenden Dienste der Kirche bezeichnet. Theologiegeschichtlich gesehen käme gleichwohl der Amtszeuge als diejenige Person, die während der Amtsausübung Zeuge eines Vorfalls wird und als Zeuge aussagen kann, hier nicht in Betracht, weil ›Evangelist‹ im Sinne des »Verkünders des Evangeliums« kein theologisches Amt darstellt. Nach christlicher Überlieferung werden ausschließlich Matthäus und Johannes mit den gleichnamigen Aposteln, also direkt von Jesus Christus mit der Verkündigung des Glaubens Beauftragten, gleichgesetzt.100 Insbesondere der hier ebenso wenig einschlägige Modus des Erkennungszeugen – also desjenigen Zeugen, der einen Täter identifizieren kann – verdeutlicht, dass das Prinzip der Zeugenschaft aufs Engste mit der heute sog. Strafprozessordnung bei der Aufklärung von Sachverhalten verknüpft ist. Selbstverständlich gilt dies auch schon für die Gerichtspraxis zur Zeit Jesu, die indessen bis heute durch Ordnungs-, Strafverfolgungs- und andere Behörden entscheidende Erweiterungen erfahren hat. Das Markusevangelium entsteht ca. 25 bis 30 Jahre nach Christi Himmelfahrt. Zu dieser Zeit hat allein der wie Jesus aus Galiläa stammende, ehemalige ChristusVerleugner101 Simon Petrus den thematischen Stoff womöglich mehrere tausend Mal vor der Öffentlichkeit wiederholt,102 bevor Markus ihn schriftlich fixiert (wobei fast alle Nachrichten vom nachösterlichen Wirken des Petrus aus der Apostelgeschichte des Lukas stammen). Die ersten Christen geben die Begebenheiten in Israel über viele Jahre weiter; eventuelle Ungenauigkeiten anderer Augenzeugen werden sie inzwischen korrigiert haben.103 Die Menschen erzählen die Geschichten über Jesus also nicht in isolierter Form, d. h. ohne Verantwortung gegenüber anderen Gläubigen, die genau wissen, was geschehen ist. Insofern erscheint das Gedächtnis der Gemeinschaft, wie es sich nach dem Neuen Testament darstellt, weithin überzeugend: Die mündliche Verkündigung bildet also insgesamt das beständige Zentrum || 99 Schmidt: Zeugenschaft (s. Anm. 20), S. 10. 100 Lk 6,13. Zum politischen Kontext von Amt und Liturgie siehe Giorgio Agamben: Opus Dei. Die Archäologie des Amtes. Frankfurt a. M. 2013, S. 13–55. 101 Mk 14,66–72. 102 Petrus ist im Neuen Testament einer der Ersten, dem der auferstandene Jesus begegnet. In einer Liste, die er möglicherweise aus der Jerusalemer Urgemeinde übernimmt, nennt Paulus den Kephas im Ersten Korintherbrief als den ersten Osterzeugen überhaupt (1 Kor 15,5; vgl. Lk 24,34). Nach Joh 20,1–10 erblickt Maria Magdalena den Auferstandenen zuerst, weshalb sie mitunter auch als »Erfinderin« des Christentums angesehen wird. Vgl. z. B.: Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes. Berlin 2016, S. 307. 103 Dieses Vorgehen genügt Reimarus’ am Vorbild der »alten Mathematiker« ausgerichteten »Regeln des Gebrauchs der Vernunft«, wie z. B.: »Alle Wörter und Begriffe genau erklären, und bey der dadurch bestimmten Bedeutung unverändert bleiben« (Reimarus: Vernunftlehre [s. Anm. 12], 1. Aufl., § 20, I.; siehe auch ebd., § 174, I., Anm.).

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der Frohen Botschaft, die öffentlich und privat verkündet gesichert im Gedächtnis der Gemeinschaft und von Augenzeugen bestätigt wird. Das zeugt von einer starken und glaubwürdigen Oral History hinter den Evangelien, wobei insbesondere die Diversität der Jesusüberlieferungen darauf hindeutet, dass es sich tatsächlich um historische Fakten handelt. Im gesamten Altertum wird das mündliche Gedächtnis weitaus mehr als in der heutigen westlichen Welt gepflegt. Daher ist das Auswendiglernen damals nicht nur in gelehrten Kreisen von höchster Bedeutung104 – eine Kulturtechnik, die spätestens mit der Erfindung des Buchdrucks dramatisch zu schwinden beginnt. So gesehen ist es mehr als nur wahrscheinlich, dass die Jünger Jesu sehr genau in Erinnerung behalten haben, was ihr Lehrer sie gelehrt hat. In dieser mündlichen Verkündigung besteht die Hauptaufgabe der Apostel. Warum die Evangelien so spät verfasst werden, ist daher vielleicht die falsche Frage; die bessere lautet womöglich: Warum sind die Evangelien überhaupt niedergeschrieben worden? Vermutlich geschieht dies nicht unmittelbar nach Christi Himmelfahrt, weil die ersten Jünger – Reimarus weist oft genug darauf hin – noch in der Erwartung leben, dass die Wiederkunft Jesu in Kürze bevorstehe. Daher wird zunächst nicht daran gedacht, die Ereignisse um Jesus schriftlich festzuhalten, vielmehr verbreiten die Jünger zunächst die Nachrichten über ihn, dies jedoch in den Gegenden des gesamten Mittelmeerraums, so dass sie nach ca. 15 Jahren Rom, das selbst ernannte »Caput mundi«, erreichen. Die Römer wiederum haben großes Interesse an der Vertreibung der Juden, weil diese wegen ihres Glaubens an »Chrestus«105 einen unablässigen Unruheherd bedeuten. Offenbar gibt es also eine starke mündliche Überlieferung durch Evangelisation und Mission, die das Aufschreiben zunächst überflüssig macht; die Niederschrift muss sonach nicht in der ersten Generation geschehen. Erst nach vielen Jahren reift die Einsicht, dass sich die Ankündigung Jesu, zeitnah zurückzukehren, womöglich nicht so bald erfüllt, und deshalb die schriftliche Rekapitulation der Ereignisse erforderlich sei. Der Glaube an Jesu Auferstehung, seine Himmelfahrt und Wiederkunft bleiben davon unberührt.

3.2.3 Das »1. System«: Die Absicht Jesu Rufen wir uns die Titel der von Lessing ausgewählten und zwischen 1774 und 1778 publizierten Fragmente des Wolfenbüttelschen Ungenannten in Erinnerung,106 wird || 104 Siehe hierzu Günter Stemberger: Der Talmud. Einführung – Texte – Erläuterungen. München 3 1994, S. 28–38. 105 Gaius Suetonius Tranquillus: Leben der Cäsaren. Übersetzt von André Lambert. Zürich, München 1955, Claudius, 25 (S. 303). 106 Lessing erhält ein Exemplar der Apologie in einer vorläufigen Textfassung wahrscheinlich von den beiden in Hamburg lebenden Kindern des Reimarus, Elise und Johann Albert Hinrich. Siehe

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auch heute noch augenblicklich klar, welche theologische Brisanz von Reimarus’ Schutzschrift, der sie entstammen, ausgegangen sein muss: − Von Duldung der Deisten107 (das erste von Lessing herausgegebene ReimarusFragment mit kurzem Vor- und Nachwort); − Von der Verschreyung der Vernunft auf den Kanzeln (die biblische Offenbarung setze Vernunft als menschliche Naturanlage voraus und nicht umgekehrt); − Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben können;108 − Durchgang der Israeliten durch das rothe Meer (hier tritt Reimarus’ historischkritischer philologischer Ansatz besonders deutlich zu Tage: das in Ex 14 Berichtete habe einer so großen Menschenmenge in so kurzer Zeit bei derart ungünstigen topographischen Gegebenheiten nicht gelingen können); − Daß die Bücher des A.T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren (zur Verhandlung stehen hier die vermeintliche Vakanz der für eine Offenbarungsreligion zentralen Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele sowie des Liebesgebots im Alten Testament109); − Über die Auferstehungsgeschichte (das aus Sicht heutiger Theologie am wenigsten plausibel – um nicht zu sagen exegetisch widerlegte – Fragment, welches die von Mt 28,11–15 ausgehende sog. objektive Betrugsthese enthält; die fünf letztgenannten Fragmente publiziert Lessing im Jahr 1777); − und schließlich das wirkungsgeschichtlich bedeutendste, weil Reimarus’ Kritik am Neuen Testament bündelnde Fragment, das Lessing eigens als Buch veröffentlicht: Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des

|| Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 1, S. 16 (Einleitung von Gerhard Alexander). Die »Gegensätze des Herausgebers« sind Lessings Zusätze. Siehe hierzu Rudolf Smend: Lessing und die Bibelwissenschaft (1978). In: ders.: Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien. Bd. 3. München 1991, S. 74– 92, hier S. 85–87. 107 Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten. In: Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Dritter Beytrag. Von Gotthold Ephraim Lessing. Braunschweig 1774, S. 195–226. 108 Vgl. hierzu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Lessings origenistische Eschatologie. In: Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie (s. Anm. 46), S. 138–153. 109 Angesprochen ist also der Dissens zwischen Pharisäern, die sich fortan auf Mt 22 berufen, und Sadduzäern, die das theologische Lehrstück der Auferstehung ablehnen (Apg 23,8), aber nicht weil sie Spötter sind, sondern weil von ihr in den mosaischen Büchern nicht die Rede sei. Siehe hierzu Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts (s. Anm. 46), § 44. Reimarus nimmt an, dass sich die Vorstellung von einer unsterblichen Seele im Alten Testament erst entwickelt. Weil er diese Vorstellung aber für die Voraussetzung einer Offenbarungsreligion hält, stellt er die Offenbarung grundsätzlich in Frage. Siehe hierzu den informierten Überblick von Olaf Briese: Wie unsterblich ist der Mensch? Aufklärerische Argumente für Unsterblichkeit in der Zeit von 1750 bis 1850. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47.1 (1995), S. 1–16.

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Wolfenbüttelischen Ungenannten (Mai 1778)110 (Jesus habe keine neue Religion begründen, sondern als politischer111 Messias des Judentums112 zur moralischen Erneuerung beitragen wollen; die Erwartung seiner baldigen Wiederkunft sei die Fiktion der Jünger nach seinem Scheitern); nach Lessings Kontroversen mit Johann Melchior Goeze greifen im Juli 1778 Zensurmaßnahmen der herzoglichen Regierung. Dieses zuletzt genannte Fragment bezeichnet den umstürzenden methodischen Ausgangspunkt des Reimarus, die Differenz von Jesu Verkündigung einerseits und eines apostolischen Christusglaubens andererseits: »ich finde große Ursache, dasjenige, was die Apostel in ihren eigenen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern.«113 Von den genannten Texten des »Fragmentisten« (so Moses Mendelssohn) betreffen die beiden letztgenannten das Neue Testament. Auf das dort Untersuchte wird in der Schutzschrift in etwa zwei Drittel so viel Text bezogen wie auf die Deutung des Alten Testaments. Das Fragment Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger enthält »zwei Systeme«, welche die in christlicher Theologie bis heute gültige Verhältnisbestimmung von Christentum und Judentum einer tiefgreifenden Revision unterziehen. Jesu »Zweck«, d. h. dessen Absicht (»1. System«): Der rechtgläubige Jude Jesus habe weder beabsichtigt, neue Glaubensartikel und Geheimnisse, wie etwa die kirchlichen Lehren von der Trinität114 sowie der Gottessohnschaft,115 zu offenbaren

|| 110 Der in diesem Fragment entwickelte Überblick und auch der bereits erwähnte zu den Auferstehungsgeschichten ist z. B. dem englischen Philosophen und Locke-Zeitgenossen Anthony Collins und ebenso Johann Lorenz Schmidt nicht bekannt, dessen im Kontext seiner PentateuchÜbersetzung (»Wertheimer Bibel«) konsequent befolgten Grundsätze eine Kritik der alttestamentarischen Weissagungsbeweise erst ermöglichen. Um den wahren Verfasser Reimarus zu decken, gibt Lessing Schmidt für den mutmaßlichen Autor der antichristlichen Stücke aus, die im ›Fragmentenstreit‹ heftige Kontroversen nach sich ziehen. Siehe die Vorrede zum Fragment Von Duldung der Deisten (1774). In: LW 7, S. 313–330, hier S. 314. Das Geheimnis der Verfasserschaft lüftet sich erst, als Johann Albert Hinrich Reimarus die Handschrift 1814 der Hamburger Stadtbibliothek sowie eine Abschrift der Universitätsbibliothek Göttingen übergibt. Siehe Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd 1, S. 17 (Einleitung von Gerhard Alexander). 111 Als einer unter vielen Wanderpredigern in Galiläa stellt Jesus, von seinen jüdischen Anhängern »Rabbi« (Lehrer) genannt (Mk 4,35–41 u. ö.), noch keine Gefahr für die politische Ordnung dar. Erst in Jerusalem, wo zum Passahfest auch Pilatus mit seinen Truppen anwesend sein muss, tritt der Konflikt zwischen Jesus und der jüdischen Elite offen zu Tage: »Amen, ich sage euch: Die Zöllner und die Huren werden vor euch in das Reich Gottes gehen« (Mt 21,31). 112 Auch lange nach den mit aller Härte niedergeschlagenen Makkabäeraufständen treten in dieser Zeit Galiläer mit messianischem Anspruch auf, z. B. Theudas und Judas (Apg 5,36–37). 113 Reimarus: Vom dem Zwecke Jesu und seiner Jünger (s. Anm. 110), § 3. 114 Sie führen Reimarus zurück auf die entsprechende, ausschließlich bei Matthäus nachweisbare »Tauf-Formul«: »Wenn Jesus selbst die fremde und den Juden gantz unbekannte Lehre von einem dreyeinigen Gott hätte offenbaren wollen, und dieselbe zu seinem Himmelreiche und zur Seligkeit

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und auf diese Weise ein neues religiöses Lehrgebäude zu errichten,116 noch habe er intendiert, Gläubige aus der jüdischen Religion und ihren Zeremonialgesetzen (den »Levitischen Gebräuchen«117) herauszulösen und sie so zu einem neuen, anderen Gehorsam gegenüber Gott zu verbinden.118 Daraus gehe zum einen hervor, dass Jesus sich nur simpler, im Judentum durchaus üblicher religiöser Begriffe – und dieser stets im gleichen Sinne wie seine Hörer – bedient habe: nämlich der Bekehrung, des Evangeliums, des Himmelreichs usw. Auch der Ausdruck »Sohn Gottes« bilde keine Ausnahme: er bezeichne (wie in der israelitisch-jüdischen Ausdrucksweise geläufig) den Geliebten Gottes,119 in gesteigerter Bedeutung: den Propheten oder insbesondere den Messias – jedoch ohne Anflug dogmatischer Spekulation.120 Dies betont Reimarus auch in seiner Vernunftlehre: »Und das neue Testament hat in Ausdrücken eine große Ähnlichkeit mit den hebräischen und jüdischen RedensArten.«121 Damit jedoch behauptet Reimarus gleichermaßen, ein solches Verständnis Jesu als »Sohn Gottes« sowie der daraus resultierende Begriff des »Geistes« unterscheide sich maßgeblich von der Trinitätslehre der Alten Kirche – eine auch in der heutigen Jesusforschung vertretene Ansicht: Schon wenige Jahrzehnte nach der Kreuzigung wandte sich die Kirche [besser gesagt: die noch sehr heterogene Bewegung der frühen Christen, H.G.] vom jüdischen Tempel ab, und bald nach

|| nöthig gehalten hätte: sollte er wohl davon bis nach seiner Auferstehung geschwiegen haben?« Reimarus’ Komparatistik biblisch überlieferter Taufsprüche hat zum Ergebnis: »Daß Jesus der Christ oder der von Gott verheissene Messias sey, das war der eintzige Artikel, worauf Juden und Heyden als Glaubige angenommen und getaufft wurden, und welchen ihnen die Apostel aus den Weissagungen A. T. und aus seiner Auferstehung zu beweisen suchten. […] So ist denn, nach allen critischen Anzeigen, die höchste Wahrscheinlichkeit da, daß die Formul, auf den Namen des Vaters, Sohns und heiligen Geistes, später in den [aus dem Hebräischen übersetzten, H.G.] griechischen Matthäum eingerückt worden, nachdem es durch die Vergötterung Jesu dahin gebracht war, daß man ein Platonisches trinum perfectum in Gott anzunehmen anfing« (Reimarus: Apologie [s. Anm. 3], Bd. 2, S. 84 bzw. 88f.). Aufschlussreich ist auch Reimarus’ Bewertung der mit dem sich herausbildenden Christentum vollzogenen taufpraktischen Modifikationen: »Das Tauffen an sich war Jüdisch, und die Tauf-Formul war Jüdisch«; »Wahrlich sie würde zu Jesus Zeiten für eine gewaltige Neuerung im Judenthum seyn angesehen worden« (ebd., S. 90 bzw. S. 96). Weiteres hierzu in Kap. 3.3.4.1 »Johannes der Täufer und Jesus« der vorliegenden Abhandlung. 115 Der letzte von vielen Nachweisen hierfür findet sich noch am Ende in Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 584. Zur Gottessohnschaft nach »David und Salomo« (ebd., S. 61) siehe Weish 18,13; Dan 7,13. 116 Reimarus: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 4), S. 428. 117 Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 97 (u. ö.). 118 Auch nach Jesu Kreuzigung gehen seine Jünger noch wie selbstverständlich in den Tempel (Apg 2,46 u. ö.). 119 »Sohn des Verderbens« nennt Paulus den Katéchon (1 Thess 2,3); weiter unten hierzu mehr. 120 Mit Blick auf die alttestamentliche Weissagung vgl. hierzu auch Eusebius von Caesarea: Kirchengeschichte. Hg. von Heinrich Kraft. München 1967, I, 3 (S. 90–93). 121 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 12), 1. Aufl., § 174, Regel VI (Regeln der Erklärungskunst).

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70 n. Chr. setzte die christliche Ablösungstheorie (›Supersessionismus‹) ein, die sich auf die Ansicht gründete, dass die Zerstörung Jerusalems und seines Heiligtums die Verwerfung der Judenheit durch Gott und ihre Ersetzung durch ein neues Gottesvolk erwiesen habe. Des Weiteren führte gegen Ende des ersten Jahrhunderts die zunehmende Unempfänglichkeit der Juden für die Predigt der Apostel und Missionare zu einer immer stärker werdenden Kräfteverschiebung in der Jesusbewegung zugunsten hellenistischer Heidenchristen, deren Wirken in Jerusalem ab ca. 32 anzusetzen ist [Apg 6, H.G.]. Ihnen ging es vor allem um die Rolle Christi bei der Erlösung der Menschheit, um seine überirdische Präexistenz, was seine göttliche Hervorbringung vor der Zeit und seine Schöpfungsmittlerschaft für den Kosmos vor Anbeginn der Geschichte erforderte. Das Denken der Kirchenväter unterschied sich von dem Jesu ganz erheblich. Die Hauptaufgabe, die der Prophet aus Nazareth seinen galiläischen Jüngern auferlegte, war das Streben nach der Gottesherrschaft in der Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt. Bis zum frühen vierten Jahrhundert war das von ihm gepredigte praktische, charismatische Judentum in eine intellektuelle Religion umgewandelt, die vom Dogma bestimmt und gelenkt wurde.122

Das Weitere erhärte, so Reimarus, aus Mt 5,17–19123 und 23,1–3:124 Jesus verlasse mit seinen Geboten und Zielen nirgends den Boden der jüdischen Religion. Er habe vielmehr von den Juden einerseits Bekehrung – d. h. Hinwendung zum Gehorsam unter die von ihnen verachteten sittlich-vernünftigen Gebote der Gottes- und Nächstenliebe, wie sie bereits in der Thora vorhanden und für das Judentum verbindlich seien, gefordert – und andererseits das tatsächliche Verhältnis des moralischen sowie des zeremonialen Gesetzes im Unterschied zu der jüdisch-pharisäischen Scheinheiligkeit aufgedeckt. Die Speise- und Zeremonialgesetze aber habe Jesus weder für unnütz erklärt noch ohne sittliche Not zu übertreten gestattet, er habe nichts an ihnen verändert125 und wolle sowohl seine als auch die Predigt seiner Jünger durchaus auf das israelitisch-jüdische Volk beschränkt wissen.

|| 122 Geza Vermes: Vom Jesus der Geschichte zum Christus des Dogmas. Berlin 2016, S. 15f. Zu Vermes’ an Max Weber angelehntem Begriff des charismatischen Judentums siehe ders.: Jesus the Jew. A Historian’s Reading of the Gospels. London 1973 (dt.: Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien. Neukirchen-Vluyn 1993). 123 Jesu Grundsätze: »Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.« 124 »Da redete Jesus zu dem Volk und zu seinen Jüngern und sprach: Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das tut und haltet; aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln; denn sie sagen’s zwar, tun’s aber nicht.« 125 Gleichwohl ist hier darauf hinzuweisen, dass Jesus insbesondere die die rituelle Reinheit betreffenden Gebote lockert: so hebt er die Speisegebote auf und wendet sich Nicht-Juden genauso zu wie Kranken, Aussätzigen, Prostituierten und Sündern: »Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist’s, was den Menschen unrein macht« (Mk 7,15).

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3.3 Historizität als notwendiges Element einer kritischen Hermeneutik nach Reimarus Da auch Begriffe von den Sachen erfordert werden, wenn einer einen zusammenhängenden Verstand aus den Worten herausbringen will: so muß man so viel historische Erkenntniß von der Natur, von Personen, Oertern, Geschichten, Gebräuchen, Meynungen, und so viel Wissenschaften, als möglich ist, mitbringen, oder dieselbe in den gehörigen Hülfsmitteln suchen. Reimarus: Vernunftlehre (1756), § 174, IV. Regel

3.3.1 Das »2. System«: Das apostolische Christentum »Mit Reimarus beginnt die Beschäftigung mit dem Leben Jesu unter rein historischen Gesichtspunkten.«126 Und mehr noch: Unhistorisches gilt Reimarus als bewusst vollzogener Betrug. Indes reicht Reimarus’ hermeneutisches Kriterium der Historizität über triviale chronologische Periodisierungen hinaus, indem zudem beabsichtigt wird zu prüfen, inwieweit authentische Erinnerungen an Jesus von Nazareth in Galiläa durch biblische, legendarische und symbolische Elemente überformt werden. Jedwede protestantische »Bibliolatrie« (Lessing) wird durch ein solches Verfahren offenkundig konterkariert. Nach dem Tod Jesu von Nazareth127 bildet sich das frühe Christentum128 in Form einer nach eigenem Verständnis innerjüdischen Partialgemeinschaft heraus, die

|| 126 Theißen, Merz: Der historische Jesus (s. Anm. 56), S. 22. Ebenso Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Bd. 4. Gütersloh 1952, S. 152. Schon bei Kelsos und Origenes im 2. und 3. Jahrhundert beginnt der historische Blickwinkel für Marius Reiser: Kritische Geschichte der Jesusforschung. Von Kelsos und Origenes bis heute. Stuttgart 2017, S. 11–151. In Orientierung an Kelsos, Porphyrios und Julian rekonstruiert die aktuelle Literatur verarbeitend die Debatten übergreifend Winfried Schröder: Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011. Erstaunlicherweise wertet Schröder nicht aus: Horacio E. Lona: Die wahre Lehre des Kelsos. Freiburg i. Br. 2005. 127 Mk 15. 128 In postskriptiver Terminologie das sog. Urchristentum, bezogen auf die Zeit von der Kreuzigung Jesu um das Jahr 30 n. Chr. bis zur Abfassung der letzten urchristlichen Schriften, die später in das Neue Testament aufgenommen werden, d. h. bis um die Jahre 100/110 n. Chr. Zur Chronologie Ludger Schenke: Die Urgemeinde. Geschichtliche und theologische Entwicklung. Stuttgart u. a. 1990. Des Weiteren Walter Schmithals: Theologiegeschichte des Urchristentums. Eine problemgeschichtliche Darstellung. Stuttgart 1994; Joachim Gnilka: Die frühen Christen. Ursprünge und Anfang der Kirche. Freiburg i. Br., Basel, Wien 1999; Hubert Frankemölle: Frühjudentum und Urchristentum: Vorgeschichte – Verlauf – Auswirkungen (4. Jahrhundert v. Chr. bis 4. Jahrhundert n. Chr.). Stuttgart 2006; Klaus Berger: Die Urchristen. München 2008; Udo Schnelle: Die ersten 100 Jahre des

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von damaligen Pharisäern nicht ausgegrenzt, sondern deren Fortbestand gegenüber Sadduzäern vielmehr verteidigt wird. Frühe Anhänger Jesu, die überwiegende Mehrheit der Autoren des Neuen Testaments und die meisten Urchristen, gerechnet bis in etwa zum Jahr 135, sind jüdischer Herkunft, sprich Judenchristen. Wenn Nazarener bzw. Nazoräer oder Ebioniten Jesus als den verheißenen Messias für ihre Gegenwart verkündigen, geschieht dies nicht um Willen der Vermittlung eines biographischen, somit historischen Wissens über ihn129 – wenngleich die fraglichen Glaubensdokumente, so z. B. das Johannesevangelium, durchaus historiographische Angaben enthalten, ja das Markusevangelium möglichenfalls gar »den ›Anfang‹ frühchristlicher Geschichtsschreibung markiert.«130 Das im Folgenden näher zu erörternde »zweite Systema« der Jünger Jesu gründet in jüdischen Hoffnungen, welche die diesseitigen Erwartungen ins Jenseits projizieren. »Dieses Erwartungsschema hatte mit dem Propheten Daniel eingesetzt und ist noch aus den Apokalypsen, Justins Dialog mit Trypho und einzelnen rabbinischen Aussprüchen erkenn-

|| Christentums 30–130 n. Chr.: die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion. Göttingen 2015; aus althistorischer Perspektive Hartmut Leppin: Die frühen Christen. München 2018. 129 Als Kritiker der Formgeschichte, d. h. eines Verständnisses der Evangelien als mündliche Überlieferung, setzt Bauckham voraus, dass die Abfassung der Evangelien noch im Austausch mit Augenzeugen Jesu, im Sinne einer Oral History sozusagen, vonstattengeht (siehe oben, Kap. 3.2.2). Eine entscheidende Quelle stelle hierbei die gleichwohl lediglich fragmentarisch in Zitaten bei späteren Kirchenvätern erhaltene, fünf Bücher umfassende Auslegung der Worte des Herrn (λογίων κυριακῶν ἐξηγήσεις; ca. 100 n. Chr.) des Papias von Hierapolis dar, der zwei der Töchter des Evangelisten Philippus (Apg 21,8–9) noch persönlich kennt und auch viele derer, die noch von den ursprünglichen Jüngern Jesu und ihren Nachfolgern unterrichtet werden. In jungen Jahren sucht Papias sie regelmäßig auf, um in Erfahrung zu bringen, was die Apostel und andere Nachfolger Jesu gelehrt haben, und ist somit den ursprünglichen Zeugen nahe. Beim Johannesevangelium sieht Bauckham die »Wir«-Form zu Beginn (Joh 1,14–16) und am Ende (Joh 21,24–25) als Ausdruck für den Anspruch auf höchste Zeugen-Autorität. Siehe hierzu detailliert Richard Bauckham: Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony. Grand Rapids, MI 2006. Die Papias-Quelle: Ulrich H. J. Körtner: Papias von Hierapolia. Ein Beitrag zur Geschichte des frühen Christentums. Göttingen 1983, Fragm. 5, 14–17 (S. 57f.). Siehe auch Lessings Versuch einer ›Rettung‹ des Papias (nicht zuletzt vor den Invektiven des Eusebius): Theses aus der Kirchengeschichte [aus dem Nachlass] (s. Anm. 110), § 46; Hypothese über die Evangelisten [aus dem Nachlass], §§ 36–40; G. E. Lessings sogenannte Briefe an verschiedene Gottesgelehrten, die an seinen theologischen Streitigkeiten auf eine oder die andere Weise Teil zu nehmen beliebt haben [aus dem Nachlass], S. 677–709, hier S. 694. Schleiermacher folgert in Ueber die Zeugnisse des Papias von unsern beiden ersten Evangelien (1832) als erster aus der Papiasnotiz, dass eine aramäische Spruchsammlung als Ursprungsquelle des Evangeliums nach Matthäus existiert haben müsse (vgl. Armin D. Baum: Einleitung in das Neue Testament – Evangelien und Apostelgeschichte. Gießen 2018, S. 501). 130 Eve-Marie Becker: Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie. Tübingen 2006, S. 76.

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bar.«131 Die seit dem 19. Jahrhundert unterschiedene Erforschung eines Christus des Glaubens und eines historischen Jesus führt zu fortgesetzt neuen Auswertungen der außerbiblischen, nicht-christlichen – frühen jüdischen,132 griechischen und römischen – Quellen, die größtenteils auf ca. 150 n. Chr. datiert werden, in denen Jesus gut zwanzig Mal Erwähnung findet und die rund fünfzig Fakten über Leben, Lehre und Tod Jesu mitteilen. Möglicherweise ist die fortan eine machtvolle Theologie verursachende Unterscheidung von historischem Jesus und kerygmatischem Christus theologisch nicht haltbar. Von diesem 2. System aus, das Reimarus »ein unnatürliches«133 nennt, gelingt ihm der Durchbruch von der dogmatischen zur historischen Behandlung der Evangeliengeschichte:134 [S]o ist kein anderer Weg hinter die rechte Wahrheit zu kommen, als der, welchen die Regeln der Geschichte, Critik und Erklärungskunst vorschreiben: man menge die Lehren so vieler Lehrer nicht unter einander. Es sind verschiedene Menschen von verschiedenen Zeiten, welche uns ihre Schrifften, oder Nachrichten von dem mündlichen Vortrage eines Lehrers überliefert haben. Ein jeder hat seine eigene und besondere Meynung, Absicht, Schreib- und Denkungsart: jeder ist ein Lehrer für sich, und hat seinen eigenen Gemüths-Carakter, und sein System im Kopfe das er vorträgt. […] Unsre Herrn Theologi aber kehren sich an keine historische, critische und exegetische Regeln.135

Reimarus rekurriert auf das Wirken der Jesusbewegung in Galiläa seit dem Jahr 30, das zunächst in Form mündlicher Überlieferung der Jesustradition in Erscheinung tritt;136 um das Jahr 35–40 dürften mündliche in schriftliche Fixierungen des Passi-

|| 131 Wolfgang Gericke: Hermann Samuel Reimarus und die Untergrundliteratur seiner Zeit. Zum 100. Geburtstag von Ernst Barnikol (21.3.1882). In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 18 (1992), S. 118–131, hier S. 119. 132 Gleichwohl muss, wie arabische Abschriften, z. B. diejenige des christlich-arabischen Bischofs und Gelehrten Agapios von Hierapolis, dokumentieren, von nachträglicher Korruption einiger Texte ausgegangen werden, von Teilen wie z. B. »wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf«, »Dieser war der Christus« oder »Denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder lebend, wie gottgesandte Propheten dies und tausend andere wunderbare Dinge von ihm vorherverkündigt hatten« bei Flavius Josephus, der als jüdischer Historiker gegenüber Jesus, dem »Weisen«, als unvoreingenommen anzusehen ist (Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz. 2 . Bd. Buch XI bis XX nebst Namensregister. Berlin, Wien 1923, Buch XVIII, 3. Kapitel, 3. Abschnitt [S. 515f.]). Vgl. Shlomo Pines: An Arabic version of the Testimonium Flavianum and its implications. Jerusalem 1971 (dt. Übersetzung der Agapios-Fassung bei Theißen, Merz: Der historische Jesus [s. Anm. 56], S. 81). 133 Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 584. 134 Insbesondere die Kritik der Ostergeschichten hat hier ihre Grundlage (vgl. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie [s. Anm. 126], S. 152). 135 Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 23f. 136 Mk 16; Mt 28; Joh 21.

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onsberichts übergehen und erste gezielte Sammlungen von Jesustraditionen angelegt werden.

3.3.2 Kanonisierung Gut sechzig Schriften des Alten und Neuen Testaments, die im Laufe einer mehrtausendjährigen Geschichte entstehen und erst seit etwa 100 n. Chr. im Zuge der endgültigen Bibelkanonisierung im Judentum sowie der Geschichte der Römischkatholischen Kirche137 und ihren religiösen Organisationsformen der Folgezeit (seit dem 1. Konzil von Nicäa im Jahr 325) zu einem Corpus zusammengefasst werden, dürfen nach Reimarus jeweils nicht als Buch verstanden werden: […] daß die Bücher anfangs nur bey einigen, hernach durch die communication bey mehreren, jedoch nicht ohne Widerspruch anderer, nachgerade aber ein überwiegendes und endlich ein allgemeines Ansehen, durch zufällige Ursachen, erhalten haben; so daß dagegen andere Schrifften, Evangelia, Apostelgeschichte, apostolische Briefe, etc. welche ehedem auch viele Verehrer funden, verdunkelt und in einer Vergessenheit begraben sind.138

Der hermeneutischen Kritik des behaupteten geschichtlichen Ursprungs der christlichen Religion kommt für Reimarus oberste Priorität zu. Dass die Bibel ein Buch aus Büchern ist, führt auch Reimarus zu der hermeneutischen Frage nach der Interpretation von Autorenschriften. Als Verfasser des Pentateuch gilt ihm nicht Mose,139 sondern Esra.140 Widersprüche in der Bibel ließen sich auf die Kompilation verschiedener älterer Urkunden141 und die Entstehung von Texten in späterer Zeit142 zurückführen. Reimarus erklärt daher, zu unterscheiden seien die Verhältnisse zwischen Autor und Autor, Autor und Interpret, Schrift und Schrift sowie Schrift und Interpretation. Diese nicht allein chronologischen, sondern historisch-kritischen Kriterien bilden eine zwingende Voraussetzung für den Einzug geschichtlichen Denkens in die Philosophie – auf Grund des anhaltenden Desiderats einer Verhältnisbestimmung von Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie aber nicht in vergleich-

|| 137 Zu Reimarus’ relativ undifferenziertem Begriff von Kirche siehe Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 1, S. 568ff. 138 Ebd., Bd. 2, S. 565. 139 Siehe Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 1, S. 246, S. 844–866. 140 Siehe ebd., S. 918. 141 Siehe ebd., S. 241, S. 852–855. 142 Siehe ebd., S. 305, S. 855–857. Reimarus nimmt hier exegetische Überlegungen von Zeitgenossen auf, insbesondere von Spinoza, Richard Simon und Johannes Clericus [Jean Le Clerc]. Siehe ebd., S. 857, Anm. b.

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barer Weise in die Theologie.143 Im vorliegenden Zusammenhang betrifft Historizität einerseits einen nach Reimarus notwendigen methodischen Standard der Hermeneutik, wenn sie ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu Recht erheben will; andererseits stellt sie zudem ein entscheidendes Kriterium dar für die kritische Prüfung der theologischen Validität der evangelischen Religion – ein Anspruch, dem zu genügen in dieser Drastik auch der spätere Herausgeber wichtiger Abschnitte seiner Apologie, Lessing, auf sich genommen hat:144 Die Vermittlung dieser Wahrheit habe erstens den Voraussetzungen, welche mit der menschlichen Vernunft gegeben seien, zu entsprechen, und eröffne zweitens die Möglichkeit, die Grundlehren der christlichen Religion den Einsichtigen und Verständigen erfolgreich zu vermitteln.

3.3.3 Reimarus’ Demontage der Auferstehungsgeschichte »Das Leben Jesu endet für den Historiker mit seinem letzten Seufzer.«145 Das Neue Testament nennt keinerlei direkte Augenzeugen (testis ocularis)146 des Vorgangs der Auferstehung Christi; Gleiches gilt für Ohrenzeugen.147 Reimarus spricht missverständlich von »Augenzeugen der Auferstehung Jesu«148 – sc. den römischen Wächtern –, die laut Matthäusevangelium auf Pilatus’ Geheiß nach vorheriger Bitte der Hohenpriester und Pharisäer nach Jesu Kreuzigung zu dessen Grab abkommandiert werden »bis zum dritten Tag, damit nicht seine Jünger kommen und ihn stehlen und zum Volk sagen: Er ist auferstanden von den Toten, und der letzte Betrug ärger wird als der erste.«149 In den Berichten der Bibel steht die inspirierte Zeugenschaft der Auferstehung im Vordergrund, z. B. heißt es in der Apostelgeschichte zu den Voraussetzungen des Losentscheids der Nachbestimmung der apostolischen Zwölfergruppe (Matthias für Judas Iskariot): »Das muss einer von den Männern sein, die mit uns [den anderen Zwölfen] gewesen sind in all der Zeit, in der der Herr Jesus bei uns

|| 143 Siehe Walter Jaeschke: Säkularisierung. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Hg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow und Karl-Heinz Kohl. Bd. 5. Stuttgart 2001, S. 9– 20, hier S. 19. Ausführlicher schon in ders.: Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese. München 1976, bes. S. 11– 51; vor dem Hintergrund von Reimarus’ Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum wissenswert: ebd., S. 154–180 (»Eschatologie und Universalgeschichte in der jüdischen Apokalyptik«). 144 Lessing: AXIOMATA, V–X (s. Anm. 46), S. 128–159, hier S. 138–159. 145 Ernest Renan: Das Leben Jesu. Deutsch von Ludwig Eichler. Berlin 41864, S. 414. 146 Siehe z. B. Mk 16,6. 147 Zu Reimarus’ Prüfung der selbst ernannten Ohrenzeugenschaft Johannes’ des Täufers und Johannes’ des Evangelisten (die Stimme Gottes in deren jeweiliger Einbildungskraft) s. Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 79f. 148 Ebd., S. 272. 149 Mt 27,64f.

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ein- und ausging, und zwar von der Taufe des Johannes an bis zu dem Tage, an dem er aufgenommen wurde. Mit uns soll er zum Zeugen seiner Auferstehung werden.«150 Unter Pharisäern setzt sich schon im 1. Jahrhundert v. Chr. der Glaube an die individuelle Auferstehung der Toten durch.151 In Reimarus’ Augen macht die Geschichte der Auferstehung Jesu Christi die Wurzel der apostolischen Botschaft aus. Zwar setzt Reimarus sich, wie Hirsch betont, bei diesem Thema einer harten Differenz aus: Die der Auferstehungsgeschichte zu entnehmenden Berichte vom leeren Grab,152 den Christophanien153 sowie die ideologisch motivierte theologische Darstellung dessen, was Jesu zu Lebzeiten gelehrt habe, seien entweder wahr, d. h. sichere geschichtliche Tatsache – oder sie seien ein Betrug: tertium non datur.154 Diese Auffassung verfehlt aber den eigentlichen Kern des hier zur Verhandlung Stehenden, oder mit Hirschs Worten: »es hat Reimarus an religiösem Ingenium gemangelt.«155 Trefflich frei legt diesen Kern Lessing in seiner »Vorrede des Herausgebers« zum Fragment Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger: Reimarus schließe »vielmehr so[:] ›die ganze Religion ist falsch, die man auf die Auferstehung gründen will: folglich kann es auch mit der Auferstehung seine Richtigkeit nicht haben, und die Geschichte derselben wird Spuren ihrer Erdichtung tragen, deren sie auch wirklich trägt.‹«156 Damit rekurriert Lessing weniger auf den fraglichen Wahrheitsgehalt der Auferstehungsberichte, sondern auf die mit ihnen notwendig verbundene religiöse Form, die – ungeachtet textkritischer Prüfung – den Anforderungen geschichtlicher Überlieferung durchaus zu genügen vermöge. Eines seiner Hauptargumente gegen Reimarus lautet sonach: »Die geoffenbarte

|| 150 Apg 1,21–22; zu den näheren Zusammenhängen siehe Apg 1,15ff. 151 »Während vorher die Gebeine aller Bestatteten eines Grabes unterschiedslos in einer ›Knochengrube‹ deponiert wurden, müssen die Angehörigen jetzt dafür sorgen, daß die Gebeine eines jeden Verstorbenen für die Auferstehung beisammen bleiben. Dazu legt man sie in eine eigene Knochenkiste, die aus Pietät gegenüber dem Toten gerne kunstvoll verziert und namentlich bezeichnet wird« (Hans-Peter Kuhnen [Hg.]: Mit Thora und Todesmut. Judäa im Widerstand gegen die Römer von Herodes bis Bar-Kochba. Begleitband zur Sonderausstellung des Württembergischen Landesmuseums Stuttgart. Stuttgart 21995, S. 121–171, hier S. 126 [Hans-Peter Kuhnen, Frank Unruh, Ellen Riemer: Die archäologischen Funde – Katalogteil]). 152 Mk 16,1–8 (keine Männer und keine Jesusvisionen); Mt 28,1–8; Lk 24,1–12; Joh 20,1–10. 153 Der nachträglich angefügte Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9–20) versucht, die verschiedenen Erscheinungsberichte in eine harmonische Abfolge zu bringen. Der Text folgt Joh 20 und nennt Maria von Magdala als erste Augenzeugin des Auferstandenen. Aus solchen Unterschieden in den Ostertexten der Evangelien schließen nicht wenige Neutestamentler, dass die Erscheinungen Jesu und die Entdeckung seines leeren Grabs ursprünglich unabhängig voneinander überlieferte Erzählungen darstellen, bevor sie schließlich in unterschiedlicher Weise kombiniert werden. Vgl. Jürgen Becker: Die Auferstehung Jesu Christi nach dem Neuen Testament. Tübingen 2007, S. 73–75, 85, 251f. u. ö. 154 Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie (s. Anm. 126), S. 150. 155 Ebd., S. 151. 156 LW 7 (s. Anm. 110), S. 493f.

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Religion setzt im geringsten nicht eine vernünftige Religion voraus: sondern schließt sie in sich.«157 Für Reimarus steht außer Frage, dass die Auferstehungsgeschichte nichts weiter als eine freie Erdichtung der Einbildungskraft sei, und es bereitet ihm auch keine allzu große Schwierigkeiten, die internen – und von Johann Jakob Griesbach bald auch synoptisch dargestellten158 – Widersprüche der Osterberichte der Evangelien vorzuführen. So hat die Beurteilung der Aufrichtigkeit der Zeugen dieser Ereignisse – einer wie gesehen für Reimarus entscheidenden »Regel« – negativ auszufallen: »Ein Vorurtheil der Unwissenheit macht zwar ein Zeugniß nicht unglaublich; wenn aber die erzehlte Sache sich selbst oder andern klar erkannten Wahrheiten offenbar wiederspricht, so verdient sie keinen Glauben.«159

|| 157 Lessing: Gegensätze des Herausgebers (s. Anm. 110), S. 464. Zu Lessings weiteren Kontexturen von Vernunft und Religion s. Anti-Goeze IX (vernünftige Religion auch bei Goeze) (s. Anm. 46), S. 293; Anti-Goeze V (ebd.), S. 232; das Ende von Eine Parabel, Lessings erster (anonym erschienener) Schrift gegen Goeze (März 1778) (ebd.), S. 127; Das Christentum der Vernunft (s. Anm. 110), S. 278–281; in der Erziehungsschrift: Offenbarung als frühere Gestalt der Vernunft; dazu: Von der Duldung der Deisten: Judentum als Vernunftreligion (s. Anm. 110), S. 322; vgl. auch S. 314, S. 326 sowie Lessings Kommentar: »Den wollen wir sehen, der unser Christentum des geringsten Widerspruchs mit der gesunden Vernunft überführen kann!« (ebd.), S. 329; aus Reimarus: Von der Verschreyung der Vernunft auf den Kanzeln (ebd.), S. 331; vgl. S. 338. Siehe hierzu auch Karl Heinrich Rengstorf: Lessings Ansatz in seiner theologischen Arbeit. In: Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung (s. Anm. 10), S. 101–111, hier S. 106f.; Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981, S. 601–615. 158 Griesbach nimmt an, Matthäus und Lukas seien die ältesten Evangelien und das Markusevangelium bilde eine Art Exzerpt aus beiden. Als erster publiziert er eine kritische Ausgabe des Neuen Testaments (1774/75) und gibt bereits 1776 seine darin enthaltene griechische Matthäus-MarkusLukas-Synopse separat heraus. 1789/1790 erscheint ein weiterer Kommentar zum Thema. Siehe Libri historici Novi Testamenti Graece. 2 Tle. Bd. 1,1: Sistens synopsin Evangeliorum Matthaei, Marci et Lucae. Halle 1774; Bd. 1,2: Sistens Evangelium Ioannis et Acta Apostolorum. Halle 1775; Synopsis Evangeliorum Matthaei, Marci et Lucae. Halle 1776 (ab der 2. Aufl. mit dem Untertitel »una cum iis Joannis pericopis quae historiam passionis et resurrectionis Jesu Christi complectuntur«. Halle 2 1797; Halle 31809; Halle 41822); Commentatio qua Marci Evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis decerptum esse monstratur. 2 Bde. Jena 1789; 1790. Reimarus kombiniert wie folgt: »Es ist wohl am besten so zu conciliiren, daß ein hebräisches Evangelium unter Matthäi Namen gar zeitig herum gegangen sey, welches eine Compilatio aus Matthäo und mehrern EvangelienSchreibern gewesen zu seyn scheinet, worin auch manche fabelhafte Traditiones mit eingeschaltet worden.« (Reimarus: Apologie [s. Anm. 3], Bd. 2, S. 568f.). Reimarus beabsichtigt zunächst, v. a. das Matthäusevangelium hinsichtlich dortiger Adaptionen des Alten Testaments (Wunder als Beweis der Offenbarungen; christologische Prophetien) zu prüfen. Reimarus’ und Griesbachs Perfektibilitätsvorstellungen mit Blick auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, deren philologische Spuren ersterer im Alten Testament vergeblich sucht, vergleicht Marco Stallmann: Johann Jakob Griesbach (1745–1812). Protestantische Dogmatik im populartheologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2019, S. 225f. 159 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 12), 1. Aufl., § 170 (S. 286).

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Sämtliche für die Auferstehungsberichte einschlägige Problemaspekte setzt Reimarus der Kritik aus: Personen, Zeit, Ort, Modi, Absicht, Reden und Geschichten. »Glaubwürdig heißt ein Zeugnis«, so Reimarus wieder in seiner Vernunftlehre, »wenn es wegen seiner Wahrheit werth ist, in die Stelle unserer eigenen Erfahrung gesetzt zu werden.«160 Bezogen auf die Auferstehungsgeschichte konstatiert er jedoch: »Zum Beweise, daß Jesu wahrhaftig vom Tode auferstanden sey, beruft sich […] Matthäus erstlich auf das fremde Zeugniß der Wächter Pilati, welche er auf Begehren des Jüdischen Raths vor dem Grabe Jesu gestellet gehabt.«161 Diejenigen, die von Jesu Auferstehung berichten, sind in Reimarus’ Augen also nichts weiter als Betrüger:162 wie den alttestamentlichen Propheten ermangele es ihnen an moralischer Integrität (certitudo moralis) – und damit des wichtigsten Charakteristikums der Autoritätslehre. Bedeutender noch als die Aufdeckung dieser Widersprüche ist ein zweites Resultat seiner kritischen Hermeneutik: Nur in einem Einzigen zeige sich eine vermeintliche Übereinstimmung mit der historischen Wahrheit: dass nämlich durchaus nur nahe Anhänger Jesu, die mit dem Kreis der Apostel in Verbindung stehen, des Auferstandenen tatsächlich ansichtig geworden seien. Unbefangene Zeugen fehlten. In der Vernunftlehre heißt es: Ein Zeugniß ist der Bericht eines andern von seiner Erfahrung; und derjenige, welcher Nachricht giebt von dem, was er erfahren hat, heißt ein Zeuge. Denn man versteht durch Zeugen, eigentlich und hauptsächlich, die ersten Zeugen, die ein Ding selbst gesehen, gehört, oder sonst empfunden haben. Die es aber aus der andern oder dritten Hand haben, sind Mittelzeugen, d. i. Mittelspersonen, welche das erste Zeugniß fortpflanzen. [Abs.] Glauben heißt einem Zeugnisse Beyfall geben; folglich den Bericht eines andern von seiner Erfahrung für wahr annehmen.163

Paulus164 und auch den Evangelisten kommt nach Reimarus also lediglich der Status von »Mittelzeugen« zu. In seinen Briefen betont Paulus wiederholt, dass er – im Gegensatz zu den »Gemeindeaposteln« und anderen Missionaren – direkt durch Christus zum Apostel berufen worden sei.165 Ein Apostel ist laut Paulus vor allen Dingen ein Verkünder des Evangeliums, der als glaubwürdiger Zeuge der Auferstehung Christi für dessen Wahrheit bürgt.166 Aber die eigene Biographie des Apostels Paulus entspricht diesen Voraussetzungen nicht, findet seine Begegnung mit Jesus

|| 160 Ebd., 2. Aufl., § 239. 161 Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 188. 162 Vgl. insbes. ebd., §§ 6–9 (S. 198–206); »Das IVte Buch vom Ursprung und Aufkommen des Apostolischen Christenthums«, »Das Iste Capittel. Plan des Unternehmens der Apostel«, §§ 1–16 (s. 305–342). 163 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 12), 2. Aufl., § 239. 164 Röm 10,9; 1 Kor 15,5–8 (1 Kor 15,4: Jesu Begräbnis, aber kein leeres Grab). 165 Gal 1,1; 1 Kor 9,1. 166 Vgl. 1 Kor 15,4 und Apg 22,15.

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Christus doch erst nach Pfingsten167 statt. Was den »geschichtlichen« Jesus angeht, ist Paulus auf Informationen anderer Apostel und Jünger sowie auf besondere Offenbarungen angewiesen. Ungeachtet dessen nennt sich Paulus »Apostel der Heiden«168 und markiert damit seinen besonderen Dienstauftrag, der gemäß eigener Aussagen bereits bei seiner Bekehrung an ihn ergangen sei, durch die Gnade Gottes: Denn ich bin der geringste der Aposteln, der ich nicht wert bin, daß ich Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist.169

Lukas dagegen gesteht in der Apostelgeschichte Paulus den Titel »Apostel« nur selten zu und zählt ihn zum erweiterten Kreis der »Apostel und Ältesten«.170 Das in den Berichten über die Auferstehung Jesu historisch zentrale Thema der Grabwache findet in der Bibel nur ein einziges Mal en passant Erwähnung171 – und darüber hinaus, so Reimarus, sei diese Erdichtung, als die sie ohne Zweifel zu entlarven sei, so zu verstehen, dass gerade dasjenige, was ihr zufolge ausgeschlossen werden soll: nämlich die Entwendung des Leichnams Jesu durch die Jünger,172 tatsächlich geschehen sei. Jedoch gerade weil die Auferstehungsgeschichte einer kritischen Hermeneutik nicht standhalte, stellt sie wie gesehen Reimarus zufolge den geschichtlichen Ursprung des Christentums dar, erwachse doch die Geburt dieser Religion aus einer Enttäuschung aller Hoffnungen, welche sich die Jünger, sprich die Zeugen Jesu, gemacht hätten, da sie mit der Gefangennahme und Kreuzigung173

|| 167 Auch von Mose glauben die Juden, er sei in den Himmel aufgestiegen (Ex 24,15–18). 168 Röm 11,13 (u. ö.). 169 1 Kor 15,9–10. 170 Siehe z. B. Apg 15 (u. ö.) 171 Vgl. Mt 27,62–66. 172 Die Befürchtung, der Leichnam Jesu sei anderweitig angeeignet worden, äußert sich in Mt 28,15 und Joh 20,2. 173 Der jüdische Ritus hätte für Jesus eine Steinigung vorgesehen; die Kreuzigung gilt zur Zeit Jesu als schändlichste Todesart, wie noch Origines feststellt: »et ad ultimum quod usque ad eam quae inter homines indignissima habetur adductus est mortem« (ΟΡΙΓΕΝΥΣ: ΠΕΡΙ ΑΡΧΩΝ ΤΟΜΟΙ Δ. / ORIGINIS DE PRINCIPIIS LIBRI IV / Origines: Vier Bücher von den Prinzipien [s. Anm. 25], II 6, 2). In einer Ehre-und-Scham-Kultur hätte eine neue jüdische Bewegung unmöglich mit der Kreuzigung des Messias einsetzen können. Daher muss nach der Kreuzigung etwas höchst Bedeutsames mit Jesus passieren, etwas derart Wichtiges, dass es die Meinung über ihn anschließend von Grund auf revidiert. Für die meisten Historiker wäre unerklärlich, wie Menschen in Jesus nach der Kreuzigung den Sohn Gottes erkennen können, wenn nach der Ablegung seines Leichnams im Grab nichts weiter mit ihm geschehen wäre. Wird die Auferstehung Jesu theologisch nicht anerkannt, entstehen unüberbrückbare historische Probleme. So z. B. Bloch: »Die Frage ist […] nicht so sehr die, ob Jesus gekreuzigt wurde und dann auferstanden ist. Vielmehr geht es um die Erklärung der Tatsache, daß soundso viele Menschen um uns herum an die Kreuzigung und Auferstehung glauben« (Marc

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ihres Meisters jäh aus ihrem Traum von der bevorstehenden politischen, sprich irdischen Machtergreifung Jesu hätten erwachen müssen. Unter Inanspruchnahme der Illusion, welche in einzelnen jüdischen Kreisen die (weltliche) Reichshoffnung mit wunderlichen apokalyptischen Erörterungen verquickt habe, beginnen die Jünger in der Folgezeit, aus den Anhängern Jesu eine Gemeinschaft zu schmieden, die ihnen fortan unterstellt sei. Im Zuge dieses Vorgangs seien aus kompensatorischen Gründen für das ihnen Entgangene die Vorsteher der sich nun herausbildenden Gemeinde sehr bald mit weltlichen Privilegien ausgestattet worden. Der Aufbau des christlichen Systems versammelt sich alsdann um jene Themen, die im Neuen Testament zu den vorherrschenden zählen: die kraft der Passion Christi erworbene geistliche Erlösung für alle Menschen; die Bestätigung von Jesu Würde und Werk als Erlöser durch die Auferstehung; die Gemeinschaft der an den Auferstandenen Glaubenden; die baldige Wiederkunft Jesu zum Gericht; die Aufrichtung des Himmelreichs als Frucht und Folge der Erlösung sowie schließlich der Eingang seiner Gläubigen in dieses verheißene Himmelreich. Diese Diskursformationen, die sodann Eingang finden in die Politische Theologie, bilden die wichtigsten Voraussetzungen für die Entstehung der christlichen Kirche. Reimarus geht es also vorrangig um die Deutung der christlichen Frühgeschichte, d. h. den Grundlagen einer in den folgenden Jahrhunderten prosperierenden christlichen Kirche. Von ihren letztlich durch Dogmatik und Systematik begründeten Theologuma beruht jedoch in seiner Sicht keines ursprünglich und originär in der Lehre Jesu, vielmehr stellten sie wie gesehen das »zweite«, das apostolische »System« der christlichen Religion dar, welches von dem ursprünglichen, Jesu eignen, wie es die Apostel zu dessen Lebzeiten selber glauben, deutlich abweiche: Die Haupt-Wahrheit, welche allem andern ein Licht giebt, ist diese: daß die Jünger Jesu insgesamt, bis an den letzten Oden seines Lebens, gehoffet haben, er sollte Israel, unter dem Namen des verheissenen Messias, auf eine zeitliche Weise erlösen; und daß sie erst nach Jesu Tode dieses System verlassen, und statt dessen einen bloß geistlichen leydenden Erlöser aus ihm gemacht haben.174

In Reimarus’ sorgfältiger Rekonstruktion und – von seinen Kritikern allerdings vereinzelt als dilettantisch desavouierten – exegetischen Begründung des geschichtlichen Wandels, der vom »ersten« zum »zweiten System« – oder auch von dem »Zwecke Jesu« zu demjenigen seiner Jünger – führt, liegt die Hauptkraft des reimarischen Angriffs auf das Christentum. Mit seinem dem Anspruch nach durchgängig historistischen Ansatz, der notwendig zur Aushöhlung des Schriftbeweises führen muss,

|| Bloch: Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers. Hg. von Lucien Febvre. Aus dem Französischen von Siegfried Furtenbach, revidiert durch Friedrich J. Lucas. Stuttgart 31992, S. 47). 174 Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 171.

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lässt Reimarus die Bezirke der hermeneutica sacra hinter sich.175 Letztlich jedoch steht das von reformatorischem Impuls getragene Motiv nach der adäquaten, d. h. den Anforderungen einer kritischen Hermeneutik verpflichteten Auslegung der Heiligen Schrift bei Reimarus im Dienst praktischer Lebensvollzüge betreffender Fragestellungen. Dieser Impuls ist nicht erst seinen Arbeiten zur natürlichen bzw. deistischen Religion176 – eine wichtige Voraussetzung für die in der Apologie betriebene Bibelkritik – zu entnehmen, sondern tritt auch im vielsagenden »Beschluß« dieses Werks zu Tage: Zu beklagen ist es, daß ein so ärgerliches und unfruchtbares Religions-System, nicht anders für eine höhere göttliche Offenbarung, zu behaupten stehet, als wenn die gesunde Vernunft und vernünftige Religion von der ersten Kindheit an bey den Menschen erstickt, und ein blinder Glaubens-Gehorsam, mit Gewalt und Verfolgung, angedrungen wird. Aber es ist doch auch vernünftigen, ehrlichen und tugendhaften Leuten, die darunter leyden, und entweder, aus Furcht, auf ihre Lebtage Heuchler werden, oder sich der Lästerung der Priesterschafft, und dem ungestühmen Eiffer des Pöbels bloß gestellet sehn müssen, nicht zu verargen, wenn sie, zu ihrer eigenen Vertheydigung, der Welt die Gründe vorlegen, warum sie das, was die Geschicht- und Lehrbücher des Christlichen Systems, ausser, über und wieder die vernünftige Religion, enthalten, unmöglich glauben können; und dabey zeigen, daß sie dennoch rechtschaffene Verehrer Gottes, gehorsame Untertanen ihrer Obrigkeiten, fried- und dienstfertige Mitbürger in dem Staate, und überhaupt Menschenfreunde und Liebhaber von Wahrheit und Tugend sind, und stets zu seyn gedenken. Dies ist der Zweck dieser Apologie!177

Dementsprechend setzen in der Apologie die Passagen zum Neuen Testament ein mit Interpretationen zum »Zustande des Judenthums und praktischer Religion Jesu«.178 Diese Thematik greift auch Lessing auf.179 Ihren Ausdruck findet die Konsequenz des Reimarus in einem die Gottes- und Nächstenliebe bezeichnenden theologischen Reduktionismus: »An diesen zweyen Geboten hänget das gantze Gesetz und die Propheten. Thue das so wirstu leben.«180

|| 175 Stemmer: Weissagung und Kritik (s. Anm. 5), S. 147. Vgl. hierzu Torbjörn Johansson, Robert Kolb, Johann Anselm Steiger (Hg.): Hermeneutica sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert / Studies of the Interpretation of Holy Scripture in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Berlin, Boston 2010. 176 Siehe hierzu insbes. Günter Gawlick: Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), ein »bekannter Unbekannter« (s. Anm. 1), S. 15–43. 177 Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 585. 178 Ebd., S. 9–38. 179 Vgl. die extreme Verkürzung des christlichen Glaubenskatalogs auf das Gebot der Nächstenliebe in Über den Beweis des Geistes und der Kraft / Das Testament Johannis (s. Anm. 46), S. 9–14. Siehe hierzu Holger Glinka: Lexikon – Kunst – Praktische Theologie. Formen der Kritik am Beispiel Gotthold Ephraim Lessings. In: Denker und Polemik. Hg. von Kevin Liggieri, Isabelle Maeth und Christoph Manfred Müller. Würzburg 2013, S. 11–29, hier S. 26–29. 180 Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 30.

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3.3.4 Judentum und Endzeit 3.3.4.1 Johannes der Täufer und Jesus Es war zu der Zeit, dass Jesus aus Nazareth in Galiläa kam und sich Johannes unterwarf, um sich eintauchen zu lassen im Wasser des Jordan. Mk 1,9

Als Vettern sind Johannes der Täufer und Jesus miteinander verwandt. Beiden machen die Römer schließlich den Prozess, beide werden hingerichtet. Möglicherweise folgt Jesus Johannes für einige Zeit; dass Jesus die Johannestaufe bezieht,181 kann als geistliche Anerkennung des Johannes gewertet werden. Johannes wiederum bekennt offen seinen minderen Rang gegenüber Jesus,182 den er schon als Fötus im Mutterleib als den Christus erkennt.183 Warum Jesus sich Johannes zumindest zeitweise anschließt, ist so umstritten184 wie der genaue Zeitpunkt ihrer Begegnung; sie dürfte aber wohl Mitte bis Ende der 20er Jahre stattfinden. Johannes verkündet Askese, Umkehr, Endzeit;185 auch den Gerichtsgedanken macht er stark: »Die Axt ist schon an die Wurzel der Bäume gelegt.«186 Die Erwartung, dass die Herrschaft Gottes auf Erden unmittelbar bevorstehe, interpretiert Reimarus nicht von ungefähr als Mittelpunkt der Botschaft Jesu, den er als »Vorläufer«187 des Johannes ansieht. »Ich sah den Satan wie einen Blitz aus den Himmeln fallen«:188 die Vorstellung, im Him-

|| 181 Mk 1,9–11; Mt 3,13–17; Lk 3,21–22. 182 Mt 3,11–17. Reimarus fragt sich, warum Johannes öffentlich vorgibt, Jesus nicht zu kennen: »Ich habe wohl zur Entschuldigung gedacht, Johannes wolle nicht damit schlechthin leugnen, daß er ihn gekannt: sondern nur sagen, dass er nicht gewußt, daß er der Christ oder Messias wäre, von welchem es heißt, daß Johannes sich nicht wert halte, dessen Schuhriemen aufzulösen. Allein der Evangeliste Matthäus hat mir diesen Gedanken benommen: denn nach dessen Bericht hat ihn Johannes schon vor der Taufe als den Messias angesehen. Da Jesus aus Galiläa kömmt, daß er sich taufen ließe, wehret ihm Johannes heftig und sprach: ich hab vonnöten, dass ich von dir getaufet werde, und du kömmst zu mir!« (Reimarus: Von dem Zwecke Jesu [s. Anm. 110], II, § 3, S. 547f.). 183 Lk 1,39. Wiewohl Johannes später Zweifel befallen: »Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seiner Jünger und ließ ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?« (Mt 11,2f.). 184 Eine diskussionswürdige, von Eugen Drewermann unabhängige Deutung (Johannes als Vaterersatz) bietet Christoph Türcke: Jesu Traum. Psychoanalyse des Neuen Testaments. Springe 2009. 185 Mt 3,2. 186 Mt 3,10 und 7,19. 187 Reimarus: Von dem Zwecke Jesu (s. Anm. 110), I, § 4, S. 498. Dieses Interpretationsmodell passt zum Markusevangelium; vorgegeben ist es schon durch die Figur des Elia in Mal 3; siehe auch Mt 11,14. In diese Richtung geht Nikolaus Walter: Wer machte Johannes den Täufer zum »Vorläufer Jesu«? In: Text und Geschichte. Facetten theologischen Arbeitens aus dem Freundes- und Schülerkreis. Dieter Lührmann zum 60. Geburtstag. Hg. von Stefan Maser und Egbert Schlarb. Marburg 1999, S. 280–293. 188 Lk 10,18.

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mel sei der Verursacher des Bösen bereits überwunden, mithin gefallen, verbindet Jesus mit dem Beginn eines neuen Äons.189 Hierauf beruhe die Vision von der Königsherrschaft Gottes, die jetzt auf Erden anbreche. Begleitet wird diese Ahnung göttlicher Nähe von einer Intensivierung ethischer Impulse, die v. a. in der Bergpredigt Jesu fassbar wird: »Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen.«190 Die Jesus-Bewegung kann als eine zweite Welle der Täufer-Bewegung, von deren Gefolgsleuten sich wiederum ein Teil Jesus anschließt, betrachtet werden. Rechenschaft vor dem Gottesgericht ist angekündigt, Taufen sind die Folge – das Gericht bleibt jedoch aus. Jesus interpretiert dies als eine Zeit der Gnade, als geschenkte Zeit – seine Jünger indes begründen eine zweite Messiaserwartung, nachdem die erste, von Jesus selbst verheißene sich nach dessen Kreuzigung langsam aber sicher zerschlägt. Reimarus hält fest: Es waren aber jedoch andere, obwohl weit wenigere Juden, welche sagten, ihr Meßias würde zweymal, und zwar in ganz verschiedener Gestalt kommen. Erst würde er armselig erscheinen, leiden und sterben; dann aber würde er aus den Wolken des Himmels wiederkommen und alle Gewalt empfangen.191

Die Evangelisten seien, so also Reimarus, für diese schlichtweg erfundene, weil Jesus im Nachhinein untergeschobene Prophetie verantwortlich. Tatsächlich ist besagte messianische Variante im Judaismus verbürgt: »Damals waren verschiedene messianische Vorstellungen in Umlauf. […] Zuweilen wurde ein leidender und sterbender ›Knecht des Herrn‹ erwartet. Einige rechneten mit dem Kommen zweier Messiasse.«192 Die besondere, hieraus resultierende eschatologische Problematik kommt am deutlichsten in den Thessalonicherbriefen des Paulus zum Vorschein, die den Glaubensbrüdern im Namen des Katechonten (κατέχων)193 auferlegen, die Zeit bis zum – nun nicht mehr unmittelbar bevorstehenden – Jüngsten Gericht zu durchfechten als eine Gemeinschaft, welche die sich bereits anbahnende weltliche Regentschaft des Gottesfeindes oder Wider-Gottes zu verhindern im Schilde führt: »[D]enn zuvor muß der Abfall kommen und der Mensch der Bosheit offen-

|| 189 Günther Bornkamm: Jesus von Nazareth. Stuttgart 1971, S. 46. 190 Mt 5,44. 191 Reimarus: Von dem Zwecke Jesu (s. Anm. 110), II, § 37, S. 566. 192 Phillip Sigal: Judentum. Stuttgart u. a. 1986, S. 76. – Eine Vorstellung, die in der frühen Kirche schon bald, so z. B. von Origines, der »nur mit einer einzigen Menschwerdung Christi« rechnet, strikt abgewiesen wird. Siehe ΟΡΙΓΕΝΥΣ: ΠΕΡΙ ΑΡΧΩΝ ΤΟΜΟΙ Δ. / ORIGINIS DE PRINCIPIIS LIBRI IV / Origines: Vier Bücher von den Prinzipien (s. Anm. 25), S. 21; II 7, 1 (»Et duos quidem deos ausos esse haereticos dicere et duos Christos audivimus, duos autem spiritus sanctos nunquam cognovimus ab aliquo praedicari.«); IV 4, 3 (»de adventu corporali et incarnatione unigeniti filii dei«). 193 2 Thess 2,1–8.

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bart werden, […] zu seiner Zeit«.194 Reimarus paraphrasiert auch das biblisch angekündigte Ende: »[U]nd wenn er sich denn endlich offenbare, so werde ihn der Herr umbringen mit dem Athem seines Mundes, und werde ihn abschaffen durch die Erscheinung seiner Zukunft«.195 Der Christ wisse gleichwohl nicht, wann dies der Fall sei, der Zeitpunkt gehöre zu Gottes Plan.196 Ereignen indes könne sich dies nicht, solange der »Feind Gottes« aufgehalten werde: Der Gläubige befindet sich sonach in der ausweglosen Lage, dasjenige aufhalten zu wollen, was erstens nicht aufzuhalten ist, und zugleich aber zweitens die Voraussetzung für die erstrebte Erlösung, die Apokalypse,197 selbst garantieren zu sollen. Bleibt die Gewissheit, zu den »guten Christen« zu zählen, denen als Lohn die Neuerschaffung der Welt und das ewige Leben in Aussicht stehen. Entgegen Reimarus und alternativ zu aktuellen theologischen Exegesen bietet sich die Lesart an, Johannes den Täufer nicht als Vorläufer und Wegbereiter, sondern als Konkurrenten Jesu zu deuten. Dafür spricht, dass die öffentlichen Auftritte und Wundertaten Jesu erst einsetzen, nachdem Johannes bereits inhaftiert ist: »Als nun Jesus hörte, daß Johannes gefangengesetzt worden war, zog er sich nach Galiläa zurück.«198 Seit dieser Zeit beginnt Jesus zu predigen: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.«199 Reimarus bietet eine wenig überzeugende Interpretation und zieht andere Schlüsse: Das widerspricht dem vorigen offenbar, und verräth die Verstellung und abgeredte Karte. Die beyden Vettern kannten sich und wußten einer von des andern Absicht und Vorhaben, sie beginnen zu einer Zeit solche ausserordentliche Handlungen, dadurch einer des andern Zweck beförderte: Johannes verkündiget, daß das Himmelreich nahe sey, daß der Messias schon mitten unter sie getreten, nur daß sie ihn noch nicht kenneten: Jesus kommt zu Johanne, daß er von ihm dem Volke als ein solcher bekannt gemacht werde. Sie machen sich einander bey dem Volke groß; Jesus spricht von Johanne, er sey ein Prophet, ja noch mehr als ein Prophet, er sey der Elias oder Vorläufer des Messias: unter allen die von Weibern gebohren sind, sey keiner größer als Johannes. Johannes spricht hergegen von Jesu, daß er der Christ oder der Sohn Got-

|| 194 2 Thess 2,3–6. »Paulus rechnet in 1 Thess 4,15.17 damit, bei der unmittelbar bevorstehenden Parusie des Herrn noch zu leben« (Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament. Göttingen 4 2002, S. 370). 195 Reimarus: Von dem Zwecke Jesu (s. Anm. 110), II, § 43, S. 573f. Vgl. 1 Thess 2,8. 196 Zur theologischen Verfallsgeschichte dieser »Zwischenzeit« siehe Sergio Quinzio: Die jüdischen Wurzeln der Moderne. Frankfurt a. M. 1995, S. 83–87. 197 Zu den Anfängen der Apokalyptik siehe David Biale: Kommt der Erlöser? Kommt die Erlösung? Zum Verhältnis von Messianismus und Orthodoxie. In: Jüdische Lebenswelten. Essays. Hg. von Andreas Nachama, Julius Schoeps und Edward van Voolen. Berlin 1992, S. 50–67, bes. S. 56f. Die Denkform der »Geschichte als Vorherbestimmung«, die »Mentalität der Apokalyptik« sowie ihre »Beweisformen« in der jüdischen und christlichen Tradition erörtert lichtvoll Amos Funkenstein: Jüdische Geschichte und ihre Deutungen. Frankfurt a. M. 1995, S. 69–89. 198 Mt 4,12. 199 Mt 4,17.

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tes sey, daß er mit dem heiligen Geist taufen werde, und daß er (Johannes) nicht werth sey ihm die Schuh nachzutragen, oder die Schuh-Riemen aufzulösen. Johannes bekömmt nemlich Offenbarung von der Sache bey der Taufe, er siehet den Himmel offen und den Geist als eine Taube herabfliegen: er höret eine Bat-Kol, eine filiam vocis, oder Stimme vom Himmel, die da rufet: dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.200

3.3.4.2 Jesus und das messianische Judentum Mit wem soll ich aber dieses Geschlecht vergleichen? Es gleicht den Kindern, die auf dem Markt sitzen und rufen den andern zu: Wir haben euch aufgespielt, und ihr wolltet nicht tanzen; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr wolltet nicht weinen. Johannes ist gekommen, aß nicht und trank nicht; so sagen sie: Er ist besessen. Der Menschensohn ist gekommen, ißt und trinkt, so sagen sie: Siehe, was ist dieser Mensch für ein Fresser und ein Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder! Und doch ist die Weisheit gerechtfertigt worden aus ihren Werken. Mt 11,16–19

Die »Urgemeinde« oder »Jesusbruderschaft« der Apostel und ihrer Anhänger – zunächst noch eine apokalyptisch gesinnte, jüdische Splittergruppe – durchläuft eine zweistufige Verwandlung: In einem ersten Schritt deutet Paulus, der eigentliche ›Gründer‹ des Christentums, die bereits etablierten Rituale von Taufe und Abendmahl allegorisch um, erweitert Jesu Lehre sodann überaus erfinderisch zu einem Kultdrama über den Mythos vom sterbenden und auferstehenden Gottessohn und verlagert die Mission nicht ohne Konflikte, aber schließlich erfolgreich von Juden auf Nichtjuden. In diesem Fahrwasser entwirft Jahrzehnte später, gegen Ende des ersten Jahrhundert, der Evangelist Johannes das von der Figur des historischen Jesus vollständig separierte, stattdessen von griechischer Philosophie inspirierte, gänzlich unjüdische Bild eines göttlichen Christus als des »Logos«201 und auch die Skizze eines mystisch personifizierten Heiligen Geistes.202 Hierauf folgt auf die ver-

|| 200 Reimarus: Von dem Zwecke Jesu (s. Anm. 110), II, § 3, S. 548. 201 »Die Kennzeichnung Christi als Logos gewann schon bei den Theologen des 2. Jahrhunderts überragende Bedeutung, weil dieser Begriff die Möglichkeit bot, an der Zugehörigkeit Christi zum Vater ebenso festzuhalten wie an seinem Hervortreten in der Geschichte. Angestoßen von Fragen der zeitgenössischen Kosmologie, schrieben sie dem Logos mittlerische Wirksamkeit bei der Weltschöpfung zu, und zwar im Anschluß an neutestamentliche Aussagen; dabei galt ihnen das Schöpfungswort zugleich als Idee der Welt. Trotzdem gehört Christus ganz auf die Seite Gottes, obwohl die Beziehung zum Vater durch den Gebrauch von Begriffen wie Schöpfung und Zeugung noch nicht ausformuliert war. Ihre nachhaltige Wirkung verdankt diese Logos-Christologie der Möglichkeit, durch den Begriff λόγος das Mysterium des in Christus handelnden Gottes der Umwelt auch philosophisch zu erläutern« (Peter Stockmeier: Christus als Gott-Mensch. In: Spätantike und frühes Christentum. Ausstellung im Liebighaus, Museum alter Patristik, Frankfurt am Main. 16. Dezember 1983 bis 11. März 1984. Frankfurt a. M. 1983, S. 191–197, hier S. 194). 202 Im Folgenden nicht diskutiert werden die differierenden Positionen zu den Begriffen ›Wahrheit‹ und ›Wissen‹, von denen zumindest der letztgenannte auf die Lehren der Epikureer und Stoi-

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gleichsweise kurze jüdische Phase des Christentums die dominierende heidenchristliche; in Reimarus’ Worten: Christus hat ohnstreitig eine bessere, völligere und reinere Religion, besonders in dem thätigen Wesen, gelehret, u. sich der pharisäischen Scheinheiligkeit wiedersetzt. Aber in seinen eigenen Reden finden sich die Geheimnisse nicht, welche nachmals die Apostel, insonderheit Paulus, aufgebracht. Diese machen ein ganz neues, von ihres Meisters Lehre und Absicht wesentlich verschiedenes Religions-System aus. Denn Jesus selbst hat das Levitische Gesetz nicht gänzlich abschaffen, sondern nur eine Reformation nach der vernünftigen und thätigen Religion darin anstellen und ein besser Regiment aufrichten wollen.203

Zweifelsohne ist das Palästina um die Zeitenwende stark von griechischer Kultur geprägt, im Ostjordanland liegen ihrer Geschichte nach genuin griechische Städte; die »Zehn-Städte« (Dekapolis) der Evangelien gleichen ihrem Vorbild Athen (Artemis- und Zeus-Tempel, Theater, Säulenforum, Stadion, Gymnasium und Bäder). Dies gilt auch für Caesarea, die Hauptstadt des Pilatus südlich von Karmel am Mittelmeer, und für das wenige Kilometer nördlich von Nazareth gelegene Sepphoris und Tiberias am See Genezareth, das zu Füßen des Hermon erbaute Caesarea Philippi, und ebenso für Jericho. Lediglich die vielen kleinen Städte und Ortschaften in Galiläa und Juda haben baulich ihren jüdischen Charakter bewahrt. In diesen unverfälschten jüdischen Gemeinden lebt und wirkt Jesus. Die Evangelien geben nirgends Auskunft darüber, dass er sich je in einer der griechischen Städte aufgehalten habe, sondern nur in ihrer Gegend.204 Das Zentrum seines einige Jahre andauernden Wirkens ist die Stadt Kapernaum am Nordufer des galiläischen Sees, insofern ist es unwahrscheinlich, dass Jesus der griechischen Sprache mächtig ist. Wenn, so Reimarus, Jesus Gott als »Vater« anspricht, dann meint er damit – seiner Lehre entsprechend und zugleich ganz und gar jüdisch – den liebenden Gott, dem ein kindliches Vertrauen entgegengebracht werden dürfe. Auch wenn Jesu Religiosität eine Metamorphose des traditionellen Judentums im Rahmen der charismatischen Endzeiterwartung bewirkt, ist diese nichtsdestoweniger als durchgreifend theozentrisch (»Vater«) zu charakterisieren. Christozentrik, um die sich das nachfolgende christliche Dogmengebäude versammelt, hat keinerlei Halt am historischen Jesus, auch wenn christliche Theologen, wie z. B. jüngst Allison, einen solchen Ankerpunkt immer wieder suchen.205 Vermes dagegen hält sich im Nachwort seines Jesusbuchs an den prägnanten, bis heute provozierenden Spruch aus Goe-

|| ker zu beziehen ist, mit denen sich Paulus auf seiner 2. Missionsreise (48–51/52 n. Chr.), die ihn auch nach Athen führt, konfrontiert sieht (Apg 17,16–34). 203 Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 1, S. 30. 204 Mk 7,31. 205 Das ist der neue Aspekt in seinem vierten Buch über den historischen Jesus: Dale C. Allison: Constructing Jesus: Memory, Imagination, and History. Grand Rapids, MI 2010, S. 221–304.

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thes West-östlichem Divan: »Jesus fühlte rein und dachte / Nur den Einen Gott im Stillen; / Wer ihn selbst zum Gotte machte / kränkte seinen heil’gen Willen.«206 Für Reimarus resultiert auch aus diesem Anteil jesuanischer Predigt ‒ dem Evangelium vom nahenden Gottesreich sowie der dazugehörenden Überzeugung, selbst der Messias und Überbringer dieses Gottesreichs zu sein, nichts, das über das Judentum hinausweise.207 Außerdem könne noch deutlich gezeigt werden, dass Jesus an eine weltliche Erlösung oder Befreiung von der seit dem Jahr 6 bestehenden römischen Fremdherrschaft über dem »Land der Juden«, Judäa, und seinen weiteren Bewohnern, Samaritanern und Griechen, mit Jerusalem, dem Zentrum der politischen Macht, durch den Tempel Mittelpunkt der jüdischen Religion, gedacht208 und das Gottesreich als eine die Träume und Hoffnungen der Juden erfüllende Macht und Herrschaft über die Erde erwogen habe: Jesus sei »kein Erlöser des menschlichen Geschlechts, der durch sein Leiden und Sterben die Sünde der ganzen Welt tilgen sollte, sondern ein Erlöser des Volks Israel von der weltlichen Knechtschaft«,209 der die Befreiung von den römischen Besatzern herbeiführen wolle. Der Anspruch des Messias bedeute schlicht, König dieses seines eigenen, neu zu errichtenden Reichs zu sein – gleichwohl mit dem Unterschied, dass Gottes Wundermacht ihm zeugend und helfend assistiere. Dass Gott die Errichtung dieses Reiches aber an eine optimierte Gerechtigkeit, das Evangelium dieses Reiches somit an den Gehorsam unter die Bekehrungspredigt binde, komme mit den üblichen damals unter Juden verbreiteten Gedanken überein. Ungeachtet dessen unterliegt die Ankunft des Messias der Voraussetzung vorheriger Sündenreue und gottesfürchtiger Umkehr des Volkes: Die einzige notwendige Vorbereitung auf die Erlösung ist die Buße. Dementsprechend deutet Reimarus den Einzug nach Jerusalem sowie die Ereignisse der letzten Tage Jesu als Versuch weltlich-messianischer Machtergreifung – die abzüglich ihrer Irrealität allerdings bereits an dem Widerwillen der Hohenpriester und Pharisäer gegen einen politisch waghalsigen Umsturz und an dem Versuch dieser theologischen Klasse, ihre Macht über die jüdische Religions|| 206 Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan. In: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. I, 6. Weimar 1888, S. 288ff. 207 Zu präzisieren wäre hier, dass Jesus einige Gebote der Thora durchaus verschärft: etwa durch die die Nächstenliebe noch übertreffende Feindesliebe oder das Verbot, sich scheiden zu lassen (siehe Mk 10,9). 208 Jesus verheiße ein weltliches Königreich, »das Reich Christi oder des Meßias, worauf die Juden so lange gewartet und gehoffet hatten« (Reimarus: Von dem Zwecke Jesu [s. Anm. 110], § 4, S. 499). 209 Ebd., I, § 30, S. 540. Das Volk Israel – seine zwölf Stämme – solle auf der Erde herrschen, sobald Gott die politische Autonomie Israels restituieren würde. Sollte Jesus tatsächlich seinem Anhängerkreis eine solche Struktur (zwölf Jünger) gegeben haben, unterstreicht dies nach Charlesworth seinen gewaltfreien politischen Anspruch, der zur Zeit des Zweiten Tempels gleichwohl nicht von religiösen Zielen zu trennen gewesen sei. Vgl. James H. Charlesworth: The Historical Jesus. An Essential Guide. Nashville 2008, S. 107.

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gemeinschaft zu erhalten, zum Scheitern verurteilt sei. Die konsequenteschatologische Parusieverzögerung, sprich der Umgang mit der enttäuschenden Erfahrung, dass die von Jesus bis hin zu Paulus als unmittelbar bevorstehend erwartete Ankunft des Reiches Gottes nicht eintritt, trage, so Werner210 und Taubes211 im Anschluss an Schweitzer, alsdann zur Entstehung und Ausbildung des christlichen Dogmas entscheidend bei.212 Mehr noch, für Reimarus bedeutet die Herausbildung des Christentums – nicht zu vergessen: in Israel – eine Religion des, um mit Blumenberg zu sprechen, »geschichtlichen Unrechts«:213 Reimarus spricht vom »Umsturtz des verfallenen Christentums«214 und bestreitet dieser Religion nichts weniger als ihren theologischen Rechtstitel, wie er überhaupt die christologische Deutung alttestamentlicher Texte – und hier insbesondere solche auf »die Verheissung eines geistlichen Erlösers im A.T.« bezogene215 – als theologisch illegitim zurückweist: »Ich kann aber überhaupt so viel sagen, daß ein grosser Theil in Ausdrücken besteht, welche aus dem Zusammenhange herausgerissen, und auf die Begebenheiten mit Christo accommodirt sind«.216 Mit dem Weissagungsbeweis hält

|| 210 Martin Werner: Die Entstehung des christlichen Dogmas problemgeschichtlich dargestellt. Bern, Tübingen 1941 (21954), S. 76, 104, 321. Hierzu kritisch siehe Hans-Joachim Schoeps: Urgemeinde, Judenchristentum, Gnosis. – Paulus. Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. vom Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Verbindung mit Manfred P. Fleischer u. a. Erste Abteilung. Religionsgeschichte. Bd. 4. Hildesheim, Zürich, New York 1999, S. 119–126; Georg Strecker: Theologie des Neuen Testaments. Hg. von Friedrich Wilhelm Horn. Berlin, New York 1996, S. 346. 211 Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie. München 32007, S. 47–58 und S. 198–224. 212 Hans Conzelmann: Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas. Tübingen 71993. 213 Die Wandlungsfähigkeit (früh-)neuzeitlicher Begriffs-Repristinationen dekuvriert der sich vehement gegen die Säkularisierungsthese positionierende Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a. M. 21988, S. 9–134 (»Säkularisierung – Kritik einer Kategorie des geschichtlichen Unrechts«), insb. S. 35ff. 214 Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 273. 215 Siehe z. B. Jes 53,4–8: »Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. Da er gestraft und gemartert ward, tat er seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut. Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volkes geplagt war. Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist.« Die ältesten verfügbaren Manuskripte des Buchs Jesaja gehören zum Bestand der Qumran-Schriften, sie fassen diese Prophetie deutlicher. 216 Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 1, S. 721–755, hier S. 738.

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Reimarus ein zentrales Lehrstück christlicher Dogmatik für gescheitert;217 unbenommen davon entdeckt er jedoch die durchgängige Sättigung des Neuen Testaments mit (kosmischem) Messianismus und Eschatologie. Auf eine entscheidende Differenz in jüdischer und christlicher Heilserwartung macht Scholem aufmerksam: Es ist ein völlig anderer Begriff von Erlösung, der die Haltung zum Messianismus im Judentum und Christentum bestimmt, und gerade, was dem einen als Ruhmestitel seines Verständnisses, als positive Errungenschaft seiner Botschaft erscheint, wird vom anderen am entschiedensten abgewertet und bestritten. Das Judentum hat, in allen seinen Formen und Gestaltungen, stets an einem Begriff von Erlösung festgehalten, der sie als einen Vorgang auffaßte, welcher sich in der Öffentlichkeit vollzieht, auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gemeinschaft, kurz, der sich entscheidend in der Welt des Sichtbaren vollzieht und ohne solche Erscheinung im Sichtbaren nicht gedacht werden kann. Demgegenüber steht im Christentum eine Auffassung, welche die Erlösung als einen Vorgang im geistigen Bereich und im Unsichtbaren ergreift, der sich in der Seele, in der Welt jedes einzelnen, abspielt, und der eine geheime Verwandlung bewirkt, der nichts Äußeres in der Welt entsprechen muß.218

Heutige Juden, z. B. Nathan L. Kaplan,219 oder auch das Gespräch unter Juden und Christen Befördernde wie Martin Stöhr suchen gleichwohl nicht mehr ein messianisches Zeitalter zu restituieren, vielmehr gilt – wie im frührabbinischen Judentum – als zentraler Begriff in der jüdischen Theologie Tikun Olam (‫)עולם תיקון‬: Reparatur (oder auch Heilung) der Welt, d. h. zu erwarten steht eine kabbalistische Reminiszenz im Sinne Isaak Lurias: »Im Leben der Gläubigen selbst kann, solange die endgültige Vollendung des Tikkun die Welt noch nicht verwandelt hat und das äußere Exil Israels noch andauert, kein Platz für nihilistische Tendenzen sein. Das Paradox des Messias wird ein Gegenstand des Glaubens allein.«220 Das Judentum unterschei|| 217 Reimarus’ vollständig revidierte Ansicht zu den alttestamentlichen Weissagungen, wie sie sich von der Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum bis zur Apologie vergleichsweise ergibt, fördert Stemmer (s. Anm. 5) zu Tage; vgl. hierzu: Wilhelm Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen (s. Anm. 11), S. 76. Diesen Vorgang behandelt auch Winfried Schröder: Die Wiederkehr des Verfemten. Zur Rezeption von Kelsos, Porphyrios und Julian in der Aufklärung. In: Aufklärung 21 (2009), S. 29–50, hier S. 37–39; siehe auch ders.: Athen und Jerusalem (s. Anm. 126), S. 81– 84. 218 Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In: ders.: Judaica 1. Frankfurt a. M. 1963, S. 7–74, hier S. 7f. Zur Herkunftsgeschichte dieses Vorstellungsbereichs im Judentum heißt es an anderer Stelle: »Die messianische Idee hat lange Zeit gebraucht, bis sie sich aus sehr verschiedenen Antrieben, die in der hebräischen Bibel noch ganz unverbunden und uneinheitlich nebeneinander stehen, im nachbiblischen jüdischen Schrifttum herausgebildet hat. […] Der Messianismus steht ursprünglich quer zur Idee der Offenbarung in der Tora« (Gershom Scholem: Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus. In: ders.: Judaica 3. Schriften zur jüdischen Mystik. Frankfurt a. M. 1970, S. 152–197, hier S. 154). 219 Siehe Nathan L. Kaplan: Management Ethics and Talmudic Dialectics. Navigating Corporate Dilemmas with the Indivisible Hand. Wiesbaden 2014. 220 Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Zürich 1957, S. 345; ergänzend zum Verständnis: »Auslöschung des Makels, Wiederherstellung der Harmonie, das ist der Sinn

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det sich vom Christentum darin, dass es als Religion alles von den Gläubigen, weniger aber von Gott erwartet. Reimarus geht es um die geschichtliche Projektion eines menschlichen Miteinanders, wie es sich zukünftig darstellen werde.221 Die in der Apologie betriebene Denunziation der »Ertzväter«, sprich der jüdischen Patriarchen und Propheten,222 ist bekanntlich zum Anlass genommen worden, auf Reimarus’ vermeintliche Judenfeindlichkeit zu schließen.223 In der Tat tadelt Reimarus die Religion des Juden|| des hebräischen Wortes tikkun, das die kabbalistischen Nachfolger des Sohar für die Aufgabe des Menschen in dieser Welt gebrauchen. In der Zeit der Erlösung aber ›wird Vollkommenheit sein, oben und unten, und alle Welten werden in einer vereinigt sein.‹ […] Die Geheimnisse des Tikkun nehmen […] das Hauptinteresse sowohl der theoretischen als auch der praktischen Theosophie Lurias in Anspruch« (ebd., S. 253f. und S. 294; siehe insb. auch S. 300). Siehe hierzu auch Ansgar Martins: Adorno und die Kabbala. Potsdam 2016, S. 45–49. 221 So auch Bark: »Die natürliche Religion ist für Reimarus nicht Erkenntnis von Gott mittels der natürlichen Kraft der Vernunft, sondern lebendige Erkenntnis, will sagen: Einsicht, die moralische Folgen hat« (Joachim Bark: Brandstifter Reimarus. In: Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Hg. von Wolfgang Mauser und Günter Saße. Tübingen 1993, S. 147–156, hier S. 150). 222 »Überdenkt nun die gantze Reihe dieser Leute noch ein mal, welche die ersten Väter der Juden gewesen sind: ob ihr in deren Handlungen an und vor sich betrachtet, so wie sie uns von ihrem eigenen Geschichtsschreiber erzehlt sind, solche Personen finden könnet, die nicht allein als Menschen ein unsträfliches und Gottes Ordnung gemässes Leben geführet hätten, sondern auch göttliche Boten eines höheren seligmachenden Erkenntnisses gewesen wären. Die Handlungen selbst bestehen in lauter Thaten die auch der natürlichen Religion zu wieder lauffen. Da ist nichts als Lügen, Betrug und schändlich Gewerbe, um sich in dem unstetten Herumziehen Reichthümer und einen guten Wohnsitz zu erwerben; nichts als blinde und höchst ungerechte Liebe für diejenigen Kinder, von welchen das Israelitische Volk entsprossen ist; nichts als Ermordung, Plünderung, Schindung und Unterdrückung unschuldiger unglücklicher Leute; nichts als Concubinen, Vielweiberey, Huren, Ehebruch, Blutschande, Onans-Sünden und Völlerey; kein Gottesdienst, als der in äusserlichen Ceremonien, Opfern, Beschneidung, Waschen und Veränderung der Kleidung bestehet, und um Nahrung, Kleydung, und zeitlichen Segens willens geschieht; kein Vorsatz, andern Völkern ein besser Erkenntniß von Gott beyzubringen, und sie von dem Aberglauben und der Vielgötterey abzulenken, sondern vielmehr eine sklavische oder auch politische Nachahmung ihrer Meynungen, Gebräuche und verkehrten Gottesdienstes; übrigens auch keine Exempel der Tugend, Menschenliebe, Billigkeit, Gerechtigkeit, geschweige solcher edelmüthigen Handlungen, als wir bey Griechen und Römern finden, sondern häuffige Schandthaten, Niederträchtigkeit, Thorheit, Boßheit, Grausamkeit, Geilheit und allerley Laster, die nichts als Anstoß und Ärgerniß geben« (Reimarus: Apologie [s. Anm. 3], Bd. 1, S. 262f.). 223 Nicht zuletzt befördert ausgerechnet Reimarus’ Sohn dieses Urteil: »die Apologie strotzt von Judenhaß.« (Gerhard Alexander: Johann Albert Hinrich Reimarus und Elise Reimarus in ihren Beziehungen zu Lessing. In: Lessing und der Kreis seiner Freunde. Hg. von Günter Schulz. Heidelberg 1985, S. 129–150, hier S. 147). Dieses Urteil beruht sicherlich auf einer früheren Fassung der Apologie, die sich von der 1972 publizierten Fassung unterschieden haben wird. Siehe auch Gunnar Och: »Ein Rabbi Namens Ephraim«. Judenfeindschaft im Kontext des Fragmentenstreits. In: Lessing und das Judentum. Hg. von Dirk Niefanger, Gunnar Och und Birka Siwczyk. Hildesheim 2015, S. 53–72, hier S. 63–71. Ergänzend dazu Brigitte Tolkemitt: Knotenpunkte im Beziehungsnetz der Gebildeten. Die gemischte Geselligkeit in den offenen Häusern der Hamburger Familien Reimarus und Sieve-

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tums224 – dies aber nicht aus antisemitischer225 Abneigung, sondern aus ausnahmslos bibelkritischen Überlegungen, die zum Resultat haben, dass die ursprünglich historische Bedeutung des Neuen Testaments ausschließlich aus dem Zusammenhang des zeitgenössischen Judentums abzuleiten sei. Dass das Christentum die Tochterreligion des Judentums ist, darüber besteht inzwischen weithin Einigkeit; vielleicht muss aber gesagt werden, dass sowohl Judentum als auch Christentum Tochterreligionen der Religion der hebräischen Bibel des Alten Testaments sind. Das rabbinische Judentum und das Christentum entstehen beide ungefähr zur selben Zeit. Die Befassung mit Jesus von Nazareth betrifft die Zeit des vorrabbinischen Judentums, als spirituelle Erscheinung wäre sein Auftreten insofern als Spielart des antiken Judentums zu deuten. Dadurch dass Jesus als weltlicher Messias auftrete, sein politisches Wirken jedoch mit zweifelhaften Wunderpraktiken verbunden sei, habe dieser, so Reimarus, keineswegs sein eigenes Schicksal besiegelt, sondern ihm sei schlicht Gerechtigkeit widerfahren: »Wer alle die Data des Betragens Jesu zusammen nimmt, […] der muß erkennen, daß der Hohe Raht nicht hat umhin können, so mit Jesu zu verfahren, wie er gethan hat, und daß dieser nicht unschuldig, sondern um seines eigenen Verbrechens willen gelitten hat.«226 So urteilt Poliakov zutreffend, Reimarus »machte sich eine originelle Stellung in dem Sinn zu eigen, daß seine kritischen und sarkastischen Bemerkungen sich ganz unparteiisch sowohl gegen die jüdischen Patriarchen wie auch gegen die christlichen Apostel richteten und auch vor Jesus selbst nicht Halt machten.«227 Nicht zuletzt in Rechnung zu stellen bleibt, dass niemand Geringeres als der eines jedweden Antijudaismus unverdächtige Lessing die ReimarusFragmente herausgibt. Überhaupt ist seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, mit Jakob Emden (alias Jacob Hertzel oder Jacob Hirschel) und dem bedeutenden Aufklärer Moses Mendelssohn, ein verstärkt aufkommendes Interesse an der historischen

|| king. In: Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert. Hg. von Ulrike Weckel, Claudia Opitz und Olivia Hochstrasser. Göttingen 1998, S. 167–202. 224 Heinz Mosche Graupe: Juden und Judentum im Zeitalter des Reimarus. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), ein »bekannter Unbekannter« (s. Anm. 1), S. 113–127. 225 »Es ist allgemein bekannt, daß der Begriff ›Antisemitismus‹ zum ersten Mal 1879 von Wilhelm Marr benutzt wurde« (Zvi Yavetz: Judenfeindschaft in der Antike. Die Münchener Vorträge. München 1997, S. 19). 226 Reimarus: Apologie (s. Anm. 3), Bd. 2, S. 176. 227 Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Bd. 5: Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz. Worms 1983, S. 212. Börne hält Reimarus des Judenhasses für unverdächtig: »Reimarus war der unversöhnlichste Todfeind aller Bedrückungen« (Ludwig Börne: Der ewige Jude [1821] [= Rez. von: Ludolf Holst: Judentum in allen dessen Teilen, aus einem staatswissenschaftlichen Standpunkte betrachtet.] In: ders.: Sämtliche Schriften. Hg. von Inge und Peter Rippmann. Bd. 2. Düsseldorf 1964, S. 494–538, hier S. 510). Für ein »gerechtes Urteil« in dieser Angelegenheit plädiert Helmut Utzschneider: Gottes Vorstellung. Untersuchungen zur literarischen Ästhetik und ästhetischen Theologie des Alten Testaments. Stuttgart 2007, S. 36–38, hier S. 38.

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Person Jesu von Nazareth zu konstatieren. Noch im 19. Jahrhundert bleiben die Forschungen jüdischer Intellektueller über Jesus innerhalb der christlichen Theologie weitgehend ungehört. Den von Christen als »Messias« verehrten Jesus, Jeschu ben Josef, als Jude zu begreifen, bleibt für viele Theologen und Gläubige – und auch für viele Jüdinnen und Juden – bis heute tabu;228 gleichwohl beschäftigen sich immer wieder jüdische Gelehrte und Intellektuelle mit dem Leben des historischen, sprich des »jüdischen Jesus«.229 Reimarus’ Unterscheidung von Jesusverkündigung und urchristlicher Botschaft sowie die Einordnung Jesu in das zeitgenössische Judentum sind in der Jesusforschung bis heute gültig.

|| 228 Während der nationalsozialistischen Zeit gipfelt diese Position in der Behauptung der Deutschen Christen (DC), einer Strömung des Protestantismus, Jesus sei arischer Abstammung gewesen – ein Irrglaube, wie die evangelische Kirche nach der Shoah eindeutig bekennt. Als erster habe Johann Gottlieb Fichte die Frage über die »ethnische Herkunft Jesu von Nazareth [gestellt] und kam zu dem Schluß, daß dieser vielleicht nicht ›jüdischer Abstammung‹ gewesen sei« (Léon Poliakov: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus. Hamburg 2000, S. 122). 229 So jüngst der Rabbiner Walter Homolka: Der Jude Jesus – Eine Heimholung. Freiburg 2020.

Wilhelm Schmidt-Biggemann

Die Zerstörung des Christentums durch kritische Philologie Reimarus’ Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes

1 Einleitung: Theodizee und die Erlösungsunbedürftigkeit der Welt Es gibt im 18. Jahrhundert wahrscheinlich kein Buch, das für die Destruktion des Christentums eine solche Rolle gespielt hat wie die Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Zwar ist der Text vollständig erst 1972 veröffentlicht worden,1 aber Lessing hat wesentliche Teile dieser explosiven Bibelanalyse zwischen 1774 und 1778 herausgegeben; und ein wesentliches Produkt (philosophisch vielleicht das wichtigste) war Die Erziehung des Menschengeschlechts, Lessings höchst einflussreiche Geschichtsphilosophie. Was ist hier passiert? Wenn man es als Schlagwort vorwegnehmen sollte: Die rationale Theodizee macht die offenbarte Heilsgeschichte überflüssig. Reimarus hat auf die Frage, welche Bücher ihm am wichtigsten seien, geantwortet, Pufendorfs De Iure Naturae et Gentium und Leibniz’ Théodicée.2 Pufendorfs Naturrechtskonzept geht theologisch davon aus, dass der Glaube an Gott, seine Verehrung und die Privatheit des Gottesdienstes die Pflichten sind, die der Mensch Gott gegenüber einhalten muss; Leibniz’ Konzept einer rationalen Welt war nach den Prinzipien des Widerspruchs und des zureichenden Grundes eingerichtet – wenn die Welt als Grundsatz hatte: »cur potius aliquid quam nihil«, und das »cur« den zureichenden Grund der besten aller möglichen Welten beschrieb, dann hieß das: Die Welt existiert, weil sie vernünftig und eo ipso perfekt ist. Eine perfekte Welt braucht keine Wunder. Wunder wären der Beweis dafür, dass die Welt eben nicht perfekt wäre; und eine perfekte Welt braucht keine Geschichte, denn sie besteht in der ständigen Wiederkehr des Gleichen; sie braucht auch keine Erlösung, denn die

|| 1 Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt a. M. 1972. 2 Johann Georg Büsch: Erfahrungen. 4. Bd.: Über den Gang meines Geistes und meiner Thätigkeit. In: Sämtliche Schriften. Bd. 15. Wien 1817, S. 224 (vgl. Hermann Samuel Reimarus: Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Göttingen 1994, S. 45, Anm. 74). https://doi.org/10.1515/9783110726558-008

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Sünde ist nur als Teil der Perfektion denkbar. Die Konsequenz: Kein Sündenfall, keine Erlösung und keine Eschatologie. Genau diese Konsequenzen hat Reimarus aus den Prinzipien der Theodizee gezogen – affirmativ als Lehrer der Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion3 und einer Vernunftlehre, […] aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Wiederspruchs hergeleitet,4 kritisch als Verfasser der Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes.

2 Biographische Skizze Aber gemach: zuerst einiges zur Biografie, denn die spielt bei Reimarus eine nicht unwichtige Rolle. Schließlich handelt es sich um ein gespaltenes Leben: Einerseits war er ein geachteter Hamburger Bürger, Professor am Gymnasium des Johanneums, der den »hübschen« Hamburger Familien und gelehrten Gesellschaften angehörte und die Hamburger »Patriotische Gesellschaft« mitbegründet hatte. Er ist einer der Ahnen der Hamburger Familie Sieveking. Andererseits brütete er im Verborgenen die philologische Kritik aus, die den Biblizismus der evangelischen Kirche, der er selbst mindestens nominell angehörte, aufs nachhaltigste erschütterte. Geboren wurde er am 22. Dezember 1694; der Vater war Lehrer am Johanneum in Hamburg; er studierte ab 1710 am akademischen Gymnasium in Hamburg, das Anfang des 18. Jahrhunderts eine der bedeutendsten philologischen Institutionen Deutschlands war: Hier lehrten u. a. die beiden international hochrenommierten Professoren Johann Albert Fabricius (1668–1736), Kompilator von unentbehrlichen Lexika zur griechischen, lateinischen und mittelalterlichen Literatur (Reimarus’ späterer Schwiegervater) und Reimarus’ wichtigster Förderer Johann Christoph Wolf (1683–1739), der Verfasser des wichtigsten hebräischen bio-bibliographischen Lexikons des 18. Jahrhunderts, der Bibliotheca Hebraea.5 Bei Wolf hat Reimarus Hebräisch gelernt, und mit perfekten Hebräischkenntnissen – Griechisch und Latein sowieso – studierte er zunächst in Jena Philosophie (bei Johann Franz Budde und Andreas Rüdiger) und wechselte im Oktober 1716 nach Wittenberg, wo er gleich nach seiner Ankunft zum Magister promoviert und Anfang Mai 1717 zum Magister Legens ernannt wurde. Zwei Jahre später habilitierte er sich mit einer Arbeit De Machiavellismo ante Machiavellum.6 Eine Universitätslaufbahn strebte er wohl nicht

|| 3 Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Hg. von Günter Gawlick. Göttingen 1985. 4 Hermann Samuel Reimarus: Vernunftlehre. Hg. von Frieder Lötzsch. München 1979. 5 Johann Christoph Wolf: Bibliotheca Hebraea. 4 Bde. Bd. 1 Hamburg, Leipzig 1715, Bd. 2–4 Hamburg 1721–1733. 6 Hermann Samuel Reimarus: De Machiavellismo ante Machiavellum. In: ders.: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 2).

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wirklich an, er wollte nach Hamburg zurück, wo er erheblich bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen hatte, aber das war nicht ohne Umwege möglich. Deshalb wurde er 1723 zunächst Rektor der Stadtschule in Wismar, wo er sich in mancherlei Streitigkeiten verstrickte; und von dort wurde er 1727 ans Akademische Gymnasium in Hamburg als Professor »Publicus Hebraeae et reliquarum linguarum Orientalium« berufen. In diesem Amt war er keineswegs professioneller Philosoph, er hatte Hebräischunterricht zu geben. Ein Jahr später heiratete er die Tochter seines Lehrers Johann Albert Fabricius, Friederike. 1729 wurden der Sohn Johann Albert Hinrich – später bekannter Ratsherr, Arzt und Ingenieur in Hamburg (er importierte den Blitzableiter aus England) – und 1735 Katharina Elisabeth (»Elise«) Reimarus geboren. 1736 starb Johann Albert Fabricius und Reimarus war der Alleinerbe – er verfügte nun über ein Vermögen, das z. T. aus dem Verkauf der riesigen Bibliothek (ca. 40.000 Bände) seines Schwiegervaters herrührte.7 Um diese Zeit muss er sich intensiv mit der Kritik der Bibel auseinandergesetzt haben – aus den späten 1730er Jahren stammen der Entwurf der Bibelkritik, die die ›Vernunftlehre‹ und die ›natürliche Religion‹ noch einschließt, sowie die frühesten und die pointiertesten Spitzen gegen eine Theologie der Sünde und der Sündenstrafen, die der Prädikation eines liebenden Gottes widersprechen. Er hat an dieser ›Apologie‹ ständig weitergearbeitet: Die exoterischen Resultate (teils auch die Voraussetzungen) dieser religionskritischen Bemühungen sind die sog. popularphilosophischen Schriften: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, zuerst gedruckt 1754, die letzte Auflage 1791; 1756 erschien die Vernunftlehre in der ersten Auflage, 1790 die fünfte Auflage. Auch die Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Tiere, zuerst 1760 erschienen, brachten es bis 1798 ebenfalls auf fünf Auflagen. Es ist bemerkenswert, dass sich Reimarus, nachdem er wohl in den 1740er Jahren das philologisch-kritische Bibelkonzept weitgehend ausgearbeitet hatte, für die Philologie wohl nicht weiter intensiv interessierte; zwar las er weiter öffentlich und privat über hebräische Philologie, aber er hatte kaum Hörer – 1751 mussten die Privatvorlesungen aus Mangel an Hörern gänzlich eingestellt werden.8 Deshalb wechselte er auch öffentlich zur Philosophie; einerseits zur Popularphilosophie, andererseits zur praktischen Philosophie und er las privatim über Ökonomie und Volkswirtschaft.9 Seine Enzyklopädievorlesungen waren offensichtlich berühmt. Bis zu seinem Tode 1768 wussten nur wenige von dem bibelkritischen esoterischen Werk, das er seit den frühen 1740er Jahren in mehreren Fassungen neu schrieb. Eine || 7 Bibliothecae Beati Jo. Alb. Fabricii Pars 1–4. Hamburg 1738/39 (Pars 1–3) und 1741 (Pars 4). Der Erlös betrug 8.498 Reichsthaler. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Hermann Samuel Reimarus. Handschriftenverzeichnis und Bibliographie. Göttingen 1979, Nr. 31, S. 54f. 8 Vgl. Schmidt-Biggemann: Hermann Samuel Reimarus (s. Anm. 7), S. 31. 9 Johann Georg Büsch: Encyclopädie der historischen, philosophischen und mathematischen Wissenschaften grossentheils nach dem Grundrisse des sel. Reimarus ausgearbeitet. Hamburg 1775.

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dieser früheren Fassungen hat Lessing, der von 1766–1770 in Hamburg lebte, wohl von Elise (oder von Johann Albert Hinrich) bekommen, ich vermute, nach dem Tode des alten Reimarus. Ob Lessing den alten Reimarus noch persönlich gekannt hat, weiß ich nicht.

3 Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes 3.1 Frühe Stadien 1735/40: Der Gott der Theodizee und der Gott der Bibel Es scheint, dass Reimarus’ Initialproblem darin bestanden hat, dass die philosophisch selbstverständlichen göttlichen Prädikate, die Leibniz in der Theodizee behandelt hatte, mit einer gründlichen Bibellektüre, die ja seine Dienstaufgabe war, nicht zu vereinbaren waren. Seine Grundposition hat er schon früh dargestellt – in dem ältesten erhaltenen Entwurf zur Apologie, noch lateinisch verfasst, schreibt er in sehr dezidierter theologischer Terminologie: Mentis status Theologice in melius mutatur, si ex magis vera, magis clara et distincta, magisque certa et viva cognitione de Deo et perfectionibus divinis intimo et summo Dei amore accentatur, adeoque libere et lubenter constans hoc invictum, adversus omnes illecebras propositum teneat, Deo in omnibus vivendi in voluntate eius, ratione eventorum prorsus acquiescat, et omnes non tantum futuros casus humanos sed et sempiternam felicitatem summe benigno creatori suo plena fiducia committat.10

Das ist das Ideal seiner Religion, er sieht es durch die Lehren von Mathematik, Physik, Medizin, Metaphysik und sogar Politik bestätigt – nur findet er es nicht in der Bibel: »Haec inquam ego omnia vitae beatae praesidia non requiro in Scriptura«.11 Reimarus beurteilt die Bibel, gleichermaßen die jüdische wie die christliche, aus der Perspektive der lutherischen Orthodoxie, die er nicht teilt, denn der Gott dieser Orthodoxie ist voluntaristisch, es ist keineswegs der philosophisch weichgespülte Gott der Theodizee. Entsprechend klagt er diese Orthodoxie an, einen Schreckensgott etabliert zu haben, der die Seligkeit an die Kenntnis der Bibel und den Glauben

|| 10 Reimarus: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 2), S. 415: »Der Status der Seele wird theologisch gebessert, wenn sie aus wahrer, klarer und distinkter, sicherer und lebhafter Erkenntnis Gottes und seiner göttlichen Vollkommenheiten zu inniger und wahrer Liebe zu Gott entzündet wird. Dann ist sie unbesiegbar, frei und freudig in allen Lebenslagen trotz allen Ungemachs auf Gott gerichtet; sie bleibt ruhig in allen, was ihr zustößt, und ihr Glaube und ihr Vertrauen in den wohlwollenden Schöpfer bleibt ungebrochen in den Zufällen des menschlichen Lebens.« 11 Ebd.

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gebunden, den Rest der Menschheit aber verdammt habe. Dieser Gott werde zugleich als Liebesgott verkauft: Da aber euer heiliger Gott nur wenige vorausgesehen, die würcklich heilig werden, so will er auch würcklich nur wenige seelig haben: er liebt also nur wenige in der Hauptsache: die anderen schaffet er zwar, ernehret sie eine kurtze Zeit. Aber das Facit ist doch er fütert sie zu einem ewigen Verderben, als Geschöpffe seines Zorns, er liebt sie nicht, er hasset sie ewig so viel man immer hassen kann. Sehet eine Heiligkeit, welche, weil sie ohne Liebe ist, nicht machet daß jemand heilig wird: ja welche Gott an seiner Liebe und Heiligung hindert, und also verursachet, daß wo nicht alle, doch die allermeisten Menschen in einen ewig unheiligen Zustand gerathen, und voller Marter und Verzweiflung den heiligen Gott unaufhörlich lästern.12

Das war also Reimarus’ dogmatisches Dilemma: Gottesprädikation und Sündentheologie passen nicht zusammen. Und daran arbeitete er sich sein Leben lang ab: Auf der Strecke blieben die Offenbarungstheologie und die zugehörige Idee der Heilsgeschichte.

3.2 Das ursprüngliche Konzept der Apologie Reimarus hat – vermutlich Anfang der 1740er Jahre – einen Gesamtentwurf seiner Bibelkritik konzipiert, der sowohl eine Theorie der natürlichen Religion als auch der rationalen Hermeneutik einschloss. Er hatte sechs Bücher vorgesehen: Das erste Buch sollte die ›Vernunftlehre‹ und die ›natürliche Religion‹ als Maßstab der Offenbarungsreligion darstellen. Im zweiten wollte er prüfen, ob eine natürliche Religion ohne Offenbarung möglich sei, nach der alle Menschen selig werden könnten. Das dritte Buch sollte untersuchen, ob das Alte Testament eine seligmachende Religion verkündet habe, ob Jesus eine andere als die alttestamentarische Religion verkünden wollte und ob er »ein anderer als weltlicher Messias zu werden getrachtet«. Vor allem hatte Reimarus schon die zentralen Momente seiner Kritik des Neuen Testaments im Blick: Ob die Apostel nach dem Tode Jesu nicht ein gantz anderes Lehrgebäude aufgerichtet als sie bey seinem Leben gehabt; und was sie dazu bewogen? Wobey die Umstände der Auferstehung Jesu, der Beweiß den die Apostel von diesem Grundsatze Christl. Religion geben, nebst ihrem Betragen geprüfet werden.13

Hier ist offensichtlich die Hauptthese der kritischen Darstellung des Neuen Testaments schon angesprochen: das Selbstverständnis Jesu als Prophet eines unmittelbar bevorstehenden Gottesreiches, die Lüge der Apostel, Jesus sei auferstanden, || 12 Reimarus: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 2), S. 517. 13 Ebd., S. 428.

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und ihre Uminterpretation des jesuanischen Messianismus, dem sie im Nachhinein die Prophetie seines eigenen Kreuzestodes, seiner Auferstehung und Wiederkunft im jüngsten Gericht zugeschrieben hätten. In diesem Sinne seien die Evangelien und die Paulusbriefe als späte Umdeutungen der jesuanischen Lehre zu deuten. Das vierte Buch sollte die Lehren von Gott, den Engeln und die Christologie enthalten, sofern sie aus der Bibel ersichtlich würden – dieses Buch ist nicht mehr geschrieben worden. Dagegen sind das fünfte und sechste Buch in starker Abweichung vom Ursprungsplan verfasst worden: Im fünften Buch sollten die Wunder des Alten Testaments als Beleg der Offenbarung und die christologischen Prophetien des Alten Testaments sowie deren Zitierungen im Neuen Testament, vor allem bei Matthäus, kritisch geprüft und abschließend die Geschichte des Kanons des Alten und des Neuen Testaments dargestellt werden.14 In toto: Es handelt sich um eine Revision der gesamten Offenbarungstheologie mit dem voraussehbaren Ergebnis, dass diese Analyse das bibelorientierte Christentum auflöst. – Diese exegetischen Thesen, die Reimarus in diesen Stücken zuerst formuliert und dann ausgearbeitet hat, haben seit ihrer Veröffentlichung durch Lessing die historisch-kritische Interpretation der Bibel weitgehend bestimmt und sie gelten im Wesentlichen noch heute.

3.3 Lessings »Wolfenbütteler Fragmente« 3.3.1 Natürliche Vernunft gegen biblische Offenbarung 3.3.1.1 Vernunft, Toleranz und die Seligkeit der Heiden Ich habe bislang vornehmlich aus dem bis 1994 noch unveröffentlichten Nachlass von Reimarus zitiert; und die letzte, umfangreichste Fassung der Apologie ist erst vollständig 1972 erschienen. Aber 1972 war die Debatte um die Bibelkritik längst gelaufen.15 Nur: Reimarus’ Haupttopoi waren vorher lange publiziert – Lessing hat die wichtigsten Stücke zwischen 1774 und 1778 herausgegeben. Sie erschienen in seiner Hauszeitschrift Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzogli-

|| 14 Das haben Richard Simon: Histoire Critique du Vieux Testament. [Paris 1678, gesamte Auflage noch vor Erscheinen konfisziert und verbrannt] Rotterdam 1685 und ders.: Histoire Critique du Texte du Nouveau Testament. Rotterdam 1689 sowie später ansatzweise Johann Salomon Semler: Abhandlung von freier Untersuchung des Canon. Halle 1771 getan. 15 Exemplarisch David Friedrich Strauß: Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Leipzig 1862; ders.: Das Leben Jesu. Tübingen 1835; Albert Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Zuerst Tübingen 1906 unter dem Titel: Von Reimarus zu Wrede; die maßgebliche, oft nachgedruckte Ausgabe ist die zweite, Tübingen 1913.

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chen Bibliothek in Wolfenbüttel sowie separat Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger.16 Die Stücke, die Lessing in seiner Zeitschrift Zur Geschichte und Litteratur edierte, befassten sich vornehmlich mit Argumenten, die in den 1770er Jahren teils schon lange diskutiert wurden: 1774 hatte er zunächst nur ein vergleichsweise knappes Stück veröffentlicht, das die Toleranz gegenüber den Deisten vertrat.17 Aber 1777 erschien dann ein erstes Konvolut von religionskritischen Stücken, das sofort ein erhebliches Echo auslöste.18 Es handelte sich um die Texte: Von Verschreyung der Vernunft auf den Kanzeln, Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben können, Durchgang der Israeliten durch das rothe Meer, Dass die Bücher des A.T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren.19 Da Lessing nach dem Eklat, den diese Veröffentlichung auslöste, die Zensurfreiheit für seine Zeitschrift entzogen wurde, veröffentlichte er 1778 das Hauptstück von Reimarus’ Kritik des Neuen Testaments als eigenes Buch: Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelischen Ungenannten.20 Schon im ersten Fragment, Von Verschreyung der Vernunft auf den Kanzeln, liegt das Hauptargument der Bibelkritik Reimarus’ fest: Die Vernunft ist die einzige Instanz, die allen Menschen gegeben ist. Sie muss deshalb als Voraussetzung der Offenbarung akzeptiert werden. Die Vorstellung, dass die Bibel der Vernunft vorzuordnen sei, führt zu der absurden Konsequenz, dass der liebende Gott den größten Teil der Menschheit von der Seligkeit schon deshalb ausschließen muss, weil die meisten Menschen von der Bibel nichts wissen und nichts wissen können. Reimarus argumentiert gegen das ›sola scripura‹ und das ›sola fide‹ der lutherischen Orthodoxie. Der Topos, dass die biblische göttliche Offenbarung nicht allen Menschen zugänglich sei und folglich gerechterweise nicht allgemein gelten könne, wird im zweiten Fragment, das Lessing ediert hat, pointiert dargestellt: Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben können.21 Das vierte

|| 16 Schmidt-Biggemann: Hermann Samuel Reimarus (s. Anm. 7), Nr. 77, 78, 79, 87. 17 Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten. In: Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Dritter Beytrag. Von Gotthold Ephraim Lessing. Braunschweig 1774, S. 195–226. 18 Schmidt-Biggemann: Hermann Samuel Reimarus (s. Anm. 7), Nr. 76–83. 19 Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend. In: Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Vierter Beytrag. Braunschweig 1777, S. 261–544. 20 Braunschweig 1778. 21 Diese Gedankengänge, die Reimarus um 1740 entwickelt hatte, waren seit Mendelssohns Phädon (Berlin 1767) und vor allem seit Johann August Eberhards Neue Apologie des Sokrates oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden (Berlin 1772) Teil einer lebhaften öffentlichen Debatte. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Lessings origenistische Eschatologie. In: Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Hg. von Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2011, S. 138–153.

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Fragment, Dass die Bücher des A.T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren, erläutert implizit das ideale Religionskonzept von Reimarus: Die Religion ist eine Liebesreligion, die zu Gottesliebe und ewiger Seligkeit führt. Und genau dieses Religionskonzept findet Reimarus nicht im Alten Testament. 3.3.1.2 Philologisch-historische Kritik des Alten Testaments Das dritte Fragment Durchgang der Israeliten durch das rothe Meer ist von anderer Natur als die Fragmente 1, 2 und 4, die Lessing 1777 veröffentlichte. Bei diesem 3. Stück geht es nicht um eine Religionsphilosophie, die die Bedeutung der Vernunft für die Religion und die Seligkeit aller Menschen betrifft, hier handelt es sich um philologisch-historische Text- und Sachkritik. Dieses Fragment hat einen spöttisch-komischen Charakter. hier wird die Logik der Kompossibilität (der »Einstimmung und des Widerspruchs«), die Reimarus für die Vernunft und für die vernünftige (Re-)Konstruktion der Welt voraussetzt, im historisch-kritischen Sinne eingesetzt – und diesem Maßstab der kritischen Vernünftigkeit genügen die biblischen Berichte nicht. Reimarus berechnet hier, dass die Zahlenangaben des biblischen Buchs Exodus so absurd sind, dass diese Geschichte nicht, zumindest so nicht, stattgefunden haben kann. Sein Humor ist destruktiv und beißend: Im Buch Exodus 12,37 heißt es: »Die Israeliten brachen von Ramses nach Sukkoth auf. Es waren an die 600.000 Mann zu Fuß, nicht gerechnet die Kinder.« Reimarus’ Kommentar: Aber 600 000 Mann Israeliten, die das Gewehr tragen konnten, d. i. die über 20 und unter 60 Jahren waren! Wo sollte eine solche Menge Menschen hergekommen seyn, seitdem sie selb siebzigste [vor siebzig Jahren] nach Egypten gezogen? Denn man muß wissen, daß gegen einen Mann des Alters vier andere, an Weibern, Kindern, Jünglingen unter zwanzig Jahren, an Alten über 60 Jahre, wie auch an Kranken, Krüppeln, Lahmen, Blinden zu rechnen sind, des Gesindes zu geschweigen. So müsste das ganze Heer 3 Millionen Köpfe oder Seelen ausgemacht haben!22

Und dann rechnet Reimarus durch; in den 70 Jahren nach der Ankunft Jakobs und seiner Söhne sieht das so aus: Wenn alle Männer bis siebzig zeugungsfähig gewesen wären, würde jeder Generation 10fache Vermehrung zustehen, sie sollten sich alle verheurathen; keine Ehe soll unfruchtbar seyn; kein Kind soll sterben. Ist das nicht schon übermenschlich genug? So wäre denn die erste Generation in Ägypten von 350, die zweyte 1750, die dritte 8750, die vierte 43 750, die fünfte, von der Hälfte der vierten, 109 375 Köpfe, davon jedoch nur der fünfte Theil, d. i. 21 875, streitbare Männder abgegeben könnte, die aus Egypten aufgebrochen wären. Wenn

|| 22 Reimarus: Apologie (s. Anm. 1), Bd. 1, S. 296.

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wir da auch die vorigen Generationen, als noch lebend, dazu thun, so bringen wir doch nicht mehr als 163 975 zusammen.23

Die Absurdität dieser Zahlen wird noch einmal gesteigert, wenn es um den Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer geht. Lessing hat die frühere Fassung dieses Stücks 1777 veröffentlicht, ich zitiere Lessings Fassung. Reimarus kombiniert hier die Interpretation von Flavius Josephus’ Jüdischen Altertümern24 mit den biblischen Angaben und kommt zur Zahl von 3.100.000 Menschen, 6.000 Wagen mit Futter und Bagage, 300.000 Ochsen und 600.000 Schafen. Er stellt sich nun vor: Vorne geht ein Führer mit einem brennenden und schmauchenden Topfe auf einer Stange […] damit man ihn in einer großen Ferne Tag und Nacht sehen kann [das ist die Rauch- und Feuersäule] und sich also auch die Hintersten nicht verirren mögten. Ein solcher Zug gäbe [wenn zehn Mann in einer Reihe nebeneinander marschierten] bei einem Heere von 3 000 000 Menschen 300 000 Reihen und Glieder. Wenn wir nun auf jede Reihe, mit dem Viehe und Bagage-Wagen durch einander gerechnet, nur drei Schritte Platz bringen, so wird sich der ganze Zug auf 900 000 Schritte oder 180 Teutsche Meilen erstrecken. Da nun ein hurtiger Kerl nicht mehr als 4 000 Schritte in einer Stunde gehen kann, so würde der Zug, ohne Rasttage zu rechnen, 225 Stunden oder 9 Tage und 9 Stunden währen, ehe die letzten nur in der erstern Fußstapfen treten konnten.25

Also: ein Zug von 270 Kilometern Länge und ein Gewaltmarsch, der ohne Pausen 9 Tage und neun Stunden dauern würde. Eine logistische Absurdität. Nun, wir haben leicht lächeln über diese Berechnung. Der Kommentar zu Ex 12,37 schreibt in der Einheitsübersetzung der Bibel exegetisch gönnerisch: »Die Zahl 600 000 ist eine theologische Zahl: Alle die zum Gottesvolk gehören, sind mit denen, die hinter Mose her in die Freiheit zogen, unterwegs.«26 Aber so einfach ist das nicht mit der Apologetik: Die Idee, dass es sich um mythische Zahlen handelt, steht Reimarus nicht zur Verfügung. Er geht noch vom lutherisch-orthodoxen Anspruch einer historisch exakten Biblizität aus, in der die Wahrheit der Bibel vor jeder philosophischen Berechenbarkeit figuriert. Eine solche Exegese war barocker Standard;27 die Idee einer eigenen Logik im Mythos wurde erst durch Christian Gott-

|| 23 Ebd., S. 297. 24 Flavius Josephus: Jüdische Altertümer, II. Kap., 15, 16. 25 LW 7, S. 391. 26 Die Heilige Schrift. Einheitsübersetzung. Kommentierung von Eleonore Beck. Stuttgart 1980. S. 73. 27 S. dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Erbauliche versus rationale Hermeneutik. Hermann Samuel Reimarus’ Bearbeitung von Johann Adolf Hoffmanns ›Neue Erklärung des Buchs Hiob‹. In: Veröffentlichungen der Joachim Jungius-Gesellschaft 85 (1998), S. 23–52; ders.: Lingua Adamica and Philology. The Rise and Destruction of a Concept. In: Yearbook of the Maimonides Centre for Advanced Studies 2017, S. 247–266.

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lob Heyne28 entwickelt und dann von Johann Gottfried Eichhorn, einem HeyneSchüler, auf das Alte Testament angewandt.29 Bei Reimarus sieht das noch anders auch: Mit seiner Berechnung biblischer Zahlen zerstört er das Konstitutionsnarrativ der jüdischen Identität und natürlich die zugehörige christliche Osterliturgie. Mit dem Heyneschen Konzept des Sermo mythicus käme man aus der Schwierigkeit, das Alte Testament als maßgebliches Narrativ anzuerkennen, vielleicht heraus. Allerdings bleibt Reimarus’ Erkenntnis, im Alten Testament gebe es kein Konzept der Unsterblichkeit und folglich keines einer ewigen Seligkeit, unbestreitbar – und Lessing übernimmt diese These denn auch für die Konzeption der ersten Phase seiner Erziehung des Menschengeschlechts.30

3.3.2 Kritik des Neuen Testaments: Messianismus und Eschatologie Verglichen mit der Kritik des Neuen Testaments ist die Destruktion des Alten Testaments, die Reimarus vorträgt, eine Petitesse. Seine philologische Destruktion der Theologie des Neuen Testaments hat er schon um 1740, in der ersten Fassung der Apologie formuliert – und er hat sie im Kern nicht verändert. 1740 schreibt er (ich habe den Text schon oben zitiert): Ob die Apostel nach dem Tode Jesu nicht ein gantz anderes Lehrgebäude aufgerichtet als sie bey seinem Leben gehabt; und was sie dazu bewogen? Wobey die Umstände der Auferstehung Jesu, der Beweiß den die Apostel von diesem Grundsatze Christl. Religion geben, nebst ihrem Betragen geprüfet werden.31

Lessing hat die gesamte Kritik des Neuen Testaments in der frühen Fassung, die ihm zur Verfügung stand, veröffentlicht.32 Worum handelt es sich? Reimarus geht von der selbstverständlichen Tatsache aus, dass die Evangelien erst während der Konstitutionsphase der frühen christlichen Gemeinde aufgeschrieben worden sind. Aus dieser Perspektive heraus ist es selbstverständlich, dass sie die Lehre vom Kreuzestod und der Auferstehung Jesu voraussetzen. Reimarus’ große Entdeckung im Neuen Testament besteht darin, dass

|| 28 Christian Gottlob Heyne: Rede zum 27. Jahrestag der Gründung der Universität Göttingen am 17. September 1764: Proluduntur nunulla as quaestionem de cassis fabularum seu mythorum veterum physicis. In: ders.: Opuscula Academica I. Göttingen 1785, S. 184–206. 29 Johann Gottfried Eichhorn: Historisch-kritische Einleitung ins Alte Testament. Leipzig 1780– 1783. 30 Die §§ 1–53 der Erziehung des Menschengeschlechts erschienen ebenfalls 1777, gemeinsam mit den Fragmenten, in Zur Geschichte und Litteratur (s. Anm. 19). 31 Reimarus: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 2), S. 428. 32 1777 im fünften Fragment Über die Auferstehungsgeschichte und 1778 in einer separaten Veröffentlichung Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger (s. Anm. 16).

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er die durchgängige Imprägnierung des Neuen Testaments mit Eschatologie und Messianismus zuerst erkennt und darstellt. Lessing hat die Brisanz dieser These richtig eingeschätzt, als er diese Texte veröffentlichte. Reimarus’ These ist ganz von der Entdeckung des eschatologischen Charakters des Neuen Testaments bestimmt: Jesus hat sich danach als Prophet des Reiches Gottes verstanden, das er als unmittelbar bevorstehend predigt. Die Jünger folgen ihm in dieser Lehre. Mit dem Tode Jesu ist diese Hoffnung vorbei. Sie können aber von dieser Hoffnung auf das Reich Gottes nicht lassen. Deshalb stehlen einige den Leichnam, und die Evangelien berichten dann höchst widersprüchlich von der Auferstehung. Allerdings glaubt die Gemeinde, was sie gern glauben möchte: dass nämlich der Herr bald wiederkommt. Diese Wiederkunft ist dann die Hoffnung auf den kosmischen Messianismus. Aus dieser Hoffnung heraus ist das Neue Testament konzipiert – und die Prophezeiungen Jesu über seinen eigenen Tod sind in die nachösterlichen Erzählungen über Jesu Leben und Lehre verwoben. Reimarus stellt die einzelnen Phasen der Entwicklung des neutestamentarischen Christentums in drei Phasen dar: 1. Jesu Selbstverständnis als Prophet / Messias, der das Reich Gottes predigt; 2. Jesu Kreuzigung, der Raub des Leichnams, und die Berichte über die Auferstehung; 3. Parususieverzögerung: Die Wiederkunft des Herrn findet nicht statt; a. das Reich Gottes tritt nicht zu Jesu Lebzeiten ein; b. auch die Prophezeiung der baldigen Wiederkunft des ›Menschensohns auf den Wolken des Himmels‹ bleibt unerfüllt. 3.3.2.1 Jesu Selbstverständnis als Prophet / Messias, der ethische Reform und das Reich Gottes predigt Jesu polittheologischer Messianismus Reimarus stellt bündig fest: Die Reden Jesu bey den vier Evangelisten sind nicht allein bald durchzulaufen, sondern wir finden alsobald den ganzen Inhalt und die ganze Absicht der Lehre Jesu in seinen eigenen Worten entdecket und zusammen gefasset. Bekehret euch und gläubet dem Evangelio; oder wie es sonst heisset: Bekehret euch, denn das Himmelreich ist nahe herbeygekommen.33

Dass Jesus von den Evangelisten als Messias verstanden wurde und sich selbst als dieser verstanden habe, ist für Reimarus ausgemacht. Er betrachtet den Inhalt von Jesu Lehre als jüdische Selbstverständlichkeit, setzt also ein messianisches Verständnis des Judentums voraus. Allerdings ist dieser jüdische Messianismus von polittheologischer Natur:

|| 33 Von dem Zwecke Jesu (s. Anm. 20), I, § 4, S. 9f.

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Das gibt die Sache selbst; da Jesus kommen war als der Meßias, und Johannes eben dieses verkündigte: es giebt es auch der Gebrauch eben der Redensart bey den Juden damaliger Zeiten, so daß, wenn sie von dem Himmelreich, das da kommen sollte, hörten, sie nichts anders, als das Reich des Meßias darunter verstanden.34

Dieser Messianismus ist nicht, wie später bei Paulus, spirituell als allgemeine Erlösung der Menschheit gedeutet, sondern wird als unmittelbar bevorstehendes Reich Gottes verstanden, das den Juden, und nur ihnen, verheißen wird; die anderen Völker (›Heiden‹) spielen keine Rolle. Die Voraussetzung für die Ankunft des Gottes ist die moralische Umkehr, die Jesus predigt. Seine Lehren sind »auf ein rechtschaffenes thätiges Wesen, auf eine Aenderung des Sinnes, auf ungeheuchelte Liebe Gottes und des Nächsten, auf Demuth, Sanftmuth, Verläugnung seiner selbst, und Unterdrückung aller bösen Lust gerichtet.«35 Jesu Berufung auf den Willen seines himmlischen Vaters ist nicht mehr als ein autoritätsgestützter Appell zur ethischen Reform. Die Lehre Jesu ist frei von jeder Theologie; es gibt keine spekulative Gottessohnschaft und keine Trinitätslehre. Jesus lehrt, wie man angesichts des bevorstehenden Königreiches Gottes richtig lebt, deshalb enthält seine Lehre weder theologische Spekulationen noch irgendeine Dogmatik. Die Trinität, die Gottessohnschaft Jesu und die Lehre der stellvertretenden Erlösung kommen in den Evangelien nicht vor. Wenn sich Jesus von den Jüngern Gottes Sohn nennen lässt, so ist das, wie Reimarus feststellt, eine gängige alttestamentarische Beschreibung für einen Gerechten; die Passagen, in denen Jesus im Neuen Testament Gottes Sohn genannt wird, sind folglich Zitate aus dem Alten Testament. Das gilt z. B. für die Stelle Mt 4,6, wo der Satan Jesus auf den Zinnen des Tempels versucht: »Wenn du Gottes Sohn bist, so stürze dich hinab« – Reimarus findet diese Passage im Psalm 91.36 Ansonsten führt er die Rede von der Gottessohnschaft auf das Buch der Weisheit zurück. Sein Fazit: »Man verstehet hieraus genugsam, daß die allgemeine Bedeutung der Ausdrückung, Gotes Sohn, auch im neuen Testamente, bey den Juden und in Jesu eigenem Munde, einen von Gott besonders geliebten Menschen anzeige.«37 Dass der Messias auch als Sohn Gottes benannt werde, sei keine unerhörte Bedeutungsveränderung des Ausdrucks

|| 34 Ebd., I, § 4, S. 10f. 35 Ebd., I, § 6, S. 16f. 36 Ebd., I, § 11, S. 31 »Weiter spricht der Satan, als er Jesum auf die Spitze des Tempels gestellt: bist du Gottes Sohn, so laß dich hinab: denn es stehet geschrieben, er wird seinen Engel über dir Befehl thun, daß sie dich auf den Händen tragen, auf daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Die Worte sind aus dem 91. Psalm, da die Rede ist von den Frommen, welche unter dem Schutze des Höchsten sind, und ihr Vertrauen auf seine Bewahrung setzen können, im Gegensatze zu den Gottlosen.« 37 Ebd., I, § 12, S. 35f.

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Sohn Gottes, »sondern wir müssen blos die gebräuchliche erweitern, und verstehen, daß der Meßias darum so heisse, weil er besonders von Gott geliebt seyn werde.« Eine Lehre vom Geist als einer besonderen göttlichen Person sei den Juden völlig unbekannt; wenn der Geist im Neuen Testament als Taube erscheine, so sei das ein Bild für eine innere Vision; es handle sich um ein Phantasma der Evangelisten: Weil nun Gesichte nichts anders, als Vorstellungen der Einbildungskraft sind, und die Einbildungskraft mit lauter sinnlichen Bildern beschäftiget ist: so ist es kein Wunder, dass Johannes die geistlichen Gaben, welche Gott vom Himmel dem Messias mittheilet, in einem sinnlichen Bilde, und zwar einer Taube, die vom Himmel herab kommt, vorstellet.38

Damit ist die Frage nach der Trinität im Neuen Testament erledigt; und Reimarus fügt noch an: Wenn aber Jesus selbst diese fremde und den Juden ganz unbekannte Lehre von dreyen verschiedenen Personen in einem göttlichen Wesen, hätte vortragen wollen, oder derselben Erklärung zu den Pflichten ihres Lehramtes gerechnet hätte: sollte er wohl davon bis nach seiner Auferstehung geschwiegen haben?39

Jesus als rechtgläubiger Jude. Es ist für Reimarus wichtig, dass Jesu Lehre auf keine Änderung des jüdischen Zeremonialgesetzes zielte. Die beiden zentralen Sakramente Taufe und Abendmahl seien Teil jüdischer Zeremonien; Jesus habe »die jüdische Religion in keinem Stücke abschaffen, und statt derselben eine neue einführen wollen.«40 Daraus folgt für Reimarus, »daß die Apostel der Lehre, Absicht und Befehl ihres Meisters Schnurgerade entgegen gelehret und gehandelt« hätten.41 Mit dem apostolischen Christentum »wurden denn auch bald Beschneidung, Opfer, Reinigung Sabbathe, Neumonden, Festtage, und dergleichen gänzlich abgeschaffet, und das Judenthum zu Grabe gebracht.« Für Reimarus hat sich Jesus als Jude verstanden, die Ausweitung der Lehre über das Judentum hinaus ist nie seine Absicht gewesen. Alle Veränderung an den jüdischen Geboten sind mit der ursprünglichen Lehre Jesu unvereinbar; alle trinitarischen und internationalistischen Interpretationen haben kein fundamentum in textu. Jesus ist Jude, seine Lehre bleibt jüdisch, allerdings verkündet er als Jude das Reich Gottes. Was hat man darunter verstanden? Offensichtlich ein Reich, in dem Gott über die zwölf Stämme Israels herrscht; das jedenfalls hätten die Jünger und die Juden, die Jesus anhingen, geglaubt: »Demnach wo die Juden diesem Evangelio glaubten, da ihnen die Zukunft des Himmelreiches ohne weitere Erklärung verkün-

|| 38 Ebd., I, § 17, S. 58. 39 Ebd., I, § 18, S. 61. 40 Ebd., I, § 19, S. 70. 41 Ebd.

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diget ward: so mußten sie auch nach ihren Begriffen einen weltlichen Messias und ein zeitlich Reich erwarten.«42 Die Enttäuschung der Jünger spiegele sich noch in der Emmaus-Geschichte, wo es heißt: »Wir hofften, er (Jesus von Nazareth) sollte Israel erlösen.«43 3.3.2.2 Jesu Kreuzigung, der Raub seines Leichnams und die Berichte über die Auferstehung Der Prozess, der zur Kreuzigung Jesu führt, hat zwei Momente, einerseits Jesu scheiternde Prophetie von der unmittelbar bevorstehenden Ankunft des Reiches Gottes, andererseits der Widerstand des Hohen Rates. Reimarus stellt den Zug nach Jerusalem so dar, als wolle Jesus mit dieser offensichtlichen Provokation der jüdischen Priesterelite die Ankunft des Gottesreiches sozusagen erzwingen. Die Reaktion darauf folgt prompt: Er wird verhaftet und verurteilt. Der Hohe Rat will diesen polittheologischen Messianismus angesichts der politischen Situation der Besatzung durch die Römer schleunigst beenden. Schließlich hat es, wie die grausig beendeten Makkabäeraufstände zeigen, schon genug vergebliche messianische Aufstandsversuche gegeben. Jesus hat nach Reimarus gleichwohl bis ans Ende seines Lebens gehofft, dass er die Intervention Gottes aus dem Jenseits, die das messianische Reich verwirklichen werde, herbeizwingen könne. Reimarus deutet die Berichte zu Jesu Tod am Kreuz so: Er beschloss sein Leben mit den Worten: Eli, Eli, lama asaphthani: Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen: ein Geständnis, so sich ohne offenbaren Zwang nicht anders deuten lässet, als daß ihm Gott zu seinem Zweck und Vorhaben nicht geholfen, wie er gehofft hatte. Es war demnach sein Zweck nicht gewesen, daß er leiden und sterben wollte; sondern daß er ein weltlich Reich aufrichtete, und die Juden von ihrer Gefangenschaft erlöset […].44

Erst im Nachhinein wird der Messias von den Jüngern als der leidende Messias spiritualisiert, der dann auferstehen wird. Aber zunächst haben sich die Jünger das Reich Gottes weltlich und jüdisch vorgestellt; Jesus war »kein Erlöser des menschlichen Geschlechts, der durch sein Leiden und Sterben die Sünde der ganzen Welt tilgen sollte, sondern ein Erlöser des Volkes Israel von der weltlichen Knechtschaft«.45 Das sei die ursprüngliche Meinung der Apostel gewesen. Demnach haben sie auch auf Jesum als einen weltlichen Erlöser des Volkes Israel bis an seinen Tod gehoffet, und nach fehlgeschlagener Hoffnung, nach seinem Tode erst das Systema von

|| 42 Ebd., I, § 30, S. 113. 43 Ebd., I, § 30, S. 114. 44 Ebd., II, § 8, S. 153. 45 Ebd., I, § 30, S. 115.

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einem geistlichen leidenden Erlöser des ganzen menschlichen Geschlechts gefasset: folglich auch ihr voriges Systema von der Absicht der Lehre und Verrichtung Jesu geändert.46

Reimarus findet den Beleg für diese These in der Grablegung Jesu: Wenn die Apostel wirklich an Jesu Auferstehung geglaubt hätten und wenn Jesus vorher davon geredet hätte, dann wäre die Grablegung, wie sie in den Evangelien geschildert wird, sinnlos gewesen. Sie hielten ihn für tot, und von einem Auferstehungsglauben gibt es keine Spur: Da reden und handeln sie sämtlich so, als ob sie ihr Lebtage nichts davon gehöret hätten: sie wickeln den Leichnam ein, sie suchen ihn mit vieler Specerey für die Fäulniß und Verwesung zu bewahren, ja sie suchen dieses noch am dritten Tage nach seinem Tode zu thun, da jetzt die verheissene Zeit seiner Auferstehung heran kam.47

Und gerade die Erzählung von der Aufstellung der Wachen am Grabe Jesu, »damit nicht die Jünger kämen und ihn stöhlen, und sagten hernach, er sey auferstanden«,48 ist Reimarus verdächtig. Keiner derjenigen, die am Ostermorgen zu Jesu Grab gehen, denkt noch an die Wachen; keiner erwartet ein leeres Grab, sondern alle kommen, um ihn zu betrauern. Außerdem stellt er fest, die Vorstellung, der Hohe Rat sei am Abend des Paschafestes zu Pilatus gegangen, sei sinnlos, weil der Rat dann unrein geworden wäre und das Paschafest nicht hätte feiern können. So wird es plausibel, dass man sich nach Reimarus den Fortgang der Geschichte – wunderfrei – nur so vorstellen kann, dass einige der Jünger (nur wenige) den Leichnam gestohlen hätten und ihn verschwinden ließen.49 Ihre falsche, aus unerfüllten Erwartungen stammende Lehre einer vergeistigen Messianität, die Jesus als Gottessohn für alle Menschen sterben und auferstehen ließ, sei dann für das folgende Christentum der frühen Gemeinden entscheidend geworden. 3.3.2.3 Parusieverzögerung: Die Wiederkunft des Herrn findet nicht statt Das Nichteintreten des Reichs Gottes zu Jesu Lebzeiten ist die Schlüsselenttäuschung der Jünger gewesen – Reimarus interpretiert diese Enttäuschung als Ursache, die zunächst zur Panikreaktion des Diebstahls von Jesu Leichnam führt, als eine die Realität negierende Kompensationshandlung. Dieses Verhalten hat nun seinerseits die Konsequenz, dass die Realität umgedeutet werden muss: das geschieht durch Spiritualisierung und Aufschubrhetorik. Die Spiritualisierung findet

|| 46 Ebd., I, § 31, S. 117. 47 Ebd., I, § 32, S. 121. 48 Ebd., I, § 32, S. 122f. 49 Das entspricht der jüdischen Polemik gegen die Auferstehung Jesu im Toledot Yeshu. Vgl. Toledot Yeshu. The Life Story of Jesus. Two vols. and a Database. Hg. von Michael Meerson und Peter Schäfer. Tübingen 2014. Bd. 1, S. 281.

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sich in den Auferstehungsgeschichten, die den Leib Jesu irgendwie zwischen Realität und Gespenstigkeit imaginieren. Entscheidend ist die dogmatische Bedeutung dieser Auferstehungsgeschichte: Sie ermöglicht es, die Erwartung des Reichs Gottes aufrecht zu erhalten. Denn die nun verkündete Lehre von der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu / Christi ist die Bedingung für die Rede von seiner Wiederkehr. Die Apostelgeschichte berichtet von zwei Männern in weißen Gewändern: »Was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, der von euch ging und in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen.«50 Dieser Prophetie entspricht Jesu Aussage vor dem Hohen Rat bei Markus,51 wo Jesus die Prophetie Daniels52 zitiert: »Ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen.« Reimarus bezieht sich bei seiner Demontage der Auferstehungsgeschichte auf eine doppelte Messiashoffnung, die er in der jüdischen Tradition findet: die Vorstellung eines politischen Messiaskönigs und die eines leidenden Messias. Er schreibt: Erstlich ist zu wissen, daß die Juden selbst zweyerlei Systemata von ihrem Meßias hatten. Die allermeisten zwar erwarteten in solcher Person einen weltlichen Regenten, der sie von der Sklavery erretten und ihnen andere Völker unterthänig machten sollte. Und in diesem Systemate war nichts als Herrlichkeit; kein vorgängig Leiden, keine Wiederkunft: sondern das gewünschte Reich sollte nach dieser Hoffnung Israels alsobald angehen, wenn der Meßias käme. Es waren aber jedoch andere, obwohl weit wenigere Juden, welche sagten, ihr Messias würde zweymal, und zwar in ganz verschiedener Gestalt kommen. Erst würde er armselig erscheinen, leiden und sterben; dann aber würde er aus den Wolken des Himmels wiederkommen und alle Gewalt empfangen […].53

Diese zweite Variante der Messiaserwartungen hätten die Jünger bedient, als die erste Variante sich zerschlagen habe. Allerdings stehe die Wiederkunft des Herrn auch in der zweiten Variante noch aus: Die Evangelisten hätten Jesus die Vorhersage in den Mund gelegt, dass die endgültige Ankunft des Messias sich nach den Drangsalen, die dem jüdischen Volk widerfahren sollten, und nach einer kosmischen Katastrophe sehr bald bevorstehe: »dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dieses alles geschehe«.54 Aber auch hier sei eine falsche Prophetie gepredigt worden. Paulus sei daher schon im ersten Thessalonicherbrief gezwungen gewesen, die Gemeinde zur Geduld zu mahnen, aber seine Botschaft sei offensichtlich erfolglos gewesen; der zweite Thessalonicherbrief, in dem vom Katechonten und Antichrist die Rede ist, belege diese

|| 50 Apg 1,11. 51 Mk 14,62. 52 Dan 7,13. 53 Von dem Zwecke Jesu (s. Anm. 20), II, § 37, S. 179f. 54 Mt 14.

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Schwierigkeiten des Paulus, die er bei seiner Verkündigung mit der Verzögerung der Wiederkunft des Herrn gehabt habe: Darum spricht er in seinem andern Briefe, mit geheimnißvollen Worten, von einer Abweichung, von einem Menschen der Sünde, von dem Sohn des Verderbens, dem Gottlosen, der zuvor kommen müsse; der sey zwar jetzt schon im Werk, aber er werde aufgehalten, und wenn er sich denn endlich offenbare, so werde ihn der Herr umbringen mit dem Athem seines Mundes, und werde ihn abschaffen durch die Erscheinung seiner Zukunft.55

Petrus schließlich habe in seinem zweiten Brief darauf hingewiesen, dass vor Gott tausend Jahre wie ein Tag seien.56 Es bleibe, so Reimarus’ Resümee, in der Bibel nichts als die Aufschubrhetorik für die zweite Ankunft des Messias; am Ende sei das zentrale Motiv des Neuen Testaments, die Eschatologie, ganz verdrängt worden. Reimarus stellt fest: Die ersten Kirchenväter nach den Aposteln haben noch immer gehoffet, Christus würde zu ihren Zeiten erscheinen, und sein Reich auf Erden anfangen, und so ist es von einem Jahrhundert zum andern gegangen, so daß man endlich die unerfüllte Zeit der andern Zukunft Christi ganz in Vergessenheit gebracht, und die heutigen Theologi über diese Materie, weil sie ihren Absichten nicht förderlich ist, hinzwischen, auch die Zukunft Christi aus den Wolken des Himmels auf einen ganz andern Zweck ziehen, als Christus selbst und die Apostel gelehrt haben.57

4 Das Ende des evangelischen Christentums als Konsequenz der kritischen Philologie Reimarus weiß, was er tut, wenn er die Auferstehungsgeschichte demontiert und die Wiederkunft des Herrn auf den St. Nimmerleinstag verschoben sieht: Er zerstört die Fundamente des Christentums. Die beiden Facta und Sätze, Christus ist von den Todten auferstanden: und wird in den Wolken des Himmels binnen gesetzter Zeit wiederkommen zu seinem Reiche, sind ausser Streit die Grundsäulen, worauf das Christenthum und das neue Systema der Apostel gebauet ist. Ist Christus nicht auferstanden, so ist unser Glaube eitel, wie Paulus selber sagt: und ist oder wird er nicht wiederkommen zur Vergeltung der Gläubigen in seinem Reiche, so ist der Glaube eben so unnütze als er falsch ist.58

Und genau dieses ist für Reimarus ausgemacht: Weder ist der Herr auferstanden noch ist deshalb abzusehen, dass er je zum Jüngsten Gericht erscheint. Reimarus’ || 55 Von dem Zwecke Jesu (s. Anm. 20), II, § 43, S. 200. 56 2 Petr 2,8. 57 Von dem Zwecke Jesu (s. Anm. 20), II, § 45, S. 206. 58 Ebd., II, § 45, S. 207f.

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Bibelkritik ist nichts weniger als die Destruktion der zentralen Lehren des Christentums. Er beschreibt seine kritische Tätigkeit denn auch als Abgesang auf das Christentum: Wesentliche Stücke des Christenthums sind die Glaubenartikul, wegen welcher Verläugnung oder Unwissenheit ich aufhören würde, ein Christ zu seyn: und dahin gehören ja wohl hauptsächlich die geistliche Erlösung Christi durch sein Leiden und Sterben: die Auferstehung vom Tode, als eine Bestättigung des vollgültigen Leidens: und die Wiederkunft zur Belohnung oder zur Strafe, als eine Frucht und Folge der Erlösung. Wer demnach diese ersten Grundsätze beweiset oder angreifet, der gehet auf das Wesen der Sache.59

Genau das nimmt Reimarus für sich in Anspruch. Eigentlich ist es verwunderlich, dass nach dieser Destruktion das Christentum dennoch existiert – ich vermute, nicht wegen der Aufklärung (für die Reimarus sicher steht), sondern wohl trotz ihrer. Es könnte sein, dass die Hoffnung auf ein gerechtes, vielleicht gutes Ende, auf die Wiederkunft des Herrn, ein so konstitutiver Teil der Weltgeschichte ist, dass sich Weltgeschichte als ganze nicht ohne Heilsgeschichte denken lässt, weil sie als Ganzes einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Und diese hoffnungsvolle Geschichte, die Erlösung vom Bösen verheißt, ist vermutlich auch durch noch so kompetente Bibelkritik nicht zu destruieren.

|| 59 Ebd., II, § 46, S. 210f.

Dieter Hüning

»Wir sind nicht geboren, Atheisten zu seyn« Reimarus’ Kritik am moralischen Nihilismus La Mettries in den Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion

1 Die Doppelfunktion von Reimarus’ Religionsphilosophie Als Johann Albert Hinrich Reimarus im Jahre 1814 das Manuskript der Apologie seines Vaters Hermann Samuel der Hamburger Stadtbibliothek übergab, äußerte er die Bitte, »die Handschrift solle nicht ausgeliehen« werden, sondern es solle »nur fürs erste Männern, welche man dazu geeignet fände«, Einsicht gewährt werden. Falls aber »Schwärmer die Menschheit wieder in den Catholizismus zu stürzen drohen sollten«, so könne es wohl nützlich sein, »sich ihnen mit einem solchem Panier der Freiheit entgegenzustellen«.1 Aus diesen Worten spricht einerseits die Pietät, mit welcher der Sohn das Erbe seines Vaters behandelte, aber zugleich eine anachronistische Vorstellung, dass die Religions- bzw. Bibelkritik der Apologie nach dem Erscheinen der religionsphilosophischen Schriften von Kant und Fichte weiterhin ihre Gültigkeit und vor allem ihre kritische Durchschlagskraft bewahrt haben sollte. Den Anachronismus von Reimarus’ Kritik der Offenbarungsreligion hatte schon Lessing in Bezug auf die von ihm herausgegebenen Wolfenbütteler Fragmente problematisiert. Reimarus hatte dort die Verschreiung und Unterdrückung der gesunden Vernunft durch die Theologen beklagt, aber in Lessings Augen hatte sich die religionsphilosophische Situation inzwischen grundlegend geändert. Denn viele Theologen hatten − vor allem unter dem Einfluss des Wolffianismus − den Pfad des Rationalismus betreten. Und deshalb konnte Lessing in seinen »Gegensätzen des Herausgebers« darauf hinweisen, dass die Zeiten, in denen Aufklärung und natürliche Religion auf den Kanzeln verschrien und verlästert wurden, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts längst vorbei seien: Die Kanzeln, anstatt von der Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens zu ertönen, ertönen nun von nichts, als von dem innigen Bande zwischen Vernunft und

|| 1 Gerhard Alexander: Einleitung. In: Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Im Auftrag der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 1, S. 9–38, hier S. 18. https://doi.org/10.1515/9783110726558-009

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Glauben. Glaube ist durch Wunder und Zeichen bekräftigte Vernunft, und Vernunft raisonnierender Glaube geworden.2

Und in seinem Kommentar zum Fragment über die Duldung der Deisten bemerkt Lessing über die von Reimarus vorgebrachte Religionskritik: Aber wie sehr merkt man es ihr an, daß sie vor dreizig Jahren geschrieben worden! Wie? noch itzt wären der gesunden Vernunft alle Wege versperret, Gott nach ihrer Einsicht, unter einem angenommenen Christennamen, zu verehren?3

Dabei entsprach die Kritik der Offenbarungsreligion, die sowohl aus der Apologie als auch aus den berühmt-berüchtigten, von Lessing mitgeteilten Wolfenbütteler Fragmenten spricht, zu Anfang und in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchaus dem rationalistischen Zeitgeist, wenngleich die Radikalität der Kritik der Offenbarungsreligion, die wir hier vorfinden, jedenfalls in Deutschland die Ausnahme war. Reimarus erklärt selbst, dass der Ausgangspunkt seiner religionsphilosophischen Studien seine eigenen religiösen Skrupel und Zweifel waren, die ihn zu der Forderung führten, seine »ererbte Religion […] nach der gesunden Vernunft, ohne vorgefaßte Neigung zu derselben, zu prüfen«.4 Die immanente Vernünftigkeit der natürlichen Religion, d. h. ihre Übereinstimmung »mit den Regeln und Wahrheiten der gesunden Vernunft, und besonders mit der vernünftigen Religion«, die sich ihrerseits durch »Klarheit und Deutlichkeit« auszeichnen, wird zum Maßstab der Beurteilung der Offenbarungsreligion. Deren Mangel besteht in ihrer fehlenden Allgemeingültigkeit,5 so dass »die Beweise aus der Schrift [...] in dem Falle, wo ein Zweifel an Grundwahrheiten aus einer geblendeten Vernunft entsteht, nichts ausrichten«. Und deshalb müsse die natürliche Religion, die auch einen »falsche[n] Begriff von der christlichen Religion« korrigieren kann, der dort vorliegt, wo »in einer Kirche [...] das Wesentliche der Religion durch vielen Tand und Aberglauben erstickt wird«, der Befassung mit der Offenbarung vorhergehen.6 Wenn Reimarus den Verdacht erhebt, die Offenbarungsreligionen im Allgemeinen und das dogmatisierte Christentum insbesondere würden auf einem »Kunstgriff der Herrschsucht« beruhen, mit dem Despoten und Pfaffen »das Volk zum Aberg|| 2 Gotthold Ephraim Lessing: Gegensätze des Herausgebers. In: LW VII, S. 461. 3 Gotthold Ephraim Lessing: [Kommentar zu] Von der Duldung der Deisten. In: LW VII, S. 329. 4 Hermann Samuel Reimarus: Vorbericht in erster Fassung. In: ders.: Apologie (s. Anm. 1), Bd. 2, S. 651. 5 Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Zweites Fragment. Unmöglichkeit einer Offenbarung. In: LW VII, S. 287, wo betont wird, »daß eine Offenbarung nimmermehr allgemein werden könne, weil nach solchem Catechismus-Glauben [...] ein jeder bei seiner väterlichen Religion [...] bleiben wird, und bleiben muß. [...] Es bleibt der einzige Weg, dadurch etwas allgemein werden kann, die Sprache und das Buch der Natur, die Geschöpfe Gottes, und die Spuren der göttlichen Vollkommenheiten, welche darin [...] sich deutlich darstellen«. 6 Reimarus: Apologie (s. Anm. 1), Bd. 2, S. 647, 651.

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lauben geführet, und den Gebrauch der gesunden Vernunft in dem Erkenntniß und der Verehrung eingeschläffert, oder vielmehr als verdächtig und gefährlich beschrieben« hätten, dann macht dies deutlich, dass er − was die Frage der Genese der Offenbarungsreligionen angeht − sich auf ausgetretenen Pfaden der Priesterbetrugstheorie bewegt: Wie viele andere religionskritische Zeitgenossen nimmt Reimarus an, dass die Einführung unsinniger Religionsvorstellungen das Werk eigennütziger Betrüger sei, die »den unbedachtsamen Hauffen, der hauptsächlich um seine zeitliche Wohlfahrt bekümmert ist«, überredet hätten, ihnen die »göttliche Eingebung« und ein »geheimes und vorzügliches Erkenntniß« Gottes zuzubilligen, »um das Volk unters Joch zu bringen und um sich selbst eine vorzügliche Ehrerbietung und Herrschaft, reiche Einkünfte und gemächliches Wohlleben zu erwerben«7 − diese Kritik der Offenbarungsreligion als Priesterbetrug gehörte zu den Topoi aufklärerischer Religionskritik.8 Aber als Lessing die Fragmente herausgab, hielt er diese Genealogie der Offenbarungsreligion schon für überholt und nahm deshalb das ›unbesonnene Verfahren‹, das Reimarus angewandt hatte, zum Anlass, das »Ideal eines echten Verteidigers der Religion«9 zu beschwören, der in der Lage wäre, die religionskritische Herausforderung besser zu beantworten, als dies auf der Grundlage von Reimarus’ Bibelkritik möglich wäre. Trotz der Vorbehalte Lessings in Sachen rationalistischer Bibelkritik ist Reimarus wegen der Apologie und wegen seines Deismus immer wieder in die Nähe der Radikalaufklärung gerückt worden.10 Die nachfolgenden Ausführungen behandeln Reimarus’ Zurückweisung des Atheismus in den Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Sie machen deutlich, dass Reimarus mit Abstrichen in seiner Kritik im Wesentlichen den Vorbildern der anti-atheistischen Kontroversliteratur, wie sie seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gang und gäbe war, folgt. Die Konventionalität seiner Atheismuskritik, die zugleich solche Debatten, die seit Wolffs Rede über die praktische Philosophie der Chinesen geführt wurden, ausblendet, macht deutlich, dass Reimarus auf diesem Gebiet keine radikale Position entwickelt, sondern den ausgetretenen Pfaden folgt. Reimarus hat selbst einen wesentlichen Beitrag zur Annäherung an das von Lessing beschworene »Ideal eines echten Verteidigers der Religion« zu liefern ver-

|| 7 Reimarus: Die vernünftige Religion ist die Grundveste aller Religionen. In: ders.: Apologie (s. Anm. 1), §§ 11f., S. 655f. 8 In dieser Hinsicht würde ein Vergleich von Reimarus’ Kritik der Offenbarungsreligion mit derjenigen Voltaires vermutlich eine ertragreiche Angelegenheit sein. Anders als Reimarus hatte Voltaire keine Skrupel seine radikale Kritik − wenngleich ohne Angabe seines Verfassernamens − zu veröffentlichen. Seine Wichtige Untersuchung von Mylord Bolingbroke oder das Grabmal des Fanatismus (Kritische und satirische Schriften. München 1970, S. 257–370) liefert in dieser Hinsicht eine Summe der aufklärerischen Kritik der Offenbarungsreligion. 9 Lessing: Gegensätze des Herausgebers (s. Anm. 2), S. 460. 10 Vgl. hierzu die kritische Stellungnahme von Gideon Stiening in diesem Band.

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sucht. Denn während er nicht wagte, zu seinen Lebzeiten seine Kritik der Offenbarungsreligion bzw. seine Apologie zu veröffentlichen, war er den Zeitgenossen sehr wohl als Verteidiger der natürlichen Religion präsent. Diente die Apologie, wie der Titel schon sagt, der Verteidigung des Deismus durch gleichzeitige Kritik an den unhaltbaren Lehren der Offenbarung, so hatten auch die Vornehmsten Wahrheiten eine apologetische Funktion, nämlich einerseits die Grundpositionen der natürlichen Religion darzulegen und diese andererseits gegen atheistische Attacken zu verteidigen. Dies sollte nicht im Rahmen von »metaphysischen Demonstrationen aus der höheren Weltweisheit«, die den meisten zu »trocken« seien, geschehen, sondern in popularphilosophischer Weise, d. h. durch »Gründe der gesunden Vernunft« bzw. in einer »natürlichen und einfältigen Art im Denken«, die für die meisten Menschen leichter »begreiflich« sei, wie Reimarus im Vorbericht der Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion erklärt.11 Die Vornehmsten Wahrheiten sollten die »ersten Wahrheiten aller Religion, nach gesunder Vernunft« darlegen, insbesondere die Unverzichtbarkeit der natürlichen Religion für die Moralität beweisen, weil »alle Menschen zuvörderst die edle Gabe der gesunden Vernunft auch zum Erkenntnisse ihres Schöpfers« anwenden sollten: Denn alles »übrige Wissen ist angenehm genug und bringet auch seinen vielfältigen Nutzen, aber ohne Religion ist es nur ein tändelnder Zeitvertreib, der unser Gemüth nicht ersättiget, nicht beruhiget. Darüber hinaus besitzt die natürliche Religion eine vorbereitende Funktion für die Akzeptanz der Offenbarung: »Denn wie kann einer mit Grunde glauben, daß die Offenbarung von Gott komme, wenn er nicht vorher überführt ist, daß ein Gott sey?«.12 Reimarus’ leitender Gesichtspunkt bei der Abfassung der Vornehmsten Wahrheiten bestand also darin zu verhindern, das Kind mit dem Bade auszuschütten, insofern die Kritik der Offenbarungsreligion nicht in eine Kritik der natürlichen Religion umschlagen sollte. Im Folgenden wird versucht, einige Aspekte der Religionsphilosophie der Vornehmsten Wahrheiten genauer herauszuarbeiten. Dabei wird sich zeigen, dass Reimarus’ Rationalismus ein halbierter Rationalismus ist. Dass seine rationalistische Kritik der Offenbarungsreligion unzulänglich ist, hatte schon Lessing mit dem Stichwort Geist und Buchstabe klargestellt. Reimarus teilt mit den zahlreichen orthodoxen Theologen das buchstäbliche Verständnis des Bibeltextes und zeigt, dass sich die Evangelien, nicht nur im Hinblick auf die Auferstehungsgeschichte, in vielfacher Hinsicht widersprechen. Aber in dem Maße, wie sich auch die historische Theologie von diesem buchstäblichen Verständnis emanzipiert, verfehlt Reimarus den Geist des Christentums und seine Kritik wird gewissermaßen geistlos.

|| 11 Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet. Hamburg 31766. 12 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), Vorbericht [unpaginiert].

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Die Textgrundlage für die nachfolgenden Überlegungen ist im Wesentlichen die »zehnte Abhandlung« der Vornehmsten Wahrheiten, die der Verteidigung der Lehre von »der Seelen Unsterblichkeit und den Vortheilen der Religion«13 gewidmet ist. Dieses apologetische Geschäft unternimmt Reimarus in beständiger Auseinandersetzung mit der atheistischen Herausforderung, die durch das Auftreten La Mettries bzw. durch seine Rolle am Hofe des preußischen Königs noch einmal verschärft wurde. In dieser Hinsicht ist Reimarus’ Schrift von Winfried Schröder als »Standardwerk der philosophischen antiatheistischen Apologetik« erklärt und dessen Autor selbst als »Zentralgestalt der deutschen Aufklärung« bezeichnet worden.14 Gerade deshalb ist es von besonderem Interesse, zu zeigen, wie sich Reimarus’ Kritik in seiner Auseinandersetzung mit den provokativen Schriften La Mettries äußerte.15 La Mettrie ist unter den materialistischen Atheisten des 18. Jahrhunderts sicherlich einer der konsequentesten und radikalsten, weil er keine Hemmungen hatte, die nihilistischen Konsequenzen seines Atheismus auf dem Gebiet der Moral auszusprechen, und seine Bekenntnisse deshalb gerne von so unterschiedlichen Verteidigern der Religion wie Albrecht von Haller und Reimarus aufgegriffen wurden.

|| 13 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 691. 14 Winfried Schröder: Rezension von Björn Spiekermann: Der Gottlose. In: Das achtzehnte Jahrhundert 45 (2021), S. 111–116, hier S. 115. Mark Pockrandt: Biblische Aufklärung. Biographie und Theologie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703‒1786) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738‒1817). Berlin, New York 2003, S. 221 zählt Reimarus zu denjenigen Autoren, »die eine deutschsprachige Apologie [der Religion, D.H.] ersten Ranges« verfasst hätten. Ähnlich hatte sich Schröder schon in seiner großen Monografie über Die Ursprünge des Atheismus geäußert: Reimarus’ Verteidigung der Religion gegen atheistische Angriffe in den Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion könne »als tragende Säule der Apologie der Rationaltheologie« und sein Werk insgesamt als »ein Zeugnis von besonderem Gewicht« betrachtet werden, insofern es »eine Summe der anti-atheistischen Apologetik der Epoche« darstellt (Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 22012, S. 82). 15 Schröder hat in seiner Rezension des umfangreichen und richtungsweisenden Werkes von Spiekermann über das Feindbild des Gottlosen bemerkt, es wäre wünschenswert gewesen, wenn Spiekermann auch Reimarus, der bei ihm nur am Rande vorkommt, ausführlicher gewürdigt hätte (vgl. Schröder: Rezension [s. Anm. 14], S. 115). Noch wünschenswerter aber wäre es gewesen, wenn Spiekermann untersucht hätte, ob sich mit dem Erscheinen der satirischen und polemischen Schriften La Mettries die Debatte über Atheismus und Atheisten verändert bzw. radikalisiert hat. Reimarus ist nämlich in dieser Hinsicht nur einer unter vielen Autoren, die ihrer Empörung über La Mettries Nihilismus in Gegenschriften Ausdruck verleihen, die aber darüber hinaus die Berliner Aufklärung insgesamt ins Visier nehmen. Ob Spaldings berühmte Schrift Die Bestimmung des Menschen von 1748 aus Anlass des Auftretens von La Mettrie entstanden ist, ist in der Forschungsliteratur umstritten. Während Spiekermann sich dieser Ansicht anschließt (vgl. Björn Spiekermann: Der Gottlose. Geschichte eines Feindbilds in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2020, S. 657), hält Clemens Schwaiger dies »aus chronologischen Gründen [für] wenig wahrscheinlich« (vgl. Clemens Schwaiger: Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen. In: Aufklärung 11/1 [1999], S. 7–19, hier S. 17f.).

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Die Standardargumente gegen den Atheismus bewegten sich auf verschiedenen Ebenen: die Unwissenschaftlichkeit der atheistischen Metaphysik, die Psychopathologie des Atheismus, die Sozialschädlichkeit des Atheismus und das Problem der Motivation. Es wird sich zeigen, dass sich Reimarus’ Kritik ausschließlich auf die motivationalen Defizite des Unglaubens konzentriert, während die Frage nach dem verbindlichkeitstheoretischen Nihilismus, die zuvor die Atheismus-Debatten beherrschte, nicht zur Sprache kommt.

2 Der Kampf gegen das Vordringen atheistischer Lehren Als 1748 La Mettries L’homme machine erschien und der Autor kurze Zeit später am Hofe Friedrichs II. von Preußen Zuflucht fand und darüber hinaus vom König zum Leibarzt und zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften ernannt wurde, sahen sich Philosophen und Theologen vor eine neue Herausforderung gestellt, denn sie empfanden La Mettries Anwesenheit und Schriftstellerei als eine gefährliche Provokation: »Herr Doktor de la Mettrie macht sich entsetzlich breit«,16 schrieb Sulzer in einem Brief an Gleim. Ein Rezensent in den Berlinischen Wöchentlichen Berichten erklärte: Die Schrift: l’homme Machine, hat unter den Gelehrten und andern Liebhabern der Wahrheit viele Bewegung gemacht. Man hat sie sich sehr fürchterlich vorgestellt, und darinn Dinge zu entdecken vermeint, welche die Lehrsätze der Vernunft und Offenbarung von GOtt, den Geistern, der Seele des Menschen, der Unsterblichkeit derselben, und andre Hauptwahrheiten wankend machen. Allein man hat das Fürchterliche nur im Titel, aber nicht in der elenden Ausführung zu suchen.17

Noch größer war der Skandal, den La Mettries Discours sur le bonheur, sein Vorwort zu seiner Seneca-Edition, wegen der unverhohlenen nihilistischen Konsequenzen − zu denen die Proskription der Schuldgefühle gehört18 − seines materialistischen Atheismus hervorgerufen hat. La Mettrie reflektiert diesen Skandal im Vorwort zur

|| 16 Johann Georg Sulzer an Johann Wilhem Ludwig Gleim im April 1748, zitiert nach Pockrandt: Biblische Aufklärung (s. Anm. 14), S. 207. 17 Berlinische Wöchentliche Berichte 2 (1749), S. 5, zitiert nach Pockrandt: Biblische Aufklärung (s. Anm. 14), S. 200. 18 La Mettrie fordert »la destruction hypothétique des Remords [...] comme préjugés évidents«, Julien Offray de La Mettrie: Discours sur le bonheur. Critical edition by John Falvey. Banbury, Oxfordshire 1975, S. 114.

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dritten Auflage des Discours selbst folgendermaßen: »Jamais Livre n’a tant révolté les Dévots, que celui-ci et sans sujet«.19 La Mettrie wurde durch seine Anwesenheit in Preußen und insbesondere durch seinen Discours zum Ausgangspunkt einer ganzen Reihe von apologetischen Aktivitäten, zu denen auch Reimarus’ Vornehmste Wahrheiten gehören.20 Zwar ist Reimarus’ Kritik der − in seinen Augen fragwürdigen, weil religionsgefährdenden − Tendenzen der französischen Aufklärungsphilosophie nicht auf La Mettrie beschränkt, aber das Auftreten La Mettries hat in den Augen von Reimarus die Notwendigkeit der Verteidigung der natürlichen Religion noch deutlicher werden lassen. Schon im Vorbericht heißt es, er habe es »nicht ohne Befremdung bemerket, daß seit wenig Jahren eine ganz ungewohnte Menge kleinerer Schriften, mehrenteils in französischer Sprache, über die Welt gestreuet ist, worinn nicht sowohl das Christenthum, als vielmehr alle natürliche Religion und Sittlichkeit, verlacht und angefochten wird«. Hierin dokumentiere sich ein »gemeiner Mangel eines vernünftigen Erkenntnisses von den Grundwahrheiten aller Religion und Ehrbarkeit«, dem sein Buch abhelfen solle. Mit seiner Kritik an La Mettrie konnte Reimarus an die apologetischen Bemühungen seiner Zeitgenossen anknüpfen. Bekanntlich hat das 18. Jahrhundert keinen einzigen Verteidiger La Mettries hervorgebracht,21 aber eine Vielzahl von Polemiken von Autoren ganz unterschiedlicher Provenienz und unterschiedlichen Intentionen. Nicht nur die zumeist frommen deutschen Aufklärer, sondern auch die philosophes sahen in La Mettrie einen Autor, der wegen seiner moralnihilistischen Positionen das Projekt der Aufklärung insgesamt in Verruf brachte, weil er nicht nur gegen die Religion und eine religiös fundierte Moral opponierte, sondern die Begründbarkeit der Moral grundsätzlich in Frage stellte. Im Folgenden wird allerdings deutlich werden, dass die meisten Gegner La Mettries der Radikalität der Herausforderung theoretisch ebenso wenig gewachsen waren wie der satirischen Inszenierung, die La Mettrie in vielen seiner Schriften an den Tag legt. Denn La Mettries Radikalisierung der atheistischen Positionen führt keineswegs zu qualitativ neuen Gegenargumenten auf Seiten der Apologeten. Vielmehr werden die geläufigen Gegenargumente beständig reproduziert. Charakteris-

|| 19 La Mettrie: Discours sur le bonheur (s. Anm. 18), S. 111. 20 Vgl. hierzu das Kapitel »Verteidigung moralischer Glückseligkeit« bei Sandra Pott: Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland. Tübingen 2002, S. 154ff., die auf die Preisfrage der Berliner Akademie über »Glück und Unglück« hinweist. La Mettries Glückskonzeption wurde u. a. von Jean Henri Samuel Formey, Louis de Beausobre und Johann Georg Sulzer kritisiert. 21 Wenn man einmal von der Eloge absieht, die Friedrich II. nach La Mettries Tod in seiner Akademie verlesen ließ, die aber vermutlich weniger eine Würdigung des verrufenen ›königlichen Leibatheisten‹ als eine Verteidigung des Königs gegenüber den gegen ihn erhobenen Vorwürfen einer fragwürdigen Duldung war.

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tisch für das bescheidene Niveau dieser antiatheistischen Kritik ist das Beispiel Albrecht von Hallers, der selbstverständlich wegen der an ihn gerichteten anstößigen Widmungen auch persönliche Gründe der Kritik hatte. Haller hatte für die im Todesjahr La Mettries 1751 erschienene deutsche Übersetzung des Werkes des Genfer Philosophen Jean Pierre de Crousaz eine Vorrede verfasst.22 Das ursprünglich französisch verfasste Werk wurde von Jean Formey, dem secrétaire perpétuel der Berliner Akademie der Wissenschaft, zusammengefasst und gestrafft. Diese komprimierte Fassung wurde wiederum von Haller ins Deutsche übersetzt und zehn Jahre nach der französischen Fassung von Formey unter dem Titel Prüfung der Secte, die an allem zweifelt mit der erwähnten Vorrede versehen veröffentlicht. Crousaz’ voluminöses Werk war der »Wiederlegung der Pyrrhonischen Lehre« des Sextus Empiricus und deren Aktualisierung durch Pierre Bayle gewidmet. Haller nutzte als Übersetzer und Herausgeber die Gelegenheit, Crousaz’ Kritik durch eine La Mettrie-Kritik − wegen der »practischen Folgen des Unglaubens«23 − zu ergänzen, die zeigt, dass ihr Autor ein frommer Mann, aber zugleich ein schwacher Geist war. Haller erklärt in seiner Vorrede, dass der unselige Verfasser des traité de la vie heureuse [...] insoweit der Welt einen Dienst gethan [hat, D.H.], daß er, mit abgeworfener Larve, den Menschen die wahre Gestalt eines Gottesverleugners, und die natürliche Folge der bißher noch so sehr beschönigten Theorie entdeckt hat.24

Er betrachtet La Mettrie als »Verräther der Atheistischen Geheimnisse«,25 der seinen Gegnern dadurch »einen Dienst gethan« habe, indem er seinen Kritikern »eine brauchbare Erklärung des sittlichen Bösen und des sittlichen Guten« gegeben habe:

|| 22 Vgl. [Johann Heinrich Samuel Formey:] Prüfung der Secte, die an allem zweifelt. Mit einer Vorrede des Herrn von Haller, Göttingen 1751. Das Titelblatt nennt zwar keinen Verfasser, die Verfasserschaft geht aber aus der Vorrede Hallers und aus Des Hrn. v. Crousaz Gutheissung dieser Arbeit am Ende der Schrift hervor. Auch der Übersetzer Formey wird in der Vorrede genannt. Die Schrift geht zurück auf ein Werk von Jean Pierre de Crousaz mit dem Titel Examen du pyrrhonisme (1733), das eine umfangreiche Kritik am Skeptizismus Bayles enthielt. Haller bemerkt zu Crousaz’ Examen: »Es war aber in Folio; ein bedenkliches Format, für diejenigen, die wegen ihrer Flüchtigkeit am meisten nöthig hatten, ein solches Werk zu lesen, das ihren Glauben befestigen sollte« (Haller in seinem Vorwort, S. 11). Wegen seines Umfangs und seiner Unübersichtlichkeit hatte Jean Formey, der Sekretär der Berliner Akademie, eine französische Zusammenfassung von Crousaz’ Schrift verfasst, die wiederum Albrecht von Haller ins Deutsche übersetzte. Zu Formeys und Hallers Modifikation des Werkes von Crousaz vgl. Pott: Reformierte Morallehren (s. Anm. 20), S. 177. Zu den apologetischen Bemühungen in Hallers Lyrik vgl. Spiekermann: Der Gottlose (s. Anm. 15), S. 618ff. 23 Haller: Vorrede (s. Anm. 22), S. 14. 24 Ebd., S. 15. 25 Ebd., S. 26.

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Ein Böser ist, der sich alleine liebt, ein Tugendhafter, der auch anderer Menschen Glückseligkeit zu befördern sucht. Diese Erklärung des Erzfeindes des Glaubens ist zu unserm Zwecke zureichend.26

Haller deutet das Vordringen atheistischer Positionen verschwörungstheoretisch: Er diagnostiziert die Gefahr der Entstehung eines »philosophischen[n] Pöbel[s]«, einer »in den Geheimnissen unterwiesene[n] Armee«, die bald »merken wird, daß sie stärker ist, als der einzelne Fürst und Feldherr«.27 Das Ende der Verbreitung des Atheismus wird darin bestehen, »daß Gift und Schwerdt von allen Seiten nach dem Fürsten zielen wird«.28 Sardan Pul [d. i. Sardanapal], Nero und Borgia waren demetrische Weltweisen und Fürsten, in der Übung und in der Theorie. [...] Ich glaube es ist genug erwiesen, daß diese neue Weisheit der Untergang des gesellschaftlichen Lebens seyn wird. Da sie einen jeden Menschen sein einziges Glück, und zwar sein bloß sinnliches Glück, zum Zwecke giebt, so erregt sie eine unendliche Widerstrebung in den Kräften aller Menschen, da ein jeder die seinen gegen alle andere anspannt, und muß also den allgemeinen Zustand der Feindschaft und des Kriegs einführen, den Hobbes sehr richtig schon erkannt hat, und der nicht eher aufhört, bis der Glaube Frieden macht.29

Hallers Einschätzung stellt in gewisser Weise das Vorspiel zu dem späteren verschwörungstheoretischen Pamphlet des Jesuiten Augustin Barruel Mémoires pour servir à l’histoire du Jacobinisme aus dem Jahre 1797/98 dar. Reimarus’ Kritik am Atheismus weist durchaus einige Parallelen zu dem Verdammungsurteil Hallers auf, wenngleich Reimarus nicht die Offenbarungsreligion, die Haller als das eigentliche Bollwerk gegen Atheismus betrachtet, retten will. Beide stimmen selbstverständlich in der Einschätzung überein, dass es sich beim Atheismus in erster Linie als moralzersetzende neuere Erscheinung handelt, für die insbesondere die französischen Schriftsteller verantwortlich sind. Und beide bestreiten die von Bayle und Christian Wolff unterstellte Möglichkeit einer Republik von Atheisten, weil der Atheist sich nicht zum moralischen Handeln motivieren kann. Nur am Rande sei bemerkt, dass der späte Haller sich in seiner Lebensführung − Ironie der Philosophiegeschichte − dem gehassten französischen Materialisten annäherte. In seiner Vorrede zu Crousaz hatte Haller noch die christlichen »Vorzüge der Keuschheit« beschworen und betont, die »Ehe zweyer Christen« sei ein einziger »Schauplatz der Liebe und der Sanftmuth. [...] Kein fremder Reitz soll sich wider die unzerbrüchlichen Gesetze der ehelichen Treu auflehnen; dann [sic] die Begierde ist schon ein Ehebruch. [...] Das Alter trennt die Liebe zweyer Christen nicht, es kan sie

|| 26 Ebd., S. 16. 27 Ebd., S. 25. 28 Ebd., S. 27. 29 Ebd., S. 28.

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vermehren«.30 In seiner Zeit als Salzdirektor des Kantons Bern in Roche war Haller − trotz besagter »Vorzüge der Keuschheit« und der ehelichen Treue − mit seiner Hausmagd ein Verhältnis eingegangen, aus dem auch ein Kind hervorging.31 Darüber hinaus griff Haller in seinen späten Jahren verstärkt zum Opium, das schon La Mettrie als stimulierende und glücksstiftende Droge empfohlen hatte,32 bis sich schließlich eine Drogenabhängigkeit ergab.33

3 Erklärungslücken des Materialismus Reimarus’ Kritik am Atheismus soll hier anhand seiner Kritik an La Mettrie thematisiert werden. Denn die Widerlegung La Mettries spielt wegen der in dessen Schriften enthaltenen moralphilosophischen Provokationen in Reimarus’ Verteidigung der (natürlichen) Religion eine entscheidende Rolle. Reimarus’ Kritik an La Mettrie erfolgt auf verschiedenen Ebenen: Auf der ersten Ebene kritisiert Reimarus die Haltlosigkeit der Naturlehre La Mettries, insbesondere die von La Mettrie im Anschluss an Epikur verfochtene Lehre von der Urzeugung. Dieser Aspekt von Reimarus’ Kritik sei hier nur der Vollständigkeit halber angedeutet und auf die einschlägigen Ausführungen in Winfried Schröders Ursprünge des Atheismus sowie auf den Aufsatz von Andree Hahmann: »Kein Freund von Epikur?« verwiesen.34 Wie sich zeigen wird, war Reimarus nicht nur ›kein Freund von Epikur‹, sondern vor allem ein geschworener Feind La Mettries. Die Kritik an den naturtheoretischen Behauptungen La Mettries erfolgt auf der Grundlage der Überzeugung, dass erstens der atheistische Naturalismus wegen der offenkundigen »Erklärungslücken«35 sich als unplausibel erweist und sich darüber hinaus aufgrund des Fortschritts der Naturwissenschaften die Haltlosigkeit der materialistischen Lehre von der Entstehung des Organischen aus der unorganischen Natur zeigt und sich deshalb die Situation der Verteidiger der Religion verbessert hat:

|| 30 Ebd., S. 38, 30. 31 Vgl. hierzu Ursula Pia Jauch: Albrecht Haller: Ein Drogensüchtiger des 18. Jahrhunderts. In: dies.: Jenseits der Maschine. Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie. München 1988, S. 257f. 32 La Mettrie: Discours sur le bonheur (s. Anm. 18), S. 129: »Certains remèdes ne sont-ils pas encore une preuve de ce Bonheur que j’appelle Organique, Automatique, ou naturel, parce que l’Ame n’y entre pour rien, et qu’elle n’en tire aucun mérite, en ce qu’il est indépendant de sa volonté ? Je veux parler de ces états doux et tranquilles que donne l’opium«. 33 Jauch: Albrecht Haller: Ein Drogensüchtiger des 18. Jahrhunderts (s. Anm. 31), S. 383‒386. 34 Vgl. den Beitrag von Andree Hahmann in diesem Band. 35 Vgl. Schröder: Ursprünge des Atheismus (s. Anm. 14), S. 59ff.

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Je mehr empirische Wissenschaften vor allem in der Biosphäre bis dahin unbekannte hochkomplexe Strukturen erschlossen, die eine teleologische Erklärung forderten, desto abwegiger mußte der Versuch erscheinen, den Atheismus als seriöse, mit dem aktuellen Stand der Wissenschaften verträgliche Position zu empfehlen.36

In der zweiten Abhandlung der Vornehmsten Wahrheiten hat Reimarus ausführlich die Frage nach dem Ursprung von Mensch und Tier, d. h. die Frage nach dem Ursprung des Lebendigen behandelt. Er will deshalb prüfen, wie die Atheisten im Rahmen ihrer naturalistischen Theorie »den ersten Ursprung des menschlichen Geschlechts aus den Kräften der Welt ableiten und verständlich erklären«, wobei die Frage nach der Reproduktion der Gattung, die durch fortwährende Zeugung erfolgt, von der Frage, »welche ursprüngliche Kraft bringet die ersten Menschen, die ersten Thiere in jeder Art hervor«,37 unterschieden wird. Er integriert in seine Darstellung in umfassender Weise die zeitgenössischen biologischen Forschungen (Needham, Leuwenhoek, Buffon, Haller usw.), um auf diese Weise deutlich zu machen, dass aus den aktuellen Forschungsergebnissen kein Beweis für eine »Erzeugung der Thiere aus roher Materie«38 gewonnen werden kann und deshalb die von den (atheistischen) Materialisten behauptete Urzeugung (generatio aequivoca) eine empirisch nicht fundierte Ansicht, eben eine ›Erdichtung‹ darstellt. La Mettrie, »ein neuer Demetrius«,39 wird ausdrücklich als einer derjenigen genannt, die jenes »verfallene Lehrgebäude«, das sich schon bei Epikur und Lukrez findet, »unglücklicher Weise wieder aufzurichten gesucht« hat.40 Nach Reimarus’ Ansicht können die Atheisten derartige Fragen nicht wissenschaftlich beantworten, stattdessen

|| 36 Ebd., S. 78. − Dass Reimarus’ naturteleologische Betrachtungen inzwischen ihrerseits durch die naturwissenschaftliche Entwicklung überholt sind, hat Stefan Klingner in seinem Beitrag in diesem Band hervorgehoben (Abschnitt 3: Probleme). 37 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 82f. 38 Ebd., S. 90. 39 Ebd., S. 111. 40 Ebd., S. 83. Reimarus verweist in diesem Zusammenhang auf La Mettries Système d’Épicure (vgl. ebd., S. 83, 111, 113). Und noch d’Holbach beruft sich in seinem Hauptwerk Système de la nature auf Needhams Observations microscopiques, um zu bekräftigen, »que la materie inanimée peut passer à la vie, qui n’est elle-même qu’un assemblage de mouvements« (Paul Henri Thiry d’Holbach: Système de la nature. London 1770, I, S. 27f.). Schröder sieht in diesem Festhalten an der sog. Urzeugungslehre »wider besseres Wissen [...] ein bemerkenswertes Beispiel intellektueller Unredlichkeit« (Schröder, Ursprünge des Atheismus [s. Anm. 14], S. 63). Was in dieser moralisierenden Kritik allerdings ausgeblendet wird, ist der Umstand, dass d’Holbach situations- bzw. themenbedingt jeweils sowohl dogmatische (wie diejenige der Urzeugung) wie auch skeptische Argumente zum Einsatz bringt, je nachdem, ob dadurch seiner Auffassung nach die materialistische Position plausibler gemacht werden kann. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Verfahren nicht seriös ist, aber es macht zugleich deutlich, dass d’Holbach zugleich nicht notwendigerweise auf dogmatische Behauptungen festgelegt war.

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helfen [sie] sich mit Erdichtungen. Sie bilden sich ein, die Sonne habe durch ihre Wärme den Schlamm des Erdbodens belebt, und dadurch vielleicht zuerst allerley ungestalte Misgeburten von Thieren hervorgebracht, welche nicht hätten bestehen, noch sich fortpflanzen können; bis endlich, nach vielen ungestalten Fehlgeburten, aus solchen ungefährlichen Zusammenflusse einer gährenden Materie, eine ordentliche Bildung, bald dieses, bald jenes Thieres, von beyderley Geschlechtern, sodann auch einmal der Mensch, entstanden wäre, welche sich beym Leben erhalten und vermehren können.41

Zu dem Versuch, La Mettries Materialismus als eine unzulängliche Lehre auszuweisen, gehören auch Reimarus’ Ausführungen über dessen »mechanistische Erklärung der Verrichtungen der Seele«.42 Zwar will auch Reimarus nicht auf die »Leibnitzsche vorherbestimmte Harmonie« zurückgreifen, weil er »selbst nicht davon überführet« sei,43 und insofern will er »die Dependenz der Seele vom Leibe in keinem Stücke« leugnen. Aber aus dieser Anerkennung folgt keine Zustimmung zur materialistischen Position. La Mettries »Einwurf von der Dependenz [der Seele vom Körper, D.H.]« sei vielmehr »eitel und umsonst«, weil er nicht beweisen könne, dass Leib und Seele »beyde einerley wesentliche Eigenschaften haben, sich in eigenthümlichen Kräften und Handlungen ähnlich sind«. Obzwar »unser organischer Körper [...] eine Maschine« ist, erschöpft sich im Maschinenmäßigen des Körpers nicht das, was den Menschen ausmacht. Er besitzt nämlich ein »inneres Bewußtsein«, dass die Seele »bei aller Ebbe und Fluth ihres Körpers, als eine Substanz fortgedauert habe«. Die Konsequenz der Überlegungen lautet: »der Mensch ist was mehr, als eine Maschine«.44 Der materialistische Reduktionismus ist nicht geeignet, die Vielfalt und die Wirkungsweise menschlicher Vermögen und Handlungen zu erklären. Dass der materialistische Atheismus im Hinblick auf die naturwissenschaftlichen Positionen, die er vertritt, hinter den Stand der zeitgenössischen Naturwissenschaften zurückfällt und an deren Stelle »der Sache nach spekulative Naturphilosophie« betreibt,45 kann somit als gesichertes Ergebnis der philosophiegeschichtlichen Forschungen der letzten Jahrzehnte vorausgesetzt werden. Aber wie steht es mit der Stichhaltigkeit atheistischer Positionen auf dem Gebiet der Moralphilosophie? Und welche Durchschlagskraft hat die anti-atheistische Apologetik auf diesem Gebiet?

|| 41 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 83. 42 Ebd., S. 475. 43 Ebd., S. 487. 44 Ebd., S. 477. Übrigens scheint mir hier die Quelle für die bekannte Formulierung Kants am Ende seines Aufsatzes Was ist Aufklärung? zu liegen. Für Kant ist es eine Forderung der Aufklärung, »den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln«. Dass der Mensch »mehr als Maschine ist«, hängt bei Kant nicht mehr an dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, sondern an seinem »Hang und Beruf zum freien Denken« (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: AA VIII, S 33–42, hier S. 41f.). 45 Schröder: Ursprünge des Atheismus (s. Anm. 14), S. 85.

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Folgt aus der Unhaltbarkeit des naturphilosophischen Atheismus auch die Plausibilität der moralphilosophischen Kritik an ihm? Der Beantwortung dieser Fragen dienen die folgenden Überlegungen. Aber die eigentliche Frage, die sich nun stellt, lautet, ob der Theismus aus der ›explanatorischen Inkompetenz‹46 des Materialismus in der Frage der Entstehung des Lebens Kapital schlagen kann.

4 Zur Psychopathologie des Atheisten, oder: Das Unglück des Atheisten In der zehnten Abhandlung („Von der Seelen Unsterblichkeit, und von den Vortheilen der Religion«) wird die Kritik an der naturwissenschaftlichen Unzulänglichkeit der materialistischen Weltanschauung aus der zweiten Abhandlung wieder aufgenommen. Ging es dort darum, die »Erklärungslücken« der atheistisch-materialistischen Weltdeutung offenzulegen und die Überlegenheit der physikotheologischen Betrachtung zu verdeutlichen, thematisiert Reimarus jetzt die psychologischen Folgen im Hinblick auf das Selbstverständnis bzw. die »Gemüthsruhe« des Atheisten, welche aus der Annahme eines solchen grundlosen Systems hergehen. Der Fokus der Überlegungen besteht dabei in der Klärung der Frage: Kann »des La Mettrie Atheisterey glücklich machen«?47 Nach Reimarus’ Ansicht betrifft diese Frage »das Verhältniß der Religion zu eines jeden Menschen Beruhigung und Glückseligkeit«,48 weil nur die Religion in der Lage ist, den Menschen eine dauerhafte Glückseligkeit zu verschaffen.49 Und weil sich der Mensch vom Tier durch die

|| 46 Schröder: Ursprünge des Atheismus (s. Anm. 14), S. 65. 47 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 737. 48 Ebd., S. 750. 49 Dagegen hatte La Mettrie behauptet, das Glück, »qui dépend de l’organisation [des Körpers, D.H.], est le plus constant et le plus difficile à ébranler« (La Mettrie: Discours sur le bonheur [s. Anm. 18], S. 124). − Die Unterscheidung zwischen der flüchtigen, bloß sinnlichen Lust und der wahren, dauerhaften und beständigen Glückseligkeit hat Christian Wolff ausführlich behandelt. Er definiert die Glückseligkeit als »Zustand beständiger Freude« (Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit. Halle 71743, § 52) bzw. als »Zustand einer dauerhafften Freude« (ebd., § 61). Wolff fordert deshalb auch, »daß man Kindern und jungen Leuten, so lange sie in der Auferziehung sind, weder durch Lehren, noch durch Exempel einen unrichtigen Begriff von der zur Glückseeligkeit des Menschen erforderten Freude und dem zu seiner Unglückseeligkeit gehörigen Mißvergnügen beybringet«. Deshalb sei es wichtig zu klären, »welche Freude veränderlich, welche beständig ist, welche man mit mehrerem Mißvergnügen bezahlen muß: ingleichen welche Handlungen ein beständiges Vergnügen, welche hingegen ein veränderliches gewehren« (ebd., § 389). Daher müsse zwischen der bloß vermeinten und der wahren Glückseligkeit unterschieden werden. Vgl. zum Glücksbegriff die umfassende

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Fähigkeit zu höheren Zwecksetzungen unterscheidet, weil sich »unser Verlangen [nach Glückseligkeit, D.H.] weit über den kurzen Genuß einer gemischten Glückseligkeit dieses Lebens, bis ins Unendliche« hinaus. Reimarus bekräftigt − als wenn er skeptische religionspsychologische Einwände antizpieren wollte −, es sei »fürs erste nicht Ungereimtes, Widersprechendes und Unmögliches«, wenn wir wegen unseres Wunsches nach beständigem Glück uns eine fortdauernde Existenz vorstellen. Er schließt vielmehr von dem »natürliche[n] Verlangen nach einem dauerhaften und besseren Leben« darauf, dass »wir Menschen von dem Schöpfer, vermöge unserer Natur, zu einem unendlich dauerhaften Leben, und zu einer höheren Glückseligkeit in demselben bestimmt« sind.50 Weil Atheisten u. a. die Unsterblichkeit der Seele leugnen und stattdessen ihr Leben auf den Gewinn physischer Glückseligkeit (als sinnlicher Lust) ausrichten, findet sich bei ihnen »nur ein flüchtiger und trieglicher Schimmer der Glückseligkeit«. Dem unnatürlichen, ausschweifenden und zügellosen Lebenswandel folgen darüber hinaus die sog. ›natürlichen Strafen‹ auf dem Fuße: Der Atheist bezahlt »die kurze und niederträchtige Freude mit vielen bittern Schmerzen, Krankheiten, Schande, Verachtung, Reue, Furcht und frühem Tode«.51 Er kann deshalb in dieser Hinsicht das »innere Gefühl der Gemüthsunruhe«52 nicht abschütteln, ebenso wenig kann er sich »das bevorstehende Ende aus dem Sinne schlagen«.53 Indem ein Atheist wie La Mettrie das Glück in erster Linie als sinnliche Bedürfnisbefriedigung betrachtet, beraubt er sich »des reinen und edleren Vergnügens«,54 und verliert »nothwendig allen Grund zu einem dauerhaften Vergnügen, das unserer Natur gemäß ist«.55 Durch seine Fixierung auf das physische Glück weicht der Atheist von dem ihm »durch seine [vernünftige, D.H.] Natur vorgezeichneten Wege«56 ab und verfehlt deshalb das »vernünftige[...] Vergnügen«,57 weil er verkennt, dass »alles vernünftige Vergnügen der Menschen [...] aus dem anschauenden Erkenntnisse der Vollkommenheit«58 entsteht. Reimarus’ Glücksbegriff gehört in die Tradition des perfektionistischen Glücksbegriffs des Wolffianismus. Die Betonung der psychopathologi-

|| Studie von Clemens Schwaiger: Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. 50 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 692f. 51 Ebd., S. 742. 52 Ebd., S. 743. 53 Ebd., S. 723. 54 Ebd., S. 738. 55 Ebd., S. 739. 56 Ebd., S. 730. 57 Ebd., S. 732. 58 Ebd., S. 730.

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schen Folgen des Unglaubens, der zum Mangel an Seelenruhe, zu Verzweiflung und Unzufriedenheit bei den Atheisten führt, ist keine Neuerung des Reimarus, sondern war ein Standardargument der apologetischen Literatur bzw. »steter Begleiter der Atheismusdebatte [...] seit Pascal und Seckendorff«.59 Gleiches gilt für die unvermeidlichen Gewissensbisse, die sich bei dem Ungläubigen einstellen. La Mettrie müsse bei der von ihm angenommenen Lehre »höchst misvergnügt werden, so oft er alles um sich aus seinem verkehrten Gesichtspunkte beschauet«.60 Der Ausweg, den sich der Atheist aus seiner Sinnkrise dadurch sucht, »diese betrübten und fürchterlichen Gedanken [...] bey sich und anderen, durch sinnliche Lüste, so gut zu unterdrücken, als möglich ist«,61 löst das Sinnproblem nicht. Denn der Atheist könne sich, sofern er »einigen Verstand« hat, nicht »mit irgend einem Lehrgebäude der Atheisterey beruhigen«.62 Vielmehr würde daraus notwendigerweise »Verwirrung, Streit und Vorwurf in seinem Gemüthe«63 resultieren: Denn, wie mag er doch in seinem unendlichen Reihen von vergangenen Geburten und Veränderungen, die er nicht absehen kann oder will, klares Licht und Erkenntniß finden? Oder, welche Kraft ist in der Welt und Natur, welche lebendige Thiere hervor bringen könne? Was enthält ein wüstes Ungefähr für verständlichen Grund der Dinge, und was für eine Regel, daraus Ordnung und Uebereinstimmung zu erklären stünde? Wie kann ihm eine unbedingte Nothwendigkeit, die er vor aller Möglichkeit der Dinge, und also selbst vor ihrem Wesen willkührlich annimmt, zur Ursache genug seyn? Oder warum stellet er sich das als ewig und selbständig vor, was von Ewigkeit seiner Wirklichkeit nicht genossen, und in Ewigkeit nicht genießen wird? Wie will er dasjenige, was in seiner Seele vorgeht, aus mechanischen Gesetzen der Materie begreiflich machen, oder was ihm sein inneres Bewußtseyn überzeuglich saget, verleugnen? [...] Will er den Ursprung der Menschen und Thiere gelten lassen, aber seine Zuflucht zu einem Ungefähr nehmen: so urtheilet er abermals wider sich selbst. [...] Hier soll es bloßer Zufall, eine wilde Gährung in einem todten untauglichen Schlamme, eine Ursache von dem künstlichen Baue der thierischen Leiber, von ihrem Leben, von der Empfindung, vom Verstande und vom freyen Willen, ja von angeborenen Künsten seyn. [...] Er erkennet, daß jetzo keine Kraft in der Welt ist, welche von ungefähr lebendige Thiere, ohne Mutter erzeugete. Doch soll die Natur solches vor Zeiten vielmals gethan haben. Sie soll alt, unvermögend und un-

|| 59 Spiekermann: Der Gottlose (s. Anm. 15), S. 637; vgl. auch ebd., S. 360 über die Behandlung der »Unruhe des Gottlosen« durch Veit Ludwig von Seckendorffs Christen-Staat. − Die psychologische Diagnose von der atheistischen »Gemüthsunruhe« (bzw. des Mangels der tranquillitas animi) hatte allerdings schon in der Antike Gegner, z. B. Plutarch. Denn anders als der Aberglaube stehe der Atheismus (asébeia) der Seelenruhe (apathia) nicht entgegen; vgl. hierzu Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992, S. 32ff. 60 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 739. 61 Ebd., S. 740. 62 Ebd., S. 724. 63 Ebd., S. 725.

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fruchtbar geworden seyn, da sie doch in seinen Gedanken ein ewiges, nothwendiges, selbständiges Wesen ist.64

Die Unfähigkeit des Atheisten, zu einer Theorie zu gelangen, die »sich mit gesunder Vernunft und ächter Wissenschaft [...] zusammen reimen«65 lässt, muss ihn in »Verwirrung und Gemüthsunruhe« versetzen. Diese Einschätzung wird nach Reimarus’ Ansicht dadurch bestätigt, dass La Mettrie den Wert von »Vernunft und Wissenschaft« nicht sehr hoch veranschlagt, weil diese den Menschen »nur quälen« würden.66 Wenn dem Atheisten wissenschaftliche Probleme gleichgültig sind, weil er sich nicht der Mühe des Nachdenkens aussetzen will − warum sollten ihn dann ungelöste Probleme beunruhigen? Hatte La Mettrie doch die Parole ausgegeben, dass das Glücksempfinden der Menschen in erster Linie sinnlicher Natur ist. Das bedeutet nicht, wie er ausdrücklich erklärt, dass sinnliche Lust und Glück unmittelbar identisch sind; vielmehr räumt er die Existenz reflektierter Formen des Vergnügens sehr wohl ein. Gegen sie spricht allerdings ihre unsichere Verfügbarkeit, denn sie bedürfen der Anstrengungen des Verstandes, sind abhängig von äußeren Umständen, z. B. Geld oder anderen Personen. Die Ansicht von der tendenziellen Unzufriedenheit und Seelenunruhe des Atheisten, von der glückszerstörenden Wirkung des Unglaubens, bedarf einer näheren Erläuterung. Die Frage, ob der Atheismus »eine ungestöhrte Zufriedenheit des Gemüths zu Wege bringen kann«,67 wird von Reimarus entschieden verneint. Diese Vorstellung, dass Unglaube und Religionszweifel zum Verlust des Seelenfriedens und der Gemütsruhe führen, gehört zu den gängigen Argumenten der antiatheistischen Apologetik. Mit seiner Kritik an La Mettries physiologischem Glücksbegriff greift Reimarus ein unter den Zeitgenossen weit verbreitetes Thema auf, zumal die Berliner Akademie der Wissenschaften im Jahre 1751 unter dem Titel Pflichten, die uns die glücklichen und unglücklichen Begebenheiten in der Welt auferlegen eine einschlägige Preisfrage gestellt hatte.68 La Mettries hedonistischer, auf sinnlichen Genuss konzentrierter Glücksbegriff hatte zahlreiche Entgegnungen hervorgerufen.69

|| 64 Ebd., S. 724–726. Die im letzten Satz angesprochene Lehre von der »sterilité actuelle« hatte La Mettrie in seiner Schrift Système d’Épicure (§ 10) behauptet. Reimarus hatte schon in der zweiten Abhandlung darauf verwiesen, vgl. ebd., S. 111. In der Ausgabe von La Mettries Œuvres philosophiques von 1774 findet sich diese Passage in § XI (siehe Julien Offray de la Mettrie: Œuvres philosophiques. Nouvelle Edition, tome premier. Berlin 1774, S. 233). 65 Ebd., S. 738. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 2. 68 Vgl. hierzu Cornelia Buschmann: Die philosophischen Preisfragen und Preisschriften der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert. In: Aufklärung in Berlin. Hg. von Wolfgang Förster. Berlin 1989, S. 165–228, bes. S. 186ff. 69 Vgl. hierzu Sandra Pott: Reformierte Morallehren (s. Anm. 20), S. 151ff.

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Reimarus’ glückstheoretische Überlegungen sind zudem geeignet, einen heutigen Leser eher zu irritieren. Die heute gängige Vorstellung des Glücks ist strikt individualistisch, sie besagt, dass jeder am besten selbst zu beurteilen vermag, was ihn glücklich bzw. unglücklich macht und wodurch die erwähnte »ungestöhrte Zufriedenheit des Gemüths« am besten gewährleistet wird. Diese Individualisierung des Glücksbegriffs, die mit einer Rehabilitation der Sinnlichkeit70 bzw. einer »réhabilitation des plaisirs«71 einhergeht, findet im Zeitalter der Aufklärung zunehmend Anhänger: »Chacun met son bien où il peut, et en a autant qu’il peut à sa façon«.72 Das sich hier bei Voltaire andeutende »Postulat der Präferenzsouveränität der Betroffenen«, gemäß welcher die Einzelnen selbst über die zu erwartenden Lustbzw. Unlusterwartungen entscheiden,73 wird bei den frühen Vertretern des Utilitarismus wie Helvétius und Bentham weiter ausgearbeitet. Auch Kant gehört zu den Verfechtern der Subjektivität der Glücksvorstellung. In seinem Gemeinspruchsaufsatz bemerkt er: In Ansehung der [...] Glückseligkeit kann gar kein allgemein gültiger Grundsatz für Gesetze gegeben werden. Denn sowohl die Zeitumstände, als auch der sehr einander widerstreitende und dabei immer veränderliche Wahn, worin jemand seine Glückseligkeit setzt (worin er sie aber setzen soll, kann ihm niemand vorschreiben), macht alle feste Gesetzgebung unmöglich und zum Princip der Gesetzgebung für sich allein untauglich.74

|| 70 Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 30. 71 Robert Mauzi: L’idée du bonheur dans la littérature et la pensée françaises au XVIIIe siècle. Paris 1994, S. 249. 72 Voltaire: Dictionnnaire philosophique. Hg. von Alain Pons. Paris 1994, Art. Bien (Souverain bien), S. 99. Der Kampf um einen individualisierten Glücksbegriff geht − auch dafür ist Voltaire der einflussreiche Gewährsmann − einher mit der Kritik an der traditionellen Konzeption des höchsten Gutes. Zu den Debatten um den Glücksbegriff in der französischen Aufklärung vgl. Mauzi: L’idée du bonheur (s. Anm. 71). 73 Otfried Höffe: Zur Theorie des Glücks im klassischen Utilitarismus. In: ders.: Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1979, S. 137. 74 Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: AA VIII, S. 273–313, hier S. 298; ähnlich lauten die Überlegungen in der Kritik der praktischen Vernunft: »Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, so fern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjects« (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: AA V, S. 1–163, hier S. 22). Das Bewusstsein von der »Annehmlichkeit des Lebens« in einem umfassenden Sinne sei die »Glückseligkeit« (ebd.). Diese Versubjektivierung des Glücks erreicht Kant dadurch, dass er die mit ihr verbundene Lust auf (sinnliche) Empfindungen des Subjekts zurückführt. Interessanterweise folgt Kant den neueren utilitaristischen Glückskonzeptionen, aber gerade in der Absicht zu zeigen, dass es sich um empirische Begriffe, die ihren Ursprung in der Sinnlichkeit haben, handelt, und die deshalb von strikt moralphilosophischen Erörterungen ausgeschlossen werden müssen. An die

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Den Verfechtern individualisierter Glückskonzeptionen steht im 18. Jahrhundert allerdings noch eine andere große Glückskonzeption gegenüber, die sich auf die überwiegende Meinung der antiken Philosophen − Epikur und seine Schüler ausgenommen − berufen kann. Der Glücksbegriff dieser Fraktion, zu der auch Reimarus gehört, ist ein perfektionistischer: »Alles vernünftige Vergnügen der Menschen entsteht aus dem anschauenden Erkenntnisse der Vollkommenheit, sowohl in den Dingen ausser uns, als in uns selbst«.75

5 Die Sozialschädlichkeit des Atheismus Im zweiten Teil der zehnten Abhandlung betrachtet Reimarus die Auswirkungen des Atheismus im Hinblick auf die sozialen Beziehungen, die durch die menschliche »Beschaffenheit zur Geselligkeit«76 charakterisiert sind. Der erste Aspekt, den er behandelt, betrifft die für Kinder notwendige »Geselligkeit der Aeltern«. Merkwürdigerweise betrachtet er diese elterliche »Geselligkeit« nicht als anthropologisch fundiert, sondern als Folge der religiösen Sozialdisziplinierung: Wenn die Aelthern keine Religion hätten, und bloß ihren Lüsten nachhiengen, so würde der natürliche Trieb der Kinderliebe sehr oft, durch die sinnlichen Reizungen der Wollust, und durch die Empfindung der großen Beschwerde bey der Erziehung, ersticket werden. Man würde die Kinder entweder nach alter Weise wegwerfen, oder durch Nachläßigkeit verderben und verwildern lassen, oder, wenn sie an einer neuen Heurath hinderlich wären, heimlich aus dem Wege räumen. Das Gewissen allein hindert Tausende an diesen Unternehmungen, und machet vielen so gar die Last der Warnung und Erziehung ihrer Kinder leicht und angenehm. Demnach haben die Kinder sowohl ihr Leben, als ihre Gesundheit und Geschicklichkeit, guten Theils, der Religion der Aeltern zu danken.77

Diese Begründung der Notwendigkeit der Religion ist selbstverständlich im hohen Maße fragwürdig. Vermutlich hätte sich La Mettrie durch diese Ausführungen bestätigt gefühlt, weil Reimarus selbst davon ausgeht, dass ein positives Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern nur durch die Vorstellung religiöser Sanktion gewährleistet werden kann, die Elternliebe also nicht in der menschlichen Natur wurzelt,78 sondern eine künstlich anerzogene Vorstellung bzw. ein Vorurteil darstellt. Die instru-

|| Stelle des Gefühls der Glückseligkeit könne als deren moralisches »Analogon« die »Selbstzufriedenheit« treten, »welche das Bewußtsein der Tugend nothwendig begleiten muß« (ebd., S. 117). 75 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 730. 76 Ebd., S. 744. 77 Ebd., S. 745. 78 Dies war bekanntlich der vielfach wiederholte Grundgedanke der wolffschen Ethik, dass das natürliche bzw. moralische Gesetz in der menschlichen Natur wurzelt und deshalb den Menschen nicht erst von außen durch Befehl aufgezwungen werden muss.

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mentelle Begründung lässt auch den staatspolitischen Nutzen von derartigen Vorstellungen hervortreten: Für den Staat ist es nützlich, wenn Eltern durch die Religion zum mühseligen Geschäft der Kindererziehung angehalten werden; für die Eltern ist jedoch kein Nutzen erkennbar. Auch das »Naturgesetz und die Pflichten der Geselligkeit« machen sich die Menschen nur dann zur »Regel«, wenn »in ihren Gemüthern ein Erkenntniß Gottes und seiner Absichten« eingepflanzt worden ist. Damit hat Reimarus allerdings deutlich ausgesprochen, dass dem Menschen das moralische Gesetz nicht immanent ist. Er erweist sich in dieser Hinsicht als Anhänger des von Wolff bekämpften Moralpositivismus Pufendorfs.79 Nun wurden in den Debatten über die Gesellschaftsfähigkeit des Atheisten immer wieder zwei Positionen thematisiert: Einerseits der sprichwörtlich gewordene ›tugendhafte Atheist‹ Spinoza,80 andererseits die Frage nach der Möglichkeit einer Republik von Atheisten. (1.) Was den Themenkomplex des tugendhaften Atheisten angeht, so fertigt Reimarus diese Vorstellung mit leichter Hand ab, indem er die Rationalität von dessen Motivation bestreitet. Im Gegensatz zur Ansicht Pierre Bayles, der Spinoza als »athée de système« betrachtete,81 leugnet Reimarus, dass Spinozas Lebensweise aus einer reflektierten atheistischen Haltung hervorgegangen sei. Vielmehr habe dieser »nicht nach dem System der Atheisterey, sondern bloß nach Temperament, Erziehung und Gewohnheit, ehrbar gelebet«.82 Allerdings erweist sich diese Einschätzung von Spinozas bloß erziehungs- bzw. konventionsbedingter Lebensführung in anderer Hinsicht als durchaus problematisch. Was wäre, wenn eine solche, durch äußere Faktoren bedingte, bloß scheinbare Ehrbarkeit der Normalfall wäre? Und was wäre, wenn deshalb bei denjenigen, denen Reimarus zuvor eine moralische Lebensführung im Bewusstsein der Kontrolle durch die Gottheit attestiert hatte, nun ebenfalls als motivierende Faktoren bloß »Temperament, Erziehung und Gewohnheit« vorhanden wären? Reimarus relativiert der Sache nach insofern die

|| 79 Dass Pufendorf in moralphilosophischer Hinsicht Reimarus’ Referenzautor war, wird durch den Bericht von Johann Georg Büsch bestätigt, dem Reimarus Privatunterricht erteilt hatte: »Bei meinem Abschiede nach Göttingen fragte ich Reimarus, bei wem die Philosophie dort noch ferner zu hören er mir riete? Er lächelte und sagte: Ich denke ja, Sie können sich ohne mündlichen Unterricht behelfen, wenn Sie nur ferner lesen wollen. Lesen Sie die Bücher, denen ich fast alles in der Philosophie zu danken habe, nemlich Leibnizens Theodicee, und Pufendorfs Natur- und Völkerrecht nach Barbeyracs Uebersezung. Diese Bücher schafte ich mir sogleich in Göttingen an, las sie ernsthaft durch, und hörte kein philosophisches Collegium weiter« (Johann Georg Büsch: Erfahrungen. Vierter Band. Hamburg 1794, S. 126). 80 Vgl. hierzu Michael Czelinski-Uesbeck: Der tugendhafte Atheist. Studien zur Vorgeschichte der Spinoza-Renaissance in Deutschland. Würzburg 2007, der auch die Bedeutung Pierre Bayles für die Deutung Spinozas als tugendhafter Atheist herausarbeitet. 81 Vgl. hierzu Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Eine Auswahl. Hg. von Günter Gawlik und Lothar Kreimendahl. Hamburg 2003, S. 375–379. 82 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 734.

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Behauptung der Ausschließlichkeit religiös fundierter Motivation und bestätigt damit wider Willen die These Bayles »in dem Punkt, dass Temperament und Charakter unabhängig von der Weltanschauung einen Einfluss auf die Moral haben«.83 Aber noch in einer anderen Hinsicht erweist sich seine Lehre moralischer Motivation durch Religion als unzulänglich. Was wäre, wenn die religiöse Motivation nicht zu ehrbarer Lebensführung, sondern zum religiösen Fanatismus führt, der Andersbzw. Ungläubigen gerade wegen der Unverzichtbarkeit religiöser Motivation das Existenzrecht abspricht? Bekanntlich ist von der Behauptung, dass Atheisten keine Staatsbürger sein können, hin zur Forderung ihrer Eliminierung nur ein kleiner Schritt. Und während Reimarus seine Vornehmsten Wahrheiten publizierte, fanden in Frankreich eine ganze Reihe religiös motivierter Justizmorde statt, an denen sich Voltaires publizistisches Engagement entzündete. (2.) Das andere in Verbindung mit dem Atheismusproblem immer wieder diskutierte Problem war die Frage nach der Möglichkeit einer Republik von Atheisten. La Mettries Philosophie ist für Reimarus der Leitfaden, an dem er die seit Pierre Bayles Lettre sur la comète de 1680 (1682) diskutierte Frage, »ob die Atheisterey zu Lastern führe, und der menschlichen Gesellschaft und Glückseligkeit gefährlich sey«,84 entscheiden will. Nach der Lektüre der Schriften La Mettries müsse man aufhören, an der vielfach diskutierten Gefährlichkeit des Atheismus zu zweifeln. Reimarus benennt zunächst die »Grundsätze« der »Atheisterey«, die La Mettrie zugrunde legt, um dann zu den Konsequenzen daraus überzugehen, wobei er betont, dass dies »keine Folgerungen« seien, die er als Interpret willkürlich »dem Manne aufbürde«, sondern sie seien in dessen Schriften auf das Klarste ausgedrückt. Reimarus’ polemische Strategie besteht nun darin, die Prinzipien La Mettries mit denen des Atheismus generell zu identifizieren, denn es sei nicht absehbar, »wie sie irgendein anderer Atheist von seinem Lehrgebäude ablehnen will, der in den Grundsätzen einig ist«.85 Wir wissen allerdings, dass die beiden Hauptvertreter des französischen Materialismus in ihrer Kritik an La Mettrie genau diesen Konnex bestritten haben. Diderot und der Baron d’Holbach hatten deshalb das starke Bedürfnis, sich von La Mettrie abzugrenzen und ihn als unzurechnungsfähigen Provokateur aus der Gelehrtenrepublik auszuschließen. Insbesondere d’Holbach verfasste mehrere umfangreiche Werke, die deutlich machen sollten, dass die materialistische Weltanschauung die wahre Grundlage der vernünftigen Moral darstellt. Die mit derartigen Überlegungen systematisch verknüpfte Frage nach der Möglichkeit eines tugendhaften Atheisten wurde seit dem späten 17. Jahrhundert immer wieder kontrovers diskutiert. Zunächst bildete die Frage nach dem Verhältnis von Unglauben und Moralität den Kristallisationspunkt für die autonome, d. h. von

|| 83 Czelinski-Uesbeck: Der tugendhafte Atheist (s. Anm. 80), S. 191. 84 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 734. 85 Ebd., S. 735.

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theologischen Prämissen unabhängige, Begründung praktischer Prinzipien. Für Pufendorf und auch Locke war eine solche Begründung unmöglich; der Ausschluss der Atheisten aus der Rechtsgemeinschaft war deshalb für sie die unumgängliche Konsequenz. Und sie musste es auch bleiben, solange ein Moralprinzip zugrunde gelegt wurde, nach welchem das mögliche Recht des Menschen in Abhängigkeit von seinem Glauben an die Existenz Gottes gedacht wurde. Damit wird aber alles mögliche Recht des Menschen abhängig gemacht von einer Überzeugung, deren Fürwahrhalten − wie Locke selbst in seinem Toleranzbrief erklärt − nicht von unserem Willen abhängt.86 Der Mensch kann nicht nach Belieben über seine Überzeugungen verfügen, er hat deshalb auch keineswegs die Freiheit, seine Überzeugungen deswegen zu ändern, weil ein anderer dies von ihm verlangt. Und es ist hier gleichgültig, dass Reimarus die Notwendigkeit derartiger Glaubensüberzeugungen auf die sogenannte natürliche Religion beschränkt. Der von anderen Aufklärern propagierte Gedanke, dass es in spekulativen Fragen keinen Zwang geben könne, findet sich bei Reimarus nicht. Auch von Seiten der Erkenntnistheorie ergeben sich Zweifel an der Begründbarkeit derartiger spekulativer Überzeugungen, die Reimarus als notwendige Bedingungen der Zuschreibung eines moralischen Status für erforderlich hält. Reimarus fällt damit hinter die Überlegungen, die sich bei Christian Wolff und seinen Schülern finden, zurück. Auch Wolff war der Auffassung, dass die öffentliche Verbreitung des Atheismus aus Gründen der Staatsutilität unterdrückt werden könne. Aber er beschränkte die Strafbarkeit des Atheismus auf seine öffentliche Äußerung und Verbreitung. Das bloß private Haben einer solchen Überzeugung behandelte Wolff demgegenüber nach dem Prinzip »die Gedanken sind zollfrey«.87 Denn durch das bloß private Überzeugtsein von der Nichtexistenz Gottes wird niemand in seinen Rechten verletzt. Und in dieser Hinsicht rechneten Wolff und einige seiner Schüler durchaus mit der Möglichkeit der Moralität von Atheisten. Im Anschluss an die berühmt-berüchtigte Rede Wolffs über die praktische Philosophie der Chinesen, die zu seiner Vertreibung aus Halle führte, entstand eine intensive Debatte über die Problematik eines Naturrechts des Atheisten. Das Ergebnis dieser Debatte, an welcher neben Wolff auch die Wolffianer Heinrich Köhler, Alexander Gottlieb Baumgarten, Georg Friedrich Meier u. a. beteiligt waren, bestand darin, dass die Atheisten zwar nur des untersten Grades von Moralität fähig seien, aber dass dies für ihre Mitgliedschaft in der Staatsgesellschaft durchaus ausreichend sei.88 Auch in

|| 86 »[T]o believe this or that to be true does not depend upon our will« (John Locke: Ein Brief über Toleranz. Englisch–deutsch. Hg. von Julius Ebbinghaus. Hamburg 1996, S. 78f.; vgl. dazu Julius Ebbinghaus: Einleitung. In: ebd., S. XIII–LXIV, hier bes. S. LXIII). 87 Christian Wolff: Jus naturae methodo scientifica pertractum pars VIII. Halle 1748 (ND Hildesheim 1968), § 643 Anm. 88 Vgl. Dieter Hüning: Das Naturrecht der Atheisten. Zur Debatte um die Begründung eines säkularen Naturrechts in der deutschen Aufklärungsphilosophie. In: Religion und Aufklärung. Akten des

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seiner Philosophia practica universalis hatte Wolff erklärt: »ex quo, quod atheus ponit non dari Deum, minime sequitur, non dari legem naturae«.89 Diesen Überlegungen wollte sich Reimarus offenkundig nicht anschließen. Ihm zufolge ist es vielmehr gar nicht möglich, daß sich solche Glieder [d. h.: nach La Mettries Grundsätzen erzogene Menschen, D.H.], in einer Gesellschaft, zur Beförderung allgemeiner Wohlfahrt und Sicherheit, und zur Beobachtung der Gerechtigkeit und Liebe gegen jeden, verbinden lassen. Eine solche Republik muß also bald in sich selbst zerfallen [...]. Wir sind nicht geboren Atheisten zu sein.90

Für Reimarus spielt die verbindlichkeitstheoretische Debatte der Naturrechtslehre um die Geltung des moralischen Gesetzes allerdings keine Rolle.91 Geltungstheoretische Überlegungen werden zurückgedrängt, d. h. Reimarus diskutiert nicht die Frage, ob ein Atheist die Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes erkennen könne, sondern ausschließlich die Frage nach der Fähigkeit des Atheisten zu moralischer Selbstmotivation.92 Reimarus kommt zu dem Schluss, dass ein solches motivationales Element notwendigerweise auf Seiten des Atheisten fehlt: Wenn nun nach diesem Leben weiters nichts zu hoffen ist, können wir denjenigen für glücklich halten, der für das Vaterland, der für den König, seine Gesundheit, seine Güter, ja selbst sein Leben aufopferte; der Wort und Zusage mit seinem offenbaren Schaden hielte; der Zölle und Abgaben mit Kränkung seines Hausstandes redlich entrichtete; der den allgemeinen Nutzen seinem eigenen vorzöge; der den allgemeinen Gesetzen mit Unlust und Mühe genauen Gehorsam leistete; der sich durch Zeugniß der Wahrheit gefährliche Feindschaft zuzöge? Ein solcher würde ja in der Zeit seiner [irdischen] Dauer nicht das geringste Gute, sondern lauter Unlust und Schaden, von seiner Tugend zu gewarten haben. Würden also die meisten solche Tugend

|| Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie. Hg. von Albrecht Beutel und Martha Nooke. Tübingen 2016, S. 409–424. 89 Christian Wolff: Philosophia practica universalis. Pars Prior. Frankfurt a. M., Leipzig 1738, § 245 (»daraus, dass der Atheist behauptet, es gäbe keinen Gott, folgt in keiner Weise, daß das natürliche Gesetz nicht gültig sei«). 90 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 746, vgl. auch ebd., S. 737 und S. 748. − Allerdings scheint Reimarus an einer Stelle die Möglichkeit einer »Tugend ohne Religion« einzuräumen: »Aber eine Tugend ohne Religion [...] ist gewiß von der niedrigsten Art, und nichts, als eine feine Eigenliebe, die ihre Lust am gewissen, natürlichen, zuweilen auch nur jeder Einbildung und Eigensinn gemäßen Handlungen findet« (Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten [s. Anm. 11], S. 722). 91 Vgl. hierzu Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg, München 21999. 92 Auffällig ist, dass sich bei Reimarus − trotz der Betonung der Sozialschädlichkeit des Atheismus − keine Forderungen nach kriminalpolitischer Verfolgung der Atheisten finden.

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für einen leeren Ton und triegliche Einbildung halten? Würden sie nicht eine kluge Eigennützigkeit, an deren Stelle, zur Regel ihrer Handlungen machen […]?93

Und auch für soziale Zwecke ist der Atheist nicht eingenommen: Wie elend wäre das ganze menschliche Geschlecht und die bürgerliche Gesellschaft daran, wenn ein jeder diesen Lehren folgen wollte. Warum sollte denn einer seine süße Empfindung, seine Bequemlichkeit und Ruhe, seine Mittel, seine Gesundheit, sein Leben, als ein ehrlicher Mann, als Ehemann, Vater, Bürger, Kriegsmann, der Frauen, den Kindern, den Mitbürgern, dem Könige, dem Vaterlande aufopfern.94

Einmal abgesehen davon, dass hier ganz unterschiedliche Verhältnisse, in denen ein Mensch bzw. Mann steht, benannt werden, die jeweils ihre besonderen Gründe haben können, warum man ihnen zustimmt oder sie ablehnt, so ist die Frage, die Reimarus hier stellt, relevanter, als er vermutlich dachte. Denn welche vernünftigen Gründe sollte jemand haben, sich z. B. als »Kriegsmann« in den Kriegen der absolutistischen Staaten, die zumeist aus dynastischen Gründen vom Zaun gebrochen wurden, und als Kanonenfutter »aufzuopfern«? Das Gleiche gilt für die »Zölle und Abgaben«, aus denen der absolutistische Staat die Repräsentationskosten seiner Hofhaltung finanzierte: Sind solche Abgaben gut angelegtes Geld? Reimarus stellt solche Fragen nicht, sondern rechnet Kriegsdienst und Abgaben einfach zu den faux frais, die bei der Bewerkstelligung des ›allgemeinen Nutzens‹ anfallen − eine wahrhaft »triegliche Einbildung«, die allerdings auch unter anderen Aufklärern weit verbreitet war, obwohl im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts zunehmend Kritik an den ökonomischen Kosten der absolutistischen Herrschaft wie an der Unproduktivität des Klerus erhoben wird. Die anschließenden Ausführungen machen leider deutlich, dass Reimarus im Hinblick auf Mord und Totschlag ganz vulgäre Ansichten vertritt. Wie schon Haller hält er den Atheisten jederzeit für einen mordbereiten Bösewicht: Welcher Freund und Bruder, welcher Ehegatte, welcher Sohn, wäre vor den andern seiner Freyheit, Ehre, Güter und seines Lebens sicher, wenn er etwa dem Vortheile oder dem Vergnügen des andern im Wege stünde? Würde der Zwang und die Strafe der Gesetze etwas gegen so wohl unterrichtete Bosheit helfen? Nein: Keiner würde sich selbst für so einfältig halten, daß er nicht etwas erfinden sollte, dabey er seine Absicht, heimlich, oder unter dem Scheine des Rechten, ausführen könnte. Selbst Könige und Regenten würden für ihre eigene Person durch nichts mehr geschützet seyn.95

Die Behauptung, die hier aufgestellt wird, lautet: Die Abwesenheit des Glaubens an die Gottheit hebt jegliche Schranke der Bosheit auf. Ohne Gott wäre alles erlaubt.

|| 93 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 712f. 94 Ebd., S. 736. 95 Ebd., S. 737.

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Als Motiv für die Begehung von Mord, Totschlag und anderer Verbrechen soll der Unglaube ausreichen? In solchen Überlegungen zeigt sich weniger eine angemessene Kriminalpsychologie als der feste Wille zur Dämonisierung des Atheisten. Was die Kriminalpsychologie des Mordes angeht, so kann man fragen, aus welchen Motiven Morde begangen werden. Im Grunde genommen existieren nur drei ›Mordsgründe‹: Morde werden begangen erstens aus ideologischen Gründen (hierzu zählen alle politisch oder religiös motivierten Morde), zweitens handelt es sich um Raubmorde und drittens um Beziehungsmorde. Alle diese unterschiedlichen Mordarten zeichnen sich durch spezifische, in der bürgerlichen Gesellschaft weit verbreitete Motive aus und nicht durch die Abwesenheit einer religiösen Motivation. Ein weiteres motivationales Problem besteht in der Leugnung der Unsterblichkeit der Seele. Dies ist deshalb ein Problem, weil es »keine so genaue Verbindung zwischen Tugend und zeitlicher Glückseligkeit [gibt, D.H.], daß nicht ein Tugendhafter, durch Zufälle, oder selbst durch seine Tugend, unglücklich werden könnte«.96 Dass die von der Vernunft geforderte ›Verbindung von Tugend und Glückseligkeit‹ schon innerhalb der irdischen Lebenszeit der Menschen wirklich wird, ist alles andere als garantiert. Die Erfahrung lehrt oftmals das Gegenteil. Die Vorstellung, die auch ein Atheist haben könne, »als ob die Tugend sich selbst schon in diesem Leben eine genugsame Belohnung für alle Widerwärtigkeiten gäbe«, erklärt Reimarus für einen »seichten Trost«: »Wäre es mit diesem Leben um uns gethan: so würde das Erkenntniß von Gott weder unsere innere noch äussere Glückseligkeit befödern, sondern vielmehr beyde stöhren«.97 Die Religion verschaffe dagegen das den Atheisten fehlende motivationsstiftende Element der Moral: Wenn hergegen die Seele zur Unsterblichkeit im Reiche der Geister bestimmt ist, […] so gibt die Religion einen verehrungswürdigen Begriff von Gott, seinen Vollkommenheiten, seiner Absicht und Regierung über die Menschen; so bewegt sie uns, dem großen Zwecke des Urhebers unserer Natur nachzugehen, und in dem Vorgeschmacke einer niedrigern, gemischten und zeitlichen Glückseligkeit eine höhere, reinere und ewige zu hoffen.98

Wenngleich es nur allzu oft das Schicksal der Tugendhaften ist, auf die »zeitlichen Vortheile« Verzicht tun zu müssen, verspricht uns die Religion, dass wir »künftig erst die rechten Früchte unserer Bemühung von unserem Schöpfer« zu erhalten.99 Ohne eine solche Verknüpfung von Gottes Gerechtigkeit, Unsterblichkeit der Seele, Belohnung der Tugend und Bestrafung des Lasters könnte es »keinen Bewegungsgrund zur Tugend und Frömmigkeit, oder zur Ausübung göttlicher Gebothe ge-

|| 96 Ebd., S. 712. 97 Ebd., S. 714. 98 Ebd., S. 715f. 99 Ebd., S. 713.

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ben«.100 Auf diese Weise wird der Glaube, »daß Gott, nach seiner Allwissenheit und Vorsehung, aller Menschen Betragen aufs genaueste erkennet«, ein »Bewegungsgrund zur Tugend und Frömmigkeit, oder zur Ausübung göttlicher Gebothe«.101 Angesichts der zahlreichen »widrige[n] Begebenheiten […] in diesem Leben […] könnte Gottes Weisheit, Liebe und Gerechtigkeit gegen die Menschen nicht gerettet werden, wenn kein anderes Leben wäre«.102 Reimarus und seine Zeitgenossen werden vielleicht solche Ausführungen für plausibel gehalten haben − übrigens finden sich bei Kant ganz ähnliche Überlegungen, insofern auch Kant der Auffassung ist, dass die Vereinigung von Tugend und Glückseligkeit einem vernünftigen Bedürfnis nach Sinnstiftung entspricht und insofern auch der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele eine moralphilosophisch akzeptable Konsequenz darstellt.103 Aber anders als für Kant handelt es sich um spekulative Konsequenzen aus dem Moralprinzip, nicht um dessen konstitutive Bedingungen. Den heutigen Leser irritiert dagegen eher der moraltheologische Funktionalismus von Reimarus’ Argumentation: »Vieles kann der Mensch erleichtern und überwinden, wenn er auf einen besseren Zustand Hoffnung hat«.104 Was aus derartigen Überlegungen deutlich wird, ist, dass vom staatlichen Standpunkt eine sinnstiftende Religion, die über die irdischen Entbehrungen zugunsten einer jenseitigen Glückseligkeit hinwegtröstet, sehr nützlich ist.105 Und offenbar haben die meisten Fürsten im 18. Jahrhundert derartige zynische Überlegungen angestellt. Und wer wissen wollte, wie es um den Dienst an König und Vaterland, von dem Reimarus spricht, in Preußen bestellt war, der hätte zu Lessings Minna von Barnhelm (1767) greifen können, wo die Kriegstreiberei der preußischen Militärdiktatur den eigentlichen Gegenstand des angeblichen »Lustspiels«, das deshalb auch nur bedingt lustig ist, darstellt. Lessings Stück zeigt, dass die Militärmaschinerie nicht bloß auf die frommen Gesinnungen des Kanonenfutters vertraute, sondern darüber hinaus auf geistlosen und brutalen Drill, permanente Überwachung und Bespitzelung, barbarische Strafen und alle erdenklichen Pressionen setzte. Man möchte gerne glauben, dass das so schikanierte und drangsalierte Kanonenfutter des religiösen Trostes bedurfte. Aber läge darin ein Argument für die Religion? Dass es aber unvernünftig sein könnte, in den damaligen dynastischen Kriegen die Rolle des Kanonenfutters für König und Vaterland zu spielen, und dass deshalb eine solche Religionsauffassung eine staatsnützliche Idiotie des Absolutismus dar|| 100 Ebd., S. 720. 101 Ebd. 102 Ebd., S. 721. 103 Vgl. Kant: Kritik der praktischen Vernunft (s. Anm. 74), S. 110ff. 104 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 722. 105 Zu Reimarus’ Auffassung von der Nützlichkeit der Religion vgl. den Aufsatz von Stefan Klingner in diesem Band.

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stellt − so weit reichen die »vernünftigen Wahrheiten« eines Reimarus natürlich nicht. Bei unbefangener Lektüre könnte man allerdings behaupten, dass Reimarus das Gegenteil von dem erreicht, was argumentativ seine Absicht war: Wenn die Befolgung moralischer Prinzipien an derartig fragwürdige spekulative Gründe wie die zukünftige Belohnung durch den Schöpfer geknüpft werden muss, dann scheinen für eine solche Befolgung offenbar gar keine immanenten Gründe − weder geltungstheoretischer noch motivationstheoretischer Art − zu sprechen. In dieser Hinsicht könnte die von Reimarus propagierte enge Verknüpfung von Religion und Moral die letztere gerade verdächtig machen.

6 Fazit La Mettrie hatte in seinem Discours sur le bonheur die zentralen Positionen der zeitgenössischen Physikotheologie im Rahmen eines reduktionistischen Materalismus zurückgewiesen und an die Stelle des stoischen Glücksbegriffs das »Bonheur organique« bzw. »Machinal« gesetzt. Die bei Descartes zu findende Vorstellung, die Unsterblichkeit der Seele sei »une de ces vérités, dont la connaissance est requise, pour faciliter l’usage de la vertu et chemin du Bonheur«, sei nur eine Schutzbehauptung gewesen, welche »la prudence de l’Auteur« angesichts zu befürchtenden Angriffe der Theologen gewesen sei. Aber er hätte hier nicht »en Philosophe« gesprochen. An die Stelle der Physikotheologie und der theonomen Moralbegründung will La Mettrie einerseits eine pragmatische hedonistische Glückslehre und andererseits eine Sozialpsychologie moralischer Vorurteile (insbesondere der Schuldgefühle)106 setzen. Gerade diese innovative analytische sozialpsychologische Fragestellung ist bei La Mettrie bestenfalls angedeutet, aber nicht systematisch ausgeführt. Dennoch kann man fragen, ob Reimarus der nihilistischen Herausforderung La Mettries gewachsen war. Wir haben gesehen, dass die Forschungsliteratur die Überlegenheit des Materialismus auf naturwissenschaftlichem Gebiet (insbesondere im Hinblick auf das Problem der Entstehung des Organischen) mit guten Gründen bestritten hat. Wenn Reimarus den atheistischen Materialismus wegen seines Zurückbleibens hinter dem Stand der zeitgenössischen Forschungen kritisiert, wird man ihm zustimmen müssen. Umgekehrt hat Reimarus die zeitgenössischen Versuche einer säkularen Moralbegründung, die ich mit der Frage nach dem Naturrecht der Atheisten in Verbindung bringe, nicht aufgegriffen, von dem skizzierten sozialpsychologischen Ansatz La Mettries, der keine Rechtfertigung von Normen, sondern in erster Linie die Erklärung ihrer Entstehung zum Ziel hatte, ganz zu schweigen. Reimarus || 106 Vgl. hierzu Catia Goretzki: Die Beseitigung des Schuldgefühls. Der Skandal um den Kerngedanken der materialistischen Ethik La Mettries. In: Denker und Polemik. Hg. von Holger Glinka, Kevin Liggieri und Christoph Manfred Müller. Würzburg 2013, S. 81–101.

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antwortet der Herausforderung durch La Mettrie mit einer Rekapitulation der gängigen physikotheologischen Argumente. Durch die Systematisierung der entsprechenden Argumente hat er sich vielleicht ein »unsterbliches Verdienst«107 erworben. Aber die philosophische Arbeit war zu diesem Zeitpunkt sowohl in Sachen der Kritik der Offenbarungsreligion als auch in Fragen der praktischen Philosophie längst über Reimarus hinausgegangen.

|| 107 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: AA V, S. 165–485, hier S. 476f.

Stefan Klingner

Reimarus über den Nutzen der Religion Die Überzeugung, dass Religion nützlich ist, kann ohne größere Bedenken als ein Gemeinplatz der europäischen Philosophie der Aufklärung bezeichnet werden. Sieht man einmal von den vergleichsweise wenigen dezidiert materialistischen Konzeptionen ab, die sich auch ausdrücklich zu einem Atheismus bekennen und Religion(en) ausschließlich als etwas Gefährliches hinstellen, eint sie den weitaus größten Teil der europäischen Philosophie im ausgehenden 17. und gesamten 18. Jahrhundert – ganz unabhängig davon, ob die jeweiligen Theorieentwürfe ›monistische‹ oder ›dualistische‹, ›empiristische‹ oder ›rationalistische‹, ›demonstrativ‹ verfahrende oder ›popularphilosophische‹, ›dogmatische‹ oder ›kritische‹ Positionen zum Ausdruck bringen.1 Dabei divergieren besonders die jeweiligen Bestimmungen desjenigen, wofür Religion(en) nützlich ist (bzw. sind) – also ihres Zwecks –, aber mitunter auch diejenigen, welche Religion(en) nützlich ist (bzw. sind), – also ihres Mittelcharakters: Mit Blick auf den ersten Punkt lassen sich zwar ganz verschiedene, aber bei genauerem Hinsehen dann doch immer wieder die gleichen Angaben finden: Sie betreffen, grob gesprochen, entweder den Gemütshaushalt des einzelnen Subjekts, die Regeln menschlichen Zusammenlebens oder die Erkenntnis und theoretische Reflexion, also die Wissenschaften von der Metaphysik bis zur Naturphilosophie.

|| 1 Viele Beispiele hierfür anzuführen, scheint mir an dieser Stelle unnötig zu sein. Lediglich auf zwei vermeintliche Gegenbeispiele sei hier hingewiesen: Spinoza und Kant. Weder der Patron der ›Radikalaufklärung‹ noch der Erfinder der kritischen Philosophie leugnen eine pragmatische Notwendigkeit von (›vernünftiger‹) Religion – trotz aller Religions- bzw. Kirchenkritik. Vgl. Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Traktat. In: SSW 3, Kap. 14 und 15, S. 221f., S. 234f. und bes. S. 236 sowie Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: AA VI, S. 1–202, hier S. 112. – Mit Blick auf die – nicht notwendige – Verbindung von Materialismus und Atheismus sind vor allem Autoren wie Paul-Henri Thiry d’Holbach, Julien Offray de La Mettrie oder auch Denis Diderot zu nennen, aber auch deutsche Autoren wie z. B. Michael Hißmann. Vgl. zu den ›französischen Materialisten‹ immer noch Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn 21873, Bd. 1, S. 277ff., und zu deren Auseinandersetzung mit dem Theologoumenon ›Unsterblichkeit der Seele‹ Günther Mensching: Die Sterblichkeit der Seele im französischen Materialismus. In: Aufklärung 29 (2018), S. 181–192. Vgl. zu Hißmanns Materialismus Udo Thiel: Hißmann und der Materialismus. In: Michael Hißmann (1752‒1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Hg. von Heiner Klemme, Gideon Stiening und Falk Wunderlich. Berlin 2013, S. 25–41. Die Verbindung von Materialismus und Atheismus wird prominent und als eigentlicher Ursprung der (demokratischen) ›Moderne‹ herausgestellt von Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750. Oxford 2001, ders.: Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man. 1670– 1752. Oxford 2006 und ders.: Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790. Oxford 2011. https://doi.org/10.1515/9783110726558-010

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Mit Blick auf den zweiten Punkt ist es wiederum nicht selten die ›vernünftige‹ (oder ›natürliche‹) Religion, die bereits als hinreichend nützliches Mittel zur Realisierung der jeweiligen in Anschlag gebrachten Zwecke angesehen wird;2 zumeist sollte es dann aber schon eine Religion im Sinne eines christlichen Bekenntnisses sein;3 und gelegentlich scheint die Frage nach der konkreten Gestalt der Religion sogar als irrelevant eingeschätzt werden zu können, solange sie eben noch als Mittel für den jeweils angegebenen Zweck qualifiziert werden kann.4 Reimarus’ Bestimmung des Nutzens der Religion kommt in diesem Kontext eine durchaus bemerkenswerte Stellung zu. Denn einerseits hält er ausschließlich die ›vernünftige‹ (oder ›natürliche‹) Religion für ein angemessenes, sogar notwendiges Mittel zur Realisierung bestimmter Zwecke. Und andererseits lesen sich seine Überlegungen zu den Zwecken der ›vernünftigen‹ (oder ›natürlichen‹) Religion wie eine pointierte Zusammenstellung aller – oder wenigstens der meisten – derjenigen Angaben zum Nutzen der Religion(en), die sich in der europäischen Aufklärungsphilosophie finden lassen. Aus Reimarus’ Perspektive formuliert, lässt sich seine Position etwa auf folgende Formel bringen: Einmal erkannt, dass es nicht der Verweis auf die in der heiligen Schrift fixierte Offenbarung, sondern schlichtweg die ›gesunde Vernunft‹ des Menschen ist, die zur Annahme der Existenz eines ›ersten vollkommens|| 2 Das trifft auf zahlreiche dem sog. ›Deismus‹ zugerechnete Autoren, aber auch z. B. auf Christian Wolff zu. Vgl. zu den begrifflichen Wirrnissen um Ausdrücke wie ›Deismus‹ und ›vernünftige Religion‹ etwa Günter Gawlick: Christian Wolff und der Deismus. In: Christian Wolff 1679‒1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1983, S. 139–147. Vgl. zum hier gebrauchten Deismusbegriff auch ders.: Vorwort des Herausgebers. In: Gotthard Victor Lechler: Geschichte des englischen Deismus. Hildesheim 1965 (ND der Ausgabe Stuttgart, Tübingen 1841), S. V–XXXIX, hier S. VII–XXI, bes. S. XIV. 3 Dies trifft sicher auf das Gros der deutschen Philosophen – und natürlich auch etliche Theologen – in der Mitte und der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu. Dabei wird dann betont, dass der Gehalt der christlichen Offenbarung wesentlich mit dem der vernünftigen Religion übereinstimme. Vgl. z. B. bereits Christian Wolff: Anmerckungen über die vernünfftige Gedancken von GOTT, der Welt, und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Frankfurt a. M. 1724, § 45, bes. S. 83f., und dann Johann Joachim Spalding: Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. Dritte und vermehrte Auflage. Berlin 1749, S. 26–32, Christian August Crusius: Kurzer Begriff der Moraltheologie. Erster Theil, Leipzig 1772, §§ 3f., oder auch Johann Georg Heinrich Feder: Grundsätze der Logik und Metaphysik, Göttingen 1794, S. 372–375. Vgl. etwa zu Feder ausführlicher Stefan Klingner: Zum Verhältnis von Vernunft und Offenbarung bei Feder. In: Johann Georg Heinrich Feder (1740‒1821). Empirismus und Popularphilosophie zwischen Wolff und Kant. Hg. von Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin, Boston 2018, S. 235–252. 4 In dieser Weise lässt sich Kants Religionsphilosophie interpretieren. Vgl. dazu Reinhard Hiltscher, Stefan Klingner: »Nun sag: wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon«. In: Kant und die Religion – die Religionen und Kant. Hg. von Reinhard Hiltscher und Stefan Klingner. Hildesheim 2012, S. 7–13, hier S. 9f., Stefan Klingner: Kant und die Zweckmäßigkeit religiösen Glaubens. In: Kant und die Religion (s. Anm. 4), S. 177–192, hier S. 188ff. sowie ders.: Kant und der Monotheismus der Vernunftreligion. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 97.4 (2015), S. 458–480.

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ten Wesens‹ und zu zahlreichen daraus folgenden Einsichten führt, zeigt sich zugleich der unschätzbare Wert der Religion.5 Worin dieser Wert bestehe und was er alles umfasse, macht Reimarus dann auch gleich im kurzen »Vorbericht« zu seinen Vornehmsten Wahrheiten deutlich: Alles übrige Wissen ist angenehm genug, und bringet auch seinen vielfältigen Nutzen; aber ohne Religion ist es nur ein tändelnder Zeitvertreib, der unser Gemüth nicht ersättiget, nicht beruhiget. Diese allein zeiget uns das Urbild aller Vollkommenheit, die Quelle alles Segens und Glückes, und den Zusammenhang aller Dinge mit einer äussersten großen Absicht, welche auch unser Wohl enthält, und uns mit ungezweifeltem Vertrauen auf eine gnädige und weise Führung, und mit Hoffnung auf unsere ewige glückselige Dauer erfüllet. Diese bringet unsere Begierden zur Ordnung und Einigkeit: sie lehret uns den nützlichen Gebrauch alles inneren Vermögens, und alles äusserlichen Guten: sie machet uns zufrieden mit uns selbst, liebreich gegen andere, beliebt bey den Menschen, und dem höchsten Wesen angenehm.6

Demnach ist die Religion immerhin für nicht weniger als die Metaphysik und die Wissenschaften, die Morallehre und das eigene Wohlbefinden von entscheidender Relevanz. Und entsprechend schlecht ist es Reimarus zufolge um die ›Atheisten‹ bestellt. Denn diese seien nicht nur unfähig zu wahrer Erkenntnis sowie gesellschaftlich unhaltbar – sie seien vor allem ganz unglückliche, innerlich völlig zerrissene Geschöpfe, indem sie »sich nothwendig allen Grund zu einem dauerhafteren Vergnügen [nehmen], das unserer Natur gemäß ist«.7 Die folgenden Überlegungen werden Reimarus’ Bestimmungen des Nutzens der Religion vorstellen und dabei zwei Ziele verfolgen: Erstens soll gezeigt werden, dass Reimarus in den Vornehmsten Wahrheiten tatsächlich die in der Aufklärungsphilosophie gängigen Nutzenangaben zur Religion allesamt – oder wenigstens größtenteils – anführt und dass dieses Werben mit ihren »Vortheilen«8 auch den primären Zweck seiner Darstellung der natürlichen Religion ausmacht. Zweitens soll dabei derjenige Gedanke, der ihm eine solche Anpreisung der natürlichen Religion ermöglicht, herausgestellt und kritisch beurteilt werden. Dieser ist kein anderer als der einer uneingeschränkten teleologischen Qualifikation alles Vorhandenen, also der gesamten ›inneren‹ und ›äußeren Natur‹ der Menschen. Damit verwechselt Reimarus allerdings – schlagwortartig formuliert – ›Wissen‹ und ›Technik‹. Oder mit Kant gesprochen: Reimarus verkennt, dass Zweckbegriffe in puncto Naturerkenntnis bestenfalls von regulativem Gebrauch sein dürfen. Um die beiden genannten Ziele zu erreichen, sind die folgenden Überlegungen in drei Schritte gegliedert: Zuerst wird Reimarus’ Religionsbegriff skizziert, indem

|| 5 Vgl. bereits den »Vorbericht« zu Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Hamburg 31766, bes. S. IX–XI (dort ohne Paginierung). 6 Ebd., S. XI (dort ohne Paginierung). 7 Ebd., S. 739. 8 Vgl. die Überschrift zur zehnten »Abhandlung« der Vornehmsten Wahrheiten.

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einerseits auf das Verhältnis von natürlicher und geoffenbarter Religion eingegangen, andererseits auf einige Eigenarten der Darstellung der natürlichen Religion in den Vornehmsten Wahrheiten hingewiesen wird (1). Darauf werden Reimarus’ Bestimmungen des Nutzens der Religion systematisch vorgestellt, wobei vor allem der abschließende Teil der Vornehmsten Wahrheiten als Textgrundlage dienen wird (2). Schließlich werden im letzten Schritt einige Probleme von Reimarus’ teleologischer Qualifikation der gesamten Natur, besonders in Hinsicht auf ihre Unzeitgemäßheit und ihre Originalität angezeigt, um seine Überlegungen zum Nutzen der Religion angemessen würdigen zu können (3).

1 Religion Dass Reimarus vor allem durch seine scharfe und zugleich detaillierte Kritik an der christlichen Offenbarungsreligion, die er mit seiner Apologie vorgelegt hat, aus der Geschichte der deutschen Aufklärungsphilosophie hervorsticht, ist hinlänglich bekannt.9 Sie muss im Folgenden nicht eigens thematisiert werden, da sie allein die heilige Schrift als Offenbarungsurkunde des Christentums betrifft. Zudem ist es für das Erreichen der oben genannten Ziele völlig hinreichend, einige Passagen aus dem »Vorbericht« der Vornehmsten Wahrheiten heranzuziehen, um Reimarus’ Bestimmung des Verhältnisses von natürlicher und geoffenbarter Religion nachzu-

|| 9 Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt a. M. 1972. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1996, S. 490 bezeichnet die Apologie sogar als das »Hauptwerk[] der deutschen Aufklärung«. Vgl. für einen ersten Überblick über Entstehung, historische Hintergründe und Inhalt der Apologie z. B. Winfried Schröder: Hermann Samuel Reimarus. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. Bd. 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Schweiz, Nord- und Osteuropa. Hg. von Helmut Holzhey und Vilem Mudroch. Basel 2014, S. 310–318, bes. S. 314f. und S. 317f. sowie die ausführliche Studie von Peter Stemmer: Weissagung und Kritik. Eine Studie zur Hermeneutik bei Hermann Samuel Reimarus. Göttingen 1983. Vgl. zu Reimarus’ Hermeutik auch den Beitrag von Holger Glinka und zu deren ›zerstörerischer‹ Absicht den Beitrag von Wilhelm Schmidt-Biggemann im vorliegenden Band. – Dass Reimarus trotz aller Bibel- und Christentumkritik sicher nicht als ›Atheist‹ bezeichnet werden kann, beweisen die Vornehmsten Wahrheiten von der ersten bis zur letzten Seite. Insofern kann er auch nicht als Vertreter der ›Radikalaufklärung‹ gelten. Vgl. entsprechend Jonathan I. Israel: Radikalaufklärung. Entstehung und Bedeutung einer fundamentalen Idee. In: Radikalaufklärung. Hg. von Jonathan I. Israel und Martin Mulsow. Berlin 2014, S. 234–275, hier S. 271f.; vgl. hierzu auch den »Appendix« von Gideon Stiening zu seinem Beitrag im vorliegenden Band.

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zeichnen sowie eine Vorstellung davon zu gewinnen, welches Motiv seiner Darstellung der natürlichen Religion zugrunde liegt und wie diese aufgebaut ist.10 Bereits im dritten Absatz des »Vorberichts« benennt Reimarus deutlich und ganz in Übereinstimmung mit dem zeitgenössischen Sprachgebrauch dasjenige, was unter der Wendung ›natürliche Religion‹ zu verstehen sei – nämlich die vernünftige Erkenntnis der »Wahrheiten […] von Gottes Daseyn, Eigenschaften, Schöpfung, Vorhersehung, Absicht und Gesetze, von der Seele geistigem Wesen, Natur und Unsterblichkeit usw.«11 Die natürliche Religion ist damit das sola ratione begründete Wissen um Existenz, Eigenschaften und Wirken Gottes sowie um Existenz, Eigenschaften und Fortdauern der menschlichen Seele. Dieses Wissen steht Reimarus zufolge wiederum in einem bestimmten Verhältnis zu solchen Überzeugungen, die zwar ebenfalls ›Gott‹ und ›Unsterblichkeit‹ zum Inhalt haben, aber nicht (allein) aus vernünftiger Einsicht – oder wie Reimarus sagt: aus ›gesunder Vernunft‹12 ‒ resultieren. Denn die natürliche Religion umfasse die »Grundwahrheiten aller Religion«.13 Sie darf somit als ein Kriterium verstanden werden, mittels dessen geprüft werden kann, welche Überzeugungen überhaupt und vernünftigerweise als ›religiöse‹ gelten können. Vor allem aber liege die natürliche Religion auch dem Christentum zugrunde. Reimarus schreibt in dem bereits zitierten dritten Absatz: Das Christenthum setzet die Wahrheiten der natürlichen Religion […] nicht allein voraus, sondern es leget dieselben auch zum Grunde, und flicht sie mit in das Lehrgebäude seiner Geheimnisse ein. Was wäre also an sich menschlicher, was wäre dem Christenthume selbst vortheilhafter, als dass alle Menschen zuvörderst die edle Gabe der gesunden Vernunft auch zum Erkenntnisse ihres Schöpfers anwendeten; und diese Einsicht, so weit sie reichet, mit den Glaubenslehren verknüpften?14

Das Christentum gilt demnach immerhin insofern als eine Religion, als es Sätze der natürlichen Religion enthält – wenn vielleicht auch in etwas umständlicher Form. Erscheint es an dieser Stelle allerdings noch so, als gebe die natürliche Religion lediglich ein vorteilhaftes Mittel für die Überzeugungskraft des Christentums ab, kippt diese Verhältnisbestimmung bereits mit dem nächsten und dann auch den folgenden Sätzen in eine ganz andere Richtung. Denn Reimarus schreibt weiter:

|| 10 Vgl. zu Reimarus’ Bestimmungen des Religionsbegriffs im »Vorbericht« zur Apologie, die zwar ausführlicher, aber nicht bestimmter sind, bes. Ernst Feil: Religio. Bd. 4: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 501f. 11 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 5), S. IIf. (dort ohne Paginierung). 12 Vgl. zur Wendung gesunde Vernunft ausführlich den Beitrag von Sebastian Abel im vorliegenden Band. 13 Ebd., S. II (dort ohne Paginierung, Hervorhebung S.K.). 14 Ebd., S. III (dort ohne Paginierung).

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Denn wie kann einer mit Grunde glauben, daß die Offenbarung von Gott komme, wenn er nicht vorher überführt ist, daß ein Gott sey? Wie kann er ihn lieben, ehren, und seinen Gebothen willig gehorchen, wenn er seine Vollkommenheiten, Vorsehung und Absichten nicht erkennet? Wie kann er eine Seligkeit gewärtigen, und eine Belohnung erhoffen, wenn er sich hat überreden lassen, daß er keine Seele habe […]?15

Mit diesen Sätzen wird die natürliche Religion nicht mehr nur als ein mehr oder weniger vorteilhaftes Mittel, sondern als eine notwendige Bedingung für die Überzeugungskraft des Christentums als Religion erklärt.16 Denn Menschen können zu beliebigen Sachverhalten Stellung beziehen, sie bezweifeln, bejahen oder verneinen. Und es wird ihnen als vernünftigen Wesen leichter fallen, sie zu bejahen, und schwerer, sie zu bezweifeln oder gar zu verneinen, wenn sie als vernünftige eingesehen werden. Daher erteilt Reimarus dann auch im nächsten Satz dem Fideismus eine klare Absage: Wenn wir nun das, was wir zuvor wissen können und sollen, in einen bloßen Glauben verwandeln, und der Glaube sich doch auf das Wissen bezieht und stützet: so kann, bey dem Mangel einer Vormauer und Grundlage des Glaubens, durch einen geringen Stoß, der Glaube und das Christhentum selbst, ja alle Religion, leicht wankend gemachet werden und hinfallen.17

Demnach sind ›Religionen‹, die sich nicht allein auf vernünftige Überlegungen stützen, nicht nur deswegen auf die natürliche Religion angewiesen, um sich selbst als Religion zu qualifizieren, sondern auch – und vor allem –, um von der Wahrheit ihres behaupteten Wissens überzeugen zu können. Die natürliche Religion stellt sich somit als ein unverzichtbares Mittel für alle anderen Religionen dar – wenn sie denn rational überzeugen wollen. Dass sie und besonders natürlich das Christentum rational überzeugen können sollten, macht Reimarus dann in den folgenden Absätzen seines »Vorberichts« mit Verweis auf akute Gefahren deutlich. Denn vor allem unter den »Vornehmen«, also den mehr oder weniger gebildeten Eliten im Europa des 18. Jahrhunderts, sei der Zweifel an religiösen Dingen weit verbreitet: sei es aufgrund unangemessener Erziehung oder freigeistiger Lektüre, sei es aufgrund eines falschen Religionsverständnisses oder eines verkehrten Gottesbegriffs.18 Abhilfe schaffen, mithin den Zweifelnden einen festen Halt geben, könne allerdings die Erkenntnis der ›Wahrheiten‹ der natürlichen Religion. Deren Darstellung dürfe und müsse sich dann auch allein an die ›gesunde Vernunft‹ halten, mithin weder »Beweise aus der Schrift« noch »metaphysische Demonstrationen aus der

|| 15 Ebd. 16 Feil: Religio (s. Anm. 10), S. 500 sieht darin das primäre Interesse, das Reimarus mit den Vornehmsten Wahrheiten verfolgt. 17 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 5), S. IIIf. (dort ohne Paginierung). 18 Vgl. ebd., S. IV–VI (dort ohne Paginierung).

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höheren Weltweisheit« strapazieren.19 Dass Verweise auf Offenbarungstexte unangemessen sind, ist klar. Dass die Beweise der Rationaltheologie wenig hilfreich sind, begründet Reimarus damit, dass sie »zu trocken, zu weitläufig, zu gekünstelt, zu unbegreiflich«20 seien. Zudem müssten Wahrheiten, die für alle Menschen von erheblicher Relevanz sind, eo ipso einfach ›fasslich‹, d. h. aus »gemeinen Erfahrungen und bekannten Grundsätzen« oder »durch ein Paar leichte Schlüsse« erkennbar sein.21 Und genaue eine solche, einfach fassliche Darstellung der natürlichen Religion »als Vormauer und Grundlage des Glaubens«22 sollen Reimarus zufolge die Vornehmsten Wahrheiten bieten. Vergleicht man Reimarus’ Darstellung der natürlichen Religion in den Vornehmsten Wahrheiten mit anderen zeitgenössischen, für die schulische und universitäre Lehre und Forschung einschlägigen Darstellungen der natürlichen Theologie, dann muss vor allem ihr ungewöhnlicher Aufbau und Stil bemerkt werden. Gegliedert ist sie in zehn »Abhandlungen«: Die ersten beiden thematisieren den ›Ursprung der Menschen und Tiere‹ (also von Lebewesen), die dritte thematisiert die ›körperliche Welt‹ (also die unbelebte Natur), erst die vierte thematisiert ausführlich Existenz und Eigenschaften ›Gottes‹ sowie dessen ›Absichten‹, wobei die fünfte bis siebente dann die ›Absichten Gottes‹ mit Blick auf die Tiere und Menschen erläutern, die achte und neunte thematisieren die ›göttliche Vorsehung‹ und die zehnte handelt schließlich von der ›Unsterblichkeit der Seele‹ und den ›Vorteilen der Religion‹. Der in der Schulphilosophie gebräuchliche Aufbau, der zumeist nach dem Schema: Existenz Gottes, Eigenschaften Gottes, Vorsehung Gottes mit davor bzw. danach gestellten Erläuterungen zum Religionsbegriff, zur Offenbarung etc. gegliedert ist, wird hier zwar implizit eingehalten, aber dadurch gelockert (und vor allem gedehnt), dass die einzelnen rationaltheologischen Themen in einen naturphilosophischen Kontext gestellt und anhand natürlicher Phänomene illustriert werden. Stilistisch legt Reimarus in allen »Abhandlungen« großen Wert auf Verständlichkeit: Er vermeidet eine strenge Terminologie, benutzt im zeitgenössischen Gelehrtendiskurs gängige Wörter und Wendungen, legt leicht überschaubare Schlüsse vor und nimmt durchgehend Bezug auf bekannte philosophische Theorien. Dieser popularphilosophische Stil lässt sich gut anhand des ersten Paragrafen der »ersten Abhandlung« illustrieren, der auch inhaltlich für das Folgende von einiger Relevanz ist. Denn dort gibt Reimarus eine Präzisierung des Begriffs ›natürliche Religion‹. Gleich der erste Satz lautet: || 19 Vgl. ebd., S. VIII (dort ohne Paginierung). 20 Ebd. – Reimarus ziert sich an dieser Stelle nur wenig, auch auszusprechen, dass er die zeitgenössische Rationaltheologie für einen Teil des Übels hält, indem er schreibt: »Ich will nicht sagen, daß einige solcher Demonstrationen den Grüblern Blöße geben, daß sie dadurch nur desto eher Zweifler werden, und sich in das dünne Gewebe ihrer Gedanken noch mehr verwickeln« (ebd.). 21 Ebd., S. IX (dort ohne Paginierung). 22 Ebd., S. IV (dort ohne Paginierung).

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Wer ein lebendiges Erkenntniß von Gott hat, dem eignet man billig eine Religion zu: und soferne dieses Erkenntniß durch die natürliche Kraft der Vernunft zu erhalten ist, nennet man es eine natürliche Religion.23

Die bereits gegebene Bestimmung, dass die natürliche Religion ein spezifisches, sola ratione begründetes Wissen ist, wird hier in zwei Punkten präzisiert. Erstens ist die natürliche Religion ein »lebendiges Erkenntniß von Gott«, d. h. sie ist ein Wissen, das unmittelbare Auswirkungen auf das wissende Subjekt hat, nämlich: »eine vergnügende Einsicht in den Zusammenhang der Dinge, einen willigen Trieb zur Tugend und Pflicht, und eine ungestöhrte Zufriedenheit des Gemüths«.24 Und zweitens wird dieses Wissen »durch die natürliche Kraft der Vernunft« erworben, womit nicht nur Verweise auf irgendeine übernatürliche Offenbarung, sondern auch solche auf umständliche und nur von Wenigen nachzuvollziehende Begriffe und Schlüsse abgelehnt werden. Neben dieser Präzisierung führt Reimarus dort zudem diejenige Position an, gegen die in allen »Abhandlungen« argumentiert wird und die auch mit Blick auf die Frage nach dem Nutzen der (natürlichen) Religion den Gegenpart zu Reimarus’ Position abgibt: den Atheismus. Ihn zeichnet er dabei nicht bloß durch die Leugnung der Existenz Gottes, sondern vor allem als Materialismus aus. Denn dessen »Hauptsatz« sei: »[D]ie körperliche Welt und deren Natur sey das erste, selbständige, nothwendige, Wesen, und ausser derselben sey weiter nichts«.25 Dass sich aus diesem »Hauptsatz« einige unschöne, unangenehme und sogar gefährliche Konsequenzen ergeben, ist grosso modo Reimarus’ Argumentationsstrategie in den Vornehmsten Wahrheiten. Darauf wird gleich zurückzukommen sein. Festzuhalten ist zuvor, dass Reimarus es mit keiner Silbe erwägt, dass die Disjunktion ›natürliche Religion‹ / ›Materialismus‹ keine vollständige sein muss. Vielmehr impliziert ihm zufolge die Leugnung der Existenz eines »erste[n], selbständige[n], nothwendige[n] und ewige[n] Wesen[s], welches die Welt, nebst allem, was darinn ist, durch seine Weisheit, Güte und Macht geschaffen hat, und beständig erhält und regieret«,26 einen starken metaphysischen Materialismus. Und dass dieser in jeder Hinsicht unzweckmäßig für die menschlichen Belange ist, versucht Reimarus mit den Vornehmsten Wahrheiten zu zeigen.

|| 23 Ebd., S. 1. 24 Ebd., S. 2. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 1.

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2 Nutzen Wirft man einen Blick in die zehnte »Abhandlung«, die mit »Von der Seelen Unsterblichkeit, und den Vortheilen der Religion« überschrieben ist,27 dann fällt schnell auf, dass die beiden, von Reimarus im ersten Paragrafen der ersten »Abhandlung« genannten Punkte – also sowohl die unmittelbare, positive Auswirkung natürlich-religiöser Überzeugungen auf Erkenntnisvermögen, Sittlichkeit und Gemütslage des gläubigen Subjekts als auch die Unzweckmäßigkeit des Atheismus – auch hier Ausgangspunkt und Argumentation bestimmen. Das Problem der ›Unsterblichkeit der Seele‹, dem dort die ersten zehn Paragrafen gewidmet sind, hier einmal beiseite gestellt, expliziert Reimarus in diesem Teil die ›Vorteile‹ der Religion mittels einer Gegenüberstellung eines ›Atheisten‹ und eines natürlich-religiös Gläubigen. Da die Vorstellung des ›Atheisten‹ zuerst erfolgt und in ihr auch die verschiedenen Zwecke bereits genannt werden, für deren Verwirklichung die Religion ein geeignetes, der Unglaube aber ein ungeeignetes Mittel sei, kann mit ihr begonnen werden, bevor die jeweiligen Nutzenangaben einzeln vorgestellt werden.

2.1 Atheismus Die Figur des ›Atheisten‹ wird in der zehnten »Abhandlung« in § 11 im Kontext der Frage nach dem Zusammenhang von Tugend und Religion eingeführt. Da der Mensch im diesseitigen Leben keine vollkommene Tugend erlangen könne, der ›Atheist‹ aber ein jenseitiges Leben leugnet, verfüge dieser Reimarus zufolge nur über einen mangelhaften Tugendbegriff: [E]ine Tugend ohne Religion (wo sie anders alsdenn noch den Namen der Tugend verdienet,) ist gewiß von der niedrigsten Art, und nichts, als eine feinere Eigenliebe, die ihre Lust an gewissen natürlichen, zuweilen auch nur jedes Einbildung und Eigensinn gemäßen Handlungen findet.28

Damit ist der erste Zweck, zu dessen Realisierung die (natürliche) Religion das geeignete Mittel abgeben soll, angesprochen: die Tugend resp. Sittlichkeit. Mit Verweis auf die Leugnung eines jenseitigen Lebens verdeutlicht Reimarus im Anschluss auch den zweiten Zweck, den allein die Religion, niemals aber der Atheismus erreichen könne. In § 12 heißt es direkt zu Beginn: Wenn ein Atheist auch keinen andern Irrthum hegte, als daß er sich alle Hoffnung eines ferneren Lebens abschneidet, so wäre der allein genug, ihn schon in diesem Leben misvergnügt und

|| 27 Ebd., S. 691. 28 Ebd., S. 722.

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unglücklich zu machen. Er kann sich, nach seiner Natur, das bevorstehende Ende nicht aus dem Sinne schlagen, und die täglichen Sterbefälle anderer Menschen, selbst seiner Gesellen, erinnern ihn fleißig daran. Die eingepflanzte Liebe zum Leben machet ihm also den Tod zum schrecklichsten Bilde, das ihn allenthalben begleitet, und alle seine gegenwärtige Lust stöhret.29

Wortreich schildet Reimarus auf den folgenden Seiten, woran es dem ›Atheisten‹ durchgehend mangeln wird: Gemütsruhe resp. Zufriedenheit. Der Grund für die Unsittlichkeit und die Unzufriedenheit des ›Atheisten‹ steht für Reimarus dabei längst fest: Wie er in § 13 hervorhebt, sei es der Grundsatz des Atheisten, dass »die liebe Natur sein Abgott« sei,30 der jene nachteiligen Gemütslagen bewirke. Der ›Atheist‹ kennt also nichts anderes und meint von nichts anderem zu wissen als Materie, also eine ausgedehnte und bewegliche Substanz, deren Veränderungen ausschließlich kausal determiniert sind.31 Mit dieser Bestimmung des Gegenstands der Erkenntnis liege der ›Atheist‹ jedoch völlig daneben. Das zeige sich besonders an dessen Verlegenheit, die Naturphänomene ohne Rekurs auf teleologische Erklärungen hinreichend verstehen zu wollen: Er betrachtet die Werke der Natur, nach ihrer Einrichtung, Ordnung, Kraft, Wirkung und Uebereinstimmung, nicht ohne Vergnügen und Bewunderung: dennoch soll das, was seinen Verstand so ergötzet, und wornach er seinen Verstand bildet, ohne allen Verstand und Einsicht gemacht seyn. […] Was denket er denn doch: woher kömmt diesen solche Weisheit? soll auch Kunst, und deren Anwendung zum Nutzen, nicht mehr aus Verstand und Absicht fliessen?32

Reimarus hält demnach die dem Atheismus zugeschriebene bloß mechanistische Erklärung von Naturphänomenen für genau so unplausibel wie eine nicht-teleologische Erklärung von absichtlichem Handeln der Menschen und dessen Produkten. Sie kann mithin nicht als eine Form hinreichender Naturerkenntnis gelten. Damit sind dann auch alle drei Zwecke benannt, für die der Atheismus Reimarus zufolge kein angemessenes Mittel abgibt. Es sind genau die drei, die bereits im ersten Paragrafen der ersten »Abhandlung« als die ›unmittelbaren Auswirkungen der Religion‹ auf das gläubige Subjekt ausgemacht wurden: erstens ›Einsicht in den Zusammenhang der Dinge‹, zweitens ›Tugend und Pflicht‹ und drittens ›Zufriedenheit des Gemüts‹.33 Und durchaus geschickt in der Darstellung führt Reimarus in den folgenden Paragrafen den ›Atheisten‹ unter Rückgriff auf diese Zwecke regelrecht vor, indem er ihm zuerst Erkenntnis- und Schaffensmangel, dann chronische Unzufriedenheit und daraufhin Bosheit, mithin völlige Asozialität be-

|| 29 Ebd., S. 723f. 30 Ebd., S. 727. 31 Vgl. ebd., §§ 3f. der dritten »Abhandlung«. 32 Ebd., S. 728f. 33 Vgl. nochmals ebd., S. 2.

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scheinigt.34 Mit einem Verweis auf La Mettries ›Eingeständnis‹ der Traurigkeit angesichts des Gedankens an den eigenen Tod beendet Reimarus schließlich seine Zurückweisung des Atheismus, womit er nichts Geringeres zeigen zu können meint als die faktische Unmöglichkeit einer ernsthaften atheistischen Haltung. Wenn es noch nicht einmal der größte aller ›Atheisten‹ geschafft hat, wer dann?35 Die darauffolgenden §§ 19–25, die zugleich die letzten der zehnten »Abhandlung« und damit der gesamten Schrift sind, stellen dann die ›Vorteile‹ der Religion ausdrücklich und ohne weiteren Umweg über Verweise auf den Atheismus heraus. Dabei verwendet Reimarus zwar nicht die dreifache Zweckangabe als Gliederungsprinzip, sondern die Unterscheidung zwischen einzelnem Menschen und einer Gemeinschaft von Menschen.36 Allerdings machen ›Erkenntnis‹, ›Sittlichkeit‹ und ›Zufriedenheit‹ auch dort diejenigen Themen aus, mit Blick auf die die ›Vorteile‹ der Religion angepriesen werden. Die folgende Übersicht über Reimarus’ Überlegungen zum Nutzen der Religion wird sich daher auch an der bisher erarbeiteten, dreifachen Zweckangabe orientieren.

2.2 Religion und Erkenntnis Dass die Überzeugung, die gesamte Natur sei die absichtliche Schöpfung einer weisen, gütigen und gerechten Ursache, für die methodisch gewonnene Erkenntnis und ihre Darstellung, kurz: für die Wissenschaften, von einiger Relevanz sein dürfte, ist offenkundig. Reimarus sieht in wenigstens drei Punkten in der natürlichen Religion einen besonderen Nutzen für die wissenschaftliche Erkenntnis: (a) Natur als System. Besonders mit Blick auf das Problem eines mutmaßlichen systematischen Zusammenhangs der die Natur bestimmenden Gesetzmäßigkeiten ist Reimarus zufolge die teleologische Überzeugung von der Natur als Schöpfung überaus fruchtbar. So schreibt er etwa in § 22 der zehnten »Abhandlung«:

|| 34 Vgl. ebd., §§ 14–17 der zehnten »Abhandlung«. 35 Vgl. ebd., § 18 der zehnten »Abhandlung«, zu La Mettries ›Eingeständnis‹ S. 743, wo Reimarus einen Passus aus § 8 des Anhangs von La Mettries Traité de l’Âme zitiert (»J’avouë moi même que toute ma Philosophie ne m’empêche pas de regarder la mort comme la plus triste nécessité de la nature, dont je voudrois pour jamais perdre l’affligeante idée. [...] [J]e cesse d’être en quelque forte, toutes les fois que je pense que je ne serai plus.« Julien Offray de La Mettrie: Abrégé des Systèmes pour faciliter l’Intelligence du Traité de l’Âme. In: ders.: Œuvres Philosophiques. Berlin 1764, Bd. 1, S. 199–256, hier S. 242f.). Dass dieser Passus weniger ein Eingeständnis als eine (ironische) Stilfigur sein könnte, erwägt Reimarus offenkundig nicht. 36 Die ersten beiden Paragrafen (vgl. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten [s. Anm. 5], §§ 19f.) thematisieren die Vorteile der Religion für ein Gelingen menschlicher Vergemeinschaftung, die fünf folgenden (ebd., §§ 21–25) die Vorteile mit Blick auf den einzelnen Menschen, allgemein (ebd., §§ 21 und 25), hinsichtlich seines Verstands (ebd., § 21) und hinsichtlich seines Willens (ebd., §§ 22f.).

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Wenn nun unser Verstand von Natur bemühet ist, den Grund, die Ursache und den Zusammenhang der Dinge klar und deutlich einzusehen, und der Betrachtung solcher Gegenstände hauptsächlich mit Lust nachhängt, welche am lehrreichsten, am wichtigsten, am schönsten sind: so thut die Religion allein unserer Natur in diesem Bemühen Genüge, weil sie uns die Vollkommenheit der Dinge in ihrem rechten Zusammenhange zeiget.37

Demnach erlaubt es die Religion, die ›Dinge‹ resp. ihre Erkenntnis in einem umfassenden ›Zusammenhang‹ zu betrachten. Reimarus behauptet damit weder, dass jede Erkenntnis einzelner Naturgesetzmäßigkeiten eines Rekurses auf die Annahme einer wohlgeordneten Schöpfung bedürfe, noch, dass aus dieser Annahme besondere Naturgesetze ableitbar seien. Allerdings liefere sie für die Erkenntnis des systematischen ›Zusammenhangs‹ der verschiedenen Naturphänomene – des Leblosen, des Lebendigen und der Seelenkräfte – den entscheidenden Ausgangspunkt, indem sie die Formulierung von ›Grundsätzen‹ einer systematisch verfahrenden Naturforschung erlaube.38 Erst die natürliche Religion verschaffe damit einen Standpunkt für die Naturforschung, von dem aus verschiedene Einzelerkenntnisse bzw. regionale Theorien aufeinander bezogen und damit zu einem Ganzen zusammengefügt werden könnten. (b) Lebendige Natur. Ein weiterer Nutzen, den Reimarus zwar nicht ausführlicher in der zehnten »Abhandlung«,39 aber wiederholt in den vorherigen »Abhandlungen« erwähnt, betrifft das Paradestück, das Teleologen – von Leibniz bis Kant – gegen den Materialismus und dessen mechanistisches Erklärungsmodell ins Feld führen: die Erklärung des Ursprungs und der Funktionsweise von Lebewesen. Ganz ähnlich wie noch Kant40 strapaziert Reimarus bereits in der zweiten »Abhandlung« das Argument, dass sich die augenscheinliche Zweckmäßigkeit von tierischen (und pflanzlichen) Körpern nicht mittels Verweisen auf bloß physische Kräfte erklären lasse.41 Vielmehr liege ihnen (bzw. der ihnen jeweils zuzuordnenden Art) ein ›Urbild‹ zugrunde, das ihre Zeugung, Gestalt und Selbsterhaltung bestimme. Dass sich solche ›Urbilder‹ mittels einer Analogie mit dem technischen Handeln der Menschen gut erklären lassen, liegt auf der Hand. Dass dafür wiederum ein noch we-

|| 37 Ebd., S. 754. 38 Vgl. bes. auch ebd., §§ 18f. der vierten und § 1 der fünften »Abhandlung«. 39 Vgl. aber auch die gedrängte Zusammenfassung der ›Vorteile‹ der Religion mit Blick auf Naturerkenntnis, die Reimarus mit dem letzten Absatz von § 21 der zehnten »Abhandlung« gibt (ebd., S. 751). 40 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: AA V, S. 165–485, hier S. 369ff. (§§ 64–66). Siehe weiterführend zu Kants Konzeption von Organismen als Naturzwecken auch Stefan Klingner: Zum Problem der objektiven Realität von Kants Naturzweckbegriff. In: Das Leben der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Kants und zu ihrem Umfeld. Festschrift für Bernd Dörflinger. Hg. von Dieter Hüning, Stefan Klingner und Carsten Olk. Berlin, Boston 2013, S. 238–262. 41 Vgl. etwa Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 5), § 3 der zweiten »Abhandlung«, z. B. S. 88f. Vgl. auch ebd., § 9 der dritten »Abhandlung« oder § 1 der fünften »Abhandlung«.

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sentlich geschickterer Urheber als der Mensch vorauszusetzen ist, ebenfalls. Und Reimarus weiß auch eine nicht unwesentliche Zahl von zeitgenössischen Naturforschern in diesem Punkt auf seiner Seite. Entsprechend ausführlich und detailliert setzt er sich in den Vornehmsten Wahrheiten mit verschiedenen Theorien über die Eigenart organischer Materie auseinander.42 (c) Trieb zur Erkenntnis. Schließlich gebe die natürliche Religion auch Auskunft bezüglich der Frage, warum Menschen sich immer wieder mit weitläufigen Erklärungen von Naturphänomenen abmühen. Denn zur ›Natur des Menschen‹ gehören Reimarus zufolge neben verschiedenen ›Leibeskräften‹ auch verschiedene ›Seelenkräfte‹, von denen ›Vernunft, Freiheit und Perfektibilität‹ die den Menschen gegenüber den Tieren auszeichnenden sind.43 Und gemäß dem klassischen teleologischen Lehrspruch »Die Natur giebt nichts umsonst«44 stellt sich die Frage, warum er mit solchen ›Kräften‹ ausgestattet sei. Reimarus’ Antwort ist einfach: Da die Menschen sowohl hinsichtlich ihrer natürlichen Möglichkeiten zur Befriedigung sinnlicher Begierden als auch hinsichtlich ihrer sinnlichen Ansprüche sowie hinsichtlich ihrer Sorge um Zukünftiges gegenüber den Tieren im Nachteil sind,45 werden sie »zum Gebrauche ihrer Vernunft genöthiget«.46 Kurzum, sie sind derart ausgestattet, dass sie nicht nur über ein Erkenntnisvermögen verfügen, sondern es auch benutzen müssen, um sowohl ihren elementaren als auch ihren sublimeren Bedürfnissen nachzukommen. Damit erklärt die natürliche Religion nicht nur das Erkenntnisstreben der Menschen (und dessen Ursprung), sondern sie verleiht deren Erkenntnisbemühungen auch eine gewisse Bedeutsamkeit.

2.3 Religion und Sittlichkeit Dass die Überzeugung, es existiere eine weise, gütige und gerechte Weltursache, einen erheblichen instrumentellen Wert für die menschliche Praxis habe, ist wohl ein besonders gängiger Topos in der Aufklärungsphilosophie. Reimarus sieht hier sowohl mit Blick auf das Zusammenleben der Menschen als auch mit Blick auf das gute Leben des einzelnen Menschen einen besonderen Nutzen der natürlichen Religion: (a) Gesellschaft. Mit Blick auf das Zusammenleben von Menschen macht Reimarus in § 19 der zehnten »Abhandlung« zuerst geltend, dass Religion bereits für die Familie von entscheidender Bedeutung sei. Denn erst die Religiosität der Eltern

|| 42 Vgl. bes. ebd., §§ 2–5 der zweiten »Abhandlung«. Vgl. auch Reimarus’ Überlegungen zu den ›Trieben‹ der Tiere ebd., §§ 4ff. der fünften »Abhandlung«. 43 Vgl. ebd., S. 516. 44 Ebd., S. 511. 45 Vgl. ebd., §§ 9–11 der siebenten »Abhandlung«. 46 Ebd., S. 543f.

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sichere deren Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Kindern, so dass diese nicht bloß als Belastung, sondern sogar als Bereicherung eingeschätzt werden könnten.47 Vor allem gebe die Religion das »Naturgesetz und die Pflichten der Geselligkeit«,48 deren Gültigkeit allein natürlich-religiöse Subjekte bereitwillig einsehen und anerkennen würden. Entsprechend seien einsichtige ›Regenten‹ angehalten, »eine wahre Religion mehr und mehr in den Gemüthern ihrer Unterthanen fruchtbar«49 werden zu lassen. (b) Tugend. Mit Blick auf den einzelnen Menschen wird Reimarus nicht müde zu betonen, dass es erst die natürliche Religion sei, die ihm ein »Urbild aller Vollkommenheit«50 gebe. Dieses gewähre nicht bloß eine abstrakte Erkenntnis in den ›Zusammenhang der Dinge‹, sondern auch eine Beurteilung der eigenen Stellung innerhalb dieses ›Zusammenhangs‹, also der ›Absicht‹ des Schöpfers mit seinem Geschöpf. Und diese Einsicht in die eigene Stellung in der Schöpfung stellt für Reimarus zugleich das Motiv für tugendhaftes, also gottgefälliges Wollen und Handeln dar. So schreibt er etwa in § 23 der zehnten »Abhandlung«: Wenn wir aber die Absicht der göttlichen Schöpfung besonders auf uns ziehen, daß er uns zur Glückseligkeit, und zwar zu einer solchen bestimmt habe, die von der jetzigen kurzen und gemischten zu einer reineren, höheren und ins Unendliche wachsenden steigen soll: so kann ja wohl nichts unserm Wünschen und Verlangen, in allem seinem Umfange, völliger Genüge thun, nichts uns stärker bewegen, in die göttliche Absicht und Ordnung zu treten, und alle unsere Neigungen nach diesem großen Zwecke zu richten. Wir sehen und empfinden an uns selbst, daß der weiseste und gütigste Schöpfer diese Absicht in unserer Natur ausgedruckt habe; so, daß wir uns selbst zuwider und gehässig seyn müßten, wenn wir von solcher Absicht und Vorschrift abwichen.51

Entsprechend könne diese motivierende Einsicht dem einzelnen Menschen auch erst die nötige Kraft geben, seine Begierden auf ein naturgemäßes Maß zu disziplinieren52 und sich ganz seiner ›Natur‹ und ihrer Bestimmung zu überlassen,53 mithin ein tugendhafter Mensch zu werden.

|| 47 Vgl. ebd., S. 744f. 48 Ebd., S. 746. 49 Ebd., S. 749. 50 Vgl. bereits die (oben schon zitierte) Erwähnung im »Vorbericht« (ebd., S. XI, dort ohne Paginierung). In der zehnten »Abhandlung« führt Reimarus das etwa in § 22 an (ebd., S. 753). 51 Ebd., S. 756f. 52 Vgl. ebd., S. 755. 53 Vgl. ebd., S. 757f.

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2.4 Religion und Zufriedenheit Nach den bisher angeführten ›Vorteilen‹ der Religion ist es nicht mehr überraschend, dass Reimarus schließlich auch noch einen besonderen Nutzen der Religion für die Gemütslage der Menschen in Anschlag bringt. Der Gedanke, dass sich ein vernünftiger religiöser Glaube durchweg positiv auf das Wohlbefinden des gläubigen Subjekts auswirkt und der etwa auch in der Aufklärungstheologie54 weit verbreitet war, scheint ihm sogar besonders wichtig zu sein. Ihm allein sind die letzten beiden Paragrafen der Vornehmsten Wahrheiten gewidmet, in denen Reimarus in einer weitläufigen Zusammenfassung der existenziell-psychologischen Bedeutung seiner Überlegungen nachdrücklich auf die Kultivierung des sinnlichen Vergnügens und der Gemütsruhe durch die Religion hinweist. Demnach verbiete die Religion nicht den Genuss sinnlicher Befriedigung und ästhetischen Erlebens, sondern schreibe ihnen lediglich die angemessene Dosis vor und steigere damit ihre Qualität.55 Vor allem aber führe die bereits mit Blick auf die Tugend angesprochene, durch die natürliche Religion bewirkte Einsicht in die eigene Stellung in der Schöpfung zu ›Beruhigung‹ und ›Zufriedenheit‹ der Seele,56 was sich in einer besonderen Gemütslage ausdrücke, die Reimarus mit Blick auf den einzelnen Menschen folgendermaßen beschreibt: Was auch ein Mensch, nach seinen Umständen in der Welt, für Geschäffte, Amt und Pflichten hat, die wird er, vermöge der Religion, getrost und freudig verrichten, weil er versichert ist, daß dieses sein Beruf und Stand sey, welchen ihm sein Schöpfer angewiesen; und weil er von seinem Gewissen das gute Zeugniß hat, daß er das Seinige nach Vermögen aufrichtig thue.57

Kurzum: Die natürliche Religion stellt Reimarus zufolge auch das Mittel der Wahl dar, sich mit seiner Lage abzufinden und das Beste daraus zu machen. Mit der vorangegangenen Übersicht über Reimarus’ explizite Bestimmungen des Nutzens der Religion darf das erste der beiden eingangs ins Auge gefassten Ziele als erreicht gelten. Reimarus nennt nicht nur einen oder eine Handvoll Nutzen der Religion, sondern Religion ist ihm in jeder Hinsicht nützlich – für die Erkenntnis, für das Zusammenleben der Menschen sowie für das konkrete Subjekt. Damit zieht er alle wesentlichen Themenfelder, auf denen in der Aufklärungsphilosophie der

|| 54 Vgl. z. B. Spalding: Betrachungen über die Bestimmung (s. Anm. 3), bes. S. 15 und S. 19, oder auch Johann August Nösselt: Vertheidigung der Wahrheit und Göttlichkeit der christlichen Religion. Halle 31769, §§ 213–231, bes. S. 221f. Vgl. mit besonderem Blick auf die Relevanz der Unsterblichkeitsidee für diesen Zusammenhang Malte van Spankeren: Der Unsterblichkeitsdiskurs der Neologie als Instrument theologischer Modernisierung (1748–1766). In: Aufklärung 29 (2018), S. 309–322. 55 Vgl. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 5), S. 759f. Vgl. dazu auch ebd., §§ 13f. der siebenten »Abhandlung«. 56 Vgl. ebd., S. 761. 57 Ebd., S. 763.

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instrumentelle Wert der Religion verhandelt wird, zusammen und scheut auch nicht davor zurück, ihn als zentrales Argument gegen religionskritische Positionen zu verwenden. Vielmehr ist es gerade dieser ausgezeichnete Mittelcharakter, der für die Religion und gegen den Atheismus spricht, und der somit in den Vornehmsten Wahrheiten immer wieder herausgestellt werden muss, um die natürliche Religion als »Vormauer und Grundlage des Glauben«58 zu verteidigen.

3 Probleme Die Überzeugungskraft von Reimarus’ Darstellung der natürlichen Religion – seines Werbens für eine Religion der ›gesunden Vernunft‹ mittels nachdrücklichen Verweisens auf deren umfassenden Nutzen – setzt offenkundig die Gültigkeit der Prämisse voraus, dass die Welt, mithin der Mensch, die Schöpfung eines weisen, gütigen und gerechten Wesens ist. Denn alle genannten ›Vorteile‹ der Religion, ihr Beitrag zur wissenschaftlichen Erkenntnis, ihre Notwendigkeit für gelingende Vergemeinschaftung und ihre wohltuende Wirkung auf das Gemüt des gläubigen Subjekts, sind nur dann mehr als Schwärmerei, wenn die behauptete teleologische Qualifikation der Welt gültig ist. Es kann hier keine ausführliche Prüfung von Reimarus’ naturteleologischem Beweis für das Dasein Gottes, den er in der vierten »Abhandlung« vorlegt, gegeben werden.59 Das ist aber auch gar nicht nötig, um die mit ihm verbundenen Probleme deutlich anzuzeigen. Zuerst müssen Reimarus’ Überlegungen schon allein vor dem Hintergrund der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Forschung der letzten beiden Jahrhunderte als weitgehend hinfällig beurteilt werden. Da sich Reimarus bei seiner Rechtfertigung und Verteidigung der teleologischen Qualifikation der Natur besonders auf zeitgenössische naturwissenschaftliche Theorien konzentriert, diese aber längst als überholt gelten müssen oder wenigstens in den letzten zweihundert Jahren wesentlich modifiziert wurden, können seine teleologischen Argumente heute nicht mehr überzeugen.60

|| 58 Ebd., S. IV (dort ohne Paginierung). 59 Vgl. bes. ebd., §§ 4–6 der vierten »Abhandlung«. 60 Vgl. auch ähnlich Günter Gawlick: Einleitung. In: Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (Gesammelte Schriften). 2 Bde. Hg. von Günter Gawlick unter Mitarbeit von Michael Emsbach und Winfried Schröder. Göttingen 1985, S. 9–50, hier S. 24f. Die Meinung Gawlicks, dass Reimarus uns mit Blick auf eine angemessene »Einsicht in die Stellung des Menschen in der Welt« und damit auf das »Bewußtsein vom rechten Umgang mit der Welt« »beherzigenswerte Anregungen« geben könne (ebd., S. 28), muss meines Erachtens allerdings relativiert werden. Denn für Reimarus lautet die Alternative: entweder teleologisch verfasste Natur (und damit: Existenz eines Schöpfers) oder Materialismus – tertium non datur. Eine ›Einsicht‹ in die ›de-

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Zudem darf an dieser Stelle auf Humes wirkmächtige Kritik an der Physikotheologie erinnert werden, die er in seinen Dialogues concerning Natural Religion vorgelegt hat. Die Argumentation des dort auftretenden Physikotheologen Cleanthes ist der von Reimarus in vielen Punkten ganz ähnlich. Und die pünktlichen Einwände seines Kontrahenten Philo treffen diese genau so wie jene. Vor allem dessen Kritik an der sehr eingeschränkten Gültigkeit einer Beweisführung per analogiam61 entlarvt auch die naturteleologische Prämisse von Reimarus’ Überlegungen zum Nutzen der Religion als haltlos. So eingängig die teleologische Qualifikation der Natur für die ›gesunde Vernunft‹ eines Reimarus auch gewesen sein mag, sie hält den spitzfindigen Einwänden einer skeptischen – für Reimarus vielleicht eher »kranken«, weil sophistischen – Vernunft nicht stand.62 Aber auch wenn einmal von dieser vielleicht lediglich technischen, aber – wenigstens aus heutiger Sicht – durchaus legitimen Zurückweisung physikoteleologischen Argumentierens absieht, lassen sich Probleme ausmachen, die nicht bloß beweistheoretische sind, sondern sogar das religionsapologetische Hauptanliegen der Vornehmsten Wahrheiten betreffen. Und es ist bekanntlich Kant, der diese Probleme ausführlich und differenziert dargestellt hat.63 Zwar hat er von seinen frühen bis in seine späten Schriften dem physikoteleologischen Beweis für die Existenz Gottes eine besondere Wertschätzung entgegengebracht.64 Und in der Kritik der Urteilskraft nennt er die Vornehmsten Wahrheiten sogar »ein noch nicht übertroffene[s] Werk[]«, mit dem sich Reimarus »ein unsterbliches Verdienst erworben

|| zentrale Stellung des Menschen‹ ist jedoch auch ohne theologische Prämissen möglich – für Reimarus aber gerade nicht. 61 Vgl. David Hume: Dialogues concerning Natural Religion. London 1779, bes. Part II–IV. 62 Freilich konnte Reimarus Humes Dialogues nicht zur Kenntnis nehmen und versuchen, der in ihnen vorgebrachten Kritik an der Physikotheologie etwas entgegenzusetzen. Versucht hat dies allerdings sein Sohn Johann Albert Hinrich Reimarus im »Vorbericht« der von ihm herausgegebenen sechsten Auflage der Vornehmsten Wahrheiten. Jedoch fällt seine Zurückweisung der Kritik Humes nur knapp und sehr allgemein aus, indem er darauf verweist, dass auch der »Zweifler […] selbst Vernunftgründe und Schlüsse gebraucht, wenn er seine Meinung behaupten und das Unsichere unserer Gründe zeigen will« (Johann Albert Hinrich Reimarus: Vorbericht. In: Hermann Samuel Reimarus: Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Hg. von Johann Albert Hinrich Reimarus. Hamburg 61791, S. I–X, hier S. IV [dort ohne Paginierung]). Diese Reaktion ist aus zwei Gründen von Interesse: Erstens zeigt sie, dass der »junge« Reimarus durchaus die Relevanz der Humeschen Bedenken gegen die natürliche Religion bemerkt hat; zweitens zeigt sie aber auch, dass er ihnen offenkundig nicht viel mehr als den üblichen Gegeneinwand der Selbstwidersprüchlichkeit skeptischer Positionen entgegenzubringen weiß. 63 Vgl. für eine kompakte Darstellung der Kritik Humes und Kants etwa Reinhard Hiltscher: Gottesbeweise. Darmstadt 22010, S. 128ff. 64 Vgl. bes. Immanuel Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. In: AA II, S. 63–163, hier S. 117f. und S. 159, ders.: Kritik der reinen Vernunft. In: AA III, S. 415f. (A 623f.) und S. 535 (A 826f.) sowie ders.: Kritik der Urteilskraft (s. Anm. 40), S. 476f.

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[hat]«.65 Weiß man allerdings um die scharfe und zugleich subtile Kritik, die der physikoteleologische Beweis dort erfährt,66 muss es einem schwer fallen, in dieser Einschätzung Kants keinen ironischen Unterton herauszuhören. Andererseits dürfte Reimarus’ konsequente Begründung der natürlichen Religion und ihres vielfältigen Nutzens durch eine strikte teleologische Qualifikation der Welt Kant eindrücklich vor Augen geführt haben, was diese Prämisse alles argumentativ zu leisten vermag. Hier könnte einer der Gründe dafür zu finden sein, warum er auch im Rahmen der ›kritischen‹ Philosophie die teleologische Qualifikation der Natur nicht vollständig aufgibt, sondern lediglich ihren Geltungsstatus relativiert und ihre Berechtigung ausschließlich ans Praktische hängt.67 Es sind vor allem zwei Punkte, die Kant in der Kritik der Urteilskraft gegen die Naturteleologie und ihre theologische Relevanz anführt, wobei beide bereits in Humes Zurückweisung der Physikotheologie zumindest angelegt sind: (a) Zweckmäßigkeit der Natur. Der erste Punkt betrifft den Geltungsmodus des Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur. Kant zufolge liegt der Physikotheologie eine Verwechslung verschiedener Gegenstandbereiche zugrunde. Denn während der Zweckbegriff für das technische Entwerfen, Handeln und dessen Produkte durchaus konstitutiv ist,68 kommt ihm für die Naturerkenntnis bloß regulative Gültigkeit zu.69 Und auch mit Blick auf diesen Gegenstandsbereich schränkt Kant die Bedeutung dieses Prinzips wesentlich ein, indem er ihm ausschließlich für das Verständnis von Natur als einem gesetzlich bruchlos geregelten Zusammenhang sowie für die Erklärung der Eigenart von Organismen eine gewisse Relevanz zuspricht. Beide Punkte finden sich, wie gesehen, auch bei Reimarus. Die Punkte ›Sittlichkeit‹ und ›Zufriedenheit‹ koppelt Kant dagegen von der naturteleologischen Perspektive nahezu restlos ab. Mit Blick auf die Zufriedenheit (›Glückseligkeit‹) des Menschen stellt er neben dem »Widersinnsche[n] der [menschlichen] Naturanlagen«70 die prinzipielle

|| 65 Ebd. 66 Vgl. ebd., § 85 sowie in der »Allgemeinen Anmerkung«, S. 477–480. 67 Neben den einschlägigen Überlegungen in der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« zur Notwendigkeit der Naturteleologie hinsichtlich ›organisierter Wesen‹ (vgl. ebd., §§ 64–66) und einer die Moralteleologie vorbereitenden Auszeichnung der Natur als ›System‹ (vgl. ebd., §§ 67, 82–84) kann hier auch auf den (ersten) »Zusatz« von Kants Friedensschrift verwiesen werden (vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: AA VIII, S. 341–386, hier S. 360–368), wo die teleologische Qualifikation der Natur dem Ausweis der objektiven Gültigkeit der Friedensidee dient. Vgl. dazu Stefan Klingner: Die objektive Gültigkeit der Friedensidee. Zur systematischen Funktion des letzten Abschnitts von Kants Friedensschrift. In: »… jenen süßen Traum träumen«. Kants Friedensschrift zwischen objektiver Geltung und Utopie. Hg. von Dieter Hüning und Stefan Klingner. Baden-Baden 2018, S. 153–169. 68 Vgl. dazu ausführlich Stefan Klingner: Technische Vernunft. Kants Zweckbegriff und das Problem einer Philosophie der technischen Kultur. Berlin, Boston 2012. 69 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft (s. Anm. 40), S. 197, 360f., 375, 379, 416f., 457f. 70 Vgl. bes. ebd., S. 430.

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Unerreichbarkeit von Glückseligkeit als ›letztem Naturzweck‹ heraus. Was wiederum die Sittlichkeit bzw. Tugend des Menschen angeht, ist ein positiver Ertrag der Naturteleologie für diese allein schon aufgrund von Kants strikter Trennung zwischen ›theoretischer‹ und ›praktischer Vernunft‹ unmöglich. Ihm zufolge vermag sie es bestenfalls, »den Ideen, die die reine praktische Vernunft herbeischafft, an den Naturzwecken beiläufige Bestätigung zu geben«.71 (b) Gottesbegriff. Der zweite Punkt betrifft schließlich die theologische Relevanz der teleologischen Qualifikation der Welt. Kant gesteht der Naturteleologie zu, dass mit Blick auf die Probleme eines Systems besonderer Naturgesetze und der Eigenart von Organismen der Gedanke an einen ›ursprünglichen Verstand‹ unverzichtbar scheint.72 Diesen als theologisch gehaltvollen auszuzeichnen gelinge der Naturteleologie jedoch gerade nicht. Denn sie führe höchstens auf den Begriff eines ›Weltbaumeisters‹ bzw. ›Kunstverstands‹, niemals aber auf den Begriff einer moralischen Weltursache.73 Erst dieser wäre aber der theologisch relevante, da er »Weisheit für einen Endzweck«74 impliziere. Für den Ausweis von dessen ›Realität‹ sind Kant zufolge naturteleologische Überlegungen noch nicht einmal notwendig – hinreichend und legitim ist allein das moralteleologische »Princip der Beziehung der Welt wegen der moralischen Zweckbestimmung gewisser Wesen in derselben auf eine oberste Ursache«.75 Die Konsequenz ist für Reimarus’ Projekt desaströs: Wenn Kants Diagnose stimmt, dann führt die von Reimarus ins Feld geführte ›gesunde Vernunft‹ gerade nicht zu einem adäquaten Gottesbegriff, sondern bestenfalls zu dem in vielerlei Hinsicht prekären Begriff eines Designers der Natur. Mit Blick auf eine ›vernünftige‹ Religion ist mit ihr also nichts gewonnen. Nach den vorangegangenen Überlegungen darf das den Vornehmsten Wahrheiten zugrunde liegende Projekts kurz und bündig folgendermaßen eingeschätzt werden: Nimmt man Reimarus’ Motiv, mit der natürlichen Religion eine ›Vormauer und Grundlage des Glaubens‹ gefunden zu haben, sowie seine Alternative zwischen Religion und Atheismus genau so ernst wie die mit der teleologischen Qualifikation der Welt verbundenen Probleme, dann hat die Religion nur noch einen ›Vorteil‹ gegenüber dem Atheismus: Mit ihr kann man sich – eine entsprechende Eignung

|| 71 Ebd., S. 445. 72 Vgl. bes. ebd., S. 180 und S. 410. 73 Vgl. ebd., S. 437–441, vgl. auch bereits Kant: Kritik der reinen Vernunft (s. Anm. 64), S. 417 (A 626f.). Vgl. dazu ausführlich Bernd Dörflinger: Kant über das Defizit der Physikotheologie und die Notwendigkeit der Idee einer Ethikotheologie. In: Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants. Hg. von Norbert Fischer und Maximilian Forschner. Freiburg i. Br. 2010, S. 72–84, hier bes. S. 77–79 und S. 83f. – Vgl. zur Untauglichkeit der Naturteleologie, einen angemessenen Gottesbegriff bereitzustellen, auch bereits Hume: Dialogues concerning Natural Religion (s. Anm. 61), Part V–VII. 74 Kant: Kritik der Urteilskraft (s. Anm. 40), S. 441. 75 Ebd., S. 444 (Hervorhebung S.K.).

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vorausgesetzt – besser überreden, in einer durchweg guten Welt zu leben und ein zufriedener Mensch zu sein. Ein solcher psychologischer Effekt ließe sich allerdings auch mit anderen Mitteln erzielen.

Gideon Stiening

»Die besonderen Absichten Gottes im Thierreiche« Theologie und Metaphysik in Reimarusʼ Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere Nur die Sittenlehre und Theologie der Insekten kann ich unmöglich predigen hören. Georges-Louis Buffon

1 Einleitung Sowohl der Theologie- als auch der Philosophiegeschichte gilt Hermann Samuel Reimarus als Radikalaufklärer,1 und zwar schon vor der Inauguration dieses Begriffs durch Jonathan Irsael.2 So hat Hans Blumenberg der zwar unveröffentlichten, aber berühmt-berüchtigten Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes den Status zugeschrieben, sie sei das »Hauptwerk der deutschen Aufklärung«,3 was neben der zuvörderst intendierten Spitze gegen Kant auch eine solche gegen Wolff, Lessing, Mendelssohn u. v. a. enthält. Noch Winfried Schröder ergeht sich in vergleichbaren Superlativen, wenn er in seinem Reimarus-Eintrag im Neuen Ueberweg zur Apologie schreibt: »In diesem monumentalen Werk führt Reimarus einen Generalangriff auf den Wahrheitsanspruch der christlichen und der jüdischen Religion.«4 Auch für Wilhelm Schmidt-Biggemann steht die Theologie nach der Apologie vor »einem dogmatische Scherbenhaufen«5 und selbst für den zumeist mit spekta-

|| 1 Vgl. hierzu Martin Mulsow (Hg.): Between Philology and Radical Enlightenment. Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Leiden, Boston 2011; vorsichtiger dazu Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk. Tübringen 2009, S. 223ff. 2 Vgl. hierzu Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750. Oxford 2001; zu einer kritischen Diskussion dieses Konzepts vgl. Frank Grunert (Hg.): Concepts of (Radical) Enlightenment. Jonathan Israel in Discussion. Halle 2014. 3 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1988, S. 490. 4 Winfried Schröder: § 15 Hermann Samuel Reimarus. In: Helmut Holzhey, Vilem Murdoch (Hg.): Die Philosophie des 18. Jahrhunderts. 5: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Schweiz. Nordund Osteuropa. 1. Halbbd. Basel 2014, S. 310–318. 5 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Die destruktive Potenz philosophischer Apologetik. Der Verlust des biblischen Kredits bei Hermann Samuel Reimarus. In: ders.: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Frankfurt a. M. 1988, S. 73–87, hier S. 84. https://doi.org/10.1515/9783110726558-011

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kulären Urteilen zurückhaltenden Günter Gawlik ist Reimarus »der größte Systematiker des Deismus in der europäischen Aufklärung«.6 Schon die Zeitgenossen, die nur Auszüge der Apologie durch Lessings ratenweise Veröffentlichungen aus den ›Papieren eines Ungenannten‹ kannten,7 waren sich über die spektakulären Konsequenzen der Bibelkritik des Hamburger Theologen im Klaren, dessen Autorschaft, wie das folgenden Dokument zeigt, zumindest im Göttingen der späten 1770er Jahre durchaus bekannt war: Ich weis nicht, ob ich Ihnen schon etwas von der Schrift, die HE Lessing aus den Papieren eines Ungenannten, des seel. Reimarus, vom Zweck Jesu u. seiner Jünger Wolfenb. 1778, 8. gesagt habe. Diese hat, wie billig in ganz Deutschland ein erstaunliches Auffsehn gemacht; weil der V[erfasser]. nichts weniger, als zu beweisen sucht, daß Jesus eigentlich ein weltlich Reich habe errichten wollen, u. daß die Apostel, wie sie sahen, daß ihr Anführer gekreuzigt wurde, aus dem weltl[ichen] ein geistl[iches] Reich gemacht, folgl[ich] eine neue Rel[igion]. gepredigt, als ihr Meister, folgl[ich] Betrüger seyen. Und dies sagt der V[erfasser]. alles mit der Mine des ehrlichsten Untersuchers, so daß es scheint, er avancire keinen Satz, ohne ihn bewiesen zu haben. Man muß nothwendig nach der Lektüre des Buchs gestehn, daß er der gründlichste Bestreiter der [chri]stl[ichen] Rel[igion] ist, den die Geschichte kennt. […] HE Lessing soll viel Verdruß über die Herausgabe dieser Schrift beim Braunschw[eiger]. Konsistorium gehabt haben. Sein Streit mit Götze, der ihn zuerst angrif, ist noch nicht beigelegt. Geben Sie sich Mühe, diese Sachen zu erhalten, die freilich in Wien verboten sein mögen.8

An solchen Dokumenten wird ersichtlich, dass die Bibelkritik des Reimarus – auch in der reduzierten Fassung Lessings – tatsächlich eine der bedeutendsten theologischen Kontroversen des 18. Jahrhunderts ausgelöst hatte und diese Kontroverse weit über die Theologie hinaus als ›Medienereignis‹9 inszeniert und wahrgenommen wurde. Klar ist aber auch, dass strenger Deismus und ›zermalmende‹ Bibelkritik am Maßstab des Satzes vom Widerspruch noch keine radikale Aufklärung oder eine ›alleszermalmende Kritik‹ impliziert;10 immerhin hält Reimarus an Gottes-, Vorsehungs- und Unsterblichkeitsbegriffen und -überzeugungen fest11 und bedient sich

|| 6 Günter Gawlick: Reimarus und der englische Deismus. In: Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Hg. von Karlfried Gründer und Karl Heinrich Rengstorf. Heidelberg 1989, S. 43–54, hier S. 43. 7 Vgl. hierzu die Darstellung der Vorgänge bei Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 701–744. 8 Michael Hißmann an Johann Filtsch, 13. Dezember 1778. In: ders.: Briefwechsel. Hg. von HansPeter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening und Falk Wunderlich. Berlin, Boston 2016, S. 51f. 9 Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk. Göttingen 2018, S. 13. 10 S. hierzu auch Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Frankfurt a. M. 1974, S. 61–66 u. ö. 11 Vgl. hierzu Hermann Samuel Reinmarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen. Hamburg 41772, S. 206ff., S. 574ff. und S. 691ff.; zur Ableitung der Unsterblichkeit aus dem Schöpfungsgedanken vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Einleitung. In: Hermann

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der verschiedensten Instrumente ihres Nachweises. Günter Gawlick hat vor diesem Hintergrund zu Recht darauf hingewiesen, dass Reimarus »als Metaphysiker […] seit Kant erledigt [ist], als Kritiker der Offenbarungsreligion durch radikalere Ansätze überholt« wurde.12 Inwiefern ist Reimarus also tatsächlich als Aufklärer zu bezeichnen, ist das Prädikat des ›Radikalaufklärers‹ wirklich zutreffend und kann seine Apologie als ›Hauptwerk der deutschen Aufklärung‹ bezeichnet werden? Im Folgenden sollen diese Fragen erörtert und zu beantworten versucht werden, und zwar anhand einer Interpretation der zeitgenössisch populären Schrift Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, deren zweite Auflage hier zugrunde gelegt wird.13 An dieser das zeitgenössische Interesse an der Naturlehre14 aufnehmenden physikotheologischen Abhandlung zeigt sich nämlich deutlicher als an der Bibelkritik, dass Reimarus wenigstens zwei notwendige Kontroverslinien seiner ›Apologie‹ der natürlichen Religion ausgemacht hatte und in seine Argumentationsbewegungen und Verteidigungsstrategien zu berücksichtigen suchte: Nicht nur wird die natürliche Religion gegen die Orthodoxie und deren Verständnis von Offenbarungsreligion abgegrenzt, auch – und häufig deutlich polemischer – zieht Reimarus gegen Atheismus, Materialismus und Epikureismus zu Felde,15 die er als die eigentlichen Fein|| Samuel Reimarus: Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Göttingen 1994, S. 7–65, hier S. 47. 12 Gawlick: Reimarus und der englische Deismus (s. Anm. 6), S. 44. 13 Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe: Zum Erkenntniß des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst. Hamburg 21762. 14 Vgl. hierzu u. a. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 31973, S. 48–122; Philipp R. Sloan: Natural History. In: Knud Haakonssen (Hg.): The Cambridge History of Eighteenth Century Philosophy. Cambridge 2005, S. 903–938 sowie Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild. Hamburg 2015, S. 340ff. 15 Schon im Vorbericht der Vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11, unpag, S. III) wettert Reimarus gegen eine »grübelhafte Atheisterey« und hält sie für ein Produkt »schwacher Vernunft«; im Zusammenhang seines rationalen Beweises der Unsterblichkeitsgewissheit in der 10. Abhandlung wird der Hamburger Theologe dann drastischer, wenn er dem Atheisten den Status eines »unglückseligen Mittelthieres zwischen Vieh und Menschen« (ebd., S. 733) attestiert; am gefährlichsten sind aber schon hier die »wittzigen Atheisten« (ebd.); vgl. hierzu auch – allerdings vollkommen unkritisch – Klein: Reinmarus (s. Anm. 1), S. 225ff. In der Apologie stellt Reimarus einen Zusammenhang zwischen Offenbarungstheologie und dem »unvernünftigen Wahn« des Atheismus her; hierzu heißt es: »Weil sie denn von keiner vernünftigen Religion etwas wissen und überführt sind: so bleibt ihnen nichts übrige, sie halten alles für Pfaffen-Betrug, und für eine bloße Erfindung den blinden Pöbel zu lenken und im Zaum zu halten. Es gesellet sich die Spötterey dazu, welche ihren Witz in Erzehlungen und Schriften nirgend sinnreicher anzubringen meynt, als wenn er über Priester und Mönchen hergeht, und sich wohl auf Unkosten der ernsthaftesten Wahrheiten, ja aller Zucht und Ehrbarkeit lustig macht. Man kann sich denn leicht vorstellen, daß solche muthwillige Abschüttelung eines losen Zaums in die wildeste Ruchlosigkeit der Sitten und in die schändlichsten Laster ausschlagen muß; welches in der That die ärgste Atheisterey ist« (Hermann Samuel Reimarus:

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de der Wahrheit ausgemacht hatte.16 So heißt es im Vorbericht der Vornehmsten Wahrheiten: Möchte ich doch dem gemeinen Mangel vernünftiger Einsichten auf eine leichte und angenehme Art abhelfen! Möchte ich so viele wüste Menschen belehren können, daß sie ohne Gott in der Welt, und ohne Hoffnung des zukünftigen Lebens, auch hier unglückselig sind, und ihrer eigenen Natur entgegen handeln! Möchte ich so manche Grübler und Zweifler von ihrer Verwirrung und Unruhe befreyen, und ihnen die muntere Gemüthsruhe mittheilen, deren ich seit vielen Jahren genieße! An der Religion ist dem menschlichen Geschlechte, ist jedem zu seiner Glückseligkeit gar zu viel gelegen, als daß sie verabsäumet, verachtet und übertreten werden könne.17

Dieses immer wieder und ausdrücklich bekannte religiöse und religionspolitische Interesse lässt sich besonders deutlich an seiner nur dem äußeren Scheine nach naturhistorischen, in Wirklichkeit naturtheologischen Abhandlung über die Triebe der Thiere rekonstruieren.18

2 Reimarusʼ Polemik gegen Buffon Erst wenn man angemessen berücksichtigt, dass das apologetische und damit kontroverstheologische Interesse des Reimarus sich zugleich gegen die Offenbarungstheologie und gegen materialistische, atheistische sowie vor allem solche Wissenschaften richtet,19 die sich in ihren Konzepten und ihrer empirischen Praxis unabhängig von theologischen oder religiösen Begriffen und Kategorien entfalteten, wird die Stellung des Hamburger Theologen im Tableau der Aufklärung erkennbar.20 Betrachtet man nämlich beispielsweise seine Auseinandersetzung mit der Naturlehre des schon seit den 1730er Jahren europaweit berühmten Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon,21 wird einsichtig, dass Reimarus die Abwehr einer säkula|| Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Gerhard Alexander. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 1, S. 169). 16 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Stefan Klingner in diesem Band. 17 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), Vorb. [unpag.]. 18 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Karl Christoph Scherer: Das Tier in der Philosophie des Hermann Samuel Reimarus. Würzburg 1898. 19 S. hierzu insbesondere Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 2009, S. 156, aber auch Gawlick: Reimarus und der englische Deismus (s. Anm. 6), S. 51f.; Schröder: Reimarus (s. Anm. 4), S. 317. 20 Dass diese Verbindung von Naturwissenschaft und Theologie ein Grundanliegen der in England inaugurierten physikotheologischen Bewegung war, um die Entfaltung einer säkularen Naturwissenschaft zu verhindern, lässt sich nachlesen bei Klein: Reimarus (s. Anm. 1), S. 201ff. 21 Vgl. hierzu u. a. Jacques Roger: Buffon. Un philosophe au Jardin du Roi. Paris 1989.

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ren Naturforschung mindestens ebenso am Herzen lag wie die Kritik an der Offenbarungstheologie.22 Es zeigt sich an dieser Kontroverse geradezu, dass eine Konzentration der Theologie auf eine rational rekonstruierbare natürliche Religion das aus Reimarusʼ Sicht entscheidende Abwehrinstrument gegen die Säkularisierungstendenzen seines Zeitalters darstellte.23 Wie schon in den Vornehmsten Wahrheiten, so widmet Reimarus auch in den Betrachtungen der Auseinandersetzung mit den von ihm so genannten »Zweiflern« ein eigenes Kapitel. Neben den doktrinalen Abschnitten, die sich vor allem um einen rationalen Beweis sowie eine Fülle empirischer Nachweise für die Absichten und Wirksamkeiten Gottes in der Welt bemühen, kommt daher den polemischen Abschnitten gegen die säkularen Wissenschaften eine ebenso konstitutive Funktion zu. Denn in seinen Betrachtungen setzt sich Reimarus auf über 80 Seiten mit den »Hypothesen der Neuern von den thierischen Kunstrieben« auseinander und damit mit den philosophischen und einzelwissenschaftlichen Erklärungen des Tierreiches.24 Er beginnt mit Ralph Cudworth, dem er ein erdichtetes, mithin erfahrungswidriges Naturverständnis attestiert und kommt zügig auf Descartes zu sprechen, dessen mechanistische Erklärungen er als Einfalltor jener säkularen Naturlehre intepretiert, die in der Folge zu den verheerenden Konsequenzen geführt habe, welche auch bei Leibniz und vielen anderen das Tier zur Maschine, damit aber nicht nur zu einem leblosen Wesen, sondern zu einer von der Wirksamkeit Gottes unabhängigen Erscheinung erklärt hätten. Über Buffon und La Mettrie,25 die er beide zu Materialisten macht, arbeitet Reimarus sich beispielsweise auch an Christoph || 22 Dabei ist die Prädikation »gemäßigt materialistisch« (so Klein: Reimarus [s. Anm. 1], S. 233) für Wissenschaftskonzeptionen, die ihre Begriffe, Grundsätze und ihre empirische Praxis von Theologumena freihalten wollen, weil sie es für die anstehenden Aufgaben moderner Naturforschung für erforderlich hielten, nur als irreführend zu bezeichnen, weil sich Buffon oder auch Linné zu Fragen einer materialistischen Metaphysik oder einer theologischen Gotteslehre im Rahmen ihrer Forschung schlicht nicht verhalten; sie betreiben säkulare Naturforschung, für die die ›Absichten Gottes‹ unerheblich sind oder verfälschend wirken. 23 Dass man trotz der zeitweiligen Kritik am Begriff der ›Säkularisierung‹ (siehe hierzu Monika Neugebauer-Wölk: Aufklärung − Esoterik − Wissen. Transformationen des Religiösen im Säkularisierungsprozess. Eine Einführung. In: Aufklärung und Esoterik. Rezeption − Integration – Konfrontation. Hg. von Monika Neugebauer-Wölk. Tübingen 2008, S. 5–28) an dieser historiographischen Kategorie für eine kritische Aufklärungsforschung festhalten kann und muss, zeigt u. a. Dietrich Schotte: Halb blinde Aufklärung? Die Diskussion um die vorpolitischen Grundlagen des Politischen in der Aufklärung. In: Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie. Hg. von Albrecht Beutel und Martha Nooke. Tübingen 2016, S. 381–397. 24 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 209–287. 25 Zur La Mettrie-Kritik vgl. Klein: Reimarus (s. Anm. 1), S. 233f. sowie John H. Zammito: Herder between Reimarus and Tetens. The Problem of an Animal-Human Boundary. In: Herder. Philosophy and Anthropology. Hg. von Anik Waldow und Nigel DeSouza. Oxford 2018, S. 127–146, spez. S. 129ff.

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Mylius, Johann Gottlob Krüger, Guillaume Hyacinthe Bougeant, David Renaud Boullier, Georg Friedrich Meier oder Johann Heinrich Winckler ab. Dabei zielen die entscheidenden Vorwürfe neben demjenigen gegen den allgegenwärtigen, aber eben unzureichenden Mechanismus darauf ab, dass den Tieren Formen einer verständigen oder gar vernünftigen Rationalität zugeschrieben wurde. Mit der letzteren These, die Reimarus besonders an Meier kritisiert, beschäftigt er sich ausführlich auch systematisch.26 Schon früh in der Abhandlung hatte Reimarus den Tieren zwar ein Analogon zu Verstandeshandlungen zugeschrieben, das explizit keinen nur quantifizierbaren Unterschied zu den Verstandesleistungen der Menschen implizieren sollte – ausdrücklich wird der Begriff des Analogons von dem der Stufenleiter abgegrenzt, weshalb die analogisierten Relata nicht durch Quantifizierung zu vermitteln sind. Vielmehr stellt Reimarus unmissverständlich fest, dass Tiere nicht denken können: Wenn nun alles Denken in Begriffen, Urtheilen und Schlüssen besteht: so können wir auch, in eigentlicher Bedeutung, nicht sagen, daß Thiere denken.27

Es macht eine der bedeutenden Problemlagen der Studie aus, dass Tiere keinen Verstand und keine Vernunft, ja nicht einmal die beiden Vermögen zugrunde liegende »Kraft zu reflektieren«28 haben und doch zu Handlungen in der Lage sind, die ebenso nicht durch die mechanistische Ordnung ihres Körpers oder Erfahrungsakkumulation zu erklären sind. Es geht Reimarus um eine Erklärung dessen, was schon Buffon ›Instinkte‹ nannte,29 beispielsweise um die Fähigkeit der Eintagsfliege, für ihre Nachkommen zu sorgen, obwohl sie das nicht gelernt haben und auch nicht von der Notwendigkeit überzeugt sein kann.30 Buffon wird vor diesem Hintergrund in der Kontroverse mit »den Neueren« relativ kurz abgehandelt, was allerdings lediglich der Tatsache geschuldet ist, dass Reimarus sich schon in den Vornehmsten Wahrheiten mit dem französischen Naturforscher beschäftigt hatte, worauf er ausdrücklich hinweist.31 Dort aber hatte sich der Hamburger Naturtheologe in der fünften Abhandlung, Von den besondern Absichten Gottes in dem Thierreiche, mit der seit 1749 erscheinenden und in ganz Europa rezipierten Histoire naturelle générale et particulière32 ausführlich auseinander gesetzt. Dabei beginnt die sich über den gesamten § 12 erstreckende Abrechnung mit || 26 Vgl. hierzu Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 249–260. 27 Ebd., S. 45, § 27; siehe auch Reimarus: Vornehmste Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 344f. 28 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 46f; vgl. hierzu auch Hermann Samuel Reimarus: Vernuftlehre. Hg. von Frieder Lötzisch. München 1979, S. 29ff. (§ 27ff.). 29 Vgl. Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon: Allgemeine Naturgeschichte. Frankfurt a. M. 2008, S. 1062ff. 30 Vgl. hierzu Zammito: Herder between Reimarus und Tetens (s. Anm. 25), S.129ff. 31 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 226f. 32 Vgl. hierzu Sloan: Natural History (s. Anm. 14), S. 911ff.: »The Buffonian Revolution«.

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Buffon umgehend mit dem für Reimarus entscheidenden Problem dieser Naturgeschichte der Tiere: Aber vielleicht weis Herr Büffon, welcher keine Theologie aus der Naturgeschichte geprediget haben will, eine kürzere und bessere Erklärung der thierischen Naturtriebe. Denn er verhöhnet die Bewunderer der göttlichen Weisheit und Güte in solchen Dingen, die man vielmehr durch Vernunftschlüsse ergründen sollte.33

Es ist die Austreibung der Theologie aus der Naturgeschichte, die Buffon nach Reimarus betrieben habe und die vom Hamburger Theologen mit besonderer Schärfe zurückgewiesen wird. Tatsächlich hatte Buffon – und zwar im Zusammenhang mit den auch von Reimarus häufig herangezogenen Bienen und deren ›Vergemeinschaftung‹ – die unreflektierten Applikationen moraltheoretischer, politischer oder gar schöpfungstheologischer Kategorien auf die Ordnung des Bienenvolkes mit Nachdruck zurückgewiesen: Nur die Sittenlehre und Theologie der Insekten kann ich unmöglich predigen hören. Nur die Wunder, welche die Beobachter selbst in sie legen und hernach so viel Rühmens davon machen, als ob sie wirklich darin anzutreffen waren, müßten etwas näher untersucht werden.34

Buffon macht zum Zweck dieser Zurückweisung solcherart Wunschprojektionen von Begriffen der theoretischen und praktischen Anthropologie, der Moral- und politischen Philosophie oder der Theologie auf die Naturgeschichte ausdrücklich darauf aufmerksam, dass die Vereinigung von Bienen »nicht aus moralischen Absichten« geschehe: Diese Gesellschaft ist also eine bloß physische, von der Natur geordnete Vereinigung, ohne alle Absicht, Erkenntnis oder Vernunftschlüsse.35

Buffons Naturgeschichte basiert mithin auf einer strengen Trennung theoretischer und praktischer Philosophie, entia physica und entia moralia oder eben Natur und Freiheit.36 Diese Grundlagenunterscheidung gilt zwar auch für Reimarus, dennoch liegt seiner Auffassung nach der buffonschen Variante ein naturtheoretischer Mechanismus (und damit Materialismus) zugrunde: Er will nämlich alle Triebe und Handlungen der Thiere, beynahe auf cartesische Art, maschinenmäßig erklären; so, daß alles, auch ohne Seele, aus bloßer Erschütterung der sinnlichen

|| 33 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 346. 34 Buffon: Allgemeine Naturgeschichte (s. Anm. 29), S. 1050. 35 Ebd., S. 1051. 36 Vgl. hierzu auch Annette Barkhaus: Vom ›Mängelwesen‹ zum Herrscher über Mensch und Tier. Eine Analyse der Anthropologie Buffons. In: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 4 (1997), S. 197–218.

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Werkzeuge und des innern Gehirnes seinen Ursprung nehme, und daß auf solche Wirkung eine Gegenwirkung des Gehirnes und der Nerven, das ist, eine Bewegung des Thieres erfolge, welche der Natur des Thieres und dem äusserlichen Eindrucke gemäß sey. Er nimmt daher den Thieren, mit der Seele, nicht allein Verstand und Willen, Ueberlegung und Vernunftschlüsse, Witz und Erfindung, sondern auch Begriffe, Einbildungskraft und Gedächtniß; als ob er alles aus einfachen Bewegungsregeln körperlicher Theile verständlich machen wollte.37

Reimarus wird auf diesen für ihn »[u]nglücklichen Versuch einer mechanischen Erklärung«38 des Verhaltens von Tieren durch Rückführung von deren Ursachen auf Gehirn- und anderweitige Körperbewegungen und deren Regeln immer wieder zurückkommen. Der sachliche Kern seines Vorwurfes, auf den in der Folge noch zurückzukommen ist, besteht darin, dass mechanistische Erklärungen – also UrsacheWirkung-Relationen – bestimmte Erscheinungen der Natur, wie beispielsweise die Instinkte der Tiere, begrifflich nicht erfassen könnten. Dabei zeigt die erhebliche Polemik, aber auch die spezifische Argumentationsstrategie an, dass der Physikotheologe in Buffon einen seiner Hauptgegner und in den Prinzipien von dessen Naturgeschichte einen seiner zentralen Apologieanlässe gefunden hatte. Zunächst wird Buffons Projektionsthese empört paraphrasiert: Und so ist ihre [d. i. der Bienen] Baukunst, ihre Geometrie, ihre Ordnung, ihre Vorsicht, ihre Liebe zum Vaterlande, mit einem Worte, ihre Republik, bloß auf die Bewunderung des Beobachters gegründet.39

Über solche Empörungshermeneutik hinaus begibt sich Reimarus allerdings mit großem Selbstverständnis auf das ureigene Feld der empirischen Naturforschung, d. h. der Beobachtung; und eben auf diesem Felde wirft er Buffon zunächst erhebliche Fehler vor: Wenn man aber nicht wüßte, daß Hr. B. die Naturgeschichte verstünde, und sie andern vorzutragen unternommen hätte: sollte man wohl, nach seiner Vorstellung, glauben, daß er jemals einen Bienenstock gesehen, ihre Arbeit und Haushaltung beobachtet, oder eine Beobachtung davon bey andern gelesen hätte? Welche unerhörte Dinge stecken in seiner Beschreibung! Es ist erstlich falsch, daß zehntausend Bienen auf einmal zur Welt gebracht, und fast zu gleicher Zeit verwandelt werden.40

Vier weitere, ausdrücklich als »falsch« bewertete Beobachtungsfelder werden von Reimarus ausführlich erörtert – dazu zählt u. a. die Frage, warum die Bienen »der Bienenmutter so einmütig folgen«, die Funktion der Bienenwaben, hinsichtlich derer Reimarus seinem Gegner einen »starke[n] und lächerliche[n] Irrthum« attes-

|| 37 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 346f. 38 Ebd., S. 355. 39 Ebd., S. 349. 40 Ebd., S. 350.

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tiert,41 der Zweck und die Form der Arbeitsteilung der »Werkbienen« sowie die Ursachen für die Form der Bienenwaben. Dabei bleibt weitgehend offen, ob die aufgeführten Beobachtungen vom Autor selbst gemacht wurden oder ob er sie nur oder vor allem den Texten anderer Naturforscher wie »Swammerdamm und Reaumur«42 entnommen hat.43 Klar ist dagegen, dass Reimarus den buffonschen Versuch für »in allen Stücken falsch« hält,44 und zwar weil er nicht aus der Beobachtung gewonnen, sondern den metaphysischen und methodischen Prämissen angeglichen wurde: Unglücklicher Versuch einer mechanischen Erklärung, welche schon in dem ersten kleinen Umstande der Bienenrepublik so viele unrichtige Hypothesen, statt wahrer Beobachtungen, unterschiebt, vielweniger aber zureicht, hundert andere Handlungen maschinenmäßig zu machen. Die Wahrheit ist: Die Bienen mögen vielleicht Honig und Wachs für den Hr. B. bauen, aber sie bauen nicht für seine Hypothesen.45

Die mit lustvoller Wucht vorgetragene Kritik46 bezieht sich mithin auf eine methodische und auf eine systematische Verfehlung: Methodisch hat Buffon den Fehler gemacht, nicht präzise genug das Verhalten der Bienen beobachtet zu haben, so dass nur aufgrund selektiver oder gar falscher Beobachtungen seine mechanistische Hypothese verifiziert werden konnte; systematisch besteht Buffons Fehler in der Universalisierung der physischen Ursache-Wirkungs-Beziehung, die nicht hinreichend sei, um bestimmte Erscheinungen der Natur, hier die Ordnungs- und Handlungsstruktur eines Bienenstockes, zu erklären. In kritischer Hinsicht wird Kant den Vorwurf des Reimarus übernehmen, denn auch für den Transzendentalphilosophen ist die »Erzeugung auch nur eines Gräschens« im Rahmen mechanistischer Naturerklärung nicht zu erfassen;47 in doktrinaler Hinsicht aber unterscheiden sich beide Naturtheoretiker grundlegend: Kant löst das Problem nicht-mechanistischer Naturerscheinung durch die Theorie einer ganz säkularen, im Geltungsstatus einge-

|| 41 Ebd., S. 352. 42 Ebd., S. 358. 43 Zu dieser Problematik vgl. auch Klein: Reimarus (s. Anm. 1), S. 207. 44 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 358. 45 Ebd., S. 355. 46 Gegen den Mechanisten und (aus seiner Sicht) Atheisten Buffon ist der gläubige Protestant Reimarus zu ansonsten verbotener Häme durchaus bereit: »Ich muß lachen, wenn ich bey Hrn. Büffon (III. Th. II B. p. 37) lese, daß die Biber sich nicht aus einer natürlichen Nothwendigkeit zusammen hielten und zusammen arbeiteten, sondern aus Wahl, wenn sie sich zusammen schickten und in unbewohnten Ländern alle Freyheit hätten, Wohnungen anzulegen. Aber in Ländern, wo die Menschen sich ausgebreitet hätten, da fände, vor Schrecken, keine Gesellschaft mehr statt, da würde alle Kunst erstickt, da gedächten sie nicht mehr ans Bauen, da verlangten sie nichts weiter, als zu leben und sich zu verbergen. Wenn also die Menschen fortführen, die Erde zu besetzen, so würde man in einigen Jahrhunderten die Geschichte der jetzigen Biber für eine Erdichtung halten« (Reimarus: Allgemeine Betrachtungen [s. Anm. 13], S. 137f.). 47 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: AA V, S. 409 (§ 77).

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schränkten teleologischen Urteilskraft, Reimarus hingegen mit der »Güte und Weisheit des Schöpfers«; es ist dieser Unterscheid aber ein Unterschied ums Ganze: Es ist der Unterschied zwischen Naturphilosophie und Naturtheologie und damit zwischen säkularer Aufklärung in der Naturforschung und ihrer theologischen Verhinderung. Das eigentliche Problem der buffonschen Naturlehre ist für Reimarus denn auch ein genuin theologisches: Herr Büffon sieht ja, nach seinem Geständnisse, den Schöpfer groß, weil er das Daseyn der Dinge ordnet, und die Natur auf unveränderliche und beständige Gesetze gründet: wir sehen ihn aber hier noch größer, weil er nicht allein der leblosen Dinge, sondern auch so vieler Millionen lebendigen Daseyn ordnet, und weil er mit einfachen Gesetzen mannichfaltige Vortheile, Lust und Glückseligkeit seiner Geschöpfe bewirkt. Ist nun Hrn. Büffons Geständniß, wie ich nicht zweifeln will, aufrichtig; so muß er auch Gott nicht mit dem Epikurus in die Intermundia und entfernten Himmelssphären verweisen, sondern ihn auch da zu sehen suchen, wo er sich in der Nähe am klärsten und deutlichsten zeiget.48

Tatsächlich hatte auch Buffon die Größe und Weisheit des Schöpfers in dem von Reimarus zitierten Zusammenhang aufgerufen, jedoch dessen Leistung auf die ursprüngliche Schöpfungsarbeit beschränkt. Gegen jene oben zitierten ›Theologien der Insekten‹ gewandt heißt es: Ist nicht unser Schöpfer bereits groß genug durch seine Werke? Denken wir durch unsern schwachen Verstand ihn etwa größer zu machen? Das würde gerade das Mittel sein, ihn, wo möglich, zu verkleinern. Denn wer hat wohl den größten Begriff vom höchsten Wesen: derjenige, welcher ihn die Welt schaffen, das Dasein der Dinge ordnen, die Natur auf beständige und unveränderliche Gesetze gründen sieht? oder derjenige, der sich bemühet, oder einbildet, ihn mit einer kleinen Republik von Fliegen, oder mit Nachdenken über die Art beschäftigt zu finden, wie sich wohl der Flügel eines Käfers am bequemsten falten möge?49

Erkennbar ist Buffon kein Atheist, sondern eine strenger Deist, der allerdings eine säkulare Naturforschung betreiben kann und will.50 Für Reimarus ist diese Distinktion aber unerheblich bzw. inexistent: Für ihn ist der Schöpfer insofern größer, als er spezifische Erscheinungen der Natur, die sich einer Erklärung durch das UrsacheWirkungsgesetz entziehen, in übernatürlicher und damit der Rationalität des Menschen entzogenen Weise konstituiert. Am deutlichsten erkennbar ist diese Stellung und Funktion des Schöpfers bei den »Kunsttrieben der Tiere«: Dieser weise Zusammenhang der Welt mit der gütigsten Absicht des Schöpfers, welchen ich in den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion ausführlicher dargethan habe, wird besonders durch die thierischen Kunsttriebe in ein volles Licht gesetzet; so ferne sie, sowohl der

|| 48 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 360. 49 Buffon: Allgemeine Naturgeschichte (s. Anm. 29), S. 1051f. 50 Vgl. hierzu nochmals Sloan: Natural History (s. Anm. 14), S. 911ff.

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Art als Vielheit nach, in den Bedürfnissen jeder Art des Lebens zu ihrem und ihres Geschlechtes Erhaltung und Wohlfahrt einzigen Grund haben, und in der That nichts anders sind, als nach jeder Art und Stufe der Glückseligkeit bestimmte Seelen- und Leibeskräfte.51

Was aber genau sind »Kunstriebe der Thiere«?

3 Kunsttriebe der Tiere Es ist zunächst von entscheidender Bedeutung festzuhalten, dass sich der Rektor des Akademischen Gymnasiums in Hamburg keineswegs mit den Trieben der Tiere beschäftigt, weil er ein ›Herz für Pflanzen und Tiere‹ gehabt hätte oder auch nur wissenschaftliche Zoologie als Selbstzweck hätte betreiben wollen.52 Vielmehr hat Reimarus ausschließlich und dezidiert theologische Absichten mit seiner Schrift; er geht nämlich davon aus, daß nichts in der Welt, zumal im Thierreiche, die Absichten des Schöpfers, und die darinn liegende Weisheit und Güte, klärer vor Augen lege, als die Triebe; Fertigkeiten oder Künste der unvernünfftigen Thiere.53

Zwar wird diese über die Natur vermittelte Gotteserkenntnis mit einer anthropologisch konstanten Selbsterkenntnis verbunden: Und es ist nichts, das uns einen näheren Weg zur Selbsterkenntniß bahnet, das die Absicht der ganzen Schöpfung und den Zusammenhang der sichtbaren Welt so augenscheinlich entdecket, und so offenbare Spuhren der Weisheit, Güte und Vorsorge des Schöpfers enthält, als die Betrachtung der Thiere und ihrer angebohrnen Kunsttriebe.54

Die Erkenntnis Gottes als des Schöpfers und des Menschen als seines Geschöpfes sind folglich in besonderer Weise an den Kunsttrieben der Tiere zu vollbringen, weshalb diese Naturlehre im Dienste der Gottes- und Selbsterkenntnis des Menschen steht und nur aus dieser Funktion heraus ihre innere Kontur erfährt. Anders als für den zwar 14 Jahre jüngeren, kurz zuvor aber mit dem Sytema naturae von

|| 51 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 364f. 52 Vgl. hierzu ebd., Vorrede [unpag.]: »Hieraus wird nun genugsam zu begreifen seyn, daß ich die allgemeine Betrachtung der thierischen Triebe und Kunsttriebe nicht umsonst vorangeschickt. Denn ich hätte sonst, bey jedem besondern Triebe, die Ursachen und Absichten desselben aufs neue erklären müssen, und doch nicht gründlich und im Zusammenhange erklären können. Wenigstens hätte man die ganze innere Verfassung des Thierreiches und die weise und gütige Haushaltung Gottes in demselben, nicht mit einem Male übersehen, und zu unserm Selbsterkenntnisse anwenden können.« 53 Ebd., S. 303f. 54 Ebd., S. 361.

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1758/59 in 10. Auflage hervorgetretenen Carl von Linné, der seine taxonomischen Forschungen ebenfalls, allerdings wie Buffon äußerlich theologisch legitimiert,55 anders auch als für den in den Vornehmsten Wahrheiten abgeurteilten Buffon sind Reimarusʼ Versuche auf dem Gebiet der Zoologie in ihrem Grund und Zweck Theologie – wenngleich rationale bzw. natürliche. Reimarus betreibt Physikotheologie und nicht Physik, weshalb er sich auch ausdrücklich von der reinen Taxonomie Linnés abgrenzt: Unterdessen ist der Verstand, mit der bloßen Mannichfaltigkeit der Bildungen, mit der lebhaften Mischung von Farben, mit Beschreibungen mancher Thiere, und mit äusserlichen Kennzeichen jeder Classe, Ordnung und Art, noch nicht befriediget: er will hauptsächlich jedes Thieres innere Natur, Eigenschaft und Art zu leben, das Verhältniß einer Thierart zu der andern und zu uns, die ganze Haushaltung und Verfassung in dem Thier reiche, und dessen Zusammenhang mit der Welt und ihrem Schöpfer, wissen; wovon man bisher nur sehr wenige und zerstreute Spuren in der Naturgeschichte angemerket finden kann.56

Die grundlegend funktionale Ausrichtung der Allgemeinen Betrachtungen auf theologische Erkenntnisse und Wahrheiten ist nicht deutlich genug zu betonen, um nicht auf wissenschafts- oder philosophiegeschichtliche Abwege zu geraten57 – oder mit Richard David Precht Reimarus in den trüben Gewässern der Animal Studies zu ertränken.58 Die Tatsache, dass Reimarus mit seinen Beobachtungen über das Verhalten der Insekten, etwa der Ameisen oder – wie gesehen – der Bienen, zum Inaugurator der Ethologie als einer eigenständigen Fachrichtung der Tierkunde wurde,59 auch dass er diese neue Wissenschaft mit vielerlei unbekannten Beobach-

|| 55 Vgl. hierzu Carl von Linné: Systema Naturae. Stockholm 101759, S. 5; der hier belobigte Gott bleibt der Taxonimie allerdings äußerlich; vgl. hierzu Olaf Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre. München 2006, S. 82: »In den von Linné erschlossenen Ordnungssystemen eröffnete sich für die Zeitgenossen die von Gott vorgegebene Naturordnung.« 56 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 363f. 57 So u. a. Reimar Müller, Michael Franz: Der Mensch-Tier-Vergleich bei Reimarus und Herder. In: Weimarer Beiträge 57.1 (2011), S. 101–129, die Reimarus als gemäßigten Theologen bezeichnen, bei dem »theologische Argumente weitgehend zurück« getreten seien; die geifernde Kritik des Reimarus an aller säkularen Naturforschung zeigt ein deutlich anderes Bild, was allerdings verschwiegen wird, und dies offenbar, um den Physikotheologen zum Gründungsvater der Verhaltensbiologie zu erheben; ein eigentümliches Intertesse, das offenbar selbst theologisch motiviert ist, vgl. auch Cornelia Ortlieb: Philosophie als Literaturkritik. Jacobi, Herder und Reimarus über die Triebe der Tiere. In: dies.: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. München 2010, S. 29–50. 58 Richard David Precht: Tiere denken. Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen. München 2016, S. 64f. 59 Vgl. hierzu u. a. Jürgen von Kempski: Hermann Samuel Reimarus als Ethologe. In: ders.: Prinzipien der Wirklichkeit: Hg. von Achim Eschenbach. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1992, Bd. 2, S. 437–464, der tatsächlich meint, Reimarus habe »den Blick freigemacht auf das Phänomen des Instinkts« (S. 443); nichts ist unzutreffender: Reimarus verstellt mit seiner Instrumentalisierung dieses Phänomen für

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tungen beförderte, kann und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese empirische Arbeit keineswegs im Rahmen einer zweckfreien Wissenschaft der Natur erfolgte, sondern ausschließlich ›im Namen des Herrn‹, d. h. als szientifischer Gottesdienst zum Nachweis der Absichten und der Wirkungsweisen des Schöpfers in der Natur.60 Für diesen Zweck bedient sich Reimarus jedoch – bei allem prätendierten methodischen Empirismus – zugleich philosophischer Prämissen, die aus dem Arsenal der rationalistischen Philosophie stammen.61

3.1 Metaphysische Prämissen Es gibt also neben den streng theologischen Begriffen, Kategorien und Grundsätzen der Studie auch eine Fülle philosophischer Voraussetzungen, die es für eine angemessene Interpretation dieser Physiokotheologie zu berücksichtigen gilt; zwei der wichtigsten sind die Konstanz der Arten und das Prinzip der Stetigkeit, die great chaine of being,62 so heißt es: Da keine einzige Thierart untergeht, oder aus ihrem Gleichgewichte mit andern Thierarten herausgesetzt wird, so giebt die Erfahrung den sichersten Grund, daß es keiner Thierart an den nöthigen Mitteln zu ihrer Erhaltung fehlen müsse.63

Die Voraussetzungen für diese als selbstverständlich vorgestellte Annahme, dass keine Tierart aussterben könne, werden erstens durch die Prämisse von der in sich geschlossenen Ordnung der Natur gebildet, die man entweder schöpfungstheologisch erklären kann, weil Gott die Welt so geschaffen hat, wie sie sein soll; oder rationalistisch, weil die Natur als in sich geschlossene mechanistische Ordnung nach dem Satz des Grundes begriffen wird, aus der – weil uneingeschränkt gilt: a nihilo nihilo fit64 – nichts verloren gehen kann.65 Diese Annahme, dass die Natur

|| die Preisung der »Weisheit und Güte des Schöpfers« den Blick auf die wahren Gründe und Bedingungen dieses Naturphänomens. 60 Vgl. hierzu auch Martus: Aufklärung (s. Anm. 14), S. 365. 61 Winfried Schröder (Reimarus [s. Anm. 4], S. 316) hat versucht, Reimarus aus dem Kontext des Wolffianismus herauszuschreiben; das mag für die Ablehnung der ›mathematischen‹ Methode gelten; die im Folgenden aufgeführten rationalistischen Prämissen sind dagegen weitgehend der Metaphysik Leibnizens und Wolffs entnommen. 62 Vgl. hierzu immer noch grundlegend Arthur Onken Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Übersetzt von Dieter Turck. Frankfurt a. M. 1985. 63 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 147. 64 Vgl. hierzu u. a. René Descartes: Prinzipien der Philosophie. Übersetzt und erläutert von Artur Buchenau, Hamburg 71965, S. 17: »Wenn wir aber anerkennen, daß unmöglich aus Nichts Etwas werden kann, dann gilt der Satz: Aus Nichts wird Nichts nicht als ein existierendes Ding und auch nicht als Zustand eines Dinges, sondern nur als eine ewige Wahrheit, welche in unserem Geiste ihren Sitz hat und ein Gemeinbegriff oder ein Axiom genannt wird.«

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seit Anbeginn der Schöpfung und bis zu deren Ende so ist, wie sie uns jetzt erscheint, und die auch vom Gros der vordarwinschen Evolutionisten insofern geteilt wird, als zwar irgendwie Neues hinzukommen, Altes aber nicht hinwegfallen kann,66 trennt die Naturlehre des 18. Jahrhundert schon von Kant und dem 19. Jahrhundert, wie erst recht von unserer Zeit, ist aber für ein angemessenes Verständnis auch der Allgemeinen Betrachtungen der Triebe unbedingt zu berücksichtigen. Nur aufgrund dieser Prämisse ist zu verstehen, dass es nach Reimarus eine Notwendigkeit in der Natur gibt, jede Tierart (nicht etwa jedes Tier) mit hinreichenden Mitteln zu versorgen, um jenes Gesetz einer Konstanz der Arten zu realisieren bzw. zu garantieren. Wer anderes aber als der weise Schöpfer, der für die Kompossibilität der von ihm geschaffenen Gesetze der Natur nach Leibniz und Reimarus sorgen muss, kann für diese Garantie der Mittel Sorgen tragen? Das Ursache-Wirkungs-Prinzip leistet das nicht – nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende dieser Naturforschung steht die Weisheit und Güte des Herrn. Zweitens ist Reimarus im Ausgang von Leibniz67 davon überzeugt, dass es in der Natur keine Lücken oder Sprünge ihrer inneren Ordnung geben könne; ausdrücklich beruft er sich auf das Prinzip der Stetigkeit: Die Regel der Stätigkeit, welche in der vollkommensten Weisheit gegründet ist, leidet keine Lücke oder Zerrüttung in der Kette verschiedener möglichen Dinge, die ein verknüpftes Ganzes ausmachen sollten. Dergleichen leeren Raum in der Reihe der Wesen (vacuum formarum) haben die Schulweisen schon, obgleich nach undeutlicher Einsicht, verabscheut, und darum in der Stufenleiter der Natur keine Sprosse wollen fehlen lassen.68

Diese Große Kette der Wesen, bei Leibniz Produkt der universellen Geltung des principium rationis sufficientis,69 wird an dieser Stelle der Vornehmsten Wahrheiten

|| 65 Dieses Gesetz des a nihilo nihil fit gilt selbstverständlich nur für innerweltlich rekonstruierbare Vorgänge, es gilt ausdrücklich nicht für das eigentliche Beweisziel, das Wirken Gottes in dieser Welt: »Wir sehen also in diesem Theile der Natur ihres großen Stifters unendliche Vollkommenheiten auf eine ausnehmend überführende und reizende Weise: einen Liebhaber des Lebens, der als die erste Quelle des Lebens, alle übrige mögliche Arten der Lebendigen aus ihrem Nichts hervorziehen wollen, welche noch ihres Daseyns froh werden, und irgendeiner Stufe der Lust und Glückseligkeit genießen konnten« (Reimarus: Allgemeine Betrachtungen [s. Anm. 13], S. 372; Hervorhebung G.S.). 66 Vgl. hierzu u. a. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976, S. 27ff.; Sloan: Natural History (s. Anm. 14), S. 924ff. oder auch Wolfgang Lefèvre: Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie. Frankfurt a. M. 22009, S. 23ff. 67 Reimarus bekennt sich ausdrücklich zu Leibniz als philosophischem Lehrer, vgl. hierzu Klein: Reimarus (s. Anm. 1), S. 209. 68 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 304f. 69 Vgl. hierzu Gottfried Wilhelm Leibniz: »Monadologie«. In: G 6, S. 607–623, hier S. 612: »Nos raissonemens sont fondés sur deux Principes, celuy de la Contradiction, en vertu duquel nous ju-

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der Weisheit des Schöpfers zugeschrieben, behauptet aber in der Aufnahme der philosophischen Metaphern von der ›Kette der Wesen‹ und der ›Stufenleiter der Natur‹ ihre Ansprüche in der Philosophie als Wissenschaft der Natur. Zugleich wird der Anspruch formuliert, dass die theologische Erklärung den undeutlichen Einsichten der »Schulweisen« überlegen sei, wie natürlich überhaupt die Philosophie auch bei Reimarus ancilla theologiae ist und bleibt.70 Neben diesen beiden auf das principium rationis sufficientis71 zurückzuführenden Naturgesetzen der Konstanz und der Stetigkeit bedient sich die Naturtheologie des Reimarus als dritte Prämisse des principium optimi, wenn es hießt: Es geschieht also nichts in der Welt umsonst; sondern […] Alles, was in der Welt ist und geschieht, das ist und geschieht nach der Absicht des Schöpfers, zum Wohl der Lebendigen. […] Es ist der Weisheit und Güte Gottes gemäß, die bequemsten Mittel zu den besten Absichten zu wählen. […] Je größer die Mannichfaltigkeit der Lebendigen ist, je bequemer und einziger, in der Mannichfaltigkeit, die Mittel zu jeder Art des Lebens und zu jedes Wohl sind, und je größer das Muster des Verstandes, der Kunst und geschickten Wahl ist, das sie uns geben; desto deutlicher er kennen wir darinn die göttliche Absicht, Weisheit und Güte.72

Dabei unterscheiden sich Reimarusʼ Anwendungen jener drei der leibniz-wolffschen Metaphysik entstammenden philosophischen Prinzipien auf die Naturforschung insofern von dieser Metaphysik signifikant, als sie vollständig einer Theologie zugeschlagen werden, die zwar Offenbarungswahrheiten zurückweist, gleichwohl weite Teile der Metaphysik in die natürliche Theologie einbezieht. Wenn sich Offenbarungstheologen bis in unsere Tage über Reimarusʼ »antichristliches Pamphlet«

|| geons faux ce qui en enveloppe, et vray ce qui est opposé ou contradictoire au faux. Et celuy de la Raison suffisante, en vertu duquel nous considerons qu’aucun fait ne sauroit se trouver vray ou existant, aucune Enontiation veritable, sans qu’il y ait une raison suffisante, pourquoy il en soit ainsi et non pas autrment, quoyque ces raisons le plus souvent ne puisent point nous être connues.« 70 Womit sich Reimarus gegen die Loslösung der Philosophie aus diesem Status, der die Entwicklung der Philosophie seit dem 17. Jahrhundert auszeichnet, stemmt; vgl. hierzu Werner Schneiders: Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters. Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie von Leibniz bis Kant. In: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Rudolf Vierhaus. Göttingen 1985, S. 58–92. 71 Auf das sich Reimarus auch ausdrücklich affimativ bezieht: »Setzen wir hergegen, daß alle möglich Lebendige, in verschiedenen Hauptclasse vertheilet, wirlich sind, so hat alles in der Welt seinen zureichenden Grund« (Reimarus: Vornehmsten Wahrheiten [s. Anm. 11], S. 308f.); zu Geschichte und Stellung dieses rationalistischen Prinzips vgl. u. a. Gideon Stiening: »Ein jedes Ding muß seinen Grund haben«? Eberhards Version des Satzes vom zureichenden Grunde im Kontext der zeitgenössischen Kontroverse um das principium rationis sufficientis. In: Ein Antipode Kants? Johann August Eberhard im Spannungsfeld von spätaufklärerischer Philosophie und Theologie. Hg. von Hans-Joachim Kertscher und Ernst Stöckmann. Berlin, Boston 2012, S. 7–42. 72 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 11), S. 301–303.

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echauffieren,73 das nur einen »dogmatischen Scherbenhaufen« hinterlassen habe,74 dann hätte sich ein Wolffianer oder Leibnizianer der 1760er Jahre über die Übergriffigkeit dieses Deismus auf das Feld der Naturphilosophie ebenso irritiert zeigen können. Reimarus nur als ›Netzbeschmutzer‹ der christlichen Religion zu interpretieren, verkennt, dass er – und zwar weil seine Physiokotheologie explizit gegen Materialisten, Atheisten und Epikuräer gewendet ist – ebenso als ›Katechon‹, als Aufhalter,75 als Verhinderer tatsächlich aufgeklärter und damit säkularer Naturforschung betrachtet werden kann und muss – damals wie im Blick auf das 18. Jahrhundert heute.

3.2 »Worauf mein Zweck eigentlich gerichtet ist« – zur Theologie der Kunsttriebe Das zeigt sich besonders deutlich am eigentlichen telos seiner Beschäftigung mit der Tierwelt, nämlich deren so genannten Trieben, und darunter vor allem den »Kunsttrieben der Tiere«. Die allgemeine Definition eines Triebes durch Reimarus lautet zunächst wie folgt: Wenn man nun das Wort Trieb in seinem weitläuftigsten Umfange nimmt, da es alles natürliche Bemühen zu gewissen Handlungen in sich begreift, und die Wirksamkeit der Kräfte bedeutet: so giebt es bey den Thieren dreyerley Triebe.76

Bevor zu den hier angedeuteten besonderen Formen der Triebe überzugehen ist, kann festgehalten werden, dass Reimarus den Trieb der Tiere bestimmt durch Natürlichkeit, Bestimmtheit, Intentionalität, Angeborenheit und Abgeschlossenheit. Triebe, d. h. Entscheidungs- und Handlungsantriebe, veranlassen Tiere also von innen zu je spezifischen, klar abgegrenzten Handlungen, die ihnen durch ihre Natur zukommen.

|| 73 S. hierzu Hannes Kerber: Rezension von Ulrich Groetsch: Hermann Samuel Reimarus (1694– 1768). Classicist, Hebraist, Enlightenment Radical in Disguise. In: Philosophisches Jahrbuch 123.1 (2016), S. 256–259. 74 Vgl. erneut Schmidt-Biggemann: Die destruktive Potenz (s. Anm. 5), S. 84. 75 Selbstverständlich wird dieser Begriff hier nicht in seiner ursprünglich theologischen Semantik und Systematik verwendet (vgl. hierzu insbesondere Carl Schmitt: Der Nomos der Erde. Köln 1950, S. 28ff., der den Begriff ins Zentrum jeder christlichen Historik, also der Heilsgeschichte stellt), sondern als wissenschaftsgeschichtliche Metapher, die verdeutlichen soll, dass nur aus der Perspektive der Theologie Reimarusʼ Bibelkritik als Verlustgeschäft beschrieben werden kann, während sie aus der Sicht einer säkularen Wissens- und Wissenschaftsgeschichte als Verhinderung der durch Buffon und Linné schon inaugurierten säkularen Naturforschung beurteilt werden muss. 76 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 2, vgl. auch ebd., Vorrede [unpag., S. III], ebd., S. 16; ebd., S. 185 u. ö.

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Von diesen Trieben gibt es bei den Tieren vielfältige Ausprägungen, die in drei Gruppen einzuteilen sind: mechanische Triebe, Vorstellungtriebe, willkürliche Triebe. Dabei ist für das systematische Selbstverständnis dieser Naturtheologie von entscheidender Bedeutung, dass jenes scheinbare Aggregat von Trieben tatsächlich ein System ist,77 weil jede ihrer Erscheinungsformen aus einem Grundtrieb abzuleiten ist; im Zusammenhang der willkürlichen Triebe der Tiere heißt es nämlich: Was aber solche willkürliche Triebe betrifft, welche den Thieren ganz natürlich sind: so haben wir zuvörderst den allgemeinen Grundtrieb aller Thiere zu betrachten, ehe wir zu den besondern Trieben kommen. Es ist nämlich überhaupt allen Thieren, als Thieren, und selbst dem Menschen, ohne und vor dem Gebrauche der Vernunft, natürlich, daß ein jedes sein und seines Geschlechtes Erhaltung und Wohlfahrt zu befördern bemüht ist; und darinn müssen alle besondere willkürliche Triebe, die nach jedes Lebensart und Bedürfnissen sehr verschieden seyn können, allgemeinen Grund haben. Man kann diesen allgemeinen Grundtrieb der Thiere eine Selbstliebe heißen, wenn man nur die Liebe zu den Jungen nicht davon ausschließt, indem sich doch ein jedes Thier in seinen Jungen selbst liebet.78

Diese prima vista stoische Konzeption, nach der die Liebe zum artgleichen Anderen eine Form der Selbstliebe ist,79 ist insofern von konstitutiver Bedeutung für diese animalische Triebtheorie, als Reimarusʼ wissenschaftsstrategisches Systematisierungsinteresse deutlich wird, das keineswegs ausschließlich mit theologischen Kategorien arbeitet, nach dem die Einheit der natürlichen Erscheinung in ihrer Geschöpflichkeit liegt – darauf wird der Hamburger Theologe noch zurückkommen. Vielmehr zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass er die ambitioniertesten oder auch nur in der säkularen Naturforschung allgemein akzeptierten Begriffe, Kategorien und Grundsätze aufnehmen kann, ohne von seinen theologischen Absichten abzurücken.80 Dabei ist die Grundsätzlichkeit der Selbstliebe – weniger für das Tier als für den Menschen – allein deshalb problematisch, weil sie theologisch gegenüber der Gottesliebe abkünftig ist; bei Pufendorf, Locke und Wolff81 oder noch Mendelssohn82

|| 77 Vgl. ebd., S. 3: »Allein, ich kann doch nicht unbemerkt lassen, daß alle drey Arten mit einander in der genauesten Verknüpfung stehen, und einander zur Erhaltung und zum Wohl jedes Thieres und seines Geschlechts auf alle Weise behülflich sind.« 78 Ebd., S. 60. 79 Vgl. Marcus Tullis Cicero: De officiis / Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch-Deutsch. Hg. von Heinz Gunermann. Stuttgart 1995, S. 12f./13f. (I, 4 11). 80 So auch Cassirer: Philosophie der Aufklärung (s. Anm. 14), S. 213f., wenngleich überraschend unkritisch. 81 So Samuel von Pufendorf: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Hg. und übersetzt von Klaus Luig. Frankfurt a. M. 1994, S. 40f. (1.2.6); John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Hg. von Walter Euchner. Frankfurt a. M. 1977, S. 203; Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worinnen alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigem Zusammenhange hergeleitet werden. Halle 1754, S. 27 (§ 41).

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sind Selbstliebe und Liebe zum Anderen als Pflicht gar nur Erscheinung der ursprünglichen Pflicht einer Liebe zu Gott. Das ist auf das Tier, dem es an Vernunft und damit für Reimarus an Glauben mangeln muss, aber offenbar auch auf den Menschen (als Tier) nicht zu übertragen. In der Natur ist der Trieb zur Selbsterhaltung und damit die Selbstliebe als ursprünglicher Trieb angelegt und als solcher Ausdruck der Weisheit und Güte des Schöpfers, weil er ohne Schwierigkeiten mit der Liebe zum Anderen kompatibel ist. Dabei ist Reimarusʼ Lösung des Problemverhältnisses von tierischer ›Selbstliebe und Geselligkeit‹, die als gleichzeitig wirksame Triebe sich an sich ausschließen müssten – womit sich die Natur selbst widerspräche, was unmöglich ist – scheinbar ebenfalls eine stoische, die schon 1759 in einem europaweit intensiv diskutierten System reaktualisiert wurde,83 nämlich in Claude-Adrien Helvétiusʼ De l’Esprit: Die Liebe zu den anderen, zumindest den eigenen Kindern, wird als Erscheinungsform der Selbstliebe interpretiert und damit als potentieller Widerspruch zu ihr eliminiert.84 Reimarusʼ Lösung dieses Problems erweist sich aber als eine grundlegend abweichende Konzeption: Die Gleichursprünglichkeit und Gleichzeitigkeit von Selbsterhaltung und Arterhaltung ist in den Kunstrieben der Tiere nur der Weisheit und Güte des Schöpfers zu verdanken, durch die allein eine Rangordnung des Triebs zu Selbsterhaltung und der Erhaltung der Artgenossen unnötig, aber auch ihre gleichrangige Gegensätzlichkeit aufgelöst wird. Aus dem Grundtrieb zur Selbsterhaltung als Selbstliebe entwickeln sich bei den Tieren die schon genannten Triebgruppen mechanische Triebe, Vorstellungstriebe und Willkürtriebe: Es giebt mechanische Triebe, welche dem Körper, als einer Maschine, zukommen, und, ohne des Thieres Vorstellung und Willkühr, solche Handlungen zu verrichten bemüht sind, die das Leben unterhalten. Es giebt Vorstellungs-Triebe, oder ein Bemühen der Seele, sich der Dinge, nach dem gegenwärtigen und vergangenen Zustande ihres Körpers, bewußt zu seyn. Es giebt willkührliche Triebe, das ist, ein Bemühen der Seele, dasjenige, was nach ihrer Empfindung und Vorstellung Lust verspricht, durch gewisse Handlungen zu erhalten, und was mit Unlust drohet, zu entfernen.85

Ihrem Status als Lebewesen bzw. belebter Natur gemäß kommen Tieren also natürlich-unverfügbare Vorgänge zu, wie etwa der Stoffwechsel, die ihrem Vorstellungsund Handlungsvermögen entzogen sind; es kommen ihnen ebenfalls Antriebe zu,

|| 82 Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. In: ders.: Ausgewählte Werke. Studienausgabe. 2 Bde. Hg. von Christoph Schulte, Andreas Kennecke und Grażyna Jurewicz. Darmstadt 2009, S. 150. 83 Vgl. hierzu Roland Krebs: Helvétius en Allmagne ou la tentation du matérialisme. Paris 2006. 84 Vgl. hierzu Claude-Adrien Helvétius: Vom Geist. Aus dem Französischen übersetzt von Theodor Lücke. Berlin, Weimar 1973, S. 125ff. 85 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 2.

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die ihnen eine vor- bzw. außerrationale Gewahrnehmung ihrer Umwelt ermöglichen; und es kommen ihnen Handlungsantriebe zu, die sie zu einer Vermehrung der Lust und Vermeidung von Unlust in die Lage versetzen. Die Erklärung dieser Vorgänge verbleibt aber nach Reimarus, der sich hier der aktuellsten Forschungen bedient, im Rahmen natürlich-innerweltlicher Rekonstruktionen. Als eine spezifische Vermittlung – nicht etwa als eigenständiger Grundtrieb – dieser Gruppe erweist sich nun der natürliche »Kunstrieb«. Dabei unterscheiden sich diese Kunsttriebe von den zuvor ausführlich entwickelten mechanischen Trieben, den Vorstellungstrieben und den willkürlichen Trieben, dadurch, dass sie zu komplexen Fertigkeiten veranlassen bzw. antreiben, d. h. determinieren, und dabei zugleich Realisationsspielräume lassen; sie sind notwendig und willkürlich zugleich; es geht folglich um »angeborenen Kunsttriebe«: Eine regelmäßige Fertigkeit in willkürlichen Handlungen die zu einem gewissen Zwecke führen, und doch vielfältige Abweichungen leiden, nennt man Kunst (als techné). Da nun Thiere, von Natur, in ihren willkürlichen Handlungen solche regelmäßige Fertigkeiten zu ihrer und ihres Geschlechtes Erhaltung und Wohlfahrt besitzen, wo an sich vielfältige Abweichungen möglich wären, so besitzen sie von Natur gewisse angeborene Künste. Und da jedes Thier ein natürliches Bemühen, d.i. einen Trieb hat, seine angeborenen Künste zu seinen Bedürfnissen auszuüben, so haben die Thiere, jedes nach seiner Art gewisse natürliche Kunsttriebe, welche sie geschickt machen, die besondern Mittel zu ihrer und ihres Geschlechtes Erhaltung und Wohlfahrt, mit einer regelmäßigen Fertigkeit anzuwenden.86

Die Eigentümlichkeit und damit Erklärungsbedürftigkeit der Kunstriebe bei Tieren besteht mithin darin, dass sie weder einer Freiheit des Willens noch den Einsichten der Vernunft noch gar einer Erfahrungsakkumulation zu verdanken sind, und doch erstens willkürlich sind, zweitens aber angeboren, d. h. dass sie eine technische Fertigkeit implizieren, die aber nicht erworben ist, und dass all diese widersprüchlichen Elemente eines und desselben Triebes auf das telos der Erhaltung und der Wohlfahrt bzw. der Glückseligkeit des Individuums und der eigenen Art ausgerichtet sind.87 Ausdrücklich stellt Reimarus immer wieder fest, dass den Tieren diese bisweilen hochkomplexen Fähigkeiten der Kunstriebe weder durch Vernunft (die sie nicht haben) noch durch Erfahrung zukommen können: Es haben aber die Thiere in der That keine Vernunft, noch irgend einen eigentlichen Grad davon, sondern bloß niedrige Seelenkräfte, die nur eine undeutliche und verworrene Vorstellung des Gegenwärtigen und Vergangenen gewähren können. Dazu fehlet es ihnen an Unterricht und Sprache, und, guten Theils, an Erfahrung und Beyspielen. Ihnen sind also alle Quellen der Erkenntniß, aus welchen wir Menschen schöpfen, verstopft.88

|| 86 Ebd., S. 94f. 87 Vgl. hierzu auch Zammito: Herder between Reimarus und Tetens (s. Anm. 25), S. 129ff. 88 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 368.

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Und dennoch sind sie von Geburt an zu jenen komplexen Handlungen, die ihnen ihre Kunstriebe ermöglichen, in der Lage. Reimarus denkt an den Vogelflug ebenso wie an die Befähigung gerade geschlüpfter Riesenkröten, ins Wasser zu streben, er denkt an die Fähigkeit zur Aufzucht von Nachwuchs ebenso wie an die Fluchtreflexe von Antilopen. Entscheidend ist, dass diese Triebe bisweilen hochkomplexe Befähigungen beinhalten und doch nicht erlernt wurden, weil das Tier zwar in bestimmten seiner Erscheinungen überhaupt etwas lernen kann, nicht aber diese komplexen Kunstfertigkeiten: Ein großer Theil der Kunstriebe wird von der Geburt an, ohne alle äußere Erfahrung, Unterricht, oder Beyspiele, und doch ohne Fehl ausgeübet, und sind also gewiß natürlich angeboren und erblich.89

Darüber hinaus haben diese Triebe keinerlei Geschichte bzw. Entwicklung; sie waren von Anfang aller Zeiten, also seit Anbeginn der Schöpfung, immer schon so, wie sie sich uns jetzt präsentieren; mit einem prägnanten Beispiel macht Reimarus diese Grundbestimmung der Kunsttriebe der Tiere anschaulich: Die Spinne webt nichts besser und nichts schlechter als im Paradiese.90

Solcherart Kunsttriebe der Tiere gibt es eine ganze Fülle, insgesamt 57,91 die man allerdings in 10 Gruppen bzw. Klassen untergliedern kann, wobei die Einteilungskriterien sich auf die Bewegung der Tiere, deren natürliches Element, die Klimabedingungen, die Nahrung, die Überlebensstrategien in der Natur,92 die Fortpflanzung, den Nachwuchs, die Vergesellschaftung sowie die Befähigung zur Modifikation der Triebe durch Zähmung erstrecken. Reimarus zeigt sich hier ehrgeizig, zwar muss er den Bescheidenheitstopos einflechten, die Auflistung sei sicher noch nicht abgeschlossen, gleichwohl wird dieser Klassifizierung der Status weitgehender Vollständigkeit zugeschrieben. Zudem fordert er jeden Kenner der Natur und jeden Liebhaber der Wissenschaft auf, ihm weitere dieser Triebe zu nennen: Ich denke, daß ich, wo nicht alle, doch wenigstens die vornehmsten Kunsttriebe der Thiere unter dieser Classenordnung befasset habe. Wenn aber noch etwas darinnen vergessen wäre, so werde ichs mit vielem Danke erkennen, wenn ich daran erinnert werde. Und eben darum habe

|| 89 Ebd., S. 160. 90 Ebd., S. 159. 91 Ebd., S. 141–146. 92 Nur en passant sei darauf hingewiesen, dass es einen ›Survival of the Fittest‹ noch nicht geben konnte, von dem er allerdings nicht allein im Hinblick auf seine interne Rationalität, sondern vor allem auf seine strenge Innerweltlichkeit unterschieden ist; vgl. hierzu erneut Lefèvre: Die Entstehung (s. Anm. 66), S. 77.

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ich diese allgemeine Abhandlung voran gehen lassen, um Kennern der Natur und Liebhabern der Wissenschaften zu solchen freundschaftlichen Erinnerungen Gelegenheit zu geben.93

Diese Aufforderung ist aber – bei aller zurückhaltenden Rhetorik – keine Anregung zur fakultativen Kooperation mit einer scientific community, sondern, weil es um den Nachweis der Weisheit und Güte des Schöpfers geht, im Kern natürlich theologische Glaubenspflicht. Daher muss eine These der neueren Forschung, nach der diese ausdifferenzierte Naturlehre des Reimarus nicht mehr nur theologische Absichten verfolge, sondern ein einzelwissenschaftliches Eigenleben erhalten habe,94 falsifiziert werden. Immer wieder: im Zusammenhang des Phänomens, dass junge Tiere sich triebkonform verhalten, auch wenn die Bedingungen noch nicht ausgeprägt sind – junge Eber, die mit nicht vorhanden Stoßzähnen raufen –, heißt es mit Nachdruck zur Verteidigung einer teleologischen Naturperspektive gegen einen jeden säkularen Mechanizismus: Ueberhaupt dienet eben diese Begebenheit zur Rechtfertigung der Absichten in der Natur, und die Ungereimtheit der epicureischen Meynung darzuthun, als ob wir nicht Augen hätten, damit wir sehen könnten, sondern nur zufällig sähen, weil wir Augen hätten.95

Und dabei steht der Epikureismus nicht gleichsam ideengeschichtlich für eine bestimmte Philosophie, sondern systematisch für streng mechanistische und so säkulare Naturforschung überhaupt, die den tatsächlich nur theologisch zu erklärenden Phänomenen hilflos gegenüber stünde. Ein vergleichbares, nun aber nicht zur Abgrenzung charakteristisches Beispiel zeigt sich bei der Darstellung der Unfähigkeit vieler Tiere, in ihrer ›Kindheit‹ für die eigene Selbsterhaltung zu sorgen, die mithin schutz- und pflegebedürftig sind; dazu heißt es bei Reimarus: Nun ist es aber eine Weise und gütige Anordnung, daß sich der Aeltern Liebestrieb auf dergleichen hülflose Brut und Jungen erstrecket: diese lassen nachmals ihrer Nachkommenschaft eben die ämsige Vorsorge wiederfahren, welche sie in ihrem ersten Alter genossen haben.96

Es ist ja gerade das Problem, dass sich natürliche Gründe, d. h. Ursachen für diese Elternliebe nicht auffinden lassen, weshalb der Materialist Hißmann dies als List der Natur bezeichnet, die nur solange andauert, bis die Brut selber überleben kann.97 Für Reimarus ist die Unmöglichkeit einer natürlichen Erklärung der zwischen Frei|| 93 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 146. 94 Franz, Müller: Der Mensch-Tier-Vergleich (s. Anm. 57), S. 114; Kempski: Reimarus als Ethologe (s. Anm. 59), S. 446. 95 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 168, § 95. 96 Ebd., S. 170, § 96. 97 Vgl. hierzu Michael Hißmann: Untersuchungen über den Stand der Natur. Lemgo 1780, S. 62ff. [ND: Ausgewählte Schriften. Hg. von Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin 2012, S. 182ff.].

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heit und Notwendigkeit, Allgemeinem und Besonderem, Kunst und Natur ›frei schwebenden‹ – also begrifflich schwer fixierbaren – angeborenen Kunstriebe jenes Geschenk seines Schöpfers, dessentwegen er die Studie überhaupt verfasst, denn sie drängt zu einer Erläuterung durch dessen Größe: Die Kunsttriebe der Thiere sind demnach keine Vollkommenheiten, welche sie selbst durch andere Kräfte erworben hätten, sondern angeborene und völlig determinirte Grundkräfte jener Arten der Thiere, welche, so wie die Thierarten selbst, ihren ersten Ursprung ausser der Natur in einem Wesen haben müssen, das die Einpflanzung dieser Triebe in die Natur durch eine Einsicht aller möglichen Vollkommenheiten, nach den Bedürfnissen jeder Arten des Lebens, zu ihrer Wohlfahrt abgemessen hat. Wir sehen also in diesem Theile der Natur […] einen Geist, der alle wesentliche Bestimmungen der endlichen Dinge und ihrer Kräfte, die zu dem frohen Genusse jeder Art des Lebens nöthig und dienlich waren, aufs deutlichste und auf einmal übersah: einen Werkmeister, der die leblose Natur mit der lebendigen zur Uebereinstimmung zu bringen mußte: einen Erfinder und Geber aller nicht nur mechanischen Gesetze, Regeln und Ordnung, sondern auch der regelmäßigen Künste und Geschicklichkeiten in den Seelen, durch welche er die Vollkommenheit des Ganzen und jeder Theile nicht allein zur Wirklichkeit bringen, sondern auch stets erhalten wollte: kurz, das weiseste und gütigste Wesen, welches seine Vorsorge und Liebe auch auf diejenigen Geschöpfe erstrecket hat, die ihren Schöpfer nicht erkennen, oder mit Danke und Hochachtung verehren können.98

4 Appendix: Reimarus – ein Aufklärer? Die physikotheologische Naturlehre des Hermann Samuel Reimarus ist vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen nur schwerlich als Radikalaufklärung zu qualifizieren. Der Nachweis der Weisheit und Güte des Schöpfers ist ihr nicht als äußerliches Ornat, sondern bis in die Begriffs- und Kategorienbildung als deren Grund und Zweck zuzuschreiben. Wenn der historiographische Ordnungsbegriff einer ›Radikalen Aufklärung‹ irgend ausschließenden Charakter haben können soll,99 dann muss dieser Position im Mindesten strenge Säkularität, wenigstens aber innerweltliche Argumentation und Systematik zugeschrieben werden, von der sich Reimarus aber ausdrücklich abgrenzt. Der Atheismus – vom Hamburger Theologen bewusst nicht von säkularer Theorie unterschieden – bleibt für ihn auch in der Naturforschung ein »unglücklicher Wahn«. Zwar hat Reimarus ohne jeden Zweifel auf die Grenzen einer rein mechanistischen Naturwissenschaft hingewiesen, die Berechtigung wird spätestens die Kritik der Urteilskraft ausweisen. Gleichwohl nutzt er diese teleologische Leerstelle in der

|| 98 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 13), S. 372. 99 Zu einer überzeugenden Kritik an diesem Konzept vgl. Winfried Schröder: Radikalaufklärung in philosophiehistorischer Perspektive. In: Radikalaufklärung. Hg. von Jonathan I. Israel und Martin Mulsow. Frankfurt a. M. 2014, S. 187–202.

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Naturforschung ausschließlich dazu, seine theologischen Interessen zu verwirklichen und Gott, Vorsehung und Unsterblichkeit in die Stelle wieder einzusetzen, aus der sie von der mechanizistischen Naturforschung vertrieben wurden.100 Diese kritische Zurückweisung des Prädikats einer ›Radikalaufklärung‹ für die reimarussche Naturlehre kann darüber hinaus dazu veranlassen, wenigstens tentativ die Frage nach dem Ort auch der natürlichen Theologie des Hamburger Theologen im Tableau der Aufklärung und ihrer unterschiedlichen Ausprägungen zu stellen: Unbestreitbar ist seine Kritik aller Offenbarungstheologie am Leitfaden der Vernunft eine Form von Aufklärung, die u. a. die sozianische Frühaufklärung fortschreibt.101 Zugleich enthält seine Argumentation noch der späten Apologie Momente, die selbst eine Zuweisung zu einer moderaten Aufklärung, ja zur Aufklärung überhaupt erheblich erschweren: Dazu zählt neben den Verdikten gegen Materialisten, Atheisten und Epikureern zum einen auch die vorurteilsgesättigte, parteiische Auseinandersetzung mit dem Katholizismus. So heißt es schon in Buch I im Zusammenhang konfessioneller Toleranz: Denn die Catholischen Mächte und Geistlichen dulden in ihren Ländern, wo das Papstthum herrscht, ohne Unterschied, keine einzige fremde Religion; ein jeder Einwohner und Bürger soll und muß sich zu dem altkatholischen Glauben bekennen, oder das Land räumen. Die Protestanten hingegen sind gemeiniglich für die Tolerantz und verstatten sonst allen Secten in und ausser der Christenheit ein freyes Bekenntniß und einen öffentlichen Gottesdienst unter sich, ohne davon Unruhen im Staat zu befürchten oder im geringsten zu erfahren.102

Zwar geht es Reimarus vor allem um jegliche Intoleranz gegenüber Vertretern einer natürlichen Religion, und da werden auch Protestanten einer harschen Kritik unterzogen, weil sie lieber Aber- und Irrglauben duldeten, als jede vernünftige Religion. Aber die besondere Schärfe der Kritik am intoleranten Katholizismus ist nicht zu übersehen. Das setzt sich fort im 5. Kapitel des Buches I, das sich mit den Werkheiligen und Heuchlern befasst, die – neben vielen anderen Formen – zum Verderben des Christenthums führten; erneut werden hier die Papisten mit ihrem Mönchs- und Klosterwesen schärfer in den kritischen Blick genommen als der Protestantismus.103

|| 100 Das unterscheidet ihn noch von Christian Wolff, der seine Teleologie keineswegs als Teil der Natürlichen Theologie begriff, sondern beide Wissenschaften in Methodik und Systematik deutlich trennte, wenngleich auch seine Teleologie eine empirische Verifikation der in der natürlichen Theologie entwickelten Weisheit und Vernunft des Schöpfers zu liefern hatte (vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge [Deutsche Teleologie]. Frankfurt a. M., Leipzig 21726, S. 18ff.). 101 Vgl. hierzu Sascha Salatowski: Die Philosophie der Sozinianer. Transformationen zwischen Renaissance-Aristotelismus und Frühaufklärung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2015. 102 Reimarus: Apologie (s. Anm. 15), S. 135. 103 Vgl. hierzu ebd., S. 160.

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Kann dieser antikatholische Affekt des Hamburger Theologen als Aufklärung in einem präzisen Sinne bezeichnet werden? Unbestreitbar überlassen sich auch andere bedeutende Aufklärer diesem Affekt, wie u. a. John Locke, an dessen Antikatholizismus sich jedoch die engen Grenzen seines Toleranzverständnisses und damit die Grenzen seiner Aufklärungsbereitschaft ermessen lassen.104 Noch ein weiteres Moment dieser ›Apologie des Christentums‹ in seiner einzig möglichen Variante als natürliche Religion muss zum anderen in diesem Zusammenhang auffällig wirken: Reimarus gefällt sich in einem irritierenden Maße an einer herablassenden Kritik des so genannten »Pöbels«, der u. a. in besonderem Maße zum religiösen Fanatismus neige: Der Pöbel kömmt nimmer in stärkere Wuht, als wenn seiner Meynung nach die Reinigkeit der Glaubenslehre in Gefahr ist; wer setzt Gut und Blut dabey auf dieselbe zu vertheidigen und begeht alle Grausamkeiten an denen so anders denken. Ein Beweis, wie hoch der Unverstand eine Sache schätzen kann, davon er die wenigste Kenntniß hat und den wenigsten Gebrauch macht.105

Diese soziale Fanatismuszuweisung wird aber an keiner Stelle historisch oder kulturell relativiert oder sozial erläutert; von einer ›Volksaufklärung‹, die zwar als Programm erst im späten 18. Jahrhundert entsteht, bedeutende Vorstufen jedoch in den 1720er und 1730er Jahren in Kameralistik106 und Wolffianismus107 erfährt, ist bei diesem Bibelkritiker nichts zu entdecken. Wie aber genau steht es dann mit ›Reimarus als Aufklärer‹? Bei allen Schwierigkeiten mit einem historiograpischen und notwendig zugleich systematischen Begriff von Aufklärung108 bleibt gleichwohl unbestreitbar, dass || 104 Vgl. hierzu Julius Ebbinghaus: Einleitung. In: John Locke: Ein Brief über die Toleranz. Englisch-deutsch. Übersetzt, eingeleitet und in Anmerkungen erläutert von Julius Ebbinghaus. Hamburg 21966, S. XIII–LXIV. 105 Reimarus: Apologie (s. Anm. 15), S. 120; vgl. auch ebd. S. 129. 106 Vgl. hierzu Holger Boning, Reinhard Siegert (Hg.): Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. 3 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990ff., Bd. I [Holger Boning (Hg.): Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990], S. XIIIff. 107 Vgl. hierzu Gideon Stiening: Von Despoten und Kriegern. Literarische Reflexion auf den sensus communis politicus bei Christoph Martin Wieland und Johann Karl Wezel. In: Denken fürs Volk. Popularphilosophie vor und nach Kant. Hg. von Christoph Binkelmann und Nele Schneidereit. Würzburg 2015, S. 35–56. 108 Überhaupt stellt sich unabweisbar die Frage, ob denn eine Theologie in ›Zeiten der Aufklärung‹ tatsächlich noch eine ›aufgeklärte Theologie‹ sein kann, weil nicht nur weite Teile der zeitgenössischen Metaphysik eine rationale Notwendigkeit ausweisen, die sich des Gottesbegriffes entledigen kann und muss (vgl. Wolff: Deutsche Teleologie [s. Anm. 100], S. 21ff.), sondern auch empiristische Epistemologien entworfen werden, die alle Theologie für unmöglich erklären (David Hume: Untersuchungen über den menschlichen Verstand. Hg. von Herbert Herring. Stuttgart 1994, S. 207), oder – wie gesehen – die international erfolgreiche Naturforschung sich immerhin streng säkular defi-

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Reimarus mit seiner harschen Kritik an Materialismus, Epikureismus und Atheismus, aber auch am Katholizismus und dem Volk als »Pöbel« wenig zur Transformation des ›Zeitalters der Aufklärung‹ in ein ›aufgeklärtes Zeitalter‹ beigetragen hat.

|| niert und selbst bedeutende Bereiche der Ethik und der Politischen Theorie sich als rein weltliche Wissenschaften verstehen (vgl. hierzu u. a. Kurt Bayertz: Ethik/Moral. In: Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung. Hg. von Heinz Thoma. Stuttgart, Weimar 2015, S. 181– 192); ab 1781 lässt sich im Rahmen jeder rationalen Argumentation aus systematischen Gründen überhaupt nicht mehr auf eine Gottesinstanz, d. h. deren Schöpfungsleistungen und soteriologische Funktionalität zurückgreifen; aber gilt das – wenn systematisches Argument – tatsächlich erst – gleichsam historistisch – ab 1781?

| 3 Naturphilosophie und Anthropologie

Mischa von Perger

Zum Unendlichkeitsbegriff bei Hermann Samuel Reimarus Reimarus’ Werk Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion […] auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet erschien in erster Auflage 1754, die zweite folgte bereits ein Jahr später. Der erste längere Exkurs in diesem Buch betrifft den Begriff des Unendlichen.1 Nach Reimarus stehen die derzeit lebenden Menschen und Tiere am vorläufigen Ende einer Ursachenkette, und er lehnt die Ansicht ab, diese Kette sei, so wie sie sich zurückverfolgen lasse, unendlich. Diese Abweisung erfolgt von der Definition des Unendlichen und seines positiven Gegenbegriffs, des Endlichen, her. Reimarus schreibt: Wenn man nicht mit Worten spielen will, so kann nichts eigentlich unendlich seyn und heißen, als dasjenige, dem nichts in seiner Art weiter kann hinzugefügt werden. Folglich ist alles dasjenige in der That endlich, oder eingeschränkt, dem sich noch ferner was hinzusetzen, oder das sich vermehren läßt. Denn in dem Puncte, so zu reden, wo das Wirkliche aufhört, und das fernere Mögliche derselben Art angehet, da ist das Ende, oder da sind die Schranken des Dinges.2

Reimarus erhärtet diese Definition, indem er das Beiwort endlich mit verschiedenen Subjekten verbindet und jeweils feststellt, dass der angegebene Sinn des Beiworts sich bewahrheite.3 Dem Leser der Vornehmsten Wahrheiten wird diese Begriffsbestimmung als ohne Weiteres einleuchtend präsentiert. Doch findet sich eine Vorform der Definition samt einigem an argumentativer Arbeit, der sich diese frühere Fassung verdankt, in einem von Reimarus dreißig Jahre früher veröffentlichten lateinischen Aufsatz: De Natura Infiniti Mathematici Observatio (Beobachtung über die Natur des mathematischen Unendlichen).4

|| 1 Siehe Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandelungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet. Hamburg 1754, S. 9–26 (1. Abhandlung, §§ 6–10). 2 Ebd., S. 18 (1. Abhandlung, § 8). 3 Siehe ebd., S. 18f. 4 Hermann Samuel Reimarus: De Natura Infiniti Mathematici Observatio. In: Iusti Sinceri Vermischte Neben-Stunden, darinnen allerhand Observationes, von Verschiedenen zur Theologie, Philosophie, und Litteratur, gehörigen Sachen, enthalten sind. 3. Stück, Wismar 1724, S. 135–167. Neuausgabe (mit Angabe der originalen Paginierung) in: ders.: Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Wilhelm SchmidtBiggemann. Göttingen 1994, S. 207–232. In den folgenden Nachweisen ist jeweils zuerst die Seitenzahl des Originaldrucks, dann, durch Schrägstrich getrennt, die der Neuausgabe genannt. Die Neuausgabe ist vom Herausgeber durch wertvolle Quellennachweise und sonstige Anmerkungen https://doi.org/10.1515/9783110726558-012

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1 Reimarus’ erste Definition des Unendlichen (1724) Reimarus hat seinen Aufsatz in 61 Paragrafen unterteilt. Anhand themengebender Stichworte lassen sich diese Abschnitte in vier Kapitel gruppieren, von denen das vierte wiederum vier Unterkapitel hat. 1. Thematische Einleitung § 1: Das ›wahrhaft und eigentlich‹ (transzendent) Unendliche können wir nicht begreifen, sondern nur durch eine Idee fassen, durch die ihm nichts Falsches zugesprochen wird und durch die es von allem anderen unterschieden werden kann. Von ihm zu unterscheiden ist das, was in Zahl, Zählbarem, Raum, Zeit, Bewegung und Körpern ins Unendliche vermehrt oder geteilt werden zu können und insofern unendlich zu sein scheint §§ 2f.: Unbegreiflich ist, dass ein endlicher Körper aus unendlich vielen bestehen soll und dass eine Linie oder etwa das Leben der menschlichen Seele einen Anfangspunkt haben und dennoch unendlich sein soll. § 4: Der Autor überwindet persönliche Skrupel, dass die Beschäftigung mit diesen Problemen spitzfindig, ›scholastisch‹-pedantisch und unergiebig sein könnte. Er beruft sich für die hohe Bedeutung der Frage nach der nicht-transzendenten Unendlichkeit auf Aristoteles. 2. Das wahrhaft und eigentlich Unendliche § 5: Definition ex negativo des ›wahrhaft und eigentlich‹ Unendlichen. § 6: Erläuterung der Definition; ihre Überlegenheit gegenüber einer von Cicero überlieferten Definition und vier von Aristoteles benannten Arten des Unendlichen. §§ 7–9: Abgrenzung des Unendlichen von Sukzessivität, Anfang und Ende, Kontingenz und Abhängigkeit. 3. Die nur metonymisch unendliche Zahl § 10: Definition der Zahl. §§ 11–23: Abgrenzung des wahrhaft und eigentlich Unendlichen von der wesentlich endlichen Zahl, deren Ursprung jenes Unendliche ist. Bestimmung der angeblichen Unendlichkeit der Zahl als Metonymie: Das Prädikat der Ursache wird auf die Wirkung übertragen. § 24: Überlegungen zur Möglichkeit, das, was die Mathematiker ›unendlich‹ (infinitum) nennen, als ›unbestimmt‹ (indefinitum) zu verstehen. Die Unmöglichkeit, diesen Sprachgebrauch philosophisch zu rechtfertigen. John (richtig: Jo-

|| ergänzt worden (ebd., S. 604–623). Siehe dazu und zu einigen wenigen Textfehlern dieser Ausgabe die Zusätze und Korrekturen im Anhang des vorliegenden Aufsatzes (Abschnitt 6.1).

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seph) Raphsons Thesen als Beispiel für die Irrtümer, in die man gerät, wenn man die Unendlichkeit der Zahl nicht metonymisch versteht. 4. Das nur metonymisch unendliche Zählbare 4.1 Das Zählbare im Allgemeinen §§ 25f.: Definition der zählbaren Sache und Herleitung ihrer Attribute von der Zahl. 4.2 Individuen innerhalb einer Art §§ 27f.: Definitionen des Individuums und der Art (species). § 29: Die Art besteht nicht eigentlich aus unendlich vielen Individuen. §§ 30–32: Es gibt nicht eigentlich unendlich viele Welten. 4.3 Das Ausgedehnte, die materielle Welt und der Raum §§ 33–38: Insofern sie zählbar sind, sind das Ausgedehnte, die materielle Welt und der Raum nicht eigentlich unendlich und sind sie auch nicht Gott oder Attribute Gottes. §§ 39f.: Die Hinfälligkeit der diesbezüglichen Irrtümer bei Spinoza, bei den Vertretern der Emanation auch der Körper aus Gott, bei Descartes und bei denjenigen, die, wie Raphson und Andreas Rüdiger, Gott Ausdehnung zuschreiben. Die Nicht-Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Raum als der Grund dieser Irrtümer. §§ 41–46: Die Materie besteht nicht eigentlich aus unendlich vielen Atomen; sie ist nur metonymisch ›ins Unendliche‹ teilbar. 4.4 Die Zeit und das, was in ihr ist §§ 47–60: Weder die Zeit noch was in ihr ist, ist eigentlich unendlich. § 61: Da sich der Zeit und den sie ausmachenden Veränderungen immer etwas hinzufügen lässt, kann Gott in seiner unendlichen Macht veränderliche Dinge ins metonymisch Unendliche bestehen lassen. Dies will er, laut Offenbarung, bei der materiellen Welt nicht tun, wohl aber, laut Vernunft und Offenbarung, bei der menschlichen Seele. Am Angelpunkt seines Aufsatzes (§ 5) definiert Reimarus das Unendliche wie folgt: »Das wahrhaft und eigentlich Unendliche« sei »das wahre Seiende, dem es widerstreitet, dass ihm etwas auf irgendeine Weise hinzugefügt oder weggenommen werden könne«.5 Drei Merkmale vor allem unterscheiden die frühere von der späteren Definition: Zum einen ist in der früheren Definition dasjenige, das man dem Unendlichen nicht hinzufügen könne, nicht weiter bestimmt, sondern nur durch den Ausdruck

|| 5 Reimarus: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 4), S. 139/210 (§ 5): »[…] per infinitum, vere ac proprie ita dictum, intelligo verum ens, cui repugnat addi vel demi aliquid, posse quocunque modo.«

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etwas (aliquid) bezeichnet; die Einschränkung auf Gleichartiges fehlt noch. Sie fehlt allerdings nur in der Formulierung; der Sache nach denkt Reimarus schon damals nur an die Hinzufügung von Gleichartigem zu Gleichartigem. Das zeigt sich etwa daran, dass er den Vorgang, in dem zu etwas Existierendem etwas ›hinzugefügt‹ werde, als eine Art von ›Veränderung‹ (mutatio) jenes Existierenden benennt.6 Zum anderen definiert Reimarus in der frühen Schrift das Unendliche nicht bloß als eine Eigenschaft, sondern als ein Subjekt mit einer (negativen) Eigenschaft: als »das wahre Seiende«, dem ein gewisses Attribut widerstreite. Die Tragweite dieses zweiten Merkmals der früheren Definition ist von sich aus nicht klar. Es könnte sich um eine bloße Formulierungsvariante handeln: um die Substantivierung des Adjektivs ohne Änderung des Wortsinns. Doch scheint Reimarus hier durchaus mit Bedacht das Unendliche in Subjektform zu fassen. Denn mit besagter Definition behauptet er ein positives Unendliches, im Unterschied zum negativen, dem Nichts, für das ebenfalls gelte, dass ihm nichts auf irgendeine Weise hinzugefügt oder weggenommen werden könne, das aber eben kein ›wahres Seiendes‹ sei.7 Die Abgrenzung vom negativen Unendlichen genügt jedoch nicht, denn auch ein positiv verstandenes Unendliches lässt sich traditionsgemäß verschieden bestimmen. So stellt Reimarus seine Definition auch gegen andere Definitionen und Differenzierungen des Unendlichkeitsbegriffs, die ebenfalls auf etwas zielen, das positiv ›ist‹. Diese von ihm abgelehnten Begriffsbestimmungen stammen aus der antiken Philosophie. Die erste findet sich bei Cicero. Dieser bestimmt im Referat eines Epikur zugeschriebenen Arguments das Endliche als ein solches, das ein Äußerstes (extremum) habe, und das Unendliche als ein solches, das kein Äußerstes habe.8 Reimarus nimmt die letztere Aussage definitorisch und kritisiert an ihr, sie || 6 Siehe ebd., S. 141/211 (§ 7). 7 Ebd., S. 140/210 (§ 6): »Verum autem ens dico esse, ut distinguatur ab infinito negativo, quod nihil est, cuique adeo nihil addi potest aut demi […].« 8 Cicero: De divinatione II, cap. 50. – Im originalen Druck ebenso wie in Schmidt-Biggemanns Neuausgabe von Reimarus’ Aufsatz (s. Anm. 4) ist an die Stelle des Großbuchstabens ›L‹, der als römisches Zahlzeichen für die Kapitelnummer 50 fungieren müsste, fälschlich die arabische Ziffer ›1‹ getreten (S. 140, Z. 14/S. 211, Z. 5 [§ 6]). Dieser Fehler geht auf Reimarus’ Quelle zurück, wo auch bereits die Angabe fehlt, dass Cicero an der besagten Stelle nicht in eigenem Namen spricht, sondern ein Argument Epikurs referiert. Siehe Hinrich (oder Heinrich) Klausing: De Infinito Mathematicorum, tanquam revera finito, dissertatio, qua ordinis sapientum in Academia Witembergensi decanus Henricus Klausing, Theol doct et prof p extr Mathem super ord idemque hoc tempore imperiali auctoritate constitutus Comes Palatinus, Philosophiae iuxta atque Artis Poeticae Candidatos ad summos honores a r g MDCC XVI. Pridie Kalend Mai distribuendos invitat. Wittenberg 1716 (Übersetzung des Titels: »Erörterung über das Unendliche der Mathematiker als eines in Wahrheit Endlichen, durch welche der Dekan der philosophischen Fakultät an der Wittenberger Akademie, Hinrich Klausing, Doktor der Theologie und außerordentlicher öffentlicher Professor der höheren Mathematik, derzeit durch kaiserliche Vollmacht auch zum Pfalzgrafen bestellt, die Kandidaten der Philosophie ebenso wie der Dichtkunst zur Verteilung der höchsten Ehren am 30. April des 1716-ten

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setze stillschweigend voraus, das Definierte habe Ausdehnung. Nur bei etwas Ausgedehntem, so ist er wohl zu verstehen, könne man die Frage nach dem Äußersten stellen (dann freilich auch gar nicht verneinen, dass es ein Äußerstes habe). Der Unendlichkeitsbegriff in diesem Sinne, so Reimarus weiter, lasse sich nicht auf Gott anwenden, da Gott nicht ausgedehnt sei. Offenbar will Reimarus, ohne eigens dafür zu argumentieren, das traditionelle (neuplatonische) Gottesprädikat unendlich gewahrt wissen.9 Ausdrücklich stellt er zwar keine definitionstheoretischen Überlegungen an, er lässt hier aber eine Vorsichtsregel fürs Definieren walten: Im Definiens darf kein Begriff vorkommen, der den Gegenstandsbereich des zu Definierenden einschränkt. Wenn der Begriff unendlich auf Gott anwendbar sein soll, darf in das Definiens dieses Begriffs nichts eingehen, was mit Gott nicht vereinbar ist; somit darf das Definiens hier nicht so ausfallen, dass mit ihm sinnvollerweise nur von Ausgedehntem die Rede sein kann. Die übrigen Definitionen, die Reimarus in jenem frühen Aufsatz nicht gelten lässt, gehen auf Darlegungen des Aristoteles zurück.10 Dieser unterscheide, so Reimarus, neben dem negativ Unendlichen vier Arten des positiv Unendlichen: 1. dasjenige, durch das der Durchgang unermesslich und ohne Abschluss ist, 2. dasjenige, durch das man kaum hindurchgehen kann, 3. dasjenige, was zwar von seiner Natur her den Durchgang gestattet, aber doch faktisch weder Ausgang noch Abschluss hat, 4. dasjenige, was entweder durch Hinzufügung oder durch Teilung oder durch beides unendlich ist. Ohne diese Arten des Unendlichen im Einzelnen zu diskutieren und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen, stellt Reimarus fest, keine von ihnen sei das Unendliche im eigentlichen Sinne, und dem entspreche Aristoteles’ inakzeptable Behauptung, ein Unendliches an sich (Reimarus nennt es altgriechisch autápeiron11) oder ein Unendliches als Substanz könne es nicht geben.12 Was Reimarus zu dieser Aristoteles-Kritik veranlasst, ist letztlich wohl wiederum die Funktion des Unendlichen als eines Gottesprädikats. Gott fällt offenbar unter keine der vier genannten Arten des positiv Unendlichen, und nur eine Bestimmung des Unendlichen, die für Gott gilt, kann im Rahmen von Reimarus’ theo-

|| Jahres nach Wiederherstellung der Gnade einlädt«), Abschnitt 2, S. (A3v). Zu Reimarus und Klausing siehe unten Anm. 20. 9 Siehe Reimarus: De Natura Infiniti Mathematici (s. Anm. 4), S. 140/211 (§ 6). Zur Unendlichkeit als neuplatonischem Gottesprädikat siehe Karl-Heinz Menke: [Art.] Unendlichkeit Gottes. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Dritte, völlig neu bearbeitete Auflage. Hg. von Walter Kasper. Sonderausgabe. Freiburg, Basel, Wien 2009, Bd. 10, Sp. 387f. 10 Siehe Aristoteles: Physik III 4, 204a 2–7, und Metaphysik XI 10, 1066a 35–b 1. 11 Reimarus: De Natura Infiniti Mathematici (s. Anm. 4), S. 140, Z. 29/S. 211, Z. 18 (§ 6). 12 Reimarus bezieht sich auf Aristoteles: Physik III 5, 204a 8–34, wo sich allerdings jene Zusammenziehung von autó ápeiron (204a 17f.) zu autápeiron nicht findet.

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logischem Interesse eine Bestimmung des Unendlichen im eigentlichen Sinne sein. – Somit behauptet Reimarus gegenüber der Konkurrenz zwei Vorzüge seiner Definition des Unendlichen: Sie schließe, anders als die epikureische Definition, Gott nicht unzulässigerweise aus ihrem Geltungsbereich aus, und sie betreffe, anders als die genannten aristotelischen Bestimmungen, das im eigentlichen Sinne und nicht das nur abgeleitet Unendliche. Die zuletzt angeführte aristotelische Bestimmung des Unendlichkeitsbegriffs – »all dasjenige, was entweder durch Hinzufügung oder durch Teilung oder durch beides unendlich ist«13 – zielt auf das Kontinuum im mathematischen Sinne. Pointierterweise negiert Reimarus in seiner Definition, die er ja im Zuge der Klärung des mathematischen Unendlichen aufstellt, eben die Möglichkeit, am wahrhaft Unendlichen die beiden Operationen der Hinzufügung und der Wegnahme (Teilung) auszuführen. Und dass Reimarus hier vom Unendlichen nicht nur (wie dann 1754 in den Vornehmsten Wahrheiten) verneint, man könne ihm etwas Gleichartiges – eine weitere Einheit – hinzufügen, sondern auch, man könne ihm etwas Gleichartiges wegnehmen, macht den dritten großen Unterschied zwischen beiden Definitionen aus.

2 Reimarus’ zweite Definition des Unendlichen (1754) Versteht man die Unendlichkeits-Definition in den Vornehmsten Wahrheiten (sie ist oben am Beginn des vorliegenden Aufsatzes zitiert) als eine Bearbeitung derjenigen aus De Natura Infiniti Mathematici, so nimmt Reimarus nunmehr die Angabe des Subjekts (›das wahre Seiende‹) aus dem früheren Definiens heraus und teilt sie auf. Den einen Teil (›das Seiende‹) zieht er in die Kopula, die das zu Definierende zum Prädikat macht, in Reimarus’ Sinne aber doch auch die Existenz des Prädizierten besagt. So stellt er das Ins-Unendliche-Fortlaufen und das Unendlich-Sein einander entgegen.14 ›Unendlich‹ heißt das, was existiert und dabei unendlich ist. Andererseits zeigt sich nun in eben dem, was unendlich ›ist‹, im Unterschied zu dem, was nur ›ins Unendliche fortläuft‹ oder ›ins Unendliche vermehrt werden kann‹, die ›wahre Unendlichkeit‹. Der andere Teil jener früheren Subjektbestimmung, das Attribut wahr (verum), wird von dem als Prädikat verstandenen und auf diese Funk-

|| 13 Siehe Aristoteles: Physik III 4, 204a 6f.: »ἄπειρον ἅπαν ἢ κατὰ πρόσθεσιν ἢ κατὰ διαίρεσιν ἢ ἀμφοτέρωϛ« (zitiert nach Aristoteles: Physica. Hg. von William David Ross. 6., korrigierte Aufl. Oxford 1977). 14 Siehe Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 19 (1. Abhandlung, § 8).

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tion beschränkten Definiendum aufgenommen. Auch in Formulierungen ex negativo ist dies ersichtlich, etwa in folgender: Dasjenige, was ins Unendliche vermehret werden kann, erreichet eben daher das Ziel der wahren Unendlichkeit nimmer […].15

Die frühere Definition kann den Anschein erwecken, als ließen sich das Adverb wahrhaft aus dem Definiendum und das Adjektiv wahr aus dem Definiens wegkürzen. Doch schon damals ist Reimarus’ Argumentation durchaus dazu geeignet, den gängigen, etwa mathematischen Anwendungsweisen des Begriffs unendlich ihr – wenngleich beschränktes – Recht einzuräumen. Ihnen wird der Status der Metonymie zugewiesen.16 Letztlich empfiehlt es sich daher der Deutlichkeit halber, die Auszeichnung der grundlegenden, die Metonymie erst ermöglichenden Definition beizubehalten, wonach diese Definition demjenigen gilt, was wahrhaft oder eigentlich den Begriff unendlich trägt. Die doppelte Bestimmung in der ursprünglichen Definition, wonach dem Unendlichen nichts hinzugefügt und nichts weggenommen werden kann, reduziert Reimarus in den Vornehmsten Wahrheiten auf die einfache Bestimmung, dass dem Unendlichen nichts hinzugefügt werden kann (nunmehr mit der Präzisierung, dass von der Hinzufügung von Gleichartigem zu Gleichartigem die Rede sei). Das muss nicht bedeuten, dass Reimarus jene frühere Definition nun als sachlich falsch ansähe. Er mag sie als sachlich richtig, jedoch als redundant erkennen: Wenn von etwas gilt, dass man ihm nichts Gleichartiges wegnehmen kann, dann kann man ihm auch nichts hinzufügen. Dieses ›Wenn-dann-Verhältnis‹ könnte auf zweierlei Weise gegründet sein. Zum einen ließe sich argumentieren, dass etwas, das insofern unendlich ist, als sich ihm nichts wegnehmen lässt, immer auch in dem Sinne unendlich sei, dass sich ihm nichts Gleichartiges hinzufügen lasse, nicht aber umgekehrt. Dann würde die Bestimmung: ›Nichts Gleichartiges kann ihm hinzugefügt werden‹ für das Unendliche im Allgemeinen gelten, die Bestimmung: ›Nichts kann ihm weggenommen werden‹ aber nur für einiges Unendliche, für anderes jedoch nicht. Man mag an die heutige Konzeption der natürlichen Zahlen (ohne die Null) denken: Jede natürliche Zahl lässt sich ad infinitum vermehren, jedoch nur ad finitum vermindern, denn beim Vermindern erreicht man irgendwann die Eins als die kleinste Zahl. Diese Erklärungsmöglichkeit gilt jedoch für Reimarus nicht. Er stellt den Gang der Mathemati-

|| 15 Ebd. 16 Siehe Reimarus: De Natura Infiniti Mathematici (s. Anm. 4), S. 145f./215 (§ 23).

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ker ins unendlich Kleine als parallel zu demjenigen ins unendlich Große dar, argumentiert also mit Blick auf die rationalen Zahlen und das Kontinuum.17 Bleibt als zweite Möglichkeit, jene Zweiheit von Hinzufügung und Wegnahme als komplementär zu verstehen: Beides ist zusammen gegeben oder zusammen nicht gegeben, deshalb reicht die Nennung eines von ihnen aus. Da es in der Argumentation in der ersten Abhandlung der Vornehmsten Wahrheiten um die Frage geht, ob die Ursachenkette vom derzeit bestehenden Verursachten bis ins Unendliche zurück zu verlängern sei, liegt es nahe, hier die Bestimmung ›Nichts Gleichartiges kann ihm hinzugefügt werden‹ zu wählen. In besagtem früheren Aufsatz ist, anders als in den Vornehmsten Wahrheiten, Gott als der unendliche Urheber, von dem alles uneigentlich Unendliche seine metonymische Bestimmung habe, der Ausgangspunkt; die göttliche Macht ist jedoch nach Möglichkeit angemessen nur durch die beiden komplementären Glieder, das Hinzufügen-Können wie das Wegnehmen-Können, zu beschreiben – Gott gibt und nimmt.

3 Gegen die Gefahren der Metonymie Die Auskünfte, die Reimarus 1724 über ›die Natur‹ des mathematischen Unendlichen gibt, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das mathematische Unendliche – die Zahl und das Zählbare – ist nicht im eigentlichen Sinne, sondern nur durch Metonymie unendlich. Diese uneigentliche Unendlichkeit rührt von dem eigentlich Unendlichen her, d. h. von Gott. Der Name unendlich kommt eigentlich nur der Ursache zu, wird aber auf das Verursachte übertragen. Laut Reimarus haben diese Thesen gefährliche Auswirkungen auf die Metaphysik, nicht aber auf die gute mathematische Praxis. Der Mathematiker verstehe das Unendliche gewöhnlich als das Unbestimmte (indefinitum), d. h. als dasjenige, für das sich keine Grenze oder Schranke angeben lasse, obwohl es eine solche habe – und mit diesem Begriff fahre er gut (solange er nicht vergesse, dass es sich um einen negativen Unendlichkeitsbegriff handle, nicht um ein Prädikat von Seiendem). Der Metaphysiker freilich könne sich dabei nicht beruhigen, für ihn ergäben sich Verständnisschwierigkeiten in Hinblick auf das Sein und die Potenzialität oder Wirklichkeit des Unendlichen. Die genannten Thesen führten zu folgenden beiden Schlüssen: a) Das mathematische Unendliche kann nicht als potenziell Unendliches gefasst werden, denn all seine Möglichkeiten können nicht zugleich, als ein Ganzes, verwirklicht sein.18 || 17 Siehe Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 13 (1. Abhandlung, § 7). Auch in besagtem Aufsatz bestimmt Reimarus die Zahl als aus mehreren Einheiten bestehend, so dass jede Zahl teilbar sei; siehe Reimarus: De Natura Infiniti Mathematici (s. Anm. 4), S. 142/212f. (§ 13).

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b) Jegliches mathematische Unendliche, insbesondere Welt, Raum und Zeit, ist vom wahrhaft Unendlichen streng zu scheiden.19 »Den Mathematikern« aber, so gibt Reimarus zu, genügt [es, wenn das mathematische Unendliche durch das Unbestimmte erklärt wird], da ja die Quantität, die so gering oder so groß ist, dass sie keinen wahrnehmbaren Irrtum hervorbringen kann, zu Recht für unendlich klein oder groß gehalten wird oder für eine, um deren Quantität sich der Mathematiker ganz und gar nicht kümmert.20

In diesem Sinne ist Reimarus 1724 noch recht generös, was seine Einstellung zum mathematischen Gebrauch des Unendlichkeitsbegriffs angeht.21 30 Jahre später, in den Vornehmsten Wahrheiten, verwahrt er sich zunächst entschiedener dagegen. Nicht nur, wenn man dem mathematischen Unendlichen fälschlich Sein zuspreche, ergäben sich Irrtümer. Auch innerhalb rein mathematischer Überlegungen sei damit zu rechnen, dass die Zuhilfenahme des Unendlichen zu Fehlern führe oder dass sie die Untersuchung langwieriger als nötig mache (statt sie abzukürzen, wie die Befürworter des mathematischen Unendlichen meinten). Doch schwankt Reimarus in

|| 18 Siehe Reimarus: De Natura Infiniti Mathematici (s. Anm. 4), S. 142f./213 (§ 14). 19 Siehe ebd., §§ 25–61. 20 Siehe ebd., S. 147/216 (§ 24): »Mathematicis inquam sufficit [explicare infinitum Mathematicum per indefinitum], quoniam quantitas, quae tam exigua est, aut magna, ut nullum unquam errorem sensibilem parere possit, recte habetur pro infinite parva aut magna, seu cujus quantitatem Mathematicus plane non curat.« – Der am Satzende durch das Bindewort oder (seu) angeschlossene Ausdruck hat die Misslichkeit, dass Reimarus von der Quantität einer Quantität zu sprechen scheint. Gemeint ist mit besagtem Ausdruck aber klarerweise der Betrag der Quantität (oder die bestimmte Quantität des Quantums). – Unmittelbar nach dem zitierten Passus bezieht sich Reimarus auf das Kapitel, mit dem Christian Wolff in seinen Elementen der gesamten Mathematik den Teil über die Differentialrechnung einleitet. Ein Abschnitt dieses Kapitels dürfte Reimarus auch zu seiner oben zitierten Bemerkung angeregt haben, die unendlich kleine oder große Quantität ziehe keinen mathematischen Irrtum nach sich. Siehe Christian Wolff: Elementa Matheseos universae. Bd. 1, Halle 1713, S. 452 (Kapitel 1: De natura calculi differentialis, Corollarium 1 [= § 3]): »Infinitesima itaque respectu ejus quantitatis, cui incomparabilis existit, pro nihilo habenda. Si enim negligitur, error committitur omni assignabili minor, hoc est, nullus.« 21 Die gleiche Haltung nimmt Hinrich Klausing in seiner Programmschrift De Infinito Mathematicorum aus dem Jahr 1716 ein. Klausing spricht nicht, wie Reimarus, von Metonymie, benutzt aber – freilich ohne sie weiter zu erläutern – eine Dreierreihe anderer einschränkender Ausdrücke dafür, wie die Rede vom mathematischen Unendlichen zu verstehen sei: das aristotelische ›κατά τι‹ (in gewisser Hinsicht), ›improprie‹ (uneigentlich) und ›analogice‹ (analog). Siehe Klausing: De Infinito Mathematicorum (s. Anm. 8), Abschnitt 6, S. (B3v) unten. Reimarus zieht diesen Text ausdrücklich heran. Siehe Reimarus: De Natura Infiniti Mathematici (s. Anm. 4), S. 146/215f. (§ 24). Im Oktober 1716 immatrikulierte sich Reimarus an der Wittenberger Universität (siehe Wilhelm Schmidt-Biggemann: Einleitung. In: Reimarus: Kleine gelehrte Schriften [s. Anm. 4], S. 9–65, hier S. 15); den damals dort lehrenden Mathematikprofessor und Theologen Klausing (1675–1745) wird er persönlich kennengelernt haben.

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dieser Beziehung und zitiert auch Autoritäten für die entgegengesetzte und für eine vermittelnde Position.22 Die beiden metaphysischen ›Verwirrungen‹, die Reimarus in den §§ 8f. der Vornehmsten Wahrheiten auf das falsche Verständnis des mathematischen Unendlichkeitsbegriffs zurückführt und die er durch jeweils einen ›Vernunftschluss‹ richtigstellen will, sind zum einen die Annahme, die Zahl oder sonst etwas, das ins Unendliche fortlaufe – etwa die Generationenfolge der Menschen ins Zukünftige hin –, sei unendlich, zum anderen der Schluss, was auf die besagte (vermeintliche) Art ins Zukünftige hin unendlich sei, sei auch in die Vergangenheit hin unendlich, also ohne Anfang.23 Diese beiden Argumente stammen nicht unmittelbar aus dem früheren Aufsatz über das mathematische Unendliche. Sie lassen sich aber, so wie schon der Begriff des Unendlichen, aus jenem Aufsatz herleiten. Im ersten Argument wendet Reimarus die Definition des Unendlichen und die damit einhergehende Definition des Endlichen auf dasjenige an – »Zahlen, Linien, Größen, Raum, Zeit«24 usw. –, von dem es heißt, es laufe ins Unendliche fort. Reimarus gesteht dies als Denkmöglichkeit zu, beharrt aber darauf, dass das, was derart ins Unendliche fortlaufe, ein Endliches sei und bleibe. An keiner Stelle der Reihe, möge sie auch ins Unendliche fortsetzbar sein, gehe das Endliche in ein Unendliches über. Gerade weil etwas ins Unendliche fortlaufe, ihm also immer noch etwas hinzugefügt werden könne, stehe es im Gegensatz zum Unendlichen, dem laut Definition eben nichts hinzugefügt werden kann. Dies ist eine ausführlichere und neu pointierte Version des Arguments, mit dem im früheren Aufsatz etwa der Abfolge von Werden und Vergehen die Unendlichkeit abgesprochen wird: Eine solche Abfolge ist stets zählbar – was der Definition des Endlichen, nicht aber der des Unendlichen entspricht.25 Das zweite Argument in den Vornehmsten Wahrheiten geht über das erste hinaus, indem Reimarus hier nicht einmal die Denkmöglichkeit zulässt, eine Reihe, die ins Zukünftige hin ins Unendliche laufe, tue dies auch in die Vergangenheit hin. Vielmehr müsse, so legt er dar, eine solche in die Zukunft verlängerbare Reihe (wie etwa die der Generationenfolge der Menschen) einen bestimmten Anfang haben und somit in die Vergangenheit hin nicht nur endlich sein, sondern auch auf ein Ende hinlaufen. Diese Differenzierung bei der Verwendung des Ausdrucks ins Unendliche laufen hatte Reimarus im früheren Aufsatz nicht erwähnt. Wohl aber hatte er für

|| 22 Siehe Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 17f. (1. Abhandlung, § 7). Wiederum findet sich Reimarus’ Einstellung bei einem von ihm zitierten Autor wieder; hier ist es der schottische Mathematiker Colin MacLaurin (1698–1746) mit seinem Werk A Treatise of Fluxions. In Two Books (Edinburgh 1742). Reimarus bezieht sich auf die dem ersten Buch vorangestellte Einleitung (Introduction), S. 37–47. 23 Siehe Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 18–25 (1. Abhandlung, §§ 8f.). 24 Ebd., S. 19 (1. Abhandlung, § 8). 25 Reimarus: De Natura Infiniti Mathematici (s. Anm. 4), S. 165/231 (§ 56).

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sukzessive Veränderungen aus der Möglichkeit, dass jeder beliebigen etwas hinzugefügt werden könne, auf ihre Endlichkeit und auf die Notwendigkeit, dass eine von ihnen die erste sein müsse, geschlossen26 und der göttlichen unendlichen Macht zugesprochen, sie könne veränderliche Dinge ins (metonymisch) Unendliche hin erhalten.27 Der Aufsatz De Natura Infiniti Mathematici kann somit als Grundlage für die genannten Überlegungen gelten, die Reimarus in den Vornehmsten Wahrheiten anstellt, und diese Überlegungen ihrerseits als Weiterentwicklung der Thesen des Aufsatzes und ihre Anwendung auf das Thema der ersten Abhandlung jenes späteren Werks: auf die Frage nach dem ›Ursprung der Menschen und Tiere‹.

4 Erste Einrede (Intermezzo) Sein Hauptwerk Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes hat Reimarus selbst nicht veröffentlicht. Nach seinem Tod wurden seit 1774, zuerst durch Gotthold Ephraim Lessing, Teile daraus bekannt; erst 1972 erschien eine vollständige Ausgabe.28 In Reimarus’ handschriftlichem Nachlass finden sich etliche, oft fragmentarische Teilabhandlungen und Notate, die sich in vielen Fällen als Vorarbeiten zur Apologie oder als Teile von deren früheren Fassungen bestimmen lassen. Wilhelm Schmidt-Biggemann hat acht solcher Texte als Vorstufen zur Apologie herausgegeben.29 Manche davon sind mehr oder weniger verändert in die Endfassung der Apologie eingegangen; andere gehören zwar zu einer vorläufigen Version der Apologie, finden dann aber nicht in deren Endfassung, sondern in dem einen oder anderen von Reimarus publizierten Werk ihre Entsprechung; wieder andere hat Reimarus letztlich in keines seiner abgeschlossenen Werke aufgenommen. Zur letzteren Gruppe gehört ein Text von zehn handschriftlichen Seiten, der mit den Worten beginnt: »Wir werden durch die Vernunft getrieben«.30 Der Herausgeber hat den Titel »[Entwurf einer vernünftigen und natürlichen Religion]« darübergesetzt,31 gemäß den ersten Worten, mit denen in Reimarus’ Gliederungsentwurf für eine frühe Version der Apologie (Gedancken von der Freyheit eines vernünftigen Got-

|| 26 Ebd., S. 165f./231f. (§ 59). 27 Ebd., S. 166f./232 (§ 61). 28 Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. 2 Bde. Hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt a. M. 1972. 29 Reimarus: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 4), S. 411–558. 30 Staatsarchiv Hamburg, Signatur: 622-1/86 A 13 c. 31 Hermann Samuel Reimarus: [Entwurf einer vernünftigen und natürlichen Religion]. In: ders.: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 4), S. 479–494.

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tesdienstes) das zweite Kapitel des ersten Buches skizziert wird.32 Die kleine Abhandlung betrifft aber lediglich den Begriff Gottes, die Vollkommenheiten Gottes und sein Verhältnis zur Welt, sie könnte also allenfalls der Anfang eines Entwurfs jenes Kapitels sein; eine Religion wird hier nicht oder noch nicht entworfen. Die Gedankenführung des Textes hat zum Ziel, Gott als die Weltseele zu begreifen. Die Argumentationsschritte erstrecken sich in der von Reimarus vorgenommenen Einteilung über 16 Paragrafen. Diese lassen sich zu fünf Abschnitten bündeln: 1. Unendliche Weisheit, Güte und Macht als die einzigen drei erfahrungsgemäßen Vollkommenheiten Gottes (§§ 1–6). Die Vernunft treibt uns zur Erkenntnis Gottes als eines selbständigen, ewigen und notwendigen Wesens mit unendlichen Vollkommenheiten (§§ 1f.). Dieser Gott bliebe uns unbegreiflich und unvorstellbar, wenn nicht die sinnlich erfahrbare, beschränkte und von Gott abhängige Welt ihn spiegeln würde und wenn seine Vollkommenheiten, die aus dieser Spiegelung – durch Schluss von der Wirkung auf ihre Ursache – ersichtlich werden, nicht ähnlich den Vollkommenheiten unserer Seele wären (§§ 3f.). Die Ordnung der Welt führt uns so, aufgrund äußerer und innerer Erfahrung, notwendig zu der Annahme, dass Gott unendlich weise, unendlich gütig und unendlich mächtig sei. Durch abstrakte Begriffe und künstliche Schlüsse geraten wir zwar auf weitere Vollkommenheiten Gottes, diese aber verkleinern Gott oder machen ihn unbegreiflich und unvorstellbar (§§ 5f.). 2. Die reine Geistigkeit und Außerweltlichkeit ist eine künstlich ersonnene, nicht erfahrungsgemäße Vollkommenheit Gottes, der vielmehr als die Weltseele zu begreifen ist (§§ 7–11). Ein Beispiel für ein Hirngespinst der besagten Art ist die Annahme, Gott sei reiner, von der Welt gänzlich unterschiedener Geist. Da Gott dann keine Ausdehnung hat, ist er gegenüber der Welt unendlich klein und unveränderlich und soll doch einmal die Welt in ihrer ungeheuren Größe geschaffen haben (§ 7). Umgekehrt ist auch die Welt nicht begreiflich, wenn sie von Gott unterschieden und von ihm aus Nichts hervorgebracht sein soll. Die Welt ist nur als ewig und unendlich ausgedehnt denkbar und somit als göttlich. Gott ist die Weltseele (§§ 8f.). So wie die menschliche Seele den menschlichen Körper braucht, um Bewusstsein von sich selbst und von anderem zu haben, so der göttliche Geist den Weltkörper (§§ 10f.).

|| 32 Reimarus: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 4), S. 427.

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3. Antwort auf den Einwand, die Auffassung, Gott sei die Weltseele, mache Gott unvollkommen (§§ 12–14). Die Unvollkommenheiten der einzelnen, beschränkten Teile der Welt sind nur diesen eigen, nicht dem aus unendlich vielen solcher Teile bestehenden Weltganzen. Gott als die Weltseele empfindet die vollkommene Ordnung des Ganzen und ist somit von den Unvollkommenheiten der Teile frei. Das gilt auch vom sogenannten moralisch Bösen: Nur einzelne Seelen weichen moralisch von den Regeln der Vollkommenheit ab, die der Natur insgesamt von Gott gegeben sind. Im Übrigen ist dieses Argument auch dann nötig, wenn man die Welt außer Gott, aber als von ihm geschaffen setzt: Die Bosheit einzelner Geschöpfe würde auf den Schöpfer zurückfallen, wenn man darin nicht eine bloße Beschränkung von Teilen des insgesamt vollkommenen Ganzen sähe. 4. Beweis, dass die Welt Gott nicht äußerlich sein kann, sondern dass er die Weltseele ist (§ 15 und § 16, S. 8f.). Wenn Gott einen Einfluss auf die Welt hat und diese insgesamt mit seinen Vorstellungen übereinstimmt, kann die Welt Gott nicht äußerlich sein, sondern muss zu seinem eigenen Wesen gehören und so von ihm begriffen werden. Dies lehrt die Analogie zu unserer Seele. Unsere Seele stellt sich den Körper als eins mit sich selbst vor, und dies mit der teils realen, teils vorstellbaren Möglichkeit, dass der Körper zunehme. Für einen Schöpfergott, von dem alles unbedingt abhängt, muss diese Einheit mit der Welt umso mehr gelten. 5. Antwort auf den Einwand, Gott könne nicht die Weltseele sein, weil er sonst veränderlich wäre (S. 10).33 Aus der Unendlichkeit Gottes wird auf seine Unveränderlichkeit geschlossen. Daraus ergibt sich ein Einwand gegen die Annahme, Gott sei die Weltseele: Wäre er mit der veränderlichen Welt wesentlich verbunden, könnte er nicht unveränderlich sein. Zu entkräften ist dieser Einwand dadurch, dass ein unveränderlicher Gott nicht begreifbar wäre und somit die Unveränderlichkeit nicht unter seine Vollkommenheiten zu zählen ist; jener Schluss, Gott sei unveränderlich, beruht auf einem falschen Begriff des Unendlichen. Reimarus argumentiert in der Ich-Form. Doch ist die hier vertretene Lehre nicht vereinbar mit den Theologumena der beiden oben herangezogenen Schriften aus den Jahren 1724 und 1754. Mehr noch: Die Argumente, die der Verfechter der Lehre von der Weltseele im Text »Wir werden von der Vernunft getrieben« vorbringt, sind

|| 33 Wilhelm Schmidt-Biggemann zieht diesen Passus zu § 16; siehe hierzu Reimarus: [Entwurf] (s. Anm. 31), S. 492–494. Das Manuskript lässt aber darauf schließen, dass Reimarus zwischen § 16 und dem Passus von S. 10 weiteren Text – etwa in der Länge von ein oder zwei Paragraphen – vorgesehen hat. Siehe die Korrekturvorschläge zu Schmidt-Biggemanns Edition unten im Anhang (Abschnitt 6.2).

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teilweise von solcher Art, wie sie Reimarus sonst als ungültig abweist. Im Zusammenhang mit dem Begriff der Unendlichkeit treten etwa folgende Ungereimtheiten auf: a) Zur Argumentation in § 8, wo die Undenkbarkeit einer von Gott unterschiedenen Welt dargelegt werden soll, gehört folgender Passus: Es ist weder der Erfahrung noch Vernunft gemäß, der Welt Ziel, Ende oder Schrancken zu setzen, wo sie aufhöret und wo nichts mehr ist. Und so sehen wir abermahl, daß wir doch nicht anders können als eine Unendlichkeit eine göttliche Eigenschaft in der Welt zu erkennen; folglich die Welt nicht von Gott zu unterscheiden, sondern mit zu dem göttlichen Wesen zu rechnen.34

Um gegenüber der früheren Beobachtung über die Natur des mathematischen Unendlichen bestehen zu können, müsste der Sprecher hier in »Wir werden von der Vernunft getrieben« zumindest zeigen, dass die damalige Bestimmung, die Zahl und das Zählbare seien endlich, nicht vernunftgemäß erfolgt sei. Mit Blick auf die Vornehmsten Wahrheiten ist das oben zitierte Argument jedenfalls hinfällig: Dass man der Welt keine Grenze setzen kann, wäre demnach zuzugeben, jedoch eben nicht in dem Sinne, dass der Welt Unendlichkeit als Eigenschaft zukäme, sondern so, wie wir von einem Endlichen sagen, dass seine Zu- oder Abnahme ins Unendliche fortlaufen kann. Jene Gegenüberstellung der Eigenschaft Unendlichkeit und des InsUnendliche-Laufens wird zwar kaum als Lösung des Problems gelten können; so wäre etwa zu fragen, um was für ein Unendliches es sich handle, in das gemäß der Metapher ein Endliches laufe.35 Immerhin drückt sich in der Gegenüberstellung die Notwendigkeit aus, Endlichkeit und Unendlichkeit gegeneinander zu bestimmen und miteinander zu vermitteln; die Behauptung hingegen, mit der in »Wir werden von der Vernunft getrieben« nur der Beschränktheit, nicht aber der Unbeschränktheit der Welt die Erfahrungs- und Vernunftgemäßheit abgesprochen wird, lässt eine Begründung dieser Einseitigkeit vermissen.

|| 34 Reimarus: [Entwurf] (s. Anm. 31), S. 484 (dort ohne die drei hier in spitze Klammern gesetzten Einfügungen). 35 Der heutige Leser denkt unweigerlich an die Kritik, die Immanuel Kant an der besagten Redeweise übt (siehe Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft. Riga 1781, hier I. Transcendentale Elementarlehre, Teil 2: Die transcendentale Logik, Abteilung 2: Die Transcendentale Dalectik, Buch 2: Von den dialectischen Schlüssen der reinen Vernunft, Hauptstück 2: Die Antinomie der reinen Vernunft, Abschnitt 9: Von dem Empirischen Gebrauche des regulativen Princip’s der Vernunft, in Ansehung aller cosmologischen Ideen, I. Auflösung der cosmologischen Idee, von der Totalität der Zusammensetzung der Erscheinungen von einem Weltganzen, S. 517–523, hier S. 520: »Ich werde […] nicht sagen: der Regressus von einer gegebenen Wahrnehmung an, zu allen dem, was diese im Raume so wol, als der vergangenen Zeit in einer Reihe begränzt, geht ins Unendliche; denn dieses sezt die unendliche Weltgrösse voraus«.

Zum Unendlichkeitsbegriff bei Hermann Samuel Reimarus | 285

b) Laut § 12 folgt daraus, dass Gott als die Weltseele bestimmt wird, keine Unvollkommenheit Gottes. In diesem Zusammenhang heißt es: »[E]in Körper, der aus unendlichen eingeschrnckten Theilen bestehet, ist doch uneingeschränckt«.36 Im Sinne des Unendlichkeitsbegriffs aber, den Reimarus in den von ihm publizierten Schriften verwendet, ließe sich nicht behaupten, ein Körper bestehe aus unendlichen eingeschränkten Teilen, sondern nur, dass man die Zu- oder Abnahme eines Körpers ins Unendliche laufen lassen kann. Im Lichte jener Schriften müsste also der Sprecher in »Wir werden von der Vernunft getrieben« seinen Begriff eines unendlichen Körpers erläutern und verteidigen. c) Reimarus verweist in »Wir werden von der Vernunft getrieben« nicht auf bestimmte Quellen oder Diskussionspartner. Eine zu Beginn des letzten, ohne Paragrafennummer gebliebenen Textteils referierte Argumentation (in der Handschrift oben auf Seite 10) lässt aber ihre – wie auch immer vermittelte – Quelle deutlich erkennen, nicht zuletzt durch den Ausdruck »auf ein mahl und zugleich und allemahl«, der eine deutsche Fassung des lateinischen semel et simul et semper darstellt. Reimarus schreibt: Wir setzen gemeiniglich, daß Gott unveränderlich seyn müsse, und das darum, weil er unendlich ist. Denn, spricht man, in einem unendlichen Wesen ist alles was in ihm möglich ist auf ein mahl und zugleich und allemahl würcklich.37

In Bezug auf den göttlichen Willen hat Augustinus in den Bekenntnissen ein entsprechendes Argument vorgetragen.38 Es verlangt freilich für Gott die spekulative Einheit von Unveränderlichkeit und Ruhe einerseits, Wirksamkeit und Tätigkeit andererseits – worauf sich der Sprecher in »Wir werden von der Vernunft getrieben« nicht einlassen kann, weil eine solche Einheit nicht begreifbar sei.39 Den Fehler des Arguments sieht er in »einem falschen Begriffe des Unendlichen«.40 Diese Falschheit beschreibt er indirekt, nämlich dadurch, dass er seinen eigenen, dem Anspruch nach umfassenderen Unendlichkeitsbegriff jenem als falsch eingestuften entgegenstellt: Indem ich lauter mgliches in dem unendlichen Wesen setze, so nehme ich in solchem Begriffe gewiß nichts an als was möglich ist. Ich nehme aber eben deswegen alles mögliche in einem unendlichen Wesen an, weil sonst dasselbe Schrancken haben, und etwas ausser ihm

|| 36 Reimarus: [Entwurf] (s. Anm. 31), S. 486 (dort mit einem ›a‹ statt dem hier in spitze Klammern gesetzten Umlaut). 37 Ebd., S. 492 (dort ohne die hier in spitze Klammern gesetzten Kommata). 38 Vgl. Augustinus: Confessiones, Buch 12, Kapitel 15, Abschnitt 18. Dem Zusammenhang entsprechend folgert Augustinus hier die Unveränderlichkeit Gottes nicht aus seiner Unendlichkeit, sondern seiner Ewigkeit (der überzeitlichen Unendlichkeit). 39 Siehe Reimarus: [Entwurf] (s. Anm. 31), S. 492. 40 Ebd., S. 493.

286 | Mischa von Perger

möglich seyn könnte das sich in ihm nicht findet. […] Wenn nun dieses ist, daß alles mögliche und folglich verschiedenes mögliches in einem unendlichen Wesen befasset seyn muß: ist es denn nicht eben so wiedersprechend, daß alles dieses verschiedene zu einer Zeit in ihm würcklich seyn sollte, als wenn ich sagte, daß alle verschiedene Dinge an einem und demselben Orte seyn sollten?41

Bei der Adaption jenes augustinischen Arguments hatte Reimarus im Sinne seiner Gegner formuliert, in einem unendlichen Wesen sei alles, was in ihm möglich ist, wirklich. Die Unterscheidung zwischen demjenigen, was dem unendlichen Wesen zukommen kann (in ihm möglich ist), und solchem, was nur außer ihm möglich wäre, widerspricht aber, so führt er nun aus, einem strengen Unendlichkeitsbegriff. Reimarus setzt deshalb nicht nur bestimmtes, Gott wesenskonformes Mögliches in ihn, sondern alles Mögliche. Ein solcher Gottesbegriff ist nicht beispiellos. Nicolaus Cusanus hat das künstliche Wort possest – Renate Steiger übersetzt es durch Können-Ist42 – als Bezeichnung für Gott eingeführt; zur Begründung dafür ist folgende Aussage maßgeblich: Weil Möglichkeit und Wirklichkeit in Gott dasselbe sind, ist dann Gott all das in Wirklichkeit, von dem wahrhaft festgestellt werden kann, dass es sein kann. Nichts nämlich kann sein, was Gott in Wirklichkeit nicht ist.43

Cusanus jedoch sieht Gott nicht als die Weltseele an, die den veränderlichen Weltkörper in seiner räumlichen und zeitlichen Erstreckung empfände. Wenn Reimarus mit der rhetorischen Frage schließt, ob es nicht widersprechend sei, dass alles Mögliche, was im unendlichen göttlichen Wesen wirklich sei, dies »zu einer Zeit« (zu ein und derselben Zeit) sei,44 dann ist die damit indirekt ausgedrückte Folgerung – wenn alles Mögliche im Unendlichen wirklich ist, muss es sukzessive in ihm wirklich sein – nicht zwingend. Alles Mögliche wäre als auf überzeitliche (wie auch auf überörtliche) Weise in Gott wirklich zu denken. Der im Sinne von Reimarus berich|| 41 Ebd., S. 493f. (dort S. 493 mit einem ›o‹ statt dem hier in spitze Klammern gesetzten Umlaut und ohne das hier ebenso markierte Komma). – Das Prädikat ›all das sein, was es [das betreffende Subjekt] sein kann‹ (esse omne id quod esse potest) hat Reimarus bereits in der Beobachtung über die Natur des mathematischen Unendlichen verwendet, jedoch nur, um bestimmten Subjekten – etwa der Zahl – die in diesem Prädikat ausgedrückte Unendlichkeit abzusprechen; siehe etwa Reimarus: De Natura Infiniti Mathematici (s. Anm. 4), S. 141/211 (§ 7) und die oben in Anm. 18 genannte Stelle. Nur bei Gott bekommt der Ausdruck den Sinn ›all das sein, was sein kann‹, insofern Gott nicht nur in seiner Art, sondern im Sein überhaupt unendlich und somit durch kein anderes Sein beschränkt zu denken ist. 42 Nicolaus de Cusa: Trialogus de possest / Dreiergespräch über das Können-Ist. Lateinisch – Deutsch. Hg. und übersetzt von Renate Steiger. Hamburg 21991. 43 »Cum potentia et actus sint idem in deo, tunc deus omne id est actu, de quo posse esse potest verificari. Nihil enim esse potest, quod deus actu non sit.« Nicolaus de Cusa: Trialogus de possest. Hg. von Renate Steiger. Hamburg 1973, S. 9 (§ 8, Zeile 5–7). 44 Siehe den oben zitierten, zu Beginn von Anm. 41 belegten Passus.

Zum Unendlichkeitsbegriff bei Hermann Samuel Reimarus | 287

tigte Begriff des Unendlichen mag allenfalls dann dazu führen, Gott als Weltseele zu begreifen, wenn Überzeitlichkeit derart als unbegreiflich und unvorstellbar gelten soll, dass sie die von Reimarus geforderte Begreif- und Vorstellbarkeit Gottes verhindert. Äußerlich lässt der Text »Wir werden von der Vernunft getrieben« nicht erkennen, ob Reimarus hier einen ihm zur Zeit der Niederschrift attraktiv erscheinenden Gedankengang oder vielmehr eine Position entwickelt, die er zu widerlegen gedenkt. Jedenfalls aber hat dieser Text, wie an den oben ausgewählten drei Argumentationen (a–c) gezeigt, der Stichhaltigkeit der 1724 und 1754 veröffentlichten Kritiken an einem nicht-mathematischen Gebrauch des mathematischen Unendlichen nicht viel entgegenzusetzen.

5 Zweite Einrede (Coda) In der 1781 erschienenen fünften Auflage der Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, herausgegeben von Johann Albert Hinrich Reimarus, dem Sohn des Verfassers, schildert dieser Herausgeber, wie er lange Zeit der Argumentation seines Vaters für die Endlichkeit der Welt beigepflichtet habe und erst spät diesbezüglich ein Sinneswandel bei ihm eingetreten sei.45 Dafür, die Welt – oder vielmehr, da es nicht um die bestehende Weltordnung gehen soll: die Schöpfung (das Geschaffene) ‒ sei als unendlich, insbesondere als anfangslos anzunehmen, nennt der Sohn jedoch als Grund nicht etwa, er stelle sich Gott als die den zeitlichen Ablauf der Veränderungen empfindende Weltseele vor, wie es Vater Reimarus in »Wir werden von der Vernunft getrieben« dem Leser empfiehlt, sondern die Überlegung, dass die Wirkung Gottes als eines unbeschränkten Wesens ebenfalls unbeschränkt sein müsse.46 J. A. H. Reimarus beruft sich dafür auf eine Abhandlung, die sein Vater noch nicht kennen konnte: Leonhard Cochius’ Examen De La Question: Si toute succession dois renfermer un commencement?47 Dieses in der Grundform altbekannte Argument

|| 45 Johann Albert Hinrich Reimarus (1729–1814): Vorerinnerung von dem Daseyn Gottes und der menschlichen Seele. In: Hermann Samuel Reimarus Professors in Hamburg Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Fünfte Auflage, durchgesehen, und mit einigen Anmerkungen begleitet von Joh. Alb. Hinr. Reimarus der Arzeneygelahrtheit Doctor. Hamburg 1781, S. 1–46, hier 9–15 (§§ 5–7). 46 Ebd., S. 12–15 (§ 7). 47 Leonhard Cochius (1718–1779): Examen De La Question: Si toute succession dois renfermer un commencement? In: Nouveaux Mémoires de l’Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres (Berlin), Jg. 1773, erschienen 1775, S. 325–346. Reimarus (Sohn) fasst Cochius’ Argumentation eigens zusammen (Reimarus: Vorerinnerung [s. Anm. 45], S. 13): Eine kurze Folgerung aus einer dreifachen Hypothese (vgl. Cochius: Examen [s. Anm. 46], S. 327 [§ 8]) wird auf Gott bezogen und für ihn näher erläutert (vgl. ebd., S. 335, zweiter Abschnitt von § 20). In diesem Zusammenhang heißt es, wie in

288 | Mischa von Perger

aber48 hatte H. S. Reimarus in seiner 1724 erschienenen Abhandlung widerlegt, indem er auf das durchaus vernünftige Prinzip zurückgriff, eine unendliche Macht vermöge nichts Unmögliches.49 Auf die Frage, inwiefern Cochius solche Einwände überwinden kann, geht der jüngere Reimarus nicht ein. – In der ebenfalls 1781 erschienenen Kritik der reinen Vernunft gibt Immanuel Kant der Diskussion über die zeitliche und räumliche Beschränktheit oder Unbeschränktheit der Welt eine neue Grundlage, indem er die beiden gegensätzlichen Positionen als zwar vernünftig, aber unweigerlich antinomisch analysiert.50

6 Anhang 6.1 Zusätze und Korrekturen zu Wilhelm Schmidt-Biggemanns Ausgabe von Reimarus’ De Natura Infiniti Mathematici Observatio 6.1.1 Zum Text51 Die Interpunktion, die verschiedenen Schreibweisen bestimmter Wörter und einige eindeutig erkennbare Druckfehler sind hier nicht berücksichtigt; die Korrekturvorschläge betreffen nur Fehler, die den Leser irritieren dürften oder ihm das Verständnis des Textes oder die Quellenkritik erschweren.

|| direktem Widerspruch zur Zielrichtung von H. S. Reimarus’ »Wir werden von der Vernunft getrieben«, über Gott: »[E]r sieht das Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige […] auf einmal in ihm selbst, gleichsam a priori« (vgl. ebd.: »[L]a cause nécessaire […] peut avoir des connoissances […] du passé, du présent et du futur; mais elle aura ces connoissances a priori; voyant tout à la fois, en ellemême«). 48 H. S. Reimarus kannte es etwa in einer von Giordano Bruno vorgetragenen Fassung. In der Beobachtung über die Natur des mathematischen Unendlichen verweist Reimarus auf das Referat, das Christoph August Heumann über einige der Werke Brunos verfasst hatte. Siehe Reimarus: De Natura Infiniti Mathematici (s. Anm. 4), S. 152/221 (§ 32); [Christoph August Heumann (1681–1764):] Rezension zu Jordani Bruni Nolani De Monade, numero et figura liber und anderen seiner Schriften sowie zu desselben De innumerabilibus, immenso et infigurabili, seu de Universo et Mundis, libri octo, in: Acta Philosophorum, das ist: Gründl. Nachrichten aus der Historia Philosophica, Nebst beygefügten Urtheilen von denen dahin gehörigen alten und neuen Büchern, Bd. 1 (1715/16), Stück 3 (1715), S. 501–520 und Stück 5 (1716), S. 868–908, hier S. 871f. 49 Reimarus: De Natura Infiniti Mathematici (s. Anm. 4), S. 143/213 (§§ 17f.). 50 Siehe oben Anm. 35. 51 Reimarus: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 4), S. 207–232.

Zum Unendlichkeitsbegriff bei Hermann Samuel Reimarus | 289

Neuausgabe 1994

Druck 1724

Korrektur

209, 23: exemerit,

138, 20f.: dito

exemerit,

211, 17: c. V.

140, 28: dito

c. V.

212, 21: combinare

142, 8: combinari

combinari

215, 11: ubi

145, 19: ubi ubi

ubi ubi

218, 27: Jo.

149, 26: Joh.

Joh.52

219, 7: nequat

150, 10: dito

nequat

219, 10: VIII.

150, 13: dito

VIII.

219, 34: hujus ipsius Prop.

151, 9: hujus ipsius Prop.

hujus ipsius Prop. 53

229, 27: §. 10. 35.

163, 11: § 10. 25.

§ 10. 25.

231, 28: ὑπαρχεῖν

165, 27: παρασχεῖν

παρασχεῖν

6.1.2 Zu den Anmerkungen54 Die Ergänzungen und Korrekturen gehen nicht in jedes Detail. Auch mit diesen Ergänzungen ist der Quellennachweis für Reimarus’ Text noch längst nicht abgeschlossen. Neuausgabe 1994

Ergänzung oder Korrektur

210, 12–23

Aristoteles: De caelo I 5, 271b 4–13. Reimarus zitiert mit kleinen Änderungen die von Nicolas de Grouchy (Nicolaus Grouchius, 1510–1572) überarbeitete Übersetzung von Joachim Périon (Ioachimus Perionius, 1499–1559).55

|| 52 Die von Reimarus zitierte Schrift Demonstratio de Deo trägt auf dem Titelblatt der Leipziger Ausgabe aus dem Jahr 1712 (eines Nachdrucks der 1710 in London erschienenen Originalausgabe) als Angabe des Autors »Joannis Raphson«; somit ist »Joh« in Reimarus’ Text zu belassen, auch wenn jener Autor tatsächlich den Vornamen Joseph trug. Siehe Joannes Raphson: Demonstratio de Deo sive Methodus ad Cognitionem Dei Naturalem Brevis ac Demonstrativa. Cui accedunt Epistolae quaedam Miscellaneae. Leipzig 1712. 53 Es handelt sich nicht um einen Druck- oder Abschreibfehler, sondern um einen Redaktionsfehler des Autors. Reimarus gibt an, er beziehe sich auf eben denselben Lehrsatz aus Raphsons Schrift wie zuvor. Zuvor aber war es Lehrsatz 8 aus Teil II der Schrift gewesen, nun ist es Lehrsatz 8 aus Teil I. 54 Reimarus: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 4), S. 604–623. 55 Siehe etwa folgende Ausgabe: Aristotelis De Caelo Libri IIII. Ioachimo Perionio interprete: per Nicolaum Grouchium correcti & emendati. Köln 1564.

290 | Mischa von Perger

Neuausgabe 1994

Ergänzung oder Korrektur

210, 29–31 (Anm. S. 606)

Auch die Physica des Aristoteles zitiert oder paraphrasiert Reimarus nach der Übersetzung von Périon und de Grouchy.56

210, 33

Epikur: Brief an Herodot, überliefert bei Diogenes Laertios im zehnten Buch seines Werks Zusammenfassung der Lebensläufe und Meinungen von Philosophen, §§ 35–83; der von Reimarus zitierte Ausdruck ›unendliches Leeres‹ (τὸ ἄπειρον κενόν / infinitum inane) findet sich in § 42.

211, 5f. (Anm. S. 606f.)

Reimarus zitiert Cicero (samt der falschen Stellenangabe) nach Klausing: De Infinito Mathematicorum (s. Anm. 8), S. (A3v).

211, 9–16 (Anm. S. 607)

Reimarus zitiert Aristoteles: Physica III 4, 204a 4–7, nach der Übersetzung von Périon und de Grouchy (vgl. Anm. 56). Die Parallelstelle in der Metaphysik gibt er korrekt an. Die Bücher dieses Werks können auf verschiedene Weisen gezählt werden. Nach den heutigen Ausgaben bezieht sich Reimarus in der Tat auf Metaphysica XI 10, 1066a 35–b 1, doch lag ihm offenbar eine Ausgabe vor, in der die betreffende Stelle zu Buch X, Kapitel 9 gehört, wie in der Übersetzung von Périon und de Grouchy.57

215, 32 – 216, 3 (Anm. S. 608)

Klausing: De Infinito Mathematicorum (s. Anm. 8), § 5, S. (B2v–B3r).

216, 28 – 217, 7 (Anm. S. 609f.)

Christian Wolff: Elementa Matheseos universae, Bd. 1 (s. Anm. 20), Teil 2, Abschnitt 1, Kapitel 1, § 5, S. 453.

218, 18–20 (Anm. S. 610)

Aristoteles: Physica III 6, 206a 33 nach der Übersetzung von Périon und de Grouchy (vgl. Anm. 56).

218, 20–25 (dieselbe Anm.)

Ebd., 206b 7–9, ebenfalls nach der Übersetzung von Périon und de Grouchy.

218, 26f. (dieselbe Anm.)

Ebd., 207a 7f., ebenfalls nach der Übersetzung von Périon und de Grouchy. Die Stelle gehört nach den heutigen Ausgaben noch zu Kapitel 6.

219, 10–17 (Anm. S. 611)

Reimarus zitiert frei Joannes Raphson: Demonstratio de Deo, Teil II, Lehrsatz 8, Scholium.58

|| 56 Siehe etwa folgende Ausgabe: Aristotelis De Natura aut Rerum Principiis Libri VIII. Ioachimo Perionio interprete: iam denuo post Nicolai Grouchii emendationem studiosè diligenterque repurgati. Douai 1590. 57 Siehe etwa folgende Ausgabe: Aristotelis Peripateticorum Principis. De his quae naturalium rerum cognitionem consequuntur, τὰ μετὰ τὰ φυσικὰ ab illo nuncupata, libri decem. A Ioachimo Perionio olim latina oratione donati, à Nicolao Gruchio verò, non solum ad veterum graecorum exemplarium fidem & emendati & in integrum restituti, verùm & scholiis quàm eruditissimis ornati / Nunc primùm hoc nouo splendidóque ornatu in lucem prodeuntes. Paris 1578. 58 Vgl. Raphson: Demonstratio de Deo (s. Anm. 52), S. 50f., hier S. 50.

Zum Unendlichkeitsbegriff bei Hermann Samuel Reimarus | 291

Neuausgabe 1994

Ergänzung oder Korrektur

222, 1–3 (Anm. S. 613)

Reimarus zitiert Spinozas Ethica nach der Ausgabe der Opera posthuma (1677) 59 unter Angabe der Seitenzahl (p).

223, 19–22

Den genannten Schluss zieht Raphson: Demonstratio de Deo, Teil II, Lehrsatz 2, Corollarium 1.60

223, 22 – 224, 3

Referat nach Raphson: Demonstratio de Deo, Teil II, Lehrsatz 12, Corollarium 1, Scholium (wie von Reimarus angegeben).61

230, 22–25 (Anm. S. 622)

Nach den heutigen Ausgaben bezieht sich Reimarus in der Tat auf Metaphysica XIII 8, 1084a 1–7, doch lag ihm offenbar eine Ausgabe vor, in der die betreffende Stelle zu Buch XII, Kapitel 9 gehört, wie in der Übersetzung von Périon und de Grouchy (vgl. Anm. 34).

6.2 Korrekturen zu Wilhelm Schmidt-Biggemanns Ausgabe von Reimarus’ Text »Wir werden durch die Vernunft getrieben«62 Die Korrekturvorschläge betreffen nur solche Fehler, die den Sinn des Textes beeinträchtigen oder dem Leser das Verständnis des Textes erschweren. Ausgabe 1994

Handschrift

Korrektur

479, 13 Volkommenheit

dito

Volkommenheit

480, 10 lässe

lässet

lässet

482, 2 andere

anderen

anderen

482, 11 soll nach der hypothesi soll, nach der hypothesi,

soll, nach der hypothesi,

482, 20 hervorgebracht aber ein mal

hervorgebracht aber ein mahl,

hervorgebracht aber ein mahl,

483, 23 noch

nach

nach

484, 21 eins

eins

eins

484, 24 errichteten

ertichteten

ertichteten

485, 12 ausmache.

ausmache;

ausmache;

486, 7 ihr

ihre

ihre

|| 59 Baruch de Spinoza: Ethica Ordine Geometrico demonstrata, et in quinque Partes distincta. In: ders.: Opera posthuma, Quorum series post Praefationem exhibetur. Amsterdam 1677, S. 1–264. 60 Vgl. Raphson: Demonstratio de Deo (s. Anm. 52), S. 36f. 61 Vgl. ebd., S. 69–71. 62 Reimarus: Kleine gelehrte Schriften (s. Anm. 4), S. 479–494.

292 | Mischa von Perger

Ausgabe 1994

Handschrift

Korrektur

487, 11 wann

wenn

wenn

488, 3 Volkommenheit,

Volkommenheit

Volkommenheit

488, 11 bringt, das

bringt. Das

bringt. Das

488, 19 daß

das

das

488, 34 solchen

solcher

solcher

490, 2 nur

nun

nun

490, 11 unsern

unserm

unserm

491, 3 unsere

unserer

unserer

491, 18 den

dem

dem

492, 18 daran. / Wir

daran. (Freiraum von 1½ Seiten, dann Einzug der ersten Zeile) Wir

(Setze den mit Wir beginnenden Abschnitt vom vorigen ab.)

493, 24 einer

eines

eines

Andree Hahmann

Kein Freund von Epikur? Reimarus über spontane Erzeugung und natürliche Teleologie Es ist das erklärte Ziel von Reimarus’ Schrift über Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, Vernunfterkenntnis und Glaubenslehre miteinander in Einklang zu bringen.1 Ein solches Vorhaben ist bekanntlich schlecht mit der Philosophie Epikurs vereinbar. Nicht zuletzt wegen seiner vermeintlich atheistischen Ansichten wird die epikureische Lehre seit der Antike heftig kritisiert. Traditionell im Fokus liegen hierbei vor allem Epikurs Leugnung der göttlichen Vorsehung und seine Bestimmung des höchsten Gutes.2 Der Atheismus-Vorwurf basiert in erster Linie auf der Zurückweisung einer fürsorgenden Absicht Gottes, d. h. also einer zwecksetzenden und aktiv in den Lauf der Welt eingreifenden göttlichen Vorsehung.3 Zentral ist hierbei die Vorstellung, dass sich eine teleologische Ordnung der

|| 1 Siehe Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Hg. von Günter Gawlick. 2 Bde. Göttingen 1985 (nach der Ausgabe von 1766, Hamburg, letzte Hand), Vorbericht (S. 56f. nach Gawlick): »Das Christenthum setzet die Wahrheiten der natürlichen Religion, von Gottes Daseyn, Eigenschaften, Schöpfung, Vorsehung, Absicht und Gesetze, von der Seele geistigem Wesen, Natur und Unsterblichkeit u. s. w. nicht allein voraus, sondern es leget dieselben auch zum Grunde, und flicht sie mit in das Lehrgebäude seiner Geheimnisse ein. Was wäre also an sich menschlicher, was wäre dem Christenthume selbst vortheilhafter, als daß alle Menschen zuvörderst die edle Gabe der gesunden Vernunft auch zum Erkenntnisse ihres Schöpfers anwendeten; und diese Einsicht, so weit sie reichet, mit den Glaubenslehren verknüpften?« Siehe ausführlich dazu Henrik Petersen: B. H. Brockes, J. A. Fabricius, H. S. Reimarus: Physikotheologie im Norddeutschland des 18. Jahrhunderts zwischen theologischer Erbauung und Wissensvermittlung. Dissertation Kiel 2004, S. 168–170. 2 Zur epikureischen Ablehnung der Vorsehung siehe Epicurus: Ad Herodotum, 76f. (zitiert nach Epicuro: Opere. Hg. von Graziano Arrighetti. Turin 21973); Lucretius: De rerum natura, II.646–651, 1093–4; V.165–169 (zitiert nach Titus Lucretius Carus: De rerum natura libri sex. Hg. von Josef Martin. Leipzig 1969). Laut Plutarch stritten in dieser Frage die Stoiker am heftigsten mit den Epikureern, SVF, II.1115 (zitiert nach Stoicorum veterum fragmenta. Vol. 1–3. Hg. von Hans von Arnim. Leipzig 1903, ND 1968). Nach Ursel Wicke-Reuter: Göttliche Providenz und menschliche Verantwortung bei Ben Sira und in der frühen Stoa. Berlin, New York 2000, S. 29 steht die epikureische Gottesvorstellung der stoischen kontradiktorisch gegenüber. Zur begrifflichen Bestimmung des höchsten Gutes bei Epikur siehe Horst Steckel: Epikurs Prinzip der Einheit von Schmerzlosigkeit und Lust. Dissertation Göttingen 1960, S. 19–21; allgemein dazu Julia Annas: The Morality of Happiness. Oxford 1993, S. 34f. Zur Verbindung von Vorsehung und höchstem Gut in der hellenistischen Philosophie siehe Andree Hahmann: Aristoteles gegen Epikur. Eine Untersuchung über die Prinzipien der hellenistischen Philosophie ausgehend vom Phänomen der Bewegung. Berlin, Boston 2017, S. 157–240. 3 Cicero: De natura deorum, II.76 (zitiert nach Marcus Tullius Cicero: De natura deorum. Über das Wesen der Götter. Hg. von Ursula Blank-Sangmeister. Stuttgart 1995): »Primum igitur aut negandum https://doi.org/10.1515/9783110726558-013

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Welt feststellen lässt, die Welt mithin zum Wohl des Menschen und der übrigen Geschöpfe zweckhaft eingerichtet ist. Diese zweckmäßige Einrichtung kann demnach nur auf der Absicht und dem Wohlwollen Gottes beruhen. In der Antike wird die enge Verbindung zwischen natürlicher Zwecksetzung und Vorsehung besonders deutlich bei den Stoikern.4 So gehen die Stoiker davon aus, dass alles in der Welt zum Nutzen bzw. Gebrauch des Menschen eingerichtet ist, da nur der Mensch aufgrund seiner Vernunftfähigkeit in einem verwandtschaftlichen Verhältnis mit dem Göttlichen steht. Cicero berichtet etwa in seiner der Natur der Götter gewidmeten Schrift, dass Chrysipp der Ansicht gewesen sei, das Schwein habe nur deshalb eine Seele, damit sich sein Fleisch länger zum Verzehr eigne oder die Existenz der Bettwanze sorge dafür, dass der Mensch den Tag nicht untätig im Bett verbringe oder noch schlimmer, den sinnlichen Lüsten hingebe, zu denen das Bett auch einladen könnte.5 Zu eben solchen Lüsten rufen nach Ansicht der antiken Kritiker die Epikureer mit ihrer dem Wesen nach gottlosen Philosophie auf. Gottlos soll diese sein, obwohl Epikur explizit die Existenz der Götter behauptet,6 ja die Götter nehmen sogar eine zentrale Rolle in der epikureischen Philosophie als weise Vorbilder für die Menschen ein. Mit Philodems Schrift Über die Frömmigkeit ist sogar ein eindrucksvolles Zeugnis dieser Religiosität aus der Schule Epikurs erhalten geblieben. Die Gegner Epikurs führen hiergegen allerdings an, dass, wer die göttliche Vorsehung bestreitet, der raube Gott die einzig sinnvolle Beschäftigung und mache ihn

|| est esse deos, quod et Democritus simulacra et Epicurus imagines inducens quodam pacto negat, aut qui deos esse concedant is fatendum est eos aliquid agere idque praeclarum; nihil est autem praeclarius mundi administratione« (»Als erstes haben wir nun die Wahl, entweder die Existenz der Götter zu bestreiten, wie dies sowohl Demokrit mit seinen Abbildern wie auch Epikur mit seinen Bildern auf gewisse Weise tun, oder aber die Existenz der Götter anzunehmen und dann zuzugestehen, daß sie irgendwie tätig sind, und zwar auf die vollkommenste Weise. Es gibt aber kein vollkommeneres Tun als die Verwaltung der Welt [d. h. die göttliche Vorsehung, A.H.]«). Für die Stoiker ist daher die Vorsehung eine wesentliche Tätigkeit bzw. Qualität Gottes, vergleichbar der weißen Farbe des Schnees, wie Alexander von Aphrodisias berichtet. SVF (s. Anm. 2), II.1118; siehe auch ebd., II.1117; 1120. 4 Zur stoischen Konzeption der Vorsehung siehe Silke-Petra Bergjan: Der fürsorgende Gott. Der Begriff der Pronoia Gottes in der apologetischen Literatur der Alten Kirche. Berlin, New York 2002, S. 14f.; Myrto Dragona-Monachou: Stoic Arguments for the Existence and Providence of the Gods. Athen 1976, S. 133f.; Dorothea Frede: Theodicy and Providential Care in Stoicism. In: Traditions of Theology. Studies in Hellenistic Theology, its Background and Aftermath. Hg. von Dorothea Frede und André Laks. Leiden, Boston, Köln 2002, S. 85‒117; Hahmann: Aristoteles gegen Epikur (s. Anm. 2), S. 342–401. 5 Cicero: De natura deorum (s. Anm. 3), II.37; 122; 154–160. 6 Ebd., I.44-46; Lucretius: De rerum natura (s. Anm. 2), V.1169–71. Epikur: Ad Menoeceum (s. Anm. 2), 123.2–4. Einen guten Überblick über die epikureische Theologie geben Arthur A. Long, David N. Sedley: Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare. Stuttgart, Weimar 2000, S. 169–174.

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bedeutungslos für die Menschen.7 Auf die enge Verbindung zwischen Vorsehung und Annahme einer teleologischen Ordnung der Welt sowie die Bedeutung, die diese Vorstellung für den Götterglauben insgesamt einnimmt, weist auch Richard Wynne, der englische Übersetzer von Reimarus’ Werk Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion hin. In einem Schreiben an die Herausgeber des Monthly Review entgegnet er seinen Kritikern: Neither the Philosopher [Epikur] nor the Poet [Lukrez] absolutely denied the existence of a God; but they stripped him of all wisdom, Goodness, and end or design in the creation; for they denied final causes, represented the world as unworthy of a Divine Architect, and held that every thing in it owed its origin to chance or necessity, a fortuitous concourse of atoms, or spontaneous generation.8

Vorausgegangen war diesem Brief die Klage eines Rezensenten über den Untertitel der von ihm angefertigten Übersetzung der Schrift: »Wherein the Objection of Lucretius, Buffon, Maupertuis, Rousseau, La Mettrie and other ancient and modern Followers of Epicurus are considered and their Doctrines refuted.« Reimarus hatte den Titel nicht autorisiert und zeigte sich nicht sonderlich erfreut darüber, dass Buffon und Maupertuis zusammen mit Lukrez und dem bekennenden Epikureer La Mettrie genannt werden. Wynne entgegnet den Bedenken jedoch mit dem Hinweis, dass diese sich selbst auf die Seite der Epikureer gestellt haben »by adopting their arguments.« Wir werden sehen müssen, ob sich nicht mit derselben Begründung auch Teile von Reimarus’ Argumentation dem Wesen nach als epikureisch herausstellen, und zwar auch dann, wenn er sich in der von Wynne offensichtlich als entscheidend angesehenen Frage der spontanen Erzeugung vehement gegen die Position der antiken Epikureer und ihrer vermeintlich modernen Schüler stellt. Wynne besteht nun jedenfalls darauf, dass Reimarus die französischen Denker mit Epikur gleichgestellt hat, ob es ihm nun passt oder nicht. Reimarus’ Kritik an Epikur greift dabei einen, soweit ich sehen kann und heute bekannt ist, in der antiken Debatte weniger beachteten Aspekt der epikureischen Philosophie heraus, und zwar Epikurs Vorstellung einer spontanen Erzeugung der

|| 7 Cicero: De natura deorum (s. Anm. 3), II.44: »Quae qui videat non indocte solum verum etiam impie faciat si deos esse neget. nec sane multum interest utrum id neget an eos omni procuratione atque actione privet; mihi enim qui nihil agit esse omnino non videtur« (»Wer dies einsieht, würde nicht nur ungebildet, sondern auch gottlos räsonieren, wenn er leugnen wollte, daß es Götter gibt. Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob man die Existenz der Götter bestreitet oder sie jeder Fürsorge für die Welt und jeder Tätigkeit beraubt. Ich jedenfalls meine, daß ein Wesen, das nicht tätig ist, überhaupt nicht existiert«). Siehe auch ebd., I.2f.; II.76; Marcus Aurelius: Ad se ipsum. II.11.1.3.‒2.1 (zitiert nach Marc Aurel: Wege zu sich selbst. Griechisch-deutsch. Hg. von Rainer Nickel. Düsseldorf 1998). 8 Richard Wynne: To the Authors of the Monthly Review [The Monthly Review, March 1767], Materialien. In: Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), Bd. 2, S. 873f.

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natürlichen Arten.9 Damit richtet sich Reimarus zwar unmittelbar an die zeitgenössische Debatte zu dieser Problematik, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem aufgrund der Arbeiten von Maupertuis and Buffon noch einmal an Fahrt aufgenommen hatte.10 Wie jedoch Jonathan Israel meint, sollte man Reimarus’ Kritik an diesen Zeitgenossen im Kontext seiner grundlegenden Ablehnung des Spinozismus verstehen, den er in gewisser Hinsicht eng mit der antiken Schule der Epikureer verbindet. Entscheidend ist hierbei erneut Epikurs Zurückweisung teleologischer Strukturen in der Welt, die auf eine göttliche Absicht hindeuten könnten.11 Reimarus’ eigene Position zu dieser Fragestellung ist entsprechend eingebettet in weitere kosmologische Überlegungen, die letztlich Teil eines ausgefeilten Gottesbeweises sind. Im Fokus der nachfolgenden Untersuchung sollen nun Reimarus’ Ausführungen zur inneren und äußeren Zweckmäßigkeit stehen. Ich werde veranschaulichen, weshalb Reimarus glaubt, ausgehend von seinen Argumenten gegen die Möglichkeit einer spontanen Erzeugung zweckmäßig organisierter Lebewesen auf eine notwendig vorausgesetzte äußere Zwecksetzung schließen zu können, die auf göttlicher Absicht beruht. Außerdem werden wir sehen, wie Reimarus in seine Kritik an den epikureischen Ansätzen zur spontanen Erzeugung der Lebewesen stoische Vor|| 9 Siehe auch Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 79ff. 10 Zur historischen Debatte um die Theorie der spontanen Erzeugung siehe Julian Jaynes, William Woodward: In the Shadow of the Enlightenment: I. Reimarus against the Epicureans. In: Journal of the History of Behavioral Sciences 10.1 (1974), S. 3–15, hier S. 10–12. Aufschlussreich für die vorausgehende Diskussion im 17. Jahrhundert ist Matthew R. Goodrum: Atomism, Atheism, and the Spontaneous Generation of Human Beings: The Debate over a Natural Origin of the First Humans in Seventeenth-Century Britain. In: Journal of the History of Ideas 63.2 (2002), S. 207–224. Zur Einordnung in die übergeordnete Entwicklung der Naturphilosophie im 18. Jahrhundert siehe John H. Zammito: The Gestation of German Biology: Philosophy and Physiology from Stahl to Schelling. Chicago 2018, speziell zu Reimarus’ Einwänden gegen die Theorie der spontanen Erzeugung siehe S. 134–138. 11 Für Spinoza ist die Zurückweisung einer göttlichen Vorsehung bekanntlich zentraler Aspekt seiner Religionskritik. Jonathan I. Israel: The philosophical Context of Hermann Samuel Reimarus Radical Bible Criticism. In: Between Philology and Radical Enlightenment: Hermann Samuel Reimarus (1694-1768). Hg. von Martin Mulsow. Leiden 2011, S. 183–200, hier S. 189f., hebt hervor, dass Spinoza zwar nur »very rarely« ausdrücklicher Gegenstand von Reimarus’ Kritik sei (s. etwa Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten [s. Anm. 1], III, §§ 13f, S. 188–195), stattdessen richte sich diese gegen La Mettrie oder Buffon, deren Ansätze Reimarus aber mit dem Spinozismus assoziiere. Die Verbindung von Spinozismus und Epikureismus findet sich bereits bei Reimarus’ Lehrer Fabricius, der 1725 die Schrift Delectus argumentorum et syllabus scriptorum qui veritatem religionis christianae adversus atheos, Epicureos, Judaeos et Muhammedanos lucubrationibus suis asseruerunt veröffentlichte. Siehe dazu Wilhelm Schmidt-Biggemann: Einleitung. In: Hermann Samuel Reimarus: Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrers Gottes. Göttingen 1994, S. 30. Dass Reimarus mit seinem Projekt in erster Linie »Freethinking Epicureans« anvisiert, behauptet hingegen Zammito: German Biology (s. Anm. 10), S. 135.

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stellungen einfließen lässt, aber ebenso gegen stoische Überzeugungen mit Epikur argumentiert. Im Ergebnis erhalten wir somit eine bemerkenswerte Synthese dieser beiden antiken Schulen, die zugleich ein Schlaglicht auf die enge Verknüpfung von innerer und äußerer Zwecksetzung in der vorkantischen Philosophie des 18. Jahrhunderts wirft. Mein Text ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil thematisiere ich die antiepikureischen Argumente, die Reimarus in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen und antiken Positionen ausführt. Der zweite Teil betont hingegen einige Berührungspunkte zwischen Reimarus’ Ansatz und der epikureischen Philosophie, und zwar zum einen mit Blick auf die Grundzüge von Reimarus’ Kosmologie und zum anderen hinsichtlich seiner Bewertung der Lust für die physische Vollkommenheit der Welt. Das macht die beiden Philosophen zwar noch nicht zu engen Freunden, aber ganz sicher ist Reimarus gut bekannt mit Epikur.

1 Innere und äußere Zwecksetzung Die für unsere Diskussion relevanten Überlegungen sind wie gesagt Teil eines kosmologischen Gottesbeweises, der sich über die ersten drei Abhandlungen von Reimarus’ Schrift Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion erstreckt.12 In der ersten Abhandlung legt Reimarus dar, dass die Lebewesen und deren Gattungen keine unendliche Existenz haben können und somit entstanden sein müssen.13 Beachtlich ist nun, dass Epikur, soviel wir wissen, in dieser Frage mit Reimarus einer Ansicht gewesen sein muss.14 Im Gegensatz zu Reimarus gehen Epikur bzw. Lukrez jedoch davon aus, dass die Welt oder die Natur die Gattungen der Lebewesen aus sich selbst hervorgebracht hat.15 Um den göttlichen Ursprung der Welt und des Lebens zu erweisen, muss Reimarus diese Option ausschließen. Reimarus sieht grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Erstens könnte die Welt als an sich leblose Materie Grund des organisierten Lebens sein. Zweitens wäre die Welt selbst belebt und zeugt entsprechend als Lebewesen anderes Leben. Die zweite Alternative kann wiederum auf zweierlei Weise gedacht werden. Zum einen wäre die Welt belebt im Sinne eines || 12 Zur Struktur des Werkes siehe Petersen: Physikotheologie (s. Anm. 1), S. 168–177. Gawlick: Einleitung (s. Anm. 1), S. 19 weist darauf hin, dass Reimarus die Bezeichnung ›kosmologischer Beweis‹ von Kant übernommen haben könnte, der diese 1762 in seiner Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes eingeführt hat. 13 Zu Reimarus’ Argumenten gegen die Unendlichkeit der Welt siehe Joseph Engert: Hermann Samuel Reimarus als Metaphysiker. Paderborn 1908, S. 38–41. 14 Leider ist der Großteil von Epikurs eigenen Schriften verloren. Wir sind jedoch recht gut über die Einzelheiten seiner Naturphilosophie durch spätere Werke, vor allem den römischen Dichter Lukrez unterrichtet. Siehe unten Anm. 18. 15 Lukrez: De rerum natura (s. Anm. 2), V.780‒836; siehe auch ebd., II.590–600; III.713–740.

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einzigen Weltlebewesens. Zum anderen wären ausschließlich ihre kleinsten Bestandteile belebt. In beiden Fällen würden die Lebewesen jedoch nicht aus an sich Unbelebtem, sondern bereits Belebtem hervorgehen. Die erste Alternative, also dass Belebtes aus Unbelebtem entsteht, wäre die von Reimarus in der zweiten Abhandlung kritisierte epikureische Position. Gegen die zweite Alternative richtet sich Reimarus in der dritten Abhandlung. Die Vertreter der beiden Varianten werden von ihm an dieser Stelle nicht explizit benannt. Reimarus bemerkt jedoch, dass sich die Vorstellung der Welt als Lebewesen auch schon bei den »Alten« findet.16 Infrage kämen die oben bereits genannten Stoiker. Aber auch Platon hat im Timaeus ähnlich argumentiert.17 Die zweite Version, wonach nur die letzten Bestandteile belebt wären, scheint leibnizschen Ursprungs zu sein. Leibniz geht bekanntlich davon aus, dass die letzten Bestandteile der Materie, die Monaden, über Vorstellungskräfte verfügen. Maupertuis hat diese Annahme in seinem Système de la nature von 1751, also nur kurz vor der Publikation der Natürlichen Religion, aufgegriffen und seinem System angepasst.18 Wenden wir uns zunächst Reimarus’ Kritik an Epikur zu: Der Großteil der epikureischen Schriften ist leider verloren, mit Ausnahme von drei längeren Briefen sowie einer Sammlung von Hauptlehrsätzen, in denen Epikur die Grundzüge seiner Lehre

|| 16 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), II, § 7, S. 113f.: »Die mehresten der Alten waren doch in dem Stücke klüger, daß sie noch einen Verstand, der sich durch die ganze Natur erstrecket, (Mentem per rerum naturam intentam) zuließen. Auch die, welche eine Seele der Welt gesetzet, die ihren Körper in vielerley Gestalten verändere und bilde, scheinen doch alle Wege erträglicher zu seyn.« 17 Marcus Aurelius: Ad se ipsum (s. Anm. 7), IV.40.1.1–4: »Ὡς ἓν ζῷον τὸν κόσμον, μίαν οὐσίαν καὶ ψυχὴν μίαν ἐπέχον, συνεχῶς ἐπινοεῖν καὶ πῶς εἰς αἴσθησιν μίαν τὴν τούτου πάντα ἀναδίδοται καὶ πῶς ὁρμῇ μιᾷ πάντα πράσσει καὶ πῶς πάντα πάντων τῶν γινομένων συναίτια καὶ οἵα τις ἡ σύννησις καὶ συμμήρυσις« (»Sich den Kosmos ununterbrochen als ein Lebewesen denken, dass nur eine Substanz und eine Seele besitzt, und wie alles in die eine Wahrnehmung des Kosmos aufgenommen wird und wie er alles durch einen einzigen Antrieb in Bewegung setzt und wie alles Mitursache ist von allem, was geschieht, und wie das Verwobensein und die Verflochtenheit aussieht – [das bedenke bei dir]«). Siehe auch ebd., VII.9.1.1–6; VII.13.1.1–8; Cicero: De natura deorum (s. Anm. 2), II.29. Für Platon siehe Timaeus, 30a6‒c1 (zitiert nach Platonis opera. Bd. 4. Hg. von John Burnet. Oxford 1902, ND 1968). Zur stoischen Rezeption des platonischen Timaeus siehe Gretchen ReydamsSchils: Posidonius and the Timaeus: Off to Rhodes and Back to Plato? In: The Classical Quarterly 47.2 (1997), S. 455–476 und dies.: Demiurge and Providence: Stoic and Platonist Readings of Plato’s Timaeus. Turnhout 1999. 18 Jaynes, Woodward: Shadow of the Enlightenment (s. Anm. 10), S. 12. Dass Leibniz’ Konzeption im 18. Jahrhundert zumindest so verstanden wurde, stellt Charles T. Wolfe: Endowed Molecules and Emergent Organization: The Maupertuis-Diderot Debate. In: Early Science and Medicine 15.1/2 (2010): Transitions and Borders between Animals, Humans and Machines 1600‒1800, S. 38‒65, hier S. 39 heraus.

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darlegt.19 Beides ist bei Diogenes Laërtius überliefert. Hierauf gründet auch Gassendi seine Rekonstruktion der epikureischen Lehre.20 Wie Goodrum hervorhebt, lag es vor allem an Gassendis Einsatz, dass das Interesse am Atomismus im 17. Jahrhundert neu entflammte.21 Gassendi, selbst katholischer Theologe, hat in seinen Schriften den Versuch unternommen, Epikurs Philosophie mit den Lehren der Kirche zu vereinbaren, um auf diese Weise den Boden für eine erneute Auseinandersetzung mit dessen Philosophie zu bereiten. Wie gesagt, ein solches Vorhaben verträgt sich schlecht mit Epikurs Leugnung der göttlichen Vorsehung. Das Problem löst Gassendi dadurch, dass er kurzerhand die stoische Konzeption der Vorsehung mit Epikurs Atomismus verbindet. Aber auch die von den antiken Atomisten vertretene Theorie der spontanen Erzeugung musste umformuliert werden. Zu diesem Zweck hat Gassendi einige wesentliche Neuerungen an Lukrez’ atomistischem Modell vorgenommen. Seiner Ansicht nach bestehen die Atome nicht von Ewigkeit her, wie Lukrez noch in Übereinstimmung mit Epikur behauptet hat. Auch ihrer Anzahl nach sollen sie nicht unzählig sein. Gassendi streicht stattdessen heraus, dass die Atome endlich sind und von Gott erschaffen wurden. Wie genau sich nun aber die Erzeugung der Lebewesen aus den speziellen Samen (›semina‹), die bereits von Lukrez angeführt wurden, vollzogen haben könnte, lässt Gassendi offen. Er schlägt vor, dass Gott diese erschaffen und auf der Erde verteilt haben könnte. Ebenso möglich wäre jedoch die von Epikur favorisierte Lösung einer zufälligen Erzeugung.22 Reimarus bezieht sich in seiner Kritik nicht explizit auf Gassendi. Goodrum betont jedoch, dass auch die Gegner der spontanen Erzeugung im 17. Jahrhundert dies nicht getan haben.23 Wahrscheinlich ist jedoch, dass die von Reimarus anvisierten

|| 19 Zur problematischen Quellenlage der hellenistischen Philosophie insgesamt sowie zur Frage, weshalb so viele der Schriften verloren sind, siehe Jaap Mansfeld: Sources. In: The Cambridge History of Hellenistic Philosophy. Hg. von Keimpe Algra, Jonathan Barnes, Jaap Mansfeld und Malcolm Schofield. Cambridge 1999, S. 3‒30; insbesondere zur epikureischen Philosophie siehe ebd., S. 5f. 20 Gassendis erste Arbeit zu Epikur erschien 1647: De vita, moribus et placitis Epicuri; 1649 sind die Animadversiones in decimum librum Diogenis Laertii erschienen und 1658 schließlich die Syntagma philosophiae Epicuri. 21 Goodrum: Spontaneous Generation (s. Anm. 10), S. 209. 22 Ebd., S. 211 verweist auf Syntagma Philosophicum II.262–278. 23 Goodrum: Spontaneous Generation (s. Anm. 10), S. 222. Jedenfalls finden die von Reimarus vorgebrachten Gegenargumente ihre Vorläufer bei Matthew Hale und Richard Bentley, wie aus Goodrum (ebd., S. 213–217) hervorgeht. Ein entscheidender Unterschied zwischen der Diskussion im 17. und 18. Jahrhundert ist jedoch, dass im 17. Jahrhundert noch nicht durch Experimente nachgewiesen werden konnte, dass selbst einfachste Lebewesen nicht spontan entstehen. So konnten sich die Vertreter der spontanen Erzeugung des Lebens im 17. Jahrhundert auf einen weitverbreiteten Glauben berufen, dass etwa Fliegen, Maden und sogar Frösche spontan entstehen (s. ebd., S. 217). Zu den Experimenten, auf die Reimarus verweist, siehe Engert: Reimarus als Metaphysiker (s. Anm. 13), S. 43.

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Zeitgenossen durch Gassendi beeinflusst wurden.24 Die für Reimarus relevante Konzeption der spontanen Erzeugung des Lebens ist unmittelbar aus Lukrez’ Werk Über die Natur entnommen.25 Wie Schmidt-Biggemann bemerkt, hat Reimarus, der in Jena von dem Philosophiehistoriker und Thomasius-Schüler Johann Franz Budde unterrichtet wurde, ein ausgeprägtes Interesse für die Philosophiegeschichte.26 Lukrez hat seine Schrift wohl in enger Anlehnung an Epikurs Buch Über die Natur in der Mitte des ersten Jahrhunderts vor Christus verfasst.27 Dort heißt es, dass die ersten Lebewesen durch Einwirkung der Sonne im Erdboden entstanden sind, so wie noch immer Fliegen und Maden spontan im verrottenden Fleisch oder Schlamm des Nils entstehen. Diese ersten Lebewesen sollen zu Beginn größtenteils missgebildet gewesen sein. In einem natürlichen Selektionsprozess sind dann aber diejenigen ausgestorben, die unfähig waren, zu überleben oder sich fortzupflanzen. Nach unzähligen Fehlgeburten und Versuchen ist es auf diese Weise zur Bildung der ordentlichen Gattungen gekommen.28 Reimarus hat den antiken Text sehr sorgfältige studiert.29 Das zeigt sich etwa daran, dass er auf interne Inkohärenzen in Lukrez’ Argumentation hinweist. So stellt Lukrez einmal die Natur als verständige, milde und gütige Schöpferin dar, die die Dinge aus Samen heraus entwickelt und ernährt. Woanders heißt es dann aber, sie sei blind, unverständig, neidisch und ohnmächtig.30 Die Stärke von Reimarus’ Diskussion liegt jedoch nicht so sehr in seiner textimmanenten Kritik, sondern in der weiter ausholenden wissenschaftlichen Diskussion des Phänomens der spontanen Erzeugung selbst. Petersen stellt dazu heraus, dass Reimarus in der umfangreichen

|| 24 Dass Maupertuis seinen Atomismus aus Gassendi entnommen hat, wurde bereits früh vermutet. Vgl. W. H. Brewer: Gassendi and the Doctrine of Natural Selection. In: Nature 26. Juni (1873), S. 162f.; Wolfe: Endowed Molecules (s. Anm. 18), S. 39f. 25 Lukrez: De rerum natura (s. Anm. 2), V.780–836. Die Vorstellung einer spontanen Erzeugung von Lebewesen findet sich bereits bei Anaximander und wird ausführlich begründet von Aristoteles. Epikur schließt also vermutlich an diese antike Debatte an, auch wenn sich der atomistische Ansatz von diesen antiken Vorgängern unterscheidet, wie Goodrum: Spontaneous Generation (s. Anm. 10), S. 207f. bemerkt. 26 Schmidt-Biggemann: Einleitung (s. Anm. 11), S. 16. 27 Zu Lukrez’ Verhältnis zu Epikur siehe David Konstan: Epicurus. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Hg. von Edward N. Zalta. . 2018 und Giuliana Leone: Epicuro Sulla natura libro II. Naples 2012. 28 Lukrez: De rerum natura (s. Anm. 2), V.850‒879. 29 Auf Reimarus’ Leistungen als Klassischer Philologe weisen auch Jaynes, Woodward: Shadow of the Enlightenment (s. Anm. 9), S. 7 hin. Zusammen mit seinem Lehrer Fabricius und Valesius hat Reimarus etwa die Römische Geschichte von Cassius Dio übersetzt und in zwei Bänden 1750 und 1752 herausgegeben. 30 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), II, § 1., S. 83f. Vgl. Lukrez: De rerum natura (s. Anm. 2), V, 781–790, 819; 835. Vgl. Engert: Reimarus als Metaphysiker (s. Anm. 13), S. 42.

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Einarbeitung zeitgenössischer wissenschaftlicher Erkenntnisse in eine philosophisch-theologische Fragestellung seinem Lehrer Fabricius sowie Brockes folgt.31 Mit Blick auf die Sachdiskussion lassen sich nun zwei Thesen differenzieren, die von Reimarus nicht immer scharf voneinander getrennt werden: Erstens die These, dass das organisierte Leben aus toter Materie entstehen könne. Zweitens, dass eine Ordnung der Gattungen aus einer zufälligen Erzeugung hervorgegangen sei. Ordnung würde sich demzufolge von selbst oder natürlich aus dem an sich Ungeordneten oder Zufälligen einstellen. Wie gesagt, richtet sich Reimarus damit nicht nur gegen die antiken Epikureer, sondern greift aktiv in eine zeitgenössische Debatte ein. Im Fokus seiner Kritik liegen vor allem La Mettrie, dessen kruder Materialismus explizit an Epikur anschließt, sowie Needham, der Cartesianer Buffon und der oben bereits erwähnte Maupertuis.32 Reimarus argumentiert teils sehr detailliert und, wie schon erwähnt wurde, mit Bezug auf neuere wissenschaftliche Beobachtungen gegen die einzelnen Versionen der Theorie der spontanen Erzeugung. Für unser Anliegen von Interesse sind aber vor allem die philosophisch-begrifflichen Aspekte der Fragestellung, ob organisierte Prozesse bzw. eine teleologische Ordnung spontan erzeugt werden können. Diese Kritik betrifft die zeitgenössischen und antiken Positionen gleichermaßen. So sind die Epikureer der Ansicht, dass dies unter der Voraussetzung einer genügend hohen Anzahl von Versuchen möglich ist. In einer sowohl zeitlich als auch räumlich unendlichen Welt wäre somit nicht ausgeschlossen, dass sich zu irgendeinem Zeitpunkt an irgendeinem Ort eine solche Kombination der Materie ergibt, die organisierte Prozesse von selbst entstehen lässt. Reimarus betont hingegen in Anbetracht der Vielzahl der in einem Lebewesen involvierten Vorgänge, dass dies nicht durch den Zufall geleistet werden kann. Zur Verdeutlichung greift er einen Gedanken von Cicero auf, der den Stoiker Balbus im Dialog Über das Wesen der Götter verkünden lässt, dass sich die Annalen des Ennius nicht durch den Zufall ergeben können. Reimarus macht hieraus Vergils Aeneis, vermutlich weil die Schrift des Ennius nicht

|| 31 Petersen: Physikotheologie (s. Anm. 1), S. 182. 32 Siehe etwa dessen anonym erschienene kurze Abhandlung Système d’Épicure (1750). Laut Petersen: Physikotheologie (s. Anm. 1), S. 214 bezieht sich Reimarus auf Buffons mehrbändige enzyklopädische Naturgeschichte Histoire naturelle générale et particulière (1749–1788) sowie auf die von Albrecht von Haller herausgegebene und einleitend kommentierte Ausgabe Allgemeine Historie der Natur (1750–1766). Von Needham lagen ihm wohl die Nouvelles Observations microscopiques (1750) vor. Wir haben oben bereits gesehen, dass die Frage, ob es sich bei den von Reimarus anvisierten Gegnern tatsächlich um Epikureer gehandelt hat oder nicht, kontrovers diskutiert wurde. Ausschließlich La Mettrie bekennt sich explizit zu Epikur. Die anderen Autoren werden hingegen nicht unbedingt mit den antiken Epikureern in Verbindung gebracht. Gawlick: Einleitung (s. Anm. 1), S. 37 zitiert aus dem Journal Encyclopédique (Mai 1766, S. 137): »Cet ouvrage est ridicule, & prouve que l’Auteur ne connoit ni les écrits de M. Buffon, ni ceux de M. de Maupertuis.«

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überliefert ist.33 Gegen das Argument haben spätere Materialisten jedoch eingewandt, dass es vielleicht unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich ist, dass sich die Aeneis durch einen zufälligen Wurf bildet; vor allem, wenn man die Unendlichkeit der Welt in Rechnung stellt.34 Reimarus erweitert den Einwand jedoch um einen entscheidenden Aspekt. So unterscheidet er zwei Arten von Möglichkeiten, die zusammen zur Wirklichkeit eines Dinges erforderlich sind.35 Zum einen muss es eine innere Möglichkeit geben, die die materiale Grundlage für die Realisierung liefert. In diesem Fall wäre das die Anzahl der Buchstaben, aus denen sich die Aeneis zusammensetzt. An sich betrachtet, reicht das jedoch nicht aus. Hinzukommen muss nach Reimarus ein »verständiger Setzer«, der somit die äußere Möglichkeit abgibt.36 Mit der Absicht und dem Willen dieses »verständigen Setzers« wird das Versepos schließlich realisiert. Reimarus sieht die äußere Möglichkeit als entscheidend für die Realisierung einer organisierten Einheit an. Auf die Erzeugung des Lebens angewandt folgt hieraus, dass beispielsweise der Nilschlamm als Baustoff des Lebens die innere Möglichkeit abgibt. Als äußere Möglichkeit träte nach Ansicht der Materialisten die Kraft der Sonne hinzu, die aus dem Schlamm Leben entstehen lässt.37 Zweierlei ist zu beachten: Erstens müssen im Baustoff als innere Möglichkeit bereits alle zum Ziel erforderlichen Bestandteile enthalten sein, was Reimarus freilich bestreitet, da Schlamm seiner stofflichen Zusammensetzung nach untauglich für die Körperbildung ist.38 Zweitens liegt die Hauptlast der Bildung organisierter Körper auf der äußeren Möglichkeit. In diesem Fall wäre das die Sonne. So muss die Sonne

|| 33 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), II, § 8, S. 115: »Daß es nun höchst ungereimt sey, diese Uebereinstimmung in einer solchen Menge von Theilen aus einem ungefähren Zufalle abzuleiten, das mag uns ein bekanntes Gedicht des Virgils, Aeneis genannt, erklären. Es ist zwar viel zu wenig, wenn wir die Buchstaben in Virgils Aeneis, mit der Menge der körperlichen Theile eines Thieres, und den Verstand, den ein virgilisches Gedicht zu verfertigen erfordert, mit der Weisheit, welche zur Bildung eines thierischen Körpers gehöret, in Vergleichung stellen.« Vgl. dazu Cicero: De natura deorum (s. Anm. 3), II.93. Reimarus selbst (Die vornehmsten Wahrheiten [s. Anm. 1], II, § 8, S. 117) verweist auf Cicero: De natura deorum, II.37. 34 Georg Michael Schuler: Der Materialismus. Gewürdigt durch Darlegung und Widerlegung. Berlin 1890, S. 113 verweist auf Piemontval und Diderot. 35 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), II, § 9, S. 117: »Denn, wenn möglich so viel heißen soll, als was wirklich werden kann: so gehöret zweyerley Möglichkeit dazu, daß etwas wirklich werde, nicht allein eine innere, sondern auch eine äussere. Die innere Möglichkeit, daß nämlich etwas dem Wesen eines Dinges nicht widerspricht, ist allein nicht genug, daß es wirklich werde; sondern es muß auch eine äussere hinzukommen, die den völligen Grund der Wirklichkeit in sich halte.« 36 Ebd., II, § 9, S. 118. 37 Ebd., II, § 9, S. 118f. 38 Ebd., II, § 9, S. 119: »Ich behaupte aber, daß keines von beyden, weder innere noch äussere Möglichkeit, da sey, daß jemals aus einem Schlamme oder fauler Materie durch Wärme und Gährung ein Thier erwachse.«

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bei der Herstellung maßvoll, also an einem bestimmten Maß orientiert, verfahren, weil fehlende Bestandteile hinzugenommen und überflüssige weggeschafft werden müssen. Anders ausgedrückt, sie muss das an sich Ungeordnete in eine bestimmte Ordnung überführen.39 Man kann auch sagen, dass diese äußere Ursache zum Grund der zweckmäßigen Organisation der für das Leben erforderlichen Prozesse wird. Wir werden im Nachfolgenden sehen, dass sich vor allem an diese Feststellung weitreichende Annahmen hinsichtlich der zweckhaften Einrichtung der äußeren Ordnung, d. h. der Welt, anschließen. Zunächst stellt sich aber die Frage, wie sich eine Ordnung aus der bloßen Bewegungskraft der Sonne in Verbindung mit Materie bilden kann. Reimarus betont, dass »blinde Bewegungskräfte die Ordnung eines organischen Baues nicht ein einzigmal von ungefähr treffen«.40 Ähnlich wird Kant nur wenige Jahre später behaupten: »[E]s ist für Menschen ungereimt, auch nur [...] zu hoffen, daß noch dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde«.41 Dieses grundsätzliche philosophische Problem wird von Reimarus mit Überlegungen zur Regelmäßigkeit des Zufalls flankiert. Demzufolge kann eine ordentliche Verbindung per se nicht aus Zufall entstehen, da der Zufall seinem Begriff nach Ordnung ausschließt. Es wäre somit begrifflich unmöglich, den Zufall als Ursache für Ordnung anzuführen: Der Zufall, oder das Ungefähr, richtet sich nach Regeln, welche alle darinn ähnlich sind, daß sie einen Grund der Unordnung oder Abweichung von der Uebereinstimmung in sich halten. Die Absicht aber ist es allein, welche die Regel der Ordnung und Uebereinstimmung in allen Stücken giebt.42

Reimarus schließt somit aus, dass der Zufall für die Übereinstimmung der Teile, die in einem Lebewesen zur Organisation gefordert wird, verantwortlich sein könnte, weil zufällig eben gleichbedeutend mit der Abwesenheit jeder Regelhaftigkeit ist. || 39 Ebd., II, § 11, S. 122: »Es sind also drey Verrichtungen, welche die Sonnenwärme in einem Mischmasche grober Theile zu leisten hätte. Sie müßte das Fehlende herbey, das Ueberflüssige wegschaffen, und dann alles in die gehörige Ordnung so vieler tausend thierischen Bildungen bringen.« 40 Ebd., II, § 12, S. 123: »Ich will es endlich aufs äusserste nehmen, und einen ganz einfachen Fall setzen, der zwar nicht ist, noch seyn kann, der aber doch wohl eben derjenige ist, welchen man sich gegenseitig allein vorstellet, ohne die obenangeregten Umstände zu bedenken. Ich setze also, es soll nicht allein alles Nöthige zum thierischen Körper an einem Orte beysammen, sondern auch nichts überflüssig seyn; die bloße Ordnung soll nur fehlen. Nun will ich einem alle blinde Bewegungskräfte in der Welt […] einräumen […]. Dennoch, sage ich, können diese blinden Bewegungskräfte die Ordnung eines organischen Baues nicht ein einzigmal von ungefähr treffen.« 41 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: AA V, S. 165–486, hier S. 400. 42 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), II, § 12, S. 125. Vgl. Engert: Reimarus als Metaphysiker (s. Anm. 13), S. 45.

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Bemerkenswert ist vor allem der Schluss, den er daraus zieht: So kann diese regelmäßige Organisation seiner Ansicht nach nur durch eine äußere Zwecksetzung, d. h. also eine äußere Absicht, geleistet werden. Es ergibt sich somit, dass die Realität der inneren Zweckmäßigkeit notwendig auf die Annahme einer äußeren Zwecksetzung führt. Noch einmal anders formuliert: Wenn wir diese Art des Lebens, dazu ein jedes Thier in seinem Geschlechte bestimmt ist, als die Absicht annehmen: so giebt dieselbe eine Regel, welche den Grund der Uebereinstimmung in den mannichfaltigen Theilen des Thieres in sich fasset. Hergegen mögen wir nach Belieben eine oder mehrere blinde Kräfte der Bewegung in der Natur nehmen, Schwere, Ausdehnung, Anziehung, Wärme, Gährung, und wie sie sonst Namen haben: so richten sie sich alle nach Regeln, welche der Uebereinstimmung der mannichfaltigen Theile nothwendig so lange zuwider laufen müssen, als sie dem Zufalle, oder ungefähren Zusammenlaufe, überlassen sind, und von keinem Verstande nach einer Absicht geleitet werden.43

Die zweckhafte Übereinstimmung in der Organisation der einzelnen Lebewesen ist somit nicht nur Grund genug, den Zufall als Ursache für dieselbe auszuschließen, sondern darüber hinaus muss eine übergeordnete Absicht unterstellt werden, die allein eine solche Übereinstimmung hervorzurufen imstande ist. Im nächsten Abschnitt werden wir diesen Gedanken weiter verfolgen und dann auch sehen, wie sich aus der inneren Zwecksetzung der natürlichen Körper ergibt, dass die Welt, »um eines andern, nämlich um der Lebendigen willen, hervorgebracht sey«.44 Doch zuvor sei daran erinnert, dass uns diese enge Verbindung von innerer und äußerer Zweckmäßigkeit auch als wesentlicher argumentativer Schritt in Kants Kritik der Urteilskraft begegnet.45 Und es sollte uns nicht überraschen, dass Kant ebendort seinen Vorgänger Reimarus für dessen scharfsinnige Argumentation lobt.46 Ebenso wenig überraschen sollte uns an dieser Stelle die Nähe, in die sich Reimarus damit zu den Stoikern und deren Vorstellung einer alles umfassenden Zweckmäßigkeit in der Welt begibt. Nur weichen die Stoiker in zwei wichtigen Punkten von Reimarus’ Konzeption ab. Erstens sind sie nicht der Ansicht, dass die Welt zum Nutzen aller Lebewesen eingerichtet wurde. Sie betonen hingegen, dass es Gott in seiner fürsorglichen Vorsehung vor allem um die vernünftigen Lebewesen geht. So erklären sich auch die oben angeführten Bemerkungen Chrysipps, für den etwa die Natur dem Schwein nur deshalb eine Seele gegeben hat, damit sich dessen || 43 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), II, § 12, S. 127. 44 Ebd., III, § 1, S, 134. Bemerkenswert ist nun, dass Reimarus die Welt anders als die Stoiker nicht allein um der vernunftbegabten Lebewesen willen eingerichtet sein lässt, sondern die göttliche Vorsehung gleichermaßen allen Lebewesen zuteilwerden lässt. 45 Kant: Kritik der Urteilskraft (s. Anm. 41), S. 378f. Siehe dazu Andree Hahmann: Pflichtgemäß aber töricht! Kant über Spinozas Leugnung der Vorsehung. In: Das Leben der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Kants. Hg. von Dieter Hüning, Stefan Klingner und Carsten Olk. Berlin, Boston 2013, S. 477–505, hier insbesondere S. 486–488. 46 Kant: Kritik der Urteilskraft (s. Anm. 41), S. 476f.

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Fleisch länger für den Menschen hält. Zweitens sind die Stoiker der Ansicht, dass die Welt selbst beseelt ist und auf diese Weise die zweckhafte Organisation quasi verinnerlicht hat, weshalb es sich bei ihr auch um ein perfektes Lebewesen handeln soll.47 Genau diese letzte Vorstellung weist Reimarus nicht nur einfach zurück, sondern aus der Zurückweisung selbst folgt für ihn letztlich die Bestätigung der zweckhaften Einrichtung der Welt durch einen göttlichen Verstand.

2 Die Vollkommenheit der Welt Am Ende der zweiten Abhandlung setzt Reimarus somit als erwiesen voraus, dass es unmöglich ist, aus toter Materie in Verbindung mit Bewegung Leben zu erzeugen. Nicht ausgeschlossen wurde bislang allerdings, dass eine an sich lebendige Welt Urgrund des Lebens sein könnte. Deshalb muss Reimarus in der dritten Abhandlung zeigen, »daß die körperliche Welt an sich leblos« ist.48 Ausgangspunkt bildet erneut die in der ersten Abhandlung begründete Annahme, dass das Leben nicht ewig auf der Welt vorhanden sein konnte, sondern zu einem Zeitpunkt entstanden ist. Wie gesagt, Reimarus teilt diese Ansicht mit Epikur. Aus der Annahme folgt bereits, dass das Leben nicht notwendig mit der Welt verbunden sein kann.49 Die Materie muss also eine vom Lebendigen unabhängige Existenz haben. Vor diesem Hintergrund entwickelt Reimarus das folgende kosmologische Argument: Lassen sich die Bewegungen der Weltkörper ohne die Annahme des Lebens erklären, dann muss es auch einen Unterschied zwischen Welt und Lebewesen geben. Die Welt selbst kann folglich kein Lebewesen sein.50 Die Bewegungen der Weltkörper, d. h. der Ablauf von Tag und Nacht und die Jahreszeiten, lassen sich aber durch einfache Bewegungsgesetze hinreichend erklären. Es ist somit nicht notwendig, diese für belebte Wesen zu halten. Die stoische Position, die Gestirne als lebendig bzw. göttlich anzusehen, wäre somit in explanatorischer Hinsicht überflüssig,

|| 47 Siehe oben Anm. 17. 48 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), III, S. 133. Letztlich kann nur auf solche Weise sichergestellt werden, dass die Welt selbst göttlich ist, der Spinozismus mithin ausgeschlossen wäre: »Wer sich selbst auf diese Frage, woher Menschen und Thiere sind, im Ernste Genüge thun will, der wird finden, daß er, nach vielen vergeblichen Ausflüchten, dennoch genöhtiget sey, seinen Abgott, die Welt, vom obersten Throne herunter zu setzen, und den ersten Ursprung der entstandenen Lebendigen höher zu suchen.« Ebd., II, § 14, S. 130. 49 Ebd., III, § 2, S. 135: »Folglich schließt das Wesen der körperlichen Welt und die Natur, an und für sich, die Lebendigen nicht in sich.« 50 Ebd., III, §§ 2‒4, S. 135‒148.

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da die Weltseele nichts zur Erläuterung kosmischer Phänomene beiträgt.51 Reimarus betont außerdem, dass die Welt selbst keinerlei Eigenschaften aufweist, die man dem Lebendigen erfahrungsgemäß zuspricht: Sie nimmt keine Nahrung zu sich. Sie vermehrt sich nicht. Sie nimmt nicht wahr und sie handelt nicht. Sie führt also keine willkürlichen Bewegungen aus.52 Es gibt mithin für Reimarus keinen plausiblen Grund zur Annahme, dass es sich bei der Welt um ein lebendiges Wesen handeln könnte. Man muss an dieser Stelle bemerken, dass die Stoiker tatsächlich der Ansicht waren, dass die Welt alle Eigenschaften des Lebendigen aufweist. So soll sie sich von der Materie ernähren, die darum auch zu einem Zeitpunkt aufgebraucht wird, weshalb Gott als aktives immanentes Prinzip die Welt immer wieder aufs Neue aus sich heraus hervorbringt. Die Welt pflanzt sich somit in gewisser Weise auch fort. Außerdem betonen die Stoiker, dass die Welt empfindsam und im höchsten Grad vernünftig ist.53 Ihre Absicht wäre die für den Menschen bestmögliche Einrichtung und aus ihrem Willen folgt, dass dieser fürsorgende Plan auch umgesetzt wird. Vor allem gegen die letzte Annahme, d. h. gegen die stoische Vorsehung, protestiert Epikur, wenn er eine teleologische Ordnung der Welt zurückweist.54 Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass Reimarus sich in der Frage der Leblosigkeit der Welt auf die Seite Epikurs stellt und unterstreicht, dass sich am Himmel alles eindeutig nach feststellbaren Bewegungsgesetzen vollzieht.55 Anders als die Stoiker sieht er aber in dem regelmäßigen Lauf der Welt keinen Beweis für ihre organische Einheit. Er präferiert stattdessen das (auf letztlich atomistischen Vorstellungen beruhende) Bild einer leblosen Maschine oder,56 wie Reimarus be|| 51 Ebd., III, § 3, S. 138: »Die Weltseele, welche […] als eine natürliche Ursache der Begebenheiten in der Welt angenommen wird, erkläret doch nichts: und ist, so wie andere dergleichen Erfindungen […] ein leerer Ton, und eine bloße Zuflucht der Unwissenheit.« 52 Ebd., III, § 3, S. 138f. 53 Zur stoischen Annahme der Welt als Lebewesen siehe oben Anm. 17. 54 Siehe oben Anm. 2. 55 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), III, § 3, S. 138f. Man wird vielleicht einwenden, dass für Epikur die grundlose Abweichung der Atome von ihrer vorhergezeichneten Bahn ein willkürliches Moment bedeutet. Das ist richtig, ändert aber nichts daran, dass sich für Epikur im Ganzen betrachtet die natürlichen Abläufe regelmäßig nach der Eigengesetzlichkeit der Atome und der daraus folgenden Bewegung vollziehen. 56 Ebd., III, § 4, 141: »Die körperliche Welt ist also nichts anders, als eine große Maschine.« Die Vorstellung der Welt als Maschine wurde prominent von Christian Wolff vertreten. Siehe Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. In: WGW I, 6, § 557: »Denn die Welt ist gleichfals eine Maschine. Der Beweis ist nicht schweer. Eine Maschine ist ein zusammengesetztes Werck, dessen Bewegungen in der Art der Zusammensetzung gegründet sind. Die Welt ist gleichfals ein zusammengesetztes Ding, dessen Veränderungen in der Art der Zusammensetzung gegründet sind (§. 554.).« Vgl. dazu Andree Hahmann: Crusius’ Critique of the Leibniz-Wolffian Ontology. In: Christian August Crusius (1715–1775). Philosophy between Reason and Revelation. Hg. von Frank Grunert, Andree Hahmann und Gideon

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merkt, eines »Perpetuo Mobili«.57 Als Maschine gehorcht sie mechanischen Gesetzen. Aus der Stellung der Planeten gegen die Sonne ergibt sich die Art der Zusammenfügung dieser Ordnung. Und die »Veränderung in diesen zusammengefügeten Theilen geschieht durch gewisse Bewegungskräfte, nach gewissen Gesetzen der Bewegung. Es geht also alles, was in der körperlichen Welt geschieht, mechanisch zu, es kann und muß aus den Bewegungskräften, und ihren Regeln, nach Beschaffenheit der Zusammenfügung in den Theilen, verständlich erkläret werden.«58 Wie wir aus dem Vorausgehenden wissen, ist für Reimarus damit nicht gesagt, dass die Welt selbst keine Zweckmäßigkeit aufweist, aber eben nur so, wie wir diese auch in einer Maschine finden, d. h. ohne eine »innere Vollkommenheit«. Wie genau das gemeint ist, werden wir gleich sehen. Fest steht damit jedenfalls, dass jede Form von stoisch inspiriertem Pantheismus ausgeschlossen oder eben überflüssig ist, da sich alle Bewegungen auch ohne die Zuhilfenahme einer leitenden Absicht allein durch Rückgriff auf mechanische Gesetze erklären lassen. Zusammenfassend stellt Reimarus fest: Man hat also nicht die geringste Ursache, die große körperliche Welt, an und für sich selbst, ohne die Thiere betrachtet, für was anders, als eine leblose Materie anzusehen, die bloß gewisse Bewegungskräfte hat, welche in dieser Eintheilung und Zusammenfügung, nach ihren wesentlichen Regeln, alle in der körperlichen Welt erscheinende Veränderungen hervorbringen. Wer sieht aber nicht, daß hierinn alles, und auch nichts weiter liege, als was man in einer jeden Maschine wahrnimmt?59

Damit wäre für Reimarus auch erwiesen, dass die Welt im Ganzen betrachtet kein Lebewesen sein kann. Wie steht es nun aber um ihre kleinsten Teile? Reimarus betont, dass es auch hier keinen Anlass dazu gibt, den Stoff als empfindsam anzusehen. Denn selbst wenn man den Teilen eine Kraft zur Veränderung zuspräche, würde daraus noch nicht die Empfindsamkeit der Teile folgen. Empfindsamkeit ist für Reimarus jedoch eine Minimalvoraussetzung für Leben. Die materiellen Teile genauso wie die Welt im Ganzen sind somit leblos.60 Auf der Grundlage dieser Feststellung liefert Reimarus die letzte Prämisse seines übergeordneten kosmologischen Gottesbeweises. Aus der Leblosigkeit der Welt folgt nämlich, dass diese auch keine »innere Vollkommenheit« hat und somit auch

|| Stiening. Berlin, Boston 2021, S. 41‒64. Zu Reimarus’ Kenntnis der Schriften Wolffs siehe SchmidtBiggemann: Einleitung (s. Anm. 11), S. 50. 57 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), III, § 3, S. 139: In der Welt wird »beständig alles, seit vielen tausend Jahren, nach einerley Regeln, Richtung, Zeitmaaße, Ordnung und Laufe, ohne alle Abwechselung und Veränderung, wie in einer leblosen Maschine, oder vielmehr, wie in einem Perpetuo Mobili, beweget«. 58 Ebd., III, § 4, S. 141. 59 Ebd., III, § 4, S. 140. 60 Ebd., III, § 3, S. 139f.

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nicht das gesuchte erste und vollständige Wesen sein kann. Was Reimarus unter einer »inneren Vollkommenheit« versteht, fasst er folgendermaßen zusammen: Wenn nämlich das äusserste oder letzte Ziel aller natürlichen Wirksamkeit und Beschaffenheit, woraus die physische Vollkommenheit des ganzen Dinges erkläret werden kann, in dem Dinge selbst ist; so nenne ich es eine innere Vollkommenheit der Natur.61

Hinter der Vorstellung der »inneren Vollkommenheit« steht dem ersten Anschein nach die aristotelische Auffassung, dass der leblose Körper nicht um seiner selbst willen, sondern um eines anderen willen existiert, und zwar um des Belebten willen.62 So behauptet Reimarus nun auch, dass der Körper nur wegen der Seele existiert, da nur die Seele einen Nutzen aus dem Körper ziehen kann. Die Seele wäre somit auch für Reimarus der letzte Zweck oder die Vollendung des Körpers.63 Dasselbe soll für die körperliche Welt im Ganzen gelten, denn auch diese existiert analog zu den natürlichen Körpern nicht um ihrer selbst, sondern um des Beseelten oder Lebendigen willen: Von dieser großen Maschine der körperlichen leblosen Welt sage ich nun, daß sie an sich, wegen ihrer Leblosigkeit, 1) überhaupt keiner innern, sondern bloß einer äußern Vollkommenheit fähig sey; folglich 2) daß sie vielweniger selbständig, nothwendig und ewig seyn könne: sondern 3) von einem andern, um eines andern, nämlich der Lebendigen willen, hervorgebracht seyn müsse.64

|| 61 Ebd., III, § 4, S. 147. Das impliziert, dass das Ziel der nur äußeren physischen Vollkommenheit der unbelebten Welt nicht in der Welt selbst, sondern im Lebendigen und somit auch Empfindungsfähigen liegen muss, was, wie wir gleich sehen werden, einzig des lustvollen Genusses der Welt fähig ist. Siehe ebd., III, § 5, S. 155: »Diesen Mangel der inneren Vollkommenheit schließt die Leblosigkeit einer jeden Materie und Maschine nothwendig in sich. Denn das Leblose genießt seiner eigenen Wirklichkeit auf keine Weise, weder durch Empfindung, Vorstellung, Bewußtseyn, noch durch Lust und Glückseligkeit.« Zuvor hat Reimarus verschiedene Arten der Vollkommenheit unterschieden. Neben der für unsere Fragestellung zentralen physischen Vollkommenheit sieht er noch eine metaphysische und eine moralische Vollkommenheit. Siehe ebd., III, § 4, S. 142. 62 Ebd., III, § 4, S. 141. Auf einer anderen Grundlage argumentiert auch Engert: Reimarus als Metaphysiker (s. Anm. 13), S. 46f. dafür, dass Reimarus damit an aristotelische Vorstellungen anknüpft. Es gibt jedoch, wie wir später sehen werden, bedeutsame Unterschiede. 63 Ebd., III, § 5, S. 153: »Selbst die Vollkommenheit, welche wir den Körpern der Lebendigen, und allen ihren Theilen und Beschaffenheiten beylegen, ist eigentlich nicht im Körper an und für sich, ohne die Seele betrachtet. […] Die Körper der Lebendigen sind bloß dadurch vollkommen, daß sie bequeme Werkzeuge sind, welche mit der Natur oder dem Bemühen jeder Seele, nach ihrer Art des Lebens, übereinstimmen.« Ebd., S. 155: »Denn das Leblose genießt seiner eigenen Wirklichkeit auf keine Weise, weder durch Empfindung, Vorstellung, Bewußtseyn, noch durch Lust und Glückseligkeit.« 64 Ebd., III, § 4, S. 141. Das drückt Reimarus 1755 folgendermaßen aus: »Die Vollkommenheit ist demnach ganz was anders, als Ordnung und Proportion. Diese sind an sich gleichgültig, und es entstehet erst in ihnen eine Vollkommenheit, wenn sie mit einem gewissen Gebrauche, Nutzen und

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Für die innere Vollkommenheit wäre nun entscheidend, dass ein Ding nicht nur eine teleologische Struktur aufweist, denn das gilt für jede Maschine, sondern dass sich der Zweck der Übereinstimmung der gegebenen Kräfte und Qualitäten im Ding selbst befindet. Anders formuliert, aus diesem letzten inneren Ziel können die einzelnen Verbindungen in ihrer Übereinstimmung zu einer organisierten Einheit hinreichend erklärt werden. Entscheidend ist somit, dass sich aus dem Ziel bzw. Zweck alle inneren sowie äußeren Strebungen und Aktivitäten des Dinges erklären lassen. Hierunter fallen für Reimarus nun explizit nicht nur die »lebendigen«, das sind für Reimarus die bewussten oder willentlichen Aktivitäten des Dinges, sondern auch alle sogenannten »blinden Kräfte«. Für Reimarus sind das solche Funktionen in einem Lebewesen, die von den inneren Organen ausgeführt werden und folglich »ohne Empfindung, Bewußtseyn und Absicht handeln«.65 Die inneren Organe selbst sind zwar auch zweckmäßig eingerichtet, aber weisen eben nur eine äußere Vollkommenheit auf, da sie nur »mittlere Ziele« verfolgen, d. h. also, bestimmte für das Überleben notwendige Funktionen erfüllen. Reimarus erinnert hier an die Verdauungskraft der Gedärme, die nicht um der Gedärme willen, sondern der Ernährung des Körpers willen geschieht.66 Diese mittleren Ziele verleihen den Organen nun aber lediglich eine äußere Vollkommenheit. Die Organe gleichen mithin in gewisser Weise menschengemachten Maschinen, die ebenfalls nur äußere Zwecke bedienen. Hierauf werden wir gleich zurückkommen. Die innere Vollkommenheit setzt hingegen voraus, dass nicht nur mittlere Ziele, sondern »das letzte Ziel aller natürlichen Wirksamkeit und Beschaffenheit«,67 welches, wie wir gesehen haben, die genaue Übereinstimmung der einzelnen Kräfte und Strebungen des Dinges erklärt, in diesem Ding selbst zu finden ist. Oben habe ich gesagt, dass diese Vorstellung eine gewisse Gemeinsamkeit mit der aristotelischen Konzeption der Seele und ihrer Gemeinschaft mit dem Körper aufweist. Es gibt aber entscheidende Unterschiede. Auf zwei gravierende Unterschiede möchte ich im Folgenden aufmerksam machen. So werden nämlich diese aristotelischen Ansätze von Reimarus um eine entscheidende und, wie ich meine, epikureische Komponente ergänzt. Reimarus hebt an zahlreichen Stellen die enge Verbindung zwischen innerer physischer Vollkommenheit und Lusterfahrung her-

|| Genusse übereinstimmen« (Hermann Samuel Reimarus: Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Hamburg 1755, § 4, S. 135). 65 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), III, § 4, S. 145. 66 Ebd., III, § 4, S. 146: »Denn aus mittleren Zielen der natürlichen Bemühungen, läßt sich wohl die Uebereinstimmung einiger Theile oder einiger Kräfte und Beschaffenheiten, nicht aber aller Theile, Kräfte und Beschaffenheiten erklären. Der Bau des Magens und der Gedärme mit ihrer Verdauungskraft, könnten mit ihrem besondern Ziele der Verdauung übereinstimmen«. 67 Ebd., III, § 4, S. 147. Entsprechend folgt daraus: »Ist dieß Ziel aber, womit alle natürliche Kräfte und Beschaffenheiten eines Dinges übereinstimmen, nicht in dem Dinge selbst, sondern in Etwas ausser dem Dinge zu setzen: so nenne ich es eine äussere oder relative Vollkommenheit.«

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vor. So streicht Reimarus in einer früheren Ausgabe seiner Natürlichen Religion heraus, dass die Lust den Beurteilungsmaßstab der inneren Vollkommenheit abgibt: Denn beurtheilen wir hiernach die Vollkommenheit eines lebendigen Dinges, oder einer Seele, und nehmen die Lust und Glückseligkeit als dasjenige, womit alles, was in der Seelen ist, übereinstimmet: so siehet ein jeder, daß diese Lust in den Seelen selbst sey, indem sie, in der Lust, ihrer eigenen Wirklichkeit und Beschaffenheit geniessen.68

Für Reimarus bleiben die leblosen Dinge also auch deshalb unvollkommen, weil sie keinen Genuss an ihrer eigenen Beschaffenheit finden. Die Lustempfindung fällt mithin einem anderen zu. In der Ausgabe von 1766 formuliert er zunächst etwas zurückhaltender und gibt die »natürliche Beschaffenheit mit jedes eigener Art des Lebens und der Glückseligkeit« als diesen letzten Grund der inneren Vollkommenheit an. Im Anschluss wird Reimarus jedoch deutlicher und präzisiert: »[S]ie sind sich selbst vollkommen, und haben einen Genuß ihres Daseyns und ihrer Beschaffenheit.«69 Für die äußere Vollkommenheit gilt entsprechend, dass die Dinge nicht selbst Genuss an ihrem Dasein finden, sondern dass dieser von anderen erfahren wird. Das gilt offensichtlich für die von Menschen geschaffenen Maschinen, aber nicht, weil sie von Menschen erschaffen wurden, sondern weil sie ihren Zweck nicht in sich, sondern im Nutzen der Menschen haben. Das haben die menschengemachten Maschinen für Reimarus nun aber mit den »natürlichen Maschinen« gemeinsam. So haben diese zwar eine natürliche Ursache, aber keinen inneren Zweck ihrer Beschaffenheit, sondern zielen auf Wohl und Nutzen eines anderen ab.70 Bevor wir etwas näher auf den Genuss bzw. die Lust eingehen, die Reimarus mit diesen letzten Zielen verbindet, sei auf eine bemerkenswerte Konsequenz aus dieser Auffassung aufmerksam gemacht. Hieraus folgt nämlich, dass auch Pflanzen wegen ihrer lustlosen Existenz nicht um ihrer selbst willen existieren können und folglich nicht im eigentlichen Sinn für Reimarus lebendig sind. Er hebt vielmehr hervor,

|| 68 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten 1755 (s. Anm. 64), III, § 4, S. 135f. Siehe auch ebd., S. 137: »Wenn ich diesen Nutzen oder dieses Vergnügen der Lebendigen aufhebe: so bleibt in den großen und kleinen Weltkörpern, in den Maschinen und Werkzeugen der Menschen selbst nichts übrig, womit alles übereinstimmete.« Ebd., III, § 4, S. 135: »Wenn nun dasjenige, womit alles in einem Dinge übereinstimmet, das ist, der Genuß seiner Wirklichkeit und Beschaffenheit, als der Mittelpunkt alles übrigen, in dem Dinge selbst ist, so hat es eine innere Vollkommenheit.« 69 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), III, § 4, S. 147. Siehe auch ebd., VII, § 8, S. 531: »Wir müssen aber überhaupt voraus setzen, daß wir sowohl, als die Thiere, zu einer gewissen Art der Vollkommenheit, Lust und Glückseligkeit, von dem Schöpfer fähig gemachet und bestimmet sind.« 70 Ebd., III, § 4, S. 148: »[S]o läßt sich eben dasselbe von den Körpern oder Werken der Natur sagen, daß sie bloß eine äussere Vollkommenheit haben, wenn das letzte Ziel der Uebereinstimmung ihrer wirklichen Kräfte und Beschaffenheiten nicht in ihnen selbst, sondern ausser ihnen ist, oder seyn kann.« Zu den natürlichen Maschinen siehe auch ebd., III., § 9, S. 169f.

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dass Leben irgendeine Empfindsamkeit bedingt. Bei den Pflanzen handelt es sich hingegen wie bei der Welt im Ganzen um Maschinen.71 Die strikte Trennung zwischen Pflanzen und Tieren (in dieser Hinsicht) verdeutlicht nun aber auch, dass sich Reimarus’ Ansatz doch erheblich von der aristotelischen Konzeption unterscheidet. Für Aristoteles sind Pflanzen genauso wie Tiere beseelt (und zwar auch dann, wenn sie, wie Aristoteles zustimmen würde, keine Lust erfahren können) oder aristotelisch ausgedrückt: Sie sind Vollkommenheiten oder Entelechien einer auf organische Weise und somit eben zweckhaft angeordneten Materie.72 Dagegen treten die epikureischen Anleihen von Reimarus’ Position noch deutlicher in der siebten Abhandlung hervor, die die menschliche Bestimmung mit der tierischen vergleicht und auf die besondere Genussfähigkeit beider eingeht. Gemeinsam mit den Tieren ist den Menschen nämlich, dass sie die sinnliche Lust suchen und hierin auch in einem gewissen Grad ihre Vollkommenheit finden.73 Wenn Reimarus zugleich den Unterschied zu den Tieren mit der menschlichen Vernunftfähigkeit ansetzt, widerspricht das nur dem ersten Anschein nach der Position Epikurs. Tatsächlich zeigt sich der Vorzug der Vernunft auch für Reimarus darin, dass die Vernunftgabe den Menschen zu höheren Formen der Lust verhilft sowie die sinnliche Lust einerseits mäßigt und andererseits intensiviert.74 Ich möchte nur kurz

|| 71 Ebd., III, § 3, S. 139f.: »Andere haben lieber den kleineren Theilen der Materie, insonderheit allen und jeden Pflanzen, oder wohl gar allen kleinesten Urstoffen, ein besonderes Leben zuschreiben wollen. […] Allein, wie wir uns in unserem eigenen Körper nur eines einzigen Wesens bewußt sind, welchem Leben, Empfindung, Denken und Wollen eigentlich und alleine zukömmt; alle übrige Theile unsers Körpers aber, für sich, keine innere und besondere Empfindung haben, weswegen man ihnen ein Leben zuschreiben könnte: so läßt sich solches noch vielweniger von Pflanzen und andern Körpern […] sagen. […] Das eigentliche Leben erfordert wenigstens eine Empfindung.« Siehe auch ebd., III, § 9, S. 171f. 72 Aristoteles: De anima, II.1. 412a27‒29 (zitiert nach Aristotle: De anima. Hg. von William David Ross. Oxford 1961, Repr. 1967). Beseelt ist für Aristoteles alles, was sich selbst ernährt und geordnet wächst bzw. vermehrt. Siehe ebd., 412a14‒15. Aber auch die Stoiker ziehen in dieser Hinsicht keine so scharfe Trennung zwischen Pflanzen und Tieren. Für sie ist wie gesagt alles in gewisser Weise beseelt, da die Weltseele oder Pneuma als aktives Prinzip nicht nur lebendig, sondern auch für die Gestalt der Dinge verantwortlich ist. 73 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), VII, § 8, S. 531 sowie ebd., S. 533: »Wir sehen besonders daraus, daß uns Gott alle sinnliche Lust, welcher die Thiere genießen können, gleichfalls gegönnet habe: weil er diese süße Empfindung mit dem natürlichen Gebrauche der körperlichen Kräfte und Werkzeuge stets verknüpfet hat. Folglich ist Gottes Absicht auch gemäß, daß wir in der sinnlichen Lust einen Theil unserer Glückseligkeit suchen und finden sollen.« Wie Reimarus im Anschluss bemerkt, haben die Tiere von Natur aus einen gewissen Vorteil gegenüber den Menschen, was diese Art der Lusterfahrung und der damit verknüpften Glückseligkeit angeht (ebd., III, § 9, S. 534). Siehe auch ebd., VIII, § 17, S. 568. 74 Ebd., VII, § 17, S. 566f.: »Wenn wir alles zusammen nehmen, was aus obiger Vergleichung kann geschlossen werden, so erhellet, 1) daß wir durch mehrere Bedürfniß leiblicher Dinge, und durch

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daran erinnern, dass für Epikur die Funktion der Vernunft vor allem darin besteht, als Messkunst die höchsten Lustgefühle zu erreichen.75 Mit Reimarus ließe sich nun sagen, zur größten Vollkommenheit zu führen. Daran ändert auch nichts, dass Reimarus die sinnliche Lust nicht zum einzigen Ziel der menschlichen Natur erklärt,76 sondern daneben auch den Wert der Freundschaft für das gelungene Leben hervorhebt. Denn auch mit dieser Ansicht befindet er sich in guter Gesellschaft mit Epikur und dessen Nachfolgern.77 Die Nähe zu diesen gesteht Reimarus freilich nicht ein.78

|| gänzlichen Mangel angeborener Fertigkeiten, von Natur, wie zur Geselligkeit mit andern Menschen, welche zum Gebrauche unserer Vernunft getrieben werden, sowohl das Benöthigte zu erhalten, als es zu unserm wahren Nutzen anzuwenden. 2) Daß wir aber, durch die Stillung der leiblichen Begierden, nach unserer Natur, nicht so gänzlich zufrieden und glücklich werden können, als die Thiere, sondern eines Theils die sinnliche Lust durch die Vernunft reinigen, vervielfältigen, würzen, und zum feineren Geschmacke bringen; andern Theils, nach unserm Verstande, Vergnügen am Erkenntnisse der Wahrheit, nach dem Willen, Lust an der Vollkommenheit der Dinge finden, und darinn durch die Natur bis zur ersten Quelle aller Wahrheit und Vollkommenheit steigen. 3) Daß unsere Fähigkeit und Begierde nicht in so engen oder gemessenen Schranken der Vollkommenheit und Glückseligkeit, als der Thiere, eingeschlossen ist; sondern, daß sich beydes unsere Vorstellung des möglichen und zukünftigen Guten, und unser Bemühen nach diesem erkannten Guten, über die Schranken des jederzeit gegenwärtigen Zustandes zu immer mehrerer Vollkommenheit und Glückseligkeit, bis ins Unendliche, erstrecket. In diesen Stücken besteht demnach des Menschen besondere und vorzügliche Natur.« Siehe auch ebd., VII, § 13, S. 546 und S. 548. Auch die Erkenntnis Gottes (sowie jede Art Erkenntnis) bereitet Lust, S. 550‒552. 75 Epicurus: Ad Menoeceum (s. Anm. 2), 132.3–6. Siehe dazu Hahmann: Aristoteles gegen Epikur (s. Anm. 2), S. 167f. 76 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), VII, § 10, S. 537. 77 Ebd., VII, § 10, S. 538: »Mit grober Wollust kann er sich nicht beständig unterhalten. Die Nothdurft ist mit wenigem zufrieden. […] Wenn auch selbst die gemäßigte sinnliche Lust bey uns nicht mit Witze, Geschmacke, Verstande, Einsicht, Gespräche, Freundschaft, Vertraulichkeit, gewürzet und erhöhet wird, so ist sie für uns fast unempfindlich und abgeschmackt.« Vgl. die Darstellung der epikureischen Ethik in Marcus Tullius Cicero: Über die Ziele des menschlichen Handelns / De finibus bonorum et malorum. Hg. von Olof Gigon und Laila Straume-Zimmermann. Düsseldorf, Zürich 22002, I.57: »non posse iucunde vivi, nisi sapienter, honeste iusteque vivatur, nec sapienter, honeste, iuste, nisi iucunde« (S. 55: »[D]ie Menschen könnten nicht lustvoll leben, ohne weise, edel und gerecht zu leben, noch auch weise, edel und gerecht ohne lustvoll zu leben«); I.65: »de qua Epicurus quidem ita dicit, omnium rerum, quas ad beate vivendum sapientia comparaverit, nihil esse maius amicitia, nihil uberius, nihil iucundius« (S. 61: »Darüber sagt Epikur jedenfalls dies, daß unter allen Dingen, die die Weisheit für das glückselige Leben bereitgestellt hat, nichts größer, fruchtbarer und lustvoller sei als die Freundschaft«). Siehe noch einmal Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), VII, § 10, S. 540: »Die innere Zufriedenheit entsteht bey Menschen nicht von Geld und Ehre an sich; sondern von dem Bewußtseyn der Weisheit und Tugend, womit sie beydes erworben haben und gebrauchen.« Dem würde auch Epikur ohne Einschränkung zustimmen. 78 Ich denke, dass daran auch nichts ändert, dass Reimarus ein scheinbar ambivalentes Verhältnis zur sinnlichen Lust hat. So weist Israel: Philosophical Context (s. Anm. 8), S. 196 auf Reimarus’

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Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen Epikur und Reimarus. Denn letzterer geht so weit zu behaupten, dass die Lust in der Absicht Gottes liegt, weshalb Gott die Welt auch zum Genuss der Lebewesen eingerichtet hat.79 Doch bevor wir auf ein wohlbekanntes Problem zu sprechen kommen, das sich aus dieser Annahme ergibt, soll zuvor an den im vorausgehenden Abschnitt gezogenen Schluss erinnert werden, der nun weiter an Schärfe gewinnt. Wir sehen nämlich, dass die teleologische Anordnung der natürlichen Dinge, die sie für Reimarus zu Maschinen macht, zugleich auf ein entscheidendes Defizit verweist: Denn diese ziehen keinen Genuss aus ihrer eigenen maschinenhaften Anordnung. Der Genuss ist aber notwendig, wenn man die mit der Vollkommenheit gegebene Übereinstimmung der Teile zu einem Ganzen in Rechnung stellt. Anders ausgedrückt, nur der letzte Zweck kann die Anordnung der einzelnen Teile zu einer organisierten Einheit vollständig einsichtig machen. Die Lusterfahrung der Lebewesen ist somit nicht nur entscheidender Grund der Vollkommenheit der natürlichen Dinge, sondern zudem auch Beweis dafür, dass die Welt selbst der planenden Absicht Gottes entsprungen ist, weshalb auch jetzt vollends deutlich wird, warum die innere Vollkommenheit eine äußere Absicht bedingt bzw. weshalb innere Zweckmäßigkeit die äußere notwendig zur Folge hat.80 Das stellt Reimarus jedoch vor ein bekanntes Problem. Denn offensichtlich folgen aus der Beschaffenheit der Welt und deren Bewegungsgesetzen auch weniger zuträgliche bzw. lustvolle Ereignisse für ihre Bewohner. Reimarus selbst erwähnt

|| entschiedene Verurteilung der sinnlichen Lüste in seiner Apologie hin. Siehe dagegen Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), VII, § 17, S. 568: »Wir haben freylich eine Begierde zur sinnlichen Lust mit den Thieren gemein: aber diese Begierde ist in unserer Natur nicht durch regelmäßige Triebe, Künste und Fertigkeiten, zu unserem Wohl, bestimmet und beschränket.« Gefordert wird stattdessen die vernünftige Leitung dieser Begierde. Siehe auch oben Anm. 73. 79 Ebd., III, § 9, S. 173: »Und wer die Welt kennen will, was sie für ein Ding sey, der muß diesen Nutzen für die Lebendigen mit zu ihrer Erklärung und zu ihrem wesentlichen Begriffe ziehen, weil er den Grund aller Beschaffenheit der Welt, und selbst aller Natur und mechanischen Bewegungsgesetze in sich hält; sonst weis er noch nicht mehr von der Welt, als der Hottentotte von der Uhr.« Siehe auch ebd., III, § 11, S. 181; § 13, S. 187; § 17, S. 204, S. 206; VII, § 17, S. 567: »Was der Gebrauch der Vernunft zur Erlangung nicht allein einer gereinigten sinnlichen, sondern auch einer immer höheren Gemüthsvollkommenheit und Lust, mit sich bringet, das ist menschlich, das ist natürlich, oder der Absicht des Schöpfers bey unserer Natur gemäß. Denn das Wesen und die Natur der Dinge sind Mittel göttlicher Absichten, und alle Absichten Gottes sind auf das Wohl der Lebendigen gerichtet.« In der neunten Abhandlung streicht Reimarus noch einmal heraus, dass der Mensch in dieser vorgesehenen Ordnung keine Sonderrolle einnimmt (IX, § 7, S. 634): »Das Daseyn anderer möglichen Lebendigen hat einerley Grund mit dem unserigen in der großen Absicht des Schöpfers; es trägt das Seinige gleichfalls zur Vollkommenheit des Ganzen bey«. Das ist freilich ein großer und entscheidender Unterschied zur stoischen Konzeption der Vorsehung. 80 Bemerkenswert ist nun, dass, wie Engert: Reimarus als Metaphysiker (s. Anm. 13), S. 59 bemerkt, zugleich »Spinozas fatale und unbedingte Notwendigkeit« wegfällt, weil das Wesen und die Beschaffenheit der Welt ihren Grund im »Wohle der Lebendigen« hat.

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Missgeburten, Erdbeben, Überschwemmungen etc.81 Aber all das, so versichert er seinen Lesern, sollen nur »unumgängliche Abfälle von Regeln seyn [...], welche sonst durchgehends zu der Lebendigen Besten übereintreffen. Alle Kräfte der körperlichen Welt, und alle Regeln der Bewegung sind, vermöge unleugbarer Erfahrung, wirksame Ursachen von dem Wohl der Lebendigen.«82 Ausführlich diskutiert Reimarus das Problem in der neunten Abhandlung, die der Rechtfertigung der göttlichen Vorsehung in Anbetracht der Übel gewidmet ist. Reimarus geht dort erneut gegen Lukrez vor.83 Hilfe sucht er sich bei Leibniz, aus dessen Theodizee er zum Teil seine Argumente schöpft.84 Ich möchte an dieser Stelle nur kurz daran erinnern, dass Leibniz selbst wiederum vor allem bei den Stoikern gewildert hat.85 Man ist fast schon versucht, den subtilen Humor von Reimarus’ gütigem Schöpfer zu preisen, der Reimarus mit stoischen Argumenten erklären lässt, weshalb die vorausschauende Einrichtung der Welt nicht immer die größte Lust mit sich führt. Nur wenige Jahre später wird der verdeckte Witz solcher Versuche, durch Voltaire, einen weiteren bekennenden Epikureer des 18. Jahrhunderts, dezidiert humorvoll aufgedeckt.86

3 Ergebnis Zum Schluss möchte ich die Ergebnisse meiner Untersuchung noch einmal kurz zusammenfassen. Im Rahmen eines übergeordneten kosmologischen Gottesbeweises, der sich über die ersten drei Abhandlungen von Reimarus’ Schrift Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion erstreckt, weist Reimarus die von Epikur vertretene These einer spontanen Erzeugung des Lebens zurück. Er wendet sich damit auch gegen zeitgenössische Autoren, die in dieser Hinsicht an Epikur bzw. Lukrez anschließen. Wir haben uns vor allem auf die begrifflichen Gründe konzentriert, aus denen folgen soll, dass eine zweckhafte Ordnung nicht zufällig entstehen kann. Reimarus zufolge ist die von der Ordnung verlangte Übereinstimmung der Teile zu einem wohlgeordneten Ganzen nicht mit der Natur des Zufalls vereinbar, sondern setzt eine vernünftige Absicht voraus. Die innere Zweckmäßigkeit bedingt

|| 81 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), III, § 16, S. 203. 82 Ebd., III, § 17, S. 204. 83 Siehe etwa ebd., IX, § 4, S. 620; § 5, S. 625. 84 Ebd., IX, § 2, S. 612; § 16, S. 675f.; III, § 16, S. 202. Zu Leibniz’ Einfluss auf Reimarus siehe Israel: Philosophical Context (s. Anm. 8), S. 192. Gawlick: Einleitung (s. Anm. 1), S. 20f. betont, dass Reimarus, auch wenn seine Argumentation auf »dem Boden des Leibnizischen Optimismus« (ebd.) steht, durchaus einen eigenen Weg verfolgt. 85 David Forman: Leibniz and the Stoics. Fate, Freedom, and Providence. In: The Routledge Handbook of the Stoic Tradition. Hg. von John Sellars. London 2016, S. 226–242. 86 Zu Voltaires Epikureismus siehe Nicolas Cronk: Voltaire. A Very Short Introduction. Oxford 2017, insbesondere Kapitel 2: »The Epicurean Poet«.

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somit aufgrund der darin vorgefundenen Vollkommenheit eine äußere Zwecksetzung. Dass diese Zwecksetzung selbst wiederum nicht durch die belebte Welt als ganze gestiftet werden kann, macht Reimarus dadurch deutlich, dass er dann in Übereinstimmung mit Epikur dafür argumentiert, dass es sich bei der Welt um eine Maschine handeln muss, die nicht um ihrer selbst willen besteht. Vielmehr verweist die in ihren Teilen vorgefundene maschinenhafte Ordnung auf die Absicht eines weisen Urhebers, der die Welt zum Nutzen und Genuss der empfindsamen Lebewesen angeordnet hat. Zugespitzt formuliert: Den letzten Zweck der Schöpfung realisiert die Lust am Genuss der vorgesehenen Ordnung Gottes.

Udo Roth

Von den Trieben und der Lebensart der Tiere Zum naturgeschichtlichen Kontext in Reimarus’ Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere Im November 1837 schreibt ein gerade 19jähriger Student der Jurisprudenz aus Berlin einen langen Brief an seinen Vater. Darin führt er nicht nur die Studieninhalte seines ersten Semester an der Berliner Universität auf, er berichtet auch von anderen ›Beschäftigungen‹ ‒ so habe er die Germania des Tacitus ebenso übersetzt wie Ovids Tristia, auch Aristoteles’ Rhetorik, wenn auch nur teilweise, er habe Bacons De dignitate et augmentis scientiarum gelesen, er habe exzerpiert, aus Lessings Laokoon, Solgers Erwin, aus Winckelmanns Kunstgeschichte ebenso wie aus Heinrich Ludens Geschichte des Teutschen Volkes, sich aber auch »sehr mit Reimarus« beschäftigt, »dessen Buch ›Von den Kunsttrieben der Tiere‹ [er] mit Wollust durchgedacht« habe.1 Im Folgenden soll nicht die Reimarus-Rezeption des jungen Briefschreibers ‒ es war Karl Marx ‒ im Mittelpunkt stehen, doch zeugen diese Zeilen davon, dass auch noch gut ein dreiviertel Jahrhundert nach der Publikation dieses ‒ so Herder in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit2 ‒ »vortreffliche[n] Buch[s]« Reimarus’ Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere3 eine gewisse Resonanz fanden. Und dies, obwohl es seinerzeit gleichsam ›zerrissen‹ wurde. Moses Mendelssohn etwa urteilt im 130. der Briefe, die neueste Litteratur betreffend: Unter den Hypothesen der Neuern von den Trieben der Thiere, die Hr. Reimarus anführt und bestreitet, hätten Sie die Systeme des Malebranche und Leibnitz von der Verbindung des Leibes und der Seele wohl nimmermehr gesucht. Sollte sich es Jemand haben in den Sinn kommen lassen, aus diesen die Beschaffenheit der thierischen Triebe zu erklären? Unmöglich! […] Was aber kann zur Erörterung dieser Frage die fernere Untersuchung beitragen: was es mit dieser Gemeinschaft der Seele und des Leibes für eine Beschaffenheit habe, und wie sie verständlich erklärt werden mag? Ich glaube also, Hr. R. habe hier eine unnöthige Arbeit unternommen, die || 1 Vgl. den Brief vom 10. November 1837, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED. Bd. 40 (Erg.-Bd.: Schriften bis 1844, 1. Tl.). Berlin 1968, S. 3‒12, hier S. 8f. 2 Vgl. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 4 Bde. Riga, Leipzig 1784‒1791, Bd. 1, S. 134f. [I 3, IV] (Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher u. a. Bd. 6. Frankfurt a. M. 1989, S. 100). 3 Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe. Zum Erkenntniß des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst. Hamburg 1760, 21762 (ND Göttingen 1982); vgl. dazu bereits Karl Christoph Scherer: Das Tier in der Philosophie des Herman Samuel Reimarus. Ein Beitrag zur Geschichte der vergleichenden Psychologie. Würzburg 1898. https://doi.org/10.1515/9783110726558-014

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ihm, was das schlimmste ist, nicht sonderlich gelungen zu seyn scheint […]. ‒ Doch lassen Sie mich von einer Materie abbrechen, die der Verf. selbst nur zum Überflusse berührt hat! Genug, daß er diejenigen Lehrmeynungen glücklich bestreitet, welche die Erklärung der thierischen Triebe wirklich zur Absicht haben!4

Und selbst Herder war einige Jahre vor der Aussage vom ›vortrefflichen Buch‹, in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache der Ansicht, dass die Erklärung der tierischen Kunsttriebe »bisher den meisten und noch zuletzt einem gründlichen Philosophen Deutschlands« ‒ die Fußnote verweist auf Reimarus ‒ »mißglücket« sei.5 Gleichwohl wurden die Betrachtungen, die Reimarus selbst, wenn nicht als Fortsetzung, so doch als ausführliche Ausarbeitung der in der fünften seiner Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen6 geführten Auseinandersetzung mit Georges-Louis Leclerc de Buffon7 ansieht,8 breit rezipiert. Neben vier Auflagen (1760, 1762, 1773, 1790) und einem im Hamburgisches Magazin

|| 4 Moses Mendelssohn: Rezension. In: Briefe, die neueste Litteratur betreffend VII (1760), S. 233‒256, hier S. 244‒246 (Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 5.1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 287f.) 5 Vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin 1772, S. 31 (Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher u. a. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1985, S. 711f.); zu Herders Auseinandersetzung mit Reimarusʼ ›Kunsttrieben‹ vgl. auch Astrid Gesche: Johann Gottfried Herder: Sprache und die Natur des Menschen. Würzburg 1993, v. a. S, 112ff., ebenso Cordula Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2003, spez. S. 578f.; Cornelia Ortlieb: Friedrich Heinrich Jacobi und die Philosophie als Schreibart. Paderborn 2010, Kap. II: Philosophie als Literaturkritik. Jacobi, Herder und Reimarus über die Triebe der Tiere, S. 29ff.; John H. Zammito: Herder between Reimarus and Tetens: The Problm of an Animal-Human Boundary. In: Anik Waldow, Nigel DeSuza (Hg.): Herder. Philosophy and Anthropology. Oxford 2017, S. 127‒146, spez. S. 136ff. 6 Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet. Hamburg 1754, 21755, v. a. § 12, S. 331ff.; vgl. auch ebd., S. 300ff., Anm. 2. 7 Vgl. dessen Abhandlung Von der Natur der Thiere in: Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besonderen Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königes von Frankreich. Mit einer Vorrede Herrn Doctor Albrecht von Haller. Zweyten Theils zweyter Band. Hamburg, Leipzig 1754, S. 3‒50. 8 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (s. Anm 3), Vorrede, fol. *2r: »In den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion habe ich, unter andern, die besondern Absichten Gottes im Thierreiche aus einigen Arten der thierischen Kunsttriebe zu zeigen gesuchet. Allein ich konnte mir selbst, bey der Weitläuftigkeit einer so lehrreichen Materie, mit der kurzen Berührung weniger Beyspiele, nicht Genüge thun; und versprach daher, daß ich derselben, so ich lebete, künftig eine ausführlichere Abhandlung widmen wollte. Der günstige Beyfall, welchen das erste Buch erhalten, hat auch bey vielen eine Erwartung des Versprochenen nach sich gezogen: und beydes hat mir die angenehme Hoffnung gemacht, daß die Erfüllung meines Versprechens, bey solchen Lesern von Geschmack und Einsicht, Nutzen und Vergnügen schaffen würde«; vgl. dazu Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (s. Anm. 6), S. 303f.

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abgedruckten »Auszug«9 erfuhren sie Übersetzungen ins Niederländische10 und Französische,11 Reimarusʼ ältester Sohn Johann Albert gab gleichzeitig mit der dritten Auflage »angefangene Betrachtungen über die besondern Arten der thierischen Kunsttriebe« aus dem Nachlass heraus.12 Johann Friedrich Blumenbach griff Reimarusʼ dreistufiges System der Selbstorganisation des tierischen Organismus ‒ darauf wird zurückzukommen sein ‒ in seinem epochalen Werk Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte auf, erweiterte es aber umfassend.13 Was aber meint Reimarus eigentlich überhaupt mit Trieb, und insbesondere mit ›Kunsttrieb‹? Nicht erst David Hume sieht in seiner Enquiry concerning Human Unterstanding in den Fähigkeiten der Tiere zum Selbst- und Arterhalt eine besondere, über alle Reflexion hinausgehende Voraussicht, die auf einer eingeborenen ›mechanischen‹ Kraft beruhe,14 David-Renaud Boullier (1699‒1759) apostrophiert gut zehn Jahre zuvor in seinem Essai philosophiques sur l’Âme des Bêtes, dass die ›Kunstfertigkeiten‹ der Tiere auf eine »Âme purement sensitive« zurückzuführen

|| 9 Auszug aus Herrn Professor Reimarus Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe. In: Hamburgisches Magazin oder gesammlete Schriften, zum Unterricht und Vergnügen, aus der Naturforschung und den angenehmen Wissenschaften überhaupt 25 (1761), S. 3‒44 und S. 323‒352. 10 Hermann Samuel Reimarus: Algemeene beschouwingen van de driften der dieren, en voornamelyk van derzelver konst-driften. Übers. von Johan Willem van Haar, mit einer Vorrede von Johanns Lulofs. Leiden 1761. 11 Hermann Samuel Reimarus: Observations physiques et morales sur lʼInstinct des Animaux, leur industrie et leurs mœurs. Übers. von Jacques Reneaume de La Tache. 2 Bde. Amsterdam 1770. 12 Hermann Samuel Reimarus Professors in Hamburg angefangene Betrachtungen über die besondern Arten der thierischen Kunsttriebe. Aus seiner hinterlassenen Handschrift herausgegeben, mit einigen Anmerkungen und einem Anhange von der Natur der Pflanzenthiere begleitet durch Johann Albert Heinrich Reimarus. Hamburg 1773. 13 Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte. Göttingen 1781; vgl. auch ders.: Über den Bildungstrieb (Nisus formativus) und seinen Einfluß auf die Generation und Reproduction. In: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, 1. Jg. (1780), 4. St., S. 247‒266; vgl. dazu u. a. Jutta Heinz: »Unendlicher Bildungstrieb« – Zu Blumenbachs »Bildungstrieb« und seiner Rezeption in Philosophie und Literatur. In: Naturforschung und menschliche Geschichte. Hg. von Thomas Bach und Mario Marino. Heidelberg 2011, S. 175‒204; Egbert Witte: Bildungstrieb. Zur Karriere eines Konzepts zwischen 1780 und 1830. Hildesheim, Zürich, New York 2019, spez. S. 47ff.; vgl. auch John H. Zammito: Between Reimarus and Kant: Blumenbach’s Concept of ›Trieb‹. Vortrag, gehalten während der von Manja Kisner und Jörg Noellner organisierten Tagung ›The Concept of Drive in Classical German Philosophy: Between Biology, Anthropology, and Metaphysics‹, München, 11./12. Oktober 2019 (abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v =V2SV-HqsQo4; zuletzt aufgerufen am 12. Febr. 2021). 14 Vgl. David Hume: An Enquiry concerning Human Unterstanding [1748], IX (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Übers. von Raoul Richter. Mit einer Einleitung hg. von Jens Kulenkampff. Hamburg 1993, S. 122‒127); vgl. dazu Wolfram Karl Köck: Zur Geschichte des Instinkbegriffs. In: Ernst Florey, Olaf Breidbach (Hg.): Das Gehirn ‒ Organ der Seele? Zur Ideengeschichte der Neurobiologie. Berlin 1993, S. 217‒258, v. a. S. 220‒222.

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seien, welche auf äußere Reize reagiere und deren aktive Kraft (»pouvoir actif«) die tierische Maschinerie blind (»aveugle«) nach einem Lust-Unlust-Prinzip steuere.15 Auch Julien Offray de La Mettrie führt solche Kunstfertigkeiten im später so betitelten Traité de l’âme (1745) auf »dispositions corporelles purement mécaniques« zurück;16 Étienne Bonnot de Condillac gesteht den Tieren im Traité des Animaux (1755) zwar auf bestimmte Bedürfnisse reagierende gewohnheitsmäßige Aktionen zu, sagt diesen aber jedwede Reflexionsleistung ab.17 Sie alle aber meinen Instinkte,18 denen gegenüber etwa Isaak Iselin in seinen Philosophischen Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit (1764) »einem jeden Menschen« einen »Trieb zur Vollkommenheit« apostrophiert,19 der, ganz im Einklang mit Rousseau, den Menschen eben von den Tieren unterscheide, hat der Mensch doch, wie es im Discours de l’Inégalité heißt, die Fähigkeit zur Vervoll|| 15 Vgl. David-Renaud Boullier: Essai philosophiques sur l’Âme des Bêtes. Ou lʼon trouve diverses Reflexions sur la Nature de la Liberté, sur celle de nos Sensations, sur lʼUnion de lʼAme et du Corps, sur lʼImmortalité de lʼAme. 2 Bde. Amsterdam 1737, Bd. 2, S. 288ff.; vgl. zu Boullier auch Tobias Cheung: Res vivens. Agentenmodelle organischer Ordnung 1600‒1800. Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2008, S. 107‒124. 16 Vgl. Julien Offray de La Mettrie: Œuvres philosophiques. Bd. 1. Berlin 1755 [zuerst 1751], chap. XI, § 2, S. 98ff. 17 Vgl. Étienne Bonnot de Condillac: Traité des Animaux. Amsterdam 1755, chap. V, S. 36ff. 18 Wobei Reimarus zwischen Instinkt und Trieb nicht eigentlich differenziert, in den Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion verwendet er vornehmlich »Instinct«, in den Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere vornehmlich »Trieb«, im Register zu den Wahrheiten wird beim Stichwort »Triebe« auf »Instinct« verwiesen, so wie umgekehrt in den Betrachtungen bei »Instinct« auf »Trieb«; vgl. hierzu auch Julian Jaynes, William Woodward: In the Shadow of Enlightenment: II. Reimarus and his Theory of Drives. In: Journal of the History of the Behavioral Sciences 10 (1974), S. 144‒159; sein Sohn sah sich vmtl. daher genötigt, in einer Anmerkung zu den Angefangenen Betrachtungen über die besondern Arten der thierischen Kunsttriebe »den allgemeinen Begriff von den thierischen Kunsttrieben […] in Vergleichung mit dem menschlichen Trieben, kürzlich in Erwegung« zu ziehen, vgl. Angefangene Betrachtungen über die besondern Arten der thierischen Kunsttriebe (s. Anm. 12), Vorbericht, fol. *3v und S. 107ff., Anm. (*69) ‒ wirklich erhellend sind die Ausführungen aber auch nicht; auch in der von ihm besorgten und mit Anmerkungen versehenen 5. Auflage der Wahrheiten schiebt Johann Albert Reimarus eine Anmerkung in die fünfte Abhandlung ein: »Es ist darinn [in den Betrachtungen] nicht mit Hypothesen der Anfang gemacht, und darnach die Erscheinungen, mit Vorbeygehung der nicht passenden, so gut als möglich zu deuten gesucht worden; sondern es ist der Grund damit gelegt, daß zuvörderst wohlbewährte Erfahrungen über die verschiedenen Arten dieser Triebe gesammlet, und selbige nach zweckmäßigen Gesichtspunkten so geordnet worden, daß sie allemal zu weiterm Nachdenken dienen könnten, und wohl werth wären, zuvor sämmtlich erwogen zu werden, ehe man einen allgemeinen Ausspruch über die Beschaffenheit der thierischen Kunsttriebe wagen sollte« (Hermann Samuel Reimarus Professors in Hamburg Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. Fünfte Auflage, durchgesehen, und mit einigen Anmerkungen begleitet von Johann Albert Heinrich Reimarus. Hamburg 1781, S. 315, Anm. * [zu § 4]). 19 Vgl. Isaak Iselin: Philosophischen Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit. 2 Bde. Frankfurt a. M., Leipzig 1764, Bd. 1, S. 96.

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kommnung (perfectililité), wohingegen das Tier, »qui n’a rien acquis et qui n’a rien non plus à perdre, reste toujours avec son instinct«.20 Reimarus hingegen bestimmt den Trieb im »weitläufigsten Umfange« des Wortes als »alles natürliche Bemühen zu gewissen Handlungen« und als »Wirksamkeit gewisser Kräfte«, die zur »innigsten Vereinigung zwischen der Seele und ihrem organischen Körper« beitragen, auch wenn die »Art der Vereinigung ein Geheimniß bleibt«.21 Dies erinnert ein wenig an die ›plastic nature‹, die der Cambridger Platonist Ralph Cudworth (1617‒1688) 1678 in seinem True Intellectual System of the Universe als eine dritte Ordnungsebene neben dem durch Descartes geprägten Dualismus von Geist und Materie einzubinden suchte. Zwar lehnt Reimarus eine solche plastische Natur, die Cudworth mit Rücksicht auf die Würde Gottes postulierte – dieser schaffe so triviale Dinge wie eine Mücke nicht eigenhändig, sondern überlasse es der ›plastic nature‹, die als sein untergeordnetes Instrument mühsam jenen Teil seiner Vorsehung ausführe, der die richtige und geordnete Bewegung der Materie beinhalte22 – ab: »Solche erdichtete Natur«, heißt es in den Betrachtungen, erkläret uns nichts. Denn wenn in der Welt gewisse Kräfte blindlings zu einem weisen Zwecke wirksam sind: was brauchen wir denn zwischen der wirklichen Natur, oder den blinden Kräften der Körper und Seelen, und zwischen dem Schöpfer, noch eine andere Natur zu setzen, welche doch nicht anders verführe? […] Oder wie wirkte diese zeugende Natur in der Welt? Cudworth saget, auf eine fatale, magische und sympathetische Weise. Fürchterliche Wörter! von denen man vergeblich eine verständliche Erklärung bey ihm suchen wird. Die ganze Erfindung solcher zeugenden Natur läuft also auf nichts hinaus.23

Doch auch für Reimarus sind Tiere nicht »bloße oder auch harmonische Maschinen«24 ‒ wären sie es, würden sie, wie es in der fünften Abhandlung der Vornehms|| 20 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. Amsterdam 1755, S. 239 (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Hg. und übers. von Philipp Rippel. Stuttgart 1998, S.45: wohingegen das Tier, »das nichts erworben hat und auch nichts zu verlieren hat, immer mit seinem Instinkt verbunden bleibt«). 21 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (S. Anm. 3), S. 2f. 22 Vgl. Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe. The First Part, wherein all the reason and philosophy of atheism is confuted, and its impossibility demonstrated. London 1678, I.iii.37, S. 150 (»there is a Plastick Nature under him [God], which as an Inferior and Subordinate Instrument, doth Drudgingly Execute that Part of his Providence, which consists in the Regular and Orderly Motion of Matter«); zu Cudworths ›plastic nature‹ vgl. u. a. Lutz Bergemann: Ralph Cudworth ‒ System aus Transformation. Zur Naturphilosophie der Cambridge Platonists und ihrer Methode. Berlin, Boston 2012, v. a. S. 137‒206. 23 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (s. Anm. 3), S. 210f. 24 In den Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion bezeichnet Reimarus u. a. La Mettrie als einen »berüchtigte[n] Epikurus neuerer Zeit« (vgl. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion [s. Anm. 6], 4. Abh., § 16, S. 256), dessen »blinde[r] Mechanismo« die »genaue Übereinstimmung der Triebe und Thätigkeiten eines jeden Thieres« nicht erklären könne (ebd.,

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ten Wahrheiten der natürlichen Religion heißt, jedweden Grundes »ihres Seyns und ihrer Beschaffenheit in sich selbst« entbehren, sie wären Resultat der Bemühungen eines »Werkmeister[s,] um eines andern willen, oder zu einem gewissen Zwecke gemachet«, und zwar von einem solchen Werkmeister, der »in der deutlichsten Einsicht der Verknüpfung aller Dinge vorausgesehen« habe, welche Handlung die einzelne Maschine wann und wo auch immer zur eigenen und zur Erhaltung der Art verrichten müsse. Gleichwohl seien Tier und Mensch verschieden, jenes verfüge zwar über Sinne, Einbildungskraft und Gedächtnis, doch fehle es ihm an Überlegung und Sprache ‒ das Tier habe schon »von der Geburt an, in vollem Mangel aller Erfahrung, Unterweisung und eigenen Nachdenkens, tausendmal umkommen müssen.«25 Sehe man aber die Tiere als »lebendige Seelen, die mit einem organischen Körper durch einen wirksamen Einfluß verbunden« sind, so sei offenbar, dass alle ihre Fertigkeiten und Künste weder aus der Erfahrung, noch ohne Erfahrung aus der eigenen Erfindung entstehen können, daß sie von einem Verstande herrühren, der zu der Erfindung keiner Erfahrung brauchet, sondern die erste Quelle aller Möglichkeiten, […] Künste und Vollkommenheiten ist; der für jedes Thieres Natur und Lebensart die dienlichsten Künste ausersehen, und ein Mittel gewußt hat, denen einfältigsten Seelen eine von ihnen selbst nicht erdachte, erlernte oder geübte Kunst und Klugheit, so leicht, so vollkommen, und mit Fertigkeit beyzubringen, und erblich einzuverleiben.26

Reimarus bestimmt mithin diesen ›Verstand‹ ‒ und das meint die Triebe ‒ über ihre Funktion, denn sie sind gerichtet 1. entweder auf das Wohl und die Erhaltung eines jeden Thieres nach seiner Lebensart; oder 2. auf die Wohlfahrt und Erhaltung des Geschlechtes oder der Nachkommen.27

|| 5. Abh., § 4, S. 303f., Anm. 3); zu Reimarusʼ Auseinandersetzung mit dem ›Epikureismus‹ vgl. neben Julian Jaynes, William Woodward: In the Shadow of Enlightenment: I. Reimarus against the Epicureans. In: Journal of the History of the Behavioral Sciences 10 (1974), S. 3‒15 insbesondere John H. Zammito: The Gestation of German Biology. Philosophy and Physiology from Stahl to Schelling. Chicago, London 2018, S. 134ff. 25 Vgl. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (s. Anm. 6), 5. Abh., § 11, S. 328‒330. 26 Ebd., S. 329; Reimarus schließt sich hier Christian Wolff an, vgl. Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Frankfurt a. M. 1720, Halle 111751 (ND Hildesheim, Zürich, New York 1983), § 892: »Die Seelen der Thiere haben eine Empfindungs- und Einbildungs-Kraft, ein Gedächtniß, und eine sinnliche Begierde: aber keinen Verstand und keine Vernunft, keinen Willen und keine Freyheit«; vgl. dazu auch Jaynes, Woodward: Reimarus against the Epicureans (s. Anm. 24), S. 5. 27 Vgl. Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (s. Anm. 3), § 61, S. 102.

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Damit werden sie zur Grundlage eines Verhaltens, das der Selbst- und Arterhaltung dient, wobei eben jenes angeboren scheint, denn »[e]in groß Theil der Kunsttriebe wird von der Geburt an, ohne alle äußere Erfahrung, Unterricht, oder Beyspiele, und auch ohne Fehl ausgeübet«; dies lässt nur einen Schluss zu: Sie sind »also gewiß natürlich angeboren und erblich.«28 Dem Menschen hingegen eignet ein solcher Trieb nicht, ist er doch auf Erfahrung und Unterricht angewiesen nicht nur hinsichtlich seines Selbsterhalts ‒ einige Reflexe wie etwa den des Saugens im Säuglingsalter ausgenommen29 ‒, sondern auch hinsichtlich des Erhalts der Art ‒ vielleicht den Geschlechtstrieb ausgenommen.30 Über einen angeborenen Geschlechtstrieb lässt sich natürlich streiten, gibt doch Nicolas-Edme Rétif de La Bretonne (1734‒1806) anschauliches Beispiel. Gerade zehnjährig, wird er von der Schnitterin Nanette in einem Maultierstall entjungfert: Ich spielte mit meinen Freunden; als ich mich allein im Hintergrunde eines Mauleselstalles versteckt hatte, Tiere, die der alte Rameau zur Bestellung des Feldes verwendete, trat Nannette plötzlich leise hinter mich und hielt mich mit beiden Händen fest. »Ich werde dich jetzt nach Herzenslust abküssen!« sagte sie lachend. Ich suchte mich scheinbar ihr zu entwinden. Dies vermehrte nur noch ihr Verlangen. Sie drückte mich gegen ihren Busen, den schönsten, den ich noch gesehen habe ... Heftig erregt erwiderte ich ihre Küsse. Da schien Nannette wie von Liebeswut ergriffen; sie umschlang mich und zwang mich, ihren ganzen Körper abzutasten ... Sie schien besonders sinnlich zu sein; sie erblaßte, ihre Knie trugen sie nicht mehr, sie drückte mich an sich und stieß mich wieder zurück; schließlich erfaßte sie die Leidenschaft derart, daß sie besessen sein wollte, und sie traf alle Vorbereitungen dazu. Eine neue Sappho, unterstützte sie die Natur und ließ sie wirken, und sie erregte mich dadurch immer mehr. In diesem schrecklichen Augenblick, als meine Zeugungskraft zum erstenmal wirksam ward, wurde ich ohnmächtig! ... Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich mit Wasser übergossen und von meinen Freunden umgeben. Madelon sagte zu Nannette: »Du hast ihn wohl gekitzelt? Ich habe vergessen, dir zu sagen, daß man es nicht darf. Seine Schwester Margot hat mir gesagt, daß er bewußtlos wird, wenn man ihn kitzelt.« Nannette errötete und stammelte: »Das habe ich nicht gewußt!« Das war ihre ganze Erklärung; ich selbst hatte nur eine unklare Vorstellung von dem, was geschehen war.31

Wie aber lassen sich die Triebe präzise bestimmen, um nicht wiederum als rein instinktives Verhalten ausgelegt zu werden? Da für Reimarus ›Trieb‹ das »natürliche Bemühen zu gewissen Handlungen« bezeichnet,32 bedarf es einer Differenzierung eben jenes ›Triebes‹. Denn es gibt auch für Reimarus bestimmte »natürliche Bemühen zu gewissen Handlungen«, die keineswegs dem von ihm favorisierten Triebbe|| 28 Ebd., § 93, S. 160. 29 Vgl. dazu ebd., § 138, S. 341ff. 30 Vgl. dazu u. a. ebd., § 46, S. 76f. 31 Nicolas-Edme Rétif de La Bretonne: Monsieur Nicolasʼ Abenteuer im Lande der Liebe [Monsieur Nicolas, ou le Cœur humain dévoilé, 1796/97]. Hg. und übers. von Herbert Lewandowski. Hamburg 1962, S. 17f. 32 Vgl. Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (s. Anm. 3), § 2, S. 2.

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griff entsprechen. Diese entbehren, als »mechanische Triebe«, jedweden ›psychischen‹ oder ›seelischen‹ Elementes, sind sie doch mehrenteils durch die physische Konstitution des Organismus, durch dessen anatomisch-morphologische Strukturverhältnisse bestimmt ‒ lassen sich also auch auf Pflanzen übertragen oder als reine Reflexe bewerten.33 Aus diesem »allgemeinen Grundtrieb«, der allen Organismen eigen ist und der bei jedem Lebewesen auf »sein und seines Geschlechtes Erhaltung und Wohlfahrt«, also das Leben überhaupt ausgerichtet ist ‒ und von Reimarus auch als »Selbstliebe« bezeichnet wird34 ‒ lassen sich die eigentlichen Triebe differenzieren. Es giebt Vorstellungs-Triebe, oder ein Bemühen der Seele, sich der Dinge, nach dem gegenwärtigen und vergangenen Zustand ihres Körpers, bewußt zu sein. Es giebt willkührliche Triebe, das ist, ein Bemühen der Seele, dasjenige, was nach ihrer Empfindung und Vorstellung Lust verspricht, durch gewisse Handlungen zu erhalten, und was mit Unlust drohet, zu entfernen.35

Die Vorstellungstriebe fungieren demnach als Mittler zwischen Außenwelt und Innenwelt des Individuums, da sie die rein sinnliche Erfahrung konservieren und auf aktuelle Zustände übertragen, wobei jedoch beachtet werden muss, dass dieser Trieb weder »auf die Erwerbung eines Erkenntnisses von Dingen« überhaupt zielt, also eine Reflexionsleistung ist,36 noch, dass Tiere eine bewusste Vorstellung von Vergangenem und Zukünftigem haben: [Sie] beschäfftigen […] ihre Vorstellung bloß mit dem Gegenwärtigen, was die Sinne auf eine angenehme oder widrige Weise rühret. Wenn sich das Vergangene unter diese Vorstellung mischet, so geschiehet es ohne ihr Bewußtseyn, daß es etwas Vergangenes sey, ohne Erinnerung. Und wenn das Zukünftige in dem Gegenwärtigen liegt, so geschieht das ohne ihr Wissen, ohne ihr Vorausdenken, ohne Absicht.37

Die willkürlichen Triebe hingegen sind als subjektive Reaktion auf eben diese aktuellen Zustände zu verstehen. Doch auch hier gilt es zu relativieren: Aufgrund mangelnder Reflexionsmöglichkeit ist die willkürliche Handlung der Tiere nicht als eine solche zu verstehen, die nach einer »deutlichen Vorstellung beyder möglichen Fälle, und nach überlegter Einsicht das Beste, aus freyer Wahl, bestimm[t]«, sondern der thierische Trieb, welcher willkührlich genannt wird, […] besteht in einer Neigung oder Abneigung des Willens, auf vorgängige, obgleich undeutliche Vorstellung, nämlich auf die Empfin-

|| 33 Vgl. ebd., § 3f., S. 3‒6. 34 Vgl. ebd., § 37, S. 60. 35 Ebd., § 2, S. 2. 36 Vgl. ebd., § 31, S. 51. 37 Ebd.

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dung sinnlicher Lust oder Unlust, woraus denn willkührliche Handlungen entstehen, die der Neigung oder Abneigung gemäß sind.38

Diese letzteren, die willkürlichen Triebe, lassen sich auch als ›Kunsttriebe‹ bezeichnen. Nach Reimarus nämlich ist ›Kunst‹ [e]ine regelmäßige Fertigkeit in willkührlichen Handlungen[,] die zu einem gewissen Zwecke führen, und doch vielfältige Abweichungen leiden.39

Kunst so verstanden meint also keine individuell-kreative Handlung, oder eine »durch fleißige Übung erworben[e]« Fertigkeit,40 wie man sie vom Menschen her kennt. Die ›Kunstfertigkeit‹ der Tiere orientiere sich nicht an erdichteten »Figuren, Modelle[n], Portraite[n] oder Puppen [...] im Gehirne«, die einen Bezug zur Außenwelt herstellen können, Tiere orientieren sich vielmehr an einem »Abriß« in ihrem »Kopfe«, nach dem sie gewisse Handlungen vollführen, um »ein Werk nach diese[m] Modell[] zu Stande zu bringen«.41 Diese dem jeweiligen Tier eigene Disposition ist jedoch keineswegs vollständig determiniert, die Präexistenz eines solchen Modells ist kein Zugeständnis an präformationistische Theorien, wie sie etwa schon Claude Perrault 1680 in seiner Mécanique des animaux, vor allem aber Charles Bonnet in den Considérations sur les corps organisés (1762) und der Contemplation de la nature (1764) formulieren. »[G]änzlich abgeschreckt«, so heißt es in der neunten Abhandlung der Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, sei er von dem Gedanken an gleich in »Nürnberger Schachteln, in einander, und alle in dem ersten Eye, oder der ersten Mutter, eingepackt[en]« Keimen.42 Es sei wider alle Vernunft, »unendlich kleine wirkliche Theile«, also körperlich ausgedehnte Materie zu denken, die »in den Samen der ersten Thiere eingepackt gewesen« sei und aus denen dann alle nachfolgenden hervorgingen. Denn ein jedes Ey [müsse] wenigstens eine Million mal kleiner [sein], als seine Mutter; und die zweyte Ordnung, welche schon in diesem Eye stecken sollte, wieder eine Million mal kleiner seyn […], als das erste Ey, und eine Bimillion kleiner, als die erste Mutter. Was wird denn aus der dritten, vierten, tausendsten Ordnung, ja aus allen künftigen in alle Ewigkeit werden?43

Erfahrungsmäßig sei es hingegen belegt, dass Tiere, die »in ihren Kunstwerken gestöhrt werden, […] den Schaden nach ihrem Sinn zu flicken und zu bessern« su|| 38 Ebd., § 32, S. 52. 39 Ebd., § 56, S. 94. 40 Ebd., S. 95. 41 Vgl. ebd., § 143, S. 357. 42 Vgl. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (s. Anm. 6), 9. Abh., § 8, S. 546. 43 Ebd., S. 545f.

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chen,44 oder Tiere, die »zuweilen selbst von der regelmäßigen Vorschrift ihres Kunstwerkes unvermerkt abgewichen« seien, »solche Fehler […] durch Nachgeben und Einlenken wieder gut zu machen« suchen, so seien etwa Bienen »genaue Meßkünstler«, die die leichten Unregelmäßigkeiten beim Bau der Waben letztendlich wieder ausgleichen.45 Gerade letzteres Beispiel spricht laut Reimarus gegen eine durchgängige Determination der Dispositionen im Sinne einer Präformation. Der »Abriß« oder das Muster eines jeden Nestes etwa der Bienen oder Wespen sei identisch, dennoch gebe es unendliche Variationen ‒ es gebe demnach »kein[en] feste[n] Satz, wo sie ihr Nest verkleben oder an den Seiten befestigen sollen, daß es nicht von seiner Schwere einfalle«.46 Für diese Variation des Tätigkeitsprinzips, das keiner Reflexion oder Sprache bedarf, dennoch aber als regulierendes in den Organismus und dessen Funktionen eingreift, müsse es einen gewichtigen Grund geben, der weder rein materialistisch noch rein instinktiv, noch gar rückführend auf eine vorhersehende Instanz zu erklären sei. Warum sind die Nester der Bienen und Wespen so verschieden ›angeklebt‹, warum sind die äußeren Fäden der Spinnennetze, die immer die gleiche Grundgestalt zeigen, unterschiedlich dick? Es sind äußere Faktoren, die das Tier dazu bringen, die Disposition abzuändern, zu variieren. Bienen und Wespen variieren je nach »Beschaffenheit des Gehäuses oder Ortes, worinnen sie den Bau anlegen«, eben dieses ›Ankleben‹, Spinnen verändern je nach Spannweite der äußeren Fäden deren Stärke, der Baum, der als Nistplatz der Vögel dient, das Material, das zur Fertigung des vom Grundmuster her immer gleichgebauten Nestes dient ‒ all dies »kömmt auf die Umstände des Ortes an«.47 Damit ist ein gewichtiges Moment für Reimarus’ Trieb- und insbesondere Kunsttriebtheorie gegeben. Diese lässt sich nur verstehen unter Einbezug eben jenes Momentes, dass er die ›Lebensart‹ nennt. [D]ie Art des Lebens [ist], in so verschiedenen Thieren, ganz verschieden; ein jedes erfordert sein gewisses Element, Gegend, und Ort des Aufenthaltes, seine eigenthümliche Weise, ein Nest, Wohnung, oder einen Bau zu machen, seine besondere Art der Bewegung, seine bestimmte Art, die Speise zu erhalten, zu bereiten, zu bewahren, seine Lebensveränderungen zu überstehen, sich zu paaren, und die Jungen aufzubringen, seine Feinde abzuhalten. Daher ist leicht zu gedenken, daß diese fertige Geschicklichkeit, in der Anwendung der dienlichsten Mit-

|| 44 Vgl. ebd., § 99, S. 176f.; Reimarus verweist auf Beispiele von Raupen in August Johann Roesel von Rosenhofs Insecten-Belustigung (1740‒1762) und René-Antoine Ferchault de Réaumurs Mémoires pour servir à l’histoire des insectes (1734–1742). 45 Vgl. Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (s. Anm. 3), § 100, S. 179f. 46 Vgl. ebd., § 98, S. 173f. 47 Vgl. ebd.

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tel, so verschieden seyn müsse, als nur Thierarten sind, die eine verschiedene Lebensart haben.48

Dies zeigt zum einen die teleologische Dimension von Reimarus’ Trieblehre, denn keinem Tier fehlen die »nöthigen Kunsttriebe zu seiner und seines Geschlechtes Erhaltung und Wohlfahrt«,49 wobei sie aber »etwas mehreres [in sich enthalten], als ein bloßes willkührliches Bemühen zu diesem Zwecke, nämlich auch die Mittel zu demselben«.50 Zugleich kommt aber auch die ökonomische Dimension derselben zum Tragen: Denn so wie es keinem Tier an den nötigen Kunsttrieben zum Erhalt seiner selbst und seiner Art mangele, ebenso wenig verfüge es über »unnöthige und überflüßige Kunsttriebe« ‒ kein Tier grabe unterirdische Gänge, wenn es an der Oberfläche sicher sei, kein Bär käme auf die Idee, Wintervorräte zu sammeln, wenn er den Winter sowieso verschlafe.51 Und letztendlich deutet sich noch eine ethische Dimension an: Kein Tier habe »von Natur aus fremde, falsche und verkehrte Kunsttriebe«.52 Doch auch wenn sich ihm »keine neue[n] und andere[n] Triebe« als von der Natur gegeben »einflößen« lassen, vermag es doch der Mensch, durch »Verknüpfung des sinnlich Guten und Bösen mit gewissen Dingen und Handlungen« zu seinem Nutzen oder auch Vergnügen die Kunsttriebe zu dämpfen, zu lenken und abzurichten53 ‒ damit ist sicherlich keine Tierethik im heutigen Sinne gemeint,54 bezieht sich Reimarus doch vornehmlich auf die Domestikation, und sobald die »menschliche Wartung, oder der Zwang, aufgehoben« sei, kehre das Tier zu seinen natürlichen Kunsttrieben zurück. Wenn ein gezähmtes Raubthier nicht beständig unter der Zucht gehalten und wohl gefüttert wird, so wird es seine Natur bald verrathen; zumal, wenn es sinnliche Reizung bekömmt. Man hat traurige Beyspiele, wenn gezähmte Tiger oder Löwen eines lebendigen Menschen Hand ein mals bis aufs Blut geleckt haben, daß sie auch ihrer eigenen Wärter nicht geschonet.55

Zu den drei genannten Dimensionen gesellt sich eine vierte. Da, wie eingangs erwähnt, der »Grundzweck aller Thiere« in der Erhaltung des Lebens, und damit alle Kunsttriebe

|| 48 Ebd., § 52, S. 88. 49 Vgl. ebd., § 87, S. 147. 50 Ebd., § 86, S. 147. 51 Vgl. ebd., § 88, S. 148f. 52 Ebd., § 89, S. 149. 53 Vgl. ebd., § 102, S. 184. 54 Vgl. dazu bereits Scherer: Das Tier in der Philosophie des Herman Samuel Reimarus (s. Anm. 3); Hans Werner Ingensiep: Tierseele und tierethische Argumentationen in der deutschen philosophischen Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin N.F. 4 (1996), S. 103‒118; vgl. auch Heike Baranzke: Würde der Kreatur? Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik. Würzburg 2002, insbes. S. 150f. 55 Vgl. Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (s. Anm. 3), § 102, S. 185f.

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1) entweder auf das Wohl und die Erhaltung eines jeden Thieres nach seiner Lebensart; oder 2) auf die Wohlfahrt und Erhaltung des Geschlechtes oder der Nachkommen

abzielen,56 muss zunächst eine diesen Zwecken nützliche organische Disposition gegeben sein. Der Fleischfresser muss in der Lage sein, seine Beute zu zerkleinern und zu verdauen, also andere Zähne, einen anderen Magen und Darm aufweisen als der Pflanzenfresser. Darüber hinaus muss der Tiger oder Löwe seine Beute erlegen können, also über andere Gliedmaße bzw. ›Werkzeuge‹ verfügen als beispielsweise eine Kuh. Hieraus folgt, dass aufgrund »der verschiedenen Leibes- und Seelenbeschaffenheit« den verschiedenen Tierarten ein »innere[r] Unterschied« zukommt. Da sie jedoch »mit der Welt in der genauesten Verbindung stehen, […] haben sie auch einen äußeren Unterschied«, der auf den Elementen der sie umgebenden Außenwelt gründet. Es entstehen somit »besondere Bedürfnisse, und eine Nothwendigkeit besonderer Kunsttriebe, diesen Bedürfnissen abzuhelfen.«57 Damit wird aber keineswegs ein evolutionistisches Naturbild geschaffen, auch wenn vieles so anmutet. Insbesondere aber bleibt die Erklärung dessen, was hiermit konkret gemeint ist, recht vage. Angesichts der Vielfalt der »Climate und Erdstriche« muss es eine Vielfalt des tierischen Lebens, der Tierarten geben, und zwar immer in »Übereinstimmung mit der verschiedenen Beschaffenheit der Elemente«. Reimarus spielt verschiedene Szenarien einer Verbreitung der Tierwelt auf der Erde durch. Es war möglich, daß ein Thier nur ein Hauptelement hätte, worinnen es seine ganze Lebenszeit zubrächte; oder auch ein Nebenelement, wohin es sich zu Zeiten begeben könnte. Es war möglich, daß ein Thier in einer Gegend seines Elementes und bey einer Art des Lebens bliebe, oder zu verschiedenen Zeiten in verschiedene Gegenden zöge; oder gar sein ganzes Element und seine ganze Lebensart veränderte.58

Die Veränderung einer ›Lebensart‹ scheint also möglich. Doch haben alle Tiere einen allgemeinen organischen ›Bauplan‹, so hat jedes Tier etwa »Luftgefäße«, um durch die aufgenommene Luft »die körperliche Maschine im ganzen« zu erhalten, »das Lebensfeuer beständig« anzufachen. Bedingt aber durch die verschiedenen Klimazonen gibt es unterschiedliche ›Luftsorten‹, kalte, warme, feuchte, trockene, doch »will sich eine jede Luft nicht für eine jede Art des Lebens schicken«, woraus wiederum die Vielfalt der Arten resultiert.

|| 56 Vgl. ebd., § 61, S. 102. 57 Ebd., S. 103. 58 Ebd., § 63, S. 105f.

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Ein Thier [aber], das nicht seine dienliche Luft schöpfen könnte, würde unruhig werden und umkommen; wenn man es auch noch so reichlich mit seinem natürlichen Futter versorgete.59

Somit gibt es für Reimarus durch die Kunsttriebe hervorgerufene Handlungen, denen bestimmte Bedürfnisse zugrunde liegen, diese äußern sich aber immer erst und nur dann, wenn ein Reiz auf die organische Disposition des Körpers trifft. Doch haben weder veränderte Umweltbedingungen noch andere Widrigkeiten eine verändernde Wirkung auf den Organismus als solchen, auf die tierische Maschine: Ohne die ihm allein dienliche Luft erstickt das Tier, es kann die ›Luftröhren‹ nicht dem durch eine äußere Veränderung entstandenen Bedürfnis anpassen. Hiermit lässt sich der Bogen schlagen zu den zitierten Vorwürfen Mendelssohns und Herders, Reimarus sei die Erklärung der tierischen Kunsttriebe missglück. Wenn Lebensart und Kunsttrieb auf solch innige Weise miteinander verknüpft sind, dass der Kunsttrieb die für eine bestimmte Lebensart notwendigen Mittel zur Bewältigung eben dieser bereithält, wie anders kann dann ein Tier seine »ganze Lebensart« verändern, als durch in ihm angelegte Kunsttriebe für eine andere als die bisherige ‒ was dem apostrophierten Ökonomieprinzip aber widerspricht (verfügt doch kein Tier über »unnöthige und überflüßige Kunsttriebe« ‒ es lassen sich darüber hinaus einem Tier ja auch »keine neue[n] und andere Triebe einflößen«, es sei denn: sie sind ihm von der »Natur gegeben«). Und noch ein Dilemma deutet sich an: Reagiert der Kunsttrieb auf die Lebensart, oder ist die Lebensart Produkt des Kunstsinnes? Und inwiefern spielen die organischen Dispositionen eine Rolle? Denn wenn der Kunsttrieb immer nur auf einen äußeren, sinnlichen Reiz reagiert, so muss auch der Organismus in der Lage sein, die Ursache dieses Reizes zu verwerten. Beim Ineinandergreifen von Lebensart und Kunstrieb ist man versucht, mit Goethes Ablehnung physikotheologischer Naturbeschreibungen zu argumentieren: Fragt man, wozu einem Stier seine Hörner gegeben sind, oder fragt man, wie es möglich sein kann, dass ein Stier Hörner hat, um stoßen zu können?60 Oder anders gefragt: Frisst ein Löwe Fleisch, weil es seiner Lebensart entspricht, oder frisst er es, weil er organisch dazu in der Lage ist, es zu verwerten? Dies erklärt vielleicht auch, dass Reimarus einen Kanon von 57 tierischen Kunsttrieben in zehn Klassen ‒ ohne Anspruch auf Vollständigkeit ‒ auflistet.61 Hierbei aber werden die Defizite bei der Bestimmung der ›Kunsttriebe‹ offentsichtlich: Ist die erste Klasse, die »der Bewegung, als dem allgemeinsten Mittel zu allen Zwecken«, nicht eher den ›mechani-

|| 59 Ebd., § 62, S. 104. 60 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie [1795]. In: ders.: Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. II,8: Zur Morphologie, Tl. 3. Weimar 1893 [ND München 1987], S. 5‒58, hier S. 17. 61 Vgl. Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (s. Anm. 3), § 85, S. 140‒146.

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schen‹ Trieben zuzuordnen; ist ebenso die zweite Klasse, die die Triebe subsumiert, »welche Mittel sind zu der ersten Hauptbedürfniß einer bequemen Luft in dem rechten Elmente, und der rechten Gegend«, nicht auch diesen zuzuordnen? Und wie verhält es sich mit der vierten und fünften Klasse, die die Kunsttriebe beinhalten, die sowohl zur »Abwehr des Bösen von leblosen Dingen« als auch der von »andern Thieren« (einschließlich dem Menschen) dienlich sind? Letztendlich aber ist es die zehnte Klasse, »Von der weiteren Bestimmung und Abänderung der natürlichen Triebe«, die Reimarusʼ Theoriengebäude schwanken macht, beinhaltet diese doch die 54. Genauere Bestimmung der natürlichen Triebe nach den Umständen. 55. Abänderung der Triebe wegen außerordentlicher Zufälle. 56. Abänderung der Triebe durch menschlichen Zwang und Zähmung. 57. Abänderung der Triebe durch menschliche Kunst und Abrichtung.62

Wurden die ›Triebe‹ 56 und 57 bereits oben angesprochen, so bleibt ›Trieb‹ 54 zunächst außer Beacht, während aber ›Trieb‹ 55 hinterfragt werde muss. Wenn »[k]eine Thierart« über »unnöthige oder überflüssige Kunsttriebe« verfügt,63 hieße eine Reaktion des einzelnen Tieres auf eine wie auch immer geartete Veränderung der Lebensumstände (Futtermangel, Dürre, Überschwemmungen etc.), dass eben diesem Tier Triebe eingeboren sind, um auf genau diese Veränderung zu dieser Zeit in dieser Gegend zu reagieren und entsprechend dem ›Trieb‹ zu handeln ‒ damit würde aber die Vorhersehung Gottes dann doch sehr überstrapaziert, wenn er den Wölfen einen spezifischen Kunsttrieb zur Erbeutung fleischlicher Nahrung ›eingepflanzt‹ hätte, Wolf A aber, in bestimmten Situationen wie dem Mangel an Beutetieren, sich entgegen seiner, auch ›mechanischen‹, Natur an Beeren und Kräutern gütlich tun kann. Oder verfügen dann alle Wölfe über diesen eigentlich, da ihrer Lebensart nicht entsprechenden, »unnöthige[n] oder überflüssige[n] Kunsttrieb[]«? Reimarus windet sich mit etwas Geschick aus diesem Dilemma. Alle einzelne Thiere einer Art handeln, wenn sie frey sind, in ihren Kunstrrieben nach einerley bestimmten Weise, Regel und Modell, wenigstens in dem Wesentlichen; so daß ihnen bloß zufällige Beschaffenheiten verschiedentlich zu bestimmen überbleiben.64

Wenn man einmal gesehen habe, wie ein einzelnes Tier einer Art sich fortbewege, wie es sich Nahrung beschaffe, wie es seinen Nachwuchs warte etc., dann habe man sie alle gesehen; so kennet man die ganze Art, und kann zum Voraus sagen, wie es ein jedes anderes Thier der Art machen wird. Allenthalben sind einerley Mittel, zu einerley Zwecke,

|| 62 Ebd., S. 146. 63 Ebd., § 88, S. 148. 64 Ebd., § 92, S. 157.

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eben die Handlungen und dazu angewandte Werkzeuge, ähnliche Werke in der Materie und ihrer Figur und Zusammenfügung, ja in der Größe selbst, wenn es darauf ankömmt.65

Es sei daher ausgeschlossen, dass, anders als beim Menschen, die Kunsttriebe einer und derselben besondern Art, in den Hauptstücken, nach Ländern und Nationen verschieden sind, oder von den Nachkommen zu einer weiteren Vollkommenheit gebracht werden: es kommen auch eben so wenig neue Künste unter den Thieren auf, als alte verloren gehen, oder schlechter werden. […] Allein der Thiere ihre Künste sind und bleiben allenthalben und zu allen Zeiten allgemein und in einerley Schranken. Die Spinne webe nichts besser, nichts schlechter, als im Paradiese: die Vögel haben ihrer Vorfahren Weise im Nesterbaue nicht verändert: die Bienen haben noch eben die Regierungsform und Policey, als zu Virgils Zeiten.66

Gleichwohl verhindern die Kunsttriebe nicht, daß nicht tausende von einzelen Thieren, vor ihrer rechten Sterbezeit untergehen,67 wenn es ihnen an »diensamer Nahrung« mangelt oder sie einer »unbequeme[n] Witterung« ausgesetzt sind. Da es aber aufgrund solcher »außerordentlicher Zufälle« nicht zu einer »Abänderung der Triebe« kommen ‒ ein Wolf also selbst in Extremsituationen kein Pflanzenfresser werden ‒ kann, bedient sich Reimarus einer schon von Carl von Linné angesprochenen Hypothese: der Ökonomie der Natur.68 Denn dass so viele Tiere »vor ihrer rechten Sterbezeit untergehen« bewirke, daß die Anzahl jeder Art in einem Gleichgewichte mit andern bleibe.69 Damit aber kommt den ›Kunsttrieben‹ der Tiere ein weiteres, ein regulatives Moment zu: Wenn diese Triebe »zur Erhaltung jedes Thieres und seiner Art« dienen, aber auch in Extremsituationen ›unwandelbar‹ sind, ein Tier oder eine Art sich also nicht einer neuen Lebensart anpassen kann, so heißt dieses, dass sie sich

|| 65 Ebd., S. 158. 66 Ebd., S. 158f.; Reimarus verweist hier einerseits im biblischen Kontext auf das zerbrechliche Spinnennetz als Illustration des Vertrauens des Heuchlers in Gott (vgl. Hiob 8,14), andererseits auf Vergils ‒ erst im § 111, S. 223 genannte ‒ Georgica: »Mancher […] / Lehrete, daß in den Bienen ein Teil des göttlichen Geistes / Wohnʼ und ätherischer Hauch. Denn die Gottheit gehe durch alle / Lande sowohl, als Räume des Meers und Tiefen des Himmels« (IV, 219‒222; Übersetzung von Johann Heinrich Voß). 67 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (s. Anm. 3), § 90, S. 150. 68 Vgl. Carl von Linné (Praeses), Isaac J. Biberg (Respondent): De Oeconomia naturae. Uppsala 1749 (Amoenitates Academicae, seu, Dissertationes variae physicae, medicae, botanicae antehac seorsim editae nunc collectae et auctae. Stockholm, Leipzig 1749); dt. Übersetzung in: Des Ritter Carl von Linné Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte, Physik und Arzneywissenschaft. Zweyter Band. Mit Kupfern, Anmerkungen des Übersetzers [Ernst Justus Theodor Höpfner] und einem Register über die zween ersten Bände. Leipzig 1777, S. 1‒56; vgl. dazu auch Donald Worster: Natureʼs Economy. A History of Ecological Ideas. Cambridge 21994, S. 26ff. 69 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (s. Anm. 3), § 90, S. 150.

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nicht bis zum Nachtheil der großen Ordnung und Verknüpfung im ganzen Reiche der Lebendigen, erstrecken, sondern nur so viele der Gefahr entreißen, als mit dem Verhältnisse der Thierarten unter einander bestehen konnte.70

Die ›Kunsttriebe‹ der Tiere werden so zu einem zweifachen Garanten der göttlichen Ordnung: Sie dienen einerseits aktiv dem Erhalt des Individuums und seiner Art ‒ ein ›Aussterben‹ ist also nicht möglich ‒, andererseits dienen sie passiv, da unwandelbar, dem Erhalt eines anderen Individuums und seiner Art ‒ auch hier ist somit ein ›Aussterben‹ nicht möglich. Auch der Mensch, »das edelste Thier, aber auch das größte Raubthier«71 ist in diese Ordnung involviert, doch bleibt ein Wermutstropfen: Wenn auf die oben genannte Weise eine jede Thierart, durch die widrige Witterung und Raubthiere, in gewissen Schranken ihrer Vermehrung erhalten, und der Überfluß […] zur Erhaltung so vieler Tausend anderer

dient, der Mensch sich aber nicht nur »nach Gelegenheit«, sondern auch nach »Belieben« von allen Tierarten ernährt, so steht das von Reimarus für das Tierreich aufgestellte ökologisch-ökonomonische Moment in Frage.72 Dem Menschen wäre es so möglich, aufgrund seiner Fähigkeiten in die göttliche Ordnung einzugreifen. Reimarus ist es durchaus gelungen, das Tier einer rein mechanistischen Betrachtung, der Dimension der seelenlosen Automaten zu entreißen ‒ doch belässt er es in den Händen eines ›allwissenden Werkmeisters‹. Dieser ist aber kein reiner Mechanikus, der vorhergesehen hat, wann und wo bis in alle Ewigkeit jede einzelne Maschine was verrichten wird. Durch den ›Kunsttrieb‹ sucht Reimarus den Grund für das Dasein und die Beschaffenheit der Tiere in diese selbst zu legen. Denn die »verschiedene Möglichkeit der Arten des Lebens«, so schließen die Erörterungen zu den Kunsttrieben, den wesentlichen Unterschied der verschiedenen möglichen Thier-Arten aus. Demnach sind so viele Arten der Thiere wirklich in der Welt, als verschiedene Arten des Lebens möglich sind, und die Einrichtung der körperlichen Welt bekömmt, durch die Übereinstimmung mit allen möglichen Arten des Lebens, und folglich auch mit allen möglichen Arten der Lebendigen und Thiere, ihre Regel.73

|| 70 Ebd., S. 153; Reimarus bezieht sich in einer Anmerkung aber nicht auf Linné, sondern auf das popularwissenschaftliche Werk Noël-Antoine Pluches, genannt Abbé Pluche (1688‒1761), vgl. Spectacle de la nature, ou Entretiens sur les particularités de lʼHistoire naturelle qui ont paru les plus propres à rendre les jeunes gens curieux et à leur former lʼesprit. 9 Bde. Paris 1732‒1742, hier Bd. 2, S. 42; die deutsche Übersetzung (Frankfurt a. M., Leipzig 1753ff.) hat Reimarus scheinbar nicht genutzt. 71 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (s. Anm. 3), § 90, S. 153. 72 Vgl. ebd., S. 158 (Hervorhebung U.R.). 73 Ebd., § 145, S. 363f.

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Eben diese aber habe »der Schöpfer, bey der Schöpfung« »gleichsam zu seiner allgemeinen Regel gemacht«, indem er seine Absicht auf das Wohl aller Lebendigen gerichtet [habe und] wornach jeder Seele ihr Körper und die ganze körperliche Welt einstimmig eingerichtet seyn sollte.74

Damit aber ist der ›Kunsttrieb‹ und seine Abgrenzung zum Instinkt keineswegs erklärt.

|| 74 Ebd., S. 364.

Stefanie Buchenau

Reimarus und die Debatte über die Bestimmung des Menschen Es ist auf den ersten Blick nicht unbedingt einsichtig, wo genau das versteckte Zentrum von Hermann Samuel Reimarus’ Abhandlungen über die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion1 eigentlich liegt. Geht es Reimarus in erster Linie um Gott? Um Gott in der Welt? Geht es ihm um den Menschen? Oder um das Tier? Um Theologie, Physikotheologie, Anthropologie oder Ethologie? Mit all den genannten Themen befasst sich Reimarus offenbar intensiv, wie es die Ausführungen bestimmter Thesen in einer Reihe von späteren Schriften zeigen. Man denke insbesondere an seine ethologische Abhandlung Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe2 sowie an seine Bibelkritik in der Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes3, die nach der partiellen Veröffentlichung durch Lessing den sogenannten Fragmentenstreit auslösen soll. Alle diese Themen hängen offenbar eng zusammen. Alle sind sie wichtig. Und doch bleiben Gott und das Tier in gewisser Hinsicht sekundär oder Mittel zu einem höheren Zweck. Primär geht es Reimarus, so die Hypothese meines Aufsatzes, um den Menschen, um dessen Selbsterkenntnis, Humanität und Bestimmung. Zumindest liegt in dieser Anthropologie eine große Originalität seiner Philosophie und ist auch von den zeitgenössischen Lesern als eine solche wahrgenommen worden. Weil sich aber der Mensch über seine Stellung zwischen Gott und dem Tier bestimmt, weil Selbsterkenntnis nur über die Erkenntnis Gottes, die Erkenntnis der Welt oder zumindest die Erkenntnis des Tieres zu erhalten ist, muss Anthropologie von Theologie, Physikotheologie und Ethologie ihren Ausgang nehmen. Diese Disziplinen dienen somit dieser ganz besonderen Anthropologie als Hilfswissenschaften, und ihre von Reimarus in die Wege geleitete Neuausrichtung dient anthropologischen Zwecken. Aus dieser Sicht nun kann es sich lohnen, Reimarus einmal in die

|| 1 Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet. Hamburg 1754 [21755, 31766, 41772, 51782, 6 1791, 71798]. Neuausgabe hg. von Günter Gawlick. 2 Bde. Göttingen 1985. Ich beziehe mich im Folgenden auf die dritte Auflage von 1766. 2 Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe. Zum Erkenntniss des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst. Hamburg 1760. Neuausgabe der 2. Aufl. von 1762 hg. von Ernst Mayr, Jürgen von Kempski, Stefan Lorenz und Winfried Schröder. Göttingen 1982. 3 Die »Fragmente eines Ungenannten« werden in den Jahren 1774, 1777 und 1778 von Lessing veröffentlicht. Erst Jahrhunderte später wird die vollständige Schrift publiziert. Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt a. M. 1972. https://doi.org/10.1515/9783110726558-015

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Debatte um die Bestimmung des Menschen einzuordnen, die mit Spaldings gleichnamigem Traktat im Jahre 1748 beginnt und die einen Großteil der deutschen Philosophen der zweiten Jahrhunderthälfte intensiv beschäftigen soll. Diese in der Reimarus-Literatur bisher wenig präsente Perspektive kann sowohl neue Einsichten in Sinn und Einheit von Reimarus’ Philosophie liefern als auch in eine besondere aufklärerische Problemkonstellation und ihre Modernität. Mein Aufsatz gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil befasst sich mit der Position Reimarus’ in der Bestimmungsdebatte und seiner Übernahme eines physikotheologisch-anthropologischen Musters, wie es bei Spalding angelegt ist. Der zweite Teil untersucht Reimarus’ eigenen philosophischen Beitrag und seine naturhistorische Vertiefung der von Spalding eröffneten Fragestellung in seiner Diskussion mit La Mettrie. Der dritte und letzte Teil bietet einen kurzen Ausblick auf Reimarus’ geradezu einschlagende Wirkung und Rezeption in der späteren Bestimmungsdebatte bei Mendelssohn, Herder und Kant.

1 Gott, Welt, Mensch. Oder: die Geburt der Anthropologie aus der Physikotheologie Beginnen wir mit einer kurzen Skizzierung der Debatte um die Bestimmung des Menschen.4 Diese beginnt nur wenige Jahre vor der Veröffentlichung von Reimarus’ Abhandlung: Spaldings Schrift Die Bestimmung des Menschen erscheint im Jahre 1748.5 Dass Spaldings Schrift allgemein auf große Resonanz stößt, belegen nicht nur die zahlreichen Neuauflagen,6 sondern auch die Flut von theologischen und philosophischen Traktaten, die sich ab 1748 mit ihr auseinandersetzen. So verfasst der Pastor Johann Melchior Goeze (1717–1786), der 1755 eine Anstellung in Hamburg findet und später auch in den Fragmentenstreit verwickelt werden soll, bereits im Jahre 1748 einen kritischen Kommentar mit dem Titel Gedanken über die Betrach-

|| 4 Eine erste Übersicht über die Debatte gibt Michael Printy: The Determination of Man. Johann Joachim Spalding and the Protestant Enlightenment. In: Journal of the History of Ideas 74.2 (2013), S. 189–212. Vgl. außerdem in der stetig anwachsenden Forschungsliteratur zu dem gleichen Thema Laura Anna Macor: Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte. StuttgartBad Cannstatt 2013; Anne Pollok: Facetten des Menschen. Zur Anthropologie Moses Mendelssohns. Hamburg 2010 sowie den von Norbert Hinske herausgegebenen Sonderband der Zeitschrift Aufklärung zu diesem Thema, Bd. 11.1 (1999). 5 Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen. Hg. von Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski und Dennis Prause. Tübingen 2007. 6 Zwischen 1748 und 1784 wird Spaldings Schrift dreizehn Mal aufgelegt. Vgl. zu Spalding auch Georg Raatz: Aufklärung als Selbstdeutung. Eine genetisch-systematische Rekonstruktion von Johann Joachim Spaldings »Bestimmung des Menschen« (1748). Tübingen 2014.

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tung von der Bestimmung des Menschen.7 Es scheint relativ plausibel, dass Reimarus mit Goezes Kritik bekannt sein musste. Wie Reinhard Brandt in seinem wichtigen Buch Die Bestimmung des Menschen bei Kant8 gezeigt hat, folgen in den 1750er Jahren weitere Schriften. Manche davon nehmen die Bestimmungsvokabel in ihren Titel auf, andere nicht. So enthält der Sammelband des Pietisten Friedrich Christoph Oetinger unter Die Wahrheit des Sensus Communis ein Tractat von der Bestimmung des Menschen, worinn alles aus dem sensu commmuni hergeleitet ist. Ein im Jahre 1753 anonym publiziertes Werk heißt Versuch einer Theorie der Erziehung. Eine Reihe von Autoren beschäftigt sich außerdem auch indirekter mit Spaldings Thesen und Begrifflichkeiten. Zu letzterer Gruppe gehören Georg Friedrich Meier, Isaak Iselin, Johann Joachim Winckelmann und auch Reimarus. In den 1760er Jahren dann flackert die Debatte in den Kreisen der Berliner Aufklärung neu auf. Die Bestimmung des Menschen rückt in den Mittelpunkt der Diskussion zwischen dem jungen Thomas Abbt und seinem Freund Moses Mendelssohn. In mehreren Rezensionen,9 Briefen10 und in einem Aufsatz mit dem Titel Zweifel über die Bestimmung des Menschen äußert Abbt seine ›Zweifel‹ gegenüber dem Ansatz Spaldings. Er merkt an, dass Spaldings Antwort noch einer genaueren Prüfung bedürfe. Diesem Zweifel Abbts versucht Mendelssohn im gleichen Jahr in einer Schrift mit dem Titel Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend11 zu begegnen. Beide Aufsätze erscheinen 1764 zunächst anonym in den Briefen, die neueste Literatur betreffend. Im Jahre 1767 folgt unter dem Titel Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele12 eine ausführlichere Fassung von Mendelssohns Argument aus dem Orakel. In dieser zweiten Phase der Debatte ist nun auch sehr explizit von Reimarus die Rede. So zitiert Mendelssohn in der Vorrede des Phaedon Reimarus ausdrücklich unter seinen Quellen. Er schreibt: »Wenn ich hätte Schriftsteller anführen mögen, wären die Namen Plotinus, Cartes, Leibnitz, Wolff, Baumgarten, Reimarus u. a. oft vorgekommen«.13 Mendelssohn ist somit einer der ersten Autoren, die Reimarus direkt in diese Debatte um die Bestimmung des Menschen einordnen. Ähnliche Zuordnungen finden sich in der späteren, bedeutenden Entwicklung der gleichen Debatte bei Autoren wie Herder, Kant, Fichte.14 Sie alle beziehen sich in ihren eigenen Beiträgen in der Debatte um die Bestimmung des Menschen explizit auf Reimarus. Alle diese

|| 7 Johann Melchior Goeze: Gedanken über die Betrachtung von der Bestimmung des Menschen. Halle 1748. 8 Reinhard Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Hamburg 2007. 9 Thomas Abbt: Zweifel über die Bestimmung des Menschen. In: MGS VI.1, S. 9–19. 10 Ebd. 11 Mendelssohn: Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend. In: MGS VI.1., S. 19–25. 12 Mendelssohn: Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele. In: MGS III.1, S. 7–128. 13 Ebd., S. 9. 14 Fichte setzt sich insbesondere in der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftlehre ausdrücklich mit Reimarus’ Anthropologie auseinander.

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Umstände lassen wenig Zweifel daran, dass Reimarus Spaldings Werk gekannt haben muss. Zwar zitiert Reimarus Spalding nicht direkt. Das von Schmidt-Biggemann 1978 erstellte Verzeichnis der erhaltenen Manuskripte und Briefe15 enthält keinen Eintrag zu Spalding. Auch macht er aus der Bestimmung keinen Schlüsselbegriff. Lieber hält er an dem althergebrachten metaphysischen Vokabular fest. So spricht Reimarus von den »Absichten«, der »Vollkommenheit« des Menschen und Tieres, seiner Vervollkommnung oder »immateriellen Seele«. Nichtsdestotrotz aber findet das Bestimmungsvokabular an bestimmten strategischen Stellen der Abhandlungen Erwähnung. So beginnt die sechste Abhandlung »Von dem Menschen an sich, insonderheit nach der Seele betrachtet« mit den Worten: »Es wird nunmehr also Zeit seyn, daß wir Menschen auch an uns selbst denken, und unsere Natur nach unserer wahren Bestimmung kennen lernen.«16 Etwas später heißt es: »[U]nsere Natur bestimmt unsere Handlungen nicht blindlings und gleichsam zwangsweise; also bestimmt sie dieselben gar nicht. Hat denn nicht, außer der blinden Bestimmung, auch eine vernünftige statt?«17 Auffällig ist des Weiteren sowohl die Spalding und Reimarus gemeinsame Zielsetzung als auch die Anordnung der Kapitel. Ziel und Zweck der beiden Schriften ist nicht nur der Beweis der Existenz oder der Attribute Gottes. Ziel ist auch die Selbsterkenntnis: »Es ist doch einmal der Mühe wert zu wissen, wozu ich da bin und was ich vernünftigerweise werden soll«, beginnt Spalding seine Schrift.18 Ähnlich hält Reimarus in seinem sechsten Kapitel den Leser zur Selbsterkenntnis an.19 Und die Erzählung erfüllt in beiden Fällen das angekündigte Programm. In beiden Fällen führt die Betrachtung der Welt den Menschen sowohl zu Gott als auch zu sich selbst. Denn indem das menschliche Individuum lernt, die Welt in ihrer Schönheit und Erhabenheit zu erfassen, erhält es Einsicht in die eigene Teilhabe an einer höheren, göttlichen Denk- und Ordnungsinstanz, in Religion, die eigene Unsterblichkeit und das Wesen wahrer Tugend, Religion. Unter Unsterblichkeit verstehen beide Autoren eine stetige, unaufhörlich wachsende Progression. Die Betrachtung Gottes in der Welt besitzt dabei, so legt es uns Reimarus schon in der Vorrede seiner Abhandlung dar, einen entscheidenden Vorteil vor der Lektüre der Bibel, ganz wie die natürliche Religion Vorrang vor der Offenbarungsreligion hat. Denn über die Schönheit und Göttlichkeit der Welt steht uns doch »der Hauptzweck, und gleichsam der ganze Inhalt und allgemeine Titel des Buchs der Natur, und derer Kapitel; die uns am meisten betreffen [...] allemal klar vor Augen«.20 Dem || 15 Hermann Samuel Reimarus: Handschriftenverzeichnis und Bibliografie. Zusammengestellt und eingeleitet von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Göttingen 1978. 16 Reimarus: Die Vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 430. 17 Ebd., S. 570. 18 Spalding: Die Bestimmung des Menschen (s. Anm. 5), S. 3. 19 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 430. 20 Ebd., S. 252.

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eigenen und persönlichen Bekenntnis nach hat diese Betrachtung Reimarus selbst jederzeit Beruhigung gespendet, so oft er die ersten Wahrheiten aller Religion, nach »gesunder Vernunft«, selbst überdacht habe. Sie ist zudem allgemein zugänglich, während die Offenbarung nur einigen vorbehalten ist. In diesem Sinne heißt es in der Vorrede: »Wo etwas ist, daß bei allen Eingang finden kann und muß, so werden als solche Gründe der gesunden Vernunft sein, die eine große Klarheit haben und in ihrer Folgerung bald zu überdenken sind.« Hans Blumenberg stellt in seinem Buch Die Lesbarkeit die Welt diese ästhetische Dimension von Reimarus’ Abhandlung klar heraus.21 Er weist hier wohl zu Recht auf den besonderen und maßgeblichen Einfluss des Hamburger Dichters und Physikotheologen Barthold Heinrich Brockes hin. [Reimarus] übernimmt die Anthropozentrik des Buches der Natur [von Brockes Irdischem Vergnügen in Gott], aber äußerst sparsam, nämlich bezogen allein auf das, was unentbehrlich für den Menschen ist und daher an Klarheit nichts zu wünschen übriglassen darf.22

In diesem Zusammenhang zitiert Blumenberg den Reimarus der Abhandlungen und der Vernunftlehre. Beide Schriften sieht er als Korrelat seiner Bibelkritik, denn, so Blumenberg: [S]o klar und öffentlich die Natur vor den Augen von jedermann liegt, so unmöglich ist es, daß eine angenommene Offenbarung jemals für jedermann annehmbar sein könnte […]. Es bleibt der einzige Weg, dadurch etwas allgemein werden kann, die Sprache und das Buch der Natur.

Dieses Argument führt Reimarus in den Abhandlungen und den Fragmenten aus. Er kämpft dabei aber (ganz wie im Übrigen Spalding23) gleichzeitig nicht nur an der theologischen, sondern auch an der philosophischen Front. Mit seiner ästhetischen und populären Neuausrichtung der Physikotheologie ist zugleich eine scharfe Kritik an der akademischen Philosophie und an ihrem allzu elitären Selbstverständnis verbunden. Reimarus zufolge bleibt alle abstrakt-philosophische, nach dem Modell der Mathematik ausgerichtete Beweisführung »künstlich, mühsam und trocken«.24

|| 21 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 2003, Kapitel 13: Das Hamburger Buch der Natur und sein Königsberger Reflex, S. 180–198. Man beachte, dass Brockes auch auf Alexander Gottlieb Baumgarten, der in den gleichen Jahren seine Aesthetica verfasst, einen bedeutenden Einfluss ausübt. 22 Ebd., S. 184. 23 Auch Spalding merkt in den seiner Schrift in der Auflage von 1794 angefügten Schlussgedanken an, wie sein christlicher Unterricht »zum Teil mit ebenso unverständlichen Gedächtnisformeln als unfruchtbaren Spitzfindigkeiten vermengt und überladen« gewesen sei (Spalding: Die Bestimmung des Menschen [s. Anm. 5], S. 219). 24 Reimarus: Die Vernunftlehre als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in dem Erkenntniß der Wahrheit aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs hergeleitet. Hamburg 1756 [31766], S. 398.

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Sie gründe sich auf »mangelhafte« und ungewisse Erklärungen und Grundbegriffe.25 Weil dem Philosophen die ästhetische Rezeptivität für die »Göttlichkeit«, Schönheit, Zweckmäßigkeit und Vollkommenheit der Welt abgehen mag, kann er auch die wahre, sprich ästhetische, natürliche, populäre und praktisch relevante Art von Erkenntnis verfehlen. Allein die Erkenntnis der Wahrheit, die Ordnung der Welt, die als Schönheit und Harmonie allgemein zugänglich ist und der »gesunden« Vernunft entspringt, verdient strictu sensu den Namen Erkenntnis. Denn allein diese ästhetische, »fassliche« oder »begreifliche« Erkenntnis oder Empfindung stiftet die Verbindung mit Gott, den lebendigen Glauben. Und sie allein ist von praktischer Relevanz, indem sie dem Menschen seine Bestimmung vor Augen stellt26 und ihm sowohl seinen Rang oder Platz in der Schöpfung als auch seine Aufgabe als vernünftiges Wesen bedeutet: dem Menschen allein ist es gegeben, seinen Rang, seine Aufgabe nicht nur zu erfüllen, sondern wissend zu erfüllen und die Ordnung der Schöpfung zu erkennen, zu betrachten, zu genießen. Mit seiner ästhetischen Erkenntnis oder Empfindung geht notwendig eine Bewegung des Willens, geht Handlung einher. Es geht aber nicht nur darum, die göttlichen Wahrheiten »ästhetisch«, leicht und angenehm dem Leser nahezubringen und in eine für ihn faßliche Sprache zu übersetzen. Auf dem Spiel steht in dieser Kritik an der Philosophie und Metaphysik auch eine neue Hierarchisierung der philosophischen Gottesbeweise. Reimarus setzt sich offenbar (ganz wie Spalding) für eine Aufwertung des sogenannten »physikotheologischen« Beweises ein. Diese Aufwertung ist in der neuzeitlichen physikotheologischen Strömung, die in der frühen Neuzeit mit den Arbeiten Robert Boyles, Ralph Cudworths,27 John Rays,28 William Derhams,29 Bernard Nieuwentijts,30 Shaftesburys usw. beginnt, be-

|| 25 Ebd., S. 400. 26 »Bestimmung« besitzt mehrere Bedeutungen, die den Lateinischen Termini »determinatio«, »destinatio« und »vocatio« entsprechen. Vgl. zur Distinktion zwischen »determinatio« und »destinatio« Mendelssohns Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Korrespondenz, Anmerkung K: »Die Zweydeutigkeit liegt hier in der Sprache. Das Wort Bestimmung bedeutet sowohl die Festsetzung eines Prädikats, unter mancherley derselben, die dem Subjekt zukommen können, Determination; als die Festsetzung des Endzwecks, zu welchem etwas als Mittel gebraucht werden soll, Destination« (MGS VI.1, S. 35f.). 27 Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe. London 1678. 28 John Ray: The Wisdom of God manifested in the Works of the Creation. London 1691. Reimarus zitiert Ray in einer französischen Übersetzung (vgl. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten [s. Anm. 1], S. 319). 29 William Derham: Physicotheology, or a demonstration of the Being and Attributes of God, from his Works of Creation. London 1713. Reimarus besaß die Übersetzung von Fabricius von 1730. 30 Bernard Nieuwentijt: Het regt gebruik der welet beschouwingen, ter overtuiginge van ongodisten en ongelovigen. Amsterdam 1715 (vgl. Reimarus: Von den vornehmsten Wahrheiten [s. Anm. 1], S. 246).

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reits angelegt. Im deutschsprachigen Raum umfasst diese Strömung auch Christian Wolff, Friedrich Christian Lesser,31 Albrecht von Haller, Brockes und Reimarus, die sich alle intensiv mit diesen Quellen auseinandersetzen und wichtige Elemente aufnehmen. Und dennoch schlagen die deutschen Bestimmungsphilosophen einen neuen, wie Reimarus es fasst, »unbetretenen«32 Weg ein, insofern sie dem physikotheologischen Beweis zu einem neuen grundlegenden Status verhelfen. Es sticht in der Tat ins Auge, dass diese Aufwertung des physikotheologischen Beweises mit der Abwertung des sogenannten ontologischen Beweises einhergeht bzw. den philosophisch notwendigen und fundamentalen Charakter, den er in der cartesianischen Tradition des 17. Jahrhunderts besaß, infrage stellt. Den Prämissen des Wolffianismus gemäß ist die Einsicht (bzw. Empfindung) des eigenen göttlichen Selbst nicht durch einen radikalen Zweifel bedingt. Sie gründet weder auf Abkehr von der Welt noch auf Einkehr in das eigene Ich. Stattdessen besteht zwischen Selbst- und Weltbewusstsein ein intrinsischer Zusammenhang.33 Und da Selbsterkenntnis über Gottes- und Welterkenntnis erfolgt, kann der physikotheologische Beweis weit mehr als eine bloße Ergänzung des ontologischen bieten. Er besitzt nicht lediglich eine populäre, moralische und rhetorische Funktion, insofern er der anschaulicheren Vermittlung einer Wahrheit dient, die zunächst der reinen Vernunft auf demonstrativem Wege zugänglich sein kann, sondern er stellt den ersten und grundlegenden Beweis dar, aus dem sich sowohl die Existenz Gottes als auch die der immateriellen Seele ableiten lässt. In anderen Worten: Physikotheologie ist immer schon Anthropologie.

|| 31 Friedrich Christian Lesser: Insecto-Theologia, Oder: Vernunfft- und Schrifftmäßiger Versuch, Wie ein Mensch durch aufmercksame Betrachtung derer sonst wenig geachteten Insecten Zu lebendiger Erkänntniß und Bewunderung der Allmacht, Weißheit, der Güte und Gerechtigkeit des grossen Gottes gelangen könne. Zweyte und vermehrte Auflage. Frankfurt a. M. [u. a.] 1740 [11738]; Testaceo-theologia, oder, Gründlicher Beweis des Daseyns und der vollkommensten Eigenschaften eines göttlichen Wesens aus natürlicher und geistlicher Betrachtung der Schnecken und Muscheln zur gebührender Verherrlichung des grossen Gottes und Beförderung des ihm schuldigen Dienstes ausgefertiget. Leipzig 1756 [11744]. 32 Reimarus: Die Vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), Vorbericht. 33 Vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt. Frankfurt a. M., Leipzig 1733, Kap. 1.

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2 Mensch und Tier. Reimarus, La Mettrie und die Naturgeschichte des Menschen In dieser anthropozentrischen Ausrichtung der Physikotheologie scheint Reimarus ein Grundschema Spaldings zu übernehmen. Aber wie im Folgenden gezeigt werden soll, verleiht er der Debatte gleichzeitig eine neue Tiefe. Reimarus’ erster und direkter Gegner ist Julien Offray de La Mettrie.34 Dass seine Schrift einer Widerlegung der französischen Gottlosigkeit gilt, kündigt Reimarus schon in seiner Vorrede an: Dieses habe ich nicht ohne Befremdung bemerkt, daß seit wenigen Jahren eine ganz ungewohnte Menge kleiner Schriften, mehrentheils in französischer Sprache über den Weg gestreuet ist, worin nicht sowohl das Christenthum, als vielmehr alle natürliche Religion und Sittlichkeit, verlacht und angefochten sind.35

Reimarus’ Versuch einer Widerlegung La Mettries bietet den großen Vorteil, dass er seinen Gegner namentlich zitiert. Während ein Großteil seiner Zeitgenossen, wie Sulzer oder Herder es in ihren Beweisen der immateriellen Seele vorziehen, den Gegner (La Mettrie) mit Schweigen zu strafen, widmet Reimarus dem französischen Autor einen ausführlichen Kommentar. Dieser findet sich insbesondere in den Fußnoten. La Mettrie habe »in seinem Système d’Epicure dieses verfallene Lehrgebäude unglücklicherweise wieder aufzurichten« gesucht. Er zähle zu jenen gottlosen Weltweisen, die sich »mit Erdichtungen« helfen und sich einbilden, die Sonne habe durch ihre Wärme den Schlamm des Erdbodens belebet, und dadurch vielleicht zuerst allerlei ungestaltete Misgeburten von Thieren hervorgebracht, welche nicht hätten bestehen, noch sich fortpflanzen können; bis endlich, nach vielen ungestalten Fehlgeburten, aus solchem ungefährlichen Zusammenflusse einer gährenden Materie, eine ordentliche Bildung, bald diese, bald jenes Thieres, von beyderley Geschlechtern, sodann auch einmal der Mensch entstanden wäre, welche sich beym Leben erhalten und vermehren können.36

Zur Widerlegung La Mettries greift Reimarus auf ein antikes platonisches Schema zurück, das schon die Anhänger Platons der Philosophie Epikurs entgegenstellen. Wie Sokrates, der sich in Platons Phaidon mit Simmias auseinandersetzt und den Mendelssohn 1767 in seinem Phaedon in Szene setzt, verteidigt Reimarus die notwendige Setzung einer außerweltlichen und immateriellen Denk- oder Ordnungsin-

|| 34 Clemens Schwaiger weist darauf hin, dass sich auch schon Spalding mit der Widerlegung von La Mettries Homme-machine befasse, der kurz vor dessen eigener Abhandlung erschienen war (Clemens Schwaiger: Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung. In: Die Bestimmung des Menschen. Hg. von Norbert Hinske. Hamburg, 1999, S. 7‒20, insbesondere S. 18). 35 Reimarus: Die Vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), Vorbericht. 36 Ebd., S. 83.

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stanz.37 Insofern wird Reimarus in Mendelssohns Neufassung des Phaedon zu einer Art von modernem Sokrates. Das gleiche Grundmuster findet sich auch bei Wolff, der in seinem kosmologischen Beweis von der Zufälligkeit der Dinge in der Welt seinen Ausgang nimmt. Da diese nichts in sich tragen, was ihre Existenz notwendig macht und sich auch in einer ganz anderen Gestalt und Ordnung vorfinden könnten, muss die Welt nach dem Grund ihrer Ordnung befragt werden. Diese lasse somit auf ein notwendiges und außerweltliches Wesen schließen. Reimarus greift auf dieses Grundmuster zurück und variiert es zugleich, indem er sich selbst auf das naturhistorische Terrain La Mettries vorwagt. Dabei verlagert er das Zentrum oder die Perspektive der physikotheologischen Debatte von der Betrachtung der Welt überhaupt zu der Betrachtung von bestimmten Bewohnern der Welt, von lebendigen Geschöpfen und von Tieren. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Kleinen, da es »klärer«, fasslicher sei als das ganz Große.38 Direkt betrifft die Polemik den Ursprung des Lebendigen und den Beweis, dass das Leben selbst nicht aus Zufall und aus gärender fauler Materie entstanden sei; eine materialistische Konsequenz, die sich La Mettrie zufolge, der bekanntlich ein direkter Schüler und Kommentator Albrecht von Hallers war,39 aus der neuen Physiologie ziehen lasse. In der Tat scheint Hallers Physiologie, die er in seinem Kommentar Boerhaaves aus den 1740er Jahren und schärfer noch im zweiteiligen Traktat von 1752 Über die sinnlichen und reizbaren Teile des menschlichen Körpers formuliert, eine gewisse Materialität der menschlichen Seele nahezulegen. Denn sie verorten den Ursprung dieser Seelentätigkeit direkt in bestimmten körperlichen Organen – Reizbarkeit im Muskel, Sinnlichkeit oder Empfindung im Nerven. Direkter als Haller selbst stellt sich La Mettrie den philosophischen Fragen um die Simplizität und Ubiquität der Seele, und ihre Bestimmung als Bewegungs- und Lebensprinzip. Im Ausgang von Hallers Experimenten formuliert er die neue materialistische Hypothese, dass der Ursprung des Lebendigen im Körper, dem Muskel oder der Fiber selbst zu finden sei. Was man als geistige und spontane Kraft und Seele betrachtet,

|| 37 Mendelssohn: Phaedon (s. Anm. 12), S. 93: »Ordnung, Ebenmaß, Harmonie, Regelmäßigkeit, überhaupt alle Verhältnisse, die ein Zusammennehmen und Gegeneinanderhalten des Mannigfaltigen erfordern, sind Wirkungen des Denkungsvermögens. Ohne Hinzuthun des denkenden Wesens, ohne Vergleichung und Gegeneinanderhalten der mannigfaltigen Theile ist das regelmäßigste Gebäude ein bloßer Sandhaufen«. 38 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 247: »Müssen wir bis in die Uebereinstimmung aller Elemente oder Monaden hineinsehen, ehe wir etwas von der weisen Einrichtung der Dinge erkennen können?« Zu diesem Thema beachte man auch Reimarus Auseinandersetzung mit dem Präsidenten der Berliner Akademie Maupertuis. 39 Vgl. auch Stefanie Buchenau: La Mettrie en Allemagne. Matérialisme et Anthropologie. In: La Mettrie. Philosophie, sciences et art d’écrire. Hg. von Adrien Paschoud und François Pépin. Paris 2017, S. 213–230.

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habe ihren ersten Ursprung im Körper, so dass unsere Empfindung von Freiheit eigentlich trügerisch sei: [C]haque petite fibre ou partie des corps organisés se meut par un principe qui lui est propre et dont l’action ne dépend point des nerfs comme les mouvements volontaires, puisque les mouvements en question s’exercent sans que les parties qui les manifestent aient aucun commerce avec la circulation.40

Diese Thesen La Mettries waren um 1750 herum, kurz vor der Verfassung der Vornehmsten Wahrheiten in den Mittelpunkt einer großen deutsch-französischen Kontroverse gerückt. In dieser bemühten sich die deutschen Philosophen und Theologen, La Mettrie zu widerlegen und neue stichhaltige Beweise für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele zu liefern. Die Kontroverse dauert bis nach La Mettries Tod in der französischen Botschaft in Berlin fort. Nach einer ersten Phase, in der sich vor allem Hallers Kollegen in Göttingen engagierten, nahmen ab den 1750er Jahren auch Philosophen wie Bonnet, Sulzer, Mendelssohn und Reimarus aktiv an ihr teil. Reimarus behauptet, dass es die Betrachtung des Lebendigen sei, die den Rückgriff auf ein teleologisches Zweck- und Ordnungsprinzip einschließe. Reimarus wendet dabei seine Aufmerksamkeit auf jene tierischen Verhaltensweisen, die frühere Physikotheologen unter dem Begriff ›Instinkt‹ behandelten und die er selbst »Lebensart« und »Kunsttrieb« nennt.41 Denn »nichts in der Welt, zumal im Thierreiche, [legt] die Absichten des Schöpfers, und die darinn liegende Weisheit und Güte klärer vor Augen als die Triebe, Fertigkeiten oder Künste der unvernünftigen Thiere.«42 Diese Lebensart und Kunst, dadurch sie eine gewisse Haushaltung und Ordnung beachten, die ihnen die vollkommenste Vernunft zu ihrem Wohl hätte anrathen können, ohne alle eigene Ueberlegung, Erfahrung und Übung, ohne allen Unterricht, Beispiel oder Muster, von der Geburt an«, sei bei Seidenwürmern, Raupen und mehrere Insecten zu beachten, welche sich zu ihrer Verwandlung in ein einförmiges sanftes Bette einspinnen43

und die auch schon die Aufmerksamkeit von naturalistes wie Réaumur und Bonnet auf sich gezogen hatten. Der Betrachter kann nicht umhin, ein teleologisches Zweckprinzip, eine Absicht oder ewige Vorsehung anzunehmen, »welche das, was

|| 40 Julien Offray de La Mettrie: L’homme-machine. In: ders.: Œuvres Philosophiques. Hg. von JeanPierre Jackson. Paris 2004, S. 71f. 41 In den Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere werden diese Unterscheidungen ausgeführt und nuanciert. Vgl. zu diesem Sachverhalt Tobias Cheung: Hermann Samuel Reimarus’ Theorie der »Lebensarten« und »Triebe«. In: Sudhoffs Archiv 90.2 (2006), S. 143–160; Jean-Sébastien Bolduc: La théorie des instincts d’Hermann Samuel Reimarus. In: Dix-Huitieme Siecle 45 (2013), S. 585–603. 42 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 303f. 43 Ebd., S. 311.

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jedem Thiere, nach seinen wesentlichen Schranken, an Leib und Seelenkräften zu seiner Erhaltung mangelte, durch angeborene Fähigkeiten zu weit ersetzt, daß alle Arten dadurch in einer gewissen Proportion erhalten werden«.44 Und damit werden dem Tier neue wesentliche Aufgaben für den Erweis Gottes und für die Bestimmung des Menschen zugetragen. Selbst La Mettrie, letzter Anhänger »einer schon verzweifelnden Atheisterey, welche der Schulen, die ihnen diensame und unwiderlegliche Lehren der Weisheit geben will, zu ihrem eigenen Verderben spottet« wird dennoch oft, »wo nicht bei dem körperlichen Baue der Welt und ihrer Einwohner gewiss über die Triebe und Künste der Thiere stutzen und in eine verwunderungsvolle Verwirrung geraten.«45 Selbst La Mettrie muss zugeben – und Reimarus zitiert direkt aus dem Traité de l’âme ‒, dass der Instinkt, der im Tier die Überlegung ersetzt, der Erhaltung seines Seins am besten entspricht. L’instinct consiste dans des dispositions corporelles purement mécaniques qui font agir les animaux sans nulle déliberation, indépendamment de toute expérience, et comme une espèce de nécessité; mais cependant (CE QUI EST BIEN ADMIRABLE) de la manière qui leur convient de mieux pour la conservation de leur être.46

In seiner Schrift L’homme-plante kommt La Mettrie auf das gleiche Thema zurück: L’instinct des bêtes donné à l’homme naissant n’eut point suffi à toutes les infirmités qui assiègent son berceau. Toutes leur Ruses succomberont ici. Donnez réciproquement à l’Enfant le seul instinct des Animaux qui en ont le plus, il ne pourra seulement pas lier son cordon ombilical, encore moins chercher le têton de sa nourrice. Donnez aux animaux nous premières incommodités, ils y périront tous.47

Und Reimarus kommentiert diese beiden Paragrafen in einer Schlüsselpassage seines Werkes: La Mettrie läßt sich hier doch von seiner großen Weltphilosophie zu den verachteten Thieren hinunter: er sieht die genaue Uebereinstimmung der Triebe und Handlungen eines jeden Thieres mit seiner Erhaltung; er erkennet, daß solches nicht von ihrer Vernunft oder Erfahrung herrühre; er kommt darüber in große Verwunderung! sollte er sich wohl hieraus selbst mit sei-

|| 44 Ebd., S. 313. 45 Ebd. 46 Julien Offray de La Mettrie: Histoire naturelle de l’Âme ou Traité de l’Âme. In: Œuvres Philosophiques (s. Anm. 40), S. 122. Zitiert in Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 318. Hervorhebung von Reimarus. 47 Julien Offray de La Mettrie: L’homme-plante. In: Œuvres Philosophiques (s. Anm. 40), S. 203. Zitiert in Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 318.

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nem blinden Mechanisme und mit seiner Art von Nothwendigkeit im Herzen genüge gethan haben.48

3 Bestimmung, Bestimmtheit und Unbestimmtheit des Menschen. Die Reimarusrezeption bei Mendelssohn, Herder und Kant In diesem Argument kündigt sich die Rückkehr zu einem antiken platonischen Argument an. Wie Mendelssohn es ganz richtig erkennt, der dieses Argument in seinem Phaedon in eine platonische Sprache kleidet und Reimarus als einen modernen Sokrates inszeniert, ist Reimarus seinerseits Platoniker und kein Freund des Epikur. Er übernimmt insbesondere das platonische Muster vom Menschen, der zwischen den beiden Polen von Tierheit und Gottheit eingespannt ist und am göttlichen Intellekt teilhat. Dieser Mensch, der eines festen Wesens oder einer festen Natur entbehrt, ist in einer stetigen Progression oder in einem dynamischen Fortschritt und Aufschwung begriffen. Aber insofern er alleine sich zur Betrachtung der Welt erheben und sie genießen kann, ist er Endzweck der Schöpfung. »Ihm dient das Leblose, nicht nur zum Nutzen und zur Bequemlichkeit, nicht nur zur Nahrung, Kleidung, Wohnung und zum sichern Aufenthalt, sondern vornehmlich zur Ergetzung und zum Unterrichte«.49 Zugleich weist dieses Schema im Vergleich zu den Platonismen der Antike und Renaissance einige Besonderheiten auf, die in den folgenden Jahren in den Mittelpunkt der Debatte rücken. Besonders daran ist zunächst der Rang des Tiers, insofern dieses als lebendiges Wesen streng genommen mit zu den Endzwecken der Schöpfung gehört, auf die der Nutzen der leblosen Welt geht. In Reimarus’ originellem System von Spiegelungen spielt das Tier für die Selbsterkenntnis des Menschen eine höchst zentrale Rolle. Denn als außer der Welt befindlicher Betrachter und Genießer der Welt und göttliches Vernunftwesen kann sich der Mensch nicht direkt, sondern nur indirekt in der Welt erkennen und spiegeln. Allein über seine Natürlichkeit kann er seine Übernatürlichkeit erschließen. Aber nicht die Zweckmäßigkeit der Welt, sondern die des Tieres bedeutet ihm seine Bestimmung. Denn durch die vollkommene Entsprechung der tierischen Organe zu den göttlichen Absichten, die sich in seiner Entwicklung dartun, zeigt das Tier dem Menschen die innere Voll-

|| 48 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 318. Zu Reimarus’ Einfluss auf Mendelssohn siehe auch Alexander Gerhard: Der Einfluss von Hermann Samuel Reimarus auf Moses Mendelssohn. In: Begegnung von Deutschen und Juden in der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Hg. von Jakob Katz und Karl Heinrich Rengstorf. Tübingen 1994, S. 17–24. 49 Mendelssohn: Phaedon (s. Anm. 12), S. 111.

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kommenheit der lebendigen Welt, von der die äußerliche Vollkommenheit der leblosen Welt abhängt: Allein die Seele, als das Auge, welches alles außer sich in diesem Spiegel sieht, sieht sich darinn auch selbst; so ferne sie sich als das einzige, alles empfindende, denkende, wollende Wesen, sowohl von den äußeren empfundenen Dingen als auch von ihren eigenen Werkzeugen der Empfindung unterscheidet.50

Und etwas später heißt es: Endlich wird unserer Seele auch der Körper und durch denselben die körperliche Welt zum Spiegel der Gottheit, weil sie nun mit ihrem Verstande in den sichtbaren leblosen Dingen die erste lebendige Ursache; in der Mannigfaltigkeit, Ordnung und Uebereinstimmung der Dinge, den unendlichen Verstand und die Weisheit derselben; in dem Nutzen der leblosen Thiere, zur Lust und Glückseligkeit der lebendigen; die beste und gütigste Absicht dieses höchsten Wesens erblickt.51

Der Mensch nun kann diese inneren und äußeren Vollkommenheiten des tierischen Organismus einsehen und in ihrer Schönheit genießen. Er weiß sich aber zugleich insofern vom Tier unterschieden, als dass er einer naturgegebenen Lebensart und Bestimmung ermangelt. Um den gleichen Tatbestand mit Rousseau zu formulieren, auf dessen Second discours sich Reimarus in der zweiten Ausgabe auch direkt bezieht, ist der Mensch nicht parfait, sondern perfectible, der Vervollkommnung fähig. Aber im Unterschied zum »widersinnigen« Rousseau, der sich Reimarus zufolge aufgrund seiner Hypothese vom Naturzustand in Widersprüche verstrickt oder es zumindest versäumt, diese ausreichend aufzulösen, knüpft Reimarus direkt an eine große philosophische und platonische Tradition an und deutet diese neu. Reimarus prägt dabei zunächst, wie Mendelssohn und Herder sehr richtig herausstellen, einen ganz neuen Vernunftbegriff aus. Diese Vernunft besteht nicht wie im antiken Platonismus in einem Vermögen der Loslösung von der sinnlichen Welt, sondern einem durch Körperlichkeit und Sinnlichkeit bedingten Vermögen der Empfänglichkeit für den Reichtum der sinnlichen Welt. Im Übergang hin zu einer geistigen Welt begriffen, bleibt der Mensch zugleich ein sinnliches Wesen. Dies bedeutet aber streng genommen einen Bruch mit dem alten Modell der Gottebenbildlichkeit, Stufenleiter oder der Zugabe von Kräften. Man kann nicht länger die These vertreten, dass der Mensch die Sinnlichkeit mit dem Tier gemeinsam habe, und dass andere Vermögen wie die Vernunft mit Gott teile, weil in diesem Schema die Sinnlichkeit als Fundament der Vernunft schon dem Menschen eigen sein muss, als eine eigene ›Auswicklung‹ der Kräfte. Diese Konsequenz wird von Mendelssohn

|| 50 Reimarus: Die Vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 480f. 51 Ebd., S. 481.

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und Herder schärfer herausgestellt als von Reimarus selbst. Mendelssohn schreibt in seiner Rezension von 1760 im 130. Literaturbrief: [W]o liegt in [seinem] Exempel von der Einbildungskraft die gesuchte Richtung und Bestimmung auf etwas Gewisses? […] Es ist ausgemacht, und vor unseren Weltweisen längst bewiesen, daß die Imagination keine abgesonderte Kraft sey, die der Seele bloß als eine Zugabe geschenkt worden; sondern sie ist eine bloße Abänderung der ursprünglichen Vorstellungskraft, die das Wesen der Seele ausmacht.52

Und fast mit den gleichen Worten äußert sich Herder, der sich in den 1760er Jahren seinerseits brieflich mit Mendelssohn über die Bestimmung des Menschen auseinandersetzt und seinerseits »dem vortrefflichen Buch des seligen Reimarus«53 ausdrücklich Tribut zollt. In seinem Traktat von 1772 über den Ursprung der Sprache erklärt Herder: Es ist die Einzige positive Kraft des Denkens, die mit einer gewissen Organisation des Körpers verbunden bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfähigkeit wird: die bei ihm Freiheit heißt, und bei den Tieren Instinkt wird. Der Unterschied ist nicht in Kräften, sondern in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswickelung aller Kräfte.54

Eine zweite Besonderheit von Reimarus’ grundlegender und platonischer Neubestimmung der Vernunft liegt in der in ihr enthaltenen Perspektive auf die menschliche Freiheit. Mendelssohn und Herder beanstanden beide, dass Reimarus diesen Punkt nicht in aller Konsequenz zu Ende denke. So schreibt Mendelssohn in seiner Rezension im 130. Literaturbrief: Herr R. will bey dem Menschen eben solche determinirten Naturkräfte wahrgenommen haben, als er zur Erklärung der thierischen Triebe annimmt, und er gibt unser Unachtsamkeit die Schuld, daß wir sie nicht bemerken.55

Herder nimmt diesen Kritikpunkt Mendelssohns, die determinierten Naturkräfte betreffend, in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache und in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit explizit auf; die Erklärung der Kunsttriebe sei »bisher den meisten und noch zuletzt einem gründlichen Philosophen

|| 52 Moses Mendelssohn: Rezension von des Herrn Reimarus’ Betrachtungen über die Triebe der Tiere. In: Briefe die neueste Litteratur betreffend, Beschluss des 131. Briefes, 20. November 1760. 53 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: ders.: Werke in 10 Bänden. Hg. von Martin Bollacher u. a. Frankfurt a. M. 1989, Bd. 6, hier I, 3, IV, S. 100. Vgl. auch Charles Richard Booher: Perfection, History, and Harmonious Individuality. Herder’s Ethical Thought, 1765–1791. Dissertation, Syracuse University 2015, noch unveröffentlicht. 54 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: Werke (s. Anm. 53), Bd. 1, hier S. 717. 55 Mendelssohn: Rezension (s. Anm. 52).

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Deutschlands mißglückt«.56 Herder korrigiert sie durch eine innovative Anthropologie und Unterscheidung zwischen Mensch und Tier. Auf Reimarus’ Prämissen aufbauend charakterisiert er das Tier durch eine feste Sphäre, den Menschen hingegen durch eine »Besonnenheit« und eine offene Welt. Die Bestimmung des Menschen besteht in seiner Unbestimmtheit und genauer in dem Vermögen, sich eine Welt zu bauen, Möglichkeiten einzusehen und zwischen ihnen zu wählen. Vernunft und Freiheit müssen in diesem Sinne als zusammenhängend gedacht werden: Die Freiheit ist bedingt durch das Vermögen des Menschen, sich von seiner Welt zu distanzieren und sie aus der Distanz heraus in den Möglichkeiten, die sie ihm bietet, zu betrachten und sich in ihr zu spiegeln: Da er auf keinen Punkt blind fällt und blind liegen bleibt; so wird er freistehend, kann sich eine Sphäre der Bespiegelung suchen, kann sich in ihr bespiegeln. Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung.57

Und diese Bestimmung nun weist wiederum voraus auf den nächsten Moment in der Debatte um die Bestimmung des Menschen und eine Deutung oder Umkehrung des Motivs, die erst Herder und Kant vollziehen. Wenn die Bestimmung des Menschen in seiner Unbestimmtheit und seine Besonderheit oder Vernunft in seiner Freiheit (oder »Tauglichkeit zu allerlei Zwecken«, schreibt Kant) besteht, so kann seine Bestimmung gleichzeitig als eine Bestimmung zur Selbstbestimmung betrachtet werden. Kant akzentuiert diesen Gedanken, indem er eine Reihe neuer Differenzierungen vornimmt. Er hebt zunächst sowohl Reimarus’ Beweisführung in den Vornehmsten Wahrheiten als auch seine Ausführungen über den ungekünstelten Gebrauch einer gesunden und schönen Vernunft in der Vernunftlehre58 lobend hervor: Es ist demnach kein schmeichlerischer Kunstgriff, der um fremden Beifall buhlt, sondern Aufrichtigkeit, wenn ich einer solchen Ausführung der wichtigen Erkenntniß von Gott und seinen Eigenschaften, als Reimarus in seinem Buche von der natürlichen Religion liefert, den Vorzug der Nutzbarkeit gerne einräume über einen jeden andern Beweis, in welchem mehr auf logische Schärfe gesehen worden, und über den meinigen. Denn ohne den Werth dieser und ande-

|| 56 Herder: Über den Ursprung der Sprache (s. Anm. 54), S. 712. 57 Ebd., S. 717. 58 Vgl. ebenfalls Kants positiven Verweis auf Reimarus in seinem Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Philosophie einzuführen: »Allein welche bewunderungswürdige Geschäftigkeit ist nicht in den Tiefen unsres Geistes verborgen, die wir mitten in der Ausübung nicht bemerken, darum weil der Handlungen sehr viel sind, jede einzelne aber nur sehr dunkel vorgestellt wird. Die Beweisthümer davon sind jedermann bekannt; man mag unter diesen nur die Handlungen in Erwägung ziehen, die unbemerkt in uns vorgehen, wenn wir lesen, so muß man darüber erstaunen. Man kann unter andern hierüber die Logik des Reimarus nachsehen, welcher hierüber Betrachtung anstellt« (Immanuel Kant: Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen. In: AA II, S. 165–204, hier S. 191).

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rer Schriften dieses Mannes in Erwägung zu ziehen, der hauptsächlich in einem ungekünstelten Gebrauche einer gesunden und schönen Vernunft besteht, so haben dergleichen Gründe wirklich eine große Beweiskraft und erregen mehr Anschauung als die logisch abgezogene Begriffe, obgleich die letztere den Gegenstand genauer zu verstehen geben.59

Aber während Kant im Jahre 1763 noch Reimarus’ Beweis mit dem kosmologischen bzw. physikotheologischen gleichsetzt, trifft er in der Kritik der Urteilskraft eine feinere Unterscheidung zwischen Physikotheologie und physischer Teleologie und ordnet Reimarus’ Beweisführung der physischen Teleologie zu. In seinen Augen betreibt Reimarus gar keine Physikotheologie im strengen Sinne, da er ja nicht Gott, sondern die Zwecke der Natur zu erkennen trachtet. Weil diese nur indirekt auf eine oberste verständige Weltursache deuten, erweisen sie sich als unzureichend, das Bedürfnis der fragenden Vernunft zu befriedigen. Dieses aus der physischen Teleologie genommene Argument ist verehrungswerth. Es thut gleiche Wirkung zur Überzeugung auf den gemeinen Verstand, als auf den subtilsten Denker; und ein Reimarus in seinem noch nicht übertroffenen Werke, worin er diesen Beweisgrund mit der ihm eigenen Gründlichkeit und Klarheit weitläuftig ausführt, hat sich dadurch ein unsterbliches Verdienst erworben. ‒ Allein wodurch gewinnt dieser Beweis so gewaltigen Einfluß auf das Gemüth, vornehmlich in der Beurtheilung durch kalte Vernunft (denn die Rührung und Erhebung desselben durch die Wunder der Natur könnte man zur Überredung rechnen), auf eine ruhige, sich gänzlich dahin gebende Beistimmung? Es sind nicht die physischen Zwecke, die alle auf einen unergründlichen Verstand in der Weltursache hindeuten; denn diese sind dazu unzureichend, weil sie das Bedürfniß der fragenden Vernunft nicht berücksichtigen.60

Dieser Kommentar nun zeugt von einem neuen Schwerpunkt in der Bestimmungsdebatte, diese verlagert sich von der theoretischen Betrachtung der Welt auf die Praxis. Offenbar deutet die Betrachtung der Welt in Kants Augen nicht so sehr auf eine Bestimmung (determinatio oder destinatio), als vielmehr auf eine Berufung (vocatio) des Menschen als tätiger Bürger und Weltbürger. Sie bewegt den Menschen ästhetisch oder rhetorisch, rührt und erhebt ihn und befähigt ihn zur Ausführung der an ihn übertragenen Aufgabe, die darin besteht, sich selbst zu bestimmen. Wenn der Mensch auch ein theoretischer und ästhetischer Betrachter der Welt ist, so verleiht ihm doch erst diese Aufgabe seinen eigentlichen Wert. All diese Perspektiven, die nur kurz skizziert werden können, leiten bedeutende neue Weichenstellungen ein. In Wolffs Metaphysik, den Vernünftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, war die Verschränkung dieser Themen und Bereiche der Theologie, Kosmologie und Psychologie angedeutet. In der Debat-

|| 59 Immanuel Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. In: AA II, S. 63–163, hier S. 161. Vgl. auch Christian Leduc: Reimarus on Natural Religion, Final Causation and Mechanism. Reimarus sur la religion naturelle, la causalité finale et le mécanisme. In: Studia Leibnitiana 50.1 (2018), S. 105–120. 60 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: AA V, S. 165–486, hier S. 476f.

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te um die Bestimmung des Menschen nun wird diese Verbindung radikaler gedacht. Es wird augenscheinlich, dass Gottes- und Selbsterkenntnis nur über die Erkenntnis der Welt erfolgen können. In dem Maße, wie teleologische und analogische Naturbetrachtung und der Vergleich mit dem Tier an Bedeutung gewinnen, tritt der Vergleich mit Gott zurück bzw. erhält eine bloß heuristische oder praktische Bedeutung. Die Bestimmung wird zu einer Berufung und zu einer noch auszuführenden Aufgabe der Selbstbestimmung, unter der Voraussetzung der Freiheit. Aber gerade aufgrund der intrinsischen Verbindung der verschiedenen besonderen metaphysischen Disziplinen (metaphysicae speciales) bedarf es zu der Rekonstruktion dieser Debatte um die Bestimmung und dieser besonderen Konstellation der deutschen Aufklärung eines weiten philosophischen, ideengeschichtlichen und fächerübergreifenden Blickes. Sie ist weder über den Blick auf einen einzelnen Autor (wie zum Beispiel Kant) noch über eine allzu beschränkte philosophische Rekonstruktion der metaphysischen Einzeldisziplinen zu erfassen.

Hans-Peter Nowitzki

»Wir wohnen in einer großen Stadt Gottes«1 Reimarus’ Anthropologie Die in den Vornehmsten Wahrheiten vorgenommene religiöse Perspektivierung des Anthropologischen findet sich auch in den beiden folgenden Werken, in der Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs begleitet (1756 [recte 1755], 21758, 31766) ebenso wie in den Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe: zum Erkenntniß des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst (11760, 2 1762). Die Vornehmsten Wahrheiten wie auch die Allgemeinen Betrachtungen hatten offensichtlich eine lange Inkubationszeit. Einst hatte Reimarus geplant, ein alle Gebiete der Philosophie umfassendes Werk abzufassen. Dazu gehören auch die Wismarer Rede anlässlich der Rektoratsübernahme am Gymnasium zum schwarzen Kloster vom 9. Juli 1723, Daß alle Menschen gleichermaßen glücklich sind (1723),2 die || 1 Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet von Hermann Samuel Reimarus Professor in Hamburg. Hamburg 31766, S. 636. Diese Sicht verdankt Reimarus dem pseudepigraphischen Werk des Aristoteles, Περὶ κόσµου überschrieben. Vgl. Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk. Tübingen 2009, S. 234–247, sowie auch Michael Hißmann an Filtsch (Göttingen, 13. Dezember 1778): »Ich weis nicht, ob ich Ihnen schon etwas von der Schrift, die HE Lessing aus den Papieren eines Ungenannten, des seel. Reimarus, vom Zweck Jesu u. seiner Jünger Wolfenb. 1778, 8. gesagt habe. Diese hat, wie billig in ganz Deutschland ein erstaunliches Auffsehn gemacht; weil der V. nichts weniger, als zu beweisen sucht, daß Jesus eigentlich ein weltlich Reich habe errichten wollen, u. daß die Apostel, wie sie sahen, daß ihr Anführer gekreuzigt wurde, aus dem weltl[ich] ein geistl[iches] Reich gemacht, folgl[ich] eine neue Rel. gepredigt, als ihr Meister, folgl[ich] Betrüger seyen. Und dies sagt der V. alles mit der Mine des ehrlichsten Untersuchers, so daß es scheint, er avancire keinen Satz, ohne ihn bewiesen zu haben. Man muß nothwendig nach der Lektüre des Buchs gestehn, daß er der gründlichste Bestreiter der Xstl[ichen] Rel ist, den die Geschichte kennt. [...] Da Reimarus die Auferstehungsgeschichte schlechterdings für Lügen erklärt: so hat unser Leß das Geschäfte auf sich genommen, sie zu retten.« (In: Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening, Falk Wunderlich [Hg.]: Michael Hißmann. Briefwechsel. Berlin, Boston 2016, S. 49–54, hier S. 50f.) 2 Oratio, Qua ostenditur: Omnes homines æque felices esse. In: M. Herm. Samuelis Reimari Primitiæ Wismarienses h. c. Orationes II. Altera quidem ostendens Omnes homines æque felices esse. habita pridie Non. Jul. cum inauguraretur ipse Rector Scholæ Wismariensis. Altera vero De Genio Socratis habita XV. Kal. Aug. cum jussu Ampliss. Senatus Con-Rectorem et Sub-Rectorem ejusdem Scholæ inauguraret. Wismariæ, Impens. Samuelis Gottlieb Lochmanni. Typis Johannis Zanderi, M.D.CC.XXIII, S. 3–25. Erneut in Hermann Samuel Reimarus: Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Göttingen 1994, S. 131–159. Komm. ebd., S. 588–597. https://doi.org/10.1515/9783110726558-016

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als Vorarbeit zu den Vornehmsten Wahrheiten aufgefasst werden muss, und die zwei Jahre später ebenfalls in Wismar über den Instinkt der Tiere als Anzeichen der Existenz Gottes und seiner Allweisheit3 gehaltene Rede, eine vorbereitende Arbeit für die Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere. Keine dieser Abhandlungen kann eine Anthropologie im engeren Wortsinne genannt werden, aber jeder liegt Anthropologisches zugrunde, jede kreist um anthropologische Fragestellungen.4 Im Folgenden wird deshalb für die Skizzierung der anthropologischen Ansichten von Reimarus auf diese Arbeiten zurückgegriffen. Im Zentrum werden allerdings die Vornehmsten Wahrheiten stehen, die Reimarus 1754, im Alter von 60 Jahren, publizierte.

1 Der Titel der ersten der drei seinen Ruhm bei den Zeitgenossen zu Lebzeiten begründenden Abhandlungen verspricht dem Leser, ihm die »vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion« auf »begreifliche Art« zu ›erklären‹ und zu ›retten‹. Die vornehmsten Wahrheiten, ein hochgeschätztes Erbauungsbuch,5 brachten es nicht von ungefähr auf insgesamt sechs Auflagen (11754, 21755, 31766, 41772, 51781, 6 1791), ist es doch »das bedeutendste Dokument des Deismus auf deutschem Boden«.6 Weder der englische noch der französische Deismus haben ein diesem religi-

|| 3 Instinctum Brutorum Existentis Dei Ejusdemque Sapientissimi Indicem Programmate quo simul ad Orationes Solemnes de praestantia corporis humani prae corpore brutorum ex Legato Petersensiano ad d. 1. Novembr: A. M DCC XXV. habendas O. O. Summe Colendi Patroni officiosissime invitantur sistit M. Hermannus Samuel Reimarus Lyc. Wism. Rect. Wismariae, Typis Johannis Zanderi. In: Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe. Hg. von Jürgen von Kempski. Göttingen 1982, Bd. 2, S. 757– 780. Mit dem Programm wollte Reimarus die theoretischen Voraussetzungen für vier Schülervorträge über den tierischen und menschlichen Körper explizieren (ebd., S. 759 und S. 779). 4 Vgl. auch Gerhard Alexander: Das Verständnis des Menschen bei Hermann Samuel Reimarus. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Bd. 1. Hg. von Günter Schulz. Bremen 1974, S. 47–68. 5 Die Beschäftigung mit dem Tierreich belehre den Menschen über Gott, die Welt und sich selbst. Aus dem Vergleich des Menschen mit den Tieren werde deutlich, dass ihm eine »weit höhere[] und dauerhaftere[] Glückseligkeit« bestimmt sei als den Tieren. Daraus erwachse die erbauliche Komponente in der Beschäftigung mit der Naturgeschichte. Vgl. Wolfgang Walter: Eröffnungsansprache des Präsidenten der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), ein »bekannter Unbekannter« der Aufklärung in Hamburg. Göttingen 1973, S. 7–14, hier S. 8. 6 Jürgen von Kempski: Spinoza, Reimarus, Bruno Bauer – drei Paradigmen radikaler Bibelkritik. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) (s. Anm. 5), S. 106. Vgl. auch Ernst Feil: Religio. Vierter Band: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 494–511.

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onsphilosophischen Werk in systematischer Hinsicht ebenbürtiges Werk aufzuweisen.7 Sie kündigen sich damit unmissverständlich als eine religionsphilosophisch argumentierende Apologie an, deren deistischer Grundzug nicht allen Zeitgenossen offensichtlich war.8 Wodurch die Polemik provoziert wurde, beschreibt Reimarus im »Vorbericht«. Von den in manchen Gesellschaften geführten »freyen Reden« will er schweigen, nicht aber von den »seit wenig Jahren« erschienenen, meistenteils französischsprachigen ›kleinen Schriften‹ eines Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) und Jean Frédéric de Bernard (1680–1744), »worinn nicht sowohl das Christenthum, als vielmehr alle natürliche Religion und Sittlichkeit, verlacht und angefochten wird.« Angesichts des Mangels vernünftiger Erkenntnis der »Grundwahrheiten aller Religion und Ehrbarkeit« seien die Menschen »der jetzigen Freydenkerey« schutzlos ausgeliefert.9 Diese Wahrheiten der natürlichen Religion würden vom Christentum nicht nur vorausgesetzt, sondern lägen ihr zugleich zugrunde und sind dem »Lehrgebäude seiner Geheimnisse« einverleibt. Den Menschen wie dem Christentum sei es daher von Vorteil, wenn sie sich der »edle[n] Gabe der gesunden Vernunft auch zum Erkenntnisse ihres Schöpfers« bedienten, und zwar »zuvörderst«, und die daraus erwachsende Einsicht mit den christlichen Dogmen verknüpften, aber nur »so weit sie reichet«. Zu den vom Christentum vorausgesetzten und zugrundegelegten »Wahrheiten der natürlichen Religion« gehören »Gottes Daseyn, Eigenschaften, Schöpfung, Vorsehung, Absicht und Gesetze« sowie das geistige Wesen der Seele, ihre Natur und Unsterblichkeit.10 Reimarus konturiert damit das Programm einer rationaltheologischen resp. deistischen Grundlegung des Christentums, die Möglichkeit eines allein akzeptablen ›vernünftigen Glaubens‹: »Denn wie kann einer«, schreibt er, mit Grunde glauben, daß die Offenbarung von Gott komme, wenn er nicht vorher überführt ist, daß ein Gott sey? Wie kann er ihn lieben, ehren, und seinen Gebothen willig gehorchen, wenn er seine Vollkommenheiten, Vorsehung und Absichten nicht erkennet? Wie kann er eine Selig-

|| 7 Von Kempski: Spinoza, Reimarus, Bruno Bauer (s. Anm. 6), S. 106. 8 Günter Gawlick: Einleitung. In: Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der Religion. Hg. von Günter Gawlick. Göttingen 1985, Bd. 1, S. 9–50, hier S. 43. Mit dem religionskritischen Deismus ist Reimarus nicht erst während seiner Studienreise nach Holland und England in den Jahren 1720/21 bekannt geworden, sondern bereits durch seine akademischen Lehrer Johann Christoph Wolf (1683–1739) und Johann Franz Buddeus (1667–1729). Vgl. Günter Gawlick: Reimarus und der englische Deismus. In: Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. Hg. von Karlfried Gründer und Karl Heinrich Rengstorf. Heidelberg 1989, S. 43–54, hier S. 44f. Dass Reimarus streng darauf achtete, sich nicht als ›Deist‹ zu bezeichnen, lag an der von Christian Wolff ins Deutsche eingeführten Verengung des Begriffs Deist, womit eine Diskreditierung als ›atheistisch‹ einherging (vgl. ebd., S. 52). 9 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. *2b. 10 Ebd., S. *2bf. Vgl. Henrik Petersen: B. H. Brockes, J. A. Fabricius, H. S. Reimarus. Physikotheologie im Norddeutschland des 18. Jahrhunderts zwischen theologischer Erbauung und Wissensvermittlung. Diss. phil. Kiel 2004, S. 168.

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keit gewärtigen, und eine Belohnung hoffen, wenn er sich hat überreden lassen, daß er keine Seele habe, oder daß der ganze Mensch eine bloße verwesliche Maschine sey?11

Der vernunftgegründete Glaube setzt grundlegendes Wissen über die Welt, die Schöpfungsoffenbarung, voraus. Nur das vernunftgenerierte Wissen der natürlichen Religion steht dem Glauben eines vernünftigen Wesens nicht entgegen. Vermeintliches Wissen aus der »geblendeten Vernunft« sät Zweifel, und zwar solche, die selbst die sog. Schriftbeweise (dicta probantia) nicht auszuräumen vermögen.12 Fehlt das grundlegende vernunftbasierte Wissen oder ist es auch nur mangelhaft, so ist der Glaube und damit auch das Christentum selbst gefährdet. Es gibt danach Gegenstände und Sachverhalte, die zu wissen dem Menschen nicht nur möglich, sondern notwendig sind, um überzeugt zu werden, »daß ein Gott sey«.13 Welche Gegenstände und Sachverhalte darunter fallen, signalisieren die Überschriften der zehn Abhandlungen: der Ursprung der Tiere und Menschen, die Eigenart des Körperlichen (im Vergleich zum Geistigen), die Attribute Gottes und seine Absichten in der Welt, insbesondere im Tierreich, der Mensch, vor allem im Hinblick auf das Seelische, der Vergleich der menschlichen mit der tierischen Lebensart, die göttliche Providenz sowie die Unsterblichkeit der Seelen und die Vorteile der Religionen. Die Abhandlungen bieten damit einen thematischen Querschnitt der klassischen metaphysischen Themen: In ihnen findet sich Ontologisches, Kosmologisches und Psychologisch-Anthropologisches, stets bezogen auf die natürliche Religion des Deismus. Reimarus hat es auf die natürliche als die vernünftige Religion abgesehen, nicht auf die christlich-orthodoxe. Sie will er vornehmlich denjenigen unter den ›Vornehmen‹ nahebringen, die weit mehr als der ›gemeine Mann‹ versucht sind, sich gegen die Religion einnehmen zu lassen und schließlich in der Gefahr stehen, in eine »grübelhafte Atheisterey«14 zu verfallen oder falschen Vorstellungen von Gott anzuhängen oder abergläubischen Ansichten wie der Wirksamkeit des Teufels zu huldigen. Die Stoßrichtung der Vernünftigen Wahrheiten ist mithin eine antiatheistische.15 Die einzige Schutzwehr dagegen sind »Gründe der gesunden Vernunft«, die durch Klarheit und Kürze, nicht durch »viele[] abgesonderte[] Begriffe[], durch weitgeholte und verkettete Vernunftschlüsse« aufgesucht und demonstriert werden dürfen, sondern durch »gemeine[] Erfahrungen und bekannte[] Grundsätze« darzulegen sind. Es ist jene ›natürliche und einfältige Art im Denken‹, der sich

|| 11 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. *3b. 12 Ebd., S. *5bf. 13 Ebd., S. *3b. 14 Ebd., S. *4b. 15 Vgl. Julian Jaynes, William Woodward: In the Shadow of the Enlightenment: I. Reimarus against the Epicureans. In: Journal of the History of the Behavioral Sciences 10 (1974), S. 3–15. Vgl. auch Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 284, Anm. 81.

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Reimarus auch in seinen anderen Arbeiten bestrebte, um einen »kürzern und sicherern Weg zur unbeweglichen Beruhigung des Gemüthes« zu beschreiten.16 Die gesunde Vernunft sei in der Lage, die dem Christentum wie allen historischen Religionen überhaupt zugrundeliegende, wahrhaft natürliche Religion zu erfassen.17 Der Mensch sei ein von Natur aus der Religion bedürftiges Wesen. Ohne diese versteige er sich zu Grübeleien und Zweifeln und gehe der Gemütsruhe verlustig. An diese und andere »wüste Menschen« richten sich Die vornehmsten Wahrheiten, überzeugt, »daß sie ohne Gott in der Welt, und ohne Hoffnung des zukünftigen Lebens, auch hier unglückselig sind, und ihrer eigenen Natur entgegen handeln«.18 Das Wissen von Gott und seiner Schöpfung, ausgehend von der Erforschung der Ursachen und aufsteigend zum »ersten vollkommensten Wesen, dessen Weisheit, Güte und Macht« im Schöpfungswerk erkennbar ist, dessen Vorsehung zur Gemütsruhe führt und auf »die rechte Erfüllung seiner Absichten in einem besseren und dauerhafteren Leben« hoffen lässt, dieses Wissen stehe viel höher als all das andere Wissen. Denn es zeige das Urbild aller Vollkommenheit, die Quelle alles Segens und Glückes, und den Zusammenhang aller Dinge mit einer äussersten großen Absicht, welche auch unser Wohl enthält, und uns mit ungezweifeltem Vertrauen auf eine gnädige und weise Führung, und mit Hoffnung auf unsere ewige glückselige Dauer erfüllet.19

Verstand und Wille des Menschen streben von Natur aus nach dem Wahren und Guten.20 Zur Erkenntnis des Wahren und Guten sowie zu den Künsten und Wissenschaften bringt er von Geburt an eine »Geschicklichkeit«, aber keine Erkenntnisse mit. Einen Innatismus lehnt Reimarus ab.21 Die anfängliche Not ließ die Menschen »auf die Erfindung der unentbehrlichsten Wahrheiten und Künste« sinnen, indem sie durch ›gemeine Erfahrungen‹, »Nachsinnen, Versuche und Übung« die Grundlagen dafür legten. Zugleich spornten sie »Fähigkeit und Begierde« zur stufenweisen Vervollkommnung der Kenntnisse und Kunstfertigkeiten an.22 Der nach und nach angehäufte Vorrat an Kenntnissen verlangte schließlich systematisiert zu wer|| 16 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. *6a. 17 Hartmut Sierig: Die große Veränderung. Reimarus – Lessing – Goeze. In: Hermann Samuel Reimarus: Vorrede zur Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Facsimile. Göttingen 1967, S. 7–34, hier S. 10. 18 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. *6b. 19 Ebd., S. *7a. 20 Hermann Samuel Reimarus: Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs begleitet. Hamburg 1756 [recte Michaelismesse 1755, 21758, 31766], S. 1, § 1. 21 Ebd., S. 2, § 2. 22 Ebd., S. 2, § 3. »Es scheinet aber überhaupt, daß die ersten Menschen ihre wichtigsten Erfindungen einer zufälligen Begebenheit schuldig gewesen sind [...,] da sie die Natur noch nicht kannten, und keine Wissenschaften hatten« (ebd., S. 323, § 177).

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den, zu einer »zusammenhangenden Weltweisheit«, bestehend aus Vernunft-, Natur- und Sittenlehre. Später gesellte sich noch die Mathematik, »die Wissenschaft von Zahl und Maasse«, hinzu.23 Das Fortschreiten der Wissenschaften vollzog sich dabei, wie bereits bemerkt, stufenweise: Es setzte mit der historischen, auf Beobachtung fußenden Erkenntnis ein, entwickelte sich zur natürlichen Weltweisheit, der Philosophie des bon sens,24 und von da aus zur philosophischen bzw. gelehrten und zur mathematischen Erkenntnis.25 Die Weltweisheit wird in die ›betrachtende‹, d. h. theoretische, und die ›sittliche‹, d. h. praktische, unterteilt: Während die theoretische »das Wesen, die Eigenschaften, Kräfte und Wirkungen der Dinge, welche sind oder seyn können, gründlich zu zeigen« versucht, lehrt die praktische den Menschen »ihre Verbindlichkeit zu gewissen freyen Handlungen.«26 Die theoretische Weltweisheit unterteilt sich in die (1) Grundwissenschaft (Ontologie), (2) die Weltwissenschaft (Kosmologie), (3) die Lehre von der Seele des Menschen (Psychologie),27 (a) nach der Erfahrung (psychologia empirica) und (b) nach der Vernunft (psychologia rationalis), (4) die ›Gottesgelahrtheit‹, von der man »keinen Begriff oder Beweis [...] geben [kann], als aus unserer Seele und dem Daseyn der Welt«28 – hier wird der antibiblizistische Impetus unmittelbar greifbar –, und (5) die Naturlehre (physica experimentalis et rationalis).29 Die praktische Weltweisheit unterteilt sich (1) in die sittliche Grundwissenschaft (Philosophia practica universalis), (2) die bürgerliche und Staatsklugheit (Politica) inkl. Haushaltungskunst (Oeconomia), d. h. die »Mittel zu den Pflichten in allen kleineren und größeren Gesellschaften«,30 (3) das Natur-31 und (4) das Völkerrecht (Ius gentium) sowie (5) die Sittenlehre (Ethica resp. Moralphilosophie), die die »Mit-

|| 23 Ebd., S. 3, § 3. 24 Reimarus unterscheidet die ›natürliche Weltweisheit‹ von der »echten und gründlichen Wissenschaft«: Von einer ›natürlichen Weltweisheit‹ sei immer dann die Rede, »wenn Menschen, ohne deutliche Regeln zu wissen, nach dem Maasse ihrer Fähigkeit, Erfahrung und Übung, anfangen, über die Dinge, welche wirklich sind, und über deren innere Beschaffenheit, Ursachen, Wirkungen und Nutzen zu denken und zu urtheilen« (ebd., S. 5, § 5). 25 Ebd., S. 3, § 3, S. 7f., § 7 und S. 8–10, § 8. 26 Ebd., S. 10, § 9. 27 Manche, so Reimarus, haben die Psychologie und »Gottesgelahrtheit« unter dem Namen ›Geisterlehre‹ (Pneumatologie) zusammengefasst (ebd., S. 11, § 10). 28 Ebd., S. 11, § 10. 29 »Die Lehre von den Absichten (Teleologie) ist eine Anwendung der Naturlehre auf die Gottesgelahrtheit« (ebd., S. 12, § 10). 30 Ebd., S. 13, § 11. 31 Das Naturrecht ist das »göttliche durch die Vernunft offenbarte Gesetz, welches die Menschen, theils so ferne sie Menschen, theils so ferne sie Bürger sind, zu gewissen Pflichten verbindet« (ebd., S. 12, § 11).

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tel zur willigen Ausübung der Pflichten einzeler Menschen« zum Gegenstand hat.32 In der sittlichen Grundwissenschaft (1) werden »die ersten Begriffe und Grundsätze von der Menschen freyen Handlungen, Verbindlichkeit, Naturgesetze, Belohnungen und Strafen, Tugenden und Lastern, und dem Wege zur Glückseligkeit, erkläret und dargethan«.33 Damit ist die Weltweisheit bis in ihre unterschiedlichsten disziplinären Verästelungen anthropologisch perspektiviert.

2 Der Mensch ist ein vernünftiges Wesen, dem das Vernunftvermögen angeboren ist.34 Er kommt ohne wirkliche Erkenntnisse auf die Welt, allein mit Kräften und Fähigkeiten von Natur aus versehen. Ihr Gebrauch erwächst aus Erfahrung und Übung.35 Die Vernunft und ihre Regeln leiten alle übrigen Seelenvermögen, die übrigen Verstandeskräfte, an, die Sinne, die Einbildungskraft, das Gedächtnis, den Witz etc.36 Die Menschen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer natürlichen Vernunft resp. ihres Mutterwitzes.37 Die Regeln der natürlichen Logik »liegen schon mit der Geburt in der natürlichen Vernunftskraft eingeprägt«, wodurch diese, die Vernunft und ihre Regeln, vor aller Erfahrung bestimmt, also notwendigen Charakters sind. Ohne diese Vernunftregeln oder diesen zuwider kann der Mensch »wissentlich nicht denken«.38 Er unterscheidet sich von allen Tieren durch seine Vernunft als »Kraft des Verstandes«; ihr verdankt er alle »Vorzüge«, die er »vor den übrigen Thieren« hat.39 Welche Vorzüge hat der Mensch aufgrund der Vernunft vor den Tieren insbesondere? (1) Deutlichere Vorstellungen und Begriffe und dadurch ein viel besseres Unterscheidungsvermögen (Scharfsinn), (2) er erkennt Ähnlichkeiten besser als die Tiere (Witz) und ist deshalb der verallgemeinernden abstrakten Erkenntnis fähig, (3) ist er in der Lage, seine Allgemeinbegriffe mit Zeichen und Wörtern zu verbinden, d. h. er ist der Sprache mächtig: Er kann »eine Sprache verstehen, und verständlich reden; welches kein Thier thun kann«.40 Er ist (4) seiner selbst und der äußeren Dinge in

|| 32 Ebd., S. 13, § 11. 33 Ebd., S. 12, § 11. 34 Ebd., S. 17f., § 17f., S. 19, § 18 sowie S. 38, § 34. 35 Ebd., S. 445, § 211. 36 Ebd., S. 17, § 16. 37 Ebd., S. 19, § 18. 38 Ebd., S. 25, § 23. 39 Ebd., S. 26, § 24. Vgl. auch ebd., S. 60, § 57 und S. 429, § 205. Vgl. Reimarus: Instinctum Brutorum (s. Anm. 3), S. 769–771. 40 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 20), S. 27, § 25. Zur Sprachabhängigkeit der ontogenetisch, im engeren Sinne entwicklungspsychologisch und -physiologisch hergeleiteten Vernunft (der Diskri-

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einem viel deutlicherem Maße bewusst als die Tiere, kann (5) allgemeine Aussagen treffen und aus ihnen Sätze ableiten, mithin »Wissenschaften erfinden, prüfen, erweisen, retten.«41 Darüber hinaus und vor allem kann er sich (6) Kenntnisse von Dingen und Sachverhalten erwerben, »die nicht in die Sinne fallen; von verborgenen Ursachen, von Kräften, vom Zukünftigen, vom Möglichen, von der Seele, von Gott, von der Religion; davon wir bey den Thieren nichts wahrnehmen.«42 Auch hat er (7) Einsichten und Empfindungen von Proportionen, Übereinstimmungen, Vollkommenheiten, Schönheit, Weisheit, Absicht und Kunst ‒ Dingen, die den Tieren ebenso verwehrt sind wie (8) die Erkenntnis und das Gefühl vom moralisch Guten, der Pflicht, dem Gesetz und der Tugenden und der Willensfreiheit, »dagegen die Thiere bloß durch gegenwärtige sinnliche Vorstellung, oder Instinct, zu ihren Handlungen auf eine bestimmte Art determinirt sind.«43 Die Vorzüge des Menschen vor den Tieren sind mal exklusive, mal graduelle. Zusammengenommen zeigen sie eine deutliche Vorrangstellung des Menschen hinsichtlich seiner vernunftbasierten Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten an, die ihm sogar Aussichten auf eine jenseitige Existenz versprechen. Die Vernunft bzw. das Reflexionsvermögen44 ist ein solch wesentliches, ja das wesentliche Kriterium des Menschen schlechthin, dass man, wenn sie bei Kindern erwacht, sagt, es zeige sich bei ihnen der Mensch.45 Grundlage allen Denkens sind die äußeren Sinne.46 Die sich der inneren Empfindung verdankenden, also die der Reflexionskraft entspringenden Begriffe jedoch eröffnen dem Menschen allererst die Möglichkeit, sich »von den Seelen der Menschen und Thiere, von Gott und Geistern überhaupt Begriffe zu machen; [...] [aber] auch die verborgene Natur körperlicher Dinge und ihre Vollkommenheit, wie auch ihr Verhältniß zu uns und unserer Glückseligkeit, einzusehen und besser zu begrei-

|| minierungsfunktion der Wörter) vgl. ebd., S. 61f., § 59, S. 71, § 69, S. 83, § 77, S. 84, § 78 und S. 385, § 193. Vgl. Reimarus: Instinctum Brutorum (s. Anm. 3), S. 773–775: »In der Tat bleibt nichts übrig, als daß wir annehmen, daß die unvernünftigen Lebewesen das Erwähnte ausführen mit einem gleichbleibenden und beständigen natürlichen Instinkt, Impuls, Impetus, Appetit, oder wenn irgend ein anderes lateinisches Wort das bezeichnet, was die Philosophen eine natürliche Verhaltenseigentümlichkeit nennen.« 41 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 20), S. 27, § 25. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 28, § 25. 44 Die Kraft der Vernunft besteht in dem »Bemühen zu reflectiren« (ebd., S. 32, § 29). Sie folgt zwei Regeln: (1) der Regel der Einstimmung (principium identitatis) und (2) der Regel des Widerspruchs (principium contradictionis). Beide bestimmen die »Reflexion oder Vergleichung« der Menschen, d. h. ihre Entscheidung darüber, ob etwas »Einerley« oder »nicht Einerley« sei. Vgl. auch ebd., S. 37, § 34, und S. 121, § 100. 45 Ebd., S. 28, § 26. 46 Ebd., S. 64, § 63 und S. 71, § 69.

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fen.«47 Gleichwohl sei man gehalten, sich vor allzu sinnlichen, d. h. mechanistischmaterialistischen Vorstellungsarten des inneren Empfindungsgeschehens zu hüten: Wer sich die Gedanken als eine Bewegung der Nerven im Gehirne, oder als einen Lauf der Lebensgeister in diesen Nerven, oder wohl gar als verschiedene sich hervorgebende Puppen und Bilder im Gehirne vorstellet: der verliert den wahren Begriff von den Gedanken in dem sinnlichen. Wer den Schmerz bloß als eine Trennung und Verletzung der vesten Nerventheile ansieht, der weis noch nichts von dem, was in der Seele selbst vorgehet.48

Bei den aus inneren Empfindungen hervorgehenden Begriffsbildungen muss zudem darauf gesehen werden, dass die Seele nicht durch ihre Einbildungskraft, ihren Witz oder ihre Vernunft dazu verführt wird, sich Gegenstände vorzugaukeln, u. a. »eine Vorbedeutung des Zukünftigen, einen übernatürlichen Trieb, oder eine göttliche Offenbarung«.49 Der Vernunft sind dort Grenzen gesetzt, »wo die Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellung nicht zureicht, die Einstimmung und den Wiederspruch der Dinge einzusehen, sondern wo vielmehr die Dunkelheit und Undeutlichkeit in der Vorstellung der Dinge diese Einsicht hemmet.«50 ›Zufällige‹ im Gegensatz zu ›wesentlichen‹ Einstimmungen und Widersprüchen, sog. Umstände, seien sie auch klar und deutlich eingesehen, führen nicht zur Gewissheit, sondern nur zur Wahrscheinlichkeit.51 Dennoch ist auch die Wahrscheinlichkeit an die Vernunftregeln gebunden; wie die Gewissheit hat auch sie Stufen und Kennzeichen.52 ›Vernünftig‹ ist demnach, was den Vernunftregeln gemäß ›gewiss‹ oder ›wahrscheinlich‹ ist, ›unvernünftig‹, was ihnen nicht gemäß ist. »Ueber die Vernunft ist, was sich durch unsere Reflexion aus den Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs, weder auf eine gewisse noch wahrscheinliche Weise, beweisen oder wiederlegen lässet.«53 D. h. ›über der Vernunft‹ ist dasjenige, was sich mittels der Vernunft weder als gewiss noch wahrscheinlich noch als ungewiss und unwahrscheinlich dartun lässt. Das Menschengeschlecht ist monogenetischer Abkunft, hat wie die Welt und mit ihr all das Lebendige auch einen Anfang und ein Ende, ist »endlich und zählbar«.54 Und wie der gesamte Kosmos nimmt es seinen Ausgang von einer wirkenden Ursache außer sich – Gott.55 Um seiner Auffassung auch aposteriorsche Plausibilität zu verleihen, verweist Reimarus auf das Zeugnis des »ältesten Geschichtschrei-

|| 47 Ebd., S. 70, § 67. 48 Ebd., S. 119, § 100. 49 Ebd., S. 120, § 100. 50 Ebd., S. 43, § 38. 51 Ebd., S. 45f., § 40. 52 Ebd., S. 47, § 40. 53 Ebd., S. 47, § 41. 54 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 23. 55 Ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 42.

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ber[s]«, dessen »Beschreibung von der Abstammung und Verbreitung der Völker [man] völlig Glauben beyzumessen« verbunden sei.56 Ebenso wie die Geschichtszeugnisse belegen auch Stammwörter die Verwandtschaft der allesamt von einer »gemeinschaftlichen Muttersprache« abstammenden Sprachen den Ursprung des Menschengeschlechts.57 Darüber hinaus könne auch die »allmälige Erfindung und das Wachsthum der Künste und Wissenschaften« als Beleg für den ›Anfang‹ des Menschengeschlechts angeführt werden. Der Trieb, sich durch die Vernunft der Notdurft zu bemeistern, sei im Menschen stets rege gewesen. Daher könne man in der Geschichte »zurück sehen« und erkennen, dass vor etwa 4.000 Jahren58 »die Menschen noch in allen Stücken roh und unerfahren« waren, was zu der Annahme berechtigt, daß das menschliche Geschlecht zu dieser Zeit noch in seiner »Kindheit«, »ziemlich nahe« der »ersten Geburt« war.59 Anders als die Tiere zeichneten sich die Menschen durch eine alle Erdgegenden besiedelnde Mobilität aus, was von ihrer hohen, vernunftgegründeten Anpassungsfähigkeit zeugt: Der Mensch [...] kann alle Luft, von Nova Zembla an bis zur Linie, vertragen lernen, und sich zu aller Kost auf dem ganzen Erdboden gewöhnen, und gegen alle Witterung wapnen: er vermehret sein Geschlecht, was die Frauen betrifft, bey 25 bis 30 Jahre, und was das männliche anlanget, bey 40 bis 45 Jahre herdurch: er kann sich die Wüsten, Moräste, Waldungen, Gebirge wohnbar machen, und andere, wenigstens die großen Thiere, welche ihm hinderlich sind, wegräumen und ausrotten.60

Diese anthropogeographische Schrankenlosigkeit hat auch ihr anthropokosmographisches Pendant: Denn Reimarus zufolge ist der gesamte Kosmos mit Lebendigem, Tieren und Menschen bevölkert. Von französischen Wissenschaftlern wurde die Ewigkeit der Menschheit und des Kosmos unter anderem damit verteidigt, dass sie das von Reimarus unterstellte Entwicklungskontinuum unter Rückgriff auf die Katastrophentheorie in Frage stellten. Danach sollten zuzeiten auftretende Fluten, Feuersbrünste, Dürren, Landplagen, Seuchen, Kollissionen von Planeten mit Kometen u. a. für eine eher unstete, vielleicht auch zyklische Weltentwicklung sprechen.61 Vor allem den im 17. und

|| 56 Ebd., S. 33. »Die Namen der Stammväter, die er angiebt, stimmen mit den Namen der Völker und Länder überein: und die heidnischen Geschichtbücher bestätigen selbst die Wahrheit der Bücher Mosis in diesem Stücke« (ebd., S. 33f.). 57 Ebd., S. 58. 58 Hierin folgt er wohl James Ussher (1581–1656), der die biblischen Geschlechtsregister für die Berechnung des Schöpfungsdatums nutzte und den Schöpfungstag auf Sonntag, den 23. Oktober 4004 v. Chr. (Julianischer Zählung) bestimmt hatte. 59 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 64. 60 Ebd., S. 57. 61 Ebd., S. 68–81.

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18. Jahrhundert populären planetarischen Katastrophentheorien widmet sich Reimarus deshalb einlässlich, um sie schließlich mit dem Hinweis auf die göttliche Providenz ad acta zu legen. Bündiger geht er mit den anderen Katastrophenannahmen ins Gericht: »Die übrigen Unfälle und Landplagen, als Erdbeben, Pest, Theurung u.s.w. haben keinen Einfluß in das Allgemeine, und können das ganze menschliche Geschlecht nicht wieder in eine völlige Unwissenheit versenken, noch den ganzen Erdboden in eine Wüste verwandeln.«62 Vielmehr habe es das Menschengeschlecht verstanden, sich widrigen Bedingungen durch Wegzug zu entziehen, so dass man davon sprechen kann, dass die Kultur, die Wissenschaften und Künste zwar wanderten und verpflanzt wurden, in ihrer Substanz nie aber abnahmen. Reimarus’ Argumentation für die Endlichkeit des Kosmos und aller Lebendigen steht unverkennbar in unmittelbarer Nachbarschaft zu religiösen, biblisch beglaubigten Ansichten und zielt auf den kosmologischen Nachweis eines fürsorglich tätigen Schöpfergottes und die physikotheologische Herleitung seiner Attribute und Vorsehung.63 Zentral für ihn ist die Depotenzierung des neuerlich von den sog. ›Freigeistern‹ in Umlauf gebrachten immanenten Naturbegriffes. Ihn gelte es als eine Hypostasierung zu brandmarken. Diese rechtfertigten ihren »Abgott, die Welt und Natur«, wie Reimarus schreibt, dadurch, dass sie den Ursprung des Menschengeschlechts »aus den Kräften der Welt ab[zu]leiten und verständlich« zu machen suchen.64 Der Werkmeister, wie Reimarus Gott nennt, hat der Natur eine Ordnung gegeben, die sich als eine endliche ›Kette‹ auffassen lässt. An ihrer Spitze stehen die Tiere, gefolgt von den Pflanzen, »durch alle möglichen Arten und Stufen«.65 Die exklusive Besonderheit des Tieres im engeren Sinne besteht in seiner vollkommenen Instinktverfassung, die ihm einen ebenso vollendeten, fehlerlosen und mustergültigen Lebensvollzug sichert. Es steht ihm im Gegensatz zum unvollkommenen Menschen eine perfekte Ausstattung zu Gebote, da ihm die den Menschen vorbehaltene Vernunftausstattung vorenthalten ist: »[K]ein einzig Thier aller Arten [ist] in seinem Geschäffte unwissend und unvollkommen; alle und jede sind geborene

|| 62 Ebd., S. 77f. 63 Ebd., S. 166. Vgl. auch Reimarus: Instinctum Brutorum (s. Anm. 3), S. 759: »Niemandem kann verborgen bleiben, wie stark nicht nur die Beweiskraft, sondern auch die Faßlichkeit und Gewißheit bei derjenigen Art von Argumenten ist, mit der wir den weisen Aufbau der ganzen Welt und ihrer einzelnen Teile zum Beweis der Natur des höchsten Schöpfers und seiner Vortrefflichkeit verwenden.« Bislang habe man dafür zumeist den Bau der Körper und ihre Übereinstimmung untereinander herangezogen, weniger den tierischen Instinkt und die dem Tier damit gegebenen Handlungsmöglichkeiten betrachtet. Vgl. auch ebd., S. 777. 64 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 82. 65 Ebd., S. 172, 242, 304f.

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Künstler und Meister.«66 Während den Tieren im irdischen Dasein gleichsam nichts weiter aufgetragen ist als zu existieren, ist dem Menschen zur Aufgabe gemacht, sein Menschsein im Vollsinn des Wortes allererst ins Dasein zu setzen. Die Natur steigt stufenweise vom Vollkommeneren zum Unvollkommeneren, zu den Pflanzen hinab.67 Sie ist sich selbst zu allen Zeiten ähnlich; das folge aus der Vernunft ebenso wie aus der Erfahrung. Sie ist weder stärker noch schwächer geworden oder gar vergreist, wie Lukrez meint.68 Das spiegele sich in der Konstanz der Arten, wonach alle Tierarten von Beginn an in gleicher Anzahl, Mannigfaltigkeit und Vollkommenheit fortbestehen:69 »Denn die Natur ist sich selbst allezeit ähnlich, und von gleichen Kräften, Laufe und Ordnung. Es ist dieselbe Erde, davon sich nicht das geringste Stäubchen entfernet hat [...]: wenn ihre Natur [i. e. der Erde] dergleichen Zeugung jetzt nirgend wirket oder leidet, so hat sie es auch zu keiner Zeit gethan.«70 Die Natur macht keine Sprünge (natura non facit saltus). In ihr herrscht das Gesetz der Stetigkeit (lex continuitatis).71 Sie ist durchherrscht von der weisen Vorsehung des Schöpfers.72 Die körperliche tote Welt ist eine Maschine und um des Lebendigen,73 der Körper um der Seele willen hervorgebracht worden.74 Gott, nicht die Natur, ist der Werkmeister,75 seine Attribute sind unermesslicher Verstand, Kraft etc.76 Ein solcher Gottesbegriff ist unabdingbar für die Vernunft77 und die Moral.78 Gottes Eigenschaften können mithilfe von Vernunftschlüssen und aus seinen Werken »als einem Spiegel der göttlichen Kräfte und Eigenschaften« erkannt werden.79 »Die völlige Übereinstimmung [die gänzliche Harmonie], mit allem, was wir sonst von Gott, der Welt und besonders unserm Erdboden wissen, deschifrirt dem Verstande so gut, als ein gefundener Schlüssel zur verborgenen Schreibart, die Heimlichkeiten der Natur.«80 Darin drückt sich das gesamte Wissenschaftsprogramm von Reimarus aus, sein weltanschaulicher Unterbau ebenso wie seine Methodik. Der Mensch ist finis intermedius, mittlere Ursache, und zugleich Voraussetzung, um zur Hauptursache der Schöpfung, zu Gott als finis ultimus (äußere oder

|| 66 Ebd., S. 324. Vgl. ebd., S. 312. 67 Ebd., S. 86. 68 Ebd., S. 88, 111f. 69 Ebd., S. 321. 70 Ebd., S. 110. 71 Ebd., S. 250 Anm., 306, 307 (»die Regel der Stättigkeit«), 285–288. 72 Ebd., S. 256–260. 73 Ebd., S. 141, 134, 173f. 74 Ebd., S. 153. 75 Ebd., S. 148, 151. 76 Ebd., S. 166. 77 Ebd., S. 207. 78 Ebd., S. 247. 79 Ebd., S. 207. Vgl. auch ebd., S. 309f. 80 Ebd., S. 182 Anm.

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Hauptursache) zu gelangen.81 Im gesamten Schöpfungswerk ist alles auf die äußerste aller mittleren Ursachen, den Menschen, ausgerichtet.82 Der Anschluss an stoisches Gedankengut, wonach omnia hominum causa facta, alles der Menschen wegen da ist,83 ist offenkundig: mundus deorum hominumque causa factus est, quaeque in eo sunt, ea parata ad fructum hominum et inventa sunt – da ist zunächst einmal das Weltall selbst um der Götter und Menschen willen geschaffen, und was sich in ihm befindet, das ist zum Gebrauch der Menschen eingerichtet und ausgedacht.84 Denselben teleologischen, Hierarchisierungen mit sich führenden Gedanken spann später Thomas von Aquin weiter: omnes res naturales ordinantur ad finem.85 Für das Verhältnis Gottes zu seinem Schöpfungswerk (theologisch) und für das Interagieren von Körper und Geist (anthropologisch) ruft Reimarus die makround mikrokosmische Influxustheorie auf. Auf der einen Seite arbeitet Reimarus mit seinen Vornehmsten Wahrheiten an einer physikotheologischen Natursakralisierung, um sie als Bestandteil der natürlichen Religion in apologetischer Absicht gegen die modernen, vor allem in der Tradition des metaphysisch eingebetteten Cartesianismus stehenden Naturwissenschaften zu setzen. Auf der anderen Seite öffnet er sich aber auch modernen naturwissenschaftlichen Vorstellungen, so in seiner Vernunftlehre, wo er in einem Beispiel auch mit der Möglichkeit extraterrestrischen Lebens86 argumentiert. Obzwar die Heilige Schrift nichts davon verlauten lasse, sei doch davon auszugehen, dass es ein solches gebe. Möglich wird die Behauptung dadurch, dass er einen Unterschied macht zwischen »Glaubenssachen, die zur Seligkeit nöthig sind«, und der »natürlichen Erkenntniß«. Und über letztere gebe die Heilige Schrift keine Auskunft; sie sei schlichtweg kein »Lehrbuch aller natürlichen Wahrheiten«.87 Mit der Relativierung der Stellung des Menschen innerhalb der Naturordnung und der gleichzeitigen Entgrenzung der Schöpfung ins Mikro- wie Makroskopische geraten zugleich Kernbestände der christlichen Religion ins Wanken. Die theologischen Konsequenzen der Indienstnahme moderner zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Erkenntnis-

|| 81 Ebd., S. 150f., 431, 633ff. 82 Vgl. Cicero: De natura deorum. 2, 154–163. 83 Ebd., 2, 154. 84 Ebd. 85 Thomas von Aquin: Summa theologica. I, q. 2, a 3. 86 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 131, 178f., 186f., 308. Vgl. zu der Vorstellung von bewohnten Planeten u. a. Christiaan Huygens (1629–1695): ΚΟΣΜΟΘΕΩΡΟΣ, sive De Terris Coelestibus, earumque ornatu, conjecturae. Den Haag 1698, S. 32–86, Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von den Würckungen der Natur. Halle 1723, S. 225f., § 149 sowie Christlob Mylius: Lehrgedicht von den Bewohnern der Kometen. In: Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Mai 1744, S. 383–392. Viele hielten auch die Sonnen für bewohnbare Orte, vgl. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 20), S. 162f. 87 Ebd., S. 437f., § 208.

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se für die christliche Apologetik waren den Zeitgenossen wohl nicht einsichtig.88 Erst mit Lessings Publikation der Fragmente des Wolfenbüttelschen Ungenannten (1774/78)89 wurde die Sprengkraft der Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes bzw. Apologie oder Schutz-Schrifft für die vernünftige Religion offenbar.90 Nun war offenkundig, dass Reimarus – dessen Verfasserschaft nicht so unbekannt war, wie oft behauptet wurde91 – an einer physikotheologischen Harmonisierung von Natur und Heiliger Schrift nicht interessiert war. Stattdessen hob er als implizit bereits in den Vornehmsten Wahrheiten sich gegen die Orthodoxie aussprechender Deist auf die aposteriorischen Gottesbeweise ab und kündigte damit zentrale Dogmen des Christentums auf, etwa das Dogma des Sündenfalls, der Verderbtheit des Menschen und der Welt. Das geschlossene biblische Weltbild mit seiner Vorrangstellung des Menschen im göttlichen Schöpfungsplan wird relativiert, die Christologie (Trinität und Zwei-Naturen-Lehre) und Erlösungslehre (Satisfaktionsdogma) und die damit verbundene Ansicht, wonach Vernunft und Willen seitdem verderbt sind (Erbsündendogma), werden randständig.92 Sinn und Zweck des Lebens bestehen in der Lust und Glückseligkeit. Lust als »ein anschauendes Erkenntniß der Vollkommenheit« gewähre in höchstem Maße die Anschauung Gottes; hier genieße der Mensch am meisten. Da Gott sich selbst aufgrund seines unendlichen Verstandes am vollkommensten überhaupt vorstellen kann, sei er auch derjenige, der im höchsten Maße Genuss hat und Glückseligkeit

|| 88 Vgl. dazu auch Hans-Peter Nowitzki: Von den Seelen der Tiere und ihren Sprachen. Johann Jakob Plitts Auseinandersetzung mit Georg Friedrich Meiers ›Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere‹. In: Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit«. Hg. von Gideon Stiening und Frank Grunert. Berlin, Boston 2015, S. 337–376, hier S. 375f. (WP 7). 89 Von Duldung der Deisten. Fragment eines Ungenannten. In: Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel 3 (1774), S. 195–221, 222f.; Ein mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend. In: Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel 4 (1777), S. 259–522; Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten. Hg. von Gotthold Ephraim Lessing. Braunschweig 1778. 90 »Die hierin enthaltene Sätze sind nicht Catechismus-mässig, sondern bleiben in den Schranken einer vernünftigen Verehrung Gottes, und Ausübung der Menschenliebe und Tugend.« (Hermann Samuel Reimarus: Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes bzw. Apologie oder SchutzSchrifft für die vernünftige Religion. Hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 1, S. 41.) 91 Vgl. Hans-Peter Nowitzki, Udo Roth, Gideon Stiening und Falk Wunderlich: Zur Einführung: Michael Hißmanns Briefwechsel (1776–1784). In: Michael Hißmann. Briefwechsel (s. Anm. 1), S. 1– 19, hier S. 13f. 92 Klein: Hermann Samuel Reimarus (s. Anm. 1), S. 156–169 sowie Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Band 5/2: Frühaufklärung. Tübingen 1991, S. 49f. Die Annahme einer Mehrheit von Welten ist erst dann kein Problem mehr, wenn biblische Dogmen wie die Auferstehung, Trinität, Zwei-Naturen-Lehre etc. geleugnet werden. Vgl. Feil: Religio (s. Anm. 6), S. 508–511.

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genießt.93 Da ein Geist umso mehr Genuss verspürt, je mehr mit ihm den Genuss, das heißt das Vergnügen an der Vollkommenheit, teilen, desto mehr genießt Gott, je mehr Lebendige Genuss an ihm und seiner Schöpfung haben.94 Darin gründet letztlich das »vernünftige[] Vergnügen an der Betrachtung der Natur«.95 Reimarus’ Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere verweisen im Titel schon neben ihrer kosmologisch-physikotheologischen96 auch auf ihre anthropologische Relevanz. Der erste Paragraf bereits kommt gelegentlich der Bestimmung dessen, was ein lebendiges Geschöpf genannt werden kann, auf den Menschen zu sprechen. Danach sind all die ›Geschöpfe‹, die über einen organischen Körper verfügen, in dem sich Empfindung und willkürliche Bewegungen äußern, zu den Tieren zu rechnen. Sie allein, wozu auch der Mensch gehört, umschließen das Reich des Lebendigen. Pflanzen werden von Reimarus nicht dem Lebendigen, sondern dem Leblosen, dem Mechanischen zugerechnet.97 In ihnen seien nur ›mechanische Triebfedern‹ rege, die durch »eine körperliche Kraft, Eindruck und Reizung, hervorgebracht werden«.98 Wahre Empfindung, tierisches Leben und Seelisches könne der Pflanze daher nicht beigemessen werden.99 ›Empfindung‹, »der erste Funke des Lebens«, bestehe in dem zumindest undeutlichen Bewusstsein gegenwärtiger Dinge. Da das Bewusstsein an das Seelische gebunden sei, sei den Tieren eine Seele zuzuschreiben, die mit einem tierischen Körper versehen und als ihr »Werkzeug« aufzufassen sei. Dieser Dualismus gewährleiste zum einen, dass (1) das »empfindliche Leben auf eine mechanische Art unterstützt« wird, dass (2) der Seele mittels der Sinnesorgane Erkenntnisse gegenwärtiger Dinge und Sachverhalte bekannt werden und (3) dass die Seele darauf willkürlich reagieren kann. Die Art und Weise der damit vorausgesetzten, empirisch bewährten »innigste[n] Vereinigung zwischen der Seele und ihrem organischen Körper« indes verberge sich im Dunkeln und müsse daher als »Geheimniß« angesehen werden.100 Reimarus, der einen wesentlichen Unterschied von Tier und Mensch behauptet und sich damit einesteils von der Tierkonzeption Descartes’ und Hallers, die das Tier als Maschine auffassen, andererseits von Georg Friedrich Meiers Vorstellung eines verständigen bzw. vernünftigen Tieres abgrenzt, sieht das Tier als Instinktwesen. Gegen Meier behauptet er: »Von allen diesen Vorzügen des menschlichen Ver-

|| 93 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 212. 94 Ebd., S. 215. 95 Ebd., S. 226. Vgl. Nowitzki: Von den Seelen der Tiere (s. Anm. 83), S. 368 und S. 372f. 96 Petersen: B. H. Brockes (s. Anm. 10), S. 48. 97 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 1, § 1, 9, § 7. 98 Ebd., S. 4, § 4. 99 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 154: Die Pflanzen können als Leblose nicht genießen. Vgl. dazu die gegenteilige Auffassung des jungen Wieland in der Natur der Dinge (1752) in: Nowitzki: Von den Seelen der Tiere (s. Anm. 83), S. 365f. 100 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 1f., § 1, sowie S. 8, § 6.

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standes ist keine einzige, auch nicht einmal eine Stufe davon, im eigentlichen Verstande, bey den Thieren anzutreffen.«101 Gegen Rousseau, dass der Mensch nicht, wie dieser in seiner Naturstandstheorie behauptet, in diesem Zustand ein unvernünftiges, triebgesteuertes Tier unter Tieren sei.102 Das Instinktverhalten wird durch die Einbettung in die rationale Kosmologie und natürliche Theologie beschrieben und erklärt, nicht aber im engeren Sinne biologisch-naturwissenschaftlich. Auch beim Menschen sind alle drei Arten tierischer Triebe, mechanische, vorstellende und willkürliche, wirksam. Mechanische Triebe sind im Menschen vielfältig tätig: Dahin gehöret die Umtreibung des Geblüts vermittelst des Herzens, die Verdauung des Magens, die wurmförmige Bewegung der Gedärme, das Einsaugen der Milchgefäße und lymphatischen Gefäße, die Absonderung der Säfte vermittelst der Drüsen, die Bereitung und Sammlung der Muttermilch in den Brüsten, das Zusammenziehen des Augensterns von vielem Lichte, die verschiedene Anziehung oder Nachlassung der inneren Ohrenknöchlein nach der Schwäche oder Stärke des Schalles; imgleichen die Ergießung der Galle in den Magen, das Erbrechen, der Durchfall, der Ausschlag, das Fieber, das Podagra, und andere, selbst durch Krankheiten, auf die Genesung zielende Bewegungen der Natur.103

All das sind Äußerungen der Körpermaschine, mechanische Wirkungen, bar jedweder Lebenstätigkeit. Wenn auch unstreitig Vorstellungen und Gemütsbewegungen häufig ihren verborgenen Einfluss »in die mechanischen Triebe« geltend machen, sie hemmen oder unterstützen oder deklinieren, so steht doch außer Frage, dass sich die oben genannten »Lebenshandlungen« vollziehen, ohne dass »unser Empfinden, Merken, Denken, Wissen oder Wollen« dabei rege sind. Oftmals entzögen sie sich geradezu unserer willentlichen Beeinflussung und liefen, als ein Uhrwerk, unabläßig fort [...]. Selbst die einfacheren Theile der thierischen Maschine, als das Herz, die Muskeln und Fibern, wenn sie aus dem lebendigen Leibe heraus geschnitten worden, und das Thier schon völlig todt ist, zeigen noch für sich ihre mechanische Bewegung des wechselnden Zusammenziehens und Ausdehnens [...].

Allem Anschein nach besteht der tierische Körper aus einer Vielzahl kleiner einfacher Maschinen, die zusammengesetzt eine große tierische Maschine ergeben.104 Die mechanischen Triebe »unterstützen«105 das Leben, sind ihm aber nicht zugehörig. Da sie sich als ›unmerkliche Triebe‹ dem Bewusstsein und der Empfindung entziehen, sind sie weder als Vorstellungs- noch als Willkürtriebe aufzufassen. Im Umkehrschluss bedeutet das, entzöge man dem tierischen Körper Empfindung,

|| 101 Ebd., S. 49, § 30. Vgl. zu den Vorzügen des Menschen vor den Tieren ebd., S. 47–49, § 29. 102 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 492–498. 103 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 4f., § 4. 104 Ebd., S. 7f., § 5. Vgl. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 282. 105 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (s. Anm. 3), S. 8, § 6.

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Sinne und Vorstellung, so wäre er »eine wandernde Pflanze, eine cartesianische Maschine«. Deshalb sind die mechanischen Triebe, die sog. Lebenshandlungen (actiones vitales), keine Lebenshandlungen im eigentlichen Sinne, sondern nur mechanische Wirkungen, die das tierische Leben (actiones animales) unterstützen, also lebensdienlich, aber nicht lebendig. Die lebensdienlichen mechanischen Triebe sind insofern von unschätzbarem Wert, als sie die Seele entlasten und dadurch ermöglichen, dass sie sich auf ihre äußerlichen Bedürfnisse konzentrieren kann: Denn sollte sie das Amt haben oder verwalten können, daß sie selbst zuvorderst ihre körperliche Maschine, ich will nicht sagen, erbauete, sondern nur nach ihrer Vorstellung und Neigung im Gange erhalten müßte, um nur zu leben, so würde sie sich Tag und Nacht, ohne Ablaß, mit tausend innern ängstlichen Vorstellungen und Betrieben beschäfftigen müssen [...].106

Die in der Entlastung des Seelischen durch den Mechanismus sich bekundende »Übereinstimmung« im tierischen Organismus bleibt nicht darauf beschränkt, sondern erstreckt sich darüber hinaus auch auf das Verhältnis des Organismus und seine »Art des Lebens«. Milieu und tierischer Organismus sind aufs Trefflichste aufeinander abgestimmt. Wären sie das nicht, könnte ein Organismus nicht existieren: Es muß alles, was zum Mechanismo gehöret, bis aufs geringste, mit eines jeden Elemente, Climate und Gegend, mit der da befindlichen Luft und Wärme, mit denen da vorhandenen Nahrungsmitteln, mit der dazu nöthigen Bewegung und Verdauung, und selbst mit den Kunsttrieben, womit jede Thierart ihren Bedürfnissen abzuhelfen weis, vollkommen übereinstimmen.107

Die erstaunliche, unbegreifliche Harmonie, in ihrer unermesslichen Intension und Extension, sei »von vielen [vernünftigen Menschen] zum Beweise der unendlichen Vollkommenheiten des Schöpfers dargestellt worden.«108 Nur sei es unzulässig, angesichts der mechanisch-kunstvoll agierenden Natur zu meinen, die ›Natur‹ könne die harmonischen, kunstvollen Gegebenheiten und die sich darin bekundenden Absichten als »Selbsterfinderin« (ἀυτότεχνος) aus sich selbsttätig hervorbringen und sie sich als Autodidakt (ἀυτοδίδακτος) selbst lehren und entwickeln oder gar »ohne Einsicht und Überlegung« (οὐκ ἐκ διανοίης) hervorbringen.109 »Kann denn«, fragt Reimarus verständnislos, eine leblose, oder, so man will, lebendige Natur ohne Verstand und Überlegung, aus eigenthümlicher Kraft, das allerverständigste und klügste erfinden, und nach solcher Erfin-

|| 106 Ebd., S. 10f., § 8. 107 Ebd., S. 12, § 9. 108 Ebd., S. 12f., § 10. 109 Ebd., S. 13f., § 10.

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dung schaffen und ins Werk setzen? Das läßt sich ohne Widerspruch nicht gedenken [...]: eine selbstgelehrige selbsterfindrische Maschine ist ein leerer Ton und ein Unding.110

Solcherart ›natürliche Erklärungen‹ gelte es als haltlos zu stigmatisieren. Es ist das von La Mettrie und Buffon propagierte, von Needham und d’Alembert unterstützte Systeme d’Epicure, das Reimarus in seinen Grundfesten zu erschüttern sucht: Man müsse von diesen Weltweisen nicht erwarten, daß sie sich in das Wesen und die Eigenschaften der irdischen Materie, des Wassers, der Sonnen, der Wärme, oder in die Kräfte dieser Dinge, in die Gesetze der Bewegung, oder auch in den Bau thierischer Körper und deren Erzeugung, tief einlassen werden; um uns dieses Entstehen der Thiere begreiflich zu machen. [...] Man höret nur Dichter reden, denen es leicht wird, alles zu verwandeln und zu schaffen. [...] Die Erde, unser aller fruchtbare Mutter, durfte nur von der Sonne geschwängert werden; so gab sie aus ihrem Schooße eine Geburt nach der anderen hervor. Die verborgene Natur ist dabey bald eine verständige, milde, gütige, kräftige Schöpferinn, die aller Dinge Urstof und Samen bildet, entwickelt, nähret und erhält: bald muß sie sich wieder als blind, unverständig, neidisch, ohnmächtig und veraltet meistern lassen.111

Diese Einschätzung der vor allem französischen Naturwissenschaftler und Philosophen wird im Rest der gesamten Abhandlung, vielfach variiert, stets aufs Neue zum Ausdruck gebracht. Es seien nichts als »willkürliche[] Erdichtungen«, »grobe[] Unwissenheit der Natur«, durchsetzt mit »mancherley Widerspruche und Irrthümern«, »aus falschen Erfahrungen [...] unrichtig geschlossen«.112 Die Möglichkeit der Selbstorganisation und Selbstbildung der Materie wird brüsk bestritten. Schließlich habe man durch Untersuchungen und Versuche herausgebracht, »daß kein lebendiges Thier von selbst aus fauler gährender Materie erwachse. Der faule Käse ist so wenig die Mutter der Maden, als die Erde der Menschen.« In der »Ordnung der Natur« sei beschlossen, »daß alles, was Leben hat, von seines gleichen erzeuget werde«, Totes nur Totes bewirkt, Lebendiges nur Lebendiges (omne vivum ex vivo) gebiert. Eine spontane Urzeugung (generatio aequivoca resp. spontanea) ist mit vernünftigen Maßstäben nicht vereinbar.113 »[W]o stecken vollends in solchem Breye die Seelen, das Leben [...]?«114 Weder ›blindes Spielwerk‹ noch ›Erfindungskraft‹ der Natur seien fähig, lebendige Wesen hervorzubringen. Augenscheinlich könne der Ursprung der Menschen und Tiere nicht natürlich erklärt werden.115 Denn die ›Natur‹

|| 110 Ebd., S. 14, § 10. 111 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 83f. 112 Ebd., S. 84. 113 Ebd., S. 85. Vgl. auch S. 109f. 114 Ebd., S. 120. 115 Ebd., S. 130. Vgl. Petersen: B. H. Brockes (s. Anm. 10), S. 214f.

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ist nicht »das erste selbständige, nothwendige, ewige Wesen«, das kann nur Gott sein.116 Die gegensätzliche Position macht Buffon in seiner Histoire naturelle geltend, wenn er die Annahme von Finalursachen anprangert und damit die teleologischen ›Begründungen‹ verwirft: Ich tadele hier keinesweges die Neugierde der Naturforscher, sondern nur ihre Art zu schlüßen, und zu bewundern. Man beobachte [...], man beschreibe [...]. Aber die Sittenlehre und die Theologie der Insekten höre ich mit Unwillen predigen; und diese Wunderwerke, welche die Beobachter selbst in sie legen, und worüber sie hernach Wunder schreyen, nicht anders, als ob sie wirklich darinnen vorhanden wären [...].117

Dagegen wendet sich Reimarus vor allem mit dem vierten und fünften Kapitel der Vornehmsten Wahrheiten und den Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere, in denen er den theistischen Schöpfungs- und Vorsehungsglauben verteidigt und die physikotheologische Methode als legitime, und zwar einzig legitime für die naturwissenschaftliche Forschung behauptet. Als Kombattanten ›zitiert‹ Reimarus Haller in den Ring, indem er auf dessen »Vorrede« zum zweiten Band der Allgemeinen Historie der Natur von 1752 verweist.118 Haller verspricht darin u. a. zu prüfen, ob die von Buffon »erneuerte Festsetzung einer Erzeugung aus der Fäulniß dem geoffenbarten Glauben schaden könne«.119 Buffon zufolge sei der Materie eine »beständige Neigung gebildet zu werden (tend à l’organisation)«120 eigen. Die solcherart »gebildete (organisée) Materie«121 diene zur Ernährung ebenso wie zur Entwicklung und Fortpflanzung. Folglich giebt es keine vorhergebildeten Keimen, und keine unendlich in einander geschobene Abzeichnungen künftiger Thiere, sondern eine gebildete beständig wirksame Materie, die immer bereit ist sich abzumodeln, eine Ähnlichkeit anzunehmen, und andere Dinge hervorzubringen, die dem ähnlich sind, von welchem sie angenommen worden ist. Also können sich die Gattungen der Thiere und Pflanzen nie erschöpfen; so lange als es einzelne Thiere oder Pflanzen giebt, so ist die Gattung immer neu, und eben so neu, als vor dreytausend Jahren, und alle

|| 116 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 132. 117 Buffon: Abhandlung von der Natur der Thiere. In: Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königes von Frankreich. Zweyten Theils zweyter Band. Hamburg, Leipzig 1754, S. 3–50, hier S. 42. 118 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 90. 119 Allgemeine Historie der Natur nach allen ihren besondern Theilen abgehandelt; nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königes von Frankreich. Mit einer Vorrede Herrn Doctor Albrecht von Haller [...]. Zweyter Theil. Hamburg, Leipzig 1752, S. a2a–c1b: Vorrede [Hallers vom 30. März 1752], hier S. a2a. 120 Haller: Vorrede (s. Anm. 119), S. a3a. 121 Ebd., S. a3b.

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Gattungen werden so lange von sich selber dauren und bleiben, bis sie durch den Willen des Schöpfers vernichtiget werden.122

Für die Entwicklungslehre Buffons, in deren Zentrum eine ›allgemeine gebildete und bildbare Materie‹ steht, spricht die sich darin scheinbar ausdrückende unendliche Weisheit aus, »so verschiedene, so widersprechende, und so zusammengesetzte Wirkungen durch einerley Mittel zu wege zu bringen«.123 Haller begegnet Buffon mit der Feststellung, dass er in der ganzen Natur keine Kraft aufzufinden weiß, die Millionen von Millionen Adern, Nerven, Fasern und Knochen eines Körpers nach einem ewigen Grundrisse zusammenzufügen weise genug wäre. [...] Der Hr. v. B. hat hier eine Kraft nöthig, die suchet, die ausliest, die einen Zweck hat, die wider alle die Gesetze der blinden Zusammenfügung (combinatio) allemal und unfehlbar einen gleichen Wurf wirft.124

Nachdem Haller Buffons Behauptung eines weiblichen Samens mit Hinweis auf fehlende empirische Beweisinstanzen entschieden abgewiesen hat, setzt er sich die Frage vor, ob Buffons Annahme von der Materie inhärierenden Bildungskräften den christlichen Offenbarungsglauben unterminiere, wie die Sorbonne argwöhnte: Die Macht, die Menschen bilden kann, ist auch ganze Erden zu bauen fähig, und die ewigen nothwendigen Kräfte der Natur reichen ohne Schöpfer zu, die Ordnung und die Schönheit der Welt zu erklären. Räumet man diesen Beweisthum einer Gottheit weg, so ist die eine Stütze des Glaubens umgerissen, und die Überzeugung den Menschen entzogen, die allen Völkern sonst am deutlichsten in die Augen gestrahlet hat.125

Haller teilt die Sorgen der Sorbonne nicht; er glaubt, den Freigeistern Buffon und Needham die den göttlichen Baumeister ersetzenden Bildungskräfte zugeben zu können, ohne dass dadurch der Existenz Gottes Eintrag geschehe. Denn nicht so sehr Wachstum und Zeugung beweisen Gottes Dasein, »sondern die deutlichsten Spuren der weisen Hand eines Schöpfers in der Übereinstimmung des Baues mit seinen Absichten.« Dessen Bildungskräfte wirken nicht blindlings, sondern sind

|| 122 Ebd., S. a3b. 123 Ebd., S. a4a. Haller spielt hier wohl auf das 1746 in Les lois du mouvement et du repos, deduites d’un principe de métaphysique und 1750 im Essai de Cosmologie bekanntgemachte Extremalkriterium des ›Prinzips der kleinsten Aktion‹ bzw. des ›Gesetzes der Sparsamkeit‹ an, eines von Maupertuis gegen seine sonstigen Überzeugungen metaphysisch generalisierten Naturprinzips. Vgl. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 292–294 und Klaus Mainzer: Symmetrien der Natur. Ein Handbuch zur Natur- und Wissenschaftsphilosophie. Berlin, New York 1988, S. 330–338. In der Anmerkung in den Vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 231–233 wendet sich Reimarus gegen Maupertuis’ Prinzip, da dieses mit der Festlegung auf das jeweilige Minimum Gottes Freiheit einschränke, dieses selbst nicht genugsam physikotheologisch abgebildet werde und Gottes Wirken durch den damit unterstellten Extremaldeterminismus gleichsam überflüssig mache. 124 Haller: Vorrede (s. Anm. 119), S. b3a. 125 Ebd., S. b4a.

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»mit ewigen Schranken umschlossen, und bilden immer vollkommen, nicht das mechanisch Gleiche, sondern etwas ähnliches, etwas das in einem unverletzlichen Grundrisse vorgeschrieben ist: aber mit einer Verschiedenheit, die den Zwang einer blindlings wirkenden Materie ausschließt.«126 Buffon und Needham127 müssten erklären können, woher die Konstanz und Variabilität gewährleistenden Bildungskräfte stammen, ohne dafür auf die Natur als »Hand der erschaffenden Weisheit«128 zurückzugreifen, was ihnen, davon ist Haller – und mit ihm Reimarus – überzeugt, nicht gelingen werde. Buffons Materie bilde nicht eigentlich, sondern verfertige nur Kopien nach Modellen, die selbst zuvor erschaffen worden sein müssen. Der Bau des Menschen, sein ›allgemeines Muster‹, so Hallers Credo, »ist unmittelbar aus den Händen Gottes gekommen.«129 Reimarus’ Frontstellung gegen die vor allem tendenziell atheistisch-materialistische französische und niederländische Naturwissenschaft ist zugleich Ausdruck des Widerstreits zweier unterschiedlicher Wissenschaftsparadigmata, des cartesischen und des newtonischen. Während Descartes ein mechanistisches, metaphysisch abgesichertes Weltbild bietet, das von naturgesetzlicher Notwendigkeit charakterisiert ist, statt teleologische Final- nur Wirkursachen anerkennt und eine unendliche und ewige Welt annimmt und dadurch der Theologie gleichsam keinen Raum mehr lässt und sie verdrängt, öffnet sich Newtons strikt auf die Phänomene und die ihnen zugrundeliegenden Naturgesetzlichkeiten konzentrierende dynamische Naturwissenschaft mangels metaphysischer Einbettung und Einengung auch physikotheologischen, Glauben und Wissen harmonisierenden Interpretamenten. So gibt der Newtonianismus neben der von Naturgesetzlichkeit und Kontingenz geprägten Wissenschaft auch der Theologie, neben den Wirk- auch Finalursachen Raum.130 Dieser Umstand macht die newtonsche Metaphysik attraktiv für physikotheologische Spekulationen. Durch den engen Zusammenhang mit der cartesischen Metaphysik ist das Wissenschaftsparadigma eines Buffon, La Mettrie und Needham tendentiell geschlossener und damit resistenter gegen biblisch-theologische Eingriffe, im Gegensatz zu Newtons Physik, die der metaphysischen Einbettung weitgehend ermangelt und daher verträglicher mit biblisch-theologischen Dogmen zu sein scheint. Im Cartesianismus wirkt sich der Mehrwert der metaphysischen Fundierung des mechanisti-

|| 126 Ebd., S. c1a. 127 Zu Reimarus’ übersetztem Needham-Zitat (Die Vornehmsten Wahrheiten [s. Anm. 1], S. 90f.) vgl. Nouvelles Observations microscopiques, avec Des découvertes intéressantes sur la Composition & la Décomposition des Corps organisés. Paris 1750, S. 248–250. 128 Haller: Vorrede (s. Anm. 119), S. c1a. 129 Ebd., S. c1b. 130 Vgl. Robert Boyle: A disquisition about the final causes of natural things wherein it is inquir’d, whether, and (if at all) with what cautions, a naturalist should admit them? In: Robert Boyle: The Works. Bd. 5. London 1772, S. 392–444.

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schen Weltbildes einerseits einengend auf die empirische Forschung aus, obgleich sie diese mit dem Ausschluss der Finalursachen andererseits befördert. Reimarus wendet sich auch gegen Spinozas Nivellierung des Unterschiedes von Schöpfer und Schöpfungswerk, die mit der Leugnung eines extramundanen Gottes einhergeht. Er sieht daraus eine ›fatale‹ Notwendigkeit hervorgehen. Ebenso wendet sich Reimarus gegen die spinozistische Annahme einer einzigen, selbständigen, in sich attributiv differenzierten, nur aus sich selbst zu begreifenden Substanz (Monismus) und setzt dieser einen Substanzendualismus entgegen, der die Unterscheidung zweier Substanzen (materieller Körper und immaterielle Seele) vorsieht. Die spinozistischen Annahmen, so Reimarus bündig, würden durch die ›Erfahrung‹ widerlegt.131 Das zur Materie hinzukommende Phänomen des ›Lebens‹ und seine schier unendliche Diversität widerlegten des Spinoza Monismus.132 Die durch die Annahme von Katastrophen, der Unendlichkeit des Menschengeschlechts (Jean Frédéric Bernard) und spontaner Entstehung des Lebens (Buffon, Hamm, Hartsoecker, van Leeuwenhoek, Needham) unterlaufene absichtsvolle Einrichtung der Schöpfung mit ihrer Konstanz der Arten sei als zumindest in der Tendenz atheistisch entschieden abzulehnen. Maupertuis, obgleich bekennender Newtonianer, ist wie Descartes und Bacon strikt gegen die Berufung auf Finalursachen in der Naturwissenschaft.133 Er spricht sich gegen die teleologische Inaugenscheinnahme der Natur aus. Die natürliche Entwicklung ist ihm ein tendenziell offenes, nicht geradlinig verlaufendes, unabschließbares Geschehen mit dem Vorkommen von Monstrositäten im Tierreich und Katastrophen, die einer physiokotheologischen Interpretation entgegenstehen. Die vornehmsten Wahrheiten sind, überblickt man die Vielzahl von Auseinandersetzungen in diesem Werk, gleichsam eine Philippika gegen den Naturalismus, eine Art Anti-Lukrez. Wieder und wieder erwachsen aus der polemischen Manier Redundanzen und Argumente ad personam. Im Brennpunkt der Aufmerksamkeit stehen »unsere neueren Pantheisten«134 La Mettrie, Buffon und Needham.

3 Reimarus belässt es nicht nur bei einer ›Bestandsaufnahme‹ anthropologischen Wissens seiner Zeit, sondern skizziert zudem auch eine Methodologie anthropologischen Forschens zur Untersuchung der Seele135 sowie des Menschen.136

|| 131 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 189. 132 Ebd., S. 191. 133 Vgl. Petersen: B. H. Brockes (s. Anm. 10), S. 194–197. 134 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 137. 135 Ebd., S. 117–121, § 100.

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Die Erforschung der Seele empfiehlt Reimarus unter vier Regularien anzustellen: (1) »Man muß zu richtigen Begriffen von der Seele die Fälle fleissig beobachten und aufzeichnen, da man klar und deutlich empfinden, oder an andern wahrnehmen kann, was in der Seele ist und vorgehet.« Die Regel ist insofern von besonderer Wichtigkeit, als man über all dem Beobachten und Erforschen des Äußeren leicht das Innere übersieht. Denn die Seele ist dem Auge vergleichbar, das selbstvergessen alles außer sich wahrnimmt, ohne sich selbst »im Spiegel, oder in der Zergliederung fremder Augen zu betrachten.«137 (2) »Man muß alle sinnliche Empfindung, die in Theilen ausser einander ist, davon absondern, und sich auch durch die sinnlichen Ausdrücke nicht irre machen lassen.« Denn man ist oft gesonnen, das innerseelische Empfindungsgeschehen mit dem Sinnlichen und Körperlichen zu vermengen, verführt auch durch das vom Sinnlichen abgezogene Begriffsinstrumentarium zur Beschreibung des Seelischen.138 (3) »Man muß auch die abgesonderte Vorstellung dessen, was die Seele in sich selbst empfindet, oder an andern wahrnimmt, nicht durch fremde Einbildungen, Hypothesen und Schlüsse verfälschen, verändern oder verstümmeln.« Durch diese Regel schärft Reimarus dem Psychologen ein, sich vorurteilsfrei und unvoreingenommen den psychischen Phänomenen zu widmen, eingedenk der Tatsache, dass gerade auch die »Seele, durch ihre Einbildungskraft, Witz oder Vernunft, auf eine verkehrte Weise geschäftig ist, sich selbst ihr Bild, nach ihrer Neigung, zu entwerfen und vorzustellen.«139 (4) »Man muß das Vorgestellte mit dem, was die Seele in sich empfindet, oder an andern wahrnimmt, genau vergleichen.« Und zwar deshalb, weil immer auch angenommen werden muss, dass das Empfindungsgeschehen nicht mit seinem Ergebnis übereinstimmt, das Ergebnis, die Vorstellung, vielmehr dem Empfindungsgeschehen etwas beifügt.140 Gelegentlich der Besprechung der »Regeln der Erfahrungskunst« kommt Reimarus auch auf Maximen zur Beobachtung des Menschen zu sprechen. Hatte er sich bei der Seelenbeobachtungskunst einstweilen noch darauf beschränkt, zu bedauern, dass bislang in nur ungenügendem Maße »seltene[] Begebenheiten der menschlichen Seelen«, also merkwürdige, seltsame und obskure Seelenphänomene, von den Naturhistorikern für eine »Geschichte der menschlichen Seele« gesammelt und ausgewertet worden seien, so stellt er deren Wichtigkeit und Notwendigkeit nun besonders heraus. Von ihnen erhofft er sich einen vergleichbaren Nutzen,

|| 136 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 20), S. 274–276, § 166. 137 Ebd., S. 117f., § 100. 138 Ebd., S. 118f., § 100. 139 Ebd., S. 119f., § 100. 140 Ebd., S. 120f., § 100.

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den bereits angestellte »seltene anatomische, chirurgische und medicinische Beobachtungen« gezeitigt hätten. Dazu rechnet er Beobachtungen an Menschen, die in der Wildniß unter Thieren erwachsen: imgleichen monströse Geburten, theils an einander gewachsener Personen, theils solcher, welche in den Gefässen des Gehirns eine unnatürliche Beschaffenheit gehabt: ferner manchen Mangel und Fehler der Sinne, und viele besondere Wirkungen der Einbildungskraft, als in Nachtwanderern, hysterischen Affecten, Schwangern, Trunkenen, Begeisterten, eingebildeten Hexen, Wahnsinnigen, Rasenden; gute Poeten aus dem Stegereif, Leute von erstaunlichem Gedächtnisse, oder die im Kopfe fast unglaubliche Rechnungen richtig vollführet, gelehrte Kinder, und andere dergleichen Fälle […].141

Das führt zu folgender Regel: Die Beobachtungen seltener Fälle, welche die Seele betreffen, müssen erst gesammlet und nach Gelegenheit fortgesetzet werden. Die physischen Versuche, durch körperliche Mittel, müßten jedoch durch die Moral eingeschränkt werden. Die moralischen Versuche müssen auf bessere Erziehung, Tugend, Religion und bürgerliche Sittlichkeit gerichtet seyn.142

Aufhorchen lässt hier die Verschränkung der Einengung und Perspektivierung physischer und die Ausweitung moralischer Versuche. Dieser Umstand spiegelt sicher auch Reimarus’ Haltung gegenüber denjenigen Forschungen wider, die sich dem materialistisch-mechanistischen Forschungsparadigma verschrieben haben. Erlaubte physische Versuche seien Nekropsien, also Sektionen des Gehirns Verstorbener, »deren Seelen ausserordentlich beschaffen gewesen«, und Medikationen Lebendiger »zur Herstellung der Vernunft oder eines vergnügten Herzens«. Die ostentative Beschränkung der Versuche an Lebenden zielt vermutlich auf die besonders in der iatromechanistischen Forschung gängige Praxis der Vivisektionen, wie sie u. a. von Maupertuis forciert gefordert wurden.143 || 141 Ebd., S. 275, § 166. Zum Phänomen der sog. ›siamesischen Zwillinge‹, wo »zwo Seelen in einem Leibe« sind, vgl. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 452–457 sowie fol. Ccc 5b. 142 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 20), S. 274f., § 166. 143 Vgl. Lettre sur le Progrès des Sciences, Par Monsieur de Maupertuis. [Berlin] M.DCC.LII (dt. Schreiben des Herrn von Maupertuis, [...] über den Wachsthum der Wissenschaften, von M. Just Fried. Veit Breithaupt [...] in das Deutsche übersetzt. Berlin 1752), darin insb. die Aufsätze Observations sur la Médecine (S. 88–98, dt.: Betrachtungen über die Arzneykunst, S. 56–63) und Experiences Métaphysiques (S. 112–121, dt.: Metaphysische Erfahrungen, S. 71–76) und die Empfehlungen in seinem Aufsatz Utilités du Supplice des Criminels (S. 76–88, dt.: Die Vortheile, welche aus der Strafe der Verbrecher zu ziehen sind, S. 50–56). Danach gebe es nur »wenig zum Tode verurtheilte Menschen«, die nicht »den schmerzhaftesten Versuch vorziehen solten« im Angesicht der darauffolgenden Begnadigung. Der Erfolg der Versuche und die Menschlichkeit geböten es, dass der Versuch zunächst an »todten Cörpern« geübt, »nachgehends an Thieren, welche die meiste Ähnlichkeit mit den Menschen hätten, und endlich an den Menschen selbst« durchgeführt würde (S. 51). Dabei denkt er nicht nur an chirurgische und pharmakologische Versuche, sondern auch an solche, »welche einen entfernteren Nutzen haben« wie philosophische: »Vielleicht machte man ganz besondere Entdeckungen über die so wunderbare Vereinigung der Seele und des Cörpers, wenn man es wagte

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Reimarus unterscheidet Beobachtungen (observationes) und Versuche (experimenta), die von Einzelpersonen vorgenommen werden können, von solchen, die allein in der Verantwortung der Regenten liegen, und die er ihnen auch ans Herz legt. Zu letzteren rechnet er Beobachtungen der Bevölkerungsstatistik, insb. Geburten- und Sterberegister unter Einschluss der Erhebung von Sterbealter und -krankheit, Statistiken zu Wirtschaft, Handel und anderen Ressourcen, Erhebungen von nutzbaren Importgütern, industrie-, finanz-, rechts- und kulturvergleichende Erhebungen, darunter auch solche des Bildungsstandes, des Schul-, Bildungs- und Armenwesens. Unter anderen Vorschlägen findet sich auch der, die »etwas bedenkliche[re]n Versuche in der Chirurgie und Medicin an Leuten in Hospitälern, Lazareten, Zuchthäusern und Frohnereyen«144 durchführen zu lassen. Zur Bedingung von Menschenversuchen macht Reimarus die Oberaufsicht staatlicher Behörden.145 Reimarus’ anthropologische Ansichten sind eingebettet in schöpfungskosmologische Vorstellungen. Daher ist es zum Ermitteln (»Erfinden«) moralischer Wahrheiten aus der Erfahrung nötig, (a) auf den Endzweck bzw. die Absichten des Schöpfers und (b) auf den Nutzen, den die Menschen als Teil der Schöpfung aus der Schöpfung ziehen können, aufzumerken. Dafür hat er für die moralischen Wahrheiten der ersten Art (a) aus dem Hauptsatz, daß ein Schöpfer sey, der die Welt mit Absicht geschaffen [...] aus einer gemeinen Erfahrung hergeleitet. Wenn wir nämlich nach der Erfahrung erkennen, daß die körperliche Welt an sich leblos sey: so folgt, daß sie weder von selbst, noch um ihr selbst willen sey, sondern von einem Schöpfer um der Lebendigen willen hervorgebracht seyn müsse.146

Daraus leitet Reimarus ab, dass die Welt nicht »umsonst«, nicht »ohne Absicht auf den Nutzen der Lebendigen« ist, dass die Dinge mit ihrem Wesen, ihren Eigenschaften und regelgeleiteten Kräften »Mittel der Absichten des Schöpfers« sind.147 Mittels der »Erfahrung« ist der Mensch in der Lage, diese als absichtsvolle Mittel des Schöpfers einzusehen, ihren Nutzen zu erkennen und als ›einzig‹ in den Absichten grün-

|| die Verbindung in dem Gehirne eines lebendigen Menschen zu suchen. Man darf sich gar nicht durch den Schein der Grausamkeit, welche man sich dabei einbilden könte, bewegen lassen; ein Mensch ist in Vergleichung mit dem menschlichen Geschlechte für nichts zu rechnen, und ein Missethäter ist noch weniger als nichts« (S. 53f.). Unter den ›metaphysischen Erfahrungen‹ findet sich u. a. der Vorschlag, Kinder streng isoliert aufzuziehen (Psammetichos-Experiment; Hdt. 2, 2, 2), um den Sprachursprung aufzuspüren (S. 73–75). 144 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 20), S. 263, § 164. 145 Ebd., S. 263, § 164. 146 Ebd., S. 353, § 185. 147 Zum kosmologischen Gottesbeweis vgl. ebd., S. 355f., § 185, sowie Immanuel Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. In: AA II, S. 63–163, hier S. 161, und ders.: Kritik der Urteilskraft. In: AA V, S. 165–485, hier S. 476f.

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dend zu begreifen: »[S]o lassen sich auch aus unserer Erfahrung die Absichten des Schöpfers schliessen.«148 ›Einzig‹ bzw. ›allein in den Absichten des Schöpfers gründend‹ sichert die nichtmaterielle Genese und die Anwendung des Analogieschlusses von der Ähnlichkeit der Dinge auf die Ähnlichkeit der Absicht: Es können z. B. unsere Augen, Ohren, u. s. w. als körperliche Werkzeuge, nur um der Seele willen, welcher das Leben und die Empfindung zukommt, Statt finden. Daher schliessen wir vest und sicher: so sind auch der Thiere ihre sinnlichen Werkzeuge um ihrer Seele willen. Also haben sie eine empfindende Seele, und sind nicht bloße Maschinen.

Aus der »völlige[n] Ähnlichkeit« der Dinge wird mit Sicherheit auf die »völlige Ähnlichkeit« der Absicht geschlossen. Sollte die Ähnlichkeit indes nicht »völlig[]« sein, da noch ein anderer Grund vorhanden ist, so ist die Analogie auch nur »muhtmaßlich«, bei Vorliegen vieler übereinstimmender Fälle »wahrscheinlich«.149 Dies erlaube, so Reimarus, auf die Vollkommenheiten und Wirkungen Gottes, die Bestimmung des Menschen und die Unsterblichkeit der Seelen sowie die Pflichten und Tugenden »als gesetzmäßige Handlungen betrachtet« zu schließen. »Es liegt also in der Erfahrung, von der ganzen Welt und ihren Theilen, besonders aber von dem Menschen nach Leib und Seele, der erste Grund aller moralischen Erkenntniß; soferne wir die Absichten der Dinge daraus erforschen.«150 Physikotheologische Kosmologie und Anthropologie sind danach die Grundlagen aller moralphilosophischen und theologischen Ableitungen.

|| 148 Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 20), S. 354, § 185. 149 Ebd., S. 356f., § 185. 150 Ebd., S. 354, § 185. Vgl. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 221–223.

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4 Charakteristisch für den Reimarus der Vornehmsten Wahrheiten ist sein militant vorgetragener Deismus, vor allem Spinoza und La Mettrie gegenüber.151 Deren Ansichten und Erklärungen seien, darauf stellt er wiederholt ab, haltlos, lächerlich und seicht. Während er mit ihnen die eine weltanschauliche Grenze zwischen Deismus und Atheismus resp. Materialismus, nach ›links‹ gewissermaßen, markiert, arbeitet er mit der Schutzschrift die andere weltanschauliche Grenze heraus, die den Deismus von der Orthodoxie trennt. Die Vornehmsten Wahrheiten, die Vernunftlehre und die Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere sind die positiven Komplemente zu der testimonienkritischen Schutzschrift.152 Das deutsche Publikum goutierte die Vornehmsten Wahrheiten seinerzeit. Aber während ihre Aufnahme in Deutschland beinahe einhellig wohlwollend bis begeistert verlief, fanden sie in Frankreich ein Publikum vor, das dafür wenig Verständnis zeigte: »Cet ouvrage est ridicule, & prouve que l’Auteur ne connoit ni les écrits de M. de Buffon, ni ceux de M. de Maupertuis.« – »Dieses lächerliche Buch zeigt offenbar, daß dessen Verfasser weder die Schriften des Büffon, noch des Maupertuis kennet.«153 Die französische Rezeption ist ein erwartbarer Reflex auf die Einseitigkeit der Vornehmsten Wahrheiten. Zu harsch, zu unspezifisch sind die Bezugnahmen auf die zeitgenössische französische Wissenschaft und Philosophie, nur unzureichend hat Reimarus sich bemüht, die Problemlagen zu umreißen. Das sah auch der Rezensent der Schrift in der

|| 151 Vgl. Johann Anton Trinius, Predigers zu Bräunerode und Walbeck in der Grafschaft Mannsfeld, und des Jenaischen Instituti Litterarii Academici Ehrenmitgliedes, Freydenker-Lexicon, oder Einleitung in die Geschichte der neuern Freygeister ihrer Schriften, und deren Widerlegungen. Nebst einem Bey- und Nachtrage zu des seligen Herrn Johann Albert Fabricius Syllabo Scriptorum, pro veritate Religionis Christianae. Leipzig, Bernburg 1759, S. 360 (vs. La Mettrie: »Herm. Samuel Reimari vornehmste Wahrheiten der natürlichen Religion 2te Ausgabe 1755. S. 98fg. 300fg. 454fg. 68fg.«) und S. 439f. (»Sam. Reimars, vornehmste Wahrheiten der natürlichen Religion. Hamb. 1754. 8. S. 168fgg. ed. 1755. wo des Spinoza Erklärung von der Substanz und von Gott geprüft und der Unrichtigkeit überwiesen wird«), sowie Werner Krauss: Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung. Exkurs I: Zur Tierseelentheorie im 18. Jahrhundert. In: ders.: Aufklärung II. Frankreich. Hg. von Rolf Geißler. Berlin, Weimar 1987, S. 62–247, hier S. 174–210. 152 Heinrich Sieveking: Hermann Samuel Reimarus 1694–1768. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 38 (1939), S. 145–182, hier S. 168. 153 Anonymus: Rez.: The Principal truths of natural Religion defended, &c. C’est-à-dire, Vérités de la Religion Naturelle défendues, en 9 dissertations, où l’on considère les objections de Lucrèce, MM. du Buffon, Maupertuis, Rousseau, Lamètrie, & autres Sectateurs anciens & modernes d’Epicure, où l’on réfute leur doctrine. Par M. H. S. Reimarus, traduit en Anglois. A Londres 1766. In: Journal Encyclopédique, Dédié à Son Altesse Sérénissime, Mgr. le Duc de Bouillon, &c. &c. &c. 1. Mai 1766. Tome III. Troisième Partie. A Bouillon. De l’Imprimerie du Journal. Avec Approbation & Privilège, S. 137.

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Allgemeinen deutschen Bibliothek, Philipp Gabriel Hensler, so, der herausstellt, dass die erste Absicht [der Vornehmsten Wahrheiten] dahin gienge, den Witzlingen Frankreichs das Ansehen zu benehmen, das sie durch ihre bilderreiche Sprache selbst auch in Deutschland zu haben anfingen, wo man doch immer wußte, wie sehr epicurischer Leichtsinn, und eine mehr als stoische Gleichgültigkeit gegen Religion und Tugend verderblich ist.

Reimarus habe es vermocht, so der Rezensent weiter, all diejenigen, die »am Verstande schwach genug sind«, in den Stand zu setzen, dass auch sie »die Vierfüßigkeit eines Rousseau, den Unsinn eines La Mettrie in seiner ganzen Wildheit, so wie hinwiederum, die feinern Netze ganz deutlich sehen, worinn Buffon, Maupertuis, d’Alembert aus Begierde überwitzig zu seyn, sich selbst zuweilen verstrikt haben.«154 Bereits im ersten Paragrafen der ersten Abhandlung der Vornehmsten Wahrheiten findet die weltanschauliche Dislozierung durch terminologische Setzungen statt: hier die natürliche Religion, dort der Atheismus. Wer ein lebendiges Erkenntniß von Gott hat, dem eignet man billig eine Religion zu: und soferne dieses Erkenntniß durch die natürliche Kraft der Vernunft zu erhalten ist, nennet man es eine natürliche Religion. Man gedenket sich aber Gott, nach dieser natürlichen Religion, als das erste, selbständige, nothwendige und ewige Wesen, welches die Welt, nebst allem, was darinn ist, durch seine Weisheit, Güte und Macht geschaffen hat, und beständig erhält und regieret; uns Menschen aber besonders, in gewisser Ordnung, nicht nur in diesem Leben, sondern auch vornehmlich in einem darauf folgenden, zu einer höheren und unaufhörlich wachsenden Vollkommenheit und Glückseligkeit bestimmt hat. Ein solches Erkenntniß von Gott wird an sich lebendig, das ist, wirksam seyn,155 und eine vergnügende Einsicht in den Zusammenhang der Dinge, einen willigen Trieb zur Tugend und Pflicht, und eine ungestöhrte Zufriedenheit des Gemüths zu Wege bringen. Hergegen ist der Hauptsatz aller derjenigen, die keine Religion haben, und keinen Gott annehmen: die körperliche Welt und deren Natur sey das erste, selbständige, nothwendige, Wesen, und ausser derselben sey weiter nichts; wodurch denn zugleich Verstand, Absicht, Weisheit, Vorsehung, von der Einrichtung und den Begebenheiten der Welt gänzlich ausgeschlossen, alles einem wüsten Ungefähr, oder einer blinden Nothwendigkeit überlassen, und die ganze Dauer und Glückseligkeit der Menschen in dieses kurze und sinnliche Leben eingeschränket wird.156

|| 154 Anonymus [Philipp Gabriel Hensler]: Reimarus vornehmste Wahrheiten der natürlichen Religion in zehen Abhandlungen auf eine begreifliche Art erklärt und gerettet. Dritte verbesserte und stark vermehrte Auflage. 1766. 8vo 2 Alph. 4 Bogen. In: Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 8, 2. Stück (1769), S. 276f., hier S. 276. 155 Vgl. Reimarus: Vernunftlehre (s. Anm. 20), S. 411, § 200. 156 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 1f.

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Mit diesen Zeilen werden nicht nur der weltanschauliche Horizont der nachfolgenden Abhandlungen abgesteckt, sondern auch theologisch-religiöse und anthropologische Prämissen benannt. Immer dann, wenn die »wirkenden Ursachen an sich nicht verständlich sind«, verweist die Naturlehre »auf eine höhere Wissenschaft, die man mit ihr verbinden müsse« – die natürliche Religion.157 Danach ist der Gott der natürlichen Erkenntnis in kosmologischer Perspektive das »erste, selbständige, nothwendige und ewige Wesen«. Seine Weisheit, Güte und Macht ließen ihn die Welt erschaffen, beständig erhalten und regieren. Zudem habe er, das nun in anthropologischer Perspektive, die Menschen dazu bestimmt, sich im Dies- wie auch im Jenseits in einer »gewisse[n] Ordnung« fortwährend zu vervollkommnen und der Glückseligkeit teilhaftig zu werden – von Heil und Heilsordnung spricht Reimarus nicht, und das sicher nicht unbedacht.

5 Man dürfe, schreibt von Kempski einleitend zu den Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere in unverkennbar apologetischer Absicht, »nicht vergessen, daß [...] eine mechanistische Erklärung der Zweckmäßigkeit tierischen Instinktverhaltens außer auf Linien, die Reimarus mit guten Gründen verwerfen durfte, nicht möglich war.«158 Genauso wenig dürfe vergessen werden, dass Darwins Origins of Species erst etwa hundert Jahre später erschienen sei, weshalb für Reimarus »freilich auch nicht die Möglichkeit gegeben [war], einem Entwicklungsprozeß im Reiche des Organischen einen Zweck, ein Ziel unterzuschieben«. Angesichts dessen könne man festhalten, »daß der Rahmen, in den Reimarus seine ›Ethologie‹ gestellt hatte, der Forschung alle Möglichkeiten offen ließ«.159 Diese Bewertung scheint ergänzungsund korrekturbedürftig, nicht nur, weil sie den Reimarus nicht genehmen Forschungsbemühungen und -leistungen nicht die ihnen, vor allem auch im Rückblick, gebührende Wertschätzung zukommen lässt, sondern auch der seinerzeit weltanschaulich aufgeheizten Situation nicht gerecht wird, aus der allein die zuweilen aggressive Polemik der Vornehmsten Wahrheiten allererst verständlich wird. Und wenn von Kempski behauptet, Reimarus habe mit seiner Triebschrift keine auch nur »halbtheologische Absicht« verfolgt, so ist das schlichtweg falsch.160 Ebenso diskussionswürdig scheint Schröders Einlassung, wonach die Zurückweisung der theistischen Schöpfungslehre seitens der Materialisten zugleich deren Rückfall hinter die

|| 157 Ebd., S. 295f. 158 Jürgen von Kempski: Hermann Samuel Reimarus als Ethologe. In: Reimarus: Allgemeine Betrachtungen (Anm. 3), Bd. 1, S. 21–56, hier S. 50. 159 Ebd., S. 50. 160 Ebd., S. 44f.

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moderne Wissenschaft bedeutet hätte: hier der naturwissenschaftskonforme Theismus, dort die Atheisten mit ihrem Rückgriff auf ›überholte Theorien‹.161 Die französischen Materialisten suchten sich entsprechend ihres Wissenschaftsparadigmas der Phänomene konsequent monistisch zu nähern; alles sollte sich unter Rückgriff auf Wirkursachen mechanistisch erklären und beschreiben lassen. Geist ist danach nichts genuin anderes, Übernatürliches, sondern ebenso Natur, nur eben sublimierte. Daraus folgt u. a., dass es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Mensch und Tier gibt. Reimarus’ Anthropologie gibt sich im Gegensatz zur naturalistischen der französischen Materialisten engagiert und mit Verve als eine genuin religiöse zu erkennen, und zwar insofern, als er nicht nur das Dasein und ›Schicksal‹ des Menschen in Abhängigkeit vom Wesen und Wirken einer Gottheit auffasst, sondern auch die Einzigartigkeit und Weiterexistenz der Seele sowie die gesamte kosmische Sinnstiftung, die menschliche eingeschlossen, daran knüpft. Der Mensch ist seiner Bestimmung nach religiös, ein Anthropinon, das seit der Antike für den Menschen im Unterschied zum Tier reklamiert wird. Es ist gleichsam eine ›Anthropologie von oben‹, wo die Zweck- bzw. Finalursachen die Kausalursachen ersetzen, der immanent argumentierenden mechanistisch-monistischen ›Anthropologie von unten‹ entgegengesetzt. Neben dem Anthropinon der Religiosität macht Reimarus weitere Anthropina geltend: die Sprache, die Vernunft, die Vervollkommnungsfähigkeit, die Moralität, die Instinktarmut, den Kulturenpluralismus. Als Deist resp. Naturalist geht Reimarus von der Suffizienz der natürlichen Religion aus und bestreitet eine irgendwie geartete Heilsnotwendigkeit einer Offenbarungsreligion. Während der Atheist aber glaube, die Unsterblichkeit mit dem Hinweis, die Tugend belohne sich auf Erden selbst schon genugsam, abweisen zu dürfen – so Spinoza162 ‒ widerspricht dem Reimarus entschieden:163 Wenn la Mettrie nachdem er den Menschen erst zur Maschine,164 hernach zur Pflanze165 gemachet hatte, sein letzteres Buch vom glücklichen Leben,166 l’Homme bète & plus que bète betitelt hätte, so würde er den Inhalt am richtigsten entdeckt haben: und keine Vorstellung ist geschickter, den Menschen endlich durch solche Stufen auch zum Menschen zu machen, in-

|| 161 Schröder: Ursprünge des Atheismus (s. Anm. 15), S. 84, 86, 296–320. »Die ›Hypothese Gott‹ war erforderlich, und deshalb konnten die Versuche, ohne sie eine Kosmologie, eine Reduktion psychischer Phänomene auf materielle Prozesse oder eine nichtkreationistische Erklärung des Ursprungs des Lebens zu leisten, nur scheitern« (ebd., S. 320). 162 Baruch de Spinoza: Ethik. 5. Teil. Prop. 42. 163 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 721f. Vgl. Petersen: B. H. Brockes (s. Anm. 10), S. 191. 164 L’homme machine. Berlin 1748. 165 L’homme plante. Potsdam 1748. 166 Traité de la vie heureuse par Sénèque avec l’Antisénèque, ou Discours sur le bonheur. Berlin 1748.

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dem er hierdurch in sich schlagen und erkennen muß, wie weit wir verfallen würden, wenn wir ohne Religion wären.167

Der Atheismus ist »gerade gegen aller Menschen Natur, und gegen den allgemeinen Zweck, der uns eingepflanzet ist«, da er alle Moral aufhebe und menschliches Leben und Zusammenleben verunmögliche.168 Es würde ihn zudem in unlösbare Widersprüche verwickeln: »Es ist nicht möglich, daß ein Atheist seinem Verstande Genüge thun, und den inneren Widerspruch seiner Meynung nicht empfinden sollte; geschweige, wenn er sich Regeln des Lebens gemachet hat, welche aller natürlichen Ehrbarkeit entgegen laufen.«169 Als Deist widerspricht Reimarus dem gängigen Prinzip, wonach es vor allem auf den (Offenbarungs)Glauben ankomme und nicht auf die Moral, die ›guten Werke‹. Er betont vielmehr den Vorrang der Moral vor dem Glauben, dem er allenfalls noch eine subsidiäre Funktion zuzuerkennen vermag.170 Gewöhnlich begründete man die Notwendigkeit und den Vorrang des Offenbarungsglaubens damit, dass die Offenbarung nicht nur die moralischen, sondern auch gottesdienstlichen Pflichten beinhalte und dass allein der Glaube den durch die Erbsünde nicht nur moralisch, sondern auch intellektuell korrumpierten Menschen Heilsgewissheit verschaffen könne. Denn sowohl die Tatsache, dass der Intellekt zerrüttet ist und der Mensch daher an der adäquaten Erkenntnis seiner moralischen Pflichten ohne Offenbarungsbelehrung gehindert ist, als auch der Umstand, dass Moral und Glückseligkeit selten im Diesseits zusammentreffen und der Mensch dafür der Verheißung künftiger Gerechtigkeit bedarf, machen den Offenbarungsglauben heilsnotwendig. Indem der Deist Reimarus die Heilsnotwendigkeit des Glaubens bestreitet, stattdessen an ihre Stelle die Moralität und an die Stelle des Glaubenszwanges die Glaubenstoleranz setzt und damit einhergehend die Moral aus der Religion löst, bestimmt er das Verhältnis von Glauben und Moralität völlig neu. Die Moral bedarf der Religion nicht; ihre Möglichkeit erwächst aus der Freiheit, ihre Verbindlichkeit aus der Vernünftigkeit oder dem moralischen Sinn (moral sense). Nicht mehr das gläubige, sondern das moralische Subjekt bildet den Nukleus seiner Überlegungen.171 Die Moral verliert ihren unmittelbaren Bezug auf das Göttliche: Moralische Pflichten hat der Mensch nicht mehr Gott, sondern nur noch den Mitmenschen gegenüber. Der

|| 167 Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten (s. Anm. 1), S. 735f. 168 Ebd., S. 737. 169 Ebd., S. 738f. 170 Das allgemeine Festhalten am Offenbarungsglauben erklärt sich aus der Einsicht, dass viele Menschen Mühe haben, das moralische Gesetz um seiner selbst willen zu achten, stattdessen aber kein Problem damit haben, es Gott zuliebe zu achten. 171 Henning Graf Reventlow: Das Arsenal der Bibelkritik des Reimarus. Die Auslegung der Bibel, insbesondere des Alten Testaments, bei den englischen Deisten. In: Hermann Samuel Reimarus (s. Anm. 5), S. 44–65, hier S. 48.

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Mensch hat in sich einen Begriff vom Guten, von Gott und seinem Gesetz. Darin besteht seine Gottesebenbildlichkeit (imago dei). Seine Unvollkommenheit kommt nun darin zum Ausdruck, dass er dem Begriff vom Guten nur ungenügend gerecht wird. Die überkommene Religion wird von ihm später in der Schutzschrift vernunftkritisch gemustert, von ihren abergläubischen und der Moral entgegenstehenden Gehalten gereinigt und erscheint dann, beschränkt auf ihre moralischen Gehalte, als natürliche Religion.172 Dennoch bleibt, wie Reimarus illustriert, der theologische, auch der physikotheologische resp. deistische Atheismusdiskurs noch bestimmt von der Werk-Glaubens-Einheit, d. h. nur wer rechtfertigenden Glaubens (fides iustificans) ist, kann gute Werke vollbringen.173 Aufschlussreich ist neben dem, was Reimarus in den drei großen Abhandlungen der fünfziger und sechziger Jahre niedergelegt hat, auch das, was er nicht gesagt hat. So scheint Reimarus keinen von der Erbsünde korrumpierten Menschen, keinen homo peccator mehr anzunehmen. Das bedeutet zugleich, dass der Mensch im Verständnis Reimarus’ kein erlösungsbedürftiges Mängelwesen ist. Er ist vielmehr von Gott mit allem Notwendigen aufs Beste versehen, nicht vollkommen, aber vervollkommnungsfähig, und zwar aus sich heraus. Damit ist auch kein Erlöser, kein Jesus Christus mehr vonnöten. Ohne Adam kein Christus, könnte man sagen. Das die Verschiedenheit der prä- und postlapsarischen, endlich von Christus entschuldeten Menschheit versinnbildlichende Schema ›Unschuld – Schuld – Sühne – Erlösung‹ hat sich gleichsam in Nichts aufgelöst. Reimarus’ religiöse, d. h. deistische Anthropologie ähnelt daher in vielem der den raumzeitlich stets gleichbleibenden Menschen untersuchenden, philosophisch-naturwissenschaftlichen Anthropologie. Die Unterschiede zwischen der philosophisch-naturwissenschaftlichen und religiösen Anthropologie Reimarus’ sind dennoch handgreiflich: Sein Naturbegriff ist im Schöpfungsbegriff aufgefangen. Reimarus beharrt auf der Annahme eines extramundanen Gottes, auf der Endlichkeit der Welt, ihrem Anfang und ihrem Ende, auf der Vorsehung Gottes und der Unsterblichkeit der Seelen. Gleichwohl bleibt die Natur endlich und unveränderlich. Phylogenetische Entwicklungen bleiben genauso ausgeschlossen wie Emergenzen des Organischen aus Anorganischem, des Vitalen aus Mechanischem, des Geistigen aus Materiellem. Diese religiöse Einbettung und damit Einschränkung trug meines Erachtens dazu bei, dass dieser Anthropologie- und Wissenschaftskonzeption eine längerfristige Wirkung versagt blieb.

|| 172 Matthew Tindal: Christianity as old as the creation, or the Gospel a republication of the religion of nature. London 1730, S. 298 (Beweis, daß das Christenthum so alt als die Welt sey, nebst Herrn Jacob Fosters Widerlegung desselben. Beydes aus dem Englischen übersetzt [von Lorenz Schmidt]. Frankfurt a. M., Leipzig, 1741). Vgl. dazu Günter Gawlick: Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Aufklärung. In: Hermann Samuel Reimarus (s. Anm. 5), S. 33–36 und Reventlow: Das Arsenal der Bibelkritik (s. Anm. 171), S. 49, 57. 173 Hans Martin Barth: Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert. Göttingen 1971, S. 83ff.

| 4 Anhang

Zeittafel 22. Dezember 1694

Hermann Samuel Reimarus wird als erstes Kind von Nikolaus Reimarus (1663–1724) und Johanna Wetken (1664–1727) in Hamburg geboren

1708

Schulbesuch an der Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg, an der auch sein Vater als Gymnasiallehrer unterrichtet

1710

Schulbesuch am Akademischen Gymnasium in Hamburg, wo er seine Ausbildung in klassischer Philologie u. a. bei Johann Albert Fabricius (1668–1736) und in Orientalistik u. a. bei Johann Christoph Wolf (1683–1739) erhält

1714

Studium der Theologie, Philosophie und der orientalischen Sprachen an der Universität Jena, v. a. bei Johann Franz Budde (1667–1729), Johann Matthias Gesner (1691– 1761) und Andreas Rüdiger (1673–1731)

Herbst 1716

Reimarus wechselt an die Universität Wittenberg

1717/18

Ernennung zum Magister Legens, vier Dissertationes De differentiis vocum Hebraicarum

November 1719

Habilitation mit der Arbeit Dissertatio schediasmati Machiavellismo ante Machiavellum

1720–1722

Reimarus unternimmt eine Reise (»peregrinatio academica«) in die Niederlande (Leiden) und nach England (London, Oxford), die vor allem philologischen Studien dient

1722

Berufung zum Adjunkten der Philosophischen Fakultät der Universität Wittenberg

1723

Rektor der Stadtschule in Wismar

1727

Antritt einer Professur für Hebräisch und die übrigen orientalischen Sprachen (»Publicus Hebraea et reliquarum linguarum Orientalium«) am Akademischen Gymnasium in Hamburg

1728

Hochzeit mit Johanna Friederike Fabricius (1707–1783)

1729

Geburt des Sohnes Johann Albert Hinrich Reimarus († 1814, späterer Naturforscher und Arzt in Hamburg, Herausgeber von Neuauflagen der Vornehmsten Wahrhei-

https://doi.org/10.1515/9783110726558-017

388 | Zeittafel

ten, der Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Tiere und einiger Nachlassschriften nach dem Tod seines Vaters) 1734

Endbearbeitung und Herausgabe von Johann Adolf Hoffmanns (1676–1731) Neue Erklärung des Buchs Hiob

1735

Geburt der Tochter Margaretha Elisabeth Reimarus († 1805, spätere Schriftstellerin und Salonnière in Hamburg)

1736

Tod des Schwiegervaters Johann Albert Fabricius, Reimarus ist der Alleinerbe, vor allem auch einer großen Bibliothek; in dieser Zeit entstehen die ersten Entwürfe seiner Bibelkritik (Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes), an der er seitdem kontinuierlich bis kurz vor seinem Tod arbeitet

1740

Geburt der Tochter Hanna Maria Reimarus († 1819, spätere Ehefrau des Kaufmanns Hermann Thorbecke in Bremen)

1750/1752

Herausgabe von Cassius Dios Römische Geschichte (Των Διωνος Του Κασσιου Του Κοκκηιανου Ρωμαικων Ιστοριων Τα Σωζομενα / Cassii Dionis Cocceiani Historiae Romanae quae supersunt. 2 Bde.)

1751

Reimarus’ Vorlesungen über hebräische Philologie fallen wegen Mangels an Hörern aus; er lehrt stattdessen Philosophie, besonders praktische Philosophie, auch Ökonomie

1754

Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen erscheinen in Hamburg in erster Auflage

1755

Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der Ekenntniß der Wahrheit erscheint in Hamburg in erster Auflage

1758

eine niederländische Übersetzung der Vornehmsten Wahrheiten erscheint in Leiden

1760

Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere, hauptsächlich über ihre Kunst-Triebe erscheint in erster Auflage in Hamburg; Reimarus wird Ehrenmitglied der

Zeittafel | 389

Russischen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg 1761

Reimaurs lehnt einen Ruf an die Universität Göttingen als Nachfolger auf Gesners Professur für Poesie und Beredsamkeit ab; eine erste niederländische Übersetzung der Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Tiere erscheint in Leiden

1765

Mitbegründer der Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe (»Patriotische Gesellschaft von 1765«)

1766

die dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage der Vornehmsten Wahrheiten und die dritte, überarbeitete und »zu Vorlesungen eingerichtete« Auflage der Vernunftlehre erscheinen in Hamburg; eine erste englische Übersetzung der Vornehmsten Wahrheiten erscheint in London

1. März 1768

Reimarus stirbt in Hamburg; im selben Jahr erscheint noch eine erste französische Teilübersetzung der Vornehmsten Wahrheiten

1774

Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) gibt das erste »Fragment« von Reimarus’ Apologie unter dem Titel Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten heraus

Siglenverzeichnis AA

Kantʼs gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. (AA Band, Seitenzahl)

CPH

Christian August Crusius: Die philosophischen Hauptwerke. 4 Bde. Hg. von Sonia Carboncini und Reinhard Finster. Hildesheim 1964‒1987. (CPH Band, Seitenzahl)

FA

Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. 40 Bde. Hg. von Hendrik Birus u. a. Frankfurt a. M. 1989‒ 2013. (FA Band, Seitenzahl)

G

Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. 7 Bde. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Berlin 1875‒1890 [ND Hildesheim 1961]. (G Band, Seitenzahl)

GGW

Christian Garve: Gesammelte Werke. 17 in 19 Bden. Hg. von Kurt Wölfel. Hildesheim, Zürich, New York 1985–2000. (GGW Band, Seitenzahl)

HT

David Hume: A Treatise of Human Nature. Ed. by David Fate Norton and Mary J. Norton. Oxford University Press 2000.

HW

Johann Gottfried Herder: Werke. 3 Bde. Hg. von Wolfgang Proß. Darmstadt 1984– 2002. (HW Band, Seitenzahl)

JBW

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel – Nachlaß – Dokumente. Hg. von Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen. Stuttgart 1981ff. (JBW Band, Seitenzahl)

JWA

Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. Hamburg, Stuttgart 1998ff. (JWA Band, Seitenzahl)

LPS

Johann Heinrich Lambert: Philosophische Schriften. 10 Bde. Begonnen von Hans Werner Arndt, fortgeführt von Lothar Kreimendahl. Hildesheim 1965–2008 sowie 2 Suppl.-Bde. Hildesheim 2020 [Johann Heinrich Lamberts Monatsbuch. Neu hg., eingel., komment. und mit Verzeichnissen zu Lamberts Schriften, Briefen und nachgelassenen Manuskripten versehen von Niels W. Bokhove und Armin Emmel]. (LPS, Band, Seitenzahl bzw. LPS Suppl., Band, Seitenzahl)

LW

Gotthold Ephraim Lessing: Werke in 8 Bänden. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. München 1970‒1979 [Darmstadt 1996]. (LW Band, Seitenzahl)

MGS

Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von Alexander Altmann, Michael Brocke, Eva J. Engel und Daniel Krochmalnik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1972ff. (MGS Band, Seitenzahl)

SSW

Baruch de Spinoza: Sämtliche Werke Lateinisch-deutsch. Hg. von Wolfgang Bartuschat u. a. Hamburg 1982ff. (SSW Band, Seitenzahl)

https://doi.org/10.1515/9783110726558-018

392 | Siglenverzeichnis

TAW

Christian Thomasius: Ausgewählte Werke. Nachdruck der Originalausgaben. Hg. von Werner Schneiders und Frank Grunert. Hildesheim, Zürich, New York 1993ff. (TAW Band, Seitenzahl)

WGW

Christian Wolff: Gesammelte Werke. Nachdruck der Originalausgaben. Hg. von Jean Ecole u. a. Hildesheim, Zürich, New York 1965ff. (WGW Abteilung, Band, Seitenzahl)

WOA

Christoph Martin Wieland: Werke. (Oßmannstedter Ausgabe.) Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. Berlin, New York 2008ff. (WOA Band, Seitenzahl)

WP

Werkprofile. Philosophen und Literaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Frank Grunert, Stefan Klingner, Udo Roth und Gideon Stiening. Berlin, New York 2011ff. (WP Band, Seitenzahl)

Bibliografie 1 Reimarus’ Schriften HBG Hamburgische Berichte von den neuesten Gelehrten Sachen KGS Hermann Samuel Reimarus: Kleine gelehrte Schriften. Vorstufen zur Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (Veröffentlichungen der Joachim JungiusGesellschaft der Wissenschaften Hamburg 79). Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Göttingen 1994

1.1 Monografien Q. D. B. V. Auspiciis Rectoris Magnificentissimi Serenissimi Principis Regii Dn. Friderici Augusti Electoratus Saxon. Heredis, Etc. De Differentiis Vocum Hebraicarum. Ad D. XXVI. Maji A. O. R. MDCCXVII. Sub Praesidio Io. Christophori Wichmannshausen, LL. OO. Prof. Publ. Facult. Phil. Senioris, et Biblioth. Acad. Directoris, prima vice, publice disputabit, Auctor, M. Herman Sam. Reimarus, Hamburgensis. In Auditorio Majori. Wittenberg 1717. (Unter dem Titel »Dissertat. I.« auch in: Hermanni Sam. Reimari De Differentiis Vocum Hebraicarum Dissertationes Tres, Witteberg. 1717 Et 1718. In: Ernestus Fridericus Carolus Rosenmueller [Hg.]: Commentationes Theologicae. Bd. 2, Tl. 2. Leipzig 1832, S. 207–297, hier S. 207–268.) Q. D. B. V. Auspiciis Rectoris Magnificentissimi Serenissimi Principis Regii Dn. Friderici Augusti Electoratus Saxon. Heredis, Etc. De Differentiis Vocum Hebraicarum. Ad D. XXIX. Maji A. O. R. MDCCXVII. Secunda vice disputabunt Praeses M. Herman Sam. Reimarus, Hamburgensis. et Respondens Meinhardus Plesken, Bremensis. Wittenberg 1717. (Unter dem Titel »Dissertat. II.« auch in: Hermanni Sam. Reimari De Differentiis Vocum Hebraicarum Dissertationes Tres, Witteberg. 1717 Et 1718. In: Ernestus Fridericus Carolus Rosenmueller [Hg.]: Commentationes Theologicae. Bd. 2, Tl. 2. Leipzig 1832, S. 207–297, hier S. 268–281.) Q. D. B. V. Auspiciis Rectoris Magnificentissimi Serenissimi Principis Regii Dn. Friderici Augusti Electoratus Saxon. Haeredis Etc. Etc. Disputationem De Differentiis Vocum Hebraicarum Ad D. XXVII. Jul. A. O. R. M DCC XVIII. Publico Eruditorum Examini Subjicient Praeses M. Hermannus Samuel Reimarus Et Respondens Joachim Bertram Borgeest Hamburgenses. Wittenberg 1718. (Unter dem Titel »Dissertat. III.« auch in: Hermanni Sam. Reimari De Differentiis Vocum Hebraicarum Dissertationes Tres, Witteberg. 1717 Et 1718. In: Ernestus Fridericus Carolus Rosenmueller [Hg.]: Commentationes Theologicae. Bd. 2, Tl. 2. Leipzig 1832, S. 207–297, hier S. 281– 297.) Q. D. B. V. Auspiciis Rectoris Magnificentissimi Serenissimi Principis Regii Dn. Friderici Augusti Electoratus Sax. Haeredis Etc. Etc. Disputationem De Differentiis Vocum Hebraicarum Ad D. XXVII. Aug. A. O. R. MDCCXVIII. Publico Eruditorum Examini Subjicient Praeses M. Hermannus Samuel Reimarus Et Respondens Magnus Henricus Ibenthal Hamburgenses. Wittenberg 1718. Q. D. B. V. Dissertatio Schediasmati De Machiavellismo Ante Machiavellum Praemissa Qua Sibi Locum Inter Ampliss. Philosophorum Ordinis Assessores Benevole Concessum Vindicat M. Herman Samuel Reimarus Respondente Davide Mente Hamburgensi. In Auditorio Majori D. [...] Novemb. A. M DCC XIX. Wittenberg 1719. (Auch in KGS, S. 69–130.)

https://doi.org/10.1515/9783110726558-019

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Herm. Sam. Reimari P. P. De Vita Et Scriptis Joannis Alberti Fabricii Commentarius. Accedunt Argumenta Historico-Critica Ex Epistolis Viror. Claror. Ad Fabricium, Praeterea Pl. Rev. Christiani Kortholti Parentatio Lipsiensis Et Variorum Epicedia. Hamburg 1737 (Biografie). Bibliothecae Beati Jo. Alb. Fabricii S. S. Theol. Doct. P. P. Hamb. Pars I. Mense Febr. A. M DCC XXXVIII. Solenni auctionis lege distrahenda in Aedibus B. Possessoris. Hamburg [1737] (Versteigerungskatalog). Bibliothecae Beati Jo. Alb. Fabricii SS. Theol. Doct. P. P. Hamb. Pars II. Die Mensis Augusti XVII. et sequentibus hujus anni M DCC XXXIX. solenni auctionis lege distrahenda in Aedibus B. Possessoris. Hamburg 1739 (Versteigerungskatalog). Bibliothecae Beati J. A. Fabricii SS. Theol. Doct. P. P. Hamb. Pars III. Post Partem Secundam Hoc Anno MDCCXXXIX. Solenni Auctionis Lege Vendenda In Aedibus B. Possessoris. Hamburg 1739 (Versteigerungskatalog). Bibliothecae Beati J. A. Fabricii SS. Theol. Doct. P. P. Hamb. Pars IV. et ultima Seu Sectio X. Libros Miscellos, Aliosque Residuos Varii Generis, itemque MSStos: Tum Et Icones Apparatumque Instrumentorum Mathematicorum, Naturalium Et Arte Factorum complexa. Accedit gemina Appendix selectorum librorum qui cum Fabricianis lege auctionis vendentur Hamburgi a die XXV. Sept. anni MDCCXLI. In aedibus Herm. Sam. Reimari P. P. Hamburg 1741 (Versteigerungskatalog). Catalogus auserlesener und wohl-conditionirter mehrentheils theologischer und philologischer Bücher (worunter auch ein Corpus Hist. Byzantinae) welche als ein Appendix von dem letzten Theil der Fabricischen Bibliothec gleich nach Michaelis in Hamburg in Prof. Reimari Behausung hinter St. Petri sollen verkauft werden. / Appendix Nützlicher und wohl-conditionirter Bücher, welche gleich nach geendigter Auction von Ao. 1741 in dem Reimarischen Hause sollen verkauft werden. Hamburg 1741 (Doppelter Anhang zum vierteiligen Versteigerungskatalog der Bibliothek von Johann Albert Fabricius). De Legibus Mosaicis Ante Mosen Cogitationes Herm. Sam. Reimarus P. P. Et Christianus Ziegra Hamb. Publico Examini In Gymnasio Hamburgensi Ad D. XI. April. A. M DCC XLI. Subiicient. Hamburg 1741. (Unter dem Titel »Cogitationes de Legibus Mosaicis ante Mosen« auch in Johannes Kaspar Velthusen, Christian Theophil Kuinoel [Hg.]: Commentationes Theologicae. Bd. 6. Leipzig 1799, S. 1–74.) De Assessoribus Synedrii M. LXX. Linguarum Peritis In Celebritate Gymnasii Hamburgensis Postquam A Fundamentis Restauratum Erat Rite Dedicati Herm. Samuel Reimarus LL. OO. Professor Et Jo. Alb. Henr. Reimarus Gymnasii Civis Publice Disputabunt D. XVIII. Martii. A. P. C. N. MDCCLI. Hamburg 1751. (Auch in David Julius Pott, Georgius Alexander Rupertus [Hg.]: Sylloge Commentationum Theologicarum. Bd. 2. Helmstedt 1801, S. 300–343; deutsche Inhaltsangabe, womöglich von Reimarus selbst verfasst, in: HBG 20 [1751], Stück 25 [26. März], S. 195– 198.) Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandelungen [ab der 2. Aufl.: Abhandlungen] auf eine begreifliche Art erkläret und gerettet von Hermann Samuel Reimarus Professor in Hamburg. Hamburg 1754. (2., »verbesserte« Aufl. Hamburg 1755; 3., »verbesserte und stark vermehrte« Aufl. Hamburg 1766; 4., »verbesserte und stark vermehrte« Aufl. Hamburg 1772; 5., von Johann Albert Hinrich Reimarus hg. Aufl. Hamburg 1781; 6., von Johann Albert Hinrich Reimarus hg. Aufl. Hamburg 1791; Neuausgabe der 3. Aufl., hg. von Günter Gawlick unter Mitarbeit von Michael Emsbach und Winfried Schröder, im Rahmen der Gesammelten Schriften. Göttingen 1985.) Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in der [ab der 2. Aufl.: dem] Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Wiederspruchs [ab der 3. Aufl.: Widerspruchs] hergeleitet von H. S. R. P. I. H. [ab der 4. Aufl.: Hermann Sam. Reimarus, Professor in Hamburg]. Hamburg 1756 (richtig: 1755). (2., »verbesser-

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te und mehr zu Vorlesungen eingerichtete« Aufl. Hamburg 1758; 3., »verbesserte und zu Vorlesungen eingerichtete« Aufl. Hamburg 1766; 4., »zu Vorlesungen eingerichtete« Aufl. Hamburg, Kiel 1782; 5., »zu Vorlesungen eingerichtete« Aufl. Hamburg, Kiel 1790; Neuausgabe der 1. und 3. Aufl., hg. von Frieder Lötzsch, im Rahmen der Gesammelten Schriften. München 1979). Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunst-Triebe: zum Erkenntniß des Zusammenhanges der Welt, des Schöpfers und unser selbst, vorgestellt von Hermann Samuel Reimarus, Professor in Hamburg. Hamburg 1760. (2. Aufl., »welche mit einem Anhange vermehret worden«. Hamburg 1762; 3. Aufl. Hamburg 1773; Nachdruck der 3. Aufl. Wien 1790; 4., von Johann Albert Hinrich Reimarus hg. Aufl. Hamburg 1798; Neuausgabe der 2. Aufl., hg. von Jürgen von Kempski unter Mitarbeit von Stefan Lorenz und Winfried Schröder, im Rahmen der Gesammelten Schriften. Göttingen 1982.)

1.2 Beiträge in Zeitschriften und Büchern Marci Minucii Felicis et Nicolai Contareni Philosophemata de Fato, notulis quibusdam illustrata. In: Iusti Sinceri Vermischte Neben-Stunden, Darinnen allerhand Observationes, Von Verschiedenen Zur Theologie, Philosophie, und Litteratur, gehörigen Sachen, enthalten sind. Stück 1. Wismar 1724, S. 8–19. (Anonym erschienen.) De Natura Infiniti Mathematici Observatio M. Herm. Sam. Reimari. Rect. Sch. Wism. In: Iusti Sinceri Vermischte Neben-Stunden, Darinnen allerhand Observationes, Von Verschiedenen Zur Theologie, Philosophie, und Litteratur, gehörigen Sachen, enthalten sind. Stück 3. Wismar 1724, S. 135–167. (Auch in KGS, S. 207–232.) Quatenus virtus facilis dici possit? disputat M. Hermannus Samuel Reimarus. L. W. R. In: Iusti Sinceri Vermischte Neben-Stunden, Darinnen allerhand Observationes, Von Verschiedenen Zur Theologie, Philosophie und Litteratur, gehörigen Sachen, enthalten sind. Stück 5. Wismar 1725, S. 277–325. (Auch in KGS, S. 233–273.) Vorab-Rezension zu Theodor Gutke: Betrachtungen über die in der Augspurgischen Confeßion enthaltene und damit verknüpfte Göttliche Wahrheiten etc. Erster Theil, welcher nunmehro in Frage und Antwort abgefaßet ist von Theod. Gutke. Berlin 1736. In: HBG 4 (1735), Nr. 83 (18. Okt.), S. 674f. (Anonym erschienen.) »Hamburg«. In: HBG 5 (1736), Nr. 2 (6. Jan.), S. 9–16, und Nr. 3 (10. Jan.), S. 17f. (Besprechung einer Zuschrift zur Wertheimer Bibel, anonym erschienen.) (Auch in Johann Lorenz Schmidt [Hg.]: Samlung derienigen Schriften welche bey Gelegenheit des wertheimischen Bibelwerks für oder gegen dasselbe zum Vorschein gekommen sind, mit Anmerkungen und neuen Stücken aus Handschriften vermehrt heraus gegeben. Frankfurt a. M., Leipzig 1738, S. 181–187, und in KGS, S. 299–309.) Rezension zu Johann Lorenz Schmidt [anonym]: Beantwortung verschiedener Einwürfe welche von einigen Gottesgelehrten gegen die freye Uebersetzung der göttlichen Schriften sind gemacht worden ausgefertiget durch den Verfasser derselben. Wertheim 1736. In: HBG 5 (1736), Nr. 85 (23. Okt.), S. 761–772. (Anonym erschienen.) (Auch in Schmidt [Hg.], Sammlung derienigen Schriften, S. 428–437, und in KGS, S. 310–323.) Hermanni Samuelis Reimari Linguar. Orientalium In Gymnas. Hamb. Prof. Publ. De Optima Ratione Discendi Docendique Elementa Linguae Latinae Dissertatio. In: Fridericus Andreas Hallbauer (Hg.): Exercitationes Societatis Latinae Quae Ienae Est Vulgatae Ab Eius Directore Friderico Andrea Hallbauero Theol. Doctore Et Prof. P. O. Bd. 2. Leipzig 1743, S. 135–148. Coluthus edente Stephano Ubelo Franequerae apud Aegid. Radaeum cum MSS. collatus. In: Johannes Daniel van Lennep (Hg.): Κολούθου Ἁρπαγὴ Ἑλένης. Coluthi Raptus Helenae. Recensuit Ad Fidem Codicum MSS. Ac Variantes Lectiones Et Notas Adiecit Joannes Daniel a Lennep.

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Accedunt Eiusdem Animadversionum Libri Tres Tum in Coluthum, tum in nonnullos alios Auctores. Leeuwarden 1747, S. 198–203. Lectori Φιλοβίβλῳ S. D. Hermannus Sam. Reimarus [Vorwort]. In: Catalogus Librorum Et Collectionum Cuiuslibet Facultatis Ac Scientiae Quas Suo Studio Distincte Ac Systematice Digestas Et Compositas In Bibliotheca Sua Habuit Beatus Michael Richey Prof. Publ. Hamb. 4 Bde. Hamburg 1762/63, hier Bd. 1: Bibliothecae Pars I. Quae Offert Libros Theologicos Et Iuridicos D. XV. Mensis Martii Anno MDCCLXII In Aedibus B. Possessoris Auctionis Lege Distrahendos. Hamburg 1762, Bl. a2r–a7v. To the Authors of the Monthly Review [Leserbrief]. In: The Monthly Review Or, Literary Journal (London) 35 (1766), Appendix, S. 567–569. (Auch in Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion [Gesammelte Schriften. Hg. von Günter Gawlick. Bd. 2, S. 865–869.)

1.3 Herausgaben und Übersetzungen Mατθαίου Τοῦ Καμαριώτου Λόγοι Δύο Πρὸς Πλήθωνα, Περὶ Εἱμαρμένης. Matthaei Camariotae Orationes II. In Plethonem, De Fato. Ex Bibliotheca publica Lugduno-Batava nunc primum edidit, et latine reddidit Hermannus Samuel Reimarus, Hamburgensis. Leiden 1721. Plethonis Libellus De Fato. Ejusdemque Et Bessarionis Cardinalis Epistolae Amoebaeae de eodem argumento. Una cum Matthaei Camariotae Orationibus II. In Plethonem De Fato. Et praemissa iisdem V. Cel. Jo. Alberti Fabricii Praefatione de Camariota et Scriptis Camariotae. Ex Bodlejana et Lugduno-Batava Bibliothecis nunc primum edidit et Latine reddidit Hermannus Samuel Reimarus, Hamburgensis. Leiden 1722. (Teilabdruck unter dem Titel »Γεωργίου Γεμιστοῦ Πλήθωνος. Συγγραμμάτιον Περὶ ἑιμαρμένης. / Georgii Gemisti Plethonis Libellus De Fato. [Latine versus a Samuele Reimaro Hamburgensi]« in: Hans Conrad von Orelli [Hg.]: Alexandri Aphrodisiensis Ammonii Hermiae Filii, Plotini, Bardesanis Syri, Et Georgii Gemisthi Plethonis De Fato Quae Supersunt Graece. Ad Codicum Manuscriptorum Editionum Versionum Fidem Recensuit, Interpretationem Latinam Hugonis Grotii Et Aliorum Emendatiorem, Varietatem Lectionis Et Notas Adiecit Ioannes Conradus Orellius, Parochus Ad Templum Spiritus Sancti Et Collegii Carolini Turicensis Canonicus. Zürich 1824, S. 224–234.) Johann Adolf Hoffmanns Neue Erklärung des Buchs Hiob, darin das Buch selbst aus der GrundSprache mit dem darin liegenden Nachdruck ins Teutsche übersetzet; Hienächst aus denen Alterthümern und der Morgenländischen Philosophie erläutert; überhaupt aber die darin verborgene tieffe Weisheit gezeiget wird. Jetzo nach des Verfassers seel. Abschiede mit Fleiß übersehen, und mit einer Paraphrasi, wie auch Vorbericht von Hiobs Person, Buche und dessen Auslegern vermehret. Hamburg 1734 [richtig: 1733]. B. Jo. Alberti Fabricii SS. Theol. Doct. Et Prof. Hamburgensis Opusculorum Historico-CriticoLiterariorum Sylloge Quae Sparsim Viderant Lucem Nunc Recensita Denuo Et Partem Aucta Indice Instruuntur. Hamburg 1738. (Ohne den Namen des Herausgebers erschienen.) Specimen novae editionis Dionis Cassii. Hamburg 1748 (verschollen). Τῶν Δίωνος Τοῦ Κάσσιου Τοῦ Κοκκηιανοῦ Ρωμαικῶν Ἱστοριῶν Τὰ Σωζόμενα. Cassii Dionis Cocceiani Historiae Romanae quae supersunt. 2 Bde. Hamburg 1750 [richtig: 1749] und 1752.

1.4 Schulreden und -programmschriften Oratio II. Hermanni Samuelis Reimari, Hamburgensis. In: Joannes Albertus Fabricius (Hg.): Orationes septem, In Jubilaeo Primo Gymnasii Hamb. dictae è memoria à Totidem Ejus Civibus. In: ders. (Hg.): Jubilaeum Primum Gymnasii Hamburgensis, Cui accedit Mantissa Memoriarum

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Hamburgensium, edente Jo. Alberto Fabricio, D. Prof. Publ. et h. t. Gymnasii Rectore (Memoriae Hamburgenses 4). Hamburg 1715, S. 25–72, hier S. 34–43. M. Herm. Samuelis Reimari Primitiae Wismarienses h. e. Orationes II. Altera quidem ostendens Omnes Homines Aeque Felices Esse. habita pridie Non. Jul. cum inauguraretur ipse Rector Scholae Wismariensis. Altera vero De Genio Socratis habita XV. Kal. Aug. cum jussu Ampliss. Senatus Con-Rectorem et Sub-Rectorem ejusdem Scholae inauguraret. Wismar 1723. (Mit verkürztem Titel auch in Meinardus Tydeman [Hg.]: Syntagma Dissertationum Ad Philosophiam Moralem Pertinentium. Utrecht 1777, S. 1–64, sowie in KGS, S. 131–159 und 161–185.) Programma De Philosophiae In Re Scholastica Usu Quo Ad Orationes In Triplex Augustini Votum Ex Legato Peterseniano A Tribus Alumnis Primae Classis Habendas Ad. d. XXI. Octobr. horam 9. matut: Literarum Patronos O.O. observanter invitat M. Hermannus Samuel Reimarus, Lycei Wismariensis Rector. Wismar 1723. (Auch in KGS, S. 187–197.) Programma De Decori Cum Philosophia Morali Nexu Quo Ad Orationes De Quaestione Virtusne Facilior Sit An Vitia Ex Legato Peterseniano A Tribus Alumnis Primae Classis Habendas Ad d. 2. Novembr. horam 9. matut. Literarum Patronos O.O. observanter invitat M. Hermannus Samuel Reimarus, Lycei Wismariensis Rector. Wismar 1724. (Auch in KGS, S. 199–206.) Instinctum Brutorum Existentis Dei Ejusdemque Sapientissimi Indicem Programmate quo simul Ad Orationes Solemnes De Praestantia corporis humani prae corpore brutorum Ex Legato Peterseniano ad d. 1. Novembr: A. MDCCXXV. habendas O. O. Summe Colendi Patroni officiosissime invitantur sistit M. Hermannus Samuel Reimarus Lyc. Wism. Rect. Wismar 1725. (Auch in Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere [Gesammelte Schriften], hg. von J. v. Kempski, Bd. 2, S. 757–780 [mit deutscher Übersetzung von Michael Emsbach], und in KGS, S. 275–284.) Programma Quo Fabulam De Apibus examinat Simulque ad Orationes IV. de Religionis Et Probitatis In Republica Commodis ex Legato Peterseniano a Quatuor Alumnis Classis Primae Ad. D. XII. Sept. hor. IX. matut. habendas Literarum Patronos O. O. observanter invitat M. Hermannus Samuel Reimarus Lyc. Wism. Rect. Wismar 1726. (Auch in KGS, S. 285–298.) Programma de certitudine ex methodo mathematica non facile speranda. Quo ad IV Orationes Solemnes De Eo Quod Laudandum Est in Quatuor Praecipuarum Sectarum Philosophicarum Disciplina Morali a totidem alumnis Lycei Wism. ad d. XXVIII Augusti habendi Literarum Patronos O. O. perofficiose invitat M. Hermannus Samuel Reimarus Lyc. Wism. Rect. Wismar 1727.

1.5 Personalschriften Die Glückseligkeit eines frühzeitigen Todes wollte, als Matthias Daniel Krüsike am 16. Juni 1712 zur himmlischen Glückseligkeit einging, vorstellen […]. Hamburg 1712. Epistola gratulatoria ad S. R. Io. Christoph. Wolfium, Pastoris ad aedem S. Catharinae muneri admotum. Hamburg 1717. Lob- und Danck-Altar Welchen Dem Hoch-Ehrwürdigen, Hoch-Achtbaren und Hoch-Gelahrten Herrn Herrn Johann Hermann von Elswich Rendsburgens. Holsat. Candidato S. S. Theologiae Und bisherigen Assessori Facult. Philos. Auf der Berühmten Universität Wittenberg Jetzo beruffenem Haupt-Prediger an der Cosmae und Damiani Kirche zu Stade Als Er vor Seiner Abreise Den 27. May A. M DCC XVII. Den wohlverdienten Gradum Eines Licentiati Theologiae erhielte In schuldigster Observanz aufrichteten Dessen bisher gewesene Auditores M. Herman Samuel Reimarus, und Laurentius Frick Hamburg. Wittenberg 1717. Epistola gratulatoria ad Rutger. Rulandum honore senatorio anno 1719 potitum. Hamburg 1719.

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Immortali Memoriae Viri Summe Reverendi Amplissimi Excellentissimi Domini Petri Theodori Seelmanni Pastoris Ad Aedem S. Michaelis Scholarchae Et Ordinis Venerandi Senioris Aetate Meritisque In Rem Sacram Gravissimi Praesens Monumentum Dicat Et Ad Exequias Ejus D. VIII. Septemb. A. MDCCXXX. Cohonestandas Omnium Ordinum Viros Invitat Hermannus Samuel Reimarus LL. OO. P. P. Et H. A. Rector. Hamburg 1730. Dem rühmlichen Andencken des seeligen Herrn Johann Bernhard Brockes, widmete nachfolgendes Hr. Hermann Samuel Reimarus, der Hebräischen Sprache und anderer Morgenl. Professor. In: Johann Peter Kohl (Hg.): Ueber den Sarg eines Tugend-begabten Jünglings ausgestreuete Cypressen. Hamburg 1732, S. 71–75. Billige Trauer-Klage über das unverhoffte und frühzeitige Absterben des jungen Herrn Mattfelds. In: Johann Peter Kohl (Hg.): Die von dem Sarg eines Hoffnungs-vollen Jünglings, gesammlete Myrrthen-Blätter. Hamburg 1733, S. 6f. Monumentum Doloris Communis De Obitu Viri Summe Reverendi, Amplissimi, Et Longe Doctissimi, Johannis Alberti Fabricii, SS. Theologiae Doctoris, Et In Gymnasio Hamburgensi Eloq. Et Philos. Mor. Professoris Publ. Quod Venerando Socero Suo Ponit, Ad Exequias Ejus D. VII. Maji A. MDCCXXXVI. Frequentandas O. O. Viros Honoratissimos Officiosissime Invitans Moestus Gener Hermannus Samuel Reimarus, LL. OO. P. P. Et H. A. Gymnasii Rector. Hamburg 1736. (Auch in KGS, S. 333–350.) Pietas Erga Collegam, Virum Nobilissimum, Amplissimum, Doctissimum, Sebastianum Edzardum, Logices Et Metaphysices In Gymnasio Hamburgensi Professorem Per XXXVII. Annos Longe Celeberrimum, Ordinis Sui Seniorem Gravissimum, Qua Ad Funus Beate Defuncti D. XVIII. Junii Hujus Anni M DCC XXXVI. Frequenti Comitatu Deducendum, Communi Professorum Nomine Honoratissimos O. O. Viros Officiosissime Invitat Hermannus Samuel Reimarus, LL. OO. P. P. Et H. A. Gymnasii Rector. Hamburg 1736. Funus Viri Magnifici Nobilissimi Amplissimi Consultissimi Rutgeri Rulanti J. U. D. Et Reipublicae Hamburgensis Consulis Pleni Annis Pleni Honoribus D. XXX. Novembris Hujus Anni M DCC XLII. Decenti Pietate Et Frequentia Ducendum Observanter Indicit Hermannus Samuel Reimarus LL. OO. P. P. Et H. A. Gymnasii Rector. Hamburg 1742. Obitum Universae Civitati Lugubrem Viri Summe Reverendi Excellentissimi Amplissimi Joannis Georgii Palmii Ordinis Sacri Senioris Gravissimi Pastoris Ad DD. Petri Et Pauli Aedem Meritissimi Scholarum Inspectoris Dignissimi Pie Dolet Et Ad Exequias Ejus D. XXV. Februarii Hujus Anni M DCC XLIII. Frequenti Comitatu Celebrandas Submisse Invitat Hermannus Samuel Reimarus LL. OO. P. P. Et H. A. Gymnasii Rector. Hamburg 1743. Pietatis Officium Memoriae Viri Magnifici Amplissimi Consultissimi Johannis Julii Surlandi J. U. L. Inclutae Reipublicae Hamburgensis Primi Syndici Optime Meriti D. XXIII. Julii A. MDCCXLVIII. Vita Functi Publice Praestitum Ab Hermanno Samuele Reimaro Linguae Hebr. Et Orientalium Professore Publico Et Hoc Anno Gymnasii Rectore. Hamburg 1748. (Deutsche Fassung: Pflicht der Erkenntlichkeit, dem Gedächtnisse des Magnifici, Hochedlen und Hochgelahrten Herrn, Herrn Johann Julius Surland, der Rechte Licentiaten, der berühmten Hamburgischen Republik ersten Syndici, da Derselbe den 23ten Julius 1748 der Zeitlichkeit entrissen wurde, öffentlich entrichtet von Hermann Samuel Reimarus, öffentlichen Lehrer der Hebräischen und Orientalischen Sprachen, und itzigem Rector des Gymnasii. Hamburg 1748.) Vitam Optime De Patria Meriti Consulis Viri Illustris Magnifici Et Consultissimi Conradi Widovii J. U. L. Postquam D. XIX Octobris Anni MDCCLIV Quod Est Mortale Exuisset Piae Memoriae Causa Ex Amplissimi Senatus Decreto Publice Exponit Hermannus Samuel Reimarus LL. OO. P. P. Et H. A. Gymnasii Rector. Hamburg 1755. (Deutsche Fassung: Das Leben des weiland Magnifici Hochedelgebornen, Hochgelarten und Hochweisen Herrn Conrad Widow, beider Rechten Licentiaten, als Eines um sein Vaterland Höchstverdienten Bürgermeisters; nachdem Er den 19ten October des 1754ten Jahres dieses Zeitliche verlassen, zu Dessen billigen Andenken, auf

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Befehl E. Hochedlen und Hochweisen Rahts, entworffen, ietzt aber aus dem Lateinischen übersetzt, von Hermann Samuel Reimarus, öffentlichen Lehrer der Morgenl. Sprachen und itzigen Rector des Gymnasii. Hamburg 1755.) Civitatis Et Ecclesiae Purioris Sensum Acerbum Ex Insperato Obitu Viri Summe Reverendi, Excellentissimi, Amplissimi Friederici Wagneri SS. Theologiae Doctoris Meritissimi Pastoris Ad D. Michaelis Aedem Fidelissimi Scholarchae Et Ordinis Sacri Senioris Gravissimi Piae Memoriae Causa Lugens Expressit Ad Funus Eius D. XI. Iulii Huius Anni MDCCLX. Solemni Frequentia Cohonestandum Omnium Ordinum Viros Demisse Invitans Hermannus Samuel Reimarus LL. OO. P. P. Et Hoc Anno Gymnasii Rector. Hamburg 1760. Monumentum Virtutibus Et Meritis Viri Magnifici Amplissimi Consultissimi Johannis Sluteri J. V. D. Primi Reipublicae Hamburgensis Syndici Publico Nomine Positum Ab Hermanno Samuele Reimaro LL. OO. P. P. Et H. A. Gymnasii Rectore. Hamburg 1760. (Deutsche Fassung: Denkmaal der Tugenden und Verdienste des weiland Magnifici, Hochedelgebornen und Hochgelahrten Herrn Johann Slüters, beider Rechten Doctoris und der Republik Hamburg ältesten Syndici, welches Ihm auf hohen Befehl öffentlich setzte Hermann Samuel Reimarus, der morgenl. Sprachen Professor und jetziger Rector am Gymnasio. Hamburg 1760.) Dignum Longiore Vita Virum Consultissimum Amplissimum Doctissimum Lucam Henricum Helmerum Juris Utriusque Doctorem Philosophiae Moralis Professorem Bene Merentem Tertio Jam Muneris Anno Ereptum Gymnasio Publice Luget Hermannus Samuel Reimarus LL. OO. P. P. Et Hoc Anno Gymnasii Rector. Hamburg 1760. Memoria Virtutum Viri Nobilissimi Amplissimi Doctissimi Pauli Schaffshausen Artium Liberalium Magistri Et In Gymnasio Hamburgensi Ultra XV. Annos Eloquentiae Itemque Philosophiae Rationalis Et Primae Professoris Meritissimi Celeberrimi Posteris Publice Tradita Ab Hermanno Samuele Reimaro LL. OO. P. P. Et Hoc Anno Gymnasii Rectore. Hamburg 1761.

1.6 Briefwechsel zwischen Reimarus und Kardinal Quirini Johannis Alberti Fabricii Notae Posthumae Ad Philastrum Brixiam Transmissae Ad Eminentissimum et Reverendissimum Angelum Mariam Cardin. Quirinum Brixiae Episcopum Et S. R. E. Bibliothecarium Ab Hermanno Samuele Reimaro P. P. Cum sequenti Epistola [datiert Hamburg, 15. Okt. 1736]. In: Kardinal Angelo Maria Quirini (Hg.): Veterum Brixiae Episcoporum S. Philastrii Et S. Gaudentii Opera Nec Non B. Ramperti Et Ven. Adelmanni Opuscula Nunc primum in unum collecta, ad veteres MSS. Codices collata, notis, aliisque additionibus illustrata et aucta Prodeunt jussu Eminentissimi Ac Reverendissimi D. D. Angeli Mariae Tituli S. Marci Cardinalis Quirini Brixiae Episcopi Et Apostolicae Sedis Bibliothecarii. Brescia 1738, S. 147– 151. Epistola Ad Eminentissimum Ac Reverendissimum D. D. Angelum Mariam Tituli S. Marci Cardinalem Quirinum Brixiae Episcopum Et Bibliothecarium Vaticanum Cet. Qua Occasione Edendi Dionis Cassii Ad Nicolai Carminii Falconis J. U. Et S. Theol. Doct. Et Proton. Ap. Editionem Trium Ultimorum Dionis Librorum Ex Antiquissimo Codice Restitutorum Animadversiones Nonnullas Summi Viri Judicio Submittit Hermannus Samuel Reimarus P. P. Hamb. Hamb. [datiert Hamburg, 1. Jan. 1746]. Hamburg 1746. Angelus Maria Cardinalis Quirinus: Ad Virum Clarissimum Hermannum Samuelem Reimarum In Hamburgensi Lyceo Publ. Profess. Epistola [datiert Brescia, 23. Aug. 1746]. Ad Virum Clarissimum Hermannum Samuelem Reimarum In Hamburgensi Lyceo Publ. Profess. Epistola altera [datiert Brescia, 14. Dez. 1746]. In: ders.: Decas Quarta Epistolarum Latinarum A Mense Julio Anni MDCCXLV. Ad Mensem Martium Anni MDCCXLVII. Exaratarum. [Brescia 1747], Brief 6 und Brief 7.

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[Auszug aus einem lateinischen Brief an Kardinal Angelo Maria Quirini, datiert Hamburg, 5. Febr. 1748]. In: Marcello de’ Venuti: Descrizione Delle Prime Scoperte Dell’Antica Città D’Ercolano Ritrovata vicino a Portici, Villa della Maestà Del Re Delle Due Sicilie Distesa dal Cavaliere Marchese Don Marcello De Venuti E Consecrata All’ Altezza Reale Del Serenissimo Federigo Cristiano Principe Reale di Pollonia, ed Elettorale di Sassonia. Rom 1748, Anhang, S. 146, und Venedig 1749, Anhang, S. 137f. (Weitere Auszüge aus diesem Brief in Ulrich Groetsch: Hermann Samuel Reimarus [1694–1768]: Classicist, Hebraist, Enlightenment Radical in Disguise. Leiden 2015, S. 211 und 218.) Eminentissimo ac Reverendissimo Angelo Mariae Card. Quirino Episcopo Brixiensi, et Bibliothecario Vaticano S. P. D. Hermannus Samuel Reimarus [Brief, datiert Hamburg, 28. Mai 1748]. In: Specimen Humanitatis Qua Eruditi quidam Germaniae Heterodoxi Prosequuti sunt Suevicum iter A Domino Angelo Maria Cardinali Quirino Peractum Anno MDCCXLVIII. [Brescia] o. J. (vermutlich 1748 oder 1749), S. 20f. Eminentissimo ac Reverendissimo Angelo Mariae Card. Quirino Episcopo Brixiensi et Biblioth. Vat. S. P. D. Hermannus Samuel Reimarus [Auszug aus einem Brief, datiert Hamburg, 27. Juli 1748]. In: Specimen Humanitatis Qua Eruditi quidam Germaniae Heterodoxi Prosequuti sunt Suevicum iter A Domino Angelo Maria Cardinali Quirino Peractum Anno MDCCXLVIII. [Brescia] o. J. (vermutlich 1748 oder 1749), S. 32. Widmungsbrief an Kardinal Angelo Maria Quirini [datiert Hamburg, 6. Sept. 1749]. In: Τῶν Δίωνος Τοῦ Κάσσιου Τοῦ Κοκκηιανοῦ Ρωμαικῶν Ἱστοριῶν Τὰ Σωζόμενα. Cassii Dionis Cocceiani Historiae Romanae quae supersunt. Bd. 1. Hamburg 1750 [richtig: 1749], S. V–VIII. Ulrich Groetsch: Reimarus, the Cardinal, and the Remaking of Cassius Dio’s Roman History. In: Martin Mulsow (Hg.): Between Philology and Radical Enlightenment. Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Leiden, Boston 2011, S. 103–157, hier S. 122 (Auszug aus einem Brief von Reimarus vom 17. Sept. 1746), S. 125 (Auszüge aus Briefen von Reimarus vom 8. Okt. 1744, 22. Nov. 1747 und 8. Okt. 1749), S. 133–157 (vollständige Texte der Briefe Reimarus’ vom 29. Jan. 1737, 4. Juli 1743, 30. Aug. 1743, 1. Jan. 1746 und 28. Mai 1748). Ulrich Groetsch: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768): Classicist, Hebraist, Enlightenment Radical in Disguise. Leiden 2015, hier S. 193f. (Auszug aus einem Brief Reimarus’ vom 19. Aug. 1737), S. 194 und S. 225 (Auszüge aus einem Brief Reimarus’ vom 5. Nov. 1738), S. 202f. (Auszug aus einem Brief Reimarus’ vom 19. Febr. 1746), S. 218 (Auszüge aus Briefen Reimarus’ vom 8. Okt. 1744 und 5. Juli 1749) und S. 226 (Auszüge aus einem Brief Reimarus’ vom 27. Juli 1744).

1.7 Posthum veröffentlichte wissenschaftliche Arbeiten Hermann Samuel Reimarus Professors in Hamburg angefangene Betrachtungen über die besondern Arten der thierischen Kunsttriebe. Aus seiner hinterlassenen Handschrift herausgegeben, mit einigen Anmerkungen und einem Anhange von der Natur der Pflanzenthiere begleitet durch Joh. Albert Hinrich Reimarus M. D. Hamburg 1773 (Nachdruck Wien 1790; 2. Aufl. Hamburg 1798). Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten. In: Gotthold Ephraim Lessing (Hg.): Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Dritter Beytrag. Braunschweig 1774, S. 195–226, Reimarus’ Text: 198–221. (Auch in Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Bd. 8: Werke 1774–1778. Hg. von Arno Schilson. Frankfurt a. M. 1989, S. 116–129, sowie LW 7, S. 313–330.) Johann Georg Büsch: Encyclopädie der historischen, philosophischen und mathematischen Wissenschaften grossentheils nach dem Grundrisse des sel. Reimarus ausgearbeitet von Johann Georg Büsch Professor der Mathematik in Hamburg. Hamburg 1775.

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[Anmerkungen zu klassischen Autoritäten]. In: Meinardus Tydeman (Hg.): Iohanni Hop, viro illustri, s. p. d. Meinardus Tydeman [Widmungsbrief]. In: ders. (Hg.): Syntagma Dissertationum Ad Philosophiam Moralem Pertinentium. Utrecht 1777, S. III–CII, hier LXII–LXX. (Auch in KGS, S. 588–602.) Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend [umfasst fünf Fragmente: »Erstes Fragment. Von Verschreyung der Vernunft auf den Kanzeln.«, »Zweytes Fragment. Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten.«, »Drittes Fragment. Durchgang der Israeliten durchs rothe Meer.«, »Viertes Fragment. Daß die Bücher A. T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren.«, »Fünftes Fragment. Ueber die Auferstehungsgeschichte.«]. In: Gotthold Ephraim Lessing (Hg.): Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Vierter Beytrag. Braunschweig 1777, S. 261–543, Reimarus’ Text: 265–494. (Auch in Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Bd. 8: Werke 1774–1778. Hg. von Arno Schilson. Frankfurt a. M. 1989, S. 175–311, sowie LW 7, S. 331–456.) Vorbericht [Apologie, § 1]. In: Gotthold Ephraim Lessing (Hg.): Anti-Goeze. 7. Heft. Braunschweig 1778, S. 12f. (Auch in Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Bd. 8: Werke 1774–1778. Hg. von Arno Schilson. Frankfurt a. M. 1989, S. 346, sowie LW 8, S. 248.) Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten. Hg. von Gotthold Ephraim Lessing. Braunschweig 1778. (Auch in Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Bd. 9: Werke 1778–1780. Hg. von Klaus Bohnen und Arno Schilson. Frankfurt a. M. 1993, S. 217–340, sowie LW 7, S. 496–604.) C. A. E. Schmidt [= Andreas Riehm] (Hg.): Uebrige noch ungedruckte Werke des Wolfenbüttlischen Fragmentisten. Ein Nachlaß von Gotthold Ephraim Leßing. Berlin 1787. Fragmente des Wolfenbüttelschen Ungenannten. Ein Anhang zu dem Fragment vom Zweck Jesu und seiner Jünger. Bekanntgemacht von G. E. Leßing. Berlin 1788. [Einige Anmerkungen zum Johannes-Evangelium (Auszug aus Anmerkungen zu den Perikopen der Evangelien)]. In: Johannes Gurlitt (Hg.): Lectionum in Novum Testamentum Specimen Quintum. ad indicendam orationem, qua Carolus Fridericus Hippius, Philos. D. et AA. LL. M., Professor in Schola Joannea nuperrime constitutus, Professionem Mathesis in Gymnasio Reipubl. Hamburgensis illustri d. 5. Decemb. hora matut. 11 auspicabitur, edidit Jo. Gurlittus. Explicatur Evangelii Joannei c. 2 v. 13 – cap. 3 v. 13, adiuncta annotatione Cel. Hermanni Sam. Reimari, hactenus inedita. Hamburg 1805, S. 14–21. Herm. Sam. Reimari P. P. LL. OO. In Gymnas. Hamburg. Animadversiones Criticae Ad Versionem Vernaculam Vet. Test. A B. Luthero Concinnatam. Cum Editoribus Communicatae Ab Ant. Theod. Hartmann Theol. D. Atque Prof. Rostochiensi. In: Ernestus Fridericus Carolus Rosenmueller und Franciscus Josephus Valentinus Dominicus Maurer (Hg.): Commentationes Theologicae. Bd. 2, 1. Leipzig 1827, S. 143–186. Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, von Hermann Samuel Reimarus. In neu ausgewählten Fragmenten herausgegeben durch Dr. phil. Wilhelm Klose, privatisirenden Gelehrten in Hamburg. [Erstes Fragment.] (Vorbericht und Buch 1). In: Zeitschrift für die historische Theologie 20 / NF 14 (1850), S. 519–637. Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, von Hermann Samuel Reimarus. In einzelnen Fragmenten vollständig herausgegeben durch Dr. phil. Wilhelm Klose, privatisirenden Gelehrten in Hamburg. Zweites Fragment. (Buch 2). In: Zeitschrift für die historische Theologie 21 / NF 15 (1851), S. 513–578. Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, von Hermann Samuel Reimarus. In einzelnen Fragmenten vollständig herausgegeben durch Dr. phil. Wilhelm Klose, privatisirenden Gelehrten in Hamburg. Drittes Fragment. (Buch 3, Kapitel 1–4). In: Zeitschrift für die historische Theologie 22 / NF 16 (1851), S. 380–494.

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Einteilung der ersten Fassung des Lebenswerkes von Hermann Samuel Reimarus. Aus dem handschriftlichen Nachlaß im Besitz des Herrn Dr. Friedrich Sieveking. Gedanken von der Freyheit eines vernünftigen Gottesdienstes. In: Heinrich Sieveking: Hermann Samuel Reimarus 1694– 1768. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 38 (1939), S. 145–182, hier 180– 182 (Neuedition in Gerhard Alexander: Einleitung. In: H. S. Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. 2 Bde. Hg. von Gerhard Alexander. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 1, S. 9–38, hier S. 11–13; weitere Neuedition in KGS, S. 427–430.) Vorrede zur Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Facsimile, eingeleitet von Hartmut Sierig. Göttingen 1967. Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. 2 Bde. Hg. von Gerhard Alexander, im Rahmen der Gesammelten Schriften. Frankfurt a. M. 1972 (darin auch: [Vorbericht in der ersten erhaltenen Fassung, § 1–11], Bd. 2, S. 637–652, sowie »[…] das Eingeweide eines tummen Ochsen […]« [Die vernünftige Religion ist die Grundveste aller Religionen], Bd. 2, S. 653–668). Vindicatio dictorum Veteris Testamenti in Novo allegatorum 1731. Text der Pars I und conspectus der Pars II. Hg. von Peter Stemmer. Göttingen 1983. [An die Herausgeber des ›Monthly Review‹ (1766)]. In: H. S. Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion. 2 Bde. Hg. von Günter Gawlick unter Mitarbeit von Michael Emsbach und Winfried Schröder. Göttingen 1985, Bd. 2, S. 859–863. Oeconomia religionis Mosaicae et Christianae opposita. In: KGS, S. 413f. »Mentis status Theologice« [De cognitione Dei perfectionibusque ejus observationes philosophicocriticae]. In: KGS, S. 415–421. »Quaecumque notitia est« [Observationes criticae de notitia necessaria Dei et revelationis]. In: KGS, S. 423–426. »Die Vernunft des Menschen wird« [Was Vernunft und vernünftig sei]. In: KGS, S. 431–477. »Wir werden durch die Vernunft getrieben« [Entwurf einer vernünftigen und natürlichen Religion]. In: KGS, S. 479–494. »Daß diese Heilsordnung Gottes Willen« [Moralische Betrachtungen von der Liebe Gottes, seiner Heiligkeit und der Sünde]. In: KGS, S. 495–519. »[…] freyen Wilkühr, nicht aber nohtwendig« [Vorarbeiten zu den Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion im Rahmen der 1. Fassung der Apologie]. In: KGS, S. 521–558. [Auszüge aus] Scholia ad Conradi Ikenii Antiquitates Hebraicas (Vorlesungsmitschrift). In: Martin Mulsow: From Antiquarianism to Bible Criticism? Young Reimarus Visits the Netherlands. With an edition of the travel diary fragment of 1720/1. In: ders. (Hg.): Between Philology and Radical Enligthenment. Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Leiden, Boston 2011, S. 1–39, hier 13f., sowie in Ulrich Groetsch: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768): Classicist, Hebraist, Enlightenment Radical in Disguise. Leiden, Boston 2015, S. 88, 90, 107f., 110f. und 279. [Auszüge aus] Observationes ad Hadriani Relandi Antiquitates S. Veterum Hebraeorum datae Celeb. H. S. Reimaro, LL. OO. P. P. Gymnasii Hamburg. Jo. Fabricii. 1729 (Vorlesungsmitschrift). In: Ulrich Groetsch: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768): Classicist, Hebraist, Enlightenment Radical in Disguise. Leiden, Boston 2015, S. 76, 81f. und 110f.

1.8 Zeitgenössische Übersetzungen von Reimarus’ Schriften Matthew Henry, Christophorus Starcke u. a.: Letterlyke En Prakticale Verklaring Over het Boek van Job; Beschreeven door Matthew Henry; Christophorus Starcke; En andere voortreflyke Engelsche en Hoogduitsche Godgeleerden; Waar by gevoegd zyn verscheide Geleerde Verklaringen van de Heeren Lowth, Schultens, Reimarus, En van andere uitmuntende en

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beroemde Uitleggers. 2 Teile. Amsterdam 1768/69 (Auszüge aus Reimarus: Johann Adolf Hoffmanns Neue Erklärung des Buchs Hiob). From a Letter of Herman Samuel Reimar, Public Professor of the University of Hamburg, to Cardinal Quirini, Febr. 5, 1748. In: Marcello de’ Venuti, George Woodfall (Übers.): A Description Of The First Discoveries Of the Antient City of Herculaneum. Found near Portici, A Seat of his Majesty the King of the Two Sicilies. Written in Italian by the Marquis Don Marcello Di Venuti. Translated into English. To which are added, Translations of some Letters on this Subject, which passed between Cardinal Quirini, and the learned professors Gesner, Reimar, and Feverlinus. London [1750 oder 1751], S. 103f. Johan Lulofs (Hg.), Johan Frederik Fortmeyer (Übers.): De Voornaamste Waarheden Van Den Natuurlyken Gods-Dienst, In Tien Verhandelingen, Op eene bevatbaare wyze verklaard en verdedigd Door Hermannus Samuel Reimarus, Hoogleeraar Te Hamburg; Uit Het Hoogduitsch Vertaald Door J. F. F. En met eenige Aantekeningen en een Voorrede verrykt Door Johan Lulofs, Hoogleeraar Te Leyden, En Inspecteur Generaal Der Rivieren Van Holland En Westvriesland. Leiden 1758. (Übersetzung der 2. Aufl. von Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten; 2. Aufl. der Übersetzung mit erweiterter Vorrede des Herausgebers. Leiden 1765. Jan Willem van Haar (Übers.): Algemeene Beschouwingen Van De Driften Der Dieren, En Voornaamelyk Van Derzelver Konst-Driften. Tot vermeerderinge der kennisse van ’t verband der Waereld, van den Schepper en van ons zelve; Voorgesteld Door Hermannus Samuel Reimarus, Hoogleeraar Te Hamburg; Uit het Hoogduitsch vertaald door Joh. Will. van Haar. En met eene Voorrede verrykt door Johan Lulofs, Hoogleeraar Te Leyden, En Inspecteur Generaal Der Rivieren Van Holland En Westvriesland. Leiden 1761. (Übersetzung der 1. Aufl. von Reimarus: Allgemeine Betrachtungen.) Richard Wynne (Übers.): The Principal Truths Of Natural Religion Defended and Illustrated, In Nine Dissertations: Wherein the Objections of Lucretius, Buffon, Maupertuis, Rousseau, La Mettrie, and other ancient and modern Followers of Epicurus are considered, and their Doctrines refuted. London 1766. (Gekürzte Übersetzung der niederländischen Übersetzung der 2. Aufl. von Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten.) Johann Peter [Jean Pierre] Erman (Übers.): Essai sur la Providence, traduit de l’Allemand de Mr. Reimar, par Mr. Erman. Berlin 1768. (Übersetzung der Abhandlungen 8 und 9 der 3. Aufl. von Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten.) Jacques Renéaume de la Tache (Übers.): Observations Physiques Et Morales Sur L’Instinct Des Animaux, Leur industrie et leurs mœrs. Par Hermann Samuel Reimar, Professeur de Philosophie à Hambourg et Membre de l’Académie Impériale des Sciences de Pétersbourg. Ouvrage traduit de l’Allemand sur la derniere Edition, Par Mr. Renéaume de Latache, Capitaine Réformé de l’Infanterie Etrangere. 2 Bde. Amsterdam 1770. (Übersetzung der 2. Aufl. von Reimarus: Allgemeine Betrachtungen.) Eric Werdel (Übers.): Den naturlige Religionis fornemste Sandheder i ti Afhandlinger paa en begribelig Maade forklarede og reddede af Hermann Samuel Reimarus, og nu efter fierde forbedrede og staerk formerede Udgave oversatte af Eric Werdel. Kopenhagen 1775. (Übersetzung der 4. Aufl. von Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten.) Jacques Renéaume de la Tache (Bearb.), Pieter Boddaert (Übers.): Algemeene Beschouwingen Van De Driften Der Dieren, En Voornamentlyk Van Derzelver Konst-Driften. Tweede Deel. Uit de Nagelaaten Schriften van wylen den Heer Herman Samuel Reimarus, Hoogleeraar Te Hamburg. Uitgegeeven, en met Aanmerkingen, en een Aanhangzel over de Natuur der Plantdieren, Vermeerderd, door Johan Albert Henrik Reimarus, Med. Doct. Uit het Hoogduitsch Vertaald, Met eene Voorrede en Aanmerkingen voorzien door P. Boddaert, Med. Doct. Oud Raad der Stad Vlissingen, Lid van de Keizerlyke Academie der Natuuronderzoekers, en van de Hollandsche en Zeeuwsche Maatschappyen der Wetenschappen, enz. Waarby gevoegd zyn der

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Vermeerderingen En Verbeeteringen Op ’t Eerste Deel, Volgens de derde Hoogduitsche Uitgaaf, En de Aanmerkingen uit de Fransche Vertaaling van den Heere Renéaume de la Tache. Leiden 1776. (Übersetzung von Reimarus: Angefangene Betrachtungen über die besondern Arten.) Encyclopedie Van De Historische; Wijsgeerige En Wiskundige Wetenschappen: Grootsdeels Volgends De Schetsen Van Wijlen Den Heere Hermannus Samuel Reimarus, Uitgewerkt Door Johan Georg Busch, Professor In De Wiskunde Te Hamburg. Uit het Hoogduitsch vertaald. 2 Teile. Amsterdam 1778/80. (Übersetzung von Büsch: Encyclopädie der historischen, philosophischen und mathematischen Wissenschaften.) Herr Professor Johann Georg Büsch’s Encyclopedie, angaaende de historiske, philosophiske og mathematiske Videnskaber. Fordansket. 2 Teile. Kopenhagen 1783. (Übersetzung von Büsch: Encyclopädie der historischen, philosophischen und mathematischen Wissenschaften.)

2 Forschungsliteratur 2.1 Biografien, Schriftenverzeichnisse, Lexikoneinträge und Überblicksdarstellungen Götten, Gabriel Wilhelm: Hermann Samuel Reimarus. Prof. P. Hebr. et OO. LL. am Gymnasio zu Hamburg. In: ders.: Das Ietzt-lebende Gelehrte Europa, Oder Nachrichten Von Den vornehmsten Lebens-Umständen und Schrifften, ietzt-lebender Europäischen Gelehrten. Braunschweig 1735, S. 119–122. Götten, Gabriel Wilhelm: Herman Samuel Reimarus, zu Hamburg. In: Herrn Gabriel Wilhelm Göttens Zusätze zu den beiden ersten Theilen, wie auch zum ersten Stük des dritten Theils. In: Das Ietztlebende Gelehrte Europa, Oder Nachrichten von den vornehmsten Lebensumständen und Schriften ietztlebender Europäischen Gelehrten. 3 Bde. Braunschweig, Hildeshin 1735‒1740, Bd. 3, S. 737–844. Johann Georg Büsch: Memoriae Immortali Hermanni Samuelis Reimari Linguarum Orientalium In Gymnasio Hamburgensi per XXXXI Annos Professoris Qualecunque Hoc Monumentum Officii Et Pietatis Causa Posuit Ioannes Georgius Büsch Math. P. P. In Gymnasio Hamburgensi. Hamburg 1769. (Auch in Johann Albert Heinrich Reimarus: Joh. Alberti Henrici Reimari, M. D. physices et historiae naturalis in Gymnasio Hamburgensi P. P. de vita sua commentarius. Additae sunt de vita Hermanni Samuelis Reimari narrationes J. G. Büschii et C. A. Klotzii. Hamburg 1815, selbständig paginierter Anhang, hier S. 1–49.) Klotz, Christian Adolf: Elogium Hermanni Samuelis Reimari. In: ders.: Acta Litteraria, Bd. 5 (1768/69), Teil 3. Altenburg 1769, S. 344–357. (Auch in Johann Albert Heinrich Reimarus: Joh. Alberti Henrici Reimari, M. D. physices et historiae naturalis in Gymnasio Hamburgensi P. P. de vita sua commentarius. Additae sunt de vita Hermanni Samuelis Reimari narrationes J. G. Büschii et C. A. Klotzii. Hamburg 1815, selbständig paginierter Anhang, hier S. 51–58.) Winckler, Johann Dietrich: Hermann Samuel Reimarus, der Weltweißheit Doctor, und Professor der hebräischen und morgenländischen Sprachen am Gymnasio zu Hamburg. In: Nachrichten von Niedersächsischen berühmten Leuten und Familien 2. Hamburg 1769, Stück 98–100, S. 382– 396. Catalogus Bibliothecae beati Herm. Sam. Reimari per XL. et quod excurrit annos in illustri, quod Hamburgi floret, Gymnasio Linguae Hebraeae reliquarumque Oriental. Professoris Publici. 2 Teile. Hamburg 1769/70 (ND Auktionskatalog der Bibliothek von Hermann Samuel Reimarus.

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2.3 Monografien, Aufsätze und Buchkapitel Wehl, Feodor: Lessing, der alte Reimarus und Anti-Goeze. In: ders.: Hamburgs Literaturleben im achtzehnten Jahrhundert. Leipzig 1856, S. 152–179. Gaedeke, Hermann: De Arminii Reimari Philosophumenis Specimen. Dissertatio Inauguralis Philosop[h]ica Quam Auctoritate Amplissimi Philosophorum In Academia Albertina Ordinis Ad Summos In Philosophia Honores Rite Capessendos Die XXXI Mens. Julii A. MDCCCLXI H. XI. L. C. Publice Defendet Auctor Arminius Gaedeke Wollinensis. Königsberg 1861.

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Personenregister Abbt, Thomas 337, 340 Abel, Sebastian 12, 227 Agamben, Giorgio 148 Alexander, Gerhard 3, 8, 10, 127, 173, 195, 346, 354 Alexander, Werner 135 Alexander von Aphrodisias 294 Allison, Dale C. 169 Annas, Julia 293 Aristoteles 87, 92, 128, 272, 275f., 289f., 300, 311, 317, 353 Arndt, Hans Werner 37, 41, 44f., 64f., 70f., 73, 91 Augustinus von Hippo 285 Aurel, Marc 295, 298 Bacon, Francis 317, 374 Baranzke, Heike 327 Bark, Joachim 173 Barkhaus, Annette 249 Barruel, Augustin 203 Barth, Hans Martin 384 Bauckham, Richard 155 Baum, Armin D. 155 Baumgarten, Alexander Gottlieb 132, 215, 337, 339 Bayertz, Kurt 267 Bayle, Pierre 202f., 213f. Beausobre, Ludwig (Louis de Beausobre) 201 Becker, Eve-Marie 155 Becker, Jürgen 159 Bergemann, Lutz 321 Berger, Klaus 154 Bergjan, Silke-Petra 294 Bernard, Jean Frédéric de 355, 374 Beutel, Albrecht 246 Biale, David 167 Biberg, Isaac J. 331 Bloch, Marc 162 Blumenbach, Johann Friedrich 319 Blumenberg, Hans 8, 171, 226, 243, 339 Boeckh, August 133f. Böhl, Meinrad 124 Börne, Ludwig 174 Bohnen, Klaus 125

https://doi.org/10.1515/9783110726558-020

Bolduc, Jean-Sébastien 7, 344 Bollacher, Martin 9, 125 Boning, Holger 266 Bonnet, Charles 325, 344 Booher, Charles Richard 348 Borinski, Ludwig 20 Bornkamm, Günther 166 Bougeant, Guillaume Hyacinthe 247 Boullier, David Renaud 248, 319f. Boyd, Gregory A. 140 Boyer, Jean-Baptiste de 88, 91 Boyle, Robert 340, 373 Brandt, Reinhard 337 Breidbach, Olaf 254 Brenner, Peter J. 128 Brewer, S. W. H. 300 Briese, Olaf 150 Brockes, Barthold Heinrich 6, 301, 339, 341 Brück, Michael von 127 Bruno, Giordano 288 Buchenau, Stefanie 14, 343 Budde, Johann Franz 12, 19, 26, 32–34, 73f., 123, 178, 300, 355 Bühler, Axel 131 Büsch, Johann Georg 177, 179, 213 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 205, 243, 246–252, 254, 258, 295f., 301, 318, 370–374, 379f. Bultmann, Christoph 8, 134 Buschmann, Cornelia 210 Carrère, Emmanuel 148 Cassirer, Ernst 245, 259 Cassius Dio, Lucius 300 Cataldi Madonna, Luigi 130f. Charlesworth, James H. 170 Cheung, Tobias 320, 344 Cheungs, Thomas 10, 344 Chladni, Johann Martin (Chladenius) 130– 132 Chrysippos von Soloi 294, 304 Cicero, Marcus Tullius 88f., 259, 272, 274, 290, 293‒295, 298, 301f., 312, 365 Clauberg, Johannes 131 Coady, C. A. J. 110 Cochius, Leonhard 287f.

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Collins, Anthony 125, 151 Condillac, Étienne Bonnot de 320 Conzelmann, Hans 171 Cooper, Anthony Ashley (3. Earl of Shaftesbury) 340 Cronk, Nicolas 314 Crousaz, Jean Pierre de 202f. Crusius, Christian August 11, 72f., 77, 126, 224, 306 Cudworth, Ralph 247, 321, 340 Czelinski-Uesbeck, Michael 213f. D’Alembert (Jean-Baptiste le Rond) 370, 380 Danneberg, Lutz 126, 131 Darwin, Charles Robert 381 Daugirdas, Kęstutis 131 Derham, William 340 Descartes, René 88, 220, 247, 255, 273, 321, 367, 373f. Diderot, Denis 214, 223, 302 Dilthey, Wilhelm 123f., 134f. Diogenes Laertios 290, 299 Dippel, Johann Konrad 115 Dörflinger, Bernd 241 Dragona-Monachou, Myrto 294 Ebbinghaus, Julius 215, 266 Eberhard, Johann August 183, 257 Eddy, Paul Rhodes 140 Eichhorn, Johann Gottfried 186 Emden, Jacob Israel Ben Ẓebi Ashkenazi (Jacob Hertzel / Jacob Hirschel) 174 Engert, Joseph 9, 297, 299, 300, 303, 308, 313 Engfer, Hans-Jürgen 7, 37, 44f., 51, 59 Ennius, Quintus 301 Epikur 204f., 212, 274, 290, 293–301, 305f., 311–315, 342, 346 Esra 157 Eusebius von Caesarea 152, 155 Fabricius, Johann Albert 6, 114, 123, 178f., 296, 300f., 340 Feder, Johann Georg Heinrich 11, 224 Feil, Ernst 227, 228, 354, 366 Fichte, Johann Gottlieb 175, 195, 337 Filtsch, Johann 4, 244, 353 Förster, Johann Christian 100

Forman, David 314 Formey, Jean Henri Samuel 201f. Frankemölle, Hubert 154 Franz, Michael 10, 254, 263 Frede, Dorothea 294 Fricker, Elizabeth 110 Friedrich II. von Preußen (Friedrich der Große) 200f. Funkenstein, Amos 167 Gadamer, Hans-Georg 124, 131, 134f. Gassendi, Pierre 299f. Gawlick, Günter 2, 6, 10f., 114, 123, 125, 137, 164, 224, 238, 244f., 246, 297, 301, 314, 355, 384 Geldsetzer, Lutz 135 Gelfert, Axel 104, 108, 110 Gericke, Wolfgang 6, 123, 156 Gesche, Astrid 318 Gleim, Johann Wilhem Ludwig 200 Glinka, Holger 13, 139f., 164, 226 Gnilka, Joachim 154 Goethe, Johann Wolfgang von 170, 329 Goeze, Johan Melchior 3f., 151, 160, 336f. Goldenbaum, Ursula 114, 126 Goodrum, Matthew R. 296, 299f. Goretzki, Catia 220 Goubet, Jean-Francois 11, 38f., 52 Graupe, Heinz Mosche 174 Griesbach, Johann Jakob 160 Groetsch, Ulrich 10, 119 Grondin, Jean 128, 131f. Grouchy, Nicolas de 289–291 Grunert, Frank 12, 30, 34, 243 Gundling, Nikolaus Hieronymus 73f. Hahmann, Andree 14, 204, 293f., 304, 306, 312 Haller, Albrecht von 199, 202–205, 217, 301, 341, 343f., 367, 371–373 Hartung, Gerald 216 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 126, 134 Heidegger, Martin 135 Heineccius, Johann Gottlieb 73 Heinz, Jutta 319 Heinz, Marion 12, 117 Helvétius, Claude-Adrien 211, 260 Hensler, Philipp Gabriel 380

Personenregister | 417

Herder, Johann Gottfried 37, 317f., 329, 336f., 342, 347–349 Herodot von Halikarnass 146 Heumann, Christoph August 288 Heyne, Christian Gottlob 185f. Hiltscher, Reinhard 224, 239 Hinske, Norbert 7, 20–22, 37f., 40, 43, 74, 131, 336 Hirsch, Emanuel 154, 156, 159 Hißmann, Michael 4, 11, 223f., 263, 353 Hobbes, Thomas 88, 138 Höffe, Otfried 211 Hoffmann, Adolph Friedrich 72f., 77, 114 Holbach, Paul-Henri Thiry de 205, 214, 223 Homolka, Walter 175 Hübner, Hans 8, 125 Hüning, Dieter 13, 215 Hume, David 78, 110, 140, 239‒241, 266, 319 Huygens, Christiaan 365 Ingensiep, Hans Werner 327 Iselin, Isaak 320, 337 Israel, Jonathan I. 9, 114, 223, 226, 243, 296, 312, 314 Jaeschke, Walter 11, 158 Jauch, Ursula Pia 204 Jaynes, Julian 7, 296, 298, 300, 320, 322, 356 Jesus 99, 101, 119, 138–140, 142, 145, 148– 171, 174f., 181, 186–192, 384 Johannes (Evangelist) 148, 158, 168 Johannes der Täufer 158, 165–168 Johansson, Torbjörn 164 Josephus, Flavius 156, 185 Julian 154 Jung, Matthias 123, 135 Käsemann, Ernst 136 Kant, Immanuel 1f., 7, 10f., 12, 20, 37, 43, 45, 47, 52, 61, 87, 92, 101, 104, 108, 132f., 195, 206, 211, 219, 223‒225, 234, 239–241, 243, 251, 256, 284, 288, 297, 303f., 336f., 349–351, 377 Kaplan, Nathan L. 172 Keener, Craig S. 140, 146 Kelsos 154, 172 Kemper, Hans-Georg 366

Kempski, Jürgen von 7f., 254, 263, 354f., 381 Kerber, Hannes 258 Klausing, Heinrich 274, 279, 290 Klein, Dietrich 2f., 5, 10, 114‒116, 119, 124, 243, 245‒247, 251, 256, 353, 366 Klingner, Stefan 13, 205, 219, 224, 234, 240, 246 Köck, Wolfram Karl 319 Kolb, Robert 164 Kondylis, Panajotis 160, 211 Konstan, David 300 Körtner, Ulrich H. J. 155 Krauss, Werner 379 Krebs, Roland 260 Kreimendahl, Lothar 141 Krüger, Johann Gottlob 247 Kues, Nikolaus von 286 Kuhnen, Hans-Peter 159 La Bretonne, Nicolas-Edme Rétif de 323 La Mettrie, Julien Offray de 6, 13, 90, 199– 210, 214, 220f., 223, 233, 247, 295f., 301, 320f., 336, 342–345, 355, 370, 373f., 379f. Lange, Friedrich Albert 223 Leclerc, Jean 246, 248, 318 Leduc, Christian 350 Leeuwenhoek, Antoni van 205, 374 Lefèvre, Wolfgang 256, 262 Lehner, Ulrich L. 124 Leibniz, Gottfried Wilhelm 45, 57, 85, 87, 98, 131, 177, 180, 234, 247, 255‒257, 298, 314 Lenders, Winfried 54, 61f., 64 Leone, Giuliana 300 Lepenies, Wolf 256 Leppin, Hartmut 155 Lesser, Friedrich Christian 341 Lessing, Gotthold Ephraim 3f., 8f., 125, 134, 137, 149–151, 154f., 158‒160, 164, 174, 177, 180, 182–187, 195–198, 219, 243f., 281, 317, 335, 366 Leß, Gottfried 2 Lifshits, Mikhail 7 Linné, Carl von 247, 254, 258, 331f. Livius, Titus 146 Locke, John 49f., 57, 97, 104, 215, 259, 266 Lötzsch, Frieder 19, 23, 73, 138

418 | Personenregister

Lona, Horacio E. 154 Long, Arthur A. 294 Lovejoy, Arthur Onken 255 Luden, Heinrich 317 Lukas (Evangelist) 142, 144–146, 148, 160, 162 Lukrez 205, 295, 297, 299f., 314, 364, 374 Luria, Isaak 172f. Luther, Martin 123, 129 MacLaurin, Colin 280 Macor, Laura Anna 336 Mainzer, Klaus 372 Mansfeld, Jaap 299 Maria von Magdala 148, 159 Markus (Evangelist) 147‒149, 192 Marr, Wilhelm 174 Martins, Ansgar 173 Martus, Steffen 245, 255 Marx, Karl 7, 317 Matthäus (Evangelist) 148, 151, 155, 160f., 165, 182 Maupertuis, Pierre Louis Moreau de 295f., 298, 300f., 343, 372, 374, 376 Mauzi, Robert 211 Maydell, Alexander von 87 Meier, Georg Friedrich 11f., 26, 30–32, 34, 70, 104f., 108, 110, 130–132, 215, 248, 337, 367 Mendelssohn, Moses 2, 96, 151, 174, 183, 243, 259f., 317f., 329, 336f., 340, 342– 344, 346–348 Menke, Karl-Heinz 275 Mensching, Günther 223 Merz, Annette 136, 154, 156 Meyer, Heinz 129 Mose(s) 100, 157, 162 Motta, Giuseppe 12, 78 Mühlpfordt, Günter 125 Müller, August Friedrich 12, 29f., 32, 73, 77 Müller, Reimar 10, 254, 263 Mulsow, Martin 3, 10, 114, 243 Mylius, Christlob 247, 365 Needham, John Turberville 205, 301, 370, 372–374 Neis, Cordula 318 Neugebauer-Wölk, Monika 247 Neumann, Hanns-Peter 131

Newton, Isaac 373f. Nieuwentijt, Bernard 340 Nisbet, Hugh Barr 244 Nösselt, Johann August 237 Nöth, Winfried 132 Nowitzki, Hans-Peter 15, 366f. Och, Gunnar 173 Oetinger, Friedrich Christoph 337 Origines 128f., 162, 166 Ortlieb, Cornelia 254, 318 Ovid 317 Papias von Hierapolis 155 Pascal, Blaise 209 Paulus von Tarsus 147f., 152, 161f., 166, 168f., 171, 188, 192f. Périon, Joachim 289–291 Perrault, Claude 325 Petersen, Henrik 2, 5f., 293, 297, 300f., 355, 367, 370, 374, 382 Petrus, Klaus 124 Petrus, Simon 148, 153 Pflug, Günther 134 Philipp, Wolfgang 123 Philippus 145, 155 Philodemos von Gadara 294 Pilatus, Pontius 151, 158, 169, 191 Pines, Shlomo 156 Platon 128, 298, 342 Pluche, Noël-Antoine 332 Plutarch 209, 293 Pockrandt, Mark 199f. Poliakov, Léon 174f. Pollok, Anne 336 Poser, Hans 56, 62 Porphyrios 154, 172 Pott, Martin 209 Pott, Sandra 201f., 210 Precht, Richard David 254 Prémontval, André-Pierre Le Guay de 302 Printy, Michael 336 Pufendorf, Samuel von 177, 213, 215, 259 Quinzio, Sergio 167 Raatz, Georg 336 Raphson, Joseph 273, 289–291 Raupp, Werner 5

Personenregister | 419

Ray, John 340 Réaumur, René-Antoine Ferchault de 326, 344 Reid, Thomas 110 Reimarus, Johann Albert Hinrich 8, 127, 149, 151, 179f., 195, 239, 287 Reimarus, Katharina Elisabeth 149, 179f. Reinhard, Wolfgang 124 Reinhold, Karl Leonhard 37, 53 Reinitzer, Heimo 3 Reiser, Marius 154 Renan, Ernest 158 Rengstorf, Karl Heinrich 160 Reventlow, Henning 114, 123, 138, 383f. Reydams-Schils, Gretchen 298 Risse, Wilhelm 40, 42, 45, 48, 54 Roger, Jacques 246 Rosenhof, August Johann Roesel von 326 Rosenzweig, Franz 129 Roth, Udo 7, 14, 366 Rousseau, Jean-Jacques 2, 91, 320f., 347, 368 Rüdiger, Andreas 19, 73, 77, 123, 137, 178, 273 Salatowski, Sascha 265 Saverio Mirri, Francesco 139 Schade, Georg 3 Schenke, Ludger 154 Scherer, Karl Christoph 9, 246, 317, 327 Schetelig, Johann Andreas Gottfried 73 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 132f., 155 Schmidt, Johann Lorenz 114, 126, 151 Schmidt, Sibylle 127, 147f. Schmidt-Biggemann, Wilhelm 5, 8‒10, 13, 114f., 124‒126, 150, 172, 179, 183, 185, 226, 243f., 258, 274, 279, 281, 283, 296, 300, 307, 338 Schmithals, Walter 154 Schmitt, Carl 258 Schneiders, Werner 11, 20f., 28, 71, 257 Schnelle, Udo 154, 167 Schnur, Harald 124 Schoeps, Hans-Joachim 171 Scholem, Gershom 172 Scholz, Oliver R. 104, 130 Schotte, Dietrich 247

Schröder, Winfried 5‒7, 10, 154, 172, 199, 204f., 206f., 226, 243, 246, 255, 264, 296, 356, 381f. Schröpfer, Horst 74 Schröter, Marianne 139 Schuler, Georg Michael 302 Schulthess, Peter 7, 10, 37, 45, 65 Schwaiger, Clemens 74, 199, 208, 342 Schweitzer, Albert 8, 136, 171, 182 Seckendorff, Veit Ludwig von 209 Sedley, David N. 294 Semler, Johann Salomon 131, 138f., 182 Seneca, Lucius Annaeus 88, 200 Sextus Empiricus 202 Siegert, Reinhard 266 Sierig, Hartmut 357 Sieveking, Heinrich 379 Sigal, Phillip 166 Simon, Richard 138f., 157, 182 Sloan, Philipp R. 245, 248, 252, 256 Smend, Rudolf 150 Spalding, Johann Joachim 199, 224, 237, 336–340, 342 Spankeren, Malte van 237 Sparn, Walter 3 Spiekermann, Björn 199, 202, 209 Spinoza, Baruch de 2, 114, 137–141, 157, 213, 223, 273, 291, 296, 304, 313, 374, 379, 382 Sprengels, Kurt 132 Stallmann, Marco 160 Steckel, Horst 293 Steiger, Johann Anselm 9, 139, 164 Steiger, Renate 286 Stemberger, Günter 149 Stemmer, Peter 8, 114, 124f., 164, 172, 226 Stiening, Gideon 11, 14, 15, 30, 45, 197, 226, 257, 266, 366 Stockmeier, Peter 168 Strauß, David Friedrich 8, 103, 136, 182 Strecker, Georg 171 Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 146, 149 Sulzer, Johann Georg 11, 200f., 342, 344 Tacitus, Publius Cornelius 146, 317 Taubes, Jacob 171 Theißen, Gerd 136, 154, 156 Thiel, Udo 223

420 | Personenregister

Thomas von Aquin 365 Thomasius, Christian 12, 19–21, 24, 26–28, 30, 32f., 69, 73, 104, 131 Thukydides 146 Timm, Hermann 244 Tolkemitt, Brigitte 173 Trinius, Johann Anton 2, 379 Türcke, Christoph 165 Ussher, James 362 Utzschneider, Helmut 174 Vergil (Virgil) 301f., 331 Vermes, Geza 140, 153, 169 Vesper, Achim 13, 104f., 110 Vollhardt, Friedrich 8, 11, 134, 244 Volpi, Franco 138 Voltaire (François-Marie Arouet) 197, 211, 214, 314 Walch, Christian Wilhelm Friedrich 2 Walch, Johann Georg 12, 26, 28, 73 Walter, Nikolaus 165 Walter, Peter 124 Walter, Wolfgang 20, 126, 354 Warda, Arthur 37 Weber, Max 153 Weissenbach, Joseph Anton 5 Werner, Martin 171 Wicke-Reuter, Ursel 293 Wieckenberg, Ernst-Peter 3 Wiehl, Reiner 87 Wieland, Christoph Martin 201, 266, 367 Winckelmann, Johann Joachim 317, 337 Winckler, Johann Heinrich 248 Witte, Egbert 319 Wolf, Johann Christoph 114, 178 Wolfe, Charles T. 298, 300 Wolff, Christian 7, 10‒12, 20–23, 25f., 30f., 34, 36–40, 42, 44f., 47f., 50–67, 74, 78f., 82–85, 88f., 91f., 95–98, 100, 104f., 126, 131, 139, 197, 203, 207, 213, 215f., 224, 243, 255, 259, 265f., 279, 290, 306f., 322, 337, 341, 343, 350, 355, 365 Woodward, William 7, 296, 298, 300, 320, 322, 356 Worster, Donald 331 Wunderlich, Falk 366

Wynne, Richard 295 Yavetz, Zvi 174 Zammito, John H. 10, 247, 248, 261, 296, 318f., 322 Zenker, Kay 29, 104 Zimmermann, Jens 130