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German Pages [471] Year 2023
Neue Studien zur Philosophie
Band 32
Begründet von Rüdiger Bubner †, Konrad Cramer † und Reiner Wiehl † Fortgeführt von Jürgen Stolzenberg, Michael Hampe und Holmer Steinfath
Matthias J. Tögel
Wilhelm Diltheys Philosophie des historischen Bewusstseins Wirklichkeitswissenschaft und Metaphysikkritik
Mit 4 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Max Ernst: La femme 100 têtes / Collage Nr.1 »verbrechen oder wunder: ein vollständiger mensch«, 1929. © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5456 ISBN 978-3-7370-1584-4
Für Insun und Werner, goldener Stunden mit Dackel und Seeblick gedenkend.
»Man kann nicht durch die Speichen des Weltrads greifen nach der Achse, um sie zu befühlen.« Wilhelm Dilthey (GS XVIII, 195)
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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0. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.0.1 Metaphysik und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.0.2 Philosophie und Geschichte . . . . . . . . . . . . . 0.0.3 Diltheys »historische Forschung in philosophischer Absicht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.1 Warum Dilthey? Motivierung der Fragestellung . . . . . 0.2 Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.2.1 Phasen der Diltheyrezeption . . . . . . . . . . . . . 0.2.2 Einsichten und Maßgaben . . . . . . . . . . . . . . 0.3 Aufbau und Anliegen der Arbeit . . . . . . . . . . . . .
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20 22 25 25 28 30
1. Die Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . 1.1 »Bankerott der Philosophie«: Rückkehr zu Kant . . . . . . . 1.2 Gegenstand und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Diltheys Argumentationsstrategien . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Das Argument von den Anmutungsqualitäten . . . . . 1.3.2 Das Argument aus dem spezifischen Zusammenhang geistiger Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Das erkenntnispragmatische Argument . . . . . . . . 1.3.4 Ignorabimus revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Windelbands Versuch einer methodologischen Abgrenzung 1.5 Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften und Einheit der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10 2. Die Unmöglichkeit der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Diltheys Verwandtschaft mit dem Positivismus und deren Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das Dreistadiengesetz und das Problem der Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Bedeutungsaspekte von »positiv« . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Das enzyklopädische Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Phänomenalität und Phänomenalismus . . . . . . . . . 2.1.5 Ablehnung der Metaphysik und die Rolle der Erfahrung 2.2 Die Phänomenologie der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der Begriff der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Diltheys metaphysikkritische Argumente . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Das analytisch-semantische Argument . . . . . . . . . . 2.4.2 Das psychologische Argument . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Das epistemische Argument . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Das Meta-Physische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
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88
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90 105 113 117 120 123 134 146 147 153 157 162
3. Der Ausgang vom Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 »Lebensphilosophie« und »Philosophie des Lebens« . . . . . . . 3.1.1 Spekulative Missverständnisse und romantizistische Projektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Konsequente Antimetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Materiale und methodologische Bestimmungen einer Philosophie des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Ökologie: Reflexbogen und Regelkreis . . . . . . . . . . . 3.2.2 Totalität des Seelenlebens: anthropologische Adäquanz . 3.2.3 Inkommensurabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Unhintergehbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Erlebnis und Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Erleben, Ausdruck, Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.7 Immanenz und Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Metaphilosophische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Sozio-kulturelle Einbettung: die funktionale Bestimmung der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Philosophie als Wirklichkeitswissenschaft . . . . . . . . . 3.3.3 Systemtheoretische Interpretamente . . . . . . . . . . . .
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167 171
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240 249 261
4. Kategorien des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Formal- und Realkategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267 268
11
Inhalt
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274 284 296 310 317
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331 332 340 353 369 382 388
Anhang: Philosophie der Philosophie, eine historische Induktion . . . . A.1 Windelbands Versuch einer Definition . . . . . . . . . . . . . . . A.2 Geisteswissenschaftliche Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . A.3 Der Zirkelcharakter der Untersuchung und der Ort der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.4 Design eines hermeneutischen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . A.5 Windelbands Blick auf die Philosophiegeschichte . . . . . . . . . A.6 Überzeugungsaussichten in einem metaphilosophischen Dissens . A.7 Diltheys Blick auf die Philosophiegeschichte . . . . . . . . . . . . A.8 Geltung und Gelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.9 Historischer und systematischer Standpunkt . . . . . . . . . . . . A.10 Metaphilosophische Optionen der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . A.11 Diltheys funktionalistisches Philosophieverständnis . . . . . . . .
395 398 400 403 405 408 412 415 420 424 427 429
Verwendete Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
435
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
437
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4.2 Genese und Status der Lebenskategorien . . . . . . . . . . . 4.2.1 Zeiterleben und Zeitdimensionen . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Bedeutung, Struktur, Bedeutsamkeit . . . . . . . . . . 4.2.3 Wirkungszusammenhang, Kraft und Kraftübertragung 4.3 Ist Dilthey ein Irrationalist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das historische Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Fixierung des Phänomens . . . . . . . . . . . . 5.2 Wege in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Geschichtsforschung und Geschichtsdarstellung 5.4 Bildungsgeschehen und -produkt . . . . . . . . 5.5 Historisches Bewusstsein und Aufklärung . . . 5.6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Dieses Buch ist die korrigierte Fassung eines Textes identischen Titels, den die Philipps-Universität Marburg im September 2022 als Inauguraldissertation angenommen hat. Meinem Doktorvater Prof. Dr. Alexander Becker habe ich nachdrücklich dafür zu danken, dass es unter denkbar günstigen äußeren wie inneren Bedingungen entstehen konnte. Ferner gilt mein Dank allen, die dazu beigetragen haben, das Marburger Institut zu einem Ort fruchtbaren kollegialen Austausches zu machen, insbesondere Prof. Dr. Dr. Nadia Mazouz, Prof. Dr. Winfried Schröder, Martina Lindner, Dr. Jens Gillessen, Dr. Christian Kietzmann und den Teilnehmenden der verschiedenen Oberseminare. Nicht zuletzt die anregenden Gespräche mit Prof. Dr. Michael Hampe und die Diskussionen im Rahmen des von Henriikka Hannula und Elisabeth Widmer organisierten »Colloquium German Philosophy, 1860–1914« waren ausgesprochen hilfreich. Dem Herausgebergremium der »Neuen Studien zur Philosophie« sei für die Aufnahme in die Reihe herzlich gedankt. Erst im Rückblick auf das nunmehr abgeschlossene Projekt ist mir klar geworden, wohin sich einige der Gedankenfäden zurückverfolgen lassen. So steht die Idee, Philosophie als Wirklichkeitswissenschaft aufzufassen, unter dem Einfluss der empirisch umsichtigen und informierten Arbeitsweise Prof. Dr. Gunter Gebauers. In der Thematisierung des Historischen Bewusstseins wiederum wirkt die unvergessliche Atmosphäre von Andacht und Sorgfalt nach, in der Prof. Dr. Theo Kobusch in seinen Vorlesungen die Philosophie des Hochmittelalters lebendig zu machen wusste. Nicht entstanden wäre diese Arbeit, und über weite Strecken war das nicht das unwahrscheinlichste Szenario, ohne die teilnahmsvolle Unterstützung durch Freunde und meine Familie. Insbesondere meiner Frau Insun stand der Sinn des Ganzen oft deutlicher vor Augen als mir selbst. Dass sie nicht müde geworden ist, mich dessen immer wieder aufs Neue zu vergewissern, ist meine liebste conditio sine qua non. Marburg im Frühjahr 2023
0.
Einleitung
Die akademische Philosophie in der Zeit von Hegel bis Nietzsche steht unter keinem besonderen Innovationsverdacht. Wilhelm Windelbands Bilanz etwa fällt nüchtern aus. »Die Geschichte der philosophischen Prinzipien ist mit der Entwicklung der deutschen Systeme an der Grenzscheide zwischen den beiden vorigen Jahrhunderten [sc. um 1800] abgeschlossen. Eine Übersicht über die darauf und daraus folgende Entwicklung, in der wir noch heute stehen, ist weit mehr literarhistorischen, als eigentlich philosophischen Interesses. Denn wesentlich und wertvoll Neues ist seitdem nicht zutage getreten.«1
Dieser Eindruck mag trügen. Vielleicht dass der inzwischen gewachsene Abstand besser sehen lässt.2 In den Texten Wilhelm Diltheys zumindest, den Manfred Riedel immerhin als »[große] Ausnahmegestalt in der Universitätsphilosophie des Jahrhunderts« bezeichnet, artikuliert sich ein philosophisches Selbstverständnis, das näher besehen nichts Epigonenhaftes an sich hat.3 Nach Diltheys Auffassung muss die Philosophie mit ihrem traditionellen Kerngeschäft, der Metaphysik, brechen und ihr Verhältnis zur Geschichte und zu den Einzelwissenschaften völlig neu bestimmen. Allein eine solche radikale Neuorientierung eröffne ihr einen Weg, unter veränderten Rahmenbedingungen ihre intellektuelle Redlichkeit und gesellschaftliche Relevanz zu bewahren.
1 Windelband 1957: 537 (Hervorhebungen entfernt); vgl. Windelband 1915b: 100 (»Es ist nach ihm [sc. Kant] prinzipiell nichts Neues geschaffen worden.« – vermutlich eher: »nichts prinzipiell Neues«). 2 »Erst das 20. Jahrhundert hat das eigentliche Geschehen des 19. Jahrhunderts deutlich und deutbar gemacht.« (Löwith 1995: 7). 3 Riedel 1981: 21.
16
Einleitung
0.0.1 Metaphysik und Zeit Wenn man die Geschichte der Metaphysik cum grano salis mit dem Lehrgedicht des Parmenides beginnen lässt und ihren Verlauf kursorisch bis hin zu Kants Konzeption einer transzendentalphilosophischen Ontologie überblickt, stellt sich der Eindruck ein, dass dem Rat der Dike an den wagenfahrenden Jüngling über weite Strecken brav Folge geleistet wurde. Ganz überwiegend hält man sich an den durch die Semata des Seins markierten »ersten Weg«: »Also ist Entstehung ausgelöscht und unerfahrbar Zerstörung«.4 Mit großer Konsequenz wird auch nach Parmenides der Gegenstand der Metaphysik außer- oder überzeitlich gedacht.5 So ist etwa auch für Platon und Aristoteles, bei allen ihren sonstigen Unterschieden, klar: die ontologische Dignität steigt mit dem Abstand zu den zeitlichen Verhältnissen von Wandel, Entstehen und Vergehen.6 Michael Theunissen sieht hinter der frühen chronophoben7 Bestimmung des Grundbegriffs der Metaphysik eine spezifische Motivationslage und geht davon aus, dass diese auch für die gesamte Metaphysikgeschichte gilt. »Vermutlich ist es ein Leiden am Leben, das den Eleaten zu seinem Begriff vom Seienden bewogen hat. Von dieser Erfahrungsbasis wird Metaphysik sich nie gänzlich ablösen können.«8 Diese These einer Orientierung am verlässlich Beständigen inmitten von Hinfälligkeiten ist nun zum einen zwar anthropologisch enorm plausibel, andererseits jedoch völlig spekulativ und aufgrund ihres globalen Charakters nur schwer handhabbar. In gewisser Weise wird noch auf sie zurückzukommen sein.9 4 DK 28 B 8 (tr. Jaap Mansfeld, Oliver Primavesi); weitere Semata lauten: »nicht hervorgebracht und unzerstörbar, […] unerschütterlich und nicht zu vervollkommnen« (ebd.). Eine Übersicht der verwendeten Siglen- und Abkürzungen findet sich im Literaturverzeichnis. 5 Ob Parmenides selbst bereits zu einem im strengen Sinne überzeitlichen Verständnis des Seienden (etwa im Sinne von ›ewig‹) durchdringt oder nur ein Unveränderliches, aber damit eben immer noch Zeitliches, postuliert, wie Theunissen ausführlich diskutiert (vgl. Theunissen 1991), ist für eine flüchtige Charakterisierung der Metaphysikgeschichte nicht weiter erheblich. Sie als chronophob (siehe Fn 7) zu bezeichnen, verweist nur auf die zu beobachtende Tendenz, dass der Abstand zu zeitlichen Bestimmungen, entsprechend den gegebenen begrifflichen Möglichkeiten, weitestgehend ausgenutzt wird. 6 Vgl. Platon, Politeia 521d, 527b; Aristoteles, Metaphysik 993b25: »διὸ τὰς τῶν ἀεὶ ὄντων ἀρχὰς ἀναγκαῖον ἀεὶ εἶναι ἀληθεστάτας· οὐ γάρ ποτε ἀληθεῖς […]«; 1026a15: »ἡ δὲ πρώτη καὶ περὶ χωριστὰ καὶ ἀκίνητα«; 1033b5: »φανερὸν ἄρα ὅτι τὸ εἶδος […] οὐ γίγνεται […] οὐδὲ τὸ τί ἦν εἶναι […]«. 7 Diesen Ausdruck übernehme ich von Vladimir Nabokov (»a young chronophobiac«, Nabokov 1999: 9). 8 Theunissen 1991: 117; vgl. Litt 1928: 51–55; Nabokov 1999: 9 (»The cradle rocks above an abyss, and common sense tells us that our existence is but a brief crack of light between two eternities of darkness.«). 9 Problematischer und weitaus erläuterungsbedürftiger ist der Gedanke, den Theunissen an diese These anschließt, auf dem als Schlusspointe des Textes jedoch ein besonderer Akzent liegt: »Als ihr [sc. der Metaphysik] Beweggrund bildet das Leiden am Leben, trotz allem, auch ihren Rechtsgrund.« (Theunissen 1991: 117).
Einleitung
17
Das aus Wilhelm Diltheys Perspektive jüngste und als für die eigene Zeit verbindlich anerkannte Kapitel der Metaphysikgeschichte bildet die Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, in deren Rahmen die drei Disziplinen der traditionellen metaphysica specialis (rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie) delegitimiert werden und die metaphysica generalis zu einer transzendentalphilosophischen Ontologie umgeformt wird. Bezeichnenderweise bleibt aber auch nach dieser tiefgreifenden Umschmelzung der gesamten Disziplin im Kantischen System der Zeit die letzte Gültigkeit versagt. »Unsere Behauptungen lehren demnach empirische Realität der Zeit, d.i. objektive Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände, die jemals unsern Sinnen gegeben werden mögen. […] Dagegen bestreiten wir der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität, da sie nämlich, auch ohne auf die Form unserer sinnlichen Anschauung Rücksicht zu nehmen, schlechthin den Dingen als Bedingung oder Eigenschaft anhinge.«10
Insofern sich demnach die Geschichte der Metaphysik ganz überwiegend unter der Maßgabe eines Absehens von zeitlichen Verhältnissen konstituiert, bildet Kants Lehre von der Idealität der Zeit eine weitere Wegmarke auf dem von der Göttin gewiesenen ersten Weg.11 Kants Philosophie stellt für Dilthey zeitlebens eine verbindliche Referenz und systematische Herausforderung dar. So betont er in seiner Baseler Antrittsvorlesung von 1867 nachdrücklich deren Maßgeblichkeit und bringt seine Überzeugung zum Ausdruck, dass »das Grundproblem der Philosophie von Kant für alle Zeit festgestellt« sei.12 In der Rückschau jedoch markiert Dilthey vor allem Kants Lehre von der Idealität der Zeit als den Punkt, an dem sich beider Denkwege trennen mussten.
10 KrV A 35f/B 52 (Hervorhebungen im Original). Nach in Frage kommenden Gemütsbedürfnissen im Sinne Theunissens für diese Einschränkung der Geltung zeitlicher Verhältnisse braucht man bei Kant nicht lange zu suchen. Man denke nur an die Bemerkung aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, nach der das Wissen aufgehoben werden müsse, »um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B xxx), in der Postulatenlehre schließlich wird das Vernunftinteresse noch weiter ausbuchstabiert. 11 Richard Rorty deutet an, wie sich diese chronophobe Tendenz bis in die analytische Philosophie hinein verlängern lässt: »One way to see how analytic philosophy fits within the traditional Cartesian-Kantian pattern is to see traditional philosophy as an attempt to escape from history – an attempt to find nonhistorical conditions of any possible historical development.« (Rorty 2018: 9); vgl. ferner die Literatur, auf die Rorty in diesem Zusammenhang verweist: Rorty 2018: 39n6. 12 GS V, 12f. Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften werden in der üblichen Weise durch die Abkürzung »GS«, gefolgt von der Angabe des Bandes durch eine römische und der Seitenzahl durch eine arabische Zahl, zitiert.
18
Einleitung
»Sollte die Realität der geistigen Welt gerechtfertigt werden, so bedurfte es dazu vor allem einer Kritik der Lehre Kants, welche die Zeit zu einer bloßen Erscheinung machte und damit das Leben selbst. […] Mit der Kritik dieser Lehre setzte ich ein.«13
Positiv formuliert: Diltheys Philosophie begreift den Menschen als »Geschöpf der Zeit«; sie geht aus von ihrer Letztgültigkeit.14 Auf Kants Bahnen eine glatte Unterscheidung von »zeitbedingte[m] Bewusstsein« und einem übergeordneten, »zeitlich nicht bedingte[n] Bewusstsein« zu treffen, wie es etwa sein Zeitgenosse Paul Natorp vertrat, betrachtet Dilthey daher als unvollziehbare philosophische Absurdität.15 Die Zeit ist ihm das Allerrealste; Außer- und Überzeitliches entsprechend »nur Schattenreich«.16 Mit dieser Weichenstellung wendet Dilthey sich nicht nur von Kant ab, er tritt mit ihr in Opposition zur ganzen, überwiegend chronophoben Metaphysiktradition.
0.0.2 Philosophie und Geschichte Das Verhältnis größtmöglicher Distanz zwischen dem Gegenstand der Metaphysik und zeitlichen Bestimmungen wiederholt sich auf disziplinärer Ebene zwischen der Philosophie und der Geschichtswissenschaft, aber auch zwischen systematischer Philosophie und Philosophiegeschichte. Sowohl die jeweiligen Gegenstandsbereiche als auch ihre leitenden Erkenntnisinteressen sind auf den ersten Blick völlig disparat. Eine Polarität, die schon Aristoteles in seiner Poetik konstatiert (und entschieden zugunsten der Philosophie bewertet) und die Quintilian bündig zuspitzt: »[historia] scribitur ad narrandum, non ad probandum«.17 Das Geschäft der Philosophie hingegen sind Argumentationszusammenhänge und Begriffssysteme; sie fragt nach Allgemeinem und Allgemeinstem, nach dem was allem Wandel zugrunde liegt; von Ephemerem und Partikularem sieht sie konsequent ab. Unter Bedingungen der Neuzeit finden sich die philosophischen Vorbehalte gegenüber Zeitlichem, das in der Antike in erster Linie als ontologisch defizitär und daher nur als bedingt wissenschaftsfähig empfunden wurde, transponiert auf den Boden der neuen prima philosophia, der Epistemologie. Der methodi13 14 15 16 17
GS V, 5. GS V, 364. Vgl. Natorp 1964: 14. GS V, 5. Vgl. Aristoteles, Poetik IX, 1451b5: »Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.« (tr. Manfred Fuhrmann); Quintilian, Institutio oratoria X, 1, 31 (»[Die Geschichte] will erzählen, nicht beweisen.«, tr. Franz Loretto).
Einleitung
19
sche und generalisierte Zweifel des Descartes treibt die Unterscheidung historischen und philosophischen Wissens unter erkenntnistheoretischem Aspekt buchstäblich auf die Spitze. Wissen im eigentlichen Sinne lässt sich nur für dasjenige beanspruchen, das der Erkennende hier und jetzt aus evidenten Prinzipien abzuleiten bzw. anderweitig zu demonstrieren und zu reproduzieren imstande ist. Alles Wissen zweiter Hand, alle Büchergelehrsamkeit, alle Überlieferung hat daher bereits als solches keine Aussicht auf Gewissheit und damit auch keinen Anspruch auf den höchsten Grad der Wissenschaftlichkeit. Somit steht auch am Beginn der neuzeitlichen Philosophie ein radikal ahistorisches Erkenntnisideal.18 Zum Credo orthodoxer Metaphysiker von Parmenides bis McTaggart scheint zu gehören: »I confess I do not believe in time.«19 Die chronophobe Grundtendenz gräbt sich ein bis in terminologische Festlegungen. So verwendet etwa Johann Gottlieb Fichte »Historie« und »Philosophie«, »historisch« und »philosophisch« zur Bezeichnung von zwei diametral entgegengesetzten Denkformen. Die Rede ist sogar von einem »doppelten Sinnenorgan« als wäre es unvorstellbar, dass derart unterschiedliche Leistungen von ein und demselben Organ erbracht werden könnten.20 Philosophisches und historisches Erkennen stehen sich hier in einem kontradiktorischen Verhältnis unvermittelt gegenüber, teilen geradezu den gesamten epistemischen Raum unter sich auf. Ein solches, geradezu antithetisches Verhältnis wird auch vonseiten der Historiker ins Spiel gebracht: »Diese [sc. die Geschichtsphilosophie] ist ein Kentaur, eine contradictio in adjecto; denn Geschichte, d. h. das Koordinieren, ist Nichtphilosophie und Philosophie, d. h. das Subordinieren, ist Nichtgeschichte.«21
Gleichwohl bezeichnet Fichte die Kombination beider Denkweisen, also eine »philosophisch-historische Art der Erkenntnis«, gelegentlich als Bestandteil
18 Vgl. Huizinga 1943a: 75, 82; Kamlah 1975b: 184 (»Der mittelalterliche Mensch lebte ganz aus der Tradition, der neuzeitliche Mensch will wie Descartes von einem absoluten Nullpunkt aus von vorn anfangen und überfordert sich damit.«). 19 Nabokov 1999: 106. Seit Diltheys Tagen sind von Nietzsche, Bergson, Whitehead, Heidegger und vielen weiteren fraglos äußerst beachtliche chronophile Metaphysik- bzw. Postmetaphysikentwürfe entwickelt worden. Die Mehrheitsverhältnisse scheinen jedoch nach wie vor eher zugunsten der Anhänger des Parmenides als der des Heraklit auszufallen, so wenig inhaltliche Aussagekraft dieser Umstand auch immer haben mag. 20 Fichte 1956: 142; vgl. Fichte 1986: 8 (»[…] das bloße Auffassen des Mannigfaltigen als solchen, in seinem Faktischen, ist Historie.«), 7 (»[…] das Wesen der Philosophie würde darin bestehen: Alles Mannigfaltige (das sich uns denn doch in der gewöhnlichen Ansicht des Lebens aufdringt) zurückzuführen auf absolute Einheit.«). Selbst für den geschichtsaffinen Arthur Danto ist selbstverständlich: »Substantive philosophy of history is not really connected with philosophy at all, any more than history itself is.« (Danto 2007: 1). 21 Burckhardt 1949: 24.
20
Einleitung
einer anzustrebenden, vollständig verwirklichten Form von »Gelehrsamkeit«.22 Dabei verhalten sich beide Erkenntnisarten, so ist seinen Ausführungen zu entnehmen, allerdings rein additiv.
0.0.3 Diltheys »historische Forschung in philosophischer Absicht« Einer solchen rein äußerlichen Zuordnung historischer und systematischer Aspekte gegenüber vertritt Dilthey programmatisch das methodische Ideal einer Integration von systematischer und historischer Forschung. Seine bescheiden klingende Formel dafür lautet: »historische Forschung in philosophischer Absicht«.23 Sie zieht sich durch sein gesamtes Schaffen und ist erkennbar der konstruktive Leitgedanke vieler seiner wichtigsten Arbeiten.24 Das selten beachtete Pionierhafte an Diltheys Arbeitsweise betont Gerhard Masur nachdrücklich: »Dilthey ist bei seinem gigantischen Unternehmen Historiker und Philosoph zugleich, aber im letzten Verstande beides nicht mehr, sondern der Arbeiter an einem Werk, das zwischen beiden liegt, der Begründer der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis als eines neuen Erdteiles auf dem globus intellectualis.«25
In diesem Bild lässt der Entdecker Dilthey das Eiland der Philosophie hinter sich, ohne auch nur den Blick zurückzuwenden. Dann allerdings müsste man ihn nicht als Vertreter einer neuen philosophischen Arbeitsweise und eines entsprechenden Selbstverständnisses beschreiben, sondern als jemanden, der der Philosophie den Rücken zukehrt. Ob in Fällen wie diesem eher der Bruch oder die Kontinuität zu betonen ist, ob hier Grenzen einer Disziplin überschritten oder verschoben werden, kann meist nicht triftig entschieden werden. Wie man sich zu dieser Frage stellt, hängt sicher davon ab, wie man sich hinsichtlich einer ganzen Batterie von Fragen bezüglich der in Frage stehenden Disziplin positioniert. An zwei besonders klaren Stellungnahmen sei dies verdeutlicht: 22 Vgl. Fichte 1956: 74f. 23 GS V, 35; XVIII, 43. Das unbescheidenere Pendant lautet »Kritik der historischen Vernunft« (s. u.). Dilthey scheint sich schon recht früh über das eigentümlich systematisch-historische Profil seines Arbeitens im Klaren gewesen zu sein: »Der wahre Historiker ist ein Mitarbeitender«, (J 186); »die Möglichkeit, […] zwischen Kulturgeschichte und philosophischem Denken ein Band zu finden«, (J 281); »mein ursprünglicher Plan, Geschichte und Philosophie zu verbinden«, (J 283). 24 Besonders deutlich an den in [GS II] versammelten Untersuchungen nachzuvollziehen. 25 Masur 1971b: 158. Ganz parallel formuliert Hellmut Diwald: »Geistesgeschichte: kein Begriff kann ihm [sc. Dilthey] das notwendige Ineinander von Historie und Philosophie treffender umreißen.« (Diwald 1963: 13). Auch Georg Misch sieht Diltheys philosophischen Ansatz »durch den Bund der systematischen Philosophie mit der Historie« charakterisiert (Misch 1926: 538).
Einleitung
21
»Ich kann darum den Versuch W. Dilthey’s (Einleitung in die Geisteswissenschaft I. S. 455), den Standpunkt der sogenannten »historischen Schule«, der in der Zeit unserer Romantik aufkam und für Sprachen, Sitten, Künste und Moden eine gewisse Berechtigung hat, auf die Philosophie anzuwenden, nur für einen geistreichen Scherz halten.«26 »Der für die Gegenwart charakteristische Stand des philosophischen Denkens zeigt sich darin an. Ihm gemäß ist es nicht mehr möglich, die alte Scheidung von Systematik und Geschichte der Philosophie aufrechtzuerhalten, da vielmehr jede geschichtliche Betrachtung schon in sich systematische Absicht haben muß und jede systematische Untersuchung nur in einer Auseinandersetzung mit der Geschichte ihren Ansatz gewinnen kann.«27
Diltheys Programm, wie Landgrebe, zum verbindlichen »state of the art« zu erklären oder über ihm mit Teichmüller kopfschüttelnd das Anathema auszusprechen, ist offenkundig jeweils eingebettet in ein ganzes Netz von metaphilosophischen Festlegungen. Fast ist man versucht zu sagen, die Welt des einen ist vermutlich eine andere als die des anderen.28 Dilthey jedenfalls akzeptiert bereitwillig die mit seiner Revision einhergehende Beweislast. In seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften argumentiert er dafür, dass das traditionelle, an der chronophoben Metaphysik orientierte Philosophieverständnis, wie auch die Metaphysik selbst, erkenntnistheoretisch nicht zu rechtfertigen ist. In seinen späten Arbeiten zur »Philosophie der Philosophie« entwickelt er dann einen integrativen und historisch fundierten Philosophiebegriff, der sowohl seine eigenen als auch die dem metaphysischen Paradigma verpflichteten Ansätze seit der Antike als verschiedene und jeweils zeitbedingte Ausprägungen gemeinsamer Grundfunktionen umfassen soll. Mit diesen Schlaglichtern auf die Geschichte der Metaphysik sei anfänglich plausibilisiert, dass, entgegen Windelbands eingangs zitierter Einschätzung des philosophischen Ertrags seiner jüngsten Vergangenheit, das 19. Jahrhundert durchaus Neues zu bieten haben könnte, zudem Neuerungsanstrengungen von einiger Brisanz, wenn man die ausgeprägte Tendenz zur Chronophobie innerhalb der Tradition in Rechnung stellt.29 Ob Diltheys systematische Positionen und 26 27 28 29
Teichmüller 1886: 361. Landgrebe 1957: 18. Vgl. Wittgenstein 2006: 83 (Tractatus, 6.43). »Berücksichtigung der Geschichte gibt es in der Philosophie spätestens seit Hegel, wirklich Neues bringt Dilthey also nicht.« Zu diesem Einwand ist zu sagen, dass »Geschichte« bei Hegel in der Regel »philosophisch gereinigte, d.i. begriffene Geschichte« bedeutet, was dem Verhältnis einen Großteil seiner prinzipiellen Spannung nimmt. Dilthey versteht darunter hingegen den Inbegriff der Ergebnisse der historisch arbeitenden Einzelwissenschaften, dem sich vorbehaltlos auszusetzen, er den Anspruch hat (vgl. Homann 1995: 192ff). Diese Beschreibung würde Hegel zurückweisen, der seinen Zugriff auf die Geschichte (neben der »ursprünglichen« und »reflektierenden« Geschichtsschreibung) als den »philosophischen« kennzeichnet und – ausgenommen die Vorannahme, »daß es also auch in der Weltgeschichte
22
Einleitung
sein Philosophieverständnis (wie Windelbands Formulierung fordert) nicht nur als »neu«, sondern auch als »wesentlich und wertvoll« einzustufen sind, ist allerdings erst noch zu zeigen. Klar ist von vornherein, dass es dafür nicht bei einer schematischen Konfrontation von Abstrakta wie »Philosophie« und »Geschichte« bleiben kann.
0.1
Warum Dilthey? Motivierung der Fragestellung
Vor dem skizzierten Hintergrund erscheint Wilhelm Dilthey aus verschiedenen Gründen als ein besonders vielversprechender Gesprächspartner. Als »Philosoph des historischen Bewusstseins«30 formuliert er gegenüber der chronophoben Metaphysiktradition eine bemerkenswert weitreichende und grundsätzliche Kritik und beginnt in seinem siebten Lebensjahrzehnt seine eigene Arbeitsweise und systematische Position, wie sie sich ihm in Jahrzehnten ausgiebiger geistesgeschichtlicher und systematischer Forschungsarbeit unter der Hand eingeschliffen und ausgestaltet haben, unter der Bezeichnung »Philosophie des Lebens« zu explizieren und systematisch zu befragen. Diltheys philosophische Reflexionen entzünden sich entsprechend primär an der Frage nach der systematischen Bedeutung der Entstehung und Entfaltung des historischen Bewusstseins, einer Bewusstseinsform, die Dilthey selbst in seiner eigenen Arbeit am historischen Material immer mehr zur zweiten Natur geworden ist, die zugleich aber auch das allgemeine intellektuelle Klima des ausgehenden 19. Jahrhunderts maßgeblich prägte.31 Eigentlich theoretische Auseinandersetzungen mit diesem Phänomen sind neben Friedrich Nietzsches zweiter Unzeitgemäßen Betrachtung (1874) relativ selten; oft geht es, wenn der Ausdruck fällt, weniger um eine begriffliche Analyse als um die deskriptive Zusammenfassung ins Auge
vernünftig zugegangen sei« – für empirischer als den der »Historiker vom Fach« hält (vgl. HW XII, 11–29, hier: 20, 22). 30 Derbolav 1966: 190; vgl. Bollnow 1939: 325 (»Dilthey, der eigentliche Philosoph des geschichtlichen Bewusstseins«); Spranger 1911b: 273 (»Von dem historischen Bewußtsein redete er [sc. Dilthey] mit einer Andacht, daß man sagen darf: eben in diesem Bewußtsein habe das Wesen seiner Philosophie bestanden.«). 31 In seiner klassischen Darstellung der Geschichte des Historismus nennt Friedrich Meinecke als relevante Etappen im Prozess von dessen schrittweiser Entfaltung u. a. Montesquieu, Hume, Herder und führt als avanciertesten Exponenten Goethe an (vgl. Meinecke 1959; Beiser 2011; Iggers 1983). Doch auch dem Einfluss der Werke Charles Darwins (und seiner Popularisierer) wird man eine erhebliche Bedeutung für die Verbreitung des Entwicklungsgedankens zuschreiben müssen. Dilthey selbst konstatiert: »In Lessing wird aus Leibniz das historische Bewusstsein entbunden.« (GS V, 19; vgl. GS VII, 145f) Mit Lessing lässt auch der Dilthey-Schüler Herman Nohl seine Arbeit über das historische Bewusstsein beginnen (vgl. Nohl 1979: 23).
Warum Dilthey? Motivierung der Fragestellung
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fallender Ermüdungserscheinungen einer ermattenden Spätkultur.32 Unter »historischem Bewusstsein« ist im Folgenden zunächst schlicht die Kenntnis von Vergangenem, von historischen Begebenheiten und Ereignissen und – darauf aufbauend – das Wissen um die Variabilität und Kontingenz der menschlichen Verhältnisse, Institutionen, Lebensformen zu verstehen.33 Zu diesen thematischen Zusammenhängen hat sich Dilthey zwar besonders eingehend geäußert, doch liegen natürlich auch alternative Theorieangebote vor und zum Teil deutlich prominentere, wie die von Nietzsche und Heidegger. Doch anders als Friedrich Nietzsche, für den ein Übergewicht des historischen Bewusstseins der Handlungsfähigkeit im Hier und Jetzt im Wege steht und daher den kulturellen Abwärtstrend weiter zementiert, betont Dilthey die konstruktiven und emanzipatorischen Potenziale, die durch es freigesetzt werden. Und auch anders als es bei Martin Heideggers Tieferlegung des historischen Bewusstseins zur fundamentalontologischen Einsicht in den Seinscharakter der Geschichtlichkeit der Fall ist, stehen Diltheys Überlegungen zum historischen Bewusstsein stets in engem Kontakt zur einzelwissenschaftlichen Forschungsarbeit der Geisteswissenschaften.34 Gegenüber wichtigen philosophischen Konkurrenzunternehmungen in Sachen historischem Bewusstsein zeichnet sich Diltheys Ansatz mithin prima facie durch seine konstruktivere und positivere Grundorientierung (contra Nietzsche) und durch seine Anschlussfähigkeit an die einzelwissenschaftliche Forschung (gegenüber der »ursprünglichen« Tiefe Heideggers) aus. Das systematische Interesse dieser Arbeit besteht daher im Kern darin, auf der Grundlage der systematischen, methodologischen und metaphilosophischen 32 Eine umso ausführlichere Debatte unter der Bezeichnung »Historismus« findet dann im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts statt, deren Protagonisten Ernst Troeltsch, Karl Heussi, Oswald Spengler und eben Friedrich Meinecke heißen. 33 Eine bündige Definition des »historischen Bewusstseins« zu geben und auch eine klare Abgrenzung gegenüber den Begriffen »Historismus«, »Historizismus« und »Geschichtlichkeit« (samt ihren uneinheitlichen Übersetzungen) zu markieren, ist notorisch schwierig, nicht zuletzt, weil die Ausdrücke häufig sehr idiosynkratisch und zum Teil auch rein polemisch verwendet werden. 34 »Heidegger glaubt nicht mehr, wie es Dilthey noch konnte, an historische Bildung, objektive Gestalten des Geistes und fortschreitende Erkenntnis der Wirklichkeit durch die Wissenschaften. Er denkt radikaler, indem er den Grund und Boden aufgraben will, aus dem sich die Wurzeln des Baumes der Metaphysik nähren, dessen äußerste Zweige die Wissenschaften sind.« (Löwith 1966: 264). Dagegen: »The fact that these interpreters [sc. followers of Martin Heidegger] constantly point out that Dilthey failed to make the ›ontological turn‹ which is the source of ›authentic‹ truth rather than the ›little‹ truths of science should suffice to remind the careful reader that his commitments lay elsewhere. For Dilthey, insight into human existence must take the arduous path of the disciplined, methodical knowledge of the human sciences, not the high-road of the ›new‹ twentieth-century metaphysics.« (Ermarth 1978: 139). Einen eingehenden Vergleich von Diltheys und Heideggers Theorien der Geschichtlichkeit hat Guillaume Fagniez vorgelegt (vgl. Fagniez 2019).
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Einleitung
Reflexionen Diltheys zur Philosophie des Lebens eine Explikation des historischen Bewusstseins zu entwickeln, die es erlaubt, eine von Leo Strauss formulierte Dichotomie als unvollständig zurückzuweisen, nach der das historische Bewusstsein entweder als trivial oder als katastrophal anzusehen ist. »Historicism assumes that modern man’s turn toward history implied the divination and eventually the discovery of a dimension of reality that had escaped classical thought, namely, of the historical dimension. If this is granted, one will be forced in the end into extreme historicism. But if historicism cannot be taken for granted, the question becomes inevitable whether what was hailed in the nineteenth century as a discovery was not, in fact, an invention, that is, an arbitrary interpretation of phenomena which had always been known and which had been interpreted much more adequately prior to the emergence of ›historical consciousness‹ than afterward.«35
Es wird also zu zeigen sein, inwiefern das historische Bewusstsein eine nichttriviale Herausforderung der systematischen Philosophie bedeutet und zugleich nicht die Aufgabe von Rationalitätsstandards in unzumutbarem Umfang impliziert. Besonders reizvoll an Diltheys Texten ist darüber hinaus, dass das historische Bewusstsein bei ihm nicht allein ein immens prominenter Gegenstand der philosophischen und historischen Reflexionen ist, sondern zudem sein Verständnis dessen, was Philosophie sei, sein kann und sein soll, maßgeblich bestimmt. So lässt sich seine eigentümliche Methode, »historische Forschung in philosophischer Absicht« zu betreiben, komplementär auch als ein Philosophieren aus und mit historischem Bewusstsein beschreiben. Auch mehr als hundert Jahre nach Diltheys Tod ist ein Konsens zum Verhältnis von »rein systematischer Philosophie« und »bloßer Philosophiegeschichte« nicht in Sicht. Von Diltheys reflektierter Haltung in dieser Sache und seinem Versuch, sich Rechenschaft abzulegen über die Gründe, die dafür sprechen, die Geschichte und die Philosophiegeschichte systematisch ernst zu nehmen, und sie nicht bloß auf ungeklärte Weise als geschätztes Bildungsgut weiterzutragen, ist nach wie vor einiges zu lernen. Für historisches Bewusstsein glaubte man, nachdem durch Francis Fukuyama das Ende der Geschichte diagnostiziert worden war, keine eigentliche Verwendung mehr zu haben. Nach dem Wegfall der Option des Marxismus’ reduzierte es sich vollends auf die vage Erwartung von Wirtschaftswachstum.36 Indem durch die ökologische Katastrophe nun auch diese Schwundform unter Druck gerät und Ernst Jüngers »Zeitmauer« beunruhigend nahe scheinen kann, wächst auch der Frage nach dem historischen Bewusstsein eine neue Aktualität zu.
35 Strauss 1963: 33. 36 »Zukunft: wir erwarten sie als verlängerte Gegenwart, historischer Prozeß reduzierte sich auf Wirtschaftswachstum.« (Jeismann 1985a: 17).
Stand der Forschung
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In einer nachdenklich gestimmten Passage lässt Karl Ulmer auf die Frage »Warum Dilthey?« dermaßen viele Fäden zusammenschießen, dass sie hier in extenso zitiert sei: »Denn gerade in Anbetracht des Glaubens an einen ständigen Fortschritt des Wissens und Könnens sollte es uns nicht so sehr verwundern, daß eine frühere Zeit schon so gedacht hat wie wir, sondern wir sollten uns vielmehr umgekehrt darüber verwundern, daß wir heute immer noch so denken wie jene Zeit, und es sollte uns beunruhigen, daß uns die letzten hundert Jahre trotz der Vergrößerung der geistigen Anstrengungen, die wir allenthalben in der Einzelforschung feststellen können, in der Lösung der grundsätzlichen Fragen und Probleme nicht weitergebracht haben. Diese Verwunderung und Beunruhigung kann aber zur Bestürzung werden, wenn wir feststellen können, daß in jener Zeit manche Fragen und Probleme und Aufgaben klarer formuliert und in allen ihren Bezügen umfassender und tiefer gesehen wurden als heute. Es sieht so aus, als wenn die bisherige geistige Arbeit vor allem in einer Verengung der Fragestellungen und damit einer Verkürzung der Sachprobleme bestanden hat und wir darum mit ihrer grundsätzlichen Lösung in den letzten hundert Jahren nicht weitergekommen sind, sondern uns eher davon entfernt haben. […] Was hier so allgemein über unser Verhältnis zur Vergangenheit der letzten hundert Jahre gesagt wurde, läßt sich am Beispiel des Werkes von Wilhelm Dilthey belegen, das bisher nur einseitig und verkürzt rezipiert wurde, so daß seine weiterführende Einsichten für die Philosophie bis heute noch nicht zum Tragen gekommen sind.«37
0.2
Stand der Forschung
Diltheys Werk genießt in der Fachwelt (abgesehen von einem kleinen Expertenkreis) nach Phasen intensiver Präsenz und reger Forschungstätigkeit schon seit längerem ein eher bescheidenes Maß an Aufmerksamkeit. Auch der Abschluss der Werkausgabe hat der Diltheyforschung keinen erkennbaren neuen Schwung geben können.38 Insofern scheint Ulmers Einschätzung, dass Dilthey in seinem Wesentlichen und Weiterführenden allererst noch zu entdecken sein könnte, nicht völlig unplausibel.
0.2.1 Phasen der Diltheyrezeption Schematisch lassen sich (im deutschsprachigen Raum) vier Phasen der philosophischen Rezeption Diltheys unterscheiden.39 37 Ulmer 1978: 380f, Hervorhebungen im Original. 38 Vgl. Dierse 2014. 39 Groothoff und Zöckler bieten zwei gerade in ihrer Divergenz aufschlussreiche Darstellungen der Rezeptionsgeschichte Diltheys (vgl. Groothoff 1981: 191–215; Zöckler 1975: 79–179).
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Einleitung
Phase I: 1923–1945 Seinen Zeitgenossen war Dilthey in erster Linie als Erforscher der Geistesgeschichte, als Philosophiehistoriker und Verfasser der enorm verbreiteten Aufsatzsammlung »Das Erlebnis und die Dichtung« bekannt. Die Wirkung seiner systematischen Ansätze entfaltete sich erst posthum und zwar wesentlich durch den Einfluss von zwei Publikationen. 1923 veröffentlicht Sigrid von der Schulenburg seinen Briefwechsel mit Paul Yorck von Wartenburg und 1924 folgen die von Georg Misch besorgten Bände V und VI der Gesammelten Schriften.40 In ihnen werden unter dem Titel »Die geistige Welt: Einleitung in die Philosophie des Lebens« erstmalig Diltheys verstreut erschienene systematische Arbeiten gesammelt und so erstmals einem größeren Publikum der Blick auf diese Dimension seines Schaffens freigegeben. Das Konzept dieser Sammlung und auch ihr Titel gehen dabei noch auf Dilthey selbst zurück. Ausschlaggebend für die Entdeckung Diltheys als eines Philosophen war insbesondere der umfangreiche Vorbericht Mischs zu [GS V], in dem er es unternimmt, die unverbundenen Einzelaspekte, die Dilthey in seinen verschiedenen Arbeiten erkennen lässt, zu einem prägnanten und geschlossenen systematischen Profil zu verbinden. 1927 folgt Band VII mit dem »Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften«, einem wesentlichen Teil des Spätwerks Diltheys. Auf dieser Grundlage kommt es gegen Ende der 1920er zu einer dynamischen Forschungstätigkeit zur Philosophie Diltheys, die erst durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an Momentum verliert. Die in dieser Zeit freigesetzte Produktivität in der Auseinandersetzung mit Diltheys philosophischen Ideen schlägt sich sowohl in monographischen Arbeiten41 nieder als auch in zahlreichen Anknüpfungen42 im Rahmen weiterführender Projekte; auch die internationale Rezeption43 setzt in den 1930er Jahren ein.
40 41 42 43
Neben der Philosophie sind zunächst vor allem die Literatur- und die (entstehende) Erziehungswissenschaft als frühe Felder einer ausgeprägten Diltheyrezeption zu nennen, später auch die Ethnologie und Anthropologie (vgl. Antoni 195?: 55f). Gegenbeispiele einer früheren ( jedoch ebenfalls bereits posthumen) systematischen Auseinandersetzung mit Dilthey sind [Krakauer 1913], [Rothacker 1972, zuerst 1920] und [Stein 1926, zuerst 1913]. Zu nennen sind hier vor allem: Bollnow 1980; Landgrebe 1928; Litt 1980; Misch 1926, 1967. In erster Linie: Heidegger 2006; Plessner 1975, 1981; Rothacker 1965, 1971, 1972. Für Japan etwa Kenzo Katsube (1931), für die USA Homer G. Richey (1935), für Frankreich Raymond Aron (1969, zuerst 1938).
Stand der Forschung
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Phase II: 1945–1968 Vielerorts reißt die akademische Lehr- und Forschungstradition der Lebensphilosophie44 spätestens mit dem Kriegsende ab, und das aus ganz verschiedenen Gründen.45 Zum Teil aufgrund der Emigration von Forschenden oder von deren frühzeitigem Ableben, zum Teil aber auch aufgrund politischer Verdächtigung entweder zentraler oder zumindest mit ihr assoziierter Figuren (z. B. Rothacker, Spranger, Heidegger) oder der ideologischen Problematisierung der Lebensphilosophie selbst.46 Neben das Interesse an einer auch geistesgeschichtlichen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Herrschaft tritt zudem eine vermehrte Beanspruchung Diltheys für die Selbstverständigungsprozesse und -bedürfnisse von philosophischen Schulbildungen.47 Sowohl für den Erlanger Konstruktivismus (W. Kamlah, P. Lorenzen), als auch für die Philosophische Hermeneutik (M. Heidegger, H.G. Gadamer) und die Transzendentalpragmatiker (K.-O. Apel, J. Habermas) stellt Dilthey eine relevante Bezugsgröße dar, die es aber selbstverständlich in Richtung der eigenen Position zu überwinden gilt.48 Unter beiden Aspekten spielt naturgemäß das sachliche Interesse an einer ausgewogenen, treffenden und differenzierten Diltheyinterpretation nur eine untergeordnete Rolle. So sind die Arbeiten dieser Phase regelmäßig auch exegetisch defizitär zu nennen, da sie sich häufig auf eine ausgesprochen schmale Textbasis stützen. Über weite Strecken wird ausschließlich mit den Spätschriften aus [GS VII] gearbeitet. Für den internationalen Kontext ist in diesem Zeitraum eine rege Übersetzungstätigkeit festzustellen, auch erscheinen einige wichtige, Diltheys Philosophie in neue Sprachräume einführende Monographien.49
44 Diltheys Philosophie wird üblicherweise unter der Bezeichnung »Lebensphilosophie« geführt. Zur Problematik dieser Sammelbezeichnung siehe u. a. Abschnitt 4.3. 45 Für das philosophische Seminar der Universität Göttingen, dem hier als Wirkungsstätte von Herman Nohl und Georg Misch, den wichtigsten unmittelbaren Dilthey-Schülern, eine besondere Bedeutung zukommt, hat Hans-Joachim Dahms die Entwicklung zwischen 1917 und 1950 aufgearbeitet (vgl. Dahms 1998). 46 Insbesondere wird der »Irrationalismus« der Lebensphilosophie als begünstigendes Moment für die Entfaltung des Faschismus’ ausgemacht (vgl. Lieber 1966; Lukács 1974; s. u. Abschnitt 4.3). 47 Allen voran [Gadamer 2010], aber auch [Habermas 1973] und [Lorenzen 1988]. 48 Bei Kamlah und Lorenzen besteht sowohl ein unmittelbarer Bezug auf einzelne Diltheysche Gedanken als auch ein über Hugo Dingler, Herman Nohl und Georg Misch vermittelter (vgl. Gethmann 1991: 32f, 40–51). Die weitestgehenden Ansprüche einer geradezu vollständigen Hegelschen Aufhebung der Philosophie Diltheys formuliert Gadamer, während sich die Bezugnahmen ansonsten nicht auf das Gesamtwerk, sondern nur auf einzelne Begriffe oder Gedanken beziehen. 49 Vgl. Díaz de Cerio Ruíz 1959: xxii–xxvi.
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Einleitung
Phase III: 1968–88 Mit [Krausser 1968] beginnt ein neuer Abschnitt der Diltheyrezeption, der sich zum einen wieder durch ein immanentes und systematisches Interesse an dessen Philosophie auszeichnet und zum anderen durch das Bestreben, dem ganzen Dilthey gerecht zu werden, was in einem minimalen Sinn bedeutet, auch die vor 1900 entstandenen Texte zu berücksichtigen.50 Entsprechend fallen in diese Zeit eine ganze Reihe fruchtbarer monographischer Forschungsarbeiten.51 Als besonders relevant für die Gewinnung eines Gesamtbildes Diltheys, das alle Schaffensphasen und Themenfelder integriert, hat sich die Publikation von [GS XIX] im Jahr 1982 herausgestellt, in dem sich unveröffentlichte und systematisch orientierte Fortsetzungen der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) finden. Ein Textkorpus, auf dessen erhebliche Relevanz Krausser schon 1968 hinwies. Phase IV: 1988 bis heute In den letzten 35 Jahren ist zu beobachten, dass systematische Zugriffe auf das Gesamtwerk eher selten geworden sind.52 An deren Stelle sind typischerweise Forschungsarbeiten getreten, die sich spezifischen Einzelproblemen widmen, sowie vermehrt Sammelbände. Insgesamt zeichnet sich ab, dass ein mehr philosophiehistorischer Blick auf Dilthey an Gewicht gewinnt. Die Brauchbarkeit und Relevanz Diltheys für aktuelle systematische Fragestellungen wird, wie exemplarisch von [Rickman 1988], explizit thematisiert. Im Jahr 2000 wird der letzte Band des Dilthey-Jahrbuchs publiziert. Inzwischen erscheint nur noch ein Bruchteil der Diltheyforschung in deutscher Sprache. Letztere Beobachtung sowie die Verdrängung von Monographien durch Aufsätze und Sammelbände ist als allgemeiner Trend für die Diltheyrezeption nicht spezifisch und daher auch nicht besonders aussagekräftig.
0.2.2 Einsichten und Maßgaben Wie wir uns im Einzelnen zur vorliegenden Diltheyforschung verhalten, wird der Gang der Untersuchung selbst zeigen. Einige grundlegende Orientierungen, die sich auch diese Arbeit zu eigen macht, sind die Folgenden.
50 Zur Rolle von Kraussers Beitrag vgl. Groothoff 1981: 200–203. 51 So etwa Johach 1974; Ineichen 1975; Zöckler 1975; Ermarth 1978; Rickman 1979; (zwar keine Monographie, aber richtungsweisend:) Ulmer 1978. 52 Ausnahmen sind hier etwa: Mezzanzanica 2006; de Mul 2004; Stegmaier 1992.
Stand der Forschung
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Als exegetisch-hermeneutische Ausgangshypothese unterstellen wir die Einheit des Diltheyschen Denkens. Die These von einem »Bruch« um 1900, der eine psychologische Früh- und Mittelphase vom hermeneutischen Spätwerk trenne, lässt sich unseres Erachtens nicht überzeugend belegen.53 Zwischen den verschiedenen Abschnitten des Diltheyschen Schaffens sind zwar deutliche thematische Verschiebungen festzustellen; seine Rückgriffe auf frühere Arbeiten oder seine Stellungnahmen zu Fragen, zu denen er sich bereits früher geäußert hat, haben aber ganz überwiegend den Charakter einer fortschreitenden Differenzierung von bereits eingegangenen Festlegungen. Fast nie handelt es sich dabei um Revisionen in der Sache. Dies hat zur Folge, dass Interpretationshypothesen bevorzugt werden, die Diltheys (vermeintlicher) Gesamtposition entsprechen oder zumindest nicht widersprechen, gegenüber solchen, die nur für den Rahmen eines einzelnen Textes Gültigkeit beanspruchen können.54 Dazu ist es natürlich nötig, eine möglichst breite Textbasis heranzuziehen, anstatt anhand einiger weniger Texte oder sogar Textstellen eine Gesamtinterpretation zu entwickeln.55 Innerhalb des vorliegenden Textkorpus’ schreiben wir den von Dilthey selbst publizierten Texten gegenüber Publikationen aus dem Nachlass bei thematischen Überschneidungen und inhaltlichen Widersprüchen einen gewissen Vorrang zu, was im Falle eines skrupulösen und abwägenden Autors ein sinnvolles Vorgehen zu sein scheint. Weiterhin teilt vorliegende Arbeit die besonders nachdrücklich von [Ermarth 1978] vertretene Auffassung, dass eine Einreihung Diltheys in die Vorgeschichte der Philosophischen Hermeneutik den Zugang zu seinem Werk eher verstellt als
53 Zöckler unterscheidet mit Blick auf Diltheys Gesamtwerk zwei typische Lesarten: (a) die These von einer »hermeneutischen Wende«, nach der es etwa zur Zeit der Jahrhundertwende aufgrund der Lektüre von Husserls »Logischen Untersuchungen« bei Dilthey zu einem mehr oder weniger radikalen sowohl thematischen als auch methodologischen Neuanfang gekommen sei; während die erste Phase von Metaphysikkritik, der Konzeption einer beschreibenden Grundlagenwissenschaft (»deskriptive Psychologie«) sowie dem Großprojekt einer Kritik der historischen Vernunft bestimmt werde, beherrschen die zweite Phase hingegen antipsychologistische, hermeneutische Reaktivierungen des »objektiven Geistes« Hegels; zudem werde die Unvollendbarkeit des Großprojektes eingesehen; (b) die Überzeugung, dass ein solcher Bruch nicht nachzuweisen sei: Diltheys Psychologie findet sich bis zum Schluss und Hermeneutisches bereits in den Frühschriften (vgl. Zöckler 1975: 107 (Anm.), 183f). 54 Vgl. Diwald 1963: 20 (»Die Formulierung von Diltheys Gedanken mag also proteisch wechseln, der Gedanke selbst ändert sich nicht.«). Das illustriert Diwald anhand zahlreicher Beispiele (vgl. S. 11–22). Konträr dazu: konstanter Ausdruck bei wechselnder Bedeutung, befindet Glock 1939: 39–43. 55 »It is all the more important to base one’s interpretations on the whole body of his work.« (Rickman 1979: 21).
30
Einleitung
eröffnet.56 Auch wenn Heidegger und Gadamer zentrale Begriffe Diltheys aufgreifen, kann von einer Übereinstimmung hinsichtlich der grundlegenden Orientierung und der wesentlichen philosophischen Anliegen keine Rede sein, wie im Folgenden wiederholt deutlich werden wird.57
0.3
Aufbau und Anliegen der Arbeit
Verbreiteter noch als die Verzerrungen, die sich aus der Perspektive der Philosophischen Hermeneutik auf das Werk Diltheys ergeben, ist die Überzeugung, dass Dilthey entweder den Anspruch auf systematische Philosophie ganz aufgegeben oder zumindest in dieser Hinsicht wenig Interessantes zu bieten habe. »Dilthey verstand Philosophie als Hermeneutik, weil er die systematische Philosophie auflöste in eine allgemeine Geistesgeschichte, welche die geistigen und kulturellen Denkmäler der Vergangenheit auf eine Typik von Weltanschauungen hin interpretiert. […] Sie schränkt sich ein auf Philosophiegeschichtsschreibung und Geistesgeschichte, weil sie nicht mehr an die Möglichkeit systematischen Philosophierens glaubt. […] systematische Impotenz […]«58
Unseres Erachtens haben insbesondere die Arbeiten von Helmuth Plessner, Peter Krausser und Michael Ermarth gezeigt, dass sich aus den Schriften Diltheys durchaus eine geschlossene und prägnante systematische Agenda herausarbeiten lässt und dass die dabei sichtbar werdende philosophische Position zudem auch inhaltlich bedenkenswert ausfällt.59 Da Dilthey seine Texte nicht streng argumentierend aufbaut und auch gelegentlich terminologisch uneinheitlich formuliert, erfordert ein systematischer Zugriff auf seine Gedanken im Sinne einer rationalen Rekonstruktion eine gewisse Beinfreiheit.60 Um die zutage tre56 »Erst durch ihn [sc. Heidegger] ist die philosophische Intention Diltheys freigesetzt worden.« (Gadamer 2010: 247; vgl. Marquardt 1996: 75 (Fn 1)). Diese Behauptung Gadamers lässt sich in keiner Form aufrechterhalten. 57 Bereits Frithjof Rodi empfiehlt in seiner besonders unter methodologischem Aspekt wertvollen Einleitung »Variationen der Unzugänglichkeit« eine kritische Distanz zu Heidegger auf der einen und zum Marxismus auf der anderen Seite (vgl. Rodi 1969: 69). 58 von Kempski 1992c: 400f. Eine entsprechende Charakterisierung findet sich auch bei Jürgen Habermas: »[…] ob Dilthey und der Historismus die Philosophie in Geschichte der Philosophie und Weltanschauungstypologie auflösten […] mit allen diesen Reaktionen schien das philosophische Denken sein Spezifisches aufzugeben« (Habermas 1988: 44); bei Plessner heißt es über Dilthey: »Scheinbar unentschlossen und systematischen Aufgaben nicht gewachsen« (Plessner 1990/91: 296). 59 Das bedeutet nicht, Dilthey zu einem Systemdenker zu erklären, was er zurückgewiesen hätte (»Wir verschmähen die Konstruktion, lieben die Untersuchung, verhalten uns skeptisch gegen die Maschinerie eines Systems.«, J 87). 60 Vgl. die für einen an »der Sache Diltheys« interessierten Zugriff überaus instruktiven Vorbemerkungen Kraussers (Krausser 1968: 13–23).
Aufbau und Anliegen der Arbeit
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tende philosophische Position so klar und so plausibel wie möglich darzustellen, sind gelegentliche Interpolationen, Präzisierungen, Problematisierungen und ist auch eine partielle Emanzipation von Diltheys Theoriesprache unumgänglich. Die systematische Frage, zu deren Erhellung folgende Arbeit einen Beitrag zu leisten versucht, lautet letztlich: worin bestehen die konstruktiven und antiskeptischen Aspekte des historischen Bewusstseins? Dass Dilthey als Reaktion auf die Dekadenzphänomene des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine Vertiefung des historischen Bewusstseins empfahl und nicht etwa dessen Einhegung, er es mithin in Gegenstellung zum um sich greifenden Skeptizismus, Relativismus, Nihilismus, Ästhetizismus seiner Tage bringt, spricht dafür, dass er ihm eine solche produktiv-verbindliche Dimension zuschreibt. Eine genauere Erläuterung dieser Seite des vertieften historischen Bewusstseins sucht man bei Dilthey selbst allerdings vergeblich, sodass eine rekonstruktive Beantwortung dieser Frage darauf angewiesen ist, die dafür erforderlichen und auch im Werk Diltheys bereitstehenden theoretischen Ressourcen und Tendenzen auszumachen, zu kommentieren und zusammenzutragen. Bevor also im abschließenden Kapitel (5.) eine Erläuterung des konstruktiven Potenzials des historischen Bewusstseins versucht werden kann, müssen zunächst die systematischen Grundbegriffe, durch die Dilthey die geschichtliche Welt strukturiert sieht, erläutert werden. Dies geschieht im vorletzten Kapitel (4.) in Form einer Rekonstruktion von Diltheys Theorie der Lebenskategorien. Das dafür nötige Verständnis von Diltheys gegenüber der Tradition ausgesprochen eigentümlicher Kategorienlehre setzt wiederum eine Rekonstruktion von Diltheys philosophischem Ausgang vom »Leben« in systematischer, methodologischer und metaphilosophischer Hinsicht voraus (3.). Das Charakteristische an Diltheys konstruktivem Projekt einer Philosophie des Lebens besteht nun darin, dass dessen einzelne Elemente sich geradezu unmittelbar als bestimmte Negation der von ihm abgelehnten Tradition metaphysischen Philosophierens ergeben. Daher ist für ein angemessenes Verständnis der Philosophie des Lebens eine durchgängige Berücksichtigung seiner Metaphysikkritik (2.) unabdingbar. Das einleitende erste Kapitel hat die Funktion, gängige schematische Vorverständnisse Diltheys (als eines dogmatischen Antinaturalisten oder methodologischen Dualisten) insoweit zu berichtigen und zu ergänzen, dass sie einem Verständnis von Diltheys eigentlichem philosophischen Projekt nicht im Wege stehen. Das historische Bewusstsein bei Dilthey wurde in der Forschung bereits verschiedentlich thematisiert, zumeist allerdings lediglich in der Form, dass es vor dem Hintergrund der Spätphilosophie erläutert wurde, etwa im Zusammenhang mit seiner Weltanschauungs- oder Verstehenslehre. Auch die leitende Fragestellung nach den sachlichen und theorieinternen Gründen für Diltheys Optimismus in Bezug auf das historische Bewusstsein wurde bisher nicht aufgerollt, wenngleich seine Haltung in dieser Frage verschiedentlich zu Kenntnis genom-
32
Einleitung
men wurde.61 Sowohl hinsichtlich der verfolgten Frage, als auch hinsichtlich der methodologischen Entscheidung, sich dem Problem über eine Rekonstruktion der Philosophie des Lebens als einem zugleich konstruktiven und metaphysikkritischen Projekt zu nähern, reagiert vorliegende Arbeit auf Lücken der bisherigen Diltheyforschung.
61 Michael Ermarths verdienstvolle Studie etwa kreist in ihren abschließenden Kapiteln geradezu um diesen Aspekt der Diltheyschen Position (vgl. Ermarth 1978: 317–321, 337f, 356).
1.
Die Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften
Die Rezeption der Philosophie Diltheys in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die auch das durchschnittliche heutige Bild von ihm ganz wesentlich bestimmt, ist von einer erstaunlichen thematischen Engführung geprägt. So wird er, sofern er nicht völlig in den »Schatten des Vergessens«62 verschwunden ist, nahezu ausschließlich als »Vater der Hermeneutik« oder als »Philosoph der Geisteswissenschaften« diskutiert und dabei entweder als Vorläufer der eigenen Schule verbucht oder als Kontrastfolie für die Darstellung einer anderen systematischen Position herangezogen. Sei es als Vorläufer oder als Strohmann in keinem der Fälle wird besondere Sorgfalt darauf verwendet, zu prüfen, ob die Thesen, die man ihm zuschreibt, dem eigentlichen philosophischen Anliegen Diltheys entsprechen oder nicht. Man begnügt sich stattdessen in der Regel damit, eine Handvoll immer gleicher Textstellen zu zitieren, um seine vermeintlich hinlänglich bekannte Position in Erinnerung zu rufen und daraufhin umgehend »über sie hinauszugehen« bzw. ihre eklatante Unhaltbarkeit zu unterstreichen.63 Unseres Erachtens wirkt dieses weit verbreitete, ausgesprochen schematische »Vorverständnis« Diltheys als einem methodologischen oder ontologischen Dualisten, apriorischen Antinaturalisten, unsystematischen Weltanschauungsphilosophen oder reinen Ideengeschichtlers als erhebliches obstacle épistémologique (Gaston Bachelard) und steht einer eigentlichen, und umso mehr einer fruchtbaren, Auseinandersetzung mit Diltheys Texten und Theorien massiv verhindernd im Weg. Um eine solche im Folgenden zu ermöglichen, scheint es daher zweckmäßig, gleich zu Beginn den Kern dieses durchschnittlichen Diltheybildes anzuvisieren, ihn zu exponieren und zu prüfen. Da sich die angedeutete durchschnittliche Diltheyrezeption meist auf dem Abstraktheitsgrad von Ismen und Schlagworten bewegt, erfolgt deren Prüfung entsprechend auf dem Wege einer Konkretisierung und Rekontextualisierung der besonders häufig herangezogenen Textstellen. Ganz in diesem Sinn betont 62 Riedel 1970: 9. 63 Vgl. Mantzavinos 2005: 12–21.
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Bernhard Huschke-Rhein die Bedeutung einer (historischen) Kontextualisierung für eine angemessene Rekonstruktion von Diltheys systematischem Anliegen; »es mag […] sonst so scheinen, als sei der Wissenschaftsbegriff Diltheys die zeitlose Antwort auf ein zeitloses Problem, nämlich auf die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Leben.«64 Es soll nun vorkommen, dass sich Philosophierende in genau diesem Sinne verstehen: als befasst mit der Suche nach der »zeitlosen Antwort auf ein zeitloses Problem«. Für ein solches Selbstverständnis ist ein Rückgang auf den historischen Kontext von Aussagen kaum ein geeignetes Mittel zum besseren Verständnis philosophischer Positionen. Stattdessen wäre eine logisch-semantische Analyse der Behauptungen, eine Artikulation ihrer systematischen Voraussetzungen und Folgen zu erbringen. Diese Analysearbeit soll hier nicht umgangen oder übersprungen werden, sie setzt allerdings ein hinreichend klares Verständnis der zu behandelnden Position voraus, das im Fall von Rückgriffen auf die Philosophiegeschichte nicht immer schon gegeben ist. Als hehres Ideal braucht das Abzielen auf Zeitlosigkeit nicht aufgegeben zu werden, auch wenn ein Blick in die Philosophiegeschichte zeigt, dass gerade die gültigsten und dauerhaftesten Leistungen und Innovationen gelegentlich aus dem beschränkten Horizont und Anspruch des jeweiligen Tagesgeschäfts hervorgehen. Auch wenn es sich nicht im engeren Sinn um Gelegenheitsschriften handelt, reagiert man eben doch »zunächst und zumeist« auf aktuelle Anregungen, politische Ereignisse, konkrete Gesprächspartner, neu erschienene oder zugänglich gemachte Bücher. Diese faktisch-historischen Begebenheiten bilden den primären Diskurskontext auch philosophischer Texte, selbst wenn nach dem Selbstbild der Disziplin das eigentlich Philosophische in deren »zeitloser« argumentativer Essenz bestehen mag, die es aus den konkret geführten Debatten herauszudestillieren gilt. Die Möglichkeit faktische Auseinandersetzungen zu zeitlosen Argumentationen hochzustilisieren braucht wiederum nicht geleugnet zu werden. Festzuhalten und in unserem Kontext zu betonen ist lediglich, dass diese Idealsphäre eben nicht primär ist, sondern ein Sublimationsprodukt. Unmittelbar in ihr werden keine Texte verfasst, Diskurse geführt, Theorien entwickelt. Da auch philosophische Gedanken demnach ihre primäre Umgebung in konkreten Texten und Diskursen haben, ist ein Rückgang auf diesen Kontext auch ein geeignetes Mittel zur ersten Klärung und Erschließung ihrer Bedeutung.65 64 Huschke-Rhein 1979: 19. 65 Der Gedanke des primären Diskurskontextes versteht sich als Übertragung einer Einsicht J. L. Austins auf schriftlich geführte Debatten: »The total speech act in the total speech situation is the only actual phenomenon which, in the last resort, we are engaged in elucidating« (Austin 1975: 148, Hervorhebung im Original). Für schriftliche Äußerungen scheint es erforderlich zu sein, den Begriff der »Situation« relativ weit zu fassen; sie ist weniger raum/zeitlich als thematisch begrenzt.
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Bleibt eine solche Rückbindung philosophischer Propositionen an ihren Primärkontext aus, werden sie nur noch »zeitlos« auf der abstrakt-begrifflichen Ebene rezipiert und kolportiert, kann sich der mit ihnen verbundene Sinn leicht unkontrolliert verschieben. Diese Drift kann schließlich soweit gehen, dass sich ab einem gewissen Punkt die Frage aufdrängt, wie denn »so etwas« ernsthaft je hat behauptet werden können. Zu beobachten sind die problematischen Tendenzen einer solchen konsequenten Dekontextualisierung der entsprechenden Theorien und Thesen Diltheys im Rahmen der Diskussion um das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften. Sie führt regelmäßig dazu, ihn als jemanden zu verbuchen, der versucht habe, mit rein begrifflich-philosophischen Mitteln ein für alle Mal die prinzipielle »Autonomie der Geisteswissenschaften« nachzuweisen.66 Doch bereits der erste Blick in die Schriften Diltheys macht klar, dass dieser sein Anliegen einer »Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte«67 in engster Fühlung mit einer faktisch bestehenden geisteswissenschaftlichen Forschungspraxis konzipiert und durchführt, und keineswegs als ein zeitloses, rein systematisches Problem.68 Das entsprechende Prinzip auch seines philosophischen Arbeitens formulierte er bereits in der Mitte der 1860er Jahre: »die Theorie folgt der Praxis«.69 So ergibt sich der Verdacht, der im Folgenden zu prüfen sein wird, dass Diltheys Überlegungen zur Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften, die sich ihm unmittelbar aus der ihm vorliegenden, tatsächlichen und (nach seinem Verständnis) auch ausgesprochen erfolgreichen geisteswissenschaftlichen Forschungs- und Bildungspraxis ergaben und stets auch auf eine Rückwirkung auf diese abzielen, ohne diesen Praxis- und Zeitbezug schnell ihre eigentliche Pointe verlieren könnten.70 Nur allzu leicht folgt aus der Dekontextualisierung einer
66 Bereits der genaue Sinn des Ausdrucks »Autonomie der Geisteswissenschaften« bleibt nicht selten völlig unbestimmt, ebenso ob es sich dabei um eine ontologische, methodologische oder epistemische These handeln soll. 67 »Versuch einer Grundlegung…« (Hervorhebung hinzugefügt) lautet der Untertitel seiner »Einleitung in die Geisteswissenschaften« (1883) [= GS I]. 68 Vgl. GS I, xv–xx (»Aus dem Gefühl dieses Zustandes der Geisteswissenschaften ist mir der Versuch entstanden, das Prinzip der historischen Schule und die Arbeit der durch sie gegenwärtig durchgehends bestimmten Einzelwissenschaften der Gesellschaft philosophisch zu begründen und so den Streit zwischen dieser historischen Schule und den abstrakten Theorien zu schlichten.«, S. xvii). 69 GS XVIII, 1. 70 Vgl. dazu GS I, xx (»Möchte das Werk auch nur einigermaßen seiner Aufgabe entsprechen können, den Inbegriff von geschichtlichen und systematischen Einsichten zu vereinigen, deren der Jurist und der Politiker, der Theologe und der geschichtliche Forscher als Grundlage für ein fruchtbares Studium ihrer Einzelwissenschaften bedürfen.«, Hervorhebung hinzugefügt).
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Theorie deren Apriorisierung.71 Um daher den eigentlichen Sinn der häufig völlig isoliert kolportierten Selbstständigkeitsthese zu rekonstruieren (ist sie ontologisch, methodologisch, epistemisch oder noch anders zu verstehen?) und auch um ihren Geltungsanspruch angemessen zu kalibrieren (soll sie universalistischapriorisch gelten oder eher provisorisch-pragmatisch? und wie verhält sie sich zu empirischen Evidenzen?), wird im Folgenden auf drei Kontexte näher eingegangen: auf ihre Einbettung in die Agenda der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), in der sie zum ersten Mal ausführlich dargelegt und prominent publiziert wurde, und auf zwei einschlägige zeitgenössische Debattenbeiträge, zu denen sich Dilthey mit ihr verhält: die Ignorabimus-Thesen von Emil Du BoisReymond und die von Wilhelm Windelband in die Debatte eingebrachte Unterscheidung von nomothetischen und idiographischen Wissenschaften. Zunächst sei zudem in aller Kürze an die ernüchterten kulturellen Rahmenbedingungen des akademischen Philosophierens im deutschen Sprachraum ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erinnert.
1.1
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Zur Zeit von Diltheys akademischer Sozialisation und seiner ersten publizistischen Tätigkeit war es um die Philosophie relativ leise geworden. Vom akademischen und gesellschaftlichen Prestige, das die Disziplin noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem im deutschsprachigen Raum umgab, war nach der Jahrhundertmitte kaum noch etwas geblieben. In seinen Hegel-Vorlesungen von 1857 zeichnet Rudolf Haym von den vergangenen »goldenen Tagen« ein eindrückliches Bild: »Noch, denke ich, ist einem großen Theile der Jetztlebenden die Zeit in guter Erinnerung, wo die ganze Wissenschaft von der reichbesetzten Tafel der Hegel’schen Weisheit zehrte, wo alle Facultäten vor der philosophischen antichambrierten, um wenigstens etwas von der hohen Inspection in das Absolute und von der Allgeschmeidigkeit der berühmten Dialektik sich anzueignen, wo man entweder ein Hegelianer, oder ein Barbar und Idiot, ein Zurückgebliebener und ein verächtlicher Empiriker war, – wo der Staat – man denke! – sich nicht am wenigsten deshalb sicher und befestigt dünkte, weil der alte Hegel ihn in seiner Nothwendigkeit und Vernünftigkeit construirt hatte, und wo ebendarum es vor der preußischen Cultus- und Unterrichtsstelle beinahe als Verbrechen galt, Nicht-Hegelianer zu sein. Diese Zeit muß man sich zurückrufen, um zu 71 Bereits im Zuge der ersten posthumen Rezeptionsphase in den 1920er Jahren warnt etwa der Dilthey-Schüler und -Schwiegersohn Georg Misch vor einer Überbetonung und Verabsolutierung der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften unter Berufung auf Dilthey (vgl. Misch 1926: 545f). 72 Natorp 1918: 5.
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wissen, was es mit der wirklichen Herrschaft und Geltung eines philosophischen Systemes auf sich hat. Jenes Pathos und jene Ueberzeugtheit der Hegelianer vom Jahre 1830 muß man sich vergegenwärtigen, welche im vollen, bitteren Ernste die Frage ventilirten, was wohl den ferneren Inhalt der Weltgeschichte bilden werde, nachdem doch in der Hegel’schen Philosophie der Weltgeist an sein Ziel, an das Wissen seiner selbst hindurchgedrungen sei. […] Es ist Grund zu größerer Unruhe. Kein Zweifel, – man mag sich dieser Wahrnehmung freuen, oder darüber sich betrüben – der Verfall der Hegel’schen Philosophie steht im Zusammenhang mit der Ermattung der Philosophie überhaupt.«73
Das Ende dieser glorreichen Zustände wird markiert von Hegels Tod im Jahr 1831 (Goethe: 1832, Schleiermacher: 1834); dieser Generationenwechsel, so hat es sich als Topos der Philosophiegeschichtsschreibung etabliert, bedeutet eine markante geistesgeschichtliche Zäsur. Denn mit dem sogenannten »Zusammenbruch des Idealismus« waren einschneidende Veränderungen auf ganz verschiedenen Ebenen verbunden.74 Philosophieintern fand mit ihm die Zeit eines sich durch einzelwissenschaftliche Forschungsergebnisse nicht irritieren lassenden Systembaus ein (zumindest vorläufiges) Ende; gesamtgesellschaftlich verlor die Philosophie massiv und dauerhaft an Reputation und Relevanz. Die Deutungshoheit über weltanschauliche und allgemein-kulturelle Fragen (sofern sie eine solche jemals besaß) ging über an andere Instanzen, etwa an die mit spektakulären Fortschritten aufwartenden Naturwissenschaften, die zunehmend plausibel machen konnten, ganz unabhängig von philosophischen Grundlegungen der eigentliche Hort von Wissenschaftlichkeit zu sein.75 Drastische Worte für den allgemeinen Bedeutungsverlust der Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet Paul Natorp: »Sie galt fast allgemein an den Hochschulen, vollends draußen, als ein Treiben neben der Wissenschaft her, ein armselig ziel- und weg-unsicheres, dilettantisches Tasten, das an alle höchsten, vielmehr kaum die echten Probleme sich heranmachte, aber keines von allen fest zu fassen, geschweige damit fertig zu werden wußte. Wie stach dagegen ab die mutig auf den weiten Ozean des Erforschlichen sich hinauswagende, mächtig vor-
73 Haym 1962: 4f. Was die historische Akkuratheit dieser Schilderung preußischer Zustände betrifft vgl. Ritter 2003b: 183ff. 74 Vgl. Nohl 1970a: 222–227; Schnädelbach 1983: 15f, 118f. Auch Windelband spricht von einem »Zusammenbruch des Idealismus«, allerdings im Zusammenhang mit der um sich greifenden Frustration aufgrund der politischen Stagnation nach der Revolution von 1848 (vgl. Windelband 1909: 57). Dagegen weist Gerhard Lehmann die Rede von einem »Zusammenbruch des Hegelianismus« als unzutreffend zurück und spricht stattdessen von einer »großen Zäsur« um die Jahrhundertmitte (vgl. Lehmann 1953a: 11f). 75 Man denke nur an die Karriere des zur wissenschaftlichen Weltanschauung avancierten Darwinismus, die Breitenwirkung eines Ernst Haeckel oder an die Statur eines Hermann von Helmholtz.
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dringende, an immer neuen Aufgaben geübte und erstarkende, schöpferische Arbeit der Erfahrungswissenschaften, der Natur- wie Menschheitsforschung.«76
»Identitätskrise« und »Legitimationszwang« beschreiben sowohl in der allgemeinen Wahrnehmung als auch in der Innenperspektive der Zunft wichtige Rahmenbedingungen nachidealistischen Philosophierens.77 Erst im Zuge der Formierung des Neukantianismus und der Etablierung der Erkenntnistheorie als philosophischer Leitdisziplin gelingt es der Philosophie im deutschsprachigen Raum nach und nach erstes Selbstbewusstsein zurückzugewinnen.78 Um konfrontiert mit einem empfindlichen Vorbehalt gegenüber jeder Form von Spekulation auf überzeugende Weise Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben zu können, erschien eine Auseinandersetzung mit der aktuellen wissenschaftlichen Methodologie und Forschungspraxis als unverzichtbar. Philosophisches Handwerkszeug für diese Aufgabe war von den apriorischen Systemen der Idealisten (Fichte, Hegel, Schelling) nicht zu erwarten. Erst ein Rückgang auf Kants kritische Philosophie versprach einen hinreichend soliden Ausgangspunkt für eine systematische Anknüpfung. Der ab der Jahrhundertmitte immer häufiger zu vernehmende Ruf »Zurück zu Kant«79 hatte so die Funktion eines Erkennungszeichens, hinter dem sich (neben den Neukantianern im engeren Sinn) verschiedene Denker versammelten, denen allen die Notwendigkeit eines Bruchs mit dem Stil idealistischen Systemphilosophierens vor Augen stand, um Philosophie als wissenschaftlich reputable und anschlussfähige Disziplin neu zu etablieren. Der Zugriff der Neukantianer auf die Kritik der reinen Vernunft wurde entsprechend fast durchgehend von der deutlichen Hervorhebung erkenntnistheoretischer und methodologischer Fragestellungen bestimmt. Dieser 76 Natorp 1918: 5; vgl. von der Groeben 1934: 7. 77 Vgl. Schnädelbach 1983: 88f. 78 In der neukantianischen Narration geht die Konstitution der Erkenntnistheorie als eigenständiger philosophischer Disziplin im Wesentlichen auf einen Vortrag Eduard Zellers zurück (vgl. Zeller 1862). Erkenntnistheorie wird dabei zunächst nicht scharf von Wissenschaftstheorie im heutigen Sinn unterschieden. Diese Auffassung bezeichnet Klaus Christian Köhnke als »Geschichtsmythos« des Neukantianismus (Köhnke 1986: 59), der sich nur aufgrund der mangelhaften philosophiehistorischen Ausleuchtung der betroffenen Zeitspanne so hartnäckig halten könne. Demgegenüber hält er fest, dass der Ausdruck »Erkenntnistheorie« bereits um 1840 etabliert gewesen sei und betont die Bedeutung Friedrich Schleiermachers für die Herausbildung einer erkenntnistheoretischen Programmatik (vgl. Ebd.: 58f, 60f). Zu diesem Vorgang und weiterer Literatur vgl. ferner Rorty 2018: 4, 131–139, 393f; sowie Köhnke 1986: 58–88, 432f. 79 Gewissermaßen die gemeinsame Pointe verschiedener zeitnah erscheinender Arbeiten von Kuno Fischer (Kant’s Leben und die Grundlagen seiner Lehre, 1860), Eduard Zeller (Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntniss-Theorie, 1862) und Otto Liebmann (Kant und die Epigonen, 1865). Nach Gerhard Lehmann bereits seit den 1830ern eine allgemeine Stimmungslage (vgl. Lehmann 1953b: 52f). Köhnke bezeichnet Friedrich Eduard Beneke (1798– 1854) als »ersten Programmatiker einer Rückbesinnung auf Kant« (vgl. Köhnke 1986: 69–88).
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Ansatz versprach, einen professionellen, wissenschaftlichen und schulförmigen Philosophiebetrieb zu ermöglichen, was für die Konsolidierung der Disziplin als eines ordentlichen akademischen Faches eine immense Rolle spielte. So kann Natorp im Rückblick sagen: mit dem Erscheinen von Hermann Cohens Kants Theorie der Erfahrung im Jahr 1871 »tagte es auf einmal«.80 Mit hellstem Bewusstsein lebte und wirkte auch Dilthey unter den skizzierten nachidealistischen Bedingungen.81 Mit dem ersten Band seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften legte er 1883 den Versuch einer Grundlegung für »fruchtbare« philosophische wie geisteswissenschaftliche Forschung vor, der sich sowohl vom Programm des Neukantianismus wie auch dem der Positivisten markant unterschied.82 Bereits in seiner Antrittsvorlesung in Basel 1867 hatte Dilthey klargestellt, dass auch er sich der Parole »Zurück zu Kant« verpflichtet fühle, schließlich habe dieser »das Grundproblem der Philosophie […] für alle Zeiten festgestellt«.83 Daraus sei allerdings nicht der Schluss zu ziehen, dass die Systeme der Idealisten und die Werke der Romantiker, »als eine Kette von Verirrungen [zu behandeln]« wären, »[ein wüster] Traum gleichsam, den man, erwacht, am besten tue, gänzlich zu vergessen«.84 Auch für Dilthey besteht kein Zweifel, dass die metaphysischen Spekulationen der Idealisten »offen und unbedingt […] verworfen werden [müssen]«; andererseits weist er auch auf ihre »universale Bedeutung« hin, die erschließt sich allerdings nur dem »geschichtlichen Studium« und nicht dem systematischen Philosophen.85 Diese universale Bedeutung der idealistischen Systeme sei demnach weniger in ihrem theoretischen Gehalt zu suchen, als in ihrer Qualität als unmittelbare Ausdrucksphänomene und nachträgliche Rationalisierungen einer radikal neuen »Lebens- und Weltansicht«, die zuerst die maßgeblichen Dichter der deutschen Sprache (Les80 Natorp 1918: 5; vgl. KrV B xiv–xxii. 81 Vgl. J 81, 87; Suter 1960: 13–22. Das Bewusstsein eines nach dem Tod von Goethe, Hegel und Schleiermacher drohenden Kontaktverlustes mit den vorangegangenen Generationen aufgrund einer geistesgeschichtlichen Diskontinuität bestimmt grundlegend Diltheys Blick auf und sein Interesse an Schleiermacher und dessen Zeitgenossen: »Er, seine Zeit, seine Genossen: das alles ist von dem heutigen Tage durch eine Umwandlung in den Gefühlen, Ideen und Bestrebungen geschieden, wie sie sich kaum jemals schneidender vollzogen hat.« (GS XIII.1, xxxv (Fn)); von der Groeben 1934: Kapitel 1. Als Trendelenburg-Schüler bewegte sich Dilthey im Umfeld eines der maßgeblichen Impulsgeber der »Abkehr der Universitätsphilosophie vom Deutschen Idealismus« (vgl. Köhnke 1986: 21–23). 82 Der Positivismus stellte das wichtigste alternative Theorieangebot zum Neukantianismus dar. Während dessen Rezeption in Deutschland eher zögerlich verlief, bestimmte er in England und Frankreich entscheidend das intellektuelle Klima (vgl. Simon 1963; s. u.). Dilthey konstatiert eine gewisse unausgewogene Konkurrenz zwischen beiden Strömungen: »Es war zugleich selbstverständlich, daß man damals in Deutschland die Überlegenheit der Analysen Kants [sc. dem Positivismus gegenüber] anerkannte.« (GS V, 4f). 83 GS V, 12. 84 GS V, 13. 85 Ebd.
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sing, Schiller, Goethe) gelebt und geäußert hätten.86 Gerade in dieser innovativen Lebens- und Weltansicht, wie sie sich auch in den philosophischen Werken der Zeit dokumentiere und Artikulation und Klärung erfahre, besteht nun nach Diltheys Einschätzung der bleibende Wert dieser gärenden Periode, den es zu berücksichtigen gelte, wenn man beim Rückgang auf Kant nicht das Kind mit dem Bade ausschütten wolle. Schon hier ist eine für Dilthey besonders typische Bewegung zu beobachten: die Oszillation zwischen philosophischem und historischem Standpunkt.87 Von jenem aus erscheint eine philosophische Theorie als zeitenthobene Propositionenmenge, die unter dem Aspekt von Kohärenz, Konsistenz, Schlüssigkeit, Plausibilität, explanatorischer Kraft (usf.) bewertet werden kann, während sie von diesem aus als konkrete Äußerungshandlung einer bestimmten Person in einem spezifischen Diskurskontext in den Blick genommen wird. Eine Passage aus seinen Tagebüchern, die der Konzeption einer »neue[n] Kritik der Vernunft« gewidmet ist, lässt sich als genauere Charakterisierung dieses »historische[n] Standpunkt[s]« lesen: »Sie muß die Systeme wie Naturprodukte analysieren, als Kristallisationen, deren Urform Schemata sind.«88 Die menschliche Theorieproduktion wird in Angleichung an Kristallisationsprozesse in den Zusammenhang natürlicher Bedingungen und Vorgänge versetzt. Gewisse Randbedingungen und treibende Kräfte dieser Geneseprozesse wären demnach, so die Analogie, auch dem Gepräge des fertigen Produkts abzulesen. Dabei denkt Dilthey vor allem an »psychologische Gesetze und Antriebe, welchen Kunst, Religion und Wissenschaft gleichmäßig entspringen«.89 Hier beschreibt Dilthey offenbar etwas ganz Ähnliches wie das Verfahren, das wir zu Beginn des Kapitels als die Rückführung aus der Idealsphäre in den Primärkontext eingeführt haben, allerdings in auffallend naturalistischem Vokabular. Auf diesem Standpunkt werden philosophische Systeme zunächst nicht als Theorien betrachtet und bewertet, sondern allein als Ausdrucksphänomene, man kann fast sagen als Symptome. »Große Systeme sind einseitige, doch aufrichtige Offenbarungen der menschlichen Natur, sie zu verstehen heißt, diesen ihren springenden Punkt zu ergreifen.«90
Diesen non-kognitiven Zugriff auf philosophische Theorien von Dilthey zur vorrangigen Hinsicht (»springender Punkt«) gemacht zu sehen, hat etwas aus-
86 Ebd. Diesen Faden nimmt [Nohl 1970a] auf und spinnt ihn unter der Bezeichnung »Deutsche Bewegung« weiter aus. 87 Auf diesen historisch-systematischen Ansatz wird noch häufiger zurückzukommen sein. Die entscheidende Frage wird lauten, ob er, gemäß dem Prinzip der Stereoskopie, zu einer qualitativen Bereicherung der Sicht führt. 88 J 80 (26. 3. 1859). 89 Ebd. 90 J 146f (16. 4. 1861).
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gesprochen Irritierendes. Man sollte doch erwarten, dass im Umgang mit philosophischen Theorien der Akzent klar auf deren theoretischem Gehalt liegen würde, ohne dadurch deren Ausdrucksdimension zu leugnen. Ihre Produzenten jedenfalls würden es sicherlich als Zumutung empfinden, wenn ihre Hervorbringungen primär auf ihre Ausdrucksqualitäten hin betrachtet werden würden. Denn gewöhnlich wollen sie in erster Linie etwas sagen, nicht etwas ausdrücken, ansonsten hätten sie, die entsprechende Empfehlung Carnaps beherzigend, sicherlich ein anderes Medium gewählt, etwa eine Kunstform.91 Vielleicht lässt sich Diltheys Aussage besser nachvollziehen, wenn man sie ergänzt zu »ihren für den Historiker springenden Punkt« und so der Möglichkeit einer philosophischen Rezeptionshaltung, die sich primär auf den theoretischen Gehalt der Texte kapriziert, Raum lässt. Und was die eindeutig kognitive Autorenintention betrifft, so schützt eine solche natürlich nicht vor einem anders interessierten Zugriff beispielsweise durch Literaturwissenschaftler, Psychoanalytiker, Historiker oder Soziologen. Das als besonders dramatisch empfundene Versinken der idealistisch-romantischen Geisteswelt sensibilisiert Dilthey nachhaltig für die Dynamik des historischen Prozesses, in dem sich verschiedene geistige, kulturelle, künstlerische Strömungen (keineswegs konfliktfrei und unbeeinflusst von gesellschaftlichen Machtverhältnissen) gegenseitig überlagern und ablösen. Sie zu analysieren, betrachtet er als eine vorrangige »Aufgabe [seiner] Generation«, und entsprechend kündigt er als Ziel seiner Baseler Forschungstätigkeit an, »eine Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen zu begründen«92. Erhellend ist hier ein kurzer Seitenblick auf den (Marburger) Neukantianismus. Wenn etwa Hermann Cohen die methodische Abhängigkeit der Philosophie vom »Faktum der Wissenschaft« proklamiert, so hat er dabei ausschließlich die mathematischen Naturwissenschaften im Blick.93 Zwar versteht auch Dilthey die Aufgabe und Stellung der Philosophie seiner Zeit aus ihrer engen Verbindung zu den Einzelwissenschaften und der damit einhergehenden Verwiesenheit auf Faktisches heraus, denkt dabei aber explizit an die methodologischen Errungenschaften und gesicherten Erkenntnisse der »Historischen Schule«.94 Sie gilt ihm als das Paradigma erfolgreicher einzelwissenschaftlicher Forschung in den Geisteswissenschaften. 91 92 93 94
Vgl. Carnap 1931: 238–241. GS V, 13. Vgl. Natorp 1918: 23. »Sie reichte von Winckelmann und Herder durch die romantische Schule bis auf Niebuhr, Jakob Grimm, Savigny und Böckh.« (GS I, XVI; vgl. GS V, 27; GS VII, 79–81, 93–117) Eine materialreiche Darstellung der Historischen Schule, ihrer Hauptvertreter und Grundideen, sowie ihrer spannungsreichen Beziehung zum Hegelianismus findet sich bei Erich Rothacker (vgl. Rothacker 1950: 9–58; Ders.: 1972: 37–129).
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»Eine rein empirische Betrachtungsweise lebte in dieser Schule, liebevolle Vertiefung in die Besonderheit des geschichtlichen Vorgangs, ein universaler Geist der Geschichtsbetrachtung, welcher den Wert des einzelnen Tatbestandes allein aus dem Zusammenhang der Entwicklung bestimmen will, und ein geschichtlicher Geist der Gesellschaftslehre, welcher für das Leben der Gegenwart Erklärung und Regel im Studium der Vergangenheit sucht und dem schließlich geistiges Leben an jedem Punkte geschichtlich ist.«95
Die Frage, in welchem Sinne auf Kant zurückgegangen werden soll, beantwortet Dilthey damit grundlegend anders als die Vertreter des Neukantianismus, auch wenn er die Einschätzung der wissenschaftlichen Brauchbarkeit der idealistischen Systemspekulationen weitgehend mit ihnen teilt. Die exklusive Fixierung Kants auf die Newtonsche Physik als Paradigma von Wissenschaftlichkeit, die der (Marburger) Neukantianismus fortsetzt, kann Dilthey nicht als einzig legitimen Ausgangspunkt wissenschaftlichen Philosophierens anerkennen. Sie bleibt ihm eine ergänzungsbedürftige und in sich problematische Einseitigkeit.96 Ebenso wie aus den Theorien Newtons und Darwins gelte es auch aus den Arbeiten der Historischen Schule die entsprechenden philosophischen Lektionen zu ziehen. Wie Gerhard Lehmann zutreffend bemerkt, bildet sie damit für Dilthey, in analoger Weise wie die mathematischen Naturwissenschaften für Hermann Cohen, ein geisteswissenschaftliches »Faktum der Wissenschaft« und damit den Ausgangspunkt des eigenen Philosophierens.97 Die bei der Durchdringung der Arbeiten der Historischen Schule gewonnenen Einsichten sind es dann allerdings, die es Dilthey verunmöglichen, sich der transzendentalphilosophischen Methode vorbehaltlos zu verschreiben. Denn deren Möglichkeit sieht er durch die Einsicht, dass »geistiges Leben an jedem Punkte geschichtlich ist« (s. o.), radikal in Frage gestellt. »Nicht die Annahme eines starren a priori unseres Erkenntnisvermögens, sondern allein Entwicklungsgeschichte, welche von der Totalität unseres Wesens ausgeht, kann die Fragen beantworten, die wir alle an die Philosophie zu richten haben.«98
Aus den Arbeiten der Historischen Schule (und Hegels) entwickelt Dilthey die starke Überzeugung, dass der Geschichtlichkeit des Menschen mit einer Erkenntnistheorie, die – wie bei Kant – auf einer basalen und starren Inhalt/FormUnterscheidung aufbaut, wonach sich amorph-fluktuierendes Material und zeitenthoben-stabile Strukturmomente begrifflich sinnvoll und eindeutig von-
95 GS I, xvi. 96 Vgl. GS V, 3f (»Die Begriffe der naturwissenschaftlichen Philosophie konnten dieser in mir sich bewegenden Welt nicht genugtun […]«). 97 Vgl. Lehmann 1957: 34. 98 GS I, xviii.
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einander trennen lassen, nicht angemessen Rechnung getragen werden kann.99 Auch aus diesem Grund zeigt sich Dilthey stets deutlich distanziert gegenüber dem Programm einer Kulturphilosophie auf neukantianischen Bahnen. Wilhelm Windelbands und später Heinrich Rickerts Versuche, die Kulturwelt transzendentalphilosophisch von einer überzeitlichen Werttheorie her zu rekonstruieren, mussten Dilthey folgerichtig wie sekundäre Anbauten an das Kantische System vorkommen, wo es doch gerade galt, das problematische apriorische Fundament Kants im Sinne einer »Kritik der historischen Vernunft« umzugestalten.100 Als eine solche verstand er seine Einleitung in die Geisteswissenschaft ursprünglich, wie seine Widmung an Paul Yorck von Wartenburg noch zu erkennen gibt. Dabei macht er bereits auf den ersten Seiten der Einleitung deutlich, dass eine nachträgliche und äußerliche Ergänzung des Kantischen Systems, in der Art eines geisteswissenschaftlichen Anbaus, wesentlich zu kurz greift: »Es liegt in der Natur des Gegenstandes, daß die Einsichten, deren es zur Lösung dieser Aufgabe [sc. einer Grundlegung der Geisteswissenschaften] bedarf, in die Wahrheiten zurückreichen, welche der Erkenntnis sowohl der Natur als der geschichtlich gesellschaftlichen Welt zugrunde gelegt werden müssen.«101
Die Zurückhaltung des anspruchs- und assoziationsreichen Arbeitstitels einer »Kritik der historischen Vernunft« für sein erstes systematisches Hauptwerk sollte daher nicht unbedingt als Bescheidenheitsgeste gewertet werden, vielmehr kommt in ihr das klare Bewusstsein letzter Unvereinbarkeiten mit der Kantischen Transzendentalphilosophie zum Ausdruck, deren Überspielung nur zu
99 Vgl. GS V, 77–79, 149f. Infragestellungen dieser Theoriestruktur finden sich auch bei John McDowell (vgl. McDowell 1996: 41 (II.9): »We must not suppose that receptivity makes an even notionally separable contribution to its co-operation with spontaneity.«) oder Donald Davidson, der bezüglich ihrer in Anschluss an Quines berühmten Aufsatz sogar von einem »Dogma« spricht (vgl. Davidson 2001: 198); für weitere Literaturhinweise vgl. Owensby 1994: 35. Bollnow und Mannheim machen darauf aufmerksam, dass auch philosophische Theorien der Geschichtlichkeit mitunter einem starren Form/Inhaltsschema folgen (vgl. Bollnow 1939: 361; Mannheim 1970a: 300). 100 GS I, ix; vgl. Lessing 1984: 105–131; Ermarth 1978: 149–158, 189–194. Anspielungen auf eine Fortsetzung des kritischen Programms Kants finden sich sowohl in frühen Tagebuchaufzeichnungen (Überlegungen zur Fortsetzung der »Kantische[n] Untersuchung der Kategorien« (J 79); Plan für »eine neue Kritik der Vernunft« (J 80)) als auch in späten Rückblicken (GS V, 9). 101 GS I, 3; vgl. GS I, ix; V, 9; Lessing 1984: 25f. »Dilthey hatte schon früh erkannt, daß auf diesem Wege eines einfachen Seitenstücks zur Erkenntniskritik der Naturwissenschaften, einer gebietsmäßig neben die Transzendentallogik der Natur tretenden Transzendentallogik der Geschichte ihren Forderungen und ihren Gefahren nicht zu begegnen sei. Durch einen Erweiterungsbau der kritischen Philosophie war hier nichts zu gewinnen, weil die Entdeckung der geschichtlichen Welt den Boden selbst in Bewegung zeigte, auf dem ihn das 18. Jahrhundert errichtet hatte.« (Plessner 2003: 170f).
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Missverständnissen hätte führen müssen, die allerdings auch so nicht ausgeblieben sind.
1.2
Gegenstand und Methode
Um die Frage nach dem Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften zu einem Thema eigener Überlegungen zu machen, ist es eine Voraussetzung, die beiden Komplexe, die ins Verhältnis gesetzt werden sollen, jeweils zunächst als ein zusammenhängendes Ganzes wahrzunehmen. Ein Schritt, der – einmal vollzogen – schnell den Charakter der Trivialität annimmt, der aber gleichwohl, um den Nachfolgenden einmal als fraglose Selbstverständlichkeit völlig unauffällig werden zu können, zuerst einmal tatsächlich getan und davor noch hinreichend plausibilisiert werden muss. Die Einheit der Naturwissenschaften scheint hier, vermittelt über verschiedene Naturbegriffe (φύσις, natura, res extensa), von beiden der unproblematischere Fall gewesen zu sein. Für die Geisteswissenschaften gilt hingegen, dass es erst das ausgehende 19. Jahrhundert und ganz wesentlich die Arbeiten Wilhelm Diltheys und der (südwestdeutschen) Neukantianer waren, die dafür argumentiert haben, diese Fächergruppe102 als ein Ganzes zu betrachten. Ausdruck dafür ist dann naturgemäß die Einführung einer einheitlichen Bezeichnung. So greift Dilthey in der Einleitung eben den zusammenfassenden Ausdruck »Geisteswissenschaften« im charakteristischen Plural auf – nachdem er selbst bis dahin noch den Ausdruck »moralisch-politische Wissenschaften« verwendet hatte – und rechtfertigt seine Wahl gegenüber den denkbaren terminologischen Alternativen als »die mindest unangemessene«.103 Dieser Rückgriff auf einen Ausdruck, der davor bereits erhebliche Verbreitung gefunden hatte, weil mit ihm Jacob Schiel zuerst 1849 in seiner Übersetzung des A System of Logic von John Stuart Mill den Titel des sechsten Buches (»On the Logic
102 Sie umfasst bei Dilthey neben der Pädagogik, den Philologien, der Kunstgeschichte, der Musikwissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Theologie auch die Rechts- und Staatswissenschaften, die Ökonomie und die Psychologie (zumindest in Diltheys eigener Fasson einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie); vgl. GS I, 3f; VII, 79; Steenblock 2018: 160. Auch David Hume geht es zwar darum, durch eine »science of man« den Zusammenhang der »moral sciences« zu explizieren, doch ergibt sich bei ihm daraus keine kontrastierende Abhebung von den Naturwissenschaften (vgl. Hume 1978: xv–xvii (»’Tis evident, that all the sciences have a relation, greater or less, to human nature«, S. xv)). 103 Vgl. GS I, 5f. Die Alternativen, die Dilthey dort anführt, sind: »Gesellschaftswissenschaft (Soziologie), moralische, geschichtliche, Kulturwissenschaften«. Zu seinem früheren Gebrauch vgl. GS V, 31.
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of the Moral Sciences«) einigermaßen frei übertragen hatte, hat sich als eine folgenreiche Entscheidung erwiesen.104 Um die Kontingenz dieses für heutige Ohren absolut eingeschliffenen Ausdrucks wieder erfahrbar zu machen, sei darauf hingewiesen, wie leicht er sich von beiden seiner Bestandteile her problematisieren lässt. So hat etwa Jürgen von Kempski angemerkt, mit »Geisteswissenschaften« würde auf relativ zufällige Weise ein Bündel von Wissenschaften zusammengefasst, das nicht mehr miteinander gemein habe, als dass alle keine Naturwissenschaften sind. Statt als »Geisteswissenschaften«, ein Ausdruck, der irreführenderweise an eine irgendwie geartete positive und relevante Gemeinsamkeit denken lasse, sollte man diese Fächergruppe im Sinne größerer Klarheit daher besser als die »Nicht-Naturwissenschaften« bezeichnen.105 Mit Blick auf den zweiten Wortbestandteil haben Autoren wie Hans-Georg Gadamer oder Hans-Helmuth Gander kritisiert, dass die Rede von Geisteswissenschaften zu dem szientistischen Missverstand verleiten könne, dass hier ursprünglich außerwissenschaftlichen Lebensbereichen gewaltsam und sachfremd zu einer Art von objektivistischer Wissenschaftlichkeit zu verhelfen sei, derer sie eigentlich gar nicht bedürfen.106 Vielleicht helfen solche Problematisierungen dabei, das Thesenartige an einer vermeintlich harmlosen Kapitelüberschrift Diltheys wie »Die Geisteswissenschaften ein selbständiges Ganzes neben den Naturwissenschaften« wieder ein wenig vernehmbarer zu machen;107 denn beides behauptet Dilthey durchaus: die Geisteswissenschaften bilden (1.) ein Ganzes, sind mithin keine Residualkategorie, die übrigbleibt, nachdem man die Naturwissenschaften ausgeblendet hat, und sie gestalten sich (2.) als Wissenschaft (und nicht etwa als Künste), d. h. sie 104 Vgl. Rothacker 1965: 4–16 (»Mit diesem Werke [sc. der Einleitung in die Geisteswissenschaften] wird der Terminus klassisch.«, S. 9). Anders als Alwin Diemer behauptet, äußert sich Dilthey zu der recht uninteressanten Frage der rein chronologischen Priorität in der Verwendung des Ausdrucks »Geisteswissenschaften« überhaupt nicht und auch Rothacker nur vorsichtig (vgl. Diemer 1968: 187; Gander 1988: 125n22; Rothacker 1965: 6; GS I, 5). Hier empfiehlt es sich, so zu verfahren wie Dilthey selbst in anderem Zusammenhang rät: »In solchen Epochen [sc. 1794–1806] soll man nicht pedantisch Prioritätsfragen nachgehen und überall sehen wollen, wie die Ideen aus einem Kopf in den anderen übergehen.« (GS XXVI, 195). Laut Johach verwendete Dilthey die zweite Auflage (1862/63) der Schielschen Übersetzung von Mills Logik (vgl. Johach 1974: 10n17). 105 Von Kempski 1992a: 296. 106 Vgl. Gadamer 2010: 1f, 9–12; Gander 1988: 124–131 (besonders 126). Die Notwendigkeit der von Gadamer betriebenen »Überwindung der erkenntnistheoretischen Fragestellung« erschließt sich uns schlechterdings nicht (vgl. Gadamer 2010: 246ff). Dazu Volker Steenblock: »Es liegt in der unmittelbaren Konsequenz des Historismus und der Hermeneutik, alle kulturelle Erkenntnis selbst wiederum als Teil von Bildungsprozessen zu verstehen; die Überwindung eines ›objektivistischen‹ Verständnisses der Geisteswissenschaften, obwohl ein Movens der Sekundärtheoriebildung zu Dilthey im 20. Jahrhundert, kann darum heute als seinerseits zeitbedingtes Interpretenproblem erscheinen.« (Steenblock 2018: 163). 107 GS I, 4–14.
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generieren methodisch kontrolliertes und intersubjektiv verbindliches, kurz: objektives Wissen.108 Zur philosophiegeschichtlichen Allgemeinbildung gehört die Vorstellung, Wilhelm Dilthey habe gegen Ende des 19. Jahrhunderts vehement die Autonomie der Geistes- gegenüber den Naturwissenschaften vertreten. Mit dem Satz »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.«109 scheint manchem eine Demarkationslinie von prinzipieller, um nicht zu sagen apriorischer, Gültigkeit gezogen, die es erlauben sollte, Legitimitätsfragen im Grenzgebiet von Naturund Geisteswissenschaften zu entscheiden. In der vermutlich stärksten Lesart wird in Diltheys Formulierung die methodologische Konsequenz aus einem Substanzendualismus à la Descartes gezogen: Verhältnisse der res extensa folgen naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die sich entsprechend bestimmen und angeben, d.i. erklären lassen, während dieses Vorgehen im Fall der res cogitans nicht möglich ist, da sie nicht Kausalverhältnissen unterworfen ist. Das angemessene Verfahren für sie ist daher Nachvollzug, Hineinversetzen, kurz: Verstehen. Die Grenzziehung wäre in diesem Fall denkbar klar: der Methodendualismus wäre ein Reflex des Substanzendualismus, hätte wie dieser apriorischen Charakter und stellte in sich eine vollständige Disjunktion dar. Denkbar wäre auch der umgekehrte Weg, nach dem die mit der Methode gegebenen Vorentscheidungen jeweils den Gegenstand einer Wissenschaftsgruppe konstituieren würden. »Natur« wäre dann dasjenige, was von den Gleichungen und Kategorienschemata der Naturwissenschaften erfasst wird, und analog dazu eröffnet das »Verstehen« (als autonome Methode der Geisteswissenschaften) exklusiv den Zugang zu demjenigen, was dann »geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit« genannt wird. Auch nach dieser Auffassung kommt 108 Vgl. GS VII, 3, 191: »Die Geisteswissenschaften bilden einen Erkenntniszusammenhang, welcher eine gegenständliche und objektive Erkenntnis der Verkettung menschlicher Erlebnisse in der menschlich-geschichtlich-gesellschaftlichen Welt zu gewinnen strebt.« (S. 3) Weshalb diese Festlegung auf Wissenschaftlichkeit als sachfremde Übertragung des positivistisch-objektivistischen Wissenschaftsideals der Naturwissenschaften durchschaut (und abgestellt) werden müsste (vgl. Gadamer 2001: 10; Ders. 2010: 1–5; Habermas 1973: 230f), ist nicht leicht erfindlich. Gerade auf dem Feld der Philologie und Geschichtswissenschaft hat sich eine enorm elaborierte, »objektivistische« Methodendisziplin entfaltet, die wohl mit Recht als genuin geisteswissenschaftlich bezeichnet werden kann: »sie [sc. die philologische Interpretation] soll gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität in das Gebiet der Geschichte die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch begründen, auf welcher alle Sicherheit der Geschichte beruht.« (GS V, 331). Im Nachwort zur dritten Auflage von »Wahrheit und Methode« (1972) betont Gadamer zwar nachdrücklich, dass zwischen seinem Anliegen und »dem strengsten Ethos der Wissenschaft […] keinerlei Spannung« bestehe, wie sich diese behauptete Vereinbarkeit dann aber im Einzelnen ausgestalten könnte und vor allem worin dann seine Kritik an Dilthey besteht, bleibt recht rätselhaft (Gadamer 1993b: 449). 109 GS V, 144.
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der Unterscheidung ein apriorischer und disjunktiver Status zu. Versteht man Diltheys These von der Autonomie der Geisteswissenschaften entsprechend einer dieser sich an einer basalen ontologischen oder methodologischen Dichotomie orientierenden Interpretationen, erscheint sie nicht sonderlich plausibel.110 Die Konstituierung der Psychologie als naturwissenschaftlich verfahrender Disziplin spricht unmittelbar gegen eine ontologisch basierte Autonomie des Verstehens und die Möglichkeit eines sowohl erklärenden als auch verstehenden Zugriffs auf bestimmte Gegenstände der Geisteswissenschaften scheint deutlich dem methodologischen Dualismus zu widersprechen. Im Folgenden ist zu zeigen, dass dieser aporetische Eindruck nicht als Schwäche der Diltheyschen Theorie der Geisteswissenschaften zu werten ist, sondern eher auf eine unterkomplexe und sachunangemessene Rekonstruktion von Diltheys Fragestellung zurückzuführen ist. Dilthey widmet sich der Frage nach dem Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften im Wesentlichen an drei Stellen: in der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), in den Beiträgen zum Studium der Individualität (1895) und zuletzt im Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910). Immer wieder betont er, dass die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften letztlich auf der Unterscheidung ihrer Gegenstände und ihrer jeweiligen Zugangsbedingungen beruht. »Es wird dabei bleiben: der Gegenstand und die Art der Gegebenheit entscheidet über das logische Verfahren.«111 Alle weiteren feststellbaren Differenzen der Natur- und Geisteswissenschaften, z. B. solche methodologischer Art, sind entsprechend weniger grundlegend und sachlich auf die unterschiedliche Beschaffenheit ihrer Gegenstände zurückzuführen.112 Ist damit aber nicht die eben skizzierte ontologische Lesart bestätigt? Nicht ganz, denn die Geisteswissenschaften haben geistige Tatsachen und die Naturwissenschaften physische Tatsachen zum Gegenstand.113 Dass hier von Tatsachen die Rede ist und nicht etwa von Objekten hat seinen methodischen 110 Typische Beispiele für einen solchen Zugriff sind etwa Abel 1948 und Mantzavinos 2005. 111 GS VII, 18. 112 Manfred Riedel behauptet freilich das glatte Gegenteil: »Die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ist nicht primär ein Unterschied von Gebieten, sei es des Körpers oder der Seele, des Physischen oder des Psychischen, des Objekts oder des Subjekts usf., sie ist methodologisch, nämlich in der Differenz von Erklären und Verstehen als Auffassungs- und Konstitutionsbedingungen möglicher Erfahrungswissenschaft fundiert.« (Riedel 1978a: 23, Hervorhebung im Original). Eine Behauptung, die sich auch durch die fragwürdige Hypothese einer um 1900 anzusetzenden »hermeneutischen Wende« nicht mit dem Diltheyschen Buchstaben versöhnen lässt. Klarer sieht an dieser Stelle Richard von Mises (vgl. von Mises 1990: 307). Auch Helmut Johach versteht die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften primär als eine Unterscheidung in der »Art des Objektbezugs«, sie folge nicht unmittelbar aus jeweils spezifischen Methoden noch aus den jeweiligen Objektbereichen (vgl. Johach 1974: 133). 113 Vgl. GS V, 248.
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Sinn, denn so wird die Vorstellung abgewiesen, es ließe sich eine disjunktive Einteilung aller Gegenstände in solche, die physisch, und solche, die geistig zu nennen wären, vornehmen. »Ein Unterschied von Naturobjekten und geistigen Objekten existiert nicht. Der Begriff des Objektes ist bedingt durch die Beziehung von Sinneseindrücken auf ein vom Selbst Unterschiedenes und die Verbindung dieser Eindrücke zu einem Ganzen, das sonach dem Selbst unabhängig gegenüberliegt.«114
Objekte im eigentlichen Sinne sind für Dilthey somit zweierlei: sinnlich vermittelt (und damit prinzipiell raum/zeitlich lokalisiert) und Ergebnis eines Konstitutionsprozesses (und damit nichts unmittelbar Gegebenes). Die Kantischen Obertöne sind offensichtlich. Mit dieser begrifflichen Festlegung wird bereits ein grundlegender Unterschied deutlich. Paradox formuliert ließe sich sagen, dass es die Natur- und die Geisteswissenschaften zwar mit denselben Objekten, aber mit verschiedenen Gegenständen zu tun haben. »Die Geisteswissenschaften studieren auf der Grundlage der Naturwissenschaften die an den Sinnesobjekten auftretenden geistigen Tatsachen und ihren Zusammenhang untereinander sowie den mit den physischen Tatsachen.«115
Die simple Vorstellung, dass sich die Menge aller Gegenstände überschneidungsfrei in die disjunkten Teilmengen der natur- und der geisteswissenschaftlichen Gegenstände aufteilen ließe, greift deutlich zu kurz. Ein Manuskript beispielsweise lässt sich sowohl durch naturwissenschaftliche Methoden datieren, wie auch durch Stilanalyse oder seinen unmittelbaren Inhalt. In einem gewissen Sinn hantieren Geistes- und Naturwissenschaftler hier mit demselben materiellen Objekt. Im Fall der Naturwissenschaften ist der Gegenstand der Forschung identisch mit diesem Objekt; dessen materielle Beschaffenheit, Zusammensetzung und Struktur werden untersucht. Der geisteswissenschaftliche Zugriff befasst sich hingegen mit den »an den Sinnesobjekten auftretenden geistigen Tatsachen«. Hier fallen Objekt und Gegenstand der Forschung nicht zusammen. Vorgreifend lässt sich sagen: Gegenstand der Geisteswissenschaften ist dasjenige, was gewisse Objekte bedeuten. Die Klasse der Objekte, die etwas bedeuten, umfasst dabei nicht allein Texte und Zeicheninskriptionen, sondern alle Objekte, deren Dasein oder Sosein auf menschliche Handlungsintentionen oder -folgen zurückführbar ist.116 Daher sind sämtliche Artefakte, aber auch 114 Ebd. Entsprechend wird im Folgenden die Rede von »Objekt« in Bezug auf Geistiges möglichst vermieden. Wenn von »Gegenständen« die Rede ist, wie etwa in dem Ausdruck »der Gegenstand der Geisteswissenschaften« (s. o.), dann in dem Sinn von »Gegenstand der Rede« (vgl. Kamlah/Lorenzen 1973: 39–44). 115 GS V, 248. 116 Die Bedeutung dieser Objekte ist dabei (auch für Dilthey) keineswegs identisch mit diesen Intentionen. So wie Textbedeutung und Autorenintention zu unterscheiden sind, so deckt
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Kulturlandschaften oder Nutz- und Haustierzuchtformen zu dieser Objektklasse zu zählen.117 Den Inbegriff der geistigen Tatsachen in ihrer dia- und synchronen Dimension bezeichnet Dilthey als die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit.118 Sie bildet den Inbegriff der objektgebundenen Gegenstände der Geisteswissenschaften. Im jeweiligen Verhältnis zur Zeit wird häufig ein weiterer radikaler Unterschied in der Struktur der physischen und der geistigen Tatsachen gesehen. Während nämlich die Veränderungen der physischen Tatsachen unter strikte und unveränderliche Gesetzmäßigkeiten fallen, d.i. einen »Zusammenhang […] objektiver Notwendigkeit« bilden – Dilthey charakterisiert den »Naturlauf« daher auch als »leere und öde Wiederholung« – , zeichnet sich der Verlauf der geistigen Tatsachen dadurch aus, dass in ihm »Freiheit an unzähligen Punkten […] aufblitzt« und so echte Entwicklung und Kreativität möglich ist.119 Diese Überlegung erinnert stark an entsprechende Ausführungen Johann Gustav Droysens und wie bei ihm laufen auch sie darauf hinaus, das Reich der Geschichte gegen das Reich der Natur entlang der Differenz einer zyklisch-repetitiven und einer linear-produktiven Zeitstruktur zu kontrastieren.120 O. F. Bollnow sieht in diesem »nicht umkehrbare[n] Aufbauverhältnis der späteren Leistung auf der früheren« die formale Grundlage für den Begriff der Geschichtlichkeit gegeben.121 Da solche Aufbauverhältnisse sich allerdings auch in der Astronomie, der Geologie oder der Evolutionsgeschichte finden, ist dieser formale Begriff der Geschichtlichkeit allein offensichtlich nicht ausreichend, um eine Unterscheidung der Gegenstände der Natur- und der Geisteswissenschaften zu begründen.122 Ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen physischen und geistigen Tatsachen besteht hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit für die menschliche Erfahrung.123 Das Verhältnis von physischen und geistigen Tatsachen lässt sich nach
117
118 119 120 121 122 123
sich auch die Bedeutung von ungeplanten gesellschaftlichen Strukturen oder Entwicklungen, von überkommenen Sitten oder gewachsenen Institutionen nicht mit den Intentionen der sie jeweils realisierenden Individuen (s. u.). Dilthey zieht ausschließlich menschliche Intentionen in Betracht. Mögliche Intentionen eines anthropomorphen Schöpfergottes, die etwa die Existenz eines bestimmten Gebirges oder eines Naturgesetzes erklären würden, zieht er nicht in Erwägung. Der Mensch ist ausschließliche Quelle von Bedeutung: »Wir tragen keinen Sinn von der Welt in das Leben. Wir sind der Möglichkeit offen, daß Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen.« (GS VII, 291). Vgl. GS I, 4f. GS I, 6. GS I, 6; vgl. Droysen 1960: 11–16. Bollnow 1939: 342. Eine mögliche weitere Qualifikation zu diesem Zweck könnte darin bestehen, einen spezifisch menschlichen Begriff der »Leistung« abzugrenzen. Die Zugangsbedingungen, unter denen die beiden Tatsachenkreise stehen, sind deutlich zu unterscheiden von methodologischen Fragen (vgl. zu den erkenntnistheoretischen Fragen:
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Diltheys Überzeugung überhaupt nur auf dem erkenntniskritischen Weg, d. i. eben durch Klärung der epistemischen Zugangsbedingungen, erhellen. Statt von einem solchen »kritischen Standpunkt« von einer basalen ontologischen Differenz zwischen beiden Gegenstandsbereichen auszugehen, etwa in der Art eines Substanzendualismus, hält Dilthey für eine frucht- und aussichtslose Hypostasierung, für ein Stück überwundener Metaphysik.124 Erkenntnistheoretisch betrachtet sind die physischen Tatsachen nun Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung, während sich die geistigen Tatsachen der inneren Erfahrung erschließen. »Ich verstehe unter äußerer oder sinnlicher Wahrnehmung den Vorgang, in welchem die in den Sinnen auftretenden Eindrücke zu einem von dem Selbst unterschiedenen Ganzen verbunden werden.«125
Das Verhältnis von innerer und äußerer (sinnlicher) Wahrnehmung kann allerdings nicht als das Vorliegen zweier getrennter Wahrnehmungskanäle beschrieben werden. Wie es sich bei Kants innerem und äußerem Sinn verhält, ist es auch von Dilthey konzipiert: die Daten des äußeren Sinns bilden eine echte Teilmenge des inneren Sinns. Beide werden allerdings verschieden interpretiert: »Indem wir uns psychischer Tatsachen bewußt sind, erscheinen uns dieselben, werden von uns wahrgenommen, und da im Grunde alles psychische Tatsache ist [!] und für uns gar nichts anderes existiert, scheint die sogenannte innere Wahrnehmung den Inbegriff von Allem zu umfassen, was in unserem Bewußtsein gegeben ist. Jedoch ist hier ein durchgreifender Unterschied zu machen, welcher durch das Dargelegte schon bedingt ist. Was in unserem Bewußtsein erscheint, tritt ihm gegenüber wie dem Blick ein Gegenstand und wird so substantiiert. Entweder so, daß es als Gegenstand dem Selbst gegenübertritt oder so, daß es als ein Zustand, eine Veränderung in diesem substantiierten, auf der Grundlage unseres im Raum angeschauten Körpers substantiierten Selbst wahrgenommen wird.«126
Den Kern dieser Gedanken (»dass im Grunde alles psychische Tatsache ist«) wird Dilthey später in der Form des »Satzes der Phänomenalität« als »oberste[n] Satz GS V, 243–255; zu den methodologischen Konsequenzen: GS V, 259–269). Setzt man beides in eins und unterscheidet nur zwischen Methode und Ontologie, entsteht der täuschende Eindruck, man könnte unmittelbar aus Diltheys Absagen an eine ontologische Differenzierung auf den Vorrang einer methodologischen schließen, etwa entlang der Erklären/ Verstehen-Dichotomie. 124 GS I, 7f. 125 GS V, 243 (Hervorhebung im Original). 126 GS XVIII, 84. Offensichtlich verwendet Dilthey »Gegenstand« hier synonym mit »Objekt« (s. o., GS V, 248). Der missverständlich stark formulierte Satz, dass »im Grunde alles psychische Tatsache ist« hat, wie der Kontext deutlich macht, keinen unmittelbar ontologischen Sinn, sondern kennzeichnet epistemische Zugangsbedingungen. Mitnichten wird hier (und an parallelen Stellen) also ein subjektiver Idealismus oder sogar cartesischer Solipsismus behauptet (vgl. dagegen Diwald 1963: 60, 73; s. u.).
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der Philosophie« bezeichnen.127 An dieser frühen Formulierung ist eine doppelte Verschränkung von innerer und äußerer Wahrnehmung zu bemerken: die äußere Wahrnehmung ist ein Teil der inneren Wahrnehmung, der als räumlich und äußerlich interpretiert wird, und zugleich wird die innere Wahrnehmung aufgefasst als Zustand eines Selbst und Körpers, der wiederum in der äußeren Wahrnehmung »angeschaut« wird. In Kantischer Begrifflichkeit beschreibt Dilthey den Vorgang der sinnlichen Wahrnehmung als »eine von innen stammende Synthese«, als einen Vorgang der Vergegenständlichung (Substantiierung) und Verräumlichung.128 Für die Naturwissenschaften, als Wissenschaften der äußeren Wahrnehmung, folgt daraus, dass weder die »Einheit des Objektes«, noch dessen »letzte Bestandteile« oder der notwendige Charakter der bestehenden Kausalverhältnisse in die menschliche Erfahrung fallen; sie alle sind eine »Ergänzung der Erfahrung« und daher stets hypothetischen Charakters.129 Anders liegen die Dinge bei den Wissenschaften der inneren Erfahrung und ihrer Grunddisziplin, der Psychologie; zumindest bei der beschreibenden und zergliedernden Psychologie, wie sie Dilthey als systematische Grundlage der Geisteswissenschaften konzipiert.130 »Wie anders ist uns Seelenleben gegeben! Im Gegensatz zur äußeren Wahrnehmung beruht die innere Wahrnehmung auf einem Innewerden, einem Erleben, sie ist unmittelbar gegeben.«131 »Und da nun nur solche Zustände oder Vorgänge, die nicht nach außen verlegt werden, wie Gefühle, Affekte, Leidenschaften, Denkprozesse und Willensakte, in die innere Wahrnehmung fallen, so folgt aus dem Begriff der inneren Erfahrung, daß dieselbe auf Vorgänge und Zustände solcher Art zunächst ganz eingeschränkt ist.«132
»Unmittelbar« ist das Verhältnis der beschreibenden und zergliedernden Psychologie zur inneren Wahrnehmung in dem Sinne, dass die innere Wahrnehmung nicht als Erscheinung einer zugrunde liegenden aber der Erfahrung entzogenen Realität in den Blick genommen wird, sondern so, dass der Gegenstand der beschreibenden und zergliedernden Psychologie »im Erlebnis als Realität gegeben« ist.133 Daher auch Diltheys Ablehnung der Rede von geistigen Objekten. Denn im Begriff des Objekts stecke eine prinzipielle Unabhängigkeit von seiner tatsächlichen oder möglichen Erfahrbarkeit. Die in der inneren Erfahrung gegebenen geistigen Tatsachen gehen jedoch in ihrer Erfahrbarkeit vollkommen 127 128 129 130 131 132 133
GS V, 90; siehe unten. GS V, 169; vgl. GS V 245. GS V, 169f; zum hypothetischen Charakter vgl. etwa GS V, 140. Vgl. GS V, 139–316. GS V, 170. GS V, 245. GS V, 170.
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auf.134 Dies ist mithin auch der Grund, dass Dilthey die Anwendung der kantischen Unterscheidung von »Dingen an sich« und »Dingen in der Erscheinung«, die in Bezug auf die äußere Wahrnehmung ihren guten Sinn habe, mit Blick auf die innere Erfahrung ablehnt.135 Von zentraler Bedeutung ist ferner, dass Unmittelbarkeit des Erlebens nicht mit Infallibilität zu verwechseln ist.136 Auch wenn im skizzierten Sinn für die innere Erfahrung gilt: »esse est percipi«, so ist es vom vorprädikativen wahrnehmenden Erleben zum kognitiven, sprachlich artikulierten Zugriff ein erheblicher Schritt, der kaum als täuschungsresistent oder irrtumsimmun beschrieben werden kann. Zusammenfassend ist nach diesem knappen Durchgang durch die Dimensionen der Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften zu sagen, dass es unangemessen simplifizierend wäre, sie im Sinne eines (apriorischen) ontologischen oder methodologischen Dualismus zu beschreiben. Vielmehr sind Gegenstand und Methode der Geisteswissenschaften nur wechselseitig erläuterbar und erfordern zusätzlich die Verbindung zu Diltheys Theorie der inneren Erfahrung. Geistige Tatsachen unterscheiden sich nach Dilthey von physischen in ihrer unmittelbaren (d.i. nicht als Erscheinung von etwas anderem zu beschreibenden) Gegebenheit, in ihrer Unräumlichkeit, ihrem Bedeutungscharakter, ihrer Zeitstruktur und ihrer Bezogenheit auf den erlebenden und handelnden Menschen. Daher lässt sich wohl mit Recht sagen, die Geisteswissenschaften haben es nicht bloß mit einem anderen Gegenstand zu tun als die Naturwissenschaften, sondern »sie haben eine andere Gegenständlichkeit«.137
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Diltheys Argumentationsstrategien
Bei dem Versuch die Geisteswissenschaften methodologisch auf festen Grund zu stellen, hatten sich zur Jahrhundertmitte vor allem die Positivisten hervorgetan. Zur Zeit Diltheys standen besonders die Arbeiten von William Whewell, John Stuart Mill und Henry Thomas Buckle im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Sie verfolgten nach Diltheys Auffassung die Strategie, den immens erfolgreichen mathematisierten Naturwissenschaften auf die Finger zu schauen und die aus diesen Beobachtungen abstrahierte Methodologie dann auf die vermeintlich weniger methodisch disziplinierten und auch weniger erfolgreichen
134 Vgl. McDowell 1996: 21 (»[T]he objects of ›inner sense‹ are internal accusatives to the awareness that ›inner experiences‹ constitute; they have no existence independently of that awareness.«). 135 Vgl. GS V, 5. 136 Vgl. Mantzavinos 2005: 16. 137 Lehmann 1957: 34 (Hervorhebung im Original); vgl. GS V, 248.
Diltheys Argumentationsstrategien
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Geisteswissenschaften zu übertragen.138 Insofern man die mathematisierten Naturwissenschaften als Maßstab von Wissenschaftlichkeit überhaupt ansieht, ein nachvollziehbarer Gedanke. Als exemplarisch für diesen Ansatz ist sicherlich John Stuart Mills Vorgehensweise in seinem A System of Logic von 1843 anzusehen.139 Einleitend zum sechsten Buch, das den »moral sciences« gewidmet ist, beklagt er den rudimentären Bestand gesicherten Wissens von psychologischen und soziologischen Gesetzmäßigkeiten (»the laws of Mind, and in even a greater degree those of society«).140 Anders als viele andere Disziplinen hätten Psychologie und Soziologie noch nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft einschlagen können. Dieser Umstand ist zwar nicht unverständlich, haben es doch beide Disziplinen mit den komplexesten Gegenständen überhaupt (dem menschlichen Geist und ganzen Gesellschaften) zu tun (»the most complex and most difficult subject of study on which the human mind can be engaged«). Aufgrund der erheblichen Relevanz ihrer Gegenstände ist das Fehlen erfolgreicher Wissenschaften in beiden Fällen aber auch besonders schmerzlich. Um dem Studium der Psychologie und der Soziologie aufzuhelfen, sollte daher der Versuch gemacht werden, Vorgehensweisen, die sich im Fall der weniger komplexen Gegenstände (d.i. der Naturwissenschaften) als erfolgreich erwiesen haben, an die Gegebenheiten der in Frage stehenden Gegenstandsbereiche anzupassen und auf sie zu übertragen. »If there are some subjects on which the results obtained have finally received the unanimous assent of all who have attended to the proof, and others on which mankind have not yet been equally successful; on which the most sagacious minds have occupied themselves from the earliest date, and have never succeeded in establishing any considerable body of truths, so as to be beyond denial or doubt; it is by generalizing the methods successfully followed in the former inquiries, and adapting them to the latter, that we may hope to remove this blot on the face of science.«141
Gegenüber dieser Ertüchtigungsstrategie der Geisteswissenschaften durch methodologische Orientierung an den Naturwissenschaften verhält sich Dilthey entschieden ablehnend. Nach seiner Auffassung fehlt es zudem keineswegs an erfolgreicher geisteswissenschaftlicher Forschung. Diese habe sich seit Winckel138 Vgl. GS I, 105–109. 139 Der §1 des sechsten Buches trägt den programmatischen Titel »The backward state of the Moral Sciences can only be remedied by applying to them the methods of Physical Science, duly extended and generalized«. Diesem Abschnitt sind auch die folgenden Zitate entnommen. 140 Mill hat mit Psychologie und Soziologie ausschließlich systematische Geisteswissenschaften im Blick, historische Disziplinen dezidiert nicht (vgl. von Kempski 1992a: 296f). Neben der jeweiligen nationalen Perspektive erklärt diese Divergenz womöglich zu einem gewissen Teil, weshalb Mills und Diltheys Einschätzungen des Zustands und des Erfolgs der Geisteswissenschaften so massiv auseinandergehen. 141 Mill 1974: 834.
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mann und Herder, mit den Romantikern, mit Niebuhr, Jakob Grimm, Savigny und Böckh auf das fruchtbarste entfaltet und zu einer Fülle an gesicherten Resultaten geführt. Mangel bestehe hingegen an theoretischer Durchdringung und Zusammenschau der geisteswissenschaftlichen Resultate durch »Erkenntnistheorie und Psychologie«, »kurz eine philosophische Grundlegung«.142 Eine solche lasse sich nicht aus einem allgemeinen Wissenschaftsbegriff ableiten; sie sei allein auf dem Wege einer Analyse der tatsächlich geleisteten geisteswissenschaftlichen Forschung zu gewinnen. Dilthey plädiert also für einen wissenschaftstheoretischen »bottom up«-Ansatz und ein überwiegend deskriptives Vorgehen, wobei allerdings auch die normative Komponente nicht völlig ausfällt, da seine Induktionsbasis für wissenschaftstheoretische Beobachtungen aus den exemplarischen Arbeiten anerkannter Wissenschaftler besteht.143 »Die empirische Methode fordert, daß an diesem Bestande der Wissenschaften selber der Wert der einzelnen Verfahrungsweisen, deren das Denken sich hier zur Lösung seiner Aufgaben bedient, historisch-kritisch entwickelt, daß an der Anschauung dieses großen Vorganges, dessen Subjekt die Menschheit selber ist, die Natur des Wissens und Erkennens auf diesem Gebiet aufgeklärt werde.«144
Dilthey macht hier vor allem zwei Punkte geltend. Zunächst ruft er in Erinnerung, dass es irreführend sein kann, in einem generischen Sinn von der Wissenschaft zu sprechen, da sie sich auf ihren jeweiligen Gegenstandsbereichen diesen entsprechend sehr unterschiedlich strukturiert hat. Die sich historisch entfaltende Pluralität von Einzelwissenschaften mit ihren spezifischen Methoden, Forschungsstilen, Fachkulturen und Wissenschaftsstandards gilt es nicht nur nicht aus den Augen zu verlieren, sondern wissenschaftstheoretisch auszuwerten.145 Weiterhin ist zu beachten, dass die Wissenschaften in der Regel selbst schon (und die Einzelwissenschaften der »Historischen Schule« sogar in besonderem Maße) ihre Forschungsarbeit und ihre Methodologie mit einem ständigen Reflexionsprozess begleiten, also eigene Kriterien von Wissenschaftlichkeit etabliert und Evaluationsprozeduren des eigenen wissenschaftlichen Vorgehens institutionalisiert haben.
142 Vgl. GS I, xvi. 143 Keine wissenschaftstheoretische Berücksichtigung finden etwa die Comtesche Soziologie oder die Geschichtsphilosophien. »Die Methoden, deren sich die Soziologie bedient hat, treten freilich mit dem Anspruch auf, daß durch sie die metaphysische Epoche abgetan, die der positiven Philosophie eröffnet sei. Doch hat der Begründer dieser Philosophie, Comte, nur eine naturalistische Metaphysik der Geschichte geschaffen, welche als solche den Tatsachen des geschichtlichen Verlaufs viel weniger angemessen war als die von Hegel oder Schleiermacher.« (GS I, 105, Hervorhebung im Original). 144 GS I, 5. 145 Eine wissenschaftstheoretische Haltung, die letztlich auf Aristoteles zurückgeht (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094b12).
Diltheys Argumentationsstrategien
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Ferner kommt im Fall der Geisteswissenschaften noch hinzu, dass sie neben ihren theoretischen Leistungen auch vielfältige weitere gesellschaftliche Funktionen (wie ihren mittelbaren Beitrag zur Verwaltung und Pflege des Rechts, zur Ausbildung von Priestern, Beamten, Lehrern und Erziehern) im Wesentlichen erfolgreich erfüllen. In historischer und soziologischer Perspektive wird deutlich, dass sie in der Regel sogar primär als Reaktionen auf gesellschaftliche Probleme und Bedürfnisse und weniger aus theoretischer Neugier eingerichtet und unterhalten werden.146 An diese bereits erbrachte beachtliche Bewältigungs- und Reflexionsleistung und ihren Niederschlag im vorfindlichen theoretischen und institutionellen Bestand der Wissenschaften gilt es für den empirisch verfahrenden, d.i. für den nicht metaphysisch konstruierenden, Wissenschaftstheoretiker Anschluss zu suchen, um sie zu explizieren und zu systematisieren. Dilthey ist daher auch der Überzeugung, dass eine philosophische Begründung der Geisteswissenschaften, die die Eigenart ihres Gegenstandes nicht auf diese Weise berücksichtigt, »die geschichtliche Wirklichkeit zu verstümmeln [droht], um sie den Begriffen und Methoden der Naturwissenschaften anzupassen«.147 Dieses Anliegen, die real bestehenden und zum Teil erfolgreich arbeitenden Geisteswissenschaften aus sich selbst heraus zu verstehen, bestimmt Diltheys Perspektive zutiefst, wenn er es unternimmt, die Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften nachzuweisen. Seine erste ausführliche Auseinandersetzung mit einer radikalen Infragestellung der Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften in Form eines reduktionistischen Materialismus steht in einem engen inhaltlichen Bezug zu den Thesen, mit denen der Physiologe Emil Heinrich Du Bois-Reymond den sogenannten Ignorabimus-Streit ausgelöst hatte.148 Du Bois-Reymond stellte in einem Vortrag vor der Akademie der Wissenschaften im Jahr 1880 eine Liste von sieben Welträtseln auf, in die er die beiden acht Jahre zuvor behandelten Probleme integriert und in einen größeren Zusammenhang stellt. Sie betreffen in »aufsteigende[r] Entwickelung«, d.i. aufeinander aufbauend: (1) »das Wesen von Materie und Kraft«; (2) den »Ursprung der Bewegung«; (3) »die erste Entstehung des Lebens«;
146 Vgl. GS I, 3f, 39 (»Die Aussonderung der Einzelwissenschaften der Gesellschaft vollzog sich sonach nicht durch einen Kunstgriff des theoretischen Verstandes, welcher das Problem der Tatsache der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt durch eine methodische Zerlegung des zu untersuchenden Objektes zu lösen unternommen hätte: das Leben selber vollbrachte sie.«). 147 GS I, XVII. 148 Du Bois-Reymonds vieldiskutierte Thesen entstammen den beiden Vorträgen »Über die Grenzen des Naturerkennens« (1872) und »Die sieben Welträthsel« (1880). Wenn hier und im Folgenden von Reduktionismus die Rede ist und eine genauere Bestimmung relevant erscheint, ist im Zweifelsfall »epistemischer Reduktionismus« gemeint (vgl. Nagel 1935: 50f).
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(4) (5) (6) (7)
»die anscheinend absichtsvoll zweckmäßige Einrichtung der Natur«; »das Entstehen der einfachen Sinnesempfindung«; »das vernünftige Denken und den Ursprung der damit eng verbundenen Sprache« »die Frage nach der Willensfreiheit«.149
Von ihnen allen gelte, dass sie wissenschaftliche Kernprobleme beschreiben, die nicht einmal ansatzweise geklärt sind (»ignoramus«). Die Probleme (1) und (5) bezeichnet er darüber hinaus in dem Vortrag von 1872 – gegeben den damaligen Stand der Wissenschaften (d.i. in erster Linie der Teilchenphysik) und die theoretischen Mittel, die im Rahmen einer »mechanische[n] Weltordnung« zulässig sind – sogar als prinzipiell unlösbar (»ignorabimus«).150 1880 ergänzt er auf dieser Liste der harten Probleme die Probleme (2) und (7), die er ebenfalls als »transzendent« einstuft, d.i. als »unüberwindlich[e]« oder »unbesiegbare Probleme«.151 Für die übrigen Probleme (2, 3, 4, 6) behauptet er etwas schwächer, dass sie zwar von momentan überwältigender Schwierigkeit wären, es aber nicht ausgeschlossen sei, dass, falls die ihnen in der Liste voraufgehenden Probleme gelöst wären, sie ebenfalls einer Lösung zuführbar sein könnten. (Da er jedoch bereits Problem (1) als transzendent einstuft, ist die Unterscheidung von transzendenten und nicht-transzendenten Problemen nicht sonderlich relevant.) Auf welcher Grundlage meint Du Bois-Reymond nun, seriöse Aussagen über den Erfolg und die Grenzen künftiger Forschungsanstrengungen treffen zu können? Da es wissenschaftliche Durchbrüche so an sich haben, dass sie vor ihrem Eintreten häufig für unvorstellbar gelten, scheinen Versuche einer Grenzziehung in Bezug auf mögliche zukünftige wissenschaftliche Erkenntnisse wenig aussichtsreich. Du Bois-Reymond beruft sich dazu auf den sogenannten »Laplaceschen Dämon«, eine unbeschränkte Intelligenz, die über eine vollständige Kenntnis aller Naturgesetze verfügt und zudem zu einem beliebigen Zeitpunkt Position und Bewegungsimpuls jedes Partikels im Universum kennt.152 Mithilfe dieser Informationen (und unter Voraussetzung eines deterministischen und physikalistischen Universums) ist diese fiktive Instanz dazu in der Lage, den Weltzustand für jeden beliebigen zukünftigen oder vergangenen Zeitpunkt zu deduzieren. Dieses Gedankenspiel erfüllt für Du Bois-Reymond den Zweck, das Erkenntnisziel des physikalistischen Forschungsprogramms seiner Zeit zu artikulieren, also gewissermaßen den angestrebten Endzustand der
149 150 151 152
Du Bois-Reymond 1974b: 168–174. Du Bois-Reymond 1974a: 77; Ders.: 1974b: 180. Du Bois-Reymond 1974b: 168, 181. Vgl. Du Bois-Reymond 1974a: 55ff. Diesen allwissenden Dämon konzipierte Pierre-Simon Laplace in seinem Essai philosophique sur les probabilités (1814). Auch Dilthey greift in den grundlegenden ersten Abschnitten der Einleitung auf den Laplaceschen Dämon zurück. Vermutlich geschieht das nicht ohne Anregung durch Du Bois Reymond (vgl. GS I, 9f).
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Naturwissenschaften vorgreifend zu imaginieren. Nun dient es durchaus der Verdeutlichung des Wesens einer Sache, ihre immanenten Tendenzen in die Zukunft auszuziehen. Vor allem aber soll es Du Bois-Reymond den argumentativen Zug erlauben, durch die Antizipation des Endes des laufenden Forschungsprogramms, alle Einwände gegen ihn, die sich auf noch zu erwartende Fortschritte der Naturwissenschaften berufen, zurückzuweisen. »Das Naturerkennen des Laplaceschen Geistes stellt somit die höchste denkbare Stufe unseres eigenen Naturerkennens vor, und bei der Untersuchung über die Grenzen dieses Erkennens können wir jenes zugunde legen. Was der Laplacesche Geist nicht zu durchschauen vermöchte, das wird vollends unserem in viel engeren Schranken eingeschlossenen Geiste verborgen bleiben.«153
Die »Grenzen des Naturerkennens« liest Du Bois-Reymond also von einem idealen Endzustand des physikalistischen Forschungsprogramms ab, von dem relativ sicher ist, dass die menschliche Erkenntnis ihm nicht einmal nahekommen wird. Wichtig ist, das zeigt besonders deutlich das prominente Missverständnis seiner Thesen durch Ernst Haeckel, den rein epistemischen Charakter des Ignorabimus zu beachten, und die Vorträge Du Bois-Reymonds (etwa mit Blick auf das Problem (5)) nicht als Plädoyer für einen Substanzendualismus aufzufassen: »Ob wir die geistigen Vorgänge aus materiellen Bedingungen je begreifen werden, ist eine Frage, ganz verschieden von der, ob diese Vorgänge das Erzeugnis materieller Bedingungen sind. Jene Frage kann verneint werden, ohne daß über diese etwas ausgemacht, geschweige auch sie verneint würde.«154
Aufgezeigt werden soll also keine ontologische Differenz, sondern eine prinzipielle »explanatorische Lücke« zwischen den theoretischen Ressourcen des Physikalismus und den genannten epistemischen Desideraten.155 Denn auch detaillierteste Kenntnisse von Korrelationen zwischen geistigen Vorgängen und materiellen Bedingungen ergäben keine Einsicht in »das Zustandekommen des Geisteslebens durch diese Bedingungen«.156
153 Du Bois-Reymond 1974a: 59. 154 Du Bois-Reymond 1974a: 75. Ganz im Gegenteil scheint er sogar eine monistische Position, nach der eine perfekte materielle Kopie Caesars auch alle geistigen Eigenschaften des Originals besitzen würde, zu favorisieren (vgl. Du Bois-Reymond 1974a: 75f). Für Haeckels irreführende Polemik vgl. Haeckel 1960: 231–234 (Kap. 10). 155 Vgl. Chomsky 2018: 91–94. 156 Du Bois-Reymond 1974a: 71.
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1.3.1 Das Argument von den Anmutungsqualitäten Am ausführlichsten fallen die Ausführungen Du Bois-Reymonds zum Problem des Bewusstseins (5) aus, als dessen einfachster Fall die Sinnesempfindung anzusehen ist. Sie sind es auch, die in besonderem Maße Diltheys Aufmerksamkeit auf sich ziehen. »Die astronomische Kenntnis157 des Gehirns, die höchste, die wir davon erlangen können, enthüllt uns darin nichts als bewegte Materie. Durch keine zu ersinnende Anordnung oder Bewegung materieller Teilchen aber läßt sich eine Brücke ins Reich des Bewußtseins schlagen. Bewegung kann nur Bewegung erzeugen, oder in potentielle Energie zurück sich verwandeln. Potentielle Energie kann nur Bewegung erzeugen, statisches Gleichgewicht erhalten, Druck oder Zug üben. Die Summe der Energie bleibt dabei stets dieselbe. Mehr als dies Gesetz bestimmt, kann in der Körperwelt nicht geschehen, auch nicht weniger; die mechanische Wirkung geht rein auf in der mechanischen Wirkung. Die neben den materiellen Vorgängen im Gehirn einhergehenden geistigen Vorgänge entbehren also für unseren Verstand des zureichenden Grundes. Sie stehen außerhalb des Kausalgesetzes, und schon darum sind sie nicht zu verstehen, so wenig, wie ein Mobile perpetuum es wäre. Aber auch sonst sind sie unbegreiflich.«158
Vor diesem Hintergrund entwirft Dilthey nun seine eigenen Überlegungen zur Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften. Einen ersten Argumentationsstrang führt er als Rekonstruktion des Du Bois-Reymondschen Arguments von der Unerklärbarkeit der Sinnesempfindung ein und wie dieses erinnert auch Diltheys Gedankengang stark an das sogenannte »qualia«-Argument heutiger Antinaturalisten.159 Dilthey beginnt mit der Feststellung, dass unser menschlicher Zugang zur Wirklichkeit durch Erfahrung erfolge. Erfahrung wiederum komme durch das »Zusammenwirken einer Gliederung unserer Sinne mit der inneren Erfahrung« 157 Unter »astronomischer Kenntnis« versteht Du Bois-Reymond ein Wissen, das dem Ideal des Laplaceschen Dämons entspricht, was für menschliche Maßstäbe am ehesten in der Astronomie verwirklicht ist (vgl. Du Bois-Reymond 1974a: 68). 158 Du Bois-Reymond 1974a: 70. David Chalmers hält dieses Problem nach wie vor für das zentrale: »The hard problem of consciousness is the problem of experience. […] Why is it that when our cognitive systems engage in visual and auditory information-processing, we have visual or auditory experience: the quality of deep blue, the sensation of middle C? How can we explain why there is something it’s like to entertain a mental image, or to experience an emotion? It is widely agreed that experience arises from a physical basis, but we have no good explanation of why and how it so arises. Why should physical processing give rise to a rich inner life at all? It seems objectively unreasonable that it should, and yet it does.« (Chalmers 2017: 33, Hervorhebung im Original). 159 Michael Pauen hat in diesem Sinne eine deutliche Parallele zwischen den Thesen Du BoisReymonds und Thomas Nagels bekanntem Aufsatz »What is it like to be a bat?« konstatiert: »Nagels Überlegungen sind zwar rezeptionsgeschichtlich unabhängig entstanden, der Sache nach aber eng mit denen Langes und Du Bois-Reymonds verwandt.« (Pauen 2007: 167).
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zustande.160 Aus der »hierdurch bedingten Verschiedenheit der Provenienz ihrer Bestandteile« ergibt sich nach Dilthey »eine Unvergleichbarkeit der Elemente unserer wissenschaftlichen Rechnung«, denn »ein jeder der Sinne ist in einen ihm eigenen Qualitätenkreis eingeschlossen«.161 Aus diesen »Bedingungen unseres Erfahrens« ergeben sich demnach »immanente Schranken der Erkenntnis«.162 Der Umstand, dass unser Sensorium in genau dieser Weise gegliedert ist und unsere einzelnen Sinne jeweils genau diesen Qualitätenkreisen zugeordnet sind, lässt sich nicht aus anderen Sätzen ableiten oder auf andere Umstände zurückführen, »ihre Tatsächlichkeit ist für uns unergründlich; all unser Erkennen ist auf die Feststellung der Gleichförmigkeiten in Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit eingeschränkt«.163 Hier zeichnen sich erste Unterschiede zwischen Du Bois-Reymond und Dilthey ab. So geht jener von einer absoluten Auffassung der Wirklichkeit aus, die sich allein daran orientiert, wie die Wirklichkeit an sich beschaffen ist, und sich nicht dafür interessiert, wie sie von gewissen Lebensformen erlebt wird.164 Für die »mechanische Anschauung«, die Du Bois-Reymond seinen Überlegungen zugrunde legt, ist es ausgemacht, »[d]ass es in Wirklichkeit keine Qualitäten gibt«.165 Ziel des mechanistischen Forschungsprogramms sei es, »alle Naturvorgänge auf Bewegungen eines substantiell unterschiedslosen, mithin eigenschaftslosen Substrates dessen [zurückzuführen], was uns als verschiedenartige Materie erscheint, mit anderen Worten, alle Qualität müßte aus Anordnung und Bewegung solchen Substrates erklärt sein.«166 Dilthey hingegen verhält sich dieser mechanistischen Anschauung gegenüber ausgesprochen reserviert und ist nicht bereit »der atomistischen Mechanik sozusagen metaphysische Gültigkeit« zuzuerkennen.167 Die von Du Bois-Reymond vertretene Ansicht, dass die Qualitäten allererst »im Vorgang der Empfindung entstehen«, bezeichnet Dilthey als »Hy160 GS I, 10. 161 GS I, 10. Auch Johann Gustav Droysen eröffnet seine Historik mit ganz ähnlichen Überlegungen (vgl. Droysen 1960: 6–9) und verweist als Quelle für die Lehre von den Qualitätenkreise der Sinnesorgane auf Wilhelm Wundts Physiologische Psychologie (1874). Angestoßen wurde dieser Strang wahrnehmungsphysiologischer Forschung maßgeblich durch Johannes Müller, der 1826 das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien aufstellte. 162 GS I, 10. 163 GS I, 10. Das heißt eine kausale Erklärung ist hier nicht erreichbar (s. u.). 164 Den Ausdruck »absolute conception of reality« prägte Bernard Williams in seinem Descartesbuch (vgl. Williams 1978: 64f, 245–247). Werner Heisenberg spricht ebenfalls mit Bezug auf Descartes von einer Position des »metaphysischen Realismus«, die er ausgehend von den Herausforderungen der Quantenphysik infrage stellt (vgl. Heisenberg 1959: 61–63). 165 Du Bois-Reymond 1974a: 58. 166 Du Bois-Reymond 1974a: 57. Dieser Äußerung ist zu entnehmen, dass Du Bois-Reymond »Qualität« ausschließlich im Sinne sekundärer Qualitäten versteht (vgl. Williams 1978: 246f). 167 GS I, 13n2; vgl. GS I, 365–373.
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pothese« und »Hilfsmittel für die Rechnung«.168 Während Du Bois-Reymond die Theorien der Teilchenphysik offenbar in einem realistischen Sinne auffasst, entspricht Diltheys Position an dieser Stelle eher einem wissenschaftstheoretischen Instrumentalismus, nach dem Existenzaussagen bezüglich der theoretischen Entitäten der Physik nicht mehr besagen, als dass ihre Annahme gewisse technische Anwendungen und theoretische Vorhersagen ermöglicht.169 Diltheys antirealistische Haltung gegenüber den theoretischen Entitäten der Physik beruht wesentlich auf Kants Lehre vom Erscheinungscharakter der sinnlichen Gegenstände in der äußeren Wahrnehmung, die von der sinnesphysiologischen Forschung Johannes Müllers und Hermann Helmholtz’ mit empirischen Mitteln fortgeführt wurde.170 Droysen bringt den antirealistischen Impetus dieser theoretischen Situation auf den Punkt und exemplifiziert zugleich eine typische Art der Rezeption von Johannes Müllers Gesetz der spezifischen Sinnesenergien: »Also nicht an sich sind die Dinge blau, süß, warm, hochtönend, sondern dies sind Empfindungen, welche deren Einwirkung in dem betreffenden unserer Sinne veranlaßt; nicht das Einwirkende ist blau, warm, süß usw. Wie die Einwirkung empfunden wird, gehört dem Sinn an, der sie aufnimmt. Also die Empfindung ist nicht ein Abbild in unserer Seele von dem, was auf sie eingewirkt hat, sondern nur ein Zeichen, das der Sinn in das Gehirn hinauftelegraphiert, ein Signal von der geschehenen Einwirkung. Denn ein Abbild würde irgendeine Ähnlichkeit mit dem abgebildeten Gegenstande fordern. Ein Zeichen braucht keinerlei Ähnlichkeit der Art mit dem Bezeichneten zu haben; die Beziehung zwischen beiden ist nur, daß der gleiche Gegenstand unter gleichen Umständen einwirkend dieselben Zeichen hervorruft, daß also ungleiche Zeichen immer ungleichen Eindrücken entsprechen.«171
Ganz ähnlich stellen sich die Dinge Dilthey dar, weshalb er von der prinzipiellen Unerkennbarkeit der (äußeren) Wirklichkeit »an sich« ausgeht: »[…] auf ihm [sc. dem erkenntnistheoretischen Standpunkt] erweist sich unser Bild der ganzen Natur als bloßer Schatten, den eine uns verborgene Wirklichkeit wirft […]«172
Letztlich stehen damit hinter Du Bois-Reymonds absoluter Auffassung der Wirklichkeit und Diltheys Skepsis ihr gegenüber zwei grundsätzlich verschiedene 168 GS I, 11. 169 Vgl. Chakravartty 2017. 170 Dass Dilthey den Phänomenalismus in Bezug auf die Naturwissenschaften offenbar als gesetzt ansieht, erklärt Georg Misch mit der überragenden Autorität von Hermann Helmholtz, dem er für die eigenen Arbeiten als Theorierahmen diente (vgl. GS I, 20f; Misch 1926: 546; ausführlich dargestellt in Lessing 1995: 826–830.). Auch der gleichsinnig wirkende Einfluss Comtes ist hier in Rechnung zu stellen (s. u.; vgl. GS V, 91f). 171 Droysen 1960: 6f (Hervorhebung im Original). 172 GS I, xviii; weiter heißt es: »[…] dagegen Realität, wie sie ist, besitzen wir nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Tatsachen des Bewußtseins.« (Hervorhebung hinzugefügt). Wenn die geistigen Tatsachen allerdings wesentlich in die Objektwelt eingebettet sind, droht diese Realitätsabstufung inkonsistent zu werden.
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Wirklichkeitsbegriffe. Für die absolute Auffassung ist Wirklichkeit dasjenige, »what is there anyway«. Ihr Wirklichkeitsbegriff ist rein objektivistisch, eine Welt ohne Betrachter.173 Ganz anders Dilthey, er versteht Wirklichkeit von vornherein »als das Korrelat der Erfahrung«.174 Nach seiner Auffassung lässt sich die Korrelation von Wirklichkeit und Erfahrung nicht sinnvoll auflösen: Erfahrung, die nicht als (zumindest intendierte) Erfahrung von Wirklichkeit verstanden wird, und Wirklichkeit, die in keinem, sei es mittelbaren oder unmittelbaren, Verhältnis zur Erfahrung steht, sind ihm bloße Abstraktionen und letztlich weder verständlich noch vollziehbar. Gegeben diese tiefgreifenden Differenzen zwischen Du Bois-Reymond und Dilthey ist zu klären, in welchem Sinne dann überhaupt noch die Rede davon sein kann, dass Dilthey sich der Argumentation Du Bois-Reymonds anschließt. Wie gesehen plädiert Du Bois-Reymond dafür, dass es völlig uneinsichtig sei, dass auch aus der beliebig weit getriebenen Erforschung »bewegter Materie« jemals verständlich gemacht werden könnte, wie es zu Bewusstsein kommt, zu einem Beobachter und zu erlebten Qualitäten. Der Hiatus besteht hier zwischen den primären und den sekundären Qualitäten. Eine Grenze des Naturerkennens, die er für dermaßen trivial und altbekannt hält, dass er sich fast dafür »schämt […], den deutschen Naturforschern so abgestandenen Trunk zu schenken«.175 Da Dilthey unter dem Einfluss Kants auch die primären Qualitäten und damit äußere Gegenständlichkeit schlechthin nicht als gegeben vorauszusetzen geneigt ist, stellt sich ihm das Problem anders dar. Sein Ausgangspunkt ist die sich aus den verschiedenen Sinnesquellen speisende Erfahrung. Wissenschaftliche Theorien machen es nun möglich, mehr und mehr Aspekte dieser Erfahrung qualitätenkreiseübergreifend in gesetzmäßige Zusammenhänge zu bringen und damit berechenbar und technisch kontrollierbar zu machen. Die entscheidende Frage für Dilthey ist nun nicht, ob es möglich ist, einen Qualitätenkreis aus den anderen oder die sekundären Qualitäten aus den primären in ihrer spezifischen Qualität abzuleiten. Sondern die relevante Frage besteht ihm darin, ob sich höherstufige Bewusstseinstatsachen, auf denen nach seiner Vorstellung die Geisteswissenschaften methodisch aufbauen, in das naturwissenschaftliche »System von Gleichförmigkeiten« integrieren lassen oder nicht, das es beispielsweise ermöglicht, die Farbqualitäten durch deren Rückführung auf elektromagnetische Schwingungen vollständig zu beschreiben und technisch zu beherrschen. Das naturwissenschaftliche Vorgehen, das Dilthey hier vor Augen hat, ist offenbar dahingehend zu verstehen, dass zunächst einzelnen Bewusstseinstatsachen zu173 Williams 1978: 64 (Hervorhebung entfernt), 243 (»the world as it is without observers«). 174 GS I, 10. In Diltheys Annahme einer prinzipiellen Relativität kommt wiederum ein wesentlicher Aspekt positivistischen Denkens zum Ausdruck (siehe unten, Abschnitt 2.1.2). 175 Du Bois-Reymond 1974b: 159.
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verlässig materielle (neuronale) Korrelate zugeordnet werden, deren wechselseitige Verhältnisse dann wiederum auf bekannte naturwissenschaftliche (physiologische) Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden, wodurch indirekt auch die Verhältnisse der Bewusstseinstatsachen und ihrer Veränderungen hinreichend erklärt wären. Sollte diese Prozedur erfolgreich sein, »alsdann wären diese Bewußtseinstatsachen so gut dem Zusammenhang des Naturerkennens eingeordnet, als es irgend Ton oder Farbe sind«.176 Für die Möglichkeit einer solchen Einordnung spielt die qualitative Unvergleichbarkeit der verschiedenen Qualitätenkreise keine Rolle. Beide Argumentationen stehen scheinbar windschief zueinander. Während für Du Bois-Reymond die entscheidende Kluft zwischen primären und sekundären Qualitäten besteht (seine Rede von einem »eigenschaftslosen Substrat« ist allerdings unpräzise, da seine Argumentation durchaus Eigenschaften wie Masse, Position, Bewegungszustand voraussetzt)177, liegt sie für Dilthey zwischen den Qualitätenkreisen der äußeren Sinne und dem des inneren Sinns. Konfrontiert mit dem robusten Realismus der Du Bois-Reymondschen Argumentation ist zu erwarten, dass sich Dilthey zur Frage nach der erkenntnistheoretischen Rechtfertigung der Differenz von primären und sekundären Eigenschaften verhalten wird.178 Diese Frage kommt für Du Bois-Reymond selbst gar nicht in den Blick, da er zwar bezüglich der sekundären Qualitäten auf die Einsichten der Sinnesphysiologie verweist, das Problem der primären Qualitäten jedoch konsequent unterschlägt, indem er von der völligen Qualitätslosigkeit der Wirklichkeit ausgeht.179 Dilthey ist sich dieser erkenntnistheoretischen Problematik hingegen bewusst und bietet auch tatsächlich eine Erläuterung des epistemischen Status der primären Qualitäten an. Dabei vermeidet er es allerdings, primäre und sekundäre Qualitäten auf verschiedenen Wirklichkeitsebenen anzusiedeln, und geht stattdessen durchgängig von der Ebene der Erfahrung aus. Primäre Qualitäten sind nach Diltheys Vorschlag nicht etwa ein Abbild der »Wirklichkeit an sich«, sondern zunächst nichts weiter als »ein Teilinhalt meiner Erfahrung« und zwar derjenige ausgezeichnete Teilbereich, der es erlaubt das »System von Gleichförmigkeiten«, das stabile Zuordnungen zwischen Zuständen und Veränderungen der verschiedenen Qualitätenkreise erlaubt, zu entwickeln und anzuwenden.180 176 GS I, 11. 177 Du Bois-Reymond 1974a: 57. 178 Am deutlichsten kommt Diltheys Distanz zum Realismus der Du Bois-Reymondschen Auffassung in der ausführlichen zweiten Fußnote zum Ausdruck (vgl. GS I, 13). 179 Du Bois-Reymond 1974a: 58. 180 GS I, 11. Dass Dilthey die primären Qualitäten nicht als adäquate Repräsentation der Struktur der Wirklichkeit bezeichnet, sondern rein instrumentalistisch bzw. operationalistisch als »Hilfsmittel für die Rechnung« (GS I, 11) auffasst, mag als unbefriedigende
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Zusammenfassend lässt sich daher zur Diltheyschen Rezeption des Du BoisReymondschen Arguments bemerken, dass sie eine durchgreifende Modifikation im Sinne eines wissenschaftstheoretischen Instrumentalismus und Antirealismus darstellt, der ontologische Festlegungen tunlichst zu vermeiden sucht. Eine Konsequenz dieser Modifikation ist nun allerdings, dass das Argument für Dilthey seine Überzeugungskraft einbüßt. Denn die Du Bois-Reymondsche Pointe der Unerklärlichkeit des Umstandes, dass es in einer mechanischen Welt überhaupt Erfahrung gibt, geht in Diltheys relationaler Fassung, die auch in Bezug auf die primären Qualitäten das Bestehen von Erfahrung immer schon voraussetzt, notwendig verloren. An deren Stelle rückt bei Dilthey das Faktum der Unableitbarkeit der spezifischen Gliederung unseres Sensoriums in verschiedene äußere Sinne und die innere Erfahrung mit ihren jeweiligen Qualitätenkreisen. Das alleine allerdings kann die Selbstständigkeit der Geisteswissenschaft, wie das Beispiel der Rückführbarkeit von Farbqualitäten auf Schwingungen einer gewissen Wellenlänge zeigt, nicht gewährleisten.
1.3.2 Das Argument aus dem spezifischen Zusammenhang geistiger Tatsachen Der Verweis auf die spezifischen Anmutungsqualitäten der durch den inneren Sinn vermittelten Erfahrungen, die nach Dilthey die Grundlage der Geisteswissenschaften bilden, bietet demnach keine hinreichende Grundlage, um deren Selbstständigkeit zu erläutern. Um diese Selbstständigkeit in einem robusten Sinn sicherzustellen, versucht Dilthey aufzuzeigen, dass das physikalistische Forschungsprojekt in Bezug auf den Zusammenhang der geistigen Tatsachen an seine Grenzen kommt. »Erst wenn die Beziehungen zwischen den Tatsachen der geistigen Welt sich als in der Art unvergleichbar mit den Gleichförmigkeiten des Naturlaufs zeigen, daß eine Unterordnung der geistigen Tatsachen unter die, welche die mechanische Naturerkenntnis festgestellt hat, ausgeschlossen wird: dann erst sind nicht immanente Schranken des erfahrenden Erkennens aufgezeigt, sondern Grenzen, an denen Naturerkenntnis endigt und eine selbständige, aus ihrem eigenen Mittelpunkte sich gestaltende Geisteswissenschaft beginnt.«181 Inkonsequenz erscheinen. Verlangt die Möglichkeit der Errichtung eines »Systems von Gleichförmigkeiten« auf Basis der primären Qualitäten nicht eine Erklärung? Und welche Erklärung wäre naheliegender als die Übereinstimmung dieser Qualitäten mit der Wirklichkeit? Auf dieses sogenannte »no miracle«-Argument ließe sich allerdings erwidern, dass eine realistische Heraufstufung der primären Qualitäten letztlich einen tautologischen Charakter hätte, da eine Erläuterung dieses Status wiederum auf nichts anderes als die Ermöglichung eines »Systems von Gleichförmigkeiten« verweisen könnte. 181 GS I, 11f (Hervorhebung im Original). Eine Differenzierung von Realitätsebenen nach der Art der jeweils herrschenden spezifischen Relationen formuliert auch Werner Heisenberg:
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Die Grenzen des Naturerkennens werden nach Dilthey daran ersichtlich, dass der Versuch, die Tatsachen des Geistes und die zwischen ihnen bestehenden Verbindungen in die Ordnung der naturwissenschaftlichen Kausalgesetze zu integrieren, früher oder später zu Widersprüchen führt. Dass dem so ist, versucht Dilthey wiederum im Rückgriff auf Du Bois-Reymond zu zeigen. Bemerkenswerterweise scheint er sich dabei seiner antirealistischen Revision des Du BoisReymondschen Arguments überhaupt nicht bewusst gewesen zu sein, da er davon ausgeht, dass auch Du Bois-Reymond nach dem ersten Vortrag von 1872 ganz wie er selbst zu dem Schluss gekommen sei, dass das bisherige Argument zu schwach ausgefallen sei, und er daher im späteren Vortrag von 1880 eine neue Argumentationsstrategie verfolgt habe.182 Davon kann allerdings bei einem Vergleich beider Vorträge keine Rede sein. Du Bois-Reymond begründet die Unerklärbarkeit seines fünften Welträtsels ganz wie in der früheren Rede. Allein er ergänzt die beiden Grenzen der ersten Rede um fünf weitere Rätsel und um eine Polemik gegen verschiedene Missverständnisse, denen seine Gedanken ausgesetzt waren. Die beiden Argumente, die Dilthey der zweiten Rede von Du Bois-Reymond entnimmt, um ein stärkeres Argument für die Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften führen zu können als es auf Grundlage der Unvergleichbarkeit der verschiedenen Qualitätenkreise möglich war, entstammen zum einen der Polemik gegen Haeckels »Atomseelen« und bilden zum anderen das siebte Welträtsel: es sind die Einheit des Bewusstseins und die Spontaneität des Willens.183 »Das Grundproblem liegt sonach in der Feststellung der bestimmten Art von Unvergleichbarkeit zwischen den Beziehungen geistiger Tatsachen und den Gleichförmigkeiten materieller Vorgänge, welche eine Einordnung der ersteren, eine Auffassung von ihnen als von Eigenschaften oder Seiten der Materie ausschließt und welche sonach ganz anderer Art sein muß als die Verschiedenheit, die zwischen den einzelnen Kreisen von Gesetzen der Materie besteht […].«184 »Wenn man diese Ordnung oder Anordnung mit älteren Klassifizierungen vergleicht, die zu früheren Epochen der Naturwissenschaft gehörten, so erkennt man, daß man jetzt die Welt nicht in verschiedene Gruppen von Objekten eingeteilt hat, sondern in verschiedene Gruppen von Verknüpfungen. […] Was man wirklich unterscheiden kann, ist die Art der Verknüpfungen, die für gewisse Erscheinungen in erster Linie wichtig sind. Wenn wir z. B. über die Wirkung chemischer Kräfte sprechen, so meinen wir eine Art der Verknüpfung, die komplizierter ist, jedenfalls verschieden ist von der, die in der Newtonschen Mechanik ausgedrückt wird. Die Welt erscheint in dieser Weise als ein kompliziertes Gewebe von Vorgängen, in dem sehr verschiedenartige Verknüpfungen sich abwechseln, sich überschneiden und zusammenwirken und in dieser Weise schließlich die Struktur des ganzen Gewebes bestimmen.« (Heisenberg 1959: 85). 182 Vgl. GS I, 13f. 183 Vgl. Du Bois-Reymond 1974b: 165f, 174–186. 184 GS I, 12 (Hervorhebungen hinzugefügt). Diltheys Formulierung unterscheidet sich geringfügig, aber entscheidend von einer entsprechenden Hermann Lotzes, der von der »Unver-
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Ein explizites Argument für diese Unvergleichbarkeit bietet Dilthey nicht. Was immerhin deutlich wird, ist, dass sie vor allem anhand der zwei »geistigen Tatsachen« der Einheit des Bewusstseins und der Spontaneität des Willens zutage treten solle. So legt die parallele Formulierung in der Folge des obigen Zitats es nahe, dass Dilthey die Einheit des Bewusstseins für unvereinbar mit der »räumliche[n] Gliederung und Teilbarkeit der Materie« hält und zugleich davon ausgeht, dass die Spontaneität des Willens der »mechanische[n] Notwendigkeit«, die die natürlichen Vorgänge beherrscht, widerspricht.185 Mit letzterem ist die Problematik der Denkbarkeit von Willensfreiheit in einem deterministischen Universum angesprochen. Bei jener ist an die Frage zu denken, wie in einer letztlich aus diskreten Atomen bestehenden Wirklichkeit die Einheit des Bewusstseins verständlich gemacht werden könne. Ohne Frage markieren demnach beide Schlagworte massive Problembestände für den Versuch einer Naturalisierung des menschlichen Geistes, die bis heute einer überzeugenden Lösung harren. Gleichwohl scheint der Appell an die Intuition, dass es sich hier um letzte Unvereinbarkeiten handele, seinen prinzipiellen Charakter, der eben unabhängig sein soll vom jeweils erreichten Stand der Wissenschaften und der Perspektive ihres Fortschritts, eingebüßt zu haben. Denn im Rahmen kompatibilistischer Freiheitstheorien und von Bewusstseinsmodellen à la Daniel Dennett werden beide Probleme als vermeid- oder lösbar angesehen. Auf folgende Weise ließe sich Diltheys Position womöglich weiter ausbuchstabieren, als er es selbst unternimmt. Die von ihm zugrunde gelegte Struktur des mechanistischen Forschungsprogramms, also einer wesentlich mit dem Nachweis von stabilen Korrelationen zwischen materiellen Zuständen und Bewusstseinserfahrungen operierenden »Naturalisierung des menschlichen Geistes«, gleichbarkeit der materiellen Zustände und ihrer geistigen Folgen« spricht (Lotze 1896: 167). Bei Dilthey sind es nicht die materiellen und geistigen Zustände, die als unvergleichbar angesprochen werden, sondern die Zusammenhänge, in denen sie jeweils zueinander stehen, die These lautet also: Kausalverhältnisse und – dazu siehe unten – Bedeutungsverhältnisse sind nicht aufeinander zurückführbar und nicht durcheinander abbildbar. Gleichwohl bezieht sich Dilthey zustimmend auf diese Stelle bei Lotze als einer entscheidenden Zurückweisung des Ansinnens Auguste Comtes, die Psychologie als durchgängig abhängig von der Physiologie zu begreifen (vgl. GS V, 54f, 56n2). Interessanterweise diskutiert auch Lotze neben der Unvergleichbarkeit die Freiheit (vgl. Lotze 1896: 161ff) und die Einheit des Bewusstseins (vgl. Lotze 1896: 170ff) als mögliche Einwände gegen den Physikalismus. 185 GS I, 12. Unter der Einheit des Bewusstseins versteht Dilthey offenbar etwas der Kantischen »ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption« (KrV B 131–136) Analoges, insofern beide als »Bedingung der Möglichkeit eines jeden Gedankens« (KrV A 353) aufzufassen sind (vgl. GS I, 13n2). Im Zuge seiner Hegel-Rekonstruktion bezeichnet Dilthey »das Zusammenfassen eines Mannigfaltigen in einer Einheit« als das »Wesen des Geistes« (GS IV, 142). In den »Ideen« heißt es: »Diese Tatsache, deren Ausdruck auf der höchsten Stufe die Einheit des Bewußtseins und die Einheit der Person ist, unterscheidet das Seelenleben total von der ganzen körperlichen Welt.« (GS V, 211).
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stößt nämlich im Falle der Einheit des Selbstbewusstseins und der Spontaneität des Willens auf Schwierigkeiten, die sich noch genauer beschreiben lassen. Bei der Einheit des Bewusstseins deswegen, weil es sich bei ihr nicht um ein raumzeitlich isolierbares geistiges Ereignis handelt, sondern (die Kantische Terminologie hemmungslos psychologisierend) um die »Bedingung der Möglichkeit eines jeden Gedankens«. Damit ist sie aber auch nicht leicht spezifischen physiologischen (Gehirn-)Zuständen zuzuordnen.186 Bei der Spontaneität des Willens handelt es sich zwar schon um eine konkrete geistige Episode (nämlich die Willensentscheidung), aber um eine, die als freie nicht aus dem ihr unmittelbar vorhergehenden Weltzustand soll abgeleitet werden können, was für die möglichen physiologischen Korrelate jedoch unmöglich gelten kann. Beide Umstände widerstreiten daher in gewissen Hinsichten bereits den Voraussetzungen des mechanistischen Forschungsprogramms. Das transzendentale Faktum der Einheit des Bewusstseins lässt sich nicht ohne weiteres raum/zeitlich verorten und kann daher auch nicht mit konkreten materiellen Zuständen korreliert werden, es ist daher im Rahmen dieses Forschungsprogramms nur bedingt operationalisierbar (möglicherweise in der Form einer Aktivitätsstruktur, die bei jedem Denkakt vorliegt). Die Spontaneität des Willens resultiert nach herkömmlicher (inkompatibilistischer) Auffassung in einem Ereignis, das nicht aus der ihm unmittelbar vorhergehenden Konstellation wirkender Kausalfaktoren ableitbar ist. Ein solches kann es aber im Rahmen des methodischen Determinismus, wie ihn die Fiktion des Laplaceschen Dämons in Reinform verdeutlichen soll und wie ihn die Korrelationsforschung unterstellt, ex hypothesi nicht geben.187 Hinzu kommt die These von der Unvergleichbarkeit des Zusammenhangs zwischen materiellen Vorgängen und dem, der geistige Tatsachen verbindet. Dem Gang unserer Rekonstruktion vorgreifend, lässt sich präzisieren, dass unter dem spezifischen Zusammenhang geistiger Tatsachen letztlich Bedeutungsverhältnisse zu verstehen sind, die sich – so Diltheys These – nicht auf Kausalverhältnisse zurückführen oder durch sie abbilden lassen.188 Überlegungen dieser 186 Eine Korrelation zur »Bedingung der Möglichkeit eines jeden Gedankens« wäre auf der Ebene von synchronisierten Aktivitätsmustern des Gesamthirns bzw. womöglich des gesamten Nervensystems zu suchen, was natürlich gegenüber so einfachen Fällen wie Rotwahrnehmungen erhebliche Komplikationen mit sich bringt. 187 Vgl. Du Bois-Reymond 1974a: 55 (»Der Zustand der Welt während eines Zeitdifferentiales erschiene als unmittelbare Wirkung ihres Zustandes während des vorigen und als unmittelbare Ursache ihres Zustandes während des folgenden Zeitdifferentiales.«). Auch wenn man sich über diese Schwierigkeit hinwegsetzt, ergibt sich für die Spontaneität des Willens das Operationalisierungsproblem, wie sich etwa am Libet-Experiment nachvollziehen lässt, den exakten Zeitpunkt des freien Willensaktes zu bestimmen. 188 An der Rückführung semantischer Eigenschaften mittels evolutionstheoretischer Überlegungen auf letztlich kausale Verhältnisse arbeitet die sog. Biosemantik oder Teleosemantik im Anschluss an Ruth G. Millikan. Eine Bewertung der Erfolgsaussichten dieses Forschungsprojekts ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich.
Diltheys Argumentationsstrategien
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Art können womöglich anfänglich plausibilisieren, wenn auch nicht abschließend beweisen, dass die Einheit des Bewusstseins, die Spontaneität des Willens und der semantische Charakter der Beziehungen zwischen geistigen Tatsachen nicht bloß gravierende Schwierigkeiten für eine Naturalisierung des menschlichen Geistes darstellen, sondern womöglich prinzipielle Grenzen des Naturerkennens markieren. Wenn dem so sein sollte, ließen sich die geistigen Tatsachen grundsätzlich nicht in das naturwissenschaftliche System der Gleichförmigkeiten integrieren und erforderten daher eine genuin eigene Form des kognitiven Zugriffs.
1.3.3 Das erkenntnispragmatische Argument Eine kurze Bemerkung Diltheys, die er seinen eben dargestellten Überlegungen zur prinzipiellen Unplausibilität einer Naturalisierung des menschlichen Geistes voranstellt, lässt vermuten, dass auch er die Überzeugungskraft seines bzw. des Du-Bois Reymondschen Arguments keineswegs überschätzt. Denn offensichtlich hält er es für angemessen, seine Zurückweisung a primis fundamentis um ein Argument »mittlerer Reichweite« zu ergänzen. »Und solange nicht jemand behauptet, daß er den Inbegriff von Leidenschaft, dichterischem Gestalten, denkendem Ersinnen, welchen wir als Goethes Leben bezeichnen, aus dem Bau seines Gehirns, den Eigenschaften seines Körpers abzuleiten und so besser erkennbar zu machen imstande ist, wird auch die selbstständige Stellung einer solchen Wissenschaft nicht bestritten werden.«189
Wie ist dieses Argument zu explizieren? Zunächst geht es aus von einem in einem anspruchsvollen Sinn bestimmten Explanandum (Goethes Leben), das nicht nur im Sinne eindeutiger Referenz aus der Menge aller denkbaren Untersuchungsgegenstände herausgegriffen wird, sondern zugleich in relevante Sinnzusammenhänge (Charakter und Persönlichkeitsstruktur, Stil der künstlerischen Produktion und Reflexion) eingeordnet wird. Man könnte daher sagen, es werden hier zwei negative Kriterien formuliert, die Reduktionsversuche erfüllen müssen, um als erfolgreich gelten zu können: die Themenkonstanz (1) und die Informativität (2). (1) Die gehaltvolle inhaltliche Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes schließt aus, dass im Zuge der Reduktion das Thema geändert wird.
Die zweite Voraussetzung folgt unmittelbar aus dem oben angeführten DiltheyZitat.
189 GS I, 9 (Hervorhebung hinzugefügt).
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(2) Die reduktiv vorgehende Erklärung muss letztlich informativer sein als alternative Erläuterungen. Sollte sie etwa lediglich Alt-Bekanntes in anderer Terminologie wiedergeben, ist das als ein Einwand gegen den Reduktionsversuch zu werten.
Im Falle der Geisteswissenschaften ist die Evaluation von Reduktionsansprüchen nach diesen beiden Kriterien zudem keine rein wissenschaftsinterne Angelegenheit, da sie in hochgradig komplexen Wechselwirkungsverhältnissen mit den anderen Kultursystemen stehen. In diesem Zusammenhang betont Dilthey nachdrücklich, dass in den Analysen der Geisteswissenschaften deskriptive und normative Aussagen nur künstlich getrennt werden können.190 Gerade diese normativen Gehalte geisteswissenschaftlicher Begriffe und Theorien sind es aber, die meist stillschweigend-implizit aber gelegentlich auch in öffentlichen Diskursen zur Rechtfertigung und Kritik gesellschaftlicher Institutionen herangezogen werden. Eine grundlegende Revision geisteswissenschaftlicher Grundbegriffe, zu der es etwa in Folge einer vollständigen Naturalisierung des menschlichen Geistes kommen würde, hätte daher unabsehbare Konsequenzen für mittelbar alle gesellschaftlichen Institutionen, da sowohl deren bisherige normative Rechtfertigungen als auch ihre Selbstverständnisse in einem neuen und relativ wertfreien Vokabular reformuliert werden müssten. Diese problematischen politischen Verwicklungen haben natürlich keinen Einfluss auf die theoretische Berechtigung solcher Reduktionsansprüche. Sie machen durch den Hinweis auf die mit ihnen verbundenen Kosten aber klar, dass solange sachliche oder methodologische Zweifel an ihnen bestehen, – eine hinreichende Sicherheit dürfte sich im Rahmen empirischer Forschung ausschließlich nach gewissen Fristen erfolgter Bewährung einstellen – die Ableitung weitreichender praktisch-politischer Konsequenzen aus ihnen nur sehr schwer zu rechtfertigen ist. Es sind vor allem zwei Annahmen, die nach Dilthey von Befürwortern einer Einordnung der Geistes- in die Naturwissenschaften gemacht werden: »[d]ie Annahme der ausschließlichen Bedingtheit psychischer Zustände durch physiologische« (heute: Epiphänomenalismus) und die »Behauptung, innere Wahrnehmung sei in sich unmöglich und unfruchtbar«.191 Beide hält er für problematisch: die erste sei »unbeweisbar«, die zweite »augenscheinlich falsch«.192 Aus Diltheys Diskussion der Aussichten einer möglichen Naturalisierung des menschlichen Geistes und in Folge dessen auch der Geisteswissenschaften wird deutlich, dass er die Hürden für eine solche recht hoch ansetzt, andererseits diese Frage jedoch nicht in apriorischer Manier ein für alle Mal zu entscheiden beansprucht, sondern sie letztlich zu einer empirischen erklärt. Über die zuletzt rekonstruierte Bedingung der Informativität 190 Vgl. GS I, 26f. 191 GS I, 106; V, 55. 192 GS I, 106.
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entscheidet zudem keine wissenschaftsphilosophische Reflexion oder Begriffsanalyse, sondern allein die Bewährung konkret geleisteter Forschungsarbeit. »Ob ein Messer scharf ist, erfährt man am besten, indem man schneidet.«193
1.3.4 Ignorabimus revisited In den vorangehenden Abschnitten haben wir Diltheys These von der Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften, die er zu Beginn der Einleitung formuliert, rekonstruiert als ein Aufweis der Grenzen eines reduktionistischen Physikalismus. Die These von der Unzugänglichkeit massiver Problembestände selbst für ein ideal vollendetes physikalistisches Forschungsprogramm plausibilisiert Dilthey unter Rückgriff auf die Ignorabimus-Vorträge von Du Bois-Reymond. Auf die zentrale Fragwürdigkeit von Ignorabimus-Verdikten hat Michael Pauen deutlich hingewiesen: »Die Argumente stützen sich nämlich auf die Vorstellbarkeit bzw. Unvorstellbarkeit von Erklärungen und fordern damit die Replik heraus, daß viele der heute geltenden Erklärungen aus der Sicht früherer Generationen sicherlich auch nicht vorstellbar waren.«194
Da die Grenzen des Vorstellbaren genauso wenig antizipierbar sind wie der wissenschaftliche Fortschritt selbst, lassen sich nach Pauen Grenzen des Wissbaren nur dann plausibel einziehen, wenn sie begrifflichen Charakter haben und damit tatsächlich unabhängig vom Stand des empirischen Wissens sind.195 Entsprechend überrascht die Beobachtung wenig, dass sich an der Frage nach der Berechtigung und dem Wert der Ignorabimus-Thesen die Geister von Anfang an scheiden. »Die Kritik schlug alle Töne vom freudig zustimmenden Lobe bis zum wegwerfendsten Tadel an, und das Wort ›Ignorabimus‹, in welchem meine Untersuchung gipfelte, ward förmlich zu einer Art von naturphilosophischem Schiboleth.«196
Die Möglichkeit, ein unabgeschlossenes Forschungsprogramm antizipierend zu Ende zu denken und seine Reichweite dadurch zu verdeutlichen, wie es der Laplacesche Dämon für die Newtonsche Teilchenphysik leistet, scheint von Pauens Einwand nicht entscheidend getroffen zu werden. Eine Übertragung auf die physikalischen Theorien des 20. und 21. Jahrhunderts ist allerdings nicht 193 194 195 196
GS V, 42; parallele Formulierungen in GS I, 85; XVIII, 1. Pauen 2007: 168. Vgl. Pauen 2007: 171. Du Bois-Reymond 1974b: 160. Für einen Überblick über die polarisierte Rezeption vgl. Bayertz 2000.
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trivial. Die spezifische Vorstellung von Allwissenheit, die den Laplacheschen Dämon auszeichnet und zugleich den Endzustand der Naturwissenschaften veranschaulichen soll, verliert in einem von Wahrscheinlichkeitsfunktionen beherrschten indeterministischen Quantenuniversum erheblich an Plausibilität. Doch auch wenn man die Unbrauchbarkeit des Laplaceschen Dämons für ein heutiges Ignorabimus einräumt, bleibt die Frage virulent, ob sich die Unterscheidung von »Schranken« und »Grenzen« der Erkenntnis verteidigen lasse.197 Noam Chomsky hat dies jüngst bejaht und seine analoge Unterscheidung von »problems« and »mysteries« gegen den Vorwurf antiszientifischer Mystifizierung (»mysterianism«) verteidigt. Nach Chomsky handelt es sich bei Problemen um Fragen, deren Beantwortung in die Reichweite unseres kognitiven Vermögens fällt, während das bei Rätseln nicht der Fall ist.198 »[…] we have a certain grasp of the problem, and can make progress by posing and sometimes answering questions that arise along the way, with at least some degree of confidence that we know what we are doing. On the other hand, when we turn to such matters as causation of behavior, it seems that no progress has been made, that we are as much in the dark as to how to proceed as in the past, and that some fundamental insights are lacking.«199
Probleme lassen sich in Teilprobleme aufteilen, im Rahmen der Forschung operationalisieren und schrittweise abarbeiten, wodurch im Rückblick der Eindruck von so etwas wie wissenschaftlichem Fortschritt entsteht. Rätsel sind hingegen (noch) nicht auf diese Weise in die Forschungsarbeit integrierbar, die wissenschaftliche Dynamik scheint ihnen gegenüber eher tangential zu verlaufen. Chomsky stellt klar, dass seine Unterscheidung subjektiven Charakter besitze, da sie recht hochstufige Urteile über die Geschichte und aktuelle Lage eines wissenschaftlichen Feldes sowie über dessen Entwicklungsperspektiven involviert.200 Weshalb sollte man aber nun mit Chomsky eine qualitative Klassifizierung von wissenschaftlichen Problemen (in eigentliche Probleme und Rätsel) 197 Vgl. GS I, 11. Spätestens seit Kant und ganz massiv von Hegel wird diese Unterscheidung mit wechselnden Bedeutungen immer wieder neu gezogen. Richard Rorty dokumentiert seine Ablehnung des Anti-Naturalismus genau umgekehrt durch eine Leugnung von epistemischen Grenzen in dieser Frage: »Every speech, thought, theory, poem, composition, and philosophy will turn out to be completely predictable in purely naturalistic terms. Some atoms-and-the-void account of micro-processes within individual human beings will permit the prediction of every sound or inscription which will ever be uttered. There are no ghosts.« (Rorty 2018: 387). Gleichwohl hält er es für plausibel, dass diese theoretisch absolut mögliche Reduktion in Anwendungsfällen schnell auf praktische Grenzen der Durchführbarkeit stoßen wird (vgl. Rorty 2018: 387f). 198 »[…] proposing a distinction between problems, which fall within our cognitive capacities, and mysteries, which do not.« (Chomsky 2018: 27, Hervorhebung im Original). 199 Chomsky 2007: 138. 200 Chomsky: 2007: 137f.
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vornehmen und diese nicht lediglich graduell nach ihrer Schwierigkeit (ihrem »Härtegrad«, hard problems) ordnen? Zum einen erlaube die qualitative Unterscheidung eine adäquatere Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte.201 Zum anderen komme den Rätseln als Mitteln zur Erkenntnis der Grenzen des Menschen ein besonderes Interesse zu. Denn kaum etwas ist so aufschlussreich für das Verständnis der kognitiven Fähigkeiten des Menschen als der Aufweis ihrer Grenzen.202 Vor dem Hintergrund eines Bildes vom Menschen, das diesen als Produkt der Evolutionsgeschichte und entsprechend als mit einer auf Überlebensfähigkeit unter begrenzten Ressourcen abgestimmten Ausstattung versorgt auffasst, so Chomsky weiter, liege die Beweislast klar im Feld derjenigen Parteien, die ihm den Luxus unbegrenzter kognitiver Fähigkeiten zuschreiben.203 201 Mit Blick auf die Diskussion um die actio per distans hält Chomsky fest: »The ›hard problems‹ of the day were not solved; rather they were abandoned, as, over time, science turned to its more modest post-Newtonian course.« (Chomsky 2018: 98). Als zentrales Beispiel führt Chomsky die Vereinheitlichung von Chemie und Physik an: »Chemical laws were not in fact reducible to physical laws as physics was then understood, though after physics underwent radical changes, with the quantum-theoretic revolution, it was unified with a virtually unchanged chemistry.« (Chomsky 2018: 36, Hervorhebung hinzugefügt; vgl. Ebd.: 109f). Eine ähnliche Entwicklung hält Chomsky auch mit Blick auf das harte Problem des Bewusstseins für plausibel: »It is common to assert that ›the mental is the neurophysiological at a higher level.‹ To entertain the idea makes sense, but for the present, only as a guide to inquiry, without much confidence about what ›the neurophysiological‹ will prove to be.« (Chomsky 2018: 96). Interessanterweise findet sich auch bei Emil du Bois-Reymond die Idee, dass ein Durchbruch auf der Ebene der Reduktionsbasis (d.i. der Teilchenphysik) die Grenzen der Naturerkenntnis verschieben könnte: »Schließlich entsteht die Frage, ob die beiden Grenzen unseres Naturerkennens nicht vielleicht die nämlichen seien, d. h. ob, wenn wir das Wesen von Materie und Kraft begriffen, wir nicht auch verständen, wie die ihnen zugrunde liegende Substanz unter bestimmten Bedingungen empfindet, begehrt und denkt.« (Du Bois-Reymond 1974a: 77). 202 Vgl. Chomsky 2018: 53f. Das setzt allerdings voraus, dass die Abgrenzung von Problemen und Rätseln doch relativ objektiv gezogen werden kann. Hier scheint Chomsky stärker zu argumentieren als noch 1975. 203 « […] the theory of evolution places humans firmly within the natural world, taking humans to be biological organisms, much like others, hence with capacities that have scope and limits, including the cognitive domain. Those who accept modern biology should therefore be mysterians.« (Chomsky 2018: 56, Hervorhebung hinzugefügt; vgl. Ebd.: 105). Entsprechend dieser Blickrichtung versieht Chomsky auch die ihm interessanteste Kategorie von Rätseln mit einem anthropologischen Index (»permanent mysteries-for-humans«, Chomsky 2018: 39). Diese anthropologische Wendung, die Chomsky der Ignorabimus-Thematik gibt, unterscheidet sich offenkundig von unserer bisher verfolgten Kommentierung der Grenzen der Naturerkenntnis Du Bois-Reymonds als primär einer Begrenzung der Leistungsfähigkeit eines spezifischen Forschungsprogramms. Für den gegeben Zusammenhang fällt das allerdings nicht ins Gewicht. Chomskys Rätsel und die begrenzte kognitive Ausstattung des Menschen implizieren nicht, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen sich zu irgendeinem Zeitpunkt erschöpfen würden und dann aufhörten: »The quest for better explanations may well indeed be infinite, but infinite is of course not the same as limitless. English is infinite but doesn’t include Greek.« (Chomsky 2018: 55).
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Die Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften
Von Diltheys Reflexionen bezüglich der Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften, deren Tendenzen in einigen Punkten in Richtung heutiger Debatten weiter ausgezogen wurden, bleibt festzuhalten: (1) die Grenzziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften hat keinen apriorischen oder ontologischen Charakter, stattdessen ist sie epistemologisch motiviert und prinzipiell reversibel; (2) die Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften beruht auf der Unvergleichbarkeit der Relationen zwischen geistigen Tatsachen und zwischen materiellen Objekten, d.i. auf der faktischen Unmöglichkeit einer epistemischen Reduktion von Bedeutungs- auf Kausalverhältnisse; (3) die Eigenart geisteswissenschaftlicher Gegenständlichkeit bestimmt die geeignete Methode ihrer Erfassung. Die geisteswissenschaftlichen Gegenstände werden nicht durch eine ontologische Demarkation von den übrigen abgegrenzt, sondern durch die Weise ihrer Zugänglichkeit auf dem Weg innerer Erfahrung. Geistige Tatsachen, d.i. bedeutete Gehalte, treten durchweg an materiellen Objekten auf und bilden den eigentlichen Gegenstand des geisteswissenschaftlichen Forschungsinteresses. Das hat zur Folge, dass in Bezug auf die geisteswissenschaftlichen Gegenstände selbst die Frage nach einer raum/zeitlichen Lokalisierung in der Regel nicht sinnvoll ist.
1.4
Windelbands Versuch einer methodologischen Abgrenzung
Gut zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften formulierte der Neukantianer Wilhelm Windelband in seiner Straßburger Rektoratsrede über »Geschichte und Naturwissenschaft« einen vielbeachteten Angriff auf den (tendenziell auch von Dilthey vertretenen Ansatz) einer Differenzierung der Natur- und Geisteswissenschaften anhand ihres jeweiligen Gegenstandes, in Windelbands Worten: anhand des »sachliche[n] Gegensatz[es]« von »Natur und Geist«.204 Wie schon Dilthey hält auch Windelband eine ontologische Begründung dieses Gegensatzes für überholt, aber auch Diltheys Vorschlag eines Transfers des Problems auf epistemologisches Terrain will ihm nicht einleuchten. »Denn, wenn Locke den kartesianischen Dualismus auf die subjektive Formel brachte, äußere und innere Wahrnehmung – sensation und reflection – als die beiden gesonderten Organe für die Erkenntnis einerseits der körperlichen Außenwelt, der Natur, andererseits der inneren Geisteswelt einander gegenüberzustellen, so hat wiederum die Erkenntniskritik der neuesten Zeit diese Auffassung mehr als je ins Schwanken gebracht
204 Windelband 1915c: 142.
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und die Berechtigung zur Annahme einer »inneren Wahrnehmung« als besonderer Erkenntnisart wenigstens stark in Zweifel gezogen.«205
Neben der offenbar jüngst erwiesenen Fragwürdigkeit, die innere Erfahrung als Erkenntnisquelle eigenen Rechts anzuerkennen, sind es nach Windelbands Dafürhalten vor allem die Schwierigkeiten, die sich bei der Klassifikation von Wissenschaften anhand des sachlichen Gegensatzes von Natur und Geist, beispielsweise im Fall der Psychologie, ergeben, die dieses Differenzierungskriterium problematisieren: »ihrem Gegenstand nach ist sie [sc. die Psychologie] nur als Geisteswissenschaft und in gewissem Sinne als die Grundlage aller übrigen zu charakterisieren; ihr ganzes Verfahren aber, ihr methodisches Gebahren ist vom Anfang bis zum Ende dasjenige der Naturwissenschaften«.206 Beide Probleme führen Windelband dazu, den Versuch einer Differenzierung der Natur- und Geisteswissenschaften nach ihrem Gegenstand bzw. nach einer ihm zugeordneten spezifischen Form der Zugänglichkeit aufzugeben. Alternativ schlägt er »eine rein methodologische, auf sichere logische Begriffe zu gründende Einteilung der Erfahrungswissenschaften vor«.207 »Das Einteilungsprinzip ist der formale Charakter ihrer Erkenntnisziele. Die einen suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Tatsachen: in der Sprache der formalen Logik ausgedrückt, ist das Ziel der einen das generelle, apodiktische Urteil, das der anderen der singulare, assertorische Satz.«208 »Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereigniswissenschaften […]. Das wissenschaftliche Denken ist […] in dem einen Falle nomothetisch, in dem anderen idiographisch.«209
In dasselbe Jahr, in dem Windelband am Beispiel der Psychologie seine Idee eines rein methodologischen Einteilungsprinzips entfaltete, fallen auch Diltheys Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, die er als systematische Fortführung seines in der Einleitung in die Geisteswissenschaften entwickelten Ansatzes konzipiert hatte und in der er (ganz wie Windelband sich ausdrückte) eine Psychologie »als Grundlage aller übrigen« Geisteswissenschaften entwickelt. In ihnen stellt er das Grundgerüst einer psychologischen Disziplin vor, die seinen methodologischen und inhaltlichen Anforderungen entsprechen würde, und arbeitet sich dabei polemisch an der allgemein verbreiteten, naturwissenschaftlich arbeitenden Psychologie ab, die er als »hypothetisch« und »erklärend« kennzeichnet.210 Der in den Ideen skizzierten allgemeinen Psychologie lässt 205 206 207 208 209 210
Ebd. (Hervorhebungen im Original). Windelband 1915c: 143. Windelband 1915c: 144. Ebd. Windelband 1915c: 145 (Hervorhebungen im Original). Vgl. GS V, 154ff.
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Die Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften
Dilthey zwei Jahre später in den Beiträgen zum Studium der Individualität eine nach denselben Prinzipien konzipierte Abhandlung über vergleichende Psychologie folgen. Zwischen den beiden psychologischen Abhandlungen kommt es jedoch zu zwei Publikationen, die Diltheys Plan einer Vervollständigung der Einleitung im Sinne einer Kritik der historischen Vernunft massiv ins Stocken bringen sollten: zum einen bereits erwähnte Rektoratsrede Windelbands und zum anderen eine von Hermann Ebbinghaus im Namen der empirischen Psychologie geführte überaus scharfe Zurückweisung von Diltheys Ideen.211 Auf beide Kritiken reagiert Dilthey in der zweiten Abhandlung, wobei er allerdings die mit Windelband befassten Passagen letztlich nicht in den Druck gab.212 Bedauerlicherweise präzisiert Windelband in seinem Vortrag über Geschichte und Naturwissenschaft seine Infragestellung der inneren Erfahrung als einer legitimen Erkenntnisquelle nicht weiter. Er bestreitet in diesem Zusammenhang, »daß die Tatsachen der sogenannten Geisteswissenschaften lediglich durch innere Wahrnehmung begründet wären«.213 Dass sich die Geisteswissenschaften ausschließlich auf die innere Erfahrung gründeten, bestreitet allerdings auch Dilthey und wiederholt diesen Punkt eigens in den Beiträgen zum Studium der Individualität. Es ist sogar von zentraler Bedeutung für Diltheys Verständnis der inneren Erfahrung, zu betonen, dass er größten Wert auf deren Einbettung in die Auseinandersetzung mit der Außenwelt legt. Wenn er ferner behauptet, dass geistige Tatsachen nur an Sinnesobjekten auftreten (s. o.), erklärt er die äußere Wahrnehmung sogar zur notwendigen Voraussetzung der inneren Erfahrung. Mit anderen Worten: die innere Erfahrung ist nach der Auffassung Diltheys stets auf äußeres Material angewiesen, »denn diese [sc. äußeren Wahrnehmungen] bilden ja die immer gegenwärtige Grundlage auch für die inneren, und auch wenn die Aufmerksamkeit einem inneren Zustand oder Vorgang sich zuwendet, verbleibt seine Relation zu Objektbildern im Bewußtsein«.214 Der folgende bekannte Ausspruch Diltheys muss daher auch als Absage an eine vermeintliche Selbstständigkeit der psychologischen Methode der Introspektion verstanden werden, wie sie Windelband unter Rückgriff auf Locke unterstellt (s. o.): »Was der Mensch sei, das erfährt er ja doch nicht durch Grübelei über sich, auch nicht durch psychologische Experimente, sondern durch die Geschichte.«215
Entsprechend ist als Normalfall in den Geisteswissenschaften, für das Fremd- wie auch für das Selbstverstehen, »das Zusammenwirken von äußerer Erfahrung, 211 212 213 214 215
Vgl. Ebbinghaus 1896; Ermarth 1978: 184ff. Vgl. GS V, 237–240, 242 (Anmerkung des Herausgebers), 420–426. Windelband 1915c: 142f. GS V, 244. GS V, 180, 197; vgl. ferner GS V, 247 (»Aber ich finde in keiner meiner Erfahrungen auf irgendeinem Sinnesgebiet ein gänzliches Verschwinden der Beziehung auf die Außenwelt.«).
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innerer Erfahrung, transzendentaler Methode und Transposition der inneren Erfahrung in Objekte auf der Grundlage der Gleichartigkeit des geistigen Lebens« anzusehen.216 Im Rahmen einer solchen Einbettung ist die Inanspruchnahme der inneren Erfahrung als einer eigenen aber wesentlich in andere integrierten »Erkenntnisart« für Dilthey zugleich unvermeidbar und unproblematisch. Ob Windelband und Dilthey überhaupt über einen geteilten Begriff der inneren Erfahrung verfügen, ist allerdings fragwürdig. So erläutert jener sein Verständnis von innerer und äußerer Wahrnehmung unter Rückgriff auf John Lockes klassische Unterscheidung der einfachen Vorstellungen entsprechend ihrer Provenienz in »ideas of sensation« und »ideas of reflection«.217 Wahrnehmung und Reflexion versteht Locke als zwei distinkte Quellen (»fountain«) unserer Vorstellungen. Zusammen mit der Vorstellung, dass alle Vorstellungen letztlich aus absolut einfachen Vorstellungen (»simple ideas«) aufgebaut seien, folgt daraus, dass jede dieser einfachen Vorstellungen entweder auf die Wahrnehmung oder auf die Reflexion zurückführbar ist. Bemerkenswert ist nun, dass Dilthey die Rolle der inneren Erfahrung, die in seinem Denken eine so zentrale Rolle spielt, gerade nicht – wie Windelband – primär anhand dieses locus classicus einführt.218 Wenn in der Einleitung oder in den beiden psychologischen Abhandlungen von der inneren Erfahrung die Rede ist, fällt Lockes Name an keiner Stelle. Selbst bei der Einführung des erkenntnistheoretischen Standpunktes erwähnt Dilthey ihn nicht namentlich, sondern referiert lediglich dessen Terminologie.219 Fast könnte man meinen, Dilthey beabsichtige ganz bewusst, die mit Lockes Erkenntnistheorie verbundenen »blutleeren« und für seine Zwecke irreführenden Assoziationen vom Thema der inneren Erfahrung möglichst fernzuhalten. Das wäre zumindest insofern ein plausibles Anliegen Diltheys als seine beschreibende und zergliedernde Psychologie gerade als Ersatz einer vor allem in der Philosophie dominanten Theorietradition psychologischen Denkens gemeint ist, die er für hochgradig problematisch und revisionsbedürftig hält. Wie bereits erwähnt bezeichnet Dilthey diese Standardform als »erklärende Psychologie«. »Das erste Merkmal der erklärenden Psychologie ist also, wie schon Wolf[f] und Waitz annahmen, ihr synthetischer oder konstruktiver Gang. Sie leitet alle in der inneren
216 GS V, 251. Die »transzendentale Methode« versteht Dilthey als »Ergänzung« der inneren Erfahrung, die die der äußeren Wahrnehmung logisch vorgängigen Leistungen der Gegenstandskonstitution zu Bewusstsein bringen soll (vgl. GS V, 246, 253). 217 Vgl. John Locke, An essay concerning human understanding bk. II, ch. 1, 3f. 218 Vgl. Riedel 1978b: 55. 219 Vgl. GS I, 8. Dass Dilthey sich zur Einführung der inneren Erfahrung »ausdrücklich auf Locke beruft«, trifft gerade nicht zu (Sommerfeld 1926: 38).
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Erfahrung und in deren Erweiterungen auffindbaren Tatsachen aus einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen ab.«220
Lockes Psychologie entspricht diesem Theorietypus auf denkbar klarste Weise. Ausgehend von atomaren Vorstellungsbestandteilen und Operationen, unternimmt er es, höherstufige Phänomene wie Wissen, Erinnerung oder Sprache zu erklären. Dilthey hingegen schwebt eine völlig andere Art von psychologischer Theorie als Grundlage der Geisteswissenschaften vor, die nicht ausgehend von hypothetischen Grundlagen (wie den »simple ideas«) einen Aufbau des Komplexeren aus dem Einfachen unternimmt, sondern ihren methodischen Ausgang von der Beschreibung des vollständig entfalteten menschlichen Seelenlebens nimmt.221 Das hat mithin zur Folge, dass beide Typen psychologischer Theorien sich zunächst an sehr verschiedenen Phänomenbeständen orientieren und abarbeiten. Für die erklärend-konstruktive Psychologie sind dies einfache Wahrnehmungsprozesse, für die beschreibend-zergliedernde Psychologie hingegen biographische Reflexionsprozesse bis »zu den höchsten [sc. psychischen Formen], bis zu dem religiösen Genius, bis zu dem Religionsstifter, dem geschichtlichen Helden und dem künstlerischen Schöpfer, als welche die Geschichte und die Gesellschaft vorwärts bewegen«.222 Während jene versucht, einzelne Aspekte des Seelenlebens durch eine Rückführung auf isolierte und konstruierte Vorgänge zu erklären, nähert sich diese dem Seelenleben auf dem Niveau, auf dem es auch geführt wird, weshalb für sie auch die Literatur eine so maßgebliche Bedeutung gewinnt.223 Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, weshalb Dilthey bestrebt ist, die innere Erfahrung nicht von Locke, sondern von Augustinus her zu entwickeln. In einer oft zitierten Passage der Vorrede zur Einleitung wirft Dilthey der traditionellen Erkenntnistheorie vor, dass »[i]n den Adern des erkennenden 220 GS V, 158. 221 GS V, 213: »[…] der Ausgangspunkt jedes Studiums der Entwicklung ist diese Erfassung des Zusammenhangs in dem schon entwickelten Menschen und die Analysis desselben. […] Indem die beschreibende Psychologie beide Betrachtungsweisen [sc. der Entwicklungsgeschichte und der Struktur des Seelenlebens] verbindet, strebt sie die Beschreibung und Analysis des reifen und fertigen Typus Mensch gleichsam durch eine allgemeine Biographie dieses Typus zu ergänzen.«. 222 GS V, 156f (hier: 157). 223 Aus diesem Grund bezieht sich Dilthey mit großer Emphase auf Novalis’ Programm einer »Realpsychologie« (vgl. GS V, 156), das ihm seit seinem Novalis-Aufsatz von 1865 (neben der ständigen Auseinandersetzung mit Goethe) zum Vorbild der eigenen psychologischen Theorien dient (vgl. GS XXVI, 197–200). Vgl. ferner GS V, 245f (»Solche innere Erfahrung schuf sich in dem unsterblichen Werk des Marc Aurel eine eigne Form, diese Form setzt sich dann durch Augustin hindurch in einer ganzen mittelalterlichen Literatur höchst bedeutsam fort, in Petrarca verweltlicht sich dieselbe, und sie wurde in Schleiermachers Monologen sehr glücklich angewandt, aber freilich hier wie bei Fichte überschreitet die Reflexion auf das Selbst die angegebenen Grenzen.«).
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Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, […] nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit [rinnt].«224 Unter anderen bei Augustinus findet Dilthey hingegen den »ganzen Menschen« und entwickelt an dessen Beispiel seine die ganze Einleitung durchziehende Idee, dass die Erkenntnistheorie »blutleer« bleibe, wenn sie nicht alle Dimensionen des Seelenlebens und den wesentlichen Bezug zur Praxis berücksichtigt, mithin also zur Selbstbesinnung erweitert wird.225 Diesen Verbindungen wird noch genauer nachzugehen sein. An dieser Stelle reicht aus, verdeutlicht zu haben, dass zwischen Windelband und Dilthey in Bezug auf den Charakter der Disziplin der Psychologie und auf zentrale Begriffe wie den der inneren Erfahrung, kaum geteilter Boden besteht. Gegen Windelbands Vorschlag, die Wissenschaften nach ihren Erkenntniszielen in nomothetische und idiographische einzuteilen, gibt Dilthey zu bedenken, dass in vielen Wissenschaften beide Ziele gleichermaßen eine Rolle spielen, und gleichwohl »[n]iemand […] eine Einteilung der Naturwissenschaften [verwirft], welche Astronomie und Biologie als Glieder enthält, obwohl die Astronomie neben ihren Theorien auch Mondkarten, also eine bloße Deskription eines Singularen einschließt und die Biologie mit der allgemeinen Lehre von den animalischen Funktionen auch die Beschreibung und Einteilung der Tierklassen verbindet.«226 Windelbands Vorschlag disqualifiziert sich für Dilthey aus dem einfachen Grund als völlig impraktikabel, dass einige Wissenschaften in der Regel sowohl nomothetisch als auch idiographisch verfahren. Diese Wissenschaften würden dann ihre disziplinäre Einheit einbüßen und ihre Teilbereiche nach dem recht äußerlichen Merkmal ihrer Methode umgruppiert werden. Doch eine solche institutionelle und praktische Umorganisation der Wissenschaften strebt Windelband ausdrücklich nicht an, ihn treibe allein ein »theoretisches Interesse«.227 Gerade ein solches lässt Dilthey in dieser Frage aber nicht gelten. Wissenschaftsklassifikationen erfüllen nach seiner Auffassung immer auch die Aufgabe, das unübersichtlicher werdende Feld der Einzeldisziplinen zu struk224 GS I, xviii. 225 Vgl. GS I, xviii, 260. H. P. Rickman hat die Blutleere der kantischen Erkenntnistheorie gegenüber Dilthey in Schutz genommen. Gerade in der Reinheit der Vernunft bestehe deren Autonomie gegenüber allen vernunftfremden Einflüssen, betont er mit besorgtem Blick auf ihre postmodernen Verächter (vgl. Rickman 1984: 169f). Cum grano salis lasse sich Diltheys Ruf nach Berücksichtigung des ganzen Menschen möglicherweise als »the move from pure consciousness to embodied person« (S. 159) auffassen, aber wenn daraus dann die postmoderne Verabschiedung der Logik zugunsten von Machtstrukturen folgen solle, sei der Bezug zu den ursprünglichen Intentionen Diltheys längst aus den Augen verloren. Dilthey gehe es mit seiner Kritik vielmehr um die Problematisierung fragwürdiger psychologischer Hintergrundtheorien und um den Anspruch, dem Leben auf dem Niveau, auf dem es auch geführt wird, philosophisch zu begegnen. 226 GS V, 255; ganz ähnlich von Mises 1990: 308–313. 227 Windelband 1915c: 140f.
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turieren und damit zur interdisziplinären Orientierung und auch zur sachangemessenen Wissenschaftsverwaltung beizutragen. Und allein in einer gegenstandsorientierten Klassifikation der Wissenschaften, so seine Auffassung, werden die wechselseitigen Neben- und Unterordnungen, die Voraussetzungsverhältnisse und Abhängigkeiten der einzelnen Wissenschaften und ihrer Teilbereiche erkennbar, deren Kenntnis zu einer orientierenden Übersicht und nicht zuletzt auch zur Didaktik einen ganz wesentlichen Beitrag leistet.228 Der Windelbandsche Vorschlag ist auch deswegen von besonderem Interesse, da sich ihm viele Beiträge der notorischen »Erklären/Verstehen-Debatte« des 20. Jahrhunderts insofern anschließen, als sie das vermeintliche Proprium der Geisteswissenschaften eben in der methodischen Eigenheit oder gar Autonomie »des Verstehens« suchen.229 Des weiteren präfiguriert Windelbands Rede von den nomothetischen und idiographischen Wissenschaften jeweils eigentümlichen »Erkenntniszielen« bereits Jürgen Habermas’ Versuch, über den Begriff des Erkenntnisinteresses das Verbindende verschiedener Wissenschaftsgruppen auszuzeichnen.230 Der Reaktion Diltheys auf Windelband lässt sich allerdings entnehmen, dass der Versuch, das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften lediglich als ein rein methodisches Problem behandeln zu wollen, wenig aussichtsreich sein dürfte. Ohne eine basale theoretische Erläuterung der Form der Gegenständlichkeit der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit kommt das Problem der Geisteswissenschaften nur arg verkürzt oder verzerrt in den Blick; nicht zuletzt darin wird die Aktualität der Position Diltheys in dieser Frage deutlich.231 Gerade aus dem Scheitern einer rein methodologischen Differenzierung werde sogar in besonderer Klarheit erkennbar, worin das eigentliche »Erkenntnisziel« mancher Geisteswissenschaften zu sehen ist: »eben in der Verbindung des Generellen und der Individuation besteht die eigenste Natur der systematischen Geisteswissenschaften; sie suchen die ursächlichen Relatio-
228 GS V, 50–53, 258. Vgl. Ulmer 1972: 254ff (»Die bekannte, aber unerkannte philosophische Idee der Universität«). 229 Vgl. Abel 1948. Einen geradezu kontradiktorischen methodischen Gegensatz von Erklären und Verstehen bei Dilthey anzunehmen, gibt es keine textliche Grundlage (ganz im Gegenteil: vgl. GS I, xvi). 230 Windelband 1915c: 144; vgl. Habermas 1973: v. a. 239–244, aber auch 92–115, 178–203. 231 Den gegenstandsbezogenen Einsatz einer Theorie der Geisteswissenschaften hebt Wolfgang Detel als »eine der größten Einsichten Schleiermachers und Diltheys« hervor, »die es zu bewahren gilt« (Detel 2011: 20). Den Vorrang des Gegenstandes vor der Methode hatte zuvor bereits Frithjof Rodi anlässlich von Hans Alberts Versuch, die Hermeneutik Diltheys unter rein methodologischem Aspekt in das »Programm einer ›naturalistischen‹ Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie einzubinden«, von Neuem betont (vgl. Rodi 1995: 194, 197). Betrachtet man Fortsetzungen des Albertschen Programmes, muss man wohl sagen, dass Rodis Appell nicht sonderlich erfolgreich war (vgl. Mantzavinos 2005: 18–21).
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nen, welche diese Individuation, die Abstufungen, Verwandtschaften und Typen des menschlich-geschichtlichen Lebens bedingen.«232
Dieser Gedanke findet sich bereits zu Beginn der Einleitung in der Unterscheidung der »drei Klassen von Aussagen« in den Geisteswissenschaften. »Die einen von ihnen sprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahrnehmung gegeben ist; sie enthalten den historischen Bestandteil der Erkenntnis. Die anderen entwickeln das gleichförmige Verhalten von Teilinhalten dieser Wirklichkeit, welche durch Abstraktion ausgesondert sind: sie bilden den theoretischen Bestandteil derselben. Die letzten drücken Werturteile aus und schreiben Regeln vor: in ihnen ist der praktische Bestandteil der Geisteswissenschaften befaßt.«233
In den Arbeiten und Theorien tatsächlich existierender Geisteswissenschaften (in wissenschaftstheoretischen Rekonstruktionen vielleicht eher nicht) finden sich diese drei Dimensionen in einem Zustand enger wechselseitiger Beziehung und Integration, so Diltheys Beobachtung. Windelbands beide Erkenntnisziele (»allgemeine Gesetze« / »besondere geschichtliche Tatsachen«) sind in ihrer idealtypischen Reinheit einer formallogischen Dichotomie für die Klassifikation konkreter Forschungsarbeiten daher kaum brauchbar. Zudem unterschlagen sie die evaluativ-normative Dimension, die Dilthey als den Geisteswissenschaften wesentlich festhält.
1.5
Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften und Einheit der Wissenschaft
Dass Dilthey bei näherer Betrachtung keine absolute, sondern eine relative oder besser: eine bedingte Selbstständigkeit der Geisteswissenschaft vertritt, macht ihn für Zugriffe, die an einem apriorischen Bollwerk gegen Naturalisierungstendenzen aller Art interessiert sind, zu einem ungeeigneten Gewährsmann.234 Wenn man bedenkt, dass das Problem des Bewusstseins nach wie vor als »hard problem« (Chalmers) geführt wird und das Problem der Verursachung menschlicher Handlungen sogar als »mystery« (Chomsky), ist festzustellen, dass sich die Grundlagen, auf denen Dilthey die bedingte Selbstständigkeit der Geisteswissenschaft argumentativ aufbaute, bis heute als recht solide und im Wesentlichen als stabil erwiesen haben. Deutet man außerdem mit Chomsky diese Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis positiv als Einsichten in die Endlichkeit 232 GS V, 258 (Hervorhebung im Original). 233 GS I, 26 (Hervorhebungen hinzugefügt). 234 Als ein Ziel seiner Einleitung gibt Dilthey die Begründung der »relativen Selbständigkeit der Geisteswissenschaften« an (GS I, 17). Der aufgrund seiner Kantischen Konnotationen anspruchsvollere Ausdruck »Autonomie« fällt in diesem Zusammenhang nicht.
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unseres Erkenntnisvermögens und als Explikation der spezifischen Beschränkungen (»constraints«) unter denen es allererst erfolgreich zu arbeiten vermag, verändert sich auch unmittelbar der Charakter des Ignorabimus. Denn zu beanspruchen, endliche Erkenntnissubjekte könnten über die Grenzen ihrer epistemischen Reichweite restlose und endgültige Klarheit erreichen, wäre kaum schlüssig. Auch ihre Grenzziehungen in dieser Sache erfolgen nicht apodiktisch und absolut, sondern wesentlich provisorisch und auf Sicht. Mit Blick auf die (v. a. aus dem Lager der Kritischen Rationalisten zu vernehmende) Sorge, Dilthey würde mit einer Autonomieerklärung der Geisteswissenschaften die Einheit der Wissenschaft gefährden, sollten diese Überlegungen bereits eine gewisse Entspannung herbeiführen.235 Ihr wäre weiter vor allem damit zu begegnen, dass sich auch von Diltheys Standpunkt aus ein die Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften überwölbendes Wissenschaftsverständnis explizieren lässt.236 Zudem können die höherstufigen, methodischen Verstehensleistungen des Geisteswissenschaftlers in abstrakter Übereinstimmung mit dem Vorgehen der Naturwissenschaften als ein methodisches Entwerfen und Überprüfen von Interpretationshypothesen beschrieben werden.237 So kann Dilthey auch ganz generisch formulieren: »Die wissenschaftliche Forschung schreitet nach ihrer Natur dadurch vorwärts, daß sie über die ihr erreichbaren Ursachen Hypothesen bildet. Diese sind die Möglichkeiten von Erklärungsgründen, vergleichbar denen des Handelns. Durch die Induktion werden diese Hypothesen via exclusionis oder via … der Sicherung entgegengeführt.«238
Wenn Dilthey in dieser Art Überlegungen zu einem generischen Wissenschaftsbegriff anstellt, geschieht dies häufig im Zusammenhang mit einem Bezug auf die »elementaren logisch-psychologischen Operationen«, zu denen er etwa 235 Vgl. Popper 2002: 120–132 (ch. 29). Auch bei Mantzavinos spielt die »unity of method« eine zentrale Rolle (vgl. Mantzavinos 2005: 13–15). 236 Dilthey selbst beginnt die Einleitung mit der Exposition eines solchen allgemeinen Begriffs von Wissenschaft (vgl. GS I, 4f; Krausser 1968: 187–218). Auch Nabeel Hamid macht auf die Relevanz der Einheit der Wissenschaft bei Dilthey aufmerksam und rekonstruiert sie als auf geteilter »ontologischer« Grundlage basierend: »Physics and chemistry stand upon the same ontological ground as philology and jurisprudence inasmuch as they all result from the purposive activity of living, psychological [sic!] beings« (Hamid 2016: 637). Damit ist allerdings lediglich die Einheit der jeweils wissenschaftstreibenden Instanz sichergestellt. Die gemeinsamen »biopsychological foundations« besagen in Hinblick auf die Gegenstände der Wissenschaften und auch hinsichtlich ihrer Methoden noch nichts (ebd.). Diese Lücke versucht Hamid mit Verweis auf die einheitliche Prägung sämtlicher Gehalte, insofern sie in der psychologischen Struktur des Menschen auftreten, zu schließen (vgl. Hamid 2016: 641). Die jeweils eigentümlichen Arten der Gegenständlichkeit finden keine Berücksichtigung. 237 Vgl. Krausser 1968: 27–36 (besonders S. 32). 238 GS VIII, 187 (Auslassung im Original); für eine wissenschaftstheoretische Beschreibung der induktiven und intersubjektiven gedanklichen Arbeit, die bereits in den Erwerb der durchschnittlichen vorwissenschaftlichen Lebenserfahrung eingeht vgl. GS VIII, 79.
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»Wiedererkennen, Assoziation und Reproduktion, Verschmelzung, Vergleichen, Gleichsetzen und Grade des Unterschieds bestimmen […], Trennen und Vereinigen« zählt.239 Diese finden unterschiedslos in geistes- und naturwissenschaftlichen Untersuchungen Anwendung, da sie schlechterdings die formale Seite des menschlichen Erkenntnisvermögens ausmachen. Doch nicht allein auf der Ebene der elementaren Operationen wird die Einheit der Wissenschaft nicht in Frage gestellt, auch in materialer Hinsicht mangelt es nicht an Berührungspunkten geistes- und naturwissenschaftlicher Forschung. Dilthey scheint beider Komplementarität, also die Anschlussfähigkeit von geistes- und naturwissenschaftlichen Befunden füreinander, sogar für den Normalfall zu halten. Schließlich konzipiert er die Menge der geistigen Tatsachen, d.i. den unmittelbaren Gegenstand der Geisteswissenschaften, nicht als in sich subsistierende Idealsphäre, sondern als an materielle Träger gebunden und damit als wesentlich eingebettet in die sinnlich-räumliche Welt der Objekte.240 »Tatsachen des Geistes sind die oberste Grenze der Tatsachen der Natur, die Tatsachen der Natur bilden die unteren Bedingungen des geistigen Lebens. Eben weil das Reich der Personen oder die menschliche Gesellschaft und Geschichte die höchste unter den Erscheinungen der irdischen Erfahrungswelt ist, bedarf seine Erkenntnis an unzähligen Punkten die des Systems von Voraussetzungen, welche für seine Entwicklung in dem Naturganzen gelegen sind.«241
Dabei sind es vor allem zwei Bereiche naturwissenschaftlichen Wissens, die für die Arbeit der Geisteswissenschaften unmittelbar relevant sind. Nämlich zum einen die Beschreibung des Menschen als eines lebendigen Organismus durch die Biologie, die u. a. die materiellen Überlebensbedingungen der menschlichen Spezies erläutert, und zum anderen die Kenntnis von grundlegenden technischen Errungenschaften und ihrer Geschichte, d.i. derjenigen Mittel, auf denen die menschliche Naturbeherrschung beruht und durch die dann auch alle höherstufigen kulturellen Leistungen ermöglicht werden.242 Die Vorstellung einer »reinen« Geisteswissenschaft, die von allen materiellen Bedingtheiten absehend reine Bedeutungsstrukturen untersuchte, ausdrücklich verwerfend, verfolgt Dilthey ein Bild vom menschlichen Geistes- und Kulturleben, das sich wesentlich unter den limitierenden und ermöglichenden Einflüssen natürlicher Bedin-
239 GS V, 184. 240 GS V, 248 (»Die Geisteswissenschaften studieren auf der Grundlage der Naturwissenschaften die an den Sinnesobjekten auftretenden geistigen Tatsachen und ihren Zusammenhang untereinander sowie den mit den physischen Tatsachen.«, s. o.). 241 GS I, 17. Die Rede von »oben« und »unten« hat in diesem Kontext neben der offenkundig axiologischen Dimension den Sinn von »voraussetzungsvoller« und »weniger voraussetzungsvoll« (vgl. den Abschnitt zu Comtes enzyklopädischem Gesetz 2.1.3). 242 GS I, 19f.
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gungen abspielt.243 Von einem problematischen Zerfall des globus intellectualis in zwei sich kontaktlos gegenüberliegende Hemisphären kann daher keine Rede sein: »Erkenntnisse der Naturwissenschaften vermischen sich mit denen der Geisteswissenschaften. Und zwar verwebt sich in diesem Zusammenhang, gemäß der zwiefachen Beziehung, in welcher der Naturlauf das geistige Leben bedingt, die Erkenntnis der bildenden Einwirkung der Natur [sc. Biologie] häufig mit der Feststellung des Einflusses, welchen dieselbe als Material des Handelns ausübt [sc. Technik].«244
Den Kritischen Rationalisten bräuchte daher gar nicht erst zugestanden werden, dass die Einheit der Wissenschaft bedroht sei und daher nach dem Korsett der hypothetisch-deduktiven Methode verlange. Auch wenn von Diltheys Standpunkt aus die Betonung der grundsätzlichen Fallibilität menschlicher Erkenntnisbemühungen, wie sie vonseiten des Kritischen Rationalismus besonders pointiert erfolgt, ausgesprochen anschlussfähig ist, verhält er sich gegenüber reinen Methodendiskussionen, die die Aussichten möglicher Forschung auszuloten meinen, ausgesprochen skeptisch. Solchen wissenschaftstheoretischen Trockenübungen zieht er sehr entschieden die evaluative Rekonstruktion tatsächlich geleisteter Forschungsarbeit vor. Rückgriffe auf Diltheys Position in wissenschaftstheoretischen Debatten, die diese deutliche Prioritätensetzung nicht beachten, drohen leicht ins Leere zu laufen. Es kann daher nicht schaden, zu wiederholen: »Ob ein Messer scharf ist, erfährt man am besten, indem man schneidet.«245
Durch die geleistete Rekonstruktion und Kontextualisierung hat Diltheys oft zitiertes, aber kaum kommentiertes Theorem von der Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften an Klarheit und Kontur gewonnen. Deutlich wurde, dass mit ihr eine bedingte, wenn auch robuste Selbstständigkeit behauptet ist, mithin die epistemische Nichtreduzierbarkeit von Geistes- auf Naturwissenschaften. Aufgrund dieser Selbstständigkeit ist die Einheit der Wissenschaft keineswegs bedroht, wenn sie auch nicht durch eine einheitliche Methode, sondern durch die wechselseitige Anschlussfähigkeit der Resultate sichergestellt ist.246 Die Fruchtbarkeit passgenauer, d.i. gegenstandsangemessener Methoden erhält damit den Vorzug vor der Einheitlichkeit des deduktiv-hypothetischen Wissenschaftsmodells, von der allererst zu zeigen wäre, weshalb sie einen übergeordneten Wert darstellen sollte. Die Trennung in Natur- und Geisteswissenschaften ist damit 243 244 245 246
GS I, 14. GS I, 18. GS V, 42; parallele Formulierungen in GS I, 85; XVIII, 1. Für eine genauere Explikation des Kriteriums der Anschlussfähigkeit bietet sich Richard von Mises Begriff der Verbindbarkeit an, mitsamt der systematischen Rolle, die er ihm zuschreibt (vgl. von Mises 1990: 135–148).
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eine strikte und dennoch unproblematische und orientiert sich an den unterschiedlichen Formen der jeweiligen Gegenständlichkeit. Absolut ist sie allerdings nicht, sondern gebunden an den historisch gegebenen Stand wissenschaftlicher Methodik und Systematik.247
247 Bereits Georg Misch betont die Zeitbedingtheit des Gegensatzes von Natur- und Geisteswissenschaften (vgl. Misch 1926: 545f) und auch H. P. Rickman kommt zu dem Schluss: »Dilthey’s distinction between the human studies and the sciences is not intended to be absolute.« (Rickman 1979: 72).
2.
Die Unmöglichkeit der Metaphysik »The Ape Man bored me however. He assumed, on the strength of his five digits, that he was my equal, and was for ever jabbering at me, jabbering the most arrant nonsense. One thing about him entertained me a little: he had a fantastic trick of coining new words. He had an idea, I believe, that to gabble about names that meant nothing was the proper use of speech. He called it ›big thinks‹, to distinguish it from ›little thinks‹ – the sane everyday interests of life.« H. G. Wells, The Island of Doctor Moreau
Sowohl entstehungsgeschichtlich als auch sachlogisch sind Diltheys spätere konstruktive Anstrengungen (wie seine Philosophie des Lebens und die Theorie der Weltanschauungen) nur in ihrem durchgängigen Bezug zum metaphysikkritischen Programm der Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 angemessen zu verstehen. Wenn man der Metaphysikkritik also Verbindlichkeit für alle Schaffensphasen zuerkennt und auch nur minimale Konsistenzforderungen an Dilthey heranträgt, ergeben sich aus ihr unmittelbar wertvolle und entscheidende negative Vorgaben für das Verständnis seiner Philosophie des Lebens und auch seiner Überlegungen zur Rolle des historischen Bewusstseins. In diesem Sinne werden wir Diltheys konstruktives Projekt von vornherein als Versuch, Metaphysik zu vermeiden, in den Blick nehmen und haben dafür allerdings vorgängig zu klären, was er denn genau unter »Metaphysik« versteht.248 Wie schon im Kantischen Vorbild sind auch in der Einleitung die konstruktiven und die destruktiven Momente auf das Engste ineinander verwoben.249 Jene sind, wie bereits der Untertitel des Werks verrät, auf den »Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte« gerichtet. Ein integraler Bestandteil dieses Unternehmens wiederum besteht in der gründlichen Destruktion der nicht weiterführenden bisherigen Grundlegungsversuche der Geisteswissenschaften. Da sich diese in Diltheys historischer Rekonstruktion durchgängig als metaphysische Theorien erweisen, ist die Perspektive einer radikalen 248 In der Sekundärliteratur werden diese beiden Interpretationsmaximen nicht durchgängig beachtet. So ist zu beobachten, wie entweder ein unspezifisches Vorverständnis von Metaphysik zugrunde gelegt und dann nachgewiesen wird, dass Dilthey doch metaphysisch verfährt (vgl. Gander 1988), oder dass eine Interpretation der Philosophie des Lebens ohne Berücksichtigung ihres antimetaphysischen Hintergrunds entwickelt wird und man dann zu dem Schluss kommt, dass Dilthey in späteren Jahren in einen romantizistischen Pantheismus des Lebens zurückfalle (vgl. Baumgartner 1997, dazu siehe ferner Abschnitt 3.1). 249 Vgl. Riedel 1978b: 44f (»Kritik und Grundlegung gehören in seinem [sc. Diltheys] Werk zusammen.« (S. 45)).
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Kritik metaphysischer Theoriebildung und darüber hinaus die verallgemeinerte systematische Überzeugung von der Unmöglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft als zentrales und wesentliches Element des Diltheyschen Philosophierens anzusehen.250 Dilthey versteht sich explizit und emphatisch als »Antimetaphysiker«.251 Der zugleich nachidealistische und nachmetaphysische Charakter und Anspruch seines Philosophierens entspringt Diltheys Versuch, seiner zeitdiagnostischen Auffassung gerecht zu werden, nach der die Zeit des metaphysischen Philosophierens, sei es im Stil der Wolffschen Schulmetaphysik, der Kantischen Transzendentalphilosophie oder in dem der Systemkonstruktionen der Deutschen Idealisten, deren Spekulationen schon aus Gründen intellektueller Redlichkeit »offen und unbedingt […] [zu verwerfen]« sind, definitiv vergangen ist.252 Die Todesjahre von Hegel (1831), Goethe (1832) und Schleiermacher (1834) umrahmen nicht nur Diltheys Geburtsjahr, sondern bedeuten für ihn, wie bereits erwähnt, eine tiefgreifende Zäsur der Geistesgeschichte. Um 1870 empfand er diese Diskontinuität als so schwerwiegend, dass er durch sie sogar die prinzipielle Verstehbarkeit der Goethezeit für die nachgeborenen Generationen in Frage gestellt sah. Diese versunkene geistige Blütezeit seinen Zeitgenossen und der Nachwelt verständlich zu erhalten oder allererst wieder verständlich zu machen, stellt daher ein nicht unwesentliches Motiv seiner panoptisch angelegten Schleiermacherbiographie dar.253 Für die Einzelwissenschaften und die Philosophie, so Diltheys Deutung der geistigen Situation, gelte es nun an der »Auflösung der metaphysischen Stellung des Menschen zur Wirklichkeit« zu arbeiten.254 Diese Auflösung hat unmittelbar zur Folge, dass die Form und die Funktion der Philosophie selbst einer grundsätzlichen Neubestimmung unterzogen werden müssen, galt Metaphysik in ihren verschiedenen Formen doch bisher als ihr Identitätskern und akademisches Hauptgeschäft. Für Dilthey ist sie ein Teil der Vergangenheit:
250 251 252 253
Zur Bedeutung von »Metaphysik« und »metaphysisch« siehe Abschnitte 2.2 und 2.3. B 72; vgl. das von Helmholtz entlehnte Motto zum ersten Buch der Einleitung (GS I, 1). GS V, 13. In der Einleitung zur Erstauflage heißt es: »Er [sc. Schleiermacher], seine Zeit, seine Genossen: das alles ist von dem heutigen Tage durch eine Umwandlung in den Gefühlen, Ideen und Bestrebungen geschieden, wie sie sich kaum jemals schneidender vollzogen hat. Ja diese Gegenwart hat zu der ganzen großen Epoche, welcher Schleiermacher angehörte, das reine Verhältnis verloren. Es gilt also den Zusammenhang ihrer Lebensergebnisse mit unsern heutigen Aufgaben herzustellen, dem Bleibenden in ihnen eine erneute Wirkung in der Gegenwart zu schaffen. Die Kontinuität unserer geistigen Entwicklung hängt davon ab, in welchem Maße uns das gelingt.« (GS XIII/1, xxxv (Fußnote)); zur Bedeutung der Kategorie der Kontinuität für das Verstehen vgl. GS VII, 152–160; siehe unten. 254 So lautet der Titel des vierten und letzten Abschnitts des zweiten Buchs der Einleitung (vgl. GS I, 351ff).
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»Wir blicken zurück auf ein unermeßliches Trümmerfeld religiöser Traditionen, metaphysischer Behauptungen, demonstrierter Systeme«.255
Diltheys Metaphysikkritik ist daher nicht lediglich eine Zurückweisung bestimmter philosophischer Positionen, sondern der Ausgangspunkt einer radikalen metaphilosophischen Selbstbesinnung, die danach fragt, wie Philosophie unter den kulturellen Bedingungen seiner Gegenwart und konfrontiert mit einem ausdifferenzierten Spektrum fest etablierter und selbstständig arbeitender Einzelwissenschaften als ein intellektuell redliches Unternehmen möglich ist.256 Einer ähnlichen Herausforderung hatte sich unter anderen Voraussetzungen und vor dem unmittelbaren Hintergrund der massiven kulturellen wie politischen Umwälzungen, die die Französische Revolution mit sich gebracht hatte, ein halbes Jahrhundert zuvor Auguste Comte gestellt und seine Einsichten in dem vielbeachteten sechsbändigen »Cours de philosophie positive« (1830–42) dokumentiert. Auch wenn Dilthey sich an einigen entscheidenden Punkten sehr scharf gegen Thesen der Positivisten257 wendet, teilt er doch im Wesentlichen ihre geistig-politische Zeitdiagnose und antimetaphysische Grundtendenz. Und so lässt sich Comtes Konzept der positiven Philosophie als womöglich wichtigste Schablone (in Anknüpfung und Absetzung) für Diltheys eigene frühe systematische und metaphilosophische Ansätze bezeichnen. Daher seien im Folgenden zunächst die substantiellen Anknüpfungspunkte gebündelt kenntlich gemacht, die Dilthey mit Comte verbinden.258 Aufgrund des tendenziell holistischen Charakters von Überzeugungssystemen können einzelne Thesen ihren Sinn 255 GS VIII, 76. 256 Vgl. GS VIII, 190–205 (»Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie«). Zur Metaphilosophie siehe Abschnitt 3.3 und den Anhang. 257 Der Terminus »Positivismus« ist sicher nicht minder klärungsbedürftig als der Ausdruck »Metaphysik«. Wiederum ist zu konstatieren, dass Klassifikationen oder Denunziationen Diltheys als eines Positivisten oder Anti-Positivisten, nicht immer explizieren, in welchem Sinne »Positivismus« dabei genau zu verstehen ist. Im Folgenden verwenden wir ihn zur Bezeichnung des Geistes (weniger des Buchstabens) der Philosophie Auguste Comtes (sekundär auch der von J. S. Mill); von den deutschsprachigen Positivisten wie Ernst Mach und Richard Avenarius wird hingegen zunächst abgesehen. Wir weichen damit ab vom im Umfeld des Wiener Kreises herrschenden Sprachgebrauch und auch von dem im sog. »Positivismusstreit« der deutschsprachigen Soziologie üblichen. (Begriffsüberschneidungen bestehen natürlich dennoch in beiden Fällen.) 258 Eine gewisse Affinität Diltheys zum Positivismus Comtes wird in der Sekundärliteratur zwar häufig festgestellt, nicht selten dann aber so unspezifisch belassen oder so weitgehend qualifiziert, dass deren Tragweite kaum mehr ersichtlich wird. Ein typisches Beispiel für eine solche »ja, aber«-Kommentierung: »Mag Dilthey dann auch rücksichtslos mit diesen falschen Voraussetzungen aufräumen, so war doch die Intention des Positivismus im wesentlichen auch die seine.« (S. 11); »Von diesem seinem [sc. Diltheys] speziellen Begriff der Erfahrung aus ist auch seine Nähe zum Positivismus zu verstehen, eine Nähe und Verwandtschaft, die viel mehr terminologischer Art ist als inhaltlicher Natur.« (S. 14); »Sein [sc. Diltheys] Insistieren auf Empirie ist nur dem Habitus nach positivistisch.« (Diwald 1963).
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Die Unmöglichkeit der Metaphysik
bedeutend verändern, wenn sie von einer theoretischen Umgebung in eine andere wechseln. Eine abschließende Gewichtung der Thesen Comtes im Rahmen von Diltheys Philosophie ist daher nur nach einer systematischen Rekonstruktion dieser selbst möglich. Somit stehen die im Folgenden herauszuhebenden Gemeinsamkeiten unter einem gewissen Vorbehalt. Auf die Beleuchtung des Verhältnisses Diltheys zum frühen Positivismus folgt dann eine Rekonstruktion seiner systematischen Metaphysikkritik.
2.1
Diltheys Verwandtschaft mit dem Positivismus und deren Grenzen
Mit seiner antimetaphysischen Haltung ist Dilthey keineswegs ein Außenseiter, sondern vielmehr Kind seiner Zeit. Der nach der Jahrhundertmitte immer lauter werdende Ruf einer gebotenen Rückkehr zu Kant meinte nicht zuletzt auch eine Rückkehr zu Kants »alleszermalmender« Metaphysikkritik (Moses Mendelssohn).259 In dieser Stimmung gründlicher Ernüchterung und spekulativer Abstinenz hätte der Kontakt mit den in dieser Hinsicht kongenialen Schriften Auguste Comtes, nach Diltheys Auffassung »ohne Frage der bedeutendste Philosoph Frankreichs in diesem Jahrhundert«, einen geradezu elektrisierenden Effekt auf ihn und seine Zeitgenossen ausüben müssen.260 Allein Comtes 259 Vgl. GS V, 5 (»[Kants] Ausgangspunkt in dem Problem der Allgemeingültigkeit des Wissens, der Notwendigkeit und Allgemeinheit der logischen und mathematischen Wahrheiten, seine Begründung der Naturwissenschaften auf sie, aber zugleich die Einschränkung des Wissens auf das Erfahrbare, in welcher der große deutsche Denker mit den westlichen Philosophen von D’Alembert bis Mill und Comte übereinstimmte – diese Sätze Kants bildeten die Grundlage meiner Entwicklung.« Hervorhebungen hinzugefügt); vgl. dazu FrischeisenKöhler 1912a: 1f; Windelband 1909: 82 (»Für jene Zeit galt Kant wesentlich als der Riese, der den Dogmatismus zermalmt und sich und die Philosophie auf den fruchtbaren Boden der Erfahrung gestellt habe.«). 260 Diese Einschätzung äußert Dilthey in einer Rezension aus dem Jahr 1884 (GS XVII, 469). Es war vor allem Karl Twesten, der Comtes Denken in Deutschland einführte. Zu ihm stand Dilthey über Moritz Lazarus und Julian Schmidt in Kontakt (vgl. Lessing 1984: 46f, 50f; Rothacker 1972: 198f). Viel prominenter als der eigentliche Urheber des Positivismus waren in Deutschland zunächst die Arbeiten John Stuart Mills (v. a. dessen bereits erwähnte »Logik«) und Henry Th. Buckles »History of Civilization in England« (vgl. GS V, 57; Lessing 1984: 48f). Die Übersetzung der Schriften Comtes ins Deutsche erfolgte sehr zaghaft. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der Einleitung in die Geisteswissenschaften lag lediglich die von Carl Göhring angeregte Übertragung der ersten beiden Vorlesungen des Cours de philosophie positive (sechs Bd., 1830–42) vor (»Auguste Comte’s Einleitung in die positive Philosophie«, deutsch von Georg Heinrich Schneider. Leipzig 1880). Zeitgleich mit der Einleitung erschien eine Übersetzung des ersten Bandes des von Jules-Émile Rigolage (Jules Rig) angefertigten Auszugs desselben Werks (»Die positive Philosophie«, deutsch von Julius Hermann von Kirchmann, zwei Bd., Leipzig 1883/84); vgl. Sommerfeld 1926: 6–10.
Diltheys Verwandtschaft mit dem Positivismus und deren Grenzen
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Schriften blieben in Deutschland relativ unbekannt, zumindest weitgehend unübersetzt. Umso präsenter waren hingegen die Werke der englischen Positivisten. Besondere Aufmerksamkeit zog etwa Henry Thomas Buckles unmittelbar ins Deutsche übertragene History of Civilization in England auf sich261, wohl nicht zuletzt aufgrund von Buckles Anspruch mit diesem Werk die Geschichte nunmehr auf das Niveau einer echten Wissenschaft gehoben zu haben. Ein Anspruch, der Johann Gustav Droysen auch umgehend zum Verfassen einer ausführlichen Rezension provozierte. Auch Dilthey widmete dem Werk zwei Rezensionen, die für ihn selbst vermutlich zum Anlass wurden, sich auch genauer mit Buckles theoretischem Hintergrund, d.i. mit Mill und Comte zu beschäftigen.262 Diltheys Rezeption der Schriften Comtes und Mills ist jedenfalls zur Zeit der Abhandlung Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875), der wichtigsten Vorarbeit zur Einleitung in die Geisteswissenschaften, weitgehend abgeschlossen; ihr Beginn fällt wohl in die frühen 1860er Jahre, lässt sich aber nicht eindeutig nachweisen.263 Im Rahmen der Einleitung stellen die Positivisten – im Zentrum stehen hier v. a. Auguste Comte, J. S. Mill, H. T. Buckle und Herbert Spencer – das polemische Hauptziel Diltheys dar. Vor allem Mills Logik kommt fast durchgängig die Rolle eines Negativbeispiels zu, so sehr, dass Hans-Ulrich Lessing Diltheys Werk geradezu »als eine Art ›Anti-Mill‹« bezeichnen kann.264 Andererseits aber verstellt Diltheys massive Kritik an den Positivisten auch leicht den Blick auf seine erstaunlich weitreichenden Übereinstimmungen mit ihnen, wie sich an den Darstellungen von Kommentatoren beobachten lässt, die sie häufig gar nicht erst erwähnen. Die hervorgehobene Rolle der Positivisten in der Einleitung ist aber auch auf den kontingenten Umstand zurückzuführen, dass ihre Thesen zu Geschichte und Gesellschaft zu dieser Zeit eben das hauptsächlich diskutierte Theorieangebot darstellten.265 Andere Reibungsflächen, wie etwa eine ausgearbeitete neukantianische Theorie der Kulturwissenschaften, folgten erst später.266
261 Erschienen: 1858 (Bd. I) und 1861 (Bd. II); ins Deutsche übersetzt: 1860 und 1861. 262 Vgl. Droysen 1863; GS XVI, 51–59 (»Englische Geschichte«, 1861), 100–106 (»Geschichte und Wissenschaft«, 1862); Lessing 2001: 45. 263 Diese Einschätzung folgt einer Bemerkung Groethuysens (Groethuysen 1913: 77). Hellmut Diwald lässt (wie bereits Hans Sommerfeld) Diltheys Bekanntschaft mit J. S. Mills Texten spätestens 1867 einsetzen, die Auseinandersetzung mit Comtes Schriften datiert er erst auf die Jahre 1870–75 (vgl. Diwald 1963: 15; Sommerfeld 1926: 6–10) Für eine frühere Lektüre Comtes spricht hingegen ein Brief an Hermann Usener aus dem Juli 1864 (J 185f). Als zentrales Vehikel der Verbreitung positivistischer Gedanken ist wohl der »Selbstmörderklub« anzusehen, ein Berliner Gelehrtenstammtisch der 1860er, dem auch Dilthey angehörte (vgl. Rothacker 1972: 137). 264 Lessing 2001: 42. 265 Bemerkenswert ist allerdings, dass Karl Marx und Friedrich Engels in der Einleitung keine Erwähnung finden, obwohl Dilthey immerhin den ersten Band des »Kapitals« rezensiert hat.
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Die Unmöglichkeit der Metaphysik
Auch wenn Dilthey sich in der Einleitung nachdrücklich, und zwar vor allem aus methodologischen Gründen, von Comtes Konzeption der Soziologie als der in einem gewissen Sinne abschließenden und höchsten Wissenschaft distanziert und zudem bei dem erklärten Antimetaphysiker Comte selbst deutliche Rückfälle in die Geschichtsphilosophie (und damit auch in die Metaphysik) diagnostiziert, kann nicht übersehen werden, dass er sich verschiedene grundlegende Gedanken Comtes ganz entschieden zu eigen und sogar zu tragenden Säulen seiner eigenen Arbeiten gemacht hat. Führt man sich nur vor Augen, in welchem Ausmaß Comtes Geist und mitunter auch sein Buchstabe etwa die Architektur der Einleitung in die Geisteswissenschaften prägt, erscheint es nicht unangemessen, ihn neben Kant als einen der hauptsächlichen Diltheyschen Hausgötter anzusetzen.267 Da diese Elemente, die man mit Eduard Spranger als das »Erbe Comtes« bezeichnen könnte, relativ zu den Abgrenzungen und polemischen Attacken häufig unterbelichtet bleiben, seien sie im Folgenden eigens hervorgehoben und zusammengestellt, um so Diltheys deutliche »positivistische Ader« klarer erkennbar werden zulassen.268
2.1.1 Das Dreistadiengesetz und das Problem der Geschichtsphilosophie Das bekannteste Lehrstück Comtes ist sicherlich das sog. Dreistadiengesetz, nach dem die fortschreitende Entwicklung auf jedem intellektuellen Feld sowohl des einzelnen Menschen wie der Gattung notwendigerweise in drei aufeinanderfolgenden Phasen verläuft. Diese Phasen bezeichnet Comte einmal als »drei Methoden zu philosophieren« oder auch als »drei allgemeine Vorstellungs- bzw. Begriffssysteme über die Gesamtheit der Erscheinungen«.269 Zu Beginn steht das »theologische« Stadium (Comte nennt es auch das »fiktive«), es folgt das »me-
266 Man denke etwa an Heinrich Rickerts »Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften« von 1896. 267 Dilthey selbst formuliert in der Rückschau: »Der Aufsatz über das Studium des Menschen und der Geschichte zeigt, wie ich mich in diesem philosophischen Streben dem Positivismus verwandt fühlte.« (GS V, 4) Vgl. Lehmann 1953b: 97 (»[D]ie Auseinandersetzung mit Comte beschäftigt doch auch die deutschen Denker: noch Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) ist von ihr erfüllt […]«). Zum Einfluss Comtes auf den Aufbau der Einleitung siehe unten. 268 Spranger 1911a. Diltheys Auseinandersetzung mit Comte findet sich v. a. im ersten Buch der Einleitung (vgl. GS I, 86–112) und in der umfangreichen Vorstudie von 1875 (vgl. GS V, 42, 49–56); vgl. Dierse 2013; Sommerfeld 1926; Simon 1963: 245–247; Lessing 2001: 180n8; Gadamer 1985; Suter 1960: 23–37, 137–144. 269 Comte 1975a: 21 (»trois méthodes de philosopher«, »systèmes généraux de conceptions sur l’ensemble des phénomènes«). Den hier und im folgenden gewählten Übertragungen der Comteschen Textstellen liegt die Übersetzung von G. H. Schneider zugrunde.
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taphysische« bzw. »abstrakte« und schließlich das »positive« bzw. »wirkliche«.270 Das theologische Stadium unterteilt Comte ferner in die Unterabschnitte des Fetischismus, des Polytheismus und des Monotheismus. Ihnen gemeinsam ist, dass sie »die Erscheinungen als Produkte der direkten und kontinuierlichen Wirksamkeit mehr oder weniger zahlreicher übernatürlicher Mächte« auffassen und »scheinbare Anomalien« auf deren »willkürliches Eingreifen« zurückführen.271 Auf dieser Stufe erfolgt die Welterklärung demnach anhand des Modells anthropomorph gedachter Willkür und Handlungskausalität, das auf übernatürliche Agenten übertragen wird.272 Das metaphysische Stadium wird von Comte als reines Übergangsstadium zwischen dem ersten und dritten Stadium bestimmt, dessen Bedeutung sich in der Auflösung theologischer Überzeugungsbestände und in der Vorbereitung positiver Wissenschaft erschöpft.273 Es zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass in ihm die als personale Agenten gedachten übernatürlichen Mächte durch »abstrakte Kräfte« ersetzt werden, die als den Dingen der Welt real einwohnend gedacht werden und auf deren Auswirkungen alle beobachtbaren Phänomene zurückgeführt werden können.274 Den Status der explanatorischen Instanzen dieses Stadiums, d.i. die den Dingen innewohnenden Kräfte und Wesenheiten, bezeichnet Comte als »personifizierte Abstraktionen«, was in der Sache wohl
270 Vgl. Comte 2009: 41–79 (§§2–16); Ders. 1975: 21f; Ders. 2001: 94f, 138–140. 271 Comte 1975a: »se représente les phénomènes comme produits par l’action directe et continue d’agents surnaturels, plus ou moins nombreux, dont l’intervention arbitraire explique toutes les anomalies apparentes de l’univers«. Die Untereinteilung erfolgt in Comte 2009: 42–49 (§§3–6). 272 Diese Struktur hat Ernst Topitsch in seiner Weltanschauungskritik ausführlich analysiert (vgl. Topitsch 1972: 29f: »[G]rundlegend für den Aufbau der Kosmologie der Hochkulturen und weiterhin für das Weltbild eines großen Teiles der traditionellen Philosophie sind aber jene Modelle, die nicht vom Leben oder vom Körper des Menschen entlehnt sind, sondern von seinem planmäßigen, wertgerichteten und normbestimmten Handeln in Werktätigkeit und Gemeinschaftsordnung. Einzelne Phänomene, ihre Zusammenhänge und schließlich das ganze Universum erscheinen als Vorgänge, Objekte und Produkte künstlerisch-handwerklicher Tätigkeit oder als soziale Strukturen und Sinnzusammenhänge wie Familie, Sippe und Staat, wie Brauch, Sitte und Recht, wie Lohn, Rache und Strafe. Die erste Gruppe von Analogien kann man als technomorph bezeichnen, wenn man den antiken Sinn als Kunstfertigkeit und nicht den modernen der Maschinentechnik zugrunde legt, die zweite als soziomorph. Da beide vom absichtsgeleiteten, zweckgerichteten Wollen und Handeln, also von der menschlichen Intentionalität stammen, kann man sie unter dem Namen der intentionalen Modellvorstellungen zusammenfassen und das mit ihrer Hilfe aufgebaute Weltbild als intentionale Weltauffassung ansprechen.« (Hervorhebungen hinzugefügt). 273 Vgl. Comte 2009: 56–64 (§§9–11): »La métaphysique n’est donc réellement, au fond, qu’une sorte de théologique graduellement énervée par des simplifications dissolvantes […]« (S. 61). 274 Vgl. Comte 1975a: 21 (»forces abstraites«).
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»Hypostasierungen« meint.275 Dieser Schritt ist gegenüber dem theologischen Stadium mit einer erheblichen Vereinfachung und Systematisierung der explanatorischen Instanzen verbunden, die zudem als weltimmanent und nicht mehr anthropomorph aufgefasst werden, und bereitet insofern die Entstehung des wissenschaftlichen Denkens vor. Das positive Stadium bedeutet schließlich den Eintritt in die finale Phase der Wissenschaftlichkeit. Diesen Schritt verbindet Comte mit einer prinzipiellen Resignation gegenüber den hypertrophen und nicht einlösbaren Erklärungsansprüchen, die mit den ersten beiden Stadien verbunden waren. Während die Vorstufen zur Wissenschaft auf den Erwerb »unbedingter Erkenntnisse« abzielten, d.i. auf Wesenseinsichten und den Aufweis erster und letzter Ursachen zu Erklärung der Phänomenbestände, besteht ein entscheidender Schritt im Übergang zur Wissenschaft in der Erkenntnis der »Unmöglichkeit absoluter Einsichten«.276 Mit ihr geht die Beschränkung auf die Entdeckung der »tatsächlich wirkenden Gesetze« einher, worunter Comte letztlich »invariante Verhältnisse der Sukzession und Ähnlichkeit [sc. der Phänomene]« versteht.277 Der Übergang zur Wissenschaft setzt damit den Trend fort, der bereits den Übergang vom theologischen zum metaphysischen Stadium bestimmte: Reduktion von Transzendenz, Abbau von Hinterwelten und Vermeidung von Hypostasierungen. Naturgesetze werden nicht länger als die Auswirkungen von Wesensnaturen verstanden, die, selbst prinzipiell unbeobachtbar, gewisse Phänomenabfolgen regelmäßig und notwendig herbeiführten, sondern werden mit den beobachtbaren Regelmäßigkeiten auf der Phänomenebene selbst identifiziert. Wissenschaft leiste eine »explication des faits«, wozu wiederum wesentlich die Zuordnung von Einzelbeobachtungen (»phénomènes particuliers«) zu allgemeinen Gesetzmäßigkeiten (»faits généraux«) zählt.278 Für dieses Unternehmen sind 275 Comte 1975a: 21; 2001: 94 (»abstractions personnifiées«). Die Theorienstruktur des metaphysischen Stadiums legt den Gedanken an Molières Le malade imaginaire (1673) nahe, das mit der Szene eines Examens schließt, in dem der Kandidat die einschläfernde Wirkung des Opiums durch dessen schlafförderndes Wesen »erklärt«. Ebenso wäre die aristotelische Erklärung von Fallbewegungen durch den Körpern natürlicherweise zukommende Orte, die sie von selbst anstreben, ein weiteres Beispiel. 276 Vgl. Comte 1975a: 21 (»connaissances absolues«, »recherches vers la nature intime des êtres, les causes premières et finales de tout les effets qui le frappent«, »reconnaissant l’impossibilité d’obtenir des notions absolues«). 277 Comte 1975a: 22 (»[…] leurs lois effectives, c’est-à-dire leurs relations invariables de succession et de similitude«). 278 Comte 1975a: 22, vgl. GS I, 10 (»all unser Erkennen ist auf die Feststellung der Gleichförmigkeiten in Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit eingeschränkt, gemäß denen sie nach unserer Erfahrung in Beziehung zueinander stehen«). Die mit dem Kausalbegriff verbundene Notwendigkeit der Verknüpfung von Ursache und Wirkung schlägt sich über eine stabile Regelmäßigkeit der Abfolge hinaus phänomenal nicht nieder, wie vor allem David Hume zu bedenken gibt.
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nach Comtes Auffassung ontologische Stipulationen und damit Rückgriffe auf eine Wirklichkeitsebene hinter den Phänomenen nicht erforderlich. »Suivant cette doctrine fondamentale, toutes nos spéculations quelconques sont inévitablement assujetties, soit chez l’individu, soit chez l’espèce, à passer successivement par trois états théoriques différents, que les dénominations habituelles de théologique, métaphysique et positif pourront ici qualifier suffisamment, pour ceux, du moins, qui en auront bien compris le vrai sens général. Quoique d’abord indispensable, à tous égards, le premier état doit désormais être toujours conçu comme purement provisoire et préparatoire ; le second, qui n’en constitue réellement qu’une modification dissolvante, ne comporte jamais qu’une simple destination transitoire, afin de conduire graduellement au troisième ; c’est en celui-ci, seul pleinement normal, que consiste, en tous genres, le régime définitif de la raison humaine.«279
An Comtes Formulierung des Dreistadiengesetzes zu Beginn seines Discours sur l’esprit positif lassen sich drei wesentliche Momente unterschieden: die Aufstellung des Dreischritts selbst samt Bezeichnung der einzelnen Phasen, die Parallelisierung von onto- und phylogenetischer Entwicklung und die Idee eines graduellen Fortschritts. Jeder dieser Aspekte findet sich bei Comte in unterschiedlichen Zusammenhängen wieder und für jeden beruft er sich auf andere Ideengeber.280 Nach diesem Schema ist die Metaphysik lediglich als Verfallserscheinung ursprünglich theologischer Überzeugungsbestände anzusehen und in diesem Sinne als ein Übergangsphänomen auf dem Weg von notwendigen Vorstufen zu tatsächlicher »positiver Wissenschaft« bzw. – insofern Comte das theologische Stadium wiederholt mit der Kindheit und das positive mit dem Erwachsenenalter vergleicht (Discours, §10) – als das Stadium intellektueller Pubertät. Aber nicht nur diese Veranschaulichung des Dreistadiengesetzes durch die Lebensalter (Kindheit, Jugend, Reife) legt es nahe, nach der genauen Art der hier behaupteten Gesetzmäßigkeit zu fragen. Soll es sich dabei etwa – wie beim menschlichen Alterungsprozess – um eine natürliche, von selbst ablaufende und in diesem Sinne notwendige Entwicklung handeln? Wie sind aber dann die of-
279 Comte 2009: 41f (§2, Hervorhebungen hinzugefügt). 280 Für den Dreischritt bilden Henri de Saint-Simon und Anne Robert Jacques Turgot die Vorlage, letzterer sogar für die Idee des Dreistadiengesetzes selbst. Als Vordenker in Sachen »Fortschritt« beruft sich Comte, ohne dabei an Kritik zu sparen, auf die Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain des Marquis de Condorcet (vgl. Comte 2001: 135–143). Auf die Parallelität der Entwicklung von Gattung und Einzelwesen habe Blaise Pascal im Préface au Traite du vide aufmerksam gemacht: »[…] toute la suite des hommes, pendant le cours de tous les siècles, doit être considérée comme un même homme qui subsiste toujours et qui apprend continuellement.« (Pascal 1985: 62). Comte bemerkt dazu: »cet admirable aphorisme, à jamais fondamental« (Comte 1975b: 83). In seiner Darstellung der Quellen Comtes weist Dilthey zudem auf Joseph de Maistre hin, von dem der Gedanke von der Notwendigkeit eines positiven Gegengewichts gegen die zersetzenden gesellschaftlichen Tendenzen stamme (vgl. GS I, 90 (Anm.); XXIII, 118–120).
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fensichtlichen Indizien für Stagnation und Regression auf der phylogenetischen Ebene zu erklären? Und worauf sollte sich überhaupt eine solche phylogenetische Beanspruchung einer Analogie zu Phasen des Einzellebens stützen können? Wohl nur auf eine massive Hypostasierung von Gruppenidentitäten und ähnliche geschichtsphilosophische Spekulationen, so jedenfalls lautet der naheliegende Verdacht, der sich allzu schnell mit einer gewissen Häme paart, den Apostel der Wissenschaftlichkeit beim Mythologisieren ertappt zu haben. Einem Kritiker Comtes, der etwas auf sich hält, sollte dieser Einwand allerdings zu billig sein; in diesem Sinne weist ihn jedenfalls Jürgen von Kempski als »vulgär-positivistische Kritik« zurück und schlägt unter Rückgriff auf die Terminologie Poppers differenzierend vor, das Dreistadiengesetz nicht als die Beschreibung eines »gesetzlichen Verlauf[s]« zu verstehen, sondern lediglich als einen »Trend«, der zudem aus der »Natur der Sache«, d.i. aus der Fortentwicklung theoretischer Modelle folge, nicht aus der Eigengesetzlichkeit historischer Prozesse als solcher.281 Viel hängt also davon ab, wie genau man die Modalität der Abfolge der drei Stadien genauer bestimmt (Handelt es sich um ein Gesetz notwendigen historischen Fortschritts oder um die Angabe eines kontingenten Trends?), und auch davon, welche Instanz man als Träger dieser Entwicklung identifiziert. Comtes Formulierung im §2 des Discours scheint auch die schwächere Lesart zuzulassen: »toutes nos spéculations quelconques sont inévitablement assujetties […] à passer successivement par trois états théoriques différents«. Nach dieser Formulierung braucht man die behauptete Gesetzesförmigkeit nicht unbedingt prospektiv im Sinne eines Fortschrittsautomatismus aufzufassen, sondern vielleicht besser retrospektiv als Explikation von sachlichen Voraussetzungsstrukturen im Rahmen einer historischen Entwicklung. Dann hieße die Behauptung: jede positive Wissenschaft musste, damit es zu ihr kommen konnte, vorher die anderen beiden Stadien durchlaufen, oder anders formuliert: die ersten beiden Stadien bilden notwendige Voraussetzungen des dritten. Regressionen wären dann mit dem Dreistadiengesetz vereinbar. Auch Comtes Analogisierung von Phylo- und Ontogenese lässt sich entsprechend verschieden explizieren: »aus jedem Kind wird (notwendig) ein Erwachsener« oder »jeder Erwachsener war (notwendigerweise) einmal Kind«. Der unmittelbare Kontext dieser und ähnlicher Stellen legt zwar die zweite, schwächere Lesart nahe (indem er das erste Stadium im §2 als »d’abord indispensable, à tous égards« bezeichnet), andere Stellen klingen hingegen deutlich stärker, etwa wenn 281 Von Kempski 1992b: 337, 357, 358; vgl. Popper 2002: 106–109. Gander bietet eine ähnliche »der Natur der Sache folgende« Lesart des Dreistadiengesetzes und zwar im Sinne eines methodologischen Trends bzw. einer Abfolge verschiedener Theoriemodelle (vgl. Gander 1988: 76–81).
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(wie im Titel der 51. Lektion des Cours de philosophie positive) vom »progrès naturel de l’humanité« die Rede ist.282 Dafür dass Comte nicht den Fortschritt selbst für notwendig hält, sondern lediglich die Reihenfolge der Entwicklungsstadien, spricht zudem, dass er die Vorstellung einer geradlinigen historischen Entwicklung ablehnt und stattdessen von einer wellenförmigen Fortschrittsbewegung der Geschichte spricht.283 Diltheys Haltung gegenüber dem Dreistadiengesetz ist ambivalent. Einerseits sieht er »in der unbestimmten und halbwahren Aufstellung der theologischen, metaphysischen und positiven Stufe aller Wissenschaften« eine »echte Generalisation in der alten Manier der ›Philosophie der Geschichte‹«, d.i. einen rein aus Begriffen konstruierten Geschichtsverlauf, und in diesem Sinne fällt es unter das Verdikt geschichtsmetaphysischer Spekulation. Andererseits aber entspricht der vom Dreistadiengesetz bezeichnete deskriptive Trend einer fortschreitenden Ablösung der Metaphysik durch positive Wissenschaft Diltheys Blick auf die Geistesgeschichte sehr präzise, wie er ihn vor allem im zweiten, historischen Buch der Einleitung entfaltet und wie er sich unmittelbar in dessen Gliederung niederschlägt.284 Verstanden als Einsicht in eine vermeintliche historische Gesetzmäßigkeit lehnt Dilthey das Dreistadiengesetz Comtes demnach klar ab, in dieser Hinsicht neigt er offenbar zu einer starken Lesart. Dilthey weist darauf hin, dass Fortschrittstheorien typischerweise zum Kernbestand von Geschichtsphilosophien zählen; somit treffen seine prinzipiellen methodischen Einwände und Vorbehalte gegen diese auch Comtes Dreistadiengesetz.285 Das hauptsächliche Problem ge282 Vgl. Comte 1975a: 59 (»progression nécessaire«). Zur schwächeren Lesart passt ebenfalls die einschlägige Formulierung in Comte 2001: 94 (»Par la nature même de l’esprit humain, chaque branche de connaissances est nécessairement assujettie dans sa marche à passer successivement par trois états théoriques différents«). Ein Seitenblick auf Herder ist für diesen Fragenkomplex sehr erhellend: zur extensiven und reflektierten Verwendung der phylo-/ontogenetischen Analogie vgl. HD V, 481–501; zur Form des Fortgangs: vgl. S. 511– 513 (»Der Ägypter konnte nicht ohne den Orientalier sein, der Grieche bauete auf jene, der Römer hob sich auf den Rücken der ganzen Welt – wahrhaftig Fortgang, fortgehende Entwicklung, wenn auch kein Einzelnes dabei gewönne!«, S. 513, Hervorhebung im Original). 283 Comte 2001: 120 (»la marche de la civilisation ne s’exécute pas […] suivant une ligne droit. Elle se compose d’une suite d’oscillations progressives […]«). 284 GS V, 50; vgl. GS I, 96. Spranger formuliert entsprechend: »Und so hat er [sc. Dilthey] von Comte geradezu das Gesetz der drei Stadien als feststehendes Resultat übernommen: er wollte die Geisteswissenschaften aus den Stadien der theologisch-mythischen und der intuitiv-metaphysischen Auffassung in das der positiv-einzelwissenschaftlichen Behandlung überführen.« (Spranger 1911b: 273). [GS I, 123ff] entspricht dem ersten Stadium (»das mythische Vorstellen«), [GS I, 150ff] entspricht dem metaphysischen Stadium und [GS I, 351ff] entspricht dem positiven Stadium. 285 Diltheys Kritik an Geschichtsphilosophien bzw. an »Philosophien der Geschichte« bezieht sich auf substantielle oder traditionelle Geschichtsphilosophien (im Unterschied zu analytischen (Arthur C. Danto) oder kritischen (Raymond Aron)). Danto erläutert jene folgen-
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schichtsphilosophischer Formeln sieht Dilthey in ihrer hoffnungslosen Unterkomplexität, die sie, konfrontiert mit der historischen Realität, zu nutzlosen Instrumenten macht. »Und wie zu weite Definitionen als Sätze wahr sind und nur als Definitionen falsch, so pflegt auch das, was in dem faltigen Gewand dieser Formeln sich birgt, nicht unrichtig zu sein, nur ein ärmlicher und unzureichender Ausdruck der machtvollen Wirklichkeit, deren Gehalt auszudrücken er beansprucht.«286
Dilthey bezieht sich an dieser Stelle ausdrücklich auf die prominenten geschichtsphilosophischen Formeln Herders (»Humanität«), Schleiermachers (das »Hindurchdringen der Vernunft durch die Natur«), Hegels (»Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«) und eben Comtes Dreistadiengesetz287 und vergleicht sie in ihrer jeweiligen selektiven Einseitigkeit mit verschiedenen Perspektiven auf ein und dieselbe Stadt. Dass theoretische Modelle gegenüber der Wirklichkeit prinzipiell ärmer, einfacher und unanschaulicher sind, ist allerdings noch kein schlagender Einwand gegen sie. Vielmehr ist gezielte Vereinfachung im Sinne methodischer Abstraktion ein wesentliches Moment aller Theoriebildung. Im Fall der Geschichtsphilosophien führe jedoch die Kombination von maximalem Theorieanspruch, d.i. nicht weniger als eine Explikation des Gehalts der Weltgeschichte, und minimaler Differenzierung der formelhaften Wesensfixierung letztlich zu ihrer eklatanten Unbrauchbarkeit: »Aus diesen Formeln, welche den Sinn der Geschichte auszusprechen beanspruchen, ist keine fruchtbare Wahrheit geflossen. Alles metaphysischer Nebel. Bei keinem ist er dichter als bei Comte, der den Katholizismus de Maistres in das Schattenbild einer hierarchischen Leitung der Gesellschaft durch die Wissenschaften wandelte.«288
dermaßen: »a philosophy of history seeks to give an account of the whole of history« (Danto 2007: 1, Hervorhebung im Original; vgl. ebd.: 1–16). Karl Löwith, auf den Danto für seine Explikation einer »substantive philosophy of history« zurückgreift (S. 7), legt seiner Untersuchung von Geschichtsphilosophien als kryptotheologischer Theorien folgende Begriffsbestimmung zugrunde: »der Ausdruck ›Philosophie der Geschichte‹ [bezeichnet] die systematische Ausdeutung der Weltgeschichte am Leitfaden eines Prinzips, durch welches historische Geschehnisse und Folgen in Zusammenhang gebracht und auf einen letzten Sinn bezogen werden.« (Löwith 2004: 11, Hervorhebung hinzugefügt); vgl. Aron 1969: 15–20 (»La philosophie traditionnelle de l’histoire trouve son achèvement dans le système de Hegel. La philosophie moderne de l’histoire commence par le refus du hegelianisme. […] L’analyse de la connaissance historique est à la philosophie de l’histoire ce que la critique kantienne est à la métaphysique dogmatique.« (S. 15). 286 GS I, 96. 287 Bemerkenswert wiederum, dass in dieser Auflistung die geschichtsphilosophische Formel von Marx und Engels nicht auftaucht (»Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.«, Marx/Engels 1945: 3). 288 GS I, 112.
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Besonders im Kontrast zur Struktur von Einzelwissenschaften treten die prinzipiellen Schwierigkeiten der Geschichtsphilosophie deutlich zutage. Die Konsolidierung einer Einzelwissenschaft geht nach Diltheys Auffassung wesentlich einher mit der Abgrenzung und Bestimmung ihres Gegenstandsbereiches. Um überhaupt Forschung betreiben zu können, müssen sich sowohl die Naturwissenschaften als auch die Geisteswissenschaften einem beschränkten Wirklichkeitsausschnitt widmen und den Rest methodisch ausblenden.289 Verständlicherweise ist es aus verschiedenen Gründen überaus interessant, über die limitierten und regionalen Auskünfte der Einzelwissenschaften hinaus zu erfahren, wie es mit der (geschichtlich-gesellschaftlichen) Wirklichkeit als ganzer und zumal in ihrer historischen Entwicklung bestellt sein mag. Auskünfte dieser Art geben zu können, d.i. einem Ausgriff auf Totalität zu entsprechen, beanspruchen Geschichtsphilosophien ebenso wie Universalgeschichten und (nach Diltheys Auffassung) eben auch die Soziologie Comtes.290 Zur Einlösung dieses Desiderats bestehe allerdings kein anderer Weg, als der langwierige Prozess der Integration einzelwissenschaftlicher Forschungsergebnisse. »[G]ibt es eine Erkenntnis dieses Ganzen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit? […] Die höchst zusammengesetzte Wirklichkeit der Geschichte kann nur vermittels der Wissenschaften erkannt werden, welche die Gleichförmigkeiten der einfacheren Tatsachen erforschen, in die wir diese Wirklichkeit zerlegen können. Und so beantworten wir die oben gestellte Frage zunächst dahin: Die Erkenntnis des Ganzen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit […] verwirklicht sich sukzessive in einem auf erkenntnistheoretischer Selbstbesinnung beruhenden Zusammenhang von Wahrheiten, in welchem auf die Theorie des Menschen die Einzeltheorien der gesellschaftlichen Wirklichkeit sich aufbauen, diese aber in einer wahren fortschreitenden Geschichtswissenschaft angewandt werden, um immer mehreres von der tatsächlichen, 289 Diese Wissenschaftstheorie der Einzelwissenschaften entwickelt Dilthey ausführlich im ersten Buch der Einleitung (vgl. GS I, 27f: »Die Zwecke der Geisteswissenschaften, das Singulare, Individuale der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen, die in seiner Gestaltung wirksamen Gleichförmigkeiten zu erkennen, Ziele und Regeln seiner Fortgestaltung festzustellen, können nur vermittels der Kunstgriffe des Denkens, vermittels der Analysis und der Abstraktion erreicht werden. Der abstrakte Ausdruck, in welchem von bestimmten Seiten des Tatbestandes abgesehen wird, andere aber entwickelt werden, ist nicht das ausschließliche letzte Ziel dieser Wissenschaften, aber ihr unentbehrliches Hilfsmittel […] Jede Einzelwissenschaft entsteht nur durch den Kunstgriff der Herauslösung eines Teilinhaltes aus der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit.«, Hervorhebung hinzugefügt). 290 Daher auch handelt Dilthey Geschichtsphilosophien und die Soziologie Comtes zusammen ab (vgl. GS I, 86–112). Man könnte sagen, Comte integriert die Geschichtsphilosophie in seine Soziologie als deren dynamischen Aspekt (vgl. Comte 1975b: 202ff (51e leçon: »Lois fondamentales de la dynamique sociale, ou théorie générale du progrès naturel de l’humanité«)). Universalgeschichten haben häufig eine substantielle Geschichtsphilosophie zur Grundlage, um mit ihrer Hilfe ein Relevanzkriterium zu etablieren und notwendige Interpolationen zu stützen.
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in der Wechselwirkung der Individuen verbundenen geschichtlichen Wirklichkeit zu erklären. […] Universalgeschichte, sofern sie nicht etwas Übermenschliches ist, würde den Abschluß dieses Ganzen der Geisteswissenschaften bilden.«291
Seriöse Aussagen über »das Ganze« anzustellen, ist demnach ausgesprochen voraussetzungsreich: sie erfordert massive und extensive einzelwissenschaftliche Forschung, eine Integration der Ergebnisse sowohl der systematisch als auch der historisch arbeitenden Disziplinen und vor allem eine intensive erkenntnistheoretische Reflexion, die letztlich erst das Verhältnis der Gegenstandsbereiche der beteiligten Einzelwissenschaften gegeneinander zu bestimmen vermag und damit die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit der jeweiligen Begrifflichkeiten und Resultate sicherstellt. Diesen wissenschaftstheoretischen Anforderungen an einen Ausgriff auf »das Ganze« werden nach Diltheys Auffassung weder die typischen Geschichtsphilosophien noch Comtes Soziologie auch nur ansatzweise gerecht. Fruchtbar und wissenschaftlich seriös wäre Geschichtsphilosophie erst nach einer Transformation in historisch-philosophische Einzeluntersuchungen.292 Der Abstand von solchen zeige sich bereits an der eigentümlichen Begrifflichkeit von Geschichtsphilosophien, die häufig bestimmt sei von notorisch unklaren, aber »anspruchsvollen Allgemeinbegriffen«: wie »Vernunft«, »Freiheit«, »Fortschritt«, »Humanität« (s. o.). Da die Einzelwissenschaften des Geistes bisher in keiner Weise einen Stand erreicht hätten, der eine solide Basis für ein solches synoptisches Großunternehmen bieten würde, sei aber auch nichts anderes zu erwarten.293 »Irgendeine wenn auch noch so schwankende und verworrene Allgemeinvorstellung der geschichtlichen Wirklichkeit entsteht in jedem, der sich mit ihr beschäftigt hat und nun den Zusammenhang dieser Wirklichkeit in einem geistigen Bilde vereinigt. Solche Abstraktionen gehen auf allen Gebieten der Arbeit der Analysis voran. […] [J]ede Formel, welche Hegel, Schleiermacher oder Comte aufgestellt haben, das Gesetz der Geschichte auszudrücken, gehört diesem natürlichen Denken an, das überall der Analysis vorausgeht und eben – Metaphysik ist.«294
Dilthey weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass wir Spinoza eine eingehende Schilderung des »natürlichen Ursprung[s]« dieser »anspruchsvollen Allgemeinbegriffe der Philosophie der Geschichte« und ihrer »verhängnisvollen Wirkung auf das wissenschaftliche Denken« verdanken, und beruft sich dazu auf dessen Diskussion der notiones universales.295 Diese entstünden, so Diltheys 291 GS I, 87, 94f. Zur Idee der Universalgeschichte vgl. GS XI, 147f. 292 GS I, 92 (»Spricht man von einer Philosophie der Geschichte, so kann sie nur historische Forschung in philosophischer Absicht und mit philosophischen Hilfsmitteln sein.«). 293 Diese Grundlagenarbeit zu leisten oder zumindest auf den Weg zu bringen ist ja eben ein wesentliches Ziel, das Dilthey mit seiner Einleitung verfolgt. 294 GS I, 95f. 295 GS I, 96.
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Reproduktion, wie auch die notiones trancendentales (Beispiele hierfür: »ens« oder »res«) durch eine eklatante Überforderung unserer endlichen Erkenntniskräfte.296 So sei es etwa für einen endlichen Verstand unmöglich, sich die Vielgestaltigkeit der einzelnen ihm begegnenden Menschen durch klare und distinkte Vorstellungen zu vergegenwärtigen, vielmehr verschwimmen ihm ab einem gewissen Punkt die zahllosen Einzeleindrücke zu einer verschwommen durchschnittlichen Vorstellung vom Menschen überhaupt. Das endliche Erkenntnissubjekt wisse sich angesichts der Fülle der Wirklichkeit kaum anders zu helfen als durch stringente Vereinfachung (systemtheoretisch formuliert: durch extreme Komplexitätsreduktion). Aufgrund ihrer Detailfülle und ihrer unbewältigbaren raum/zeitlichen Ausdehnung komme aber erst recht der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit für einen endlichen Beobachter ein prinzipieller Überforderungscharakter zu, so Diltheys Übertragung von Spinozas Gedanken, die deutliche Anklänge an Kants Analyse des Erhabenen aufweist.297 Die ungeprüften Allgemeinbegriffe, die regelmäßig an die geschichtliche Welt herangetragen werden, rechnet Dilthey insofern dem »natürlichen Denken« zu, als sie eben nicht kunstgemäß, d.i. vor allem: nicht methodisch, gewonnen wurden. Problematisch an der metaphysischen Geschichtsphilosophie ist also für Dilthey, dass sie keine Synopse einzelwissenschaftlicher Forschung versucht, sondern diese überspringt, und zudem den Prozess ihrer Begriffsbildung nicht hinreichend erkenntnistheoretisch reflektiert und methodisch absichert, sodass sich in ihm die Einseitigkeiten und Beliebigkeiten partikularer Urheberperspektiven unkontrolliert niederschlagen können. Dilthey versteht Geschichtsphilosophien demnach als illegitime Abkürzungsstrategien, als im Kern metaphysische Unternehmungen und daher folgt seine Kritik an ihnen auch seiner allgemeinen Metaphysikkritik. Seiner Beobachtung, dass sie der einzelwissenschaftlichen Arbeit (der »Arbeit der Analysis«) vorausgehen, lässt sich die implizite Wertung entnehmen, dass sie möglichst in Wissenschaft überführt werden sollten. Dieser Blick auf die Metaphysik als eines tunlichst in Wissenschaft zu überführenden Übergangstadiums liegt erkennbar
296 Vgl. zum Folgenden Baruch de Spinoza, Ethica, pars secunda, propositio xl, scholium (vgl. Spinoza 2015: 176–183). 297 »Von den Veranstaltungen ab, welche der Herrschaft des Menschen über die Natur dienen, bis zu den höchsten Gebilden der Religion und Kunst arbeitet so der Geist beständig an Scheidung, Gestaltung dieser Systeme [sc. der Kultur], an der Entwicklung der äußeren Organisation der Gesellschaft. Ein Bild, nicht weniger erhaben als jedes, das Naturforschen von Entstehung und Bau des Kosmos entwerfen kann: während die Individuen kommen und gehen, ist doch jedes von ihnen Träger und Mitbildner an diesem ungeheuren Bau der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit.« (GS I, 87); vgl. ferner GS I, 36; KdU B 80–96 (§§25f). Die bis zum Äußersten strapazierten Operationen der »Auffassung« und »Zusammenfassung« (KdU B 87) bilden hier die Brücke zu Spinoza.
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auf der Linie Comtes und bestimmt auch die spätere positivistische Perspektive ganz grundlegend: »Unserer Auffassung nach ist die metaphysische, unverbindbare Betrachtungsweise das der eigentlichen, disziplinierten Forschung voraufgehende, vorwissenschaftliche Stadium auf den einzelnen Sachgebieten. […] Sieht man von gewissen Ausschreitungen der Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts ab, so kann man Metaphysik auch charakterisieren als ›Wissenschaft am Anfang‹.«298
Dass eine »Wissenschaft des Ganzen« für endliche Erkenntnissubjekte überhaupt im Bereich des Möglichen liegen könnte, schließt Dilthey zwar nicht kategorisch aus, bewertet die Chancen aber durchweg zurückhaltend, wenn nicht sogar skeptisch. »Universalgeschichte, sofern sie nicht etwas Übermenschliches ist, würde den Abschluß dieses Ganzen der Geisteswissenschaften bilden.« (s. o.) Den Grund der potenziellen Übermenschlichkeit dieses Unternehmens sieht Dilthey bemerkenswerterweise in der immensen Komplexität der geschichtlichgesellschaftlichen Wirklichkeit und nicht etwa in der intrinsischen Schwierigkeit erforderlicher Einzeloperationen.299 Begreift man Geschichtsphilosophie als das begriffliche Destillat der Universalgeschichte bzw. als deren vorgängige begriffliche Formel, verfangen die Einwände gegen diese a fortiori auch gegenüber jener. Dilthey sieht keinen Weg sich einem solchen Ausgriff auf Totalität auf andere (und zugleich seriöse) Weise zu nähern als auf dem mühsamen und langwierigen der Induktion, d.i. der Integration von Einzeluntersuchungen; sein strikter »bottom up«-Ansatz verbietet jegliche Deduktion aus allgemeinen begrifflichen Wahrheiten oder vermeintlichen Wesenseinsichten.300 Die Überzeugung, dass ein gewisser Überblick über das Ganze der historischen Welt trotz der Gefahr, dessen überbordende Komplexität nur durch spekulative Interpolationen in den Griff bekommen zu können, gleichwohl ein Desiderat bleibt (und möglicherweise fruchtbare histo298 Von Mises 1990: 380 (Hervorhebungen im Original, zum Teil entfernt). 299 Immer wieder und geradezu emphatisch betont er diesen Punkt im ersten Buch der Einleitung: die »höchst zusammengesetzte Wirklichkeit der Geschichte« (GS I, 94, 98). Vor diesem Hintergrund lassen sich die substantiellen und traditionellen Geschichtsphilosophien in ihrer theoretischen Struktur treffend mit Luhmann charakterisieren als »eine Wiederholung des alten Versuchs, durch Reduktion der Forschungsfelder auf wenige einfache Grundbegriffe und Axiome das Problem der Komplexität zu verstellen, statt es zu stellen« (Luhmann 1967: 122). 300 Die methodologischen Schwierigkeiten von universalgeschichtlichen Synthesen und substantiellen Geschichtsphilosophien, ihrer heuristischen Unverzichtbarkeit und wissenschaftlichen Problematik, sollten auch das 20 Jahrhundert massiv beschäftigen. Angefacht wurde die Diskussion immer wieder und besonders heftig durch die Werke Oswald Spenglers, Arnold Toynbees und Francis Fukuyamas. Zentrales Organ für Fragestellungen dieser Art war ab 1950 die Zeitschrift »Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte« (vgl. Wagner 1965: 121–183).
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rische Einzelforschung erst mit ermöglicht), äußert Dilthey selbst. Ein entsprechendes Gespräch mit dem Historiker Kurt Breysig ist jedenfalls überliefert. »Sie müssen unterscheiden zwischen Problem und Erreichbarem. Die Weltgeschichte ist ein Problem. Den Zusammenhang des ganzen Weltgetriebes möchte ich auch erkennen!«301
Verstanden als Explikation einer historischen Gesetzmäßigkeit, weist Dilthey das Dreistadiengesetz Comtes, wie gesehen, als Fall geschichtsphilosophischer Spekulation zurück. Auch wenn dieser beansprucht, für seine Schlüsse auf extensive historische Untersuchungen verweisen zu können, hält Dilthey den Schritt der Verallgemeinerung, den Comte auf die Einzeluntersuchungen folgen lässt (d.i. den Übergang von einer Beschreibung eines wissenschafts- oder kulturhistorischen Musters zu einer allgemeinen Entwicklungsgesetzmäßigkeit), für nicht gedeckt. In diesem Punkt erweist sich Dilthey als zurückhaltender, nüchterner und skeptischer als Comte und verhält sich damit auf dem Feld der Geschichtsforschung positivistischer als der Begründer des Positivismus selbst.302 Da sich aus Gründen der orientierenden historischen Übersicht und Selbstverortung ein gewisser Ausgriff auf das Ganze geradezu unvermeidlich einstellt, wie es Dilthey mit dem Bezug auf Spinozas notiones universales verdeutlicht, ist es nur umso wichtiger, den unwissenschaftlichen, bestenfalls vorwissenschaftlichen Charakter dieser universalhistorischen Überblicke und geschichtsphilosophischen Destillate deutlich zu markieren und ihnen nicht mehr als einen heuristischen Einfluss auf die einzelwissenschaftliche Forschung zuzugestehen.303 301 Breysig 1962: 107. Hier stellt sich Dilthey offenbar auf die Position Rankes (»Man sieht, wie unendlich schwer es mit der Universalhistorie wird. Welche unendliche Masse! – Wie differierende Bestrebungen! Welche Schwierigkeit, nur das Einzelne zu fassen! […] Diese Aufgabe durchaus zu lösen, halte ich für unmöglich. Die Weltgeschichte weiß allein Gott.«, Kessel 1954: 301). Gut 20 Jahre vor der Einleitung, in seinem Aufsatz über Friedrich Christoph Schlosser, schätzte Dilthey die Möglichkeit einer Einlösung des Anspruchs einer Universalgeschichte offenbar noch deutlich optimistischer ein (vgl. GS XI, 164). 302 Anzunehmen ist, dass Diltheys skeptische Haltung gegenüber der Geschichtsphilosophie maßgeblich durch die Hegel-Kritik im Rahmen der Historischen Schule geprägt wurde (vgl. Rothacker 1972: 107–113, 130ff, 172f: »Zunächst ist es natürlich die Differenz der konstruktiven und anschauend-verstehenden Historie, die die Geister scheidet. Fast jeder große Historiker hat in diesem Punkte gegen Hegel Stellung genommen.« (S. 108)). 303 Aus erkenntnistheoretischer Perspektive scheint uns daher die Verschleifung der Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie, die Hayden White vornimmt, als nicht akzeptabel (vgl. White 2014: 267–280, zentral: 275ff). Nach seiner Auffassung hätten die (nur vermeintlich kritischen) Autoren des 19. Jahrhunderts nicht bemerkt, dass die von ihnen so stark betonte klare Grenze zwischen (spekulativer) Geschichtsphilosophie und (wissenschaftlicher) Geschichtsschreibung in Wahrheit nur verschiedene (aber prinzipiell gleich gut gerechtfertigte) Arten von Geschichtsschreibung bzw. Geschichtsphilosophie trennt. Auf der einen Seite impliziere die akademische Ge-
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Nimmt man das Dreistadiengesetz in der schwächeren Lesart als Explikation eines historischen Trends, der weniger eine historische Gesetzmäßigkeit offenbart als eine spezifische Perspektive auf die Geschichte eröffnet, kann man hingegen sagen, dass Dilthey diese Perspektive einer allgemein zunehmenden Verwissenschaftlichung teilt. So drängt es sich der Sache nach förmlich auf, den von ihm mit großer Sorgfalt untersuchten historischen Vorgang, in dem die Historische Schule das »natürliche System der Geisteswissenschaften« des 17. und 18. Jahrhunderts (»Naturrecht, natürliche Religion, abstrakte Staatslehre und abstrakte politische Ökonomie«) verdrängt, – für Dilthey immerhin so etwas wie seine geistesgeschichtliche »Urszene« – in Comtes Sinn als einen Prozess des intellektuellen Erwachsenwerdens, als immensen Zugewinn an Mündigkeit innerhalb und gegenüber der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu beschreiben.304 Die unfruchtbaren ahistorischen und abstrakten metaphysischen Theorien des Rechts, der Religion, der Staatslehre und der Ökonomie wurden, so Diltheys Auffassung, aufgrund ihres sachunangemessenen Charakters durch positive, historisch arbeitende und denkende, einzelwissenschaftliche Ansätze verdrängt. Dieser geistesgeschichtliche Befund bildet, wie gesehen, als »Faktum der Wissenschaft« die Grundlage von Diltheys ganzem Unternehmen einer Kritik der historischen Vernunft und geht entsprechend als zentrales Element auch in die Konzeption der Einleitung ein.
schichtswissenschaft selbst näher betrachtet eine spezifische (partikulare) Geschichtsphilosophie und auf der anderen verhinderte lediglich mangelnde institutionelle Anerkennung die Entfaltung einer Geschichtsschreibung auf Grundlage der von professionellen Historikern ausgeschlossenen Geschichtsphilosophien. Eine Äquivalenz in der Sache ist durch symmetrische Formulierung allein noch nicht gegeben. Wenn »Geschichtsphilosophie« das eine Mal die Menge der materialen und wissenschaftstheoretischen Vor- und Grundannahmen einer wissenschaftlichen Einzeldisziplin bezeichnet, das andere Mal hingegen spekulative Begriffskonstruktionen ohne nennenswerten Bezug zum historisch-kritischen Apparat historischer Quellenarbeit, ist allerdings nicht einmal die Voraussetzung einer solchen Äquivalenz gegeben (zu White siehe ferner Abschnitt 5.3). 304 GS I, xv–xvi, 354ff; vgl. dazu Mill 1969: 299: »M. Comte was right in affirming that the prevailing schools of moral and political speculation, when not theological, have been metaphysical. They affirmed that moral rules, and even political institutions, were not means to an end, the general good, but corollaries evolved from the conception of Natural Rights. […] This mode of thought reached its culmination in Rousseau, in whose hands it became as powerful an instrument for destroying the past, as it was impotent for directing the future. The complete victory which this philosophy gained, in speculation, over the old doctrines, was temporarily followed by an equally complete practical triumph, the French Revolution: when, having had, for the first time, a full opportunity of developing its tendencies, and showing what it could not do, it failed so conspicuously as to determine a partial reaction to the doctrines of feudalism and Catholicism.« Mill ist offenbar mit den Arbeiten der Historischen Schule nicht vertraut, die im Sinne Diltheys das positive Stadium der Geisteswissenschaften begründen. Diltheys Arbeiten zum »natürlichen System der Geisteswissenschaften« finden sich vor allem im zweiten Band der Gesammelten Schriften.
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»Der Beweis wird versucht, daß eine allgemein anerkannte Metaphysik durch eine Lage der Wissenschaften bedingt war, die wir hinter uns gelassen haben, und sonach die Zeit der metaphysischen Begründung der Geisteswissenschaften ganz vorüber ist.«305
Und auch die von Dilthey in seiner Baseler Antrittsvorlesung (1867) in Aussicht gestellte Begründung »[einer] Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen« zielt erkennbar auf eine in Comtes Sinn positive Disziplin, d.i. eine das Stadium der Metaphysik hinter sich lassende Wissenschaft.306 Andererseits ist für Dilthey die Überwindung der Metaphysik als Grundlage der Geisteswissenschaften, sosehr sie auch der allgemeinen historischen Tendenz entsprechen mag, nicht ein für alle Mal mit einer pauschalen Zurückweisung der metaphysischen Tradition geleistet. Der hartnäckige und subtile Einfluss metaphysischer Denkgewohnheiten, Begrifflichkeiten und Theoriebestände könne nur punktuell durchschaut und dann in geduldiger historisch-systematischer Detailarbeit abgeschüttelt werden. »Die Metaphysik, als das natürliche System, war, wie die folgende Darstellung [sc. Buch II der Einleitung] begründen wird, ein notwendiges Stadium in der geistigen Entwicklung der europäischen Völker. Daher kann der Standpunkt der Metaphysik von dem, welcher in die Wissenschaft eintritt, gar nicht durch bloße Argumente zur Seite geschoben, sondern er muß von ihm, wo nicht durchlebt, doch ganz durchgedacht und solchergestalt aufgelöst werden.«307
Bis in die Diktion ist hier Comtes Geist spürbar (»d’abord indispensable, à tous égards«, Discours, §2) und auch in der Sache mit ihm übereinstimmend wird die Notwendigkeit der Vorstufen auf dem Weg zum finalen Stadium der Wissenschaft betont. Ähnlich übereinstimmend ist auch beider Einschätzung hinsichtlich der Mühseligkeit und Langwierigkeit, mit denen der Übergang vom metaphysischen zum positiven Stadium verbunden ist. So resümiert Comte ausgesprochen nüchtern die Verhältnisse um 1830: »Il n’en est pas un seule [sc. des sciences], en effet, parvenue aujourd’hui à l’état positif, que chacun ne puisse aisément se représenter, dans le passé, essentiellement composée d’abstractions métaphysiques, et, en remontant encore davantage, tout à fait dominée par les conceptions théologiques. Nous aurons même malheureusement plus d’une occasion formelle de reconnaître dans les diverses parties de ce cours, que les sciences les 305 GS I, xix. 306 GS V, 13. 307 GS I, 126 (Hervorhebungen hinzugefügt). Die »Anstrengung des kritischen Geschäfts«, das Dilthey in der Einleitung verfolgt, betont besonders Manfred Riedel (vgl. Riedel 1978b: 45– 50, hier: 45). Diltheys Einschätzung des Aufwandes, der nötig sei, sich von der metaphysischen Tradition freizuarbeiten, erinnert deutlich an Nietzsches Sorge: »Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!« (KSA III, 467).
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plus perfectionnées conservent encore aujourd’hui quelques traces très sensibles de ces deux états primitifs.«308
Diltheys Rede vom »Durchleben« und »Durchdenken« der Metaphysik, das zeigt die Konzeption des zweiten Buchs der Einleitung sehr deutlich, erfolgt letztlich durch das Durchleben und Durchdenken der Geschichte der Metaphysik. Sein Ansatz, »historische Forschung in philosophischer Absicht« zu betreiben, erhält damit unmittelbar eine metaphysikkritische Dimension.309 Eine besonders ausgeprägte Affinität Diltheys zum Dreistadiengesetz besteht daher in Bezug auf den Übergang vom metaphysischen Stadium zum positiven, vom vorwissenschaftlichen Tasten und Spekulieren zu tatsächlicher, methodisch disziplinierter Forschung. Im Kontext des enorm wissenschaftsenthusiastischen 19. Jahrhunderts ist diese Übereinstimmung sicherlich nicht überzubewerten. Was den inhaltlichen Zuschnitt der drei Stadien anbelangt, kommt es im Zuge ihrer Aneignung durch Dilthey zudem zu markanten Verschiebungen. Als deskriptiv eklatant unzutreffend empfindet dieser Comtes Benennung des ersten Stadiums als »theologisch«.310 Hier vermisst er eine Differenzierung der Phänomenbereiche »Mythos«, »Religion« und »Theologie« und korrigiert das Dreistadiengesetz in seiner eigenen Implementierung des Schemas entsprechend dahingehend, dass er als erstes Stadium das »mythische Vorstellen« ansetzt.311 Denn während mythische Welterklärungssysteme (man denke für den europäischen Kulturraum etwa an die Schriften Hesiods und Homers) seit den ersten Formulierungen metaphysischer Theorien durch die ionischen Naturphilosophen – in Übereinstimmung mit dem Dreistadiengesetz – massiv an Bedeutung verloren und im Lauf der Jahrhunderte geradezu verschwanden, ließe sich eine solche Entwicklung für die Religion nicht nachweisen. Unter »Religion« versteht Dilthey dabei (ganz im Sinne Schleiermachers) eine mystiknahe, anthropologisch gesetzte Dimension des subjektiven Erlebens, deren Einfluss nicht in unmittelbarer Konkurrenz zu Metaphysik und Wissenschaft steht.312 Unter »Theologie« fasst er den Versuch, die im religiösen (Er-)Leben einer entsprechenden Gemeinschaft hervorgebrachten und regelmäßig reaktualisierten Gehalte zu systematisieren und theorieförmig zu durchdringen. Einen gesamtgesellschaftlichen Säkularisierungstrend der westlichen Gesellschaften, wie ihn das Dreistadiengesetz erwarten lassen könnte, sieht Dilthey nicht gegeben.313 308 309 310 311 312
Comte 1975a: 22 (Hervorhebungen hinzugefügt). Siehe dazu Abschnitt 2.2. Vgl. GS I, 135f, 140f. Vgl. den ersten Abschnitt des zweiten Buches der Einleitung (GS I, 123–149). Im Hintergrund steht Schleiermachers »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit«; vgl. Abschnitt 2.5 über das »Meta-Physische«. 313 Vgl. GS I, 141. Innerhalb einzelner wissenschaftlichen Disziplinen ist die Rede von einem solchen sicherlich weniger unplausibel. Comtes Ausführungen zur positiven Politik ist al-
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Auch Comtes Bestimmung des metaphysischen Stadiums als eines bloßen Übergangphänomens hält Dilthey für wenig überzeugend, da sie »der geschichtlichen Einsicht in die wahren Grundlagen der Macht derselben [entbehrt]«.314 Fasst man sie (wie Comte) lediglich als Auflösungs- und Übergangsphänomen, das sich an der überkommenen theologischen Substanz vollzieht, aber selbst kein positives Prinzip beinhaltet (außer insofern es die Stufe der Wissenschaft antizipiert), ist die erstaunliche Beharrungskraft metaphysischer Restbestände auch und gerade gegenüber der Wissenschaft kaum zu erklären. Die »Natürlichkeit« metaphysischen Denkens ist also weiter zu erläutern.315
2.1.2 Bedeutungsaspekte von »positiv« Wenn der Positivismus Comtes, wie verfolgt, einen erheblichen Einfluss auf Dilthey ausübte, ist es zunächst angezeigt das »Positive« der positiven Philosophie genauer zu bestimmen.316 Erst recht, wenn man bedenkt, dass etwa auch der späte Schelling für sich in Anspruch nahm, von der negativen zur positiven Philosophie übergegangen zu sein. Im Discours sur l’esprit positif erläutert Comte, weshalb für seine Philosophie die Qualifikation »positiv« angebracht sei, und verweist dazu auf fünf Bedeutungsaspekte dieses mehrdeutigen Ausdrucks und verdeutlicht sie jeweils durch verschiedene Gegenbegriffe.317 »Positiv« bedeute (und bevorzuge) demnach: a) das Tatsächliche im Unterschied zum Chimärischen / »le réel, par opposition au chimérique«; Anders als die Spekulation hält sich die Wissenschaft an das Gegebene, das Gesetzte (positum), das erfahrungsmäßig Aufweisbare. Hierzu gehört für
314 315 316 317
lerdings zu entnehmen, dass er durchaus vorrangig die gesamtgesellschaftliche Ebene im Blick hat. GS I, 134. Vgl. GS I, 96 (s. o.). Für unsere Zwecke ist dabei eine subtilere Differenzierung von »philosophie positive« und »positivisme« bei Auguste Comte nicht weiter relevant. Comte betont, dass es sich bei »positif« um einen Ausdruck der Umgangssprache handele, der von Philosophen aufgegriffen und verschiedentlich terminologisch fixiert worden sei. Dies habe zur Folge, dass mit ihm unterschiedliche Bedeutungen verbunden werden, was seinen Absichten aber nicht abträglich sei (Comte 2009: 120 (§30): »Comme tous le termes vulgaires ainsi élevés graduellement à la dignité philosophique, le mot positif offre, dans nos langues occidentales, plusieurs acceptions distinctes, même en écartant le sens grossier qui d’abord s’y attache chez les esprits mal cultivés.«). Nach Jürgen von Kempski übernimmt Comte den Ausdruck von Henri de Saint-Simon; zuerst verwendete ihn wohl Francis Bacon 1623 zur Bezeichnung der Erfahrungswissenschaften (vgl. von Kempski 1992b: 347, 350). Auf ihn bezieht sich Comte auch direkt und führt eine »maxime fondamentale« auf ihn zurück (vgl. Comte 1975a: 23).
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Comte eine dem Erwachsenenalter angemessene konsequente Resignation gegenüber Fragen, die sich für den menschlichen Intellekt als unzugänglich erwiesen haben (»l’exclusion permanente des impénétrables mystères dont s’occupait surtout son enfance«), wobei dem Überschwang metaphysischer Fragestellungen und Theorieansprüche nicht allein argumentativ, sondern besser auch therapeutisch begegnet werden sollte, nämlich durch »systematische Entwöhnung« (»désuétude systématique«). Metaphysische Theorien zu kritisieren oder auch zu widerlegen, kann insofern ein kontraproduktives Unternehmen sein, als dadurch die problematische Begrifflichkeit, in der bereits die Frage formuliert ist, auf die die Theorie zu antworten beansprucht, durch den Widerspruch am Leben erhalten wird.318 b) das Nützliche im Unterschied zum Müßigen / »le contrast de l’utile à l’oiseux«; Vernünftig geführte Wissenschaften sind auf eine ständige individuelle und soziale Verbesserung der Verhältnisse hingeordnet (»la destination nécessaire de toutes nos saines spéculations pour l’amélioration continue de notre vraie condition«). Reine Neugier (»une stérile curiosité«) rechtfertigt sie nicht.319 Das Nützliche fasst Comte allerdings keineswegs so eng, dass die Forschung immer schon auf eine konkrete Anwendung hin orientiert sein müsste. Ganz im Gegenteil erkennt er das Recht reiner Theorie, die sich in der Regel nur mittelbar und indirekt und womöglich erst nach großer zeitlicher Verzögerung als nützlich erweist, ausdrücklich an.320 c) die Gewissheit im Unterschied zur Unentschiedenheit / »l’opposition entre la certitude et l’indécision«; Statt »unbestimmter Zweifel« (»doutes indéfinis«) und nicht enden wollender Streitereien (»débats interminables«) »logische Harmonie« (»harmonie logique«) für den Einzelnen und »geistige Gemeinschaft« (»communion spirituelle«) für die Menschheit.321 d) das Präzise im Unterschied zum Vagen / »à opposer le précis au vague«; Der Grad der Präzision hat sich dabei an der Natur der Phänomene (»degré de précision compatible avec la nature des phénomènes«) und unseren wahren Bedürfnissen (»nos vrais besoins«) zu orientieren.322 318 Comte 2009: 121, 123 (§§ 31, 32). Die Übersetzung stammt in diesem Fall von Friedrich Sebrecht. Die Ansicht, dass die ganze Philosophie, nicht bloß die Metaphysik, eine Sache für müßige Knaben sei, äußerte bereits der Platonische Gorgias (484c–486d). 319 Comte 2009: 121 (§31). 320 Comte 1975a: 45–47 (»car les applications les plus importantes dérivent constamment de théories formées dans une simple intention scientifique, et qui souvent ont été cultivées pendant plusieurs siècles sans produire aucun résultat pratique.« (S. 46)). 321 Comte 2009: 121 (§31). 322 Comte 2009: 122 (§31). Der Gedanke bereichsspezifischer Präzisionsgrade erinnert deutlich an Aristoteles (vgl. Nikomachische Ethik, 1094b25).
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e) das Positive im Unterschied zum Negativen / »on emploie le mot positif comme le contraire de négatif«.323 Die positive Philosophie unterscheidet sich von der negativen und zersetzenden Wirkung des metaphysischen Denkens, das er maßgeblich für den Ausbruch der Französischen Revolution verantwortlich macht, durch ihren konstruktiven Charakter (»destinée […] non à détruire, mais à organiser«). Diesen konstruktiven Charakter seiner Philosophie betont Comte zunehmend. So gibt er im Discours sur l’ensemble du positivisme von 1848 einen ersten Entwurf einer positiven Politik, die die notwendige Ergänzung zur positiven Philosophie darstellen soll.324 Auf dem Titelblatt heißt es programmatisch: »réorganiser, sans dieu ni roi«. Seit der Revolution herrscht nach Comtes Empfinden in Frankreich ein empfindlicher Mangel an kultureller und politischer Ordnung und Stabilität, was er auch dadurch dokumentiert, dass er auf dem Titelblatt seiner Synthèse subjective von 1856 unter die Jahreszahl den Zusatz »im 68. Jahr der großen Krise« anbringt.325 Er führt also, parallel zur triumphalistischen der Revolutionsanhänger, eine neue Zeitrechnung, allerdings unter umgekehrtem Vorzeichen, denn er zählt die Krisenjahre. Welcher Befund ergibt sich also, blickt man unter diesen fünf Aspekten auf Diltheys Werk? Besonderes Gewicht kommt gleich dem ersten Bedeutungsaspekt zu. Nach Diltheys Auffassung charakterisiert er nicht nur einen philosophischen Standpunkt unter anderen, sondern ist geradezu symptomatisch für die »Kultur der Gegenwart« bzw. für dasjenige, was dann etwas später »die geistige Situation der Zeit« (Karl Jaspers) genannt wurde. »Der allgemeinste Grundzug unseres Zeitalters ist sein Wirklichkeitssinn und die Diesseitigkeit seiner Interessen«, formuliert Dilthey in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts und in der Einleitung ist mit Blick auf die Wissenschaften seiner Tage sogar von einem »unersättliche[n] Verlangen nach Realität« die Rede.326 In seinem Werk schlägt sich 323 Comte 2009: 122 (§32), Hervorhebung im Original; vgl. Gander 1988: 52–61. 324 Comte 2008: 18 (»Le positivisme se compose essentiellement d’une philosophie et d’une politique, qui sont nécessairement inséparables, comme constituant l’une la base et l’autre le but d’une même système universel, où l’intelligence et la sociabilité se trouvent intimement combinées.«). 325 Als ursächlich für den allgemeinen Krisenzustand sieht Comte letztlich einen Zustand intellektueller Anarchie an (vgl. Comte 1975a: 38, »Ils [sc. les lecteurs de cet ouvrage] savent surtout que la grande crise politique et morale des sociétés actuelles tient, en dernière analyse, à l’anarchie intellectuelle.«). 326 GS I, 123, 91 (»Denn wir wollen Wirklichkeit gewahr werden…«); GS VIII, 190; wenige Jahre früher heißt es im Rahmen der Ästhetik: »Dies Wirklichkeitsehen, Sehenwollen wenigstens, dies Streben, ihr all unser Denken, Bilden und Handeln mit reinem Sinne unterzuordnen und ihrem Gesetze die Wünsche und Ideale des Herzens anheimzugeben: das ist in unserem Zeitalter das Größte.« (GS VI, 245); vgl. Antoni 195?: 10f.
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dieser Wirklichkeitssinn und -hunger in ganz verschiedenen Formen nieder: vor allem in der methodischen Bevorzugung historischer Tatsächlichkeit vor begrifflicher Konstruktion, aber auch in seiner Ablehnung »entitätenfingierender« Hypothesen in der Psychologie oder seiner Entdeckung der Bedeutung des Archivcharakters von Bibliotheken für die Geistesgeschichte findet er deutlichen Ausdruck.327 Den emphatischen Wirklichkeitskontakt erhebt Dilthey sogar zum maßgeblichen Gütekriterium von Philosophie überhaupt. »Der Grundgedanke meiner Philosophie ist, daß bisher noch niemals die ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung dem Philosophieren zugrunde gelegt worden ist, mithin noch niemals die ganze und volle Wirklichkeit.«328
In der Charakterisierung, »Philosophie, so verstanden, ist die Wissenschaft des Wirklichen«, kommt der Anspruch zum Ausdruck, Philosophie im Kontakt mit der ganzen und vollen Wirklichkeit zu betreiben.329 Diese Bezeichnung gibt zugleich einen Hinweis darauf, wie Dilthey ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften begreift. Während sich diese eben einem einzelnen, durch Abstraktion gewonnenen Teilbereich der Wirklichkeit widmen, habe allein die Philosophie es ihrem Anspruch nach mit »der Wirklichkeit« selbst zu tun und reflektiere dabei zugleich das Verhältnis der Teilwirklichkeiten der Einzelwissenschaften zueinander. Die Comtesche Maxime, die den Wirklichkeitskontakt des Denkens einfordert, ist damit bei Dilthey zu einer expliziten metaphilosophischen Position erhoben.330 Auch nach einer Entsprechung zum zweiten Aspekt braucht man nicht lange zu suchen. Die Hervorhebung des Nützlichen der Wissenschaften und der Philosophie ist auch bei Dilthey sehr ausgeprägt. So orientiert sich etwa seine soziologische Analyse maßgeblich an der gesellschaftlichen Funktion der einzelnen Institutionen und Kultursysteme und deren vielgestaltigen Verschränkungen.331 327 Der Ausdruck »entitätenfingierend« stammt von Franz Brentano. Bereits in einem frühen Brief an seinen Bruder Karl schreibt Dilthey: »Das Nachdenken ist nur fruchtbar, wenn es auf specieller Durchforschung irgend eines Kreises der Wirklichkeit ruht, sei es des Alterthums oder der Geschichte oder der Natur oder auch der Religion.« (J 36) Als »chimärische« und freischwebende Begriffskonstruktionen gelten ihm die metaphysischen Systeme, die er gelegentlich als »Zauberschlösser der wissenschaftlichen Einbildungskraft« (GS I, 359) oder auch als »Spinneweben dogmatischen Denkens« (GS VII, 291) bezeichnet. Zum Gedanken des Archivs vgl. GS IV 555–575; V, 39–41; XV, 1–16. 328 GS VIII, 171. Entsprechend stellt der Haupteinwand Diltheys gegen die Positivisten einen sowohl sachlichen als auch rhetorischen Superlativ dar: »Die Antworten Comtes und der Positivisten, St. Mills und der Empiristen auf diese Fragen schienen mir die geschichtliche Wirklichkeit zu verstümmeln, um sie den Begriffen und Methoden der Naturwissenschaften anzupassen.« (GS I, xvii). 329 GS VIII, 172. 330 Siehe Abschnitt 3.3. 331 Vgl. GS I, 49ff.
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Zudem macht es einen wesentlichen Bestandteil seiner Theorie der Geisteswissenschaften aus, dass diese in ihrem Bestand und ihrer genaueren Ausgestaltung wesentlich auf gesamtgesellschaftliche Bedürfnisse reagieren und unmittelbar oder mittelbar zur Lösung von praktisch-politischen Problemen beitragen.332 Eine weitere substantielle Übereinstimmung ist in dem Motiv der Resignation zu sehen. Für Comte ist der Schritt vom metaphysischen zum positiven Stadium mit einem prinzipiellen Verzicht auf Fragestellungen und Erklärungsansprüche verbunden, die sich wissenschaftlich nicht operationalisieren lassen, sondern dem Zugriff endlicher Erkenntnissubjekte prinzipiell entzogen sind. In der häufig bemühten ontogenetischen Analogie entspricht ihm der Übergang von der Adoleszenz zum Erwachsenenalter, der sich ebenso als ein Fortschritt in Richtung Realismus, Nüchternheit, Reife, Abgeklärtheit, Entsagung beschreiben lässt. Auch Dilthey äußert sich wiederholt in diesem Sinne. »Daß man sich nichts wolle vormachen lassen, das war die ungeheure Kraft, die in diesem Positivismus lag.«333
Bernd Peschken hat in diesem Zusammenhang auf ein Notat aus Diltheys frühen Tagebüchern hingewiesen: »Es ist notwendig, daß man ein für allemal resigniere, im Großen und Ganzen, damit man die Resignationen im Einzelnen los werde.«334
Dass es sich dabei nicht lediglich um ein Motiv auf der Ebene biographischer Maximen handelt, wird deutlich, wenn wir an den Versuch erinnern, Dilthey in der Frage nach der Selbstständigkeit der Geisteswissenschaften eine eindeutige ontologische Position zuzuordnen (s. o.). Dort hatte es Dilthey konsequent vermieden, sich auf einen Monismus oder einen Dualismus festzulegen, sondern lenkte die müßige metaphysische Diskussion an entscheidenden Stellen stets auf erkenntnistheoretische Bahnen. Man kann Diltheys Verhalten gegenüber Fragen dieser Art durchaus im Sinne einer Resignation bezüglich ontologischer Großtheorien auffassen und ihn somit vor den üblichen Vorwürfen systematischen Unvermögens oder begrifflicher Unklarheit in Schutz nehmen. Das hieße sein Ausweichen vor einer letzten ontologischen Festlegung als methodische Entscheidung zu betrachten, bezüglich nicht beantwortbarer und konsequenzloser 332 Vgl. GS I, 3f; XX, 31f (»Der praktische Beruf der Wissenschaften des Geistes«). Den Charakter der Geisteswissenschaften als Praxiswissenschaften hat insbesondere Christofer Zöckler herausgearbeitet (vgl. Zöckler 1975: 73–78). Zu den metaphilosophischen Konsequenzen dieses Gedankens siehe Abschnitt 3.3. 333 GS V, 3; vgl. GS VI, 195. 334 J 141 (8. 2. 1861); vgl. Peschken 1972: 11f. Der Gedanke ist offenbar von Goethe übernommen: »Nur wenige Menschen gibt es die diese unerträgliche Empfindung vorausahnden, und, um allen partiellen Resignationen auszuweichen, sich ein für allemal im Ganzen resignieren.«, Dichtung und Wahrheit, Teil IV, Buch 16 (GW XVI, 714).
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Fragen besser kein Votum abzugeben, auch um diese dadurch nicht unnötig am Leben zu halten, sondern sich stattdessen allein mit den Aspekten zu befassen, die einen aufweisbaren Zusammenhang mit möglicher Erfahrung und Praxis haben. An dieser Stelle wird allerdings ein Problem handgreiflich, das sich sowohl für Comte als auch für Dilthey stellt und sich darüber hinaus als schwerwiegende Hypothek positivistischer Metaphysikkritik überhaupt herausgestellt hat: wie lassen sich ungelöste von unlösbaren Problemstellungen unterscheiden? Bei Dilthey ist es häufig die (Kantische) Erkenntnistheorie, die die entsprechenden Abgrenzungskriterien bereitstellen soll. Später versuchten die Logischen Empiristen das Problem mithilfe der Semantik zu lösen. Beide Versuche einer apriorischen Abgrenzung des Wissbaren von dem epistemischen Zugriff prinzipiell Entzogenem haben sich als nicht hinreichend trennscharf und auch (etwa in der Selbstanwendung) als nicht gut begründbar erwiesen. Insofern kommt Ansätzen einer nicht-apriorischen Abgrenzung metaphysischer Fragestellungen, wie sie sich bei Dilthey abzeichnen, besonderes Interesse zu.335 Auch bezüglich des konstruktiven Anspruchs lassen sich weitreichende Übereinstimmungen zwischen Comte und Dilthey aufzeigen. Beider Blick auf die Welt und die sie umgebenden gesellschaftlichen Zustände war von einem ausgesprochenen Krisenbewusstsein geprägt.336 Beide machten die abstrakten Konstruktionen metaphysischer Philosophie, mithin den aufklärerischen Rationalismus des 18. Jahrhunderts wesentlich mitverantwortlich für die Auflösung sittlicher Orientierung, traditionaler Bindungen und überkommener Institutionen.337 Beide verstanden entsprechend die Französische Revolution als einen dem aufklärerischen Denken kongenialen Versuch mit sämtlichen traditionalen Altlasten aufzuräumen, gleichsam tabula rasa zu machen um dann mit den Mitteln der Vernunft eine neue ideale Gesellschaftsordnung zu etablieren. Der destruktive Zug der Revolution war gründlich und nachhaltig: sämtliche traditionalen gesellschaftlichen Elemente und Ordnungen, kirchliche Dogmatiken und feudale Herrschaftsstrukturen wurden erheblich erschüttert und stehen seither unter Rechtfertigungszwang. Das konstruktive Programm der Aufklärung (einer Umgestaltung der Gesellschaft nach rein vernünftigen Gesichtspunkten) hingegen halten sowohl Comte als auch Dilthey für gescheitert. Eine allgemein verbindliche sittlich-staatsbürgerliche Orientierung habe sich seit dem Sturm auf die Bastille nicht mehr etablieren können (Referenzmaßstab ist für Comte in dieser Frage die seiner Meinung nach hochgradig integrierte Sozial335 Siehe Abschnitte 3.2.1 und 3.2.2. Auch von Mises Begriff der »Verbindbarkeit« bzw. »Unverbindbarkeit« ist ein solcher Kandidat (vgl. von Mises 1990: 135ff, 380). 336 Vgl. Lorenz 1959; Masur 1961: 51–57, 159–172. 337 Vgl. GS I, xv–xvi.
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struktur mittelalterlicher Gesellschaften338); die Legitimität gesellschaftlicher Institutionen drohe ständig infrage gestellt zu werden.339 Anarchie und subjektive Willkürherrschaft bedrohen das politisch-gesellschaftliche Leben derjenigen Nationen, die unter den Einfluss der Französischen Revolution geraten sind. Nicht nur die Diagnose lautet weitgehend gleich, auch hinsichtlich der empfohlenen Therapie sind sich Comte und Dilthey einig: notwendiger Bestandteil einer gesellschaftlichen Reorganisation ist die Wissenschaft.340 Comte denkt dabei an die von ihm zu diesem Zweck aus der Taufe gehobene Soziologie, Dilthey hingegen an den Komplex der geisteswissenschaftlichen Einzelwissenschaften. Durch die im Zuge der Französischen Revolution freigesetzten Kräfte und neuartigen Dynamiken werde auch die Ausbildung entsprechender wissenschaftlicher Instrumente zur gesellschaftlichen Diagnose, Steuerung und Planung zu einer »Lebensfrage«.341 »[…] Herrschaft der Wissenschaft über das Leben! […] Diese Erde muß einmal der Schauplatz freien Handelns werden, das vom Gedanken regiert wird, und keine Repressionen werden hieran etwas ändern.«342 »Jede wahre Philosophie muss aus ihren theoretischen Erkenntnissen Prinzipien der Lebensführung des Einzelnen und der Leitung der Gesellschaft ableiten.«343
Die Eingriffstiefe, an die Dilthey dabei denkt, ist durchaus erheblich. Als Ziel der Moralphilosophie erscheint »[…] der große Gedanke einer fortschreitenden Regelung der Gesellschaft, ihrer Interessen und Affekte durch Einsicht und Ideen […].«344
Auch dem älteren Dilthey, der häufig als resigniert-kontemplativer Beobachter gescholten wird, ist dieser Gedanke selbstverständlich: »[D]ie oberste und wichtigste Aufgabe aller Philosophie liegt in dieser Sicherung eines allgemeingültigen Wissens [sc. durch eine »Rechtfertigung des Denkens vor sich selbst«:
338 Vgl. Comte 2008: 99. 339 Vgl. Diltheys vor Weihnachten 1892 an Yorck von Wartenburg gerichteten Brief (B 156ff); GS I, xv–xvi, 4, 83f; Comte 2001: 82f. 340 Beide halten für eine gesellschaftliche Reorganisation allerdings wissenschaftliche Anstrengungen allein für keineswegs hinreichend. Comte ergänzt daher seine positive Philosophie später um eine positive Politik, zu der auch eine neu zu gründende Humanitätsreligion gehört (vgl. Comte 2008: 18, 441ff). Ambitionen dieser Art liegen Dilthey fern. 341 GS I, 4. 342 GS VIII, 193. 343 GS X, 13; vgl. außerdem GS I, 3f, 123; V, 27, 89. Ulrich Dierse vertritt demgegenüber die Auffassung, dass Dilthey kein besonderes politisches Interesse verfolge (vgl. Dierse 2013: 62). 344 GS V, 34.
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d.i. Erkenntnistheorie]. Denn der Fortschritt des Menschengeschlechts ist in der modernen Zeit bedingt von seiner Leitung durch die wissenschaftliche Erkenntnis […]«.345
Im Vergleich zu Comte ist Dilthey sicherlich eher zu Konzessionen an die theoretische Neugier als einem Movens wissenschaftlicher Forschung bereit. Doch auch bei ihm findet sich mit der Kategorie der Bedeutsamkeit ein Element, dass zumindest für den Bereich der Geisteswissenschaften eine nicht völlig unverbindliche Differenzierung von mehr oder weniger Wissenswürdigem erlaubt.346 Die Aussagekraft der aufgezeigten Überschneidungen variiert offensichtlich. Je spezifischer die geteilten Punkte, desto substantieller die Übereinstimmung. Aspekte hingegen, die sich aus dem allgemeinen Zeitgeist ergeben, fallen klarerweise weniger ins Gewicht. Zu diesen zählen wohl die Punkte (c) und (d), denn es werden sich kaum wissenschaftliche Ansätze finden lassen, sei es im 19. Jahrhundert oder heute, die Gewissheit und Präzision nicht als zentrale Tugenden akzeptieren würden. Die übrigen Punkte hingegen: (a) Philosophie als Wirklichkeitswissenschaft, (b) die Nützlichkeit und (e) der wesentlich konstruktive Bezug der (Geistes-)Wissenschaften auf die gesellschaftliche Praxis sind deutlich weniger selbstverständlich und damit geeigneter, die Schnittmenge beider Denker in einem ersten Zugriff, aber doch aussagekräftig, zu umreißen.347
345 GS IV, 200. 346 Eine frühe Reflexion dazu findet sich in den Tagebuchaufzeichnungen: »Was ist denn wissenswürdig? Wozu dieser Erdball gestaltet sei, welchen Zwecken wir während des halben Jahrhunderts, welches wir verständig darauf zubringen, entgegen reisen: wichtigere, mehr aus der Tiefe menschlichen Bedürfnisses emporsteigende Fragen wüßte ich nicht zu nennen.« (J 81). Zur Kategorie der Bedeutsamkeit siehe Abschnitt 4.2.2. 347 Der Frage, inwiefern positivistische Motive Eingang in den Zeitgeist gefunden haben, geht Erich Rothacker für den deutschen Sprachraum nach (vgl. Rothacker 1972: 190ff). Dabei weist er hin auf folgende charakteristische »Schlagworte«: »Befreiung von aller Metaphysik« (S. 194); Erhebung der Geisteswissenschaften zu echten Wissenschaften, d.i. Angleichung an das methodische Ideal der Naturwissenschaften (S. 195); »Ersetzung von Erklärung durch vollständige Beschreibung« (S. 196); »Verzicht auf Werturteile« (S. 196); Orientierung von Erklärungen am »Prinzip des kleinsten Kraftmaßes« (S. 197). Das dritte Schlagwort trifft Comtes Positivismus nur bedingt, da er durchaus die Rückführung von Einzelbeobachtungen auf allgemeine Gesetze vorsieht. Da der Sinn dieser allgemeinen Gesetze (faits généraux) allerdings mit der Menge der unter es fallenden Instanzen zusammenfällt, kann dennoch von Beschreibung gesprochen werden. Das vierte und fünfte Schlagwort hingegen ist für die deutschsprachigen positivistischen Autoren spezifisch.
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2.1.3 Das enzyklopädische Gesetz Zum Kernbestand der systematischen Überzeugungen Comtes gehören jene über die Gliederung und den Zusammenhang der verschiedenen Wissenschaften untereinander, man könnte sagen: seine Wissenschaftstheorie. Belehrt durch die Fortschritte wissenschaftlicher Klassifikationen auf dem Feld der Botanik und Zoologie, sieht sich Comte erstmals in die Lage versetzt, auch die Ordnung der Wissenschaften selbst unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten anzugeben.348 Sie findet Ausdruck im sogenannten »enzyklopädischen Gesetz«. Es gibt die Über- und Unterordnungsverhältnisse der fünf fundamentalen Wissenschaften (»cinq sciences fondamentales«) an, die sich allein aus dem Kriterium ihrer gegenseitigen Abhängigkeit (»la dépendance mutuelle«) ergeben:349 0. 1. 2. 3. 4. 5.
die Mathematik die Astronomie die Physik die Chemie die Physiologie die soziale Physik / die Soziologie.350
Diese Stufenfolge der fundamentalen Wissenschaften charakterisiert Comte weiter: »La première considère les phénomènes les plus généraux, les plus simples, les plus abstraits et les plus éloignés de l’humanité; ils influent sur tous les autres, sans être influencés par eux. Les phénomènes considérés par la dernière sont, au contraire, les plus particuliers, les plus compliqués, les plus concrets et les plus directement intéressants pour l’homme; ils dépendent, plus ou moins, de tous les précédents, sans exercer sur eux aucune influence. Entre ces deux extrêmes, les degrés de spécialité, de complication et de personnalité des phénomènes vont graduellement en augmentant, ainsi que leur dépendance successive.«351
348 Vgl. Comte 1975a: 44. Vermutlich nimmt Comte hier Bezug auf Carl von Linné oder Georges Cuvier. 349 Comte 1975a: 44 (»et cette dépendance, pour être réelle, ne peut résulter que de celle des phénomènes correspondants.«). 350 Comte 1975a: 58. Den Ausdruck »physique sociale« zur Bezeichnung der höchsten Wissenschaft in seinem Schema ersetzt Auguste Comte ab 1839 durch »sociologie« (vgl. Comte 1975b: 88). Was die Einordnung der Mathematik, immerhin Comtes eigenes Spezialgebiet, in die Reihe der Wissenschaften betrifft, verfährt er nicht einheitlich. Zuweilen zählt er sie als erste von dann sechs Wissenschaften in der enzyklopädischen Reihe mit auf (vgl. Comte 2009: 231 (§73)), an anderen Stellen hebt er sie hingegen als fundamentale Strukturwissenschaft in ihrer wissenschaftskonstitutiven Funktion besonders hervor, führt sie dann aber außer der Reihe (vgl. Comte 1975a: 63). 351 Comte 1975a: 58.
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Für diese Aufstellung gilt demnach: je später in der Liste aufgeführt (d.i. je höher in der Ordnung), desto eigentümlich-individueller, komplizierter, konkreter, bedeutsamer und schließlich desto voraussetzungsreicher die der jeweiligen Wissenschaft entsprechenden Phänomene; je früher hingegen desto allgemeiner, einfacher, abstrakter, entfernter von den Belangen der Menschheit und desto bestimmender für die folgenden Stufen. In Verbindung mit dem Dreistadiengesetz, das allein lediglich die Reihenfolge der Entwicklungsstadien einer einzelnen theoretischen Disziplin bestimmt, erlaubt das enzyklopädische Gesetz eine erklärende Rekonstruktion der gesamten Wissenschaftsgeschichte. Dann wird nämlich verständlich, dass eine Wissenschaft erst dann ins positive Stadium eintreten kann, wenn alle sie bedingenden Disziplinen diesen Schritt bereits vollzogen haben.352 Aus der systematischen Wissenschaftshierarchie ergibt sich so ein historischer »Normalverlauf« für den Prozess der Etablierung positiver Wissenschaften. Festzuhalten bleibt, dass es Comte mit dieser stufenförmigen Ordnung der Wissenschaften erklärtermaßen nicht um mögliche Reduktionsverhältnisse geht.353Darauf verweist Jürgen von Kempskis Charakterisierung dieser Disziplinenhierarchie deutlich. »[Die] theoretischen Wissenschaften, die im Zusammenhange die positive Philosophie ausmachen, ordnen sich in einer Reihe nach abnehmender Allgemeinheit beziehungsweise nach zunehmender Komplexheit. Die komplexere Wissenschaft setzt jeweils die vorangehende allgemeinere voraus, und hat, um der zunehmenden Komplexheit Herr zu werden, eine zusätzliche Methode zu entwickeln.«354
Diese systematische Reihung der Wissenschaften entspricht, wie gesehen, nicht nur der Reihenfolge ihres historischen Auftretens (bzw. des Erreichens des positiven Stadiums), sondern sie zeichnet – insofern der Bildungsprozess jedes einzelnen Menschen als Nachvollzug des menschheitlichen Bildungsprozesses verstanden werden kann – auch die sinnvollste Abfolge ihrer Vermittlung im Rahmen etwa eines Kurrikulums vor.355 »Man gelangt so allmählich dazu, die unwandelbare zugleich historische und dogmatische, ebenso wissenschaftliche und logische Rangordnung der sechs grundlegenden Wissenschaften zu entdecken, der Mathematik, der Astronomie, der Physik, der Chemie, der Biologie und der Soziologie, von denen die erste notwendig den ausschließlichen Ausgangspunkt und die letzte das einzige wesentliche Ziel der ganzen positiven Philosophie darstellt.«356 352 Vgl. Comte 1975a: 59. Diese Regel gilt allerdings nach Comte aufgrund der Verwicklungen der historischen Verhältnisse nur grosso modo (vgl. Comte 1975a: 53). 353 Comte 1975a: 40f. 354 Von Kempski 1992d: 92. 355 Vgl. GS XVIII, 10f. 356 Comte 2009: 231 (§73, tr. Friedrich Sebrecht); vgl. ferner ebd.: 223–239 (§§68–77).
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Von der Idee einer historisch-systematischen Ordnung der Wissenschaften, weniger vielleicht von der konkreten Aufstellung Comtes, zeigt sich auch Dilthey beeindruckt und bezeichnet sie als »den richtigen Ausgangspunkt der Erforschung dieses Grundverhältnisses«.357 Wie bereits nachverfolgt, bestimmt sie bis ins Detail Diltheys Verhältnisbestimmung der oberen Geistes- zu den basaleren Naturwissenschaften.358 Doch auch in der Konstellation der verschiedenen Geisteswissenschaften zueinander lässt sich ihr Einfluss nachvollziehen. So überrascht es nicht, dass Dilthey dem enzyklopädischen Gesetz Comtes ausdrücklich Anerkennung zollt: »Indem Comte die Beziehung zwischen diesem logischen Verhältnis von Abhängigkeit, in welchem Wahrheiten zu einander stehen, und dem geschichtlichen Verhältnis der Abfolge, in welchem sie auftreten, der Untersuchung unterwarf: schuf er die Grundlage für eine wahre Philosophie der Wissenschaften.«359
Indem Dilthey sich in der Vorrede zur Einleitung von den »Antworten Comtes und der Positivisten« distanziert, bringt er mittelbar zugleich zum Ausdruck, dass er die Fragen der Positivisten an die Geisteswissenschaften als absolut triftig und hoch relevant ansieht.360 Deren Unerledigtheit beeinträchtige die Geisteswissenschaften auch nach Diltheys Auffassung ganz massiv. »Aber die historische Schule hat bis heute die inneren Schranken nicht durchbrochen, welche ihre theoretische Ausbildung wie ihren Einfluß auf das Leben hemmen mußten. Ihrem Studium und ihrer Verwertung der geschichtlichen Erscheinungen fehlte der Zusammenhang mit der Analysis der Tatsachen des Bewußtseins, sonach Begründung auf das einzige in letzter Instanz sichere Wissen, kurz eine philosophische Grundlegung. Es fehlte ein gesundes Verhältnis zu Erkenntnistheorie und Psychologie.«361
Entsprechend bietet Dilthey im ersten Buch der Einleitung eine hierarchische Grundstruktur der Geisteswissenschaften, nach der Anthropologie und Psychologie die Grundlage der Geisteswissenschaften bilden, auf der die mit Begriffen »zweiter Ordnung« operierenden anderen Geisteswissenschaften aufbauen.362 Allerdings relativiert Dilthey die Geltung des enzyklopädischen Gesetzes für die Verhältnisse der Geisteswissenschaften zueinander deutlich. 357 GS V, 50. Skepsis äußert Dilthey hinsichtlich der Aussicht, auch die Geisteswissenschaften in ähnlich stringenter Weise wie die Naturwissenschaften zu hierarchisieren (vgl. GS I, 24; GS, V, 53). 358 »Tatsachen des Geistes sind die oberste Grenze der Tatsachen der Natur, die Tatsachen der Natur bilden die unteren Bedingungen des geistigen Lebens.« (GS I, 17; vgl. GS V, 248). 359 GS I, 23. 360 GS I, xvii. 361 GS I, xvi. 362 Vgl. GS I, 32, 45f (hier werden Begriffe zweiter Ordnung als solche bestimmt, »welche von denen, die von der Individualpsychologie benutzt werden, spezifisch verschieden sind«); XX, 26f.
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»Die Geisteswissenschaften bilden nicht ein Ganzes von einer logischen Konstitution, welche der Gliederung des Naturerkennens analog wäre […].«363
Während es bei den Naturwissenschaften eine eindeutige Hierarchie der Überund Unterordnung der einzelnen Disziplinen gibt (anhand des Kriteriums einseitiger Abhängigkeit), liegen die Dinge bei den Geisteswissenschaften offenbar nicht so einfach. Auch wenn Dilthey von Begriffen erster und zweiter Ordnung spricht, lässt sich dennoch nicht von einer einseitig zu verstehenden Abhängigkeit der höherstufigen Disziplinen (wie der Geschichts- oder den Wirtschaftswissenschaften) von den grundlegenderen (wie Psychologie und Anthropologie) sprechen. Zwar bestehe es eine solche Abhängigkeit durchaus: »Ein Typus der Menschennatur steht immer zwischen dem Geschichtsschreiber und seinen Quellen, aus denen er Gestalten zu pulsierendem Leben erwecken will; er steht nicht minder zwischen dem politischen Denker und der Wirklichkeit der Gesellschaft, welcher dieser Regeln ihrer Fortbildung entwerfen will.«364
→ Die höherstufigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen sind auf anthropologische und psychologische Modelle und Vorannahmen angewiesen. Zugleich gelte aber auch: »Der Mensch als eine der Geschichte und Gesellschaft voraufgehende Tatsache ist eine Fiktion der genetischen Erklärung; derjenige Mensch, den gesunde analytische Wissenschaft zum Objekt hat, ist das Individuum als ein Bestandteil der Gesellschaft.«365
→ Die Erkenntnisse der höherstufigen Disziplinen erlauben allererst die Formulierung einer gehaltvollen und realistischen Anthropologie und Psychologie. Damit tritt die Disanalogie zur Struktur des Zusammenhangs der Naturwissenschaften untereinander deutlich zu Tage: anstatt in einer durch einseitige Abhängigkeit strukturierten Disziplinenhierarchie gestalten sich die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Geisteswissenschaften letztlich wechselseitig oder zirkulär; das heißt aber auch: es gibt keine der Elementarteilchenphysik analoge geisteswissenschaftliche Fundamentalwissenschaft.366 Eine weitere Grenze der Gültigkeit des enzyklopädischen Gesetzes in den Geisteswissenschaften besteht in der Herausdifferenzierung von Wissenschaf363 GS I, 24. 364 GS I, 32. 365 GS I, 31f. Auf problematische Weise fiktiv wäre etwa Diderots »natürlicher Mensch« gegenüber dem tatsächlich anzutreffenden »künstlichen« (vgl. GS I, 382) oder auch Hobbes’ Anthropologie, die in einem einseitig begründenden Verhältnis zu seiner Sozialphilosophie steht (vgl. GS I, 222). 366 Diese Interpretation relativiert Diltheys eigene Rede von »fundamentalen Sätzen dieser Wissenschaften [sc. Anthropologie und Psychologie]« um willen eines kohärenten Gesamtbildes (GS I, 46).
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ten, die sich mit den einzelnen »Systemen der Kultur«, und solchen, die sich mit der »äußeren Organisation der Gesellschaft« befassen, da mit ihnen zwei Blickrichtungen auf die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit auseinandertreten, deren Gegenstände zueinander in keinem eindeutigen Über- oder Unterordnungsverhältnis entsprechend ihrer jeweils größeren oder kleineren Allgemeinheit stehen.367
2.1.4 Phänomenalität und Phänomenalismus Als einen sechsten wesentlichen Aspekt der philosophie positive, der in einem gewissen Zusammenhang mit dem resignativen Aspekt steht, bezeichnet Comte deren »notwendiges Streben, überall das Relative anstatt des Absoluten zu setzen«.368 In ihrem positiven Stadium beschränkt sich Wissenschaft demnach auf einen strikten Phänomenalismus: »Mit einem Wort, die grundlegende Revolution, die das Mannesalter unseres Geistes charakterisiert, besteht im Wesentlichen darin, überall anstelle der unerreichbaren Bestimmung der eigentlichen Ursachen [»à l’inaccessible détermination des causes proprement dites«] die einfache Erforschung von Gesetzen [»la simple recherche des lois«], d. h. der konstanten Beziehungen zu setzen, die zwischen den beobachteten Phänomenen bestehen.«369
Relativ sind die Einsichten der Wissenschaften auf die menschliche kognitive Ausstattung und epistemische Situation (»à notre organisation et à notre situation«, §13), daher kommt ihnen ein lediglich provisorischer oder hypotheti367 »Die Grundlage, auf welcher diese andere Form dauernder Beziehungen in der Wechselwirkung [sc. die Formen der äußeren Organisation der Gesellschaft] beruht, reicht ebenso tief als die, welche die Tatsache der Systeme hervorbringt.« (GS I, 47, Hervorhebung hinzugefügt). Unter »Systemen der Kultur« versteht Dilthey einen »Zusammenhang psychischer Elemente in dem Zweckganzen eines Systems« und unter der »äußeren Organisation« »die Struktur, welche in dem Verbande von Willenseinheiten entsteht«, d.i. die Eigenschaften »der Gemeinsamkeiten, der Verbände, des Gefüges, das in Herrschaftsverhältnissen und äußerer Bindung vom Willen entsteht«. Ein Beispiel für jene wäre das System der Religion (verstanden etwa als zentriert um den Zweck des Kontakts mit dem Göttlichen) unter die äußere Organisation fielen hingegen diejenigen Aspekte, die mit verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Institutionalisierung von Religionsgemeinschaften, d.i. etwa mit verschiedenen Formen von Kirchlichkeit zu tun hätten. Vgl. ferner GS I, 42–86 und die differenzierte Darstellung in [Johach 1974: 62–73]. In seiner Vorlesung zur Einleitung unterscheidet Dilthey vier Gruppen von Geisteswissenschaften: 1. die Psychologie; 2. »Erkenntnis der einzelnen Systeme der Kultur«; 3. »die Wissenschaften von der äußeren Organisation der Gesellschaft«; und 4. die Geschichtswissenschaft (vgl. GS XX, 161–164). 368 Comte 2009: 125 (§33: »sa tendance nécessaire à substituer partout le relatif à l’absolu«). 369 Comte 2009: 66 (§12, Hervorhebungen im Original). Comtes Auffassung von Gesetzen erwähnt ausschließlich deren Allgemeinheit und Regelmäßigkeit, von einer Notwendigkeit der kausalen Verknüpfung ist nicht die Rede.
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scher Charakter zu. Apodiktische Rigidität (»fixité absolue«, §14) ist demgegenüber ein Charakteristikum metaphysischer Systeme. Wissenschaftliche Sätze sind damit für Comte (ganz wie bei Quine) prinzipiell revidierbar, ohne dass das schon unhaltbare skeptizistische Konsequenzen nach sich ziehen würde. Die Nähe von Comtes Position und Diltheys bereits dargestelltem Verständnis der Beziehung der Naturwissenschaften zur Wirklichkeit, ist kaum zu übersehen. Diltheys Satz »all unser Erkennen ist auf die Feststellung der Gleichförmigkeiten in Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit eingeschränkt« lautet geradezu wie eine unmittelbare Paraphrase der Comteschen Position.370 »Eine Wahrheit des äußeren Gegenstandes als Übereinstimmung des Bildes mit einer Realität besteht nicht, denn diese Realität ist in keinem Bewußtsein gegeben und entzieht sich der Vergleichung. Wie das Objekt aussieht, wenn niemand es in sein Bewußtsein aufnimmt, kann man nicht wissen wollen. Dagegen ist das, was ich in mir erlebe, als Tatsache des Bewußtseins darum für mich da, weil ich desselben innewerde: Tatsache des Bewußtseins ist nichts anderes als das, dessen ich innewerde. […] Daher ist uns das, dessen wir innewerden, als Zustand unserer selbst nicht relativ gegeben, wie der äußere Gegenstand.«371
Für endliche Erkenntnissubjekte besteht keine Möglichkeit ihre Gegenstandsrepräsentationen, ihre Vorstellungen mit den äußeren Objekten selbst abzugleichen. Gegenstände sind nicht anders als als Tatsachen des Bewusstseins gegeben. Dieses »allgemeine Gesetz der Relativität«, wie es Dilthey auch nennt, findet allerdings im Bereich der inneren Erfahrung keine Anwendung, da wir es hier nicht mit Repräsentationen oder Erscheinungen zu tun haben, sondern mit den Dingen selbst.372 Irreführend wäre es, dieses epistemologische Prinzip mit der Bezeichnung »Relativismus« zu versehen, da es nicht darum geht, die Möglichkeit objektiver Erkenntnis zu bestreiten. Stattdessen bietet es sich an dieser Stelle an, auf den von Karl Mannheim geprägten Ausdruck »Relationalität« zurückzugreifen.373 Für Dilthey ergibt sich der relational-korrelative Charakter der 370 GS I, 10; siehe oben. 371 GS I, 394 (Hervorhebung hinzugefügt); vgl. GS XIX, 54 (»Eine Wirklichkeit, die unabhängig davon, daß ich sie in Wahrnehmung oder Schluß setze, bestünde, ist ein Ungedanke.«). 372 GS I, 386. Bedenkt man, wie bereits ausgeführt, die methodischen Probleme der Introspektion und zudem Diltheys Bestreben die geistigen Tatsachen als eingebettet in die Sinneswelt aufzufassen, wird man diesen Vorzug der Innenwelt nicht allzu sehr betonen. Zudem stellt sich die Frage, ob das Selbst beim reflexiven Bemühen, die eigenen Zustände zu erfassen, nicht zu sich selbst auf ähnliche Weise in eine Erkenntnisrelation eintritt wie gegenüber der Außenwelt (siehe dazu Abschnitte 1.2 und 3.2.5). 373 Mannheim 2015: 257f (»Auch bei dieser Lösung [sc. der Anerkennung der wesensmäßig relationalen Struktur des menschlichen Erkennens] geht es nicht darum, daß man das Postulat der Objektivität und Entscheidbarkeit sachhaltiger Diskussionen preisgibt oder einem Illusionismus huldigt, wonach alles Schein und nichts entscheidbar ist, sondern nur
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Wirklichkeit aus seinem »erkenntnistheoretischen Standpunkt«.374 Die Zuordnung von Erfahrung und Wirklichkeit, aber auch die von Innen- und Außenwelt, stellt für die menschliche Erkenntnis ein Letztes dar.375 Doch auch den Phänomenalismus eignet sich Dilthey nicht ohne Differenzierung und Umdeutung an. Denn einerseits stellt er zwar einen »Satz der Phänomenalität« als »oberste[n] Satz der Philosophie« auf, nach dem »alles, was für mich da ist, unter der allgemeinsten Bedingung, Tatsache meines Bewußtseins zu sein, [stehe]«, zugleich aber meldet er Vorbehalte an, diesen Satz dahingehend zu verstehen, als beinhalte er »die bewußte kritische Einschränkung der Wissenschaft auf Erscheinungen«, eine Position die er unterscheidend als »Phänomenalismus« bezeichnet.376 Dieser Phänomenalismus trete nach Dilthey in zwei Fraktionen auf: einer positivistischen (von Hume bis Comte) und einer transzendentalphilosophischen (Kant und seine Nachfolger) und von beiden distanziert sich Dilthey hinsichtlich der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890) zugunsten einer willenstheoretischen Alternativposition.377 Nach ihr basiert der menschliche Wirklichkeitskontakt nicht auf einer intellektuellen Tätigkeit wie einem impliziten Schluss (etwa auf die beste Erklärung für die beobachtbaren Regelmäßigkeiten), sondern auf der Erfahrung der sich am Widerstand der Welt brechenden Handlungsintentionen.378
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darum, daß diese Objektivität und Entscheidbarkeit nur auf Umwegen herstellbar ist. […] Es resultiert also auch hier nicht ein Relativismus im Sinne der Beliebigkeit jeder Behauptung; der Relationalismus in unserem Sinne besagt vielmehr, daß jede Aussage wesensmäßig nur relational formulierbar sei, und er schlägt nur dann in Relativismus um, wenn man ihn mit dem älteren statischen Ideal ewiger, desubjektivierter unperspektivischer Wahrheiten verbindet und an diesem ihm disparaten Ideal (von absoluter Wahrheit) mißt.«, S. 258); Hennig 1934: 88f. »Wir bezeichnen diesen Standpunkt, der folgerecht die Unmöglichkeit einsieht, hinter diese Bedingungen [sc. unseres Bewußtseins] zurückzugehen, gleichsam ohne Auge zu sehen oder den Blick des Erkennens hinter das Auge selber zu richten, als den erkenntnistheoretischen; die moderne Wissenschaft kann keinen anderen anerkennen.« (GS I, xvii); »[…] die Wirklichkeit, als das Korrelat der Erfahrung […]« (GS I, 10). Siehe Abschnitt 1.3.1 zu Diltheys Ablehnung einer »absolute conception of reality« als eines sinnvollen Ideals der Wissenschaft. Zu letzterem vgl. Abschnitt 3.2.1. Gerhard Masur weist durchaus erhellend auf den der relationalen Wirklichkeitsauffassung kongenialen Charakter des Impressionismus in der Malerei hin (vgl. Masur 1961: 215–231). GS V, 90f. Diese Distanzierung steht in einer gewissen Spannung zu Diltheys oben dargestelltem Vorgehen in der Einleitung, denn dort vertritt auch er angesichts von Naturalisierungstendenzen eine »bewußte kritische Einschränkung der Wissenschaft auf Erscheinungen« (vgl. GS I, xvii, 20f). Sie lässt sich möglicherweise dahingehend lösen, dass der Phänomenalismus diese kritische Einschränkung unangemessenerweise auch für die Innenwelt geltend macht, was Dilthey eben ablehnt (so mit Blick auf Kant in GS V, 5). Vgl. GS V, 92; GS XX, 169–171. Vgl. GS V, 98–105 (»So wird in dem Impuls und dem Widerstand, als in den zwei Seiten, die in jedem Tastvorgang zusammenwirken, die erste Erfahrung des Unterschiedes eines Selbst
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Hinsichtlich der wissenschaftstheoretischen Frage aber, wie der epistemische Status der Sätze der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, einzuschätzen ist, hat Diltheys Differenzierung von Phänomenalität und Phänomenalismus scheinbar keine Konsequenzen: gegeben sind uns lediglich verschiedene Data in ihren zum Teil regelmäßigen Verhältnissen der Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit, alle kausalen Verhältnisse zwischen ihnen entstehen durch »Ergänzung« und besitzen notwendigerweise einen hypothetischen Charakter.379 Die Sätze der Physik bleiben also durchaus eingeschränkt auf Regelmäßigkeiten auf der Ebene der Erscheinungen, darüber hinaus kommt ihnen keine »metaphysische Gültigkeit« zu.380 Hier schließt sich Dilthey sowohl der gängigen sinnesphysiologischen Kantrezeption seiner Zeit an als auch der in dieser Frage kongenialen Comteschen Doktrin. Entscheidende Differenzen bestehen jedoch hinsichtlich Diltheys Zurückweisung der Differenz von »Ding an sich« und »Ding als Erscheinung« für den Bereich der Innenwelt und in seiner Betonung des Umstandes, dass auch der Kontakt zur äußeren Wirklichkeit sich keineswegs in vorstellungsförmigen Vermittlungen erschöpfe, sondern unmittelbar in Widerstandserfahrungen und emotionalen Evaluationen erlebt werde (auch wenn er immer nur partiell erkannt werden kann).381
2.1.5 Ablehnung der Metaphysik und die Rolle der Erfahrung Jeder der aufgeführten sechs Bedeutungsaspekte (Tatsächlichkeit, Nützlichkeit, Gewissheit, Bestimmtheit, Konstruktivität, Relationalität) charakterisiert das positive Stadium in einer bestimmten Hinsicht und zugleich bezeichnet er eine Dimension, in der es sich dem metaphysischen Stadium gegenüber als überlegen und eines Anderen gemacht. Der erste Keim von Ich und Welt sowie von deren Unterscheidung, ist hier vorhanden. Dies aber in der lebendigen Erfahrung des Willens.«, S. 105, Hervorhebung entfernt). Neben solchen genetischen Überlegungen kommt die ebenfalls angekündigte Frage nach dem Recht dieses Glaubens etwas zu kurz (vgl. GS V, 133–135). 379 Vgl. GS V, 140–142. 380 GS I, 13n2; V, 12 (»Und ebenso unantastbar in seinen großen Zügen, obwohl mancher Reform im einzelnen bedürftig, erscheint mir Kants Resultat. Es gibt, sagt er, keine strenge Erkenntnis als von dem in der Erfahrung Gegebenen. Und zwar ist der Gegenstand dieser strengen Erkenntnis der gesetzmäßige Zusammenhang aller Erscheinungen.«). Kants Kausalitätsbegriff fällt trotz seines Phänomenalismus deutlich robuster aus als bei Comte und Dilthey (vgl. KrV B 232ff: »Nach einer solchen Regel also muß in dem, was überhaupt vor einer Begebenheit vorhergeht, die Bedingung zu einer Regel liegen, nach welcher jederzeit und notwendiger Weise diese Begebenheit folgt […]« (KrV B 239, Hervorhebungen hinzugefügt)). 381 Vgl. GS I, 368 (»Die äußere Wirklichkeit ist in der Totalität unseres Selbstbewußtseins nicht als bloßes Phänomen gegeben, sondern als Wirklichkeit, indem sie wirkt, dem Willen widersteht und dem Gefühl in Lust und Wehe da ist.«, Hervorhebung verändert).
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erweist. Die Fülle wissenschaftlicher Durchbrüche auf nahezu allen Gebieten der empirischen Forschung legte dem 19. Jahrhundert ein entsprechendes Selbstbewusstsein nahe. Wo vorangegangene Generationen nur unfruchtbare und schlecht begründete Spekulationen anstellen konnten, sei es nun an ihnen, der positiven wissenschaftlichen Bearbeitung immer neue Felder zu erschließen. Die Arbeit der frühen Physiologen und empirischen Psychologen ist dafür ein besonders deutliches Beispiel. Wenn Johannes Müller, Hermann Helmholtz, Wilhelm Wundt oder Carl Stumpf die sinnliche Wahrnehmung mit empirischen Mitteln zu untersuchen begannen, verstanden sie sich dabei selbst als diejenigen, die das von Kant genialisch konzipierte und antizipierte Programm einer »transzendentalen Ästhetik« durch angemessene empirische Methoden allererst in eigentlich wissenschaftliche Forschung umzusetzen imstande waren.382 Der Umbruch von spekulativer Naturphilosophie zu empirischer Forschung, insbesondere auf den Kathedern, aber auch im Bewusstsein der Öffentlichkeit, bestimmte im deutschsprachigen Raum die intellektuelle Atmosphäre in der ersten Hälfte des Jahrhunderts erheblich.383 Wer sich in dieser Zeit dem Trend zur Verwissenschaftlichung zurechnete, dokumentierte den eigenen progressiven Standpunkt gerne mit einer demonstrativ an den Tag gelegten Haltung der Metaphysikfeindlichkeit. Diese kann sich jedoch auch auf eine lange Tradition der Kritik eines akademischen und scholastischen Philosophiebetriebs berufen, die sich zunächst (von Pyrrhon bis Descartes) als Skeptizismus artikulierte und dogmatischen Wissensansprüchen mit einer Praxis der Urteilsenthaltung zu begegnen pflegte. Bedingt durch die sich historisch vollziehende Differenzierung von Philosophie und Einzelwissenschaften, verändert sich auch das Profil und die Pointe der jeweiligen antimetaphysischen Haltung. An die Stelle einer skeptizistischen epoché gegenüber jedweden Erkenntnisansprüchen tritt vermehrt ein Pochen auf Einzelwissenschaft und Empirie als Gegenpol zur dogmatischen Metaphysik. David Humes rabiates Ende seiner Enquiry concerning Human understanding illustriert diesen Übergang überaus deutlich. Der letzte, dem Skeptizismus gewidmete Abschnitt dieser Untersuchung schließt mit der Aufforderung: »When we run over libraries, persuaded of these principles [sc. that ›it is only experience, which teaches us the nature and bounds of cause and effect, and enables us to infer the existence of one object from that of another‹ (ebd., sec. XII.29)], what havoc must we 382 Vgl. Ermarth 1978: 64–68, 74–77; Lehmann 1953b: 57–62. 383 Aufschlussreich hierfür ist etwa Johannes Müllers Bonner Antrittsvorlesung von 1824, in der er auf differenzierte Weise versucht, das Verhältnis der positiven Wissenschaft Physiologie zur Philosophie zu bestimmen. Dabei grenzt er sich scharf von der Tradition spekulativer Naturphilosophie ab, ohne die Verbindung zur Philosophie vollständig zu kappen, lautet der Titel seiner Vorlesung doch »Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung« (vgl. von Uexküll 1947: 11f, 25–31).
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make? If we take in our hand any volume; of divinity or school metaphysics, for instance; let us ask, Does it contain any abstract reasoning concerning quantity or number? No. Does it contain any experimental reasoning concerning matter of fact and existence? No. Commit it then to the flames. For it can contain nothing but sophistry and illusion.«384
Zwischen dieser prominenten Formulierung eines antimetaphysischen Affekts um 1748 bis hin zu Ludwig Wittgensteins Grenzziehung zwischen dem Sagbaren und dem Nicht-Sagbaren im Tractatus logico-philosophicus (1921) orientiert sich die Metaphysikkritik vor allem an der empiristischen Überzeugung, dass es neben der Erfahrung und der Logik keine weiteren Erkenntnisquellen gibt. Und auch für Dilthey steht fest: »Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft […]«.385 Im Anschluss an seine Rekonstruktion der Metaphysikgeschichte als dem Versuch, der Philosophie eine eigene, erkenntniserweiternde Methode zu sichern, resümiert er: »Und so ist auch dieser letzte und großartigste Versuch des menschlichen Geistes mißlungen, im Unterschied von dem Verfahren der Erfahrungswissenschaften eine philosophische Methode zu finden, auf welche eine Metaphysik gegründet werden könnte. Es ist nicht möglich, die in der Erfahrung gegebene Welt, deren Erkenntnis die Arbeit der Einzelwissenschaften ist, durch eine von ihrem Verfahren unterschiedene metaphysische Methode zu tieferem Verständnis zu bringen.«386
Nach der Rekonstruktion der zentralen Charakteristika der Philosophie Comtes können wir Viktor Kraft zustimmen, wenn er als Kern des Positivismus (und Neopositivismus) festhält: »Empirismus, Bewußtseinsimmanenz, Antimetaphysik«.387 Beurteilt man nun Diltheys Nähe zum Positivismus anhand dieser Kriterien, ist eine substantielle Übereinstimmung nicht zu verkennen. Autoren wie Hellmut Diwald allerdings weisen diesen Eindruck strikt zurück und geben zu bedenken: »Sein [sc. Diltheys] Insistieren auf Empirie ist nur dem Habitus nach positivistisch.« und halten Diltheys »Nähe und Verwandtschaft« zum Positivismus für »viel mehr terminologischer Art als inhaltlicher Natur«.388 Diese Einschätzung stützt Diwald im Wesentlichen auf radikale Unterschiede im jeweiligen Begriff der Erfahrung. Und in der Tat kritisiert Dilthey ganz massiv eine seiner Auffassung nach ungerechtfertigte Einengung der Erfahrung, wie er sie bei den positivistischen Autoren beobachtet, und führt sie auf den Einfluss einer starren 384 385 386 387
Hume 2007: 120 (sec. XII.34, Hervorhebungen im Original). GS I, xvii. GS V, 356. Kraft 1954: 73. Diese Bestimmung scheint brauchbarer als Hans Sommerfelds recht einseitige Gleichsetzung: »Positivismus und Ablehnung der Metaphysik sind gleichbedeutend.« (Sommerfeld 1926: 15). 388 Diwald 1963: 15, 14.
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sensualistischen Wahrnehmungspsychologie zurück. Auf diesem Weg sei nicht mehr die Erfahrung selbst Quelle des Wissens, sondern nur solche Erfahrungsbestandteile, die sich mit dem mageren Gerüst der empiristischen Begrifflichkeit von einfachen Ideen, Assoziationen usf. rekonstruieren lassen. Gegenüber solchen vorgängigen Limitationen fordert Dilthey für die »Grundlegung der Geisteswissenschaften« einen konsequenten »Standpunkt der Erfahrung, der unbefangenen Empirie auch gegenüber dem Empirismus«389 – »Empirie nicht Empirismus«.390 Zieht man in Betracht, dass die Grundbausteine der sensualistischen Wahrnehmungspsychologie des Empirismus selbst nicht der Erfahrung entnommen sind, sondern ein vorgängig investiertes Modell darstellen, erscheint Hans Sommerfelds Einschätzung besonders treffend, nach der alle wesentliche Kritik Diltheys am Positivismus auf positivistischen Prinzipien (v. a. der Metaphysikfreiheit der Psychologie und der Geschichtsphilosophie) beruhe und demnach als eine Reinigung des Positivismus von innen heraus zu begreifen ist.391 Nachdem Diltheys weitreichende Affinität zum Positivismus erhellt wurde, ist anzunehmen, dass auch für ihn die Kritik metaphysischer Theoriebestände eine erhebliche Rolle spielt. Zu klären bleibt, wie genau er das Phänomen und den Begriff der Metaphysik auffasst.
2.2
Die Phänomenologie der Metaphysik
Diltheys bei der Bestimmung des Wesens der Metaphysik zu beobachtendes Vorgehen ist enorm aufschlussreich für den von ihm selbst gepflegten Stil der Untersuchung, den er »historische Forschung in philosophischer Absicht« zu nennen pflegte.392 So geht er im zweiten Buch der Einleitung weder von einer rein 389 GS I, 81. 390 Als Kapitelüberschrift in den Erkenntnistheoretischen Fragmenten (1874/79): »Die Philosophie der Erfahrung. Empirie und nicht Empirismus« (GS XVIII, 193; vgl. GS XIX, 17); in einem Brief von Yorck aus derselben Zeit ist vom »Protest der Empirie gegen den Empirismus« die Rede (B 2; vom 23. 11. 1877). Christian Damböck erkennt in diesem Motiv ein Wilhelm Dilthey und Hermann Cohen verbindendes Moment, das repräsentativ für eine Position des »Deutschen Empirismus« sei (vgl. Damböck 2017: 78). 391 Vgl. Sommerfeld 1926: 59 (»Es ist nach Diltheys Lehre wahre Erkenntnis, Erkenntnis der Wirklichkeit, ohne Zuhilfenahme transzendenter und transzendentaler Gesichtspunkte lediglich nach Maßgabe des Gegebenen möglich. Damit ist Diltheys Lehre eine positivistische, ja man kann geradezu sagen, Positivismus in der eigentlichen Vollendung.«). Das entspricht offenbar auch Diltheys Selbstverständnis, nach dem »es damals seine Absicht gewesen sei, noch »positivistischer« zu sein als Comte und Mill« (Groethuysen 1913: 80). 392 GS I, 92, 99 (hier nicht als Selbstzuschreibung, sondern als Lob Giambattista Vicos), 112; V, 35; XVIII, 43, 222 (Anm. 57, 64, 70; in einer handschriftlichen Anmerkung heißt es sogar: »Historische Untersuchung in philosophischer Absicht als charakteristisch für echte Phi-
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systematischen Definition aus, um sich des historischen Materials dann in einem zweiten Schritt zur Illustration deren gradueller Verwirklichung zu bedienen. Noch fasst er alles unter diesem Begriff zusammen, was nur je mit dem Anspruch, Metaphysik zu sein, historisch aufgetreten ist. Sein mittlerer Weg besteht darin, den Begriff der Metaphysik an einem konkreten, historisch-aufweisbaren Exempel zu entwickeln. Diese für Dilthey ausgesprochen typische Annäherung an eine Aufgabe der Begriffsbestimmung auf dem Weg über das historische Material ist jedoch keineswegs selbsterklärend und könnte leicht als methodologische Unklarheit ausgelegt werden. Näher besehen schlägt sich hier jedoch Diltheys positivistische Arbeitsweise nieder: was könnte sonst als gegebenes Material (im Unterschied zu konstruierten begrifflichen Möglichkeiten) gelten als die verschiedenen im Laufe der Geistesgeschichte in Erscheinung getretenen metaphysischen Systeme?393 Die Wahlverwandtschaft zwischen der Haltung des Positivisten und dem nüchternem und faktenfokussierten Berufsethos des Historikers liegt auf der Hand. Das Votum für die Modalität der (sei sie auch vergangenen) Wirklichkeit gegenüber den nahezu unbegrenzten Sphären des Möglichen und Denkbaren, das auch Diltheys methodologische Orientierung grundlegend bestimmt, bringt Herder auf den Punkt. »Geschichte ist die Wissenschaft dessen was da ist, nicht dessen was nach geheimen Absichten des Schicksals etwa wohl seyn könnte.«394
losophie«, Anm. 57). Als ein heutiges Pendant zu Diltheys unkonventionellem Ansatz lassen sich vielleicht am ehesten die Arbeiten von Bernard Williams ansehen, der sein Vorgehen in »Shame and Necessity« als »a philosophical description of an historical reality« (Williams 2008: 4) und als »philosophical understanding of an historical phenomenon« (S. 106) beschreibt. Auch zu Diltheys Orientierung am Wirklichkeitsbezug gibt es eine Entsprechung bei Williams, wenn dieser etwa den Realismus und die praktische Brauchbarkeit der griechischen Moralbegriffe und -theorien gegenüber Kantischen Begriffskonstruktionen hervorhebt (vgl. Williams 2008: 77 (»Kantian construction«), 92, 94f). 393 Begriffsstipulation oder -intuition wären mögliche, nicht unbedingt attraktivere Alternativen. 394 HD XIV, 146; ganz analog auch Leopold Ranke (»Der Unterschied ist, daß sich Philosophie und Poesie entsprechend im Idealen Element bewegen, während die Historie auf ein reales angewiesen ist.«, Kessel 1954: 291); vgl. Nohl 1970a: 111. Vgl. GS VII, 173 (»So wird der Eingriff der Spekulation in das Erfahrungsgebiet des Historikers kaum auf Erfolg rechnen dürfen.«, Hervorhebung hinzugefügt); Rothacker 1972: 64f, 156f. Die Affinität zwischen historischer Perspektive und positivistischer Haltung besteht in beide Richtungen. Zwar führt Comte die Geschichtswissenschaft nicht als eigenständige Wissenschaft in seinen Aufstellungen an, doch hält er die historische Tiefendimension für einen wesentlichen Aspekt jeder Wissenschaft (»Ainsi, nous sommes certainement convaincus que la connaissance de l’histoire des sciences est de la plus haute importance. Je pense même qu’on ne connaît pas complètement une science tant qu’on n’en sait pas l’histoire.« (Comte 1975a: 52f); »car une conception quelconque ne peut être bien connue que par son histoire« (Comte 1975a : 21)). Zudem rechnet er es seiner positiven Philosophie als entscheidenden Vorzug an,
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Ein solches Vorgehen ist sicher nicht unangreifbar, vor allen Dingen erweckt es den Anschein einer unbefriedigenden methodologischen Inkonsequenz. Entweder – so ließe sich Dilthey vorhalten – müsse es doch darum gehen, das historisch vorliegende Phänomen der Metaphysik zusammenzufassen und auf den Begriff zu bringen. Dann müsste allerdings im Sinne einer möglichst vollständigen Induktion so verfahren werden, dass alle erkennbaren Theorieansätze (und warum eigentlich nur Theorieansätze?) in dieser Richtung berücksichtigt würden. Vorgängige Ausblendungen erschienen zu Recht als voreingenommen oder willkürlich, geradezu als wäre die Auswahl des Materials insgeheim bereits durch eine implizite Definition angeleitet. Eine solche rein deskriptive Auffassung der Gestaltungen von Metaphysik verspräche zwar eine maximale Inklusivität395 gegenüber dem historischen Material, führte in letzter Konsequenz jedoch wohl zu einer überbordenden und völlig disparaten Materialsammlung, und auch ihre wichtigste Qualität, möglichste Vollständigkeit, könnte schon aufgrund der Begrenztheit philosophiehistorischen Wissens immer nur annäherungsweise realisiert werden. Ob eine solche Materialsammlung dann überhaupt irgendetwas erkennen lassen würde, wäre zudem eine offene Frage. (Anschauungen ohne Begriff sind schließlich blind.) Um das zusammengetragene historische Material in einem nächsten Schritt im Sinne größerer Prägnanz weiter zu strukturieren (nach Relevanz etwa), wäre man bereits auf die Verwendung entsprechender Kriterien angewiesen, wie sie sich etwa aus einer Metaphysikdefinition ableiten ließen. Die Schwierigkeit bestünde dann allerdings darin, eine allgemein zustimmungsfähige, nicht-partikulare Metaphysikdefinition aufzustellen. Oder eben man finge direkt mit einer solchen Definition an und strukturierte von ihr aus das historische Material. Wenn sich eine solche Definition
dass sie ihrer Vorgeschichte historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen imstande ist (»elle [sc. la saine philosophie] rend une scrupuleuse justice, non seulement aux divers systèmes de monothéisme autres que celui qui expire aujourd’hui parmi nous, mais aussi aux croyances polythéiques, ou même fétichiques, en les rapportant toujours aux phases correspondantes de l’évolution fondamentale.« (vgl. Comte 2009: 123f (§32), hier S. 124)). Dilthey erkennt diese Sensibilität für das Historische bei Comte ausdrücklich an. So bemühe sich Comte, neben Hegel und dem späteren Schelling darum, das eigene »System historisch zu begründen« (GS I, xx). Darüber hinaus habe dieser durch sein enzyklopädisches und sein Dreistadiengesetz »die Grundlage für eine wahre Philosophie der Wissenschaften« geschaffen (GS I, 23). In diesem Sinne hält ihn Gerhard Masur sogar für einen entscheidenden Schritt in der Entfaltung des historischen Bewusstseins (»Comte saw the cumulative influence of past generations on the present. […] He saw discoveries and inventions as the necessary manifestations of the intellectual evolution, a concept from which all cultural history has benefited. In a word, his philosophy of history remains a landmark in the development of historical consciousness.« (Masur 1961: 55)). 395 Unberücksichtigt blieben allerdings Realisierungen der Sache ohne Vorliegen des Ausdrucks, wie es etwa für die klassische ostasiatische Philosophie der Fall ist.
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allerdings nicht wiederum auf Geschichtliches stützte, bestünde die erhebliche Gefahr einer freischwebenden Konstruktion.396 Problematisch an Diltheys Vorgehen scheint nun zu sein, dass er sich an dieser Stelle nicht klar festlegt. Offensichtlich verfügt er durchaus über irgendeinen begrifflichen Maßstab, der es ihm erlaubt, das historische Material in seinem Sinne zu sortieren. Damit distanziert er sich deutlich von einem vermeintlich »vorurteilsfreien«, rein induktiven Verfahren. Anstatt nun aber andererseits eine rein begriffliche Definition von Metaphysik zu explizieren (und sei sie nur vorläufig) und mit ihrer Hilfe das historische Material zu ordnen, erhebt er die Erste Philosophie des Aristoteles zur maßgeblichen Instanz und entwickelt an ihr die zentralen Bestimmungen seines Metaphysikbegriffs. Das wirkt unweigerlich zirkulär, insofern als Dilthey, wenn er seine Auszeichnung des Aristoteles zum disziplinären Paradigma in diesem Zusammenhang begründen sollte, vermutlich zugeben müsste, dass er bei dieser Entscheidung doch offensichtlich bereits eine implizite Definition bemüht habe. Ein sauber arbeitender Philosoph hätte genau diese Vorannahme zu explizieren und zu erläutern. Dass Dilthey sich in diesem und vielen weiteren Fällen zu der Ebene rein begrifflicher Bestimmungen nicht durcharbeitet, scheint ein weiteres Mal seine Verworrenheit oder Impotenz in systematischer Hinsicht zu beweisen. Dieser Vorwurf selbst erweist allerdings, wie hartnäckig die metaphysische Denkform, von der sich Dilthey in erstaunlicher Radikalität und Konsequenz zu befreien bemühte, (immer noch) zum philosophischen Habitus zu gehören scheint. Die Forderung, dass eine philosophische Untersuchung erst dann festen Boden erreicht habe, wenn es ihr gelingt, ihre zentralen Begriffe und Propositionen in einem völlig ahistorischen, kontextlosen, von Eigennamen gereinigten Vokabular zu fassen, lebt von dem metaphysischen Glauben an einen explizierbaren »logischen Weltzusammenhang«, an eine ideale Sphäre stabiler begrifflicher Gehalte, etwa im Sinne substantialer Formen, die räumlicher und zeitlicher Veränderung enthoben wären und letztlich bestimmten, was eine Sache im Wesentlichen ausmacht.397 Aufzuweisen, wie konsequent Diltheys ganzes Denken gegen genau diese Vorstellung gerichtet ist, ist ein zentrales Anliegen unserer Darstellung. Dieser vorgreifend sei festgehalten, dass es ihm im Kern darum zu tun ist, den Eindruck, dass erst mit der idealen Sphäre rein begrifflicher Be-
396 Neben der hier knapp wiedergegebenen geisteswissenschaftlichen Begriffsbildung im zweiten Buch der Einleitung findet sich bei Dilthey in der Abhandlung vom Wesen der Philosophie eine ausführlichere Reprise dieses Vorgangs anhand des Philosophiebegriffs. Diese zeichnet sich durch einen höheren Grad an methodologischer Selbstreflexion und eine größere Ausführlichkeit aus. Siehe dazu den Anhang. 397 GS I, 386. Zur (heute würde man sagen: »essentialistischen«) Metaphysik der »substantialen Formen« vgl. GS I, 201–208; Rorty 2018: 268, 361–364.
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stimmungen im philosophischen Sinne »fester Boden« erreicht sei, als hartnäckige Illusion zu durchschauen. Die begrifflichen Bestimmungen sind für Dilthey zwar weiterhin von zentraler Bedeutung. Allerdings ent- und bestehen sie auf dem Boden der konkreten Geschichte und dienen uns dazu, uns unter nichtidealen Bedingungen zu orientieren. Auch der Begriff »Metaphysik« bezeichnet in Diltheys empirischer Perspektive demnach nicht eine für sich bestehende Wesenheit, die im Lauf der Geschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem konkreten Kulturkreis eben entdeckt worden ist und in der Folge schlechtere und bessere Realisationen erlebt habe. Stattdessen ist er zu verstehen als pointierte Heraushebung eines prägnanten Musters innerhalb der historischen Erfahrung selbst, das uns dazu dient, historische Phänomene zu einem bestimmten Zweck zusammenzufassen. Nicht deshalb ist Aristoteles relevant für den Begriff der Metaphysik, weil er die klarste historisch greifbare Realisierung eines unabhängig von der Geschichte explizierbaren Schemas einer besonderen philosophischen Disziplin geleistet hätte, sondern weil die Menschheit an ihm und mit ihm allererst gelernt habe, die Gestalt einer Unternehmung namens Metaphysik zu unterscheiden.398 Eine Unterscheidungsleistung, die auch noch Jahrhunderte nach ihm nicht unwesentlich durch Rückgriff auf seine Theorie stabilisiert wird. Festzuhalten ist dabei, dass Diltheys historisches Verfahren der Begriffsbestimmung keine Unterwerfung unter die Autorität vermeintlicher Ursprünge bedeutet, denn dem sich ergebenden Traditionszusammenhang, der sich zum Teil eben durch Rückgriffe auf den Ausdruck »Metaphysik« konstituiert, aber genauso auch durch Umformungen und Fortsetzungen, kommt zur inhaltlichen Bestimmung des begrifflichen Gehalts nicht notwendig weniger Gewicht zu als dem Startpunkt dieser geschichtlichen Linie. Um seine Orientierungsleistung zu entfalten, ist es nicht erforderlich, dass sich der Begriff »Metaphysik« unter Angabe hinreichender und notwendiger Eigenschaften definieren lässt. Sofern dies für einen Zeitraum möglich ist, ist von einer Phase hochgradiger kultureller Stabilität auszugehen, um nicht zu sagen: von Stagnation.399 Die Notwendigkeit eines historischen Blicks auf das Phänomen der Metaphysik ergibt sich für Dilthey zudem aus einer eigentümlichen Diskrepanz. Einerseits habe spätestens Kant die Unmöglichkeit der materialen dogmatischen Schulmetaphysik deutlich gemacht. (»Wohl hat das 18. Jahrhundert die Meta-
398 Vgl. GS I, 129–131. 399 Diese Offenheit und Plastizität der geisteswissenschaftlichen Begriffsbildung und -fortbildung entspricht im Wesentlichen der Sicht Stanley Cavells auf Wittgensteins Theorie des Sprach- und Begriffserwerbs, für die die Projektion von etablierten Ausdrücken in neue Kontexte ein zentrales Element darstellt, das sich nicht durch einen Rekurs auf Definitionen vermeiden lässt (vgl. Cavell 1999: 168–190).
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physik widerlegt.«400) Andererseits ist »Metaphysik […] die Verfassung der Wissenschaft, unter deren Herrschaft das Studium des Menschen und der Gesellschaft sich entwickelt haben und unter deren Einfluß sie noch heute, wenn auch in vermindertem Umfang und Grade, stehen.«401 Diese eigentümlich hartnäckige Beharrungskraft und Wirkmächtigkeit metaphysischen Denkens unter inzwischen vermeintlich vollständig verwissenschaftlichten Bedingungen sieht Dilthey in Comtes transitorischer Metaphysikkonzeption nicht eigentlich berücksichtigt; eine Lücke, die er auf historischem Wege zu schließen beabsichtigt: »durch […] gründliche Versenkung in den Geist des Vergangenen, in die Erforschung der Geschichte des Gedankens haben wir nun andererseits die Mittel erworben, die Metaphysik in ihrem Ursprung, ihrer Macht und ihrem Verfall geschichtlich zu erkennen.«402
Diese Funktion kommt im Rahmen der Einleitung dem zweiten Buch zu, das Dilthey selbst als »Phänomenologie der Metaphysik« bezeichnet.403 Dessen Programm bestimmt Manfred Riedel treffend als »Darstellung und Kritik der Erscheinungsgeschichte der Vernunft und ihres in den metaphysischen Systemen von Antike, Mittelalter und Neuzeit sedimentierten Scheins.«404 Die Anknüpfung an Hegels Konzept der Phänomenologie ist offenkundig und in einer brieflichen Bemerkung macht Dilthey diesen Bezug weiter explizit: »Das zweite Buch hat in dem Zusammenhang meiner Gedanken eine Aufgabe, welche ich etwa der Stellung der Phänomenologie Hegels in dessen System vergleichen könnte.«405 Zieht man, dieser Bemerkung folgend, in Betracht, dass Hegel seine Phänomenologie als »Darstellung des erscheinenden Wissens« vorstellt, wirkt die zitierte Charakterisierung Riedels noch treffender.406 Bedenkt man ferner, dass Hegel die Phänomenologie als ersten Band eines »Systems der Wissenschaft« konzipierte und sie zunächst »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins« betitelte,407 lässt sich womöglich ein weiterer Gesichtspunkt für die Einordnung des zweiten Buches der Einleitung in das (unvollendete) Werk und in den Kreis von Diltheys philosophischen Überzeugungen gewinnen. In diesem Sinne wäre also das zweite Buch der Einleitung als Versuch Diltheys zu verstehen, durch eine in spezifischer Absicht organisierte Rekapitulation der Metaphysikgeschichte in ihren wesentlichsten Abschnitten und Begebenheiten in seiner Leserschaft eine historische Erfahrung zu induzieren, die diese dazu befähigen 400 401 402 403 404 405 406 407
GS I, 125. Ebd. Ebd. GS I, 395; vgl. Frischeisen-Köhler 1912a. Riedel 1978b: 46. GS V, 434; vgl. GS XIX, 389–392, 453. Hegel 1988: 60. Vgl. Hegel 1988: 1, 547f.
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solle, ihren Blick auf das Ganze der Metaphysikgeschichte einzustellen, zu schärfen und zu strukturieren. Für den systematischen Philosophen vermutlich wiederum ein verdächtiger Zug. Metaphysische Behauptungen sind im Einzelnen und ausschließlich sachlich zu kritisieren; philosophiehistorischen Panoramen kommt demgegenüber kein eigenständiger argumentativer Wert zu, wenn man ihnen auch einen gewissen rhetorischen Effekt zuerkennen mag. Hier wendet sich Dilthey wiederum gegen den philosophischen common sense. Seinem Vorgehen in der Einleitung ist zu entnehmen, dass er auch dem historischen Durchgang durch die Metaphysikgeschichte einen eigenständigen und unverzichtbaren Erkenntniswert neben der rein systematischen Argumentation zuschreibt, deren Berechtigung und Bedeutung er dabei mit keinem Wort schmälert.408 Wahrscheinlich lässt sich ihm sogar darüber hinaus die Überzeugung zuschreiben, dass nur ein durch historische Erfahrung belehrtes Bewusstsein sinnvoll mit »der Metaphysik« im emphatischen Singular zu hantieren befähigt bzw. dass ein solches allererst »die Metaphysik« als prägnante Gestalt wahrzunehmen in der Lage sei,409 wohingegen es ein rein systematisch arbeitendes Bewusstsein ausschließlich mit Einzelproblemen zu tun habe und daher in einem eher pointilistischen Verhältnis zum Gesamtphänomen befangen bliebe. Zum Aufbau des zweiten Buchs der Einleitung Die Geschichte der Metaphysik wird von Dilthey (ganz herkömmlich) in drei Epochen gegliedert, deren Übergänge von zwei markanten Zäsuren gebildet werden: das Aufkommen des Christentums bedeutet den Übergang von der Antike zum Mittelalter und das Auftreten des »modernen Menschen« den Schritt vom Mittelalter in die Neuzeit.410 Auch wenn Dilthey vor der Überschätzung solcher Epochenabgrenzungen warnt, hält er sie doch für hilfreiche Kennzeichnungen von spezifischen »Stellung[en] des metaphysischen Bewußtseins zu der geistigen Welt« und deutet sie darüber hinaus auch als »tiefe« (und gelegentlich sogar als »wesenhafte«) »Veränderung[en] im menschlichen Seelenleben«.411 Schematisch lässt sich der Verlauf der Geschichte der (europäischen) Metaphysik nach Dilthey wie folgt darstellen:
408 Vgl. 125f. 409 Vgl. GS I, 123 (»Dem mit den Geisteswissenschaften Beschäftigten will dasselbe [sc. Werk, d.i. die Einleitung] sonach gleichsam die Organe für die Erfahrung der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt ausbilden.«). 410 Vgl. GS I, 250–255, 351–359. 411 GS I, 351, 252, 251, 354.
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I. Antike 1. vorwissenschaftliche Zustände: Welterschließung und -deutung im Medium des Mythos (GS I, 123–149); 2. Entstehung von Metaphysik und Wissenschaft als zunächst ungetrennten intellektuellen Unternehmungen: vorsokratische Metaphysik als Prinzipienwissenschaft (GS I, 150–158); monotheistische Metaphysik (GS I, 158–169); mechanische Weltansicht (GS I, 169–174); Sophisten (GS I, 174–179); 3. Konstituierung der Metaphysik als eigenständiger Disziplin: Plato (GS I, 179– 192); Aristoteles (GS I, 192–215); → 4. Die Metaphysik mündet in die Aporien des Skeptizismus; gleichzeitig gewinnen die Einzelwissenschaften an Eigenständigkeit (GS I, 235–249).
II. Mittelalter 1. im Rahmen der frühchristlichen, patristischen Literatur entsteht eine neue Form, eine »zweite Klasse« von Metaphysik: an die Stelle der aristotelischen Substanzontologie tritt eine »Metaphysik des Willens«412; 2. das mit dem Ansatz einer Metaphysik des Willens an sich gegebene geistesgeschichtliche Innovationspotenzial wird von Augustinus verschenkt, indem dieser es, im Sinne eines Anschlusses an die antike Tradition, in die alten Schläuche des Platonismus füllt (GS I, 255–273); 3. Entstehung der Scholastik & Hochscholastik: Synthese christlicher Dogmatik mit arabischem Naturwissen und aristotelischer Philosophie (GS I, 273–317); → 4. Aufbrechen der Antinomien, die sich zum einen aus dem religiösen Bewusstsein selbst ergeben: Allmacht und Allwissenheit Gottes/Freiheit des Menschen (GS I, 279–286), Inkonsistenz der göttlichen Attribute (GS I, 286– 291); zum anderen aus der Verknüpfung von christlicher Theologie und aristotelischer Physik und Metaphysik: Apersonalität und Intellektualität des »ersten Bewegenden«/Personalität und Willensnatur der christlichen Gottesvorstellung (GS I, 318–324), Ewigkeit der Welt und Schöpfungslehre (GS I, 324–327); die Explikation dieser Antinomien führt zu den theoretischen Radikalismen des spätmittelalterlichen Nominalismus (GS I, 327f).
III. Neuzeit 1. Entstehung des modernen wissenschaftlichen Bewusstseins (GS I, 351–359); Wissenschaftliche Revolution: Erfolg der von der aristotelischen Physik und Metaphysik emanzipierten Naturwissenschaften (GS I, 359–373);
412 GS I, 267; siehe Abschnitt 2.4.2.
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2. Im Wesentlichen auf der Grundlage rationalistischer Metaphysik und im Rahmen aufklärerischer Anstrengungen wird im 17. und 18. Jahrhundert »das natürliche System der Erkenntnis der menschlichen Gesellschaft, ihrer Zweckzusammenhänge wie ihrer äußeren Organisation« ausgebildet, u. a. als Reaktion auf die Verheerungen durch die Konfessionskriege;413 3. die philologisch-kritische einzelwissenschaftliche Forschung der Geisteswissenschaften, deren produktiver und methodologischer Höhepunkt in der Historischen Schule zu sehen ist, untergraben die begrifflichen Konstruktionen der Aufklärungsphilosophie samt ihres »natürlichen Systems« in den verschiedenen Disziplinen, die sich zudem als unergiebige Grundlage einzelwissenschaftlicher Forschung erweisen (GS I, 373–386); → 4. der u. a. durch die Quellen- und Dogmenkritik herbeigeführte Traditionsabriss und die durch die universalistischen, begrifflich-idealen Konstruktionen der Aufklärungsphilosophie freigesetzte Radikalität führen zu erheblichen politisch-geistigen Umwälzungen (v. a. zur Französischen Revolution und ihren Folgen);414 letztlich sind die politische Instabilität sowie die geistig-moralische Orientierungslosigkeit und Anarchie der westlichen Gesellschaften zum Ende des 19. Jahrhunderts als deren Nachwirkungen zu anzusehen. Das Fazit dieses schematischen Durchgangs Diltheys durch die Philosophiegeschichte scheint klar: das Geschäft der Metaphysik ist ein aporetisches, es führt unweigerlich auf Antinomien, begünstigt letztlich nur den Skeptizismus und stellt in keiner Weise eine geeignete Grundlage für fruchtbare Einzelforschung dar.415 Da die Neuzeit anders als die Antike und das Mittelalter Dilthey nicht als abgeschlossene historische Gestalt vorliegt, sondern noch dabei ist, ihren geistesgeschichtlichen Ort zu bestimmen, wechselt Dilthey am Ende des zweiten Buches der Einleitung von der historischen Darstellung zur systematischen Argumentation und beschließt seine Phänomenologie der Metaphysik mit einer »Schlussbetrachtung über die Unmöglichkeit der metaphysischen Stellung des Erkennens«.416 Die Lehre, die Dilthey seinem Leser und seiner Leserin nahelegt, ergibt sich bereits aus der Betrachtung jeder einzelner Epoche; umso eindringlicher daher der Vortrag desselben Themas in drei Variationen: »Metaphysik als Wissenschaft ist unmöglich.«417 413 GS I, 379. 414 GS I, xv–xvi. 415 Dilthey bezeichnet den Skeptizismus wiederholt als den »Schatten der Metaphysik« (vgl. GS I, 125: »An der Pforte der Geisteswissenschaften tritt uns daher die Metaphysik gegenüber, begleitet von dem Skeptizismus, der von ihr unabtrennlich ist, gleichsam ihr Schatten.«). 416 Vgl. GS I, 386–408. Diese Argumentation wird in Abschnitt 2.4 rekonstruiert. 417 GS I, 398.
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Übergangen wurde bisher allerdings, dass Dilthey die Metaphysik nicht allein als kognitives Phänomen im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte analysiert, sondern ihr eine deutlich breitere psychologische und gesellschaftliche Funktionalität und Einbettung attestiert. Ein rein problemgeschichtlicher Blick auf die Philosophiegeschichte ist sicherlich sinnvoll für bestimmte theoretische Anliegen, als allgemeiner Rahmen der Philosophiegeschichte aber als zu eng abzulehnen.418 »Die ganze Phänomenologie der Metaphysik hat gezeigt, daß die metaphysischen Begriffe und Sätze nicht aus der reinen Stellung des Erkennens zur Wahrnehmung entsprangen, sondern aus der Arbeit desselben an einem durch die Totalität des Gemüts geschaffenen Zusammenhang.«419
Wenn metaphysische Theorien nicht lediglich protowissenschaftliche, im besten Fall heuristische Funktionen erfüllen, sondern eben auch weltanschauliche und soziale Integrations- und Orientierungsleistungen erbringen, wird verständlich, weshalb sie sich auch unter den Bedingungen eines weitgehend entfalteten Wissenschaftsspektrums weiterhin halten. Ein Umstand, den Comtes Konzeption der Metaphysik als eines reinen Übergangsstadiums, nicht erklären konnte. Besonders hartnäckig wirke sich die metaphysische Erkenntnishaltung gegenüber der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit aus. Während sich die Naturwissenschaften, d.i. in erster Linie die Astronomie und Physik, im 16. und 17. Jahrhundert von der Autorität metaphysischer Theorien weitgehend befreien und als positive Wissenschaften etablieren konnten, ist dieser Prozess für die Geisteswissenschaften, trotz der bahnbrechenden Arbeiten der Historischen Schule, in den Augen Diltheys noch nicht abgeschlossen. Der Fortführung dieses Vorgangs fühlt sich Dilthey mit seiner eigenen »historischen Forschung in systematischer Absicht« wesentlich verpflichtet und ergänzt daher seine Darstellung der Metaphysikgeschichte, die sich ansonsten stark auf ontologische Fragestellungen konzentriert, um die Dimension der theoretischen Thematisierung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit in Antike und Mittelalter.420 Um die Funktion der Phänomenologie der Metaphysik zusammenfassend zu charakterisieren, ist ein weiterer kurzer Seitenblick auf Hegels Phänomenologie hilfreich. Beiden gemein ist, dass die Entfaltung jeder Gestaltung des Geistes (für Dilthey handelt es sich in jeder betrachteten geistesgeschichtlichen Epoche um (Neu-)Ansätze zu einer metaphysischen Wissenschaft unter jeweils verschiede418 Eine strikte Zusammenziehung der Philosophiegeschichte auf eine Problemgeschichte wurde etwa von Nicolai Hartmann vorgeschlagen (vgl. Hartmann 1936). 419 GS I, 395. Damit zeichnet sich ein zentraler Gedanke von Diltheys späterer Theorie der Weltanschauungen ab (siehe Abschnitt 2.5); ein Unternehmen, das im 20. Jahrhundert u. a. von Ernst Topitsch als »Weltanschauungskritik« aufgegriffen und fortgesetzt wurde. 420 Vgl. GS I, 215–235, 328–350.
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nen Bedingungen) durch ihr Scheitern letztlich ihre impliziten Antinomien an den Tag bringt. Anders als bei Hegel ist für Dilthey mit diesem negativen Resultat nicht bereits auch schon der nächste weiterführende Schritt gegeben. Seine Geschichte der Metaphysik hat einen stark betonten aporetischen Charakter: das metaphysische Theorieprogramm führt in jeder beobachtbaren Geistesepoche in eine Sackgasse (Skeptizismus, Nominalismus, Anarchie). Der Fortgang über diese theoretischen Endstationen hinaus wird jeweils angestoßen durch kontingente externe Impulse: durch das Auftreten des Christentums, (d.i. die Entdeckung der inneren Welt mit ihrer spezifischen Form der Selbstgewissheit,) und durch die Entstehung des modernen wissenschaftlichen Bewusstseins im Rahmen der emanzipierten natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Auch wenn Dilthey seine Phänomenologie nicht im engeren Sinn dialektisch anlegt, scheint auch bei ihm der geschichtliche Ablauf, jedenfalls insofern er durch das dann »historisch« zu nennende Bewusstsein angeeignet wurde, ein genuines Bildungserlebnis zu ermöglichen. Anders als in Hegels Phänomenologie gehört der Lernprozess aber nicht wesentlich zum Dargestellten selbst, sondern zur anvisierten Wirkungsdimension der Darstellung. Die Phänomenologie der Metaphysik präsentiert nicht selbst einen einheitlichen Lernprozess (keine Lessingsche »Erziehung des Menschengeschlechts«), sondern versucht aufseiten ihrer Rezipienten einen Beitrag zur Ausbildung und Schärfung des historischen Bewusstseins und damit letztlich zur Aufklärung zu leisten. Um dem Beweisziel Diltheys, dass es sich bei der Metaphysik um ein aussichtsloses Theorieprojekt handelt, näher zu kommen, ist es allerdings nötig die Phänomenologie mit entsprechenden systematischen Argumentationen zu flankieren. Insbesondere ist erforderlich aufzuweisen, inwiefern es sich bei der von ihm dargestellten Entwicklung tatsächlich um ein einheitliches Phänomen handelt; inwiefern also »die Metaphysik« über die Epochengrenzen hinweg (und natürlich auch bereits innerhalb dieser Grenzen) eine hinreichend durchgängige Identität aufweist, um sie zum Träger einer sinnvollen und überzeugenden geistesgeschichtlichen Narration machen zu können. Die philosophische Relevanz der Phänomenologie scheint daher daran zu hängen, ob sie entweder selbst auf einen hinreichend klaren und distinkten Begriff von Metaphysik hinführt oder sich zumindest mit einem solchen verbinden lässt. Eine solche begriffliche Klärung würde zudem ermöglichen, einige Zweideutigkeiten und Ungereimtheiten, die im Rahmen des zweiten Buches der Einleitung auftreten, einzuordnen und aufzulösen. So bezeichnet Dilthey zu Beginn seiner Phänomenologie die Metaphysik im Stile des Aristoteles, die er seiner Verwendung des Ausdrucks »Metaphysik« und seiner ganzen historischen Untersuchung zugrunde legt, einerseits als »geschichtlich begrenzte Erscheinung«.421 Andererseits scheint es 421 GS I, 133.
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spätestens beim Übergang in die Neuzeit zunehmend unangemessener, Diltheys Ausführungen lediglich als Kommentar zur Wirkungsgeschichte der Aristotelischen Metaphysik zu verstehen. Zudem formuliert er selbst einige Bestimmungen der Metaphysik, die einen eindeutig systematischen Charakter aufweisen und ohne historischen Bezug auskommen: »[…] Metaphysik ist eben das natürliche System, welches aus der Unterordnung der Wirklichkeit unter das Gesetz des Erkennens entspringt.«422
Um das Verhältnis von historischem und systematischem Metaphysikbegriff näher bestimmen zu können, ist es zunächst angezeigt, den systematischen möglichst explizit zu machen.
2.3
Der Begriff der Metaphysik »Wesentlich ist dem Positivismus die antimetaphysische Haltung, aber was sie sei, ist so lange nicht leicht zu sagen, wie man nicht sagen kann, was denn Metaphysik ist.«423
Eine erste Bestimmung des Begriffs der Metaphysik ergibt sich, wenn man sich an die jeweils negative Seite der sechs Disjunktionen hält, mit denen Comte die Bedeutung des Positiven erläutert. Sie wäre demnach als (1) befasst mit Fiktivem (etwa durch Einführung ungeklärter oder problematischer Entitäten und freischwebende Begriffskonstruktionen), (2) müßig (ihre Probleme ausschließlich durch theoretische Neugier motiviert, Ausklammerung möglicher Anwendungsdimensionen, Desinteresse an der eigenen sozio-kulturellen Einbettung), (3) ungewiss (bspw. entziehen sich ihre Sätze der Kontrollierbarkeit oder hängen von unüberprüfbaren Voraussetzungen ab), (4) vage (mit zentralen Termini ist häufig keine bestimmte oder keine vollziehbare Bedeutung verbunden), (5) destruktiv (sie führt typischerweise zur Problematisierung tradierter dogmatischer Gehalte und zur Auflösung sittlicher Substanz, taugt aber nicht als Grundlage konstruktiver gesellschaftlicher Bestrebungen) und (6) einen absoluten Anspruch erhebend (zeichnet sich durch einen epistemologisch-ontologischen Fundamentalismus bzw. Dogmatismus aus) zu bestimmen.
422 GS I, 125. 423 von Kempski 1992b: 346.
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Diese sich aus den Übereinstimmungen Diltheys mit Comte ergebenden Charakterisierungen stecken das Feld zur begrifflichen Bestimmung der Metaphysik bereits ganz gut ab. Dilthey selbst nimmt gleichwohl, wie gesehen, bei seiner ersten Annäherung an den Begriff der Metaphysik seinen Ausgang von Aristoteles, »weil diese Wissenschaft durch Aristoteles ihre selbstständige, von den Einzelwissenschaften klar unterschiedene Gestalt empfangen hat«.424 Anhand der einschlägigen wissenschaftstheoretischen Unterscheidungen zu Beginn der Aristotelischen Metaphysik entwickelt Dilthey folgende Bestimmungen der Ersten Philosophie: (1) sie ist eine Wissenschaft (ἐπιστήμη, 982a); vom bloßen Erfahrungswissen unterscheidet sie sich durch Einsicht in die Gründe und Prinzipien der Phänomene; (2) sie unterscheidet sich von allen Einzelwissenschaften und ist von größter »Allgemeinheit«, sie allein handelt vom »Seienden als Seiendem« und nicht wie jene von einem bestimmten (und daher begrenzten) Gegenstandsbereich (1003a20); (3) sie ist die höchste Wissenschaft, da sie die »Wissenschaft des im höchsten Sinne Wißbaren« ist, d.i. der »ersten Prinzipien und Ursachen«, von denen alle Einzelwissenschaften abhängen (»denn durch diese [sc. Prinzipien und Ursachen] und aus diesen wird das andere erkannt, aber nicht dies aus dem Untergeordneten«, (982b)). Die Metaphysik im Sinne dieser Strukturvorgabe des Aristoteles habe sich als eine erstaunlich beständige Disziplin erwiesen, von der die folgenden Jahrhunderte zwar verschiedene Seiten hervorgehoben haben mögen, ihre Grundidee aber im Wesentlichen unverändert gelassen haben. Nach Dilthey war es nun vor allem Immanuel Kant, der den Begriff der (dogmatischen) Metaphysik weitergehend bestimmt habe: »Alle Metaphysik überschreitet die Erfahrung. Sie ergänzt das in der Erfahrung Gegebene durch einen objektiven und allgemeinen inneren Zusammenhang, welcher nur in der Bearbeitung der Erfahrung unter den Bedingungen des Bewußtseins entsteht.«425 Nach Kant unterscheidet sich die Metaphysik von den Einzelwissenschaften nicht lediglich durch ihre größere Allgemeinheit, was einen bloß quantitativen Unterschied ausmachen würde, sondern ihre Sätze erheben als »Erkenntnis a priori« Anspruch auf »unbedingte Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit« und können sich daher grundsätzlich nicht ausschließlich auf Erfahrung stützen. 424 GS I, 129; zum Folgenden vgl. GS I, 129–134; in der Sache übereinstimmend: vgl. Gander 1988: 13–25; GS XXIII, 39 (»Diese Metaphysik des Aristoteles ist das Grundwerk für alles metaphysische Denken bis in das 17. Jahrhundert n. Chr.«, Hervorhebung im Original). 425 GS I, 130f (Hervorhebung entfernt).
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Damit weisen sie gegenüber den Sätzen der empirischen Einzelwissenschaften eine »entschiedene Ungleichartigkeit« auf.426 Die Kantischen Kennzeichen einer Erkenntnis a priori erlauben es, metaphysische Positionen präzise von einzelwissenschaftlichen Erkenntnissen zu unterscheiden, auch dann, wenn jene als solche ausgeben werden. »In diesem Verstande ist der Materialismus oder der naturwissenschaftliche Monismus so gut Metaphysik als die Ideenlehre Platos […]«427 Im Kern der Metaphysikauffassung Diltheys stehen demnach ontologische Theorien, die den Anspruch erheben, die Strukturiertheit der Welt in einem letztgültigen und universalen Sinne zu explizieren. In einem gewissen Sinne bestimmt Dilthey damit den Metaphysikbegriff von den beiden Enden seiner historischen Entfaltung her: aus den zentralen Bestimmungen der Aristotelischen prima philosophia und damit einerseits von der Begründung der Metaphysik als eigenständiger Disziplin her und andererseits durch die Kantischen Kennzeichen dogmatischer Metaphysik, mithin von ihrem Endpunkt her, ergibt sich ein vorläufiger Metaphysikbegriff, mit dem Dilthey das geistesgeschichtliche Material metaphysischer Theoriebildung sortiert. Dabei ist ihm wichtig, dass dieser heuristische Metaphysikbegriff, den er seiner historischen Untersuchung zugrunde legt, allgemein zustimmungsfähig ist.428 Das wird man ihm wohl auch konzedieren; eine Stellungnahme zur Metaphysik, die nicht in erkennbarer Weise in einem Zusammenhang zu den Fragestellungen der Metaphysik des Aristoteles und der Kritik der reinen Vernunft steht, wird kaum einen legitimen Anspruch auf den Titel dieser Disziplin erheben zu können. Nach dem Durchgang durch die Geschichte der Metaphysik im zweiten Buch der Einleitung unternimmt Dilthey den Versuch, die Vielfalt metaphysischen Denkens »durch eine allgemeine Betrachtung zu vereinigen«.429 Diese Betrachtung führt ihn darauf, dass sich ein Motiv wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte der Metaphysik, gewissermaßen von Parmenides bis Hegel, hindurchziehe. Es ist dies die Vorstellung eines »logischen Weltzusammenhangs als Ideal der Metaphysik«. Dieser Ausdruck soll besagen, dass metaphysische Theorien typischer- (und letztlich sogar) notwendigerweise einen logischen Weltzusammenhang voraussetzen und darzustellen anstreben. Die Notwendigkeit dieser Voraussetzung wird schon in der Beschreibung, die Aristoteles von der Methode der Ersten Philosophie gibt, ersichtlich. Denn, so Dilthey, »[g]eht man von dem Gegebenen zu seinen Ursachen, so kann ein solcher Rückgang seine Sicherheit nur aus der Denknotwendigkeit des Schlußverfahrens empfan-
426 KrV B 3f, 871f. Anders als Kant behauptet Aristoteles für die Metaphysik keine prinzipielle Erfahrungsunabhängigkeit, sondern lediglich eine besondere Erfahrungsferne (982a25). 427 GS I, 130. 428 Vgl. GS I, 130. 429 GS I, 386.
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gen«;430 besonders dann, wenn der Rückgang bis zu den Prinzipien und ersten Ursachen reichen soll, da diese auch nach Aristoteles am weitesten von der Kontrolle durch sinnliche Erfahrung entfernt sind. Setzt man mit Kant die Anschauungsgebundenheit aller Erkenntnis voraus und lehnt zudem die Existenz einer intellektuellen Anschauung ab, folgt daraus, dass metaphysische Wahrheiten grundsätzlich erschlossene Wahrheiten sind. Dieser trivial anmutende Umstand setzt allerdings wiederum voraus, dass – sollen die erschlossenen Sätze der Metaphysik verlässlich sein – die Wirklichkeit den basalen Gesetzmäßigkeiten des logischen Schließens nicht widerspreche.431 Als Indiz eines gewissen Bewusstseins für diese zu investierende Voraussetzung vonseiten des Aristoteles lässt sich der Umstand anführen, dass das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch bei ihm neben dem logisch/semantischen auch in einem objektiv/ ontologischen Sinne Verwendung findet.432 In Leibniz’ Satz vom Grunde werde diese grundlegende Voraussetzung aller Metaphysik mit letzter Klarheit zum Ausdruck gebracht, und daher habe mit ihr nach Diltheys Einschätzung »die Metaphysik ihren formalen Abschluß erreicht. Denn der Satz ist nicht ein logisches, sondern ein metaphysisches Prinzip d. h. er drückt nicht ein bloßes Gesetz des Denkens, sondern zugleich ein Gesetz des Zusammenhangs der Wirklichkeit und damit auch die Regel der Beziehung zwischen Denken und Sein aus.«433 In seiner vollständigsten Formulierung lautet er: »Ce principe est celui du besoin d’une raison suffisante, pour qu’une chose existe, qu’une événement arrive, qu’une vérité ait lieu.«434
Die »Regel der Beziehung zwischen Denken und Sein«, die Dilthey bei Leibniz zum Prinzip erhoben sieht, wird weiter expliziert von Christian Wolff, auf den sich Dilthey im selben Zusammenhang und im gleichen Sinne beruft. »Wo etwas vorhanden ist, woraus man begreifen kann, warum es ist, das hat einen zureichenden Grund. Derowegen wo keiner vorhanden ist, da ist nichts, woraus man begreifen kann, warum etwas ist, nehmlich warum es würklich werden kann, und also muß es aus nichts entstehen. Was demnach nicht aus nichts entstehen kann, muß einen zureichenden Grund haben, warum es ist, als es muß an sich möglich seyn und eine 430 Ebd. 431 So setzt etwa die Verwendung indirekter Beweisverfahren die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit voraus, sowie die Möglichkeit, die Vollständigkeit von Disjunktionen sicherzustellen. »Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit« soll heißen, dass Präpositionen, die sich kontradiktorisch zueinander verhalten, nicht zugleich wahr sein können. 432 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1005b35–1006a30; ontologisch: 1005b19 f; psychologisch 1005b23f. 433 GS I, 388. 434 GS I, 388; Dilthey zitiert aus dem fünften Brief von Leibniz an Samuel Clarke (§125). Vgl. Riedel 1985: 201–205; Todorov 2004: 501.
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Ursache haben, die es zur Würklichkeit bringen kann, wenn wir von Dingen reden, die nicht nothwendig sind. Da nun unmöglich ist, daß aus nichts etwas werden kann; so muß auch alles, was ist, seinen zureichenden Grund haben, warum es ist, das ist, es muß allezeit etwas seyn, daraus man verstehen kann, warum es würklich werden kann. Diesen Satz wollen wir den Satz des zureichenden Grundes nennen.«435
Um näher zu bestimmen, inwiefern der Satz vom Grunde über den Satz des Melissos436, den Christian Wolff in seine Formulierung mitaufnimmt, hinausgeht, bietet sich Diltheys bereits zitierte Charakterisierung der Metaphysik an: »[…] Metaphysik ist eben das natürliche System, welches aus der Unterordnung der Wirklichkeit unter das Gesetz des Erkennens entspringt«.437 Gegenüber dem Satz des Melissos zeichnet sich der Wolffsche Satz vom Grunde zunächst durch eine Unterscheidung von Gründen und Ursachen aus, wobei Gründe diejenige Instanz sind, die die Verstehbarkeit der Dinge sicherstellen, Ursachen hingegen lediglich als Träger von Gründen in den Blick genommen werden.438 Um im Satz vom Grunde mit Dilthey eine »Unterordnung der Wirklichkeit unter das Gesetz des Erkennens« auszumachen, muss man ihn offenbar dahingehend lesen, dass mit ihm das Bestehen eines lückenlosen Nexus von Gründen und Ursachen behauptet und damit die Gewährleistung rationaler Verstehbarkeit zur notwendigen Existenzvoraussetzung der Gegenstände selbst erklärt werde. Scharf formuliert: existieren kann nur, was den Bedingungen der Verständlichkeit entspricht. Insofern würde der Satz vom Grunde in der Tat die Voraussetzung eines veritablen »logischen Weltzusammenhang[s]« bedeuten.439 Diese durch den Satz vom Grunde explizit gemachte stabile und gleichsinnige Zuordnung von Seinsund Denkstrukturen ist ein Theoriemoment, das Dilthey bereits bei Aristoteles angelegt sieht, weshalb er sagen kann: »Hiernach bedeutet der Satz des zureichenden Grundes die Behauptung von einem lückenlosen, logischen Zusammenhang, der jede Tatsache und entsprechend jeden Satz in sich faßt: er ist die Formel für das von Aristoteles in engerem Umfang aufgestellte Prinzip der Metaphysik, welches nunmehr nicht nur den Zusammenhang des Kosmos in Begriffen d. h. ewigen Formen, sondern den Grund jeder Veränderung und zwar auch in der geistigen Welt in sich faßt.«440
435 Wolff 1983: 16f (§30, Hervorhebung entfernt). In der Folge bietet Wolff »historische Nachricht davon« und nennt als Ahnherren dieses Satzes Leibniz, Archimedes, Konfuzius. 436 DK 30 B 1: »οὐδαμὰ ἄν γένοιτο οὐδὲν ἐκ μηδενός« / »ex nihilo nihil fit«. Bei Christian Wolff: »Da nun unmöglich ist, daß aus nichts etwas werden kann, […]«. 437 GS I, 125. 438 »Nehmlich der Grund ist dasjenige, wodurch man verstehen kann, warum etwas ist, und die Ursache ist ein Ding, welches den Grund von einem anderen in sich enthält.« (Wolff 1983: 15 (§29)). 439 GS I, 390. 440 GS I, 389.
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Geradezu die gesamte Metaphysikgeschichte dreht sich Dilthey um diese Achse: »So erkennen wir nun rückwärts im Satze vom Grunde den Ausdruck des Prinzips, welches das metaphysische Erkennen von seinem Beginn geleitet hat.«441
Mit dieser Beobachtung ist der entscheidende Schritt zu einem systematischen Metaphysikbegriff getan. Das wesentliche Merkmal, das erlaubt, eine Position als eine metaphysische zu bezeichnen, besteht für Dilthey demnach in einer Stellungnahme zum philosophischen Grundproblem von Sein und Denken im Sinne des Satzes vom Grunde. Ausgehend von dieser Grundeinsicht betont Dilthey zweierlei: (1) eine philosophische Stellungnahme zum Problem der Beziehung von Sein und Denken tendiert schon aus ihrer Eigenlogik heraus dazu, die Beziehung in einem positiven, d.i. kongruenten Sinne zu bestimmen; in diesem Sinne handelt es sich bereits bei der Problemstellung nicht um eine offene Frage; (2) die universale Gültigkeit des Satzes vom Grunde ist keineswegs denknotwendig, sondern begründungsbedürftig und ggf. ist seine Reichweite genauer zu qualifizieren. In der Geschichte der Metaphysik wurde die Kompatibilität von Seins- und Denkprinzipien auf verschiedenen Wegen sichergestellt. Die »monotheistische Metaphysik«442 etwa, so Diltheys Ausdruck, sieht sie durch die göttliche Vernunft gewährleistet, die sowohl die Natur als auch die menschliche Vernunft unter »logischem« Gesichtspunkt ins Sein gerufen habe und erhalte bzw. als Weltvernunft die Seinsstrukturen des Kosmos unmittelbar bestimme.443 Eine andere Strategie, die Entsprechung von Seins- und Denkstrukturen außer Frage zu stellen, besteht in ihrer ontologischen Identifikation. In diese Richtung lässt sich etwa der Satz des Parmenides verstehen oder, in letzter Stringenz, die Systeme von Spinoza und Hegel.444
441 GS I, 390. 442 Dieser Begriff umfasst bei Dilthey nicht nur die monotheistischen Religionen, sondern auch metaphysische Systeme, die die manifesten Mannigfaltigkeiten auf ein Prinzip zurückführen (vgl. GS I, 158–169, 387). 443 Vgl. Joh. 1,1.3: »Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, καὶ θεὸς ἦν ὁ λόγος. […] πάντα δι᾿ αὐτοῦ ἐγένετο, καὶ χωρὶς αὐτοῦ ἐγένετο οὐδὲ ἕν ὃ γέγονεν«; Platon, Timaios 47e–48a: »μεμειγμένη γὰρ οὖν ἡ τοῦδε τοῦ κοσμου γένεσις ἐξ ἀνάγκης τε καὶ νοῦ συστάσεως ἐγεννήθη […] ταυτῃ κατὰ ταῦτά τε δι᾿ ἀνάγκης ἡττωμένης ὑπὸ πειθοῦς ἔμφρονος οὕτω κατ᾿ἀρχὰς συνίστατο τόδε τὸ πᾶν«; Mark Aurel, Selbstbetrachtungen VI, 1.5: »ὁ διοικῶν λόγος«. 444 DK 28 B 3: »τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι«. Dilthey verweist in diesem Zusammenhang auf folgenden Satz Spinozas: »ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum« (GS I, 388). Für Hegel: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. […] Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft.« (HW VII, 24.26).
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Neben der Korrespondenz von Seins- und Denkstrukturen und der Identifikation derselben, ist natürlich auch eine Metaphysik denkbar, die das Auseinanderfallen beider postuliert. Diese Position sieht Dilthey exemplarisch von Schopenhauer vertreten, dessen System er allerdings bereits »durch einen inneren Widerspruch in [seiner] Grundlage [für] gerichtet« hält.445 Schopenhauers Metaphysik einer irrationalen Wirklichkeit gerate nämlich »in einen augenscheinlichen Widerspruch zwischen ihrem Ziel und ihren Hilfsmitteln«,446 denn als metaphysische Theorie, die beansprucht gehaltvolle Wahrheiten über den Charakter der Wirklichkeit hinter dem Schleier der Erscheinungen zu ermöglichen, ist sie methodologisch auf die Gültigkeit logischer Schlüsse angewiesen. Mit deren Hilfe beansprucht sie nun die grundlegende Irrationalität der Wirklichkeit zu erschließen, was wiederum die Gültigkeit der metaphysischen Schlüsse untergraben würde. Ob dieser performative Selbstwiderspruch Schopenhauers System nun tatsächlich entwertet, wie Dilthey annimmt, oder es womöglich geradezu ad oculos demonstrieren mag, Dilthey betrachtet es in erster Linie als Ausdruck eines »lebens-, [und] willenskräftige[n] Protest[es] gegen alle Metaphysik als folgerichtige Wissenschaft«, erkennt dieser Form einer »Mystik des neunzehnten Jahrhunderts« allerdings nur »vorübergehende Bedeutung« zu.447 Für ihn lässt sich an der Lehre Schopenhauers daher fast noch klarer als an anderen Metaphysiken beobachten, wie sich seine zentrale Lehre aus der Geschichte der Metaphysik bewahrheitet: »So haben wir in dem Satze vom Grunde die logische Wurzel aller folgerichtigen Metaphysik d. h. der Vernunftwissenschaft und in dem Verhältnis des so entstehenden logischen Ideals zur Wirklichkeit den Ursprung der Schwierigkeiten dieser Vernunftwissenschaft erkannt.«448
Anders als es Leibniz nahelegt, ist dem Satz vom Grunde nach Diltheys Auffassung keine dem Satz vom Widerspruch vergleichbare Stellung zuzuschreiben.449 So teile Leibniz dem Satz vom Grunde im Bereich der kontingenten Wahrheiten eine analoge Funktion zu, wie sie der Satz vom Widerspruch in Bezug auf die notwendigen Wahrheiten erfüllt.450 Diese vermeintliche Analogie weist Dilthey zurück und spricht dem Satz vom Grunde keine solch hervorgehobene Funktion 445 446 447 448
GS I, 390. GS I, 396f. GS I, 397. GS I, 395. Bei Schopenhauer selbst spielt der Satz vom Grunde ebenfalls eine zentrale Rolle. Auf seine Abhandlung »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« (1813/47) kann an dieser Stelle allerdings nicht weiter eingegangen werden. 449 Christian Wolff schreibt dem Satz vom Grunde bei Leibniz lediglich den Status einer empirischen Wahrheit zu (vgl. Wolff 1983: 16f (§30)). Für seine eigene Notwendigkeit beanspruchende Formulierung scheint das unplausibel. 450 GS I, 388f.
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(und infolge dessen: keine apriorische Geltung) zu. Die regulative Funktion, die er auch nach Dilthey bei der »Konstruktion einer allgemeingültigen Wirklichkeit«451 (im Kontrast zu Illusionen und Traumbildern) spielt, sei nicht als objektive Einsicht in deren Struktur zu überschätzen. Dilthey selbst verwendet an dieser Stelle zwar die Kantischen Ausdrücke von konstitutivem und regulativem Gebrauch nicht, der Sache nach liegt es jedoch nahe, seine Rede von einer »kritischen Anwendung des Satzes vom Grunde«, die im Wesentlichen offenbar im Verzicht auf »metaphysische Erkenntnis« besteht, in diesem Sinne aufzufassen.452 Seine abschließende Einordnung des Satzes vom Grunde lautet: »jedes in sinnlicher Wahrnehmung Gegebene findet sich in einem denknotwendigen Zusammenhang, in welchem es bedingt ist und selber bedingt, und nur in diesem dient es der Auffassung des Existierenden. Aber die Verwertung dieses Gesetzes ist durch die Bedingungen des Bewußtseins auf die bloße Herstellung eines äußeren Zusammenhangs von Beziehungen eingeschränkt, durch welche den Tatsachen ihr Platz im System der Erfahrungen bestimmt wird.«453
In welchem Sinne ist hier nun doch von Gesetzesförmigkeit und Denknotwendigkeit die Rede? Die kritische Anwendung des Satzes vom Grunde bedeutet nach Diltheys Darstellung gegenüber der metaphysischen Tradition zwei Einschränkungen: (1) Der Satz vom Grunde beschreibt keine objektiv bestehende Seinsstruktur, sondern eine Gesetzmäßigkeit, die unsere Auffassung der äußeren Wirklichkeit formt, sie hat daher relativen Charakter und ist stets bezogen auf die »Bedingungen des [auffassenden] Bewusstseins«; (2) Die Gültigkeit des Satzes erstreckt sich nicht auf die »geistigen Tatsachen«, die sich der inneren Wahrnehmung erschließen; daraus ergibt sich auch eine lediglich bedingte Gültigkeit im ganzen Bereich der Geisteswissenschaften. »Daher hat der Satz vom Grunde […] zu dem Umkreis der geistigen Tatsachen nie dieselbe Stellung gehabt, welche er der Außenwelt gegenüber in Anspruch nehmen darf. Er ist hier nicht das Gesetz, unter welchem jede Vorstellung von Wirklichkeit steht. Nur insofern die Individuen einen Raum in der Außenwelt einnehmen, an einem Zeitpunkt auftreten und sinnfällige Wirkungen in der Außenwelt hervorbringen, werden sie in das Netz dieses Zusammenhangs mit eingefügt. So setzt zwar die vollständige Vorstellung der geistigen Tatsachen ihre äußere Einordnung in den von der Naturwissenschaft geschaffenen Zusammenhang voraus, aber unabhängig von
451 GS I, 393. Auch Christian Wolff verweist auf die Differenz von Traum bzw. Wunschdenken und Wirklichkeit und sieht durch sie den Satz vom Grunde vindiziert (vgl. Wolff 1983: 17 (§30), 74 (§142)). 452 Vgl. GS I, 393. 453 GS I, 393.
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diesem Zusammenhang sind die geistigen Tatsachen als Wirklichkeit da und haben die volle Realität derselben.«454
Die Gültigkeit des Satzes vom Grunde beschränkt sich also auf die raum/zeitlichen Verhältnisse der Außenwelt, wobei sein Rechtsgrund in der Unterscheidungsleistung von Traum und Wirklichkeit zu sehen ist, die er ermöglicht. Da sich für Dilthey die Wirklichkeit allerdings (anders als für die meisten Naturalisten) keineswegs in diesen Verhältnissen erschöpft, kommt dem Satz vom Grunde in seinem Verständnis eine bloß relative und (mit Blick auf die Wirklichkeit im Ganzen) regionale Gültigkeit zu.455 Neben die Idee eines allgemeinen und lückenlosen Bedingungs- und Begründungszusammenhangs, wie er im Satz vom Grunde zu Bewusstsein gebracht wird, tritt in Diltheys Darstellung der Metaphysikgeschichte nur eine weitere philosophische Lehre, der man eine ähnlich bedeutsame Rolle zuschreiben kann: die »Metaphysik der substantialen Formen«. »Das, was im Wechsel der Orte, Bedingungen und Zeiten stets wiederkehrt, nein vielmehr immer da ist und niemals schwindet, bildet einen Zusammenhang der Ideen, dem Unvergänglichkeit zukommt. […] Wir denken an die Gattungen und Arten, Eigenschaften und Tätigkeiten, welche die Buchstaben der Schrift dieser Welt bilden. Diese sind, in ihren Beziehungen zueinander aufgefaßt, für das natürliche Vorstellen der unveränderliche Bestand der Welt, welchen dies Vorstellen fertig vorfindet, an dem es gar nichts zu ändern vermag und der ihm daher als objektiver zeitloser Bestand gegenübersteht.«456
Als wirkmächtigste und prominenteste Ausgestaltung dieser Form der Metaphysik ist nach Dilthey die Tradition des Platonismus anzusehen, der sich durch den Anspruch auszeichne, »in ein hinter der Sinnenwelt Verborgenes, Wesenhaftes: eine zweite Welt [zu blicken]«.457 Diese zweite Welt ist im Vergleich zur Sinnenwelt insofern »ein Wesenhaftes« als sie den Bestand der ideellen Gehalte umfasst, das »von allem Sinnfälligen [unterschiedene] Reich [geistiger] Wesenheiten«.458 »Wesenhaft« meint einerseits: die von Werden und Vergehen bestimmte sinnlich wahrnehmbare Welt ist im Vergleich mit der »Hinterwelt« nicht wirklich seiend, mithin ontologisch defizitär; andererseits, dass diese Hinterwelt
454 GS I, 394f. 455 Auf Diltheys mit Blick auf die Geisteswissenschaften erweiterten Wirklichkeitsbegriffs weist besonders Hellmut Diwald hin (vgl. Diwald 1963: 130f). 456 GS I, 184 (Hervorhebung im Original). Auf dieses Element verweist Dilthey wiederholt in einigen Abschnitten seiner Phänomenologie (vgl. GS I, 182–192, 301–303). 457 GS I, 132. Vgl. etwa Platon, Timaios 27d–28c. Es kann an dieser Stelle nicht um eine adäquate Platoninterpretation gehen, sondern lediglich darum, die charakteristischen Züge der fraglos verbreitetsten Rezeptionslinie des Platonismus vor Augen zu führen. 458 Ebd.
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den in allem Wechsel »konstanten Inhalt des Weltlaufs bilde[t]«.459 In diesem verbreiteten Typus von metaphysischer Theorie sieht Dilthey eine ausgesprochen hartnäckige Denkgewohnheit, die in den verschiedensten Bereichen und weit über explizit metaphysische Zusammenhänge hinaus anzutreffen ist, wohl nicht zuletzt weil sie – eine unkritische Haltung der Sprache gegenüber vorausgesetzt – sich dem »natürlichen« Bewusstsein geradezu aufzudrängen scheint.460 Das Entscheidende an dieser theoretischen Einstellung, das sich vom spezifischen Rahmen des Platonismus in gewissem Maße abtrennen lässt und daher auch unabhängig vom ihm antreffbar ist, ist die Annahme eines konstanten, zeitenthobenen Bestandes begrifflicher Gehalte, der als zur Struktur der Welt gehörig, mithin als naturgegeben, angesehen wird. Dilthey vergleicht dazu, wie gesehen, die Welt mit einem Text und die begrifflichen Gehalte mit den Buchstaben. Und wie sich aus einer endlichen Menge von Buchstaben eine unbegrenzte Zahl verschiedener Texte erstellen lässt, so ermöglichen auch die Kombinationen der begrifflichen Weltgehalte unabsehbar zahlreiche unterschiedliche Weltzustände, ohne dass dafür ein Wandel in den begrifflichen Gehalten selbst angenommen werden müsste. Dass eine Metaphysik substantialer Formen philosophische Theoriebildung im Sinne des »natürlichen Systems der Geisteswissenschaften« begünstigt, wenn nicht sogar allererst ermöglicht, scheint naheliegend. Denn wenn historische Veränderungen ein bloßes Oberflächenphänomen darstellen, die den Bestand begrifflicher Gehalte in keiner Form tangieren können, ergibt sich als eine vermeintlich legitime Option die Möglichkeit, sich diesen Gehalten direkt zuzuwenden und unabhängig von aller Empirie und Historie zu explizieren, was »rationale Theologie«, »rationale Psychologie«, »rationale Kosmologie«, »natürliches Recht«, usf. immer und überall sind. Diese Vorstellung, dass die Philosophie invariante begriffliche Strukturen vorfinden und explizit machen könnte und sollte, bestimmt auch lange nachdem man es aufgegeben hat (wie noch Christian Wolff) jede Disziplin in einen empirischen und einen rationalen, d.i. philosophischen, Zweig aufzugliedern, weitgehend das Selbstverständnis vieler ihrer Protagonisten. »[N]ur wer die Gründe der Sonderung von philosophischen und empirischen Geisteswissenschaften, welche in ebendieser Metaphysik gelegen sind, erkannt sowie die Folgen dieser Sonderung in der Geschichte der Metaphysik verfolgt hat, wird in dieser Sonderung in rationale und empirische Wissenschaften das stehengebliebene Gehäuse des metaphysischen Geistes erkennen und es entschlossen wegräumen, um dem ge-
459 GS I, 184, 460 Vgl. GS I, 182–192. »Die Metaphysik setzt damit nur fort, was die Sprache begonnen hat.« (GS I, 183).
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sunden Verständnis des Zusammenhangs der Geisteswissenschaften freien Boden zu schaffen.«461
Somit haben sich als typische Kennzeichen einer metaphysischen Stellung zur Wirklichkeit zwei philosophische Grundüberzeugungen herausgestellt, die im Laufe der Philosophiegeschichte in unterschiedlichen Kontexten und verschiedenen Ausprägungen zu beobachten sind: (a) die Annahme eines objektiven und zeitenthobenen Bestandes an invarianten begrifflichen Gehalten, exemplarisch formuliert im Rahmen der platonischen Ideenlehre, und (b) die Überzeugung von der prinzipiellen Kommensurabilität von Seins- und Denkstrukturen, wie sie besonders klaren Ausdruck in den von Leibniz und Wolff stammenden Formulierungen des Satzes vom Grunde findet oder auch in der ontologischen Lesart des Satzes vom Widerspruch. Deren implizite oder explizite Inanspruchnahme, die unerlässlich für die Gültigkeit der begrifflichen Verfahren der Metaphysik sind, erscheint in Diltheys Rekonstruktion der Geschichte der Metaphysik als eine schlecht begründete Projektion von Denkgesetzen und epistemischen Interessen auf die Struktur der Wirklichkeit.462 Diltheys Metaphysikbegriff orientiert sich zwar eng an Platonischen und Aristotelischen Theorien, ist hinsichtlich seiner Merkmale aber von ihnen ablösbar und auf andere Kontexte übertragbar.463 Dabei fällt er aber inhaltlich deutlich gehaltvoller (und so auch enger) aus als in der verbreiteten Verwendungsweise, die unter »Metaphysik« sämtliche Voraussetzungen einer beliebigen Theorie oder Disziplin versteht. Der ontologische Rahmen der traditionellen Metaphysik diente nach Dilthey den Einzelwissenschaften der Natur und des Geistes, solange sie noch nicht in methodologischer Selbstständigkeit etabliert waren, als willkommenes und zunächst auch notwendiges Gerüst. Nachdem die einzelwissenschaftliche Autonomie zur Zeit Diltheys für die Naturwissenschaften nahezu vollständig und für die Geisteswissenschaften in Kernbereichen ebenfalls weitgehend hergestellt war, galt es nun (insbesondere für diese), sich konsequent von dem »stehengebliebenen Gehäuse des metaphysischen Geistes« zu emanzipieren und die konkrete Forschungsarbeit nicht mehr durch »das graue Gespinst abstrakter, substantialer
461 GS I, 126 (Hervorhebung hinzugefügt). 462 Im Rahmen seiner Logik-Vorlesungen behandelt Dilthey den Satz der Identität, den Satz des Widerspruches, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten und den Satz des Grundes in diesem Sinne als Denkgesetze (vgl. GS XX, 191ff, 362ff), nicht als Seinsgesetze, denn die ontologische Gültigkeit der Logik ist begründungsbedürftig und versteht sich nicht von selbst (vgl. GS XX, 167f). 463 So wäre zu prüfen, inwiefern er heutiger Metaphysikkritik entspricht (vgl. van Fraassen 2002: 1–30; Damböck 2012b: 172–180).
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Wesenheiten« zu beeinträchtigen.464 Dieses zentrale Anliegen des zweiten Buches seiner Einleitung formuliert Dilthey im sog. »Althoff«-Brief wie folgt: »das zweite Buch entwickelt geschichtlich, wie die Metaphysik lange Zeiträume hindurch die Funktion einer solchen Grundlegung [sc. der Geisteswissenschaften] gehabt hat, wie aber der Fortgang der Geschichte der Wissenschaften allmählich einen freieren Zusammenhang der Wissenschaften auf erkenntnistheoretischer Grundlage herausgebildet hat. […] Sein Ziel liegt in der Einsicht: an die Stelle der subjektiven, in Einem inneren Zusammenhang alle Erscheinungen verknüpfenden Einheit der Metaphysik ist durch den Differenzierungsprozeß des geistigen Lebens selber (nicht bloß durch die negative bisherige Arbeit der Erkenntnistheorie) eine größere innere Freiheit der Teile des intellektuellen Lebens gegeneinander getreten.«465
Die »Auflösung der metaphysischen Stellung des Menschen zur Wirklichkeit«, auf die das zweite Buch der Einleitung hinausläuft, so lässt sich nach Diltheys systematischer Rekapitulation der Phänomenologie der Metaphysik festhalten, ist aus mehreren Gründen erforderlich: diese entspricht (i) nicht mehr dem inzwischen erreichten Differenzierungsgrad »des geistigen Lebens«. Wie weit Dilthey diesen Differenzierungsprozess fasst, bleibt an dieser Stelle offen. So könnte man in einem engeren Sinn an die Ausdifferenzierung des akademischen Fächerspektrums denken, aber auch an die der Sozialstruktur überhaupt. Diese Einschätzung hat offenbar einen sozial-pragmatischen Sinn: für die Organisation und Leitung einer ausdifferenzierten (und das heißt auch: einer in sich heterogenen) Gesellschaft und eines komplexen Wissenschaftssystems stellt eine starre einheitliche ontologische Rahmentheorie faktisch keine geeignete Grundlage dar. Durch (ii) erkenntnistheoretische Reflexion sind die Voraussetzungen einer wissenschaftlichen Metaphysik untergraben. Diesen Umstand konstatiert Dilthey recht summarisch, ohne ihn im Einzelnen auszuführen.466 Es liegt nahe, diese Einschätzung auf die skeptische Philosophie David Humes und die Widerlegung der Möglichkeit der dogmatischen Schulmetaphysik durch Immanuel Kant zu beziehen.467 Insbesondere der für schlagend angesehene Nachweis Kants, 464 GS I, 383. In der Vorrede der Einleitung heißt es dazu programmatisch: »Der Beweis wird versucht, daß eine allgemein anerkannte Metaphysik durch eine Lage der Wissenschaften bedingt war, die wir hinter uns gelassen haben, und sonach die Zeit der metaphysischen Begründung der Geisteswissenschaften ganz vorüber ist.« (GS I, xix). 465 GS XIX, 392. Bei dem »Althoff«-Brief handelt es sich um ein Schreiben Diltheys zur Erläuterung der Einleitung im Rahmen seines Berufungsprozesses auf den Berliner Lehrstuhl. 466 Typisch ist etwa folgende bereits zitierte Formulierung vom Beginn des zweiten Buches der Einleitung: »Wohl hat das 18. Jahrhundert die Metaphysik widerlegt.« (GS I, 125). 467 Dieses rein negative Fazit braucht nicht als Beleg einer einseitigen oder gar verzerrten Kantrezeption aufgefasst werden, die den Umstand, dass Kant ebenso gut als Begründer einer neuen Form der Metaphysik bezeichnet werden kann wie als Zertrümmerer der alten, schlicht unterschlagen würde. Wie später nachgezeichnet werden wird, ist diese vermeintliche Einseitigkeit im Sinne einer differenzierten Stellungnahme zur Kantischen Philosophie
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dass menschliche Erkenntnis notwendig auf Anschauungen angewiesen und damit auf den Bereich möglicher Erfahrung beschränkt ist, scheint die Aussichten einer für sich bestehenden Vernunftwissenschaft, die aus rein begrifflichen Mitteln substantielle Erkenntnisse über die Welt zu gewinnen verspricht, für Dilthey (und viele seiner Zeitgenossen) geradezu pulverisiert zu haben. Die Phänomenologie der Metaphysik hat (iii) zudem aufgewiesen, wie das metaphysische Forschungsprogramm in historisch verschiedenen Formen und eingebettet in unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte stets scheiterte, indem es regelmäßig auf in seinem Rahmen unlösbare Antinomien stieß. Im Folgenden werden wir uns vor allem dem zweiten Strang der Problematisierung widmen, den systematischen Argumenten Diltheys gegen die Möglichkeit einer wissenschaftsförmigen Metaphysik.
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Am Ende des zweiten Buches der Einleitung, nach dem Durchgang durch die Geschichte des metaphysischen Denkens ergibt sich für Dilthey das apodiktisch anmutende Resultat: »Metaphysik als Wissenschaft ist unmöglich«.468 Entgegen dem ersten Anschein (schließlich ist das zweite Buch der Einleitung von Dilthey selbst als historische Darstellung konzipiert) ist dieses Resultat nicht als Ergebnis einer historischen Induktion anzusehen, so als schlösse Dilthey etwa aus dem Scheitern aller bisher aufgetretenen metaphysischen Systeme auf deren prinzipielle Unmöglichkeit. Das spätere Missverständnis Edmund Husserls in dieser Richtung zurückzuweisen, war Dilthey daher ein ausgesprochen dringendes Anliegen.469 Zum Anlass der Husserlschen Polemik waren Bemerkungen aus Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911) sowie einige Ausführungen der Abhandlung Das Wesen der Philosophie (1907) geworden. Sie entstammen also Texten, die in Diltheys späteste Schaffensphase fallen. Gleichwohl handelt es sich bei ihnen lediglich um Gedanken und Argumentationsgänge, die Dilthey bereits mehr als zwanzig Jahre zuvor in der Einleitung formuliert oder zumindest vorgezeichnet hatte. In seiner Entgegnung auf Husserl weist Dilthey im Kern darauf hin, dass er »nicht etwa aus dem bisherigen Mißlingen der Metaphysik [sc. auf deren Unmöglichkeit schließt], sondern aus dem allgemeinen Verhältnis zwischen ihren Aufgaben und unseren Mitteln der Lösung.«470 Die »Begründung ihrer Unmöglichkeit« stütze zu erklären, dahingehend dass Dilthey Kants destruktivem Projekt folgt, aber dessen Begründung einer transzendentalen Metaphysik nicht für überzeugend hält. 468 GS I, 398. 469 Vgl. Husserl 1911: 323–328; Biemel 1968: 434–438; Nenon 1989: 121f, 129f; Ders. 1990: 41. 470 Biemel 1968: 435.
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sich also nicht lediglich auf historische Beobachtungen, sondern auf das »Wesen derselben«.471 Dieser Replik auf Husserl ist zu entnehmen, dass Diltheys Metaphysikkritik, zumindest seinem eigenen Anspruch nach, nicht auf eine Generalisierung einer philosophiehistorischen Beobachtung reduziert werden kann. Nicht zu entnehmen ist ihr jedoch, wie sich Diltheys These von der Unmöglichkeit der Metaphysik systematisch stützen lassen könnte. Im folgenden Rekonstruktionsversuch werden daher drei von Dilthey selbst an verschiedenen Stellen vorgebrachte (oder zumindest angedeutete) Argumentationslinien expliziert und diskutiert: eine analytisch-semantische, eine psychologische und eine epistemische.
2.4.1 Das analytisch-semantische Argument Als dieses »Wesen der Metaphysik«, von dem im Brief an Husserl die Rede ist, als die »letzte Formel der metaphysischen Erkenntnis« hatte sich in der Einleitung in die Geisteswissenschaften der Satz vom Grunde erwiesen, verstanden als die für jede folgerichtige Metaphysik notwendige Voraussetzung eines »logischen Zusammenhang[s] in der Natur«.472 Die im Laufe der Metaphysikgeschichte erfolgten inhaltlichen Explikationsversuche dieses Zusammenhangs weisen nach Dilthey einen deutlichen Sparsamkeitstrend auf. »Allmählich gewöhnte er [sc. der Intellekt] sich, mit immer weniger Leben und Seele in der Natur hauszuhalten und auf immer einfachere Formen der inneren Verbindung den Zusammenhang des Weltlaufs zurückzuführen. Zuletzt wurde auch die Zweckmäßigkeit als Form eines inneren inhaltlichen Zusammenhangs in Frage gestellt. Als die beiden inneren Bänder, welche den Weltlauf in all seinen Teilen zusammenhalten, blieben Substanz und Kausalität zurück.«473
Daher auch kann sich Dilthey in seinen metaphysikkritischen Überlegungen im Wesentlichen auf diese beiden Kategorien beschränken. Sein Beweisziel besteht also darin, plausibel zu machen, dass das Kerngeschäft der Metaphysik, d.i. der Aufweis der Letztstrukturiertheit der Welt entsprechend der Substanz- und der Kausalitätskategorie, unter den epistemischen Bedingungen endlicher Erkenntnissubjekte nicht allgemeingültig durchführbar ist. Ausgangspunkt des ersten Arguments ist wiederum die Metaphysikgeschichte. »Sie ist in dieser Zeit ihrer von Erkenntnistheorie noch nicht gebrochenen Zuversicht überzeugt, zu wissen, was unter Substanz und unter Kausalität zu denken sei. In Wirk-
471 Biemel 1968: 436. 472 GS I, 390, 387. 473 GS I, 398 (Hervorhebungen im Original).
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lichkeit zeigt ihre Geschichte beständigen Wechsel in der Bestimmung dieser Begriffe und vergebliche Versuche, sie zu widerspruchsloser Klarheit zu entwickeln.«474
Da dieses Argument bei der inhaltlichen Widersprüchlichkeit und Unklarheit des Substanz- und Kausalitätsbegriffes ansetzt, nennen wir es analytisch-semantisch.475 (P.1) Jede folgerichtige Metaphysik setzt einen logischen Zusammenhang in der Natur voraus. (P.2) Dieser Zusammenhang wird inhaltlich wesentlich mithilfe der Begriffe Substanz und Kausalität expliziert.476 (P.3) Notwendige Voraussetzung für deren objektive Gültigkeit ist die Widerspruchsfreiheit und inhaltliche Bestimmtheit dieser Begriffe. (P.4) Weder für die Substanz- noch für die Kausalitätskategorie ist Widerspruchsfreiheit und inhaltliche Bestimmtheit gegeben. → (K) »Metaphysik als Wissenschaft ist unmöglich.« Der entscheidende Schritt dieses Argumentationsgangs besteht offensichtlich in der Akzeptanz der vierten Prämisse, von der man kaum behaupten kann, dass Dilthey sie besonders sorgfältig abgesichert hätte.477 Um sie für die Substanzkategorie plausibel zu machen, verweist Dilthey zunächst an deren Entstehung aus der lebensweltlichen Ding-Vorstellung.478 Sowohl die unraffinierte DingVorstellung als auch der aus ihr gewonnene Substanzbegriff führen nach Dilthey auf eine Reihe unlösbarer Schwierigkeiten vor allem bezüglich der Frage von diachronen Identitätskriterien, aber auch hinsichtlich der Vermittlung der Einheit der Substanz und der Vielheit der Eigenschaften:
474 GS I, 398. 475 Vgl. für das Folgende GS I, 398ff. 476 Diese Prämisse berücksichtigt Prozessontologien, wie etwa die von Whitehead entwickelte, nicht; ontologische Theorieangebote scheinen sich jedoch nach wie vor überwiegend vor allem an der Substanzkategorie zu orientieren; vgl. Robinson 2021: Abschnitt 4, »conclusion« (»All non-relativist philosophical systems acknowledge substances in the most generic sense of that term, for that is only to acknowledge that there are some fundamental entities in their system. Most, if not all, philosophers acknowledge that we cannot function without using substance concepts in the narrower sense, for the notion of an enduring particular or individual substance is essential to our making sense of the world as we live in it.«). 477 Einschlägiges Material zur Stützung dieser These findet sich zum einen im unmittelbaren Kontext des Arguments selbst (GS I, 398f), zum anderen, da der letzte Abschnitt des zweiten Buches, dem es entnommen ist, so etwas wie das Destillat der historischen Untersuchung darstellt, im Rahmen der vorangehenden Phänomenologie der Metaphysik selbst. Von den dort diskutierten Antinomien kommen jedoch lediglich diejenigen in Betracht, die im Kontext des antiken Skeptizismus diskutiert wurden (GS I, 235–241), da die mittelalterlichen Antinomien nicht kategorieinterne Widersprüche behandeln, sondern solche, die zwischen verschiedenen begrifflichen Bestimmungen auftreten. 478 Siehe Abschnitte 4.1 und 4.2.
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»Wie kann die Einheit, welcher mannigfache Eigenschaften, Zustände, Wirken und Leiden inhärieren, von diesen letzteren abgegrenzt werden? Das Beharrliche von den Veränderungen? Oder wie vermag ich festzustellen, wann eine Verwandlung desselben Dinges noch stattfindet und wann es vielmehr aufhört zu sein? Wie vermag ich das in ihm was bleibt von dem abzusondern was wechselt? Wie kann endlich diese beharrliche Einheit als in einem räumlichen Außereinander irgendwo sitzend gedacht werden? Alles Räumliche ist teilbar, enthält also nirgend eine zusammenhaltende unteilbare Einheit, und andererseits schwinden mit dem Raume, wenn ich ihn hinwegdenke, alle sinnlichen Qualitäten des Dinges. Dennoch kann diese Einheit nicht aus dem bloßen Zusammengeraten verschiedener Eindrücke (in Wahrnehmung und Assoziation) erklärt werden; denn eben im Gegensatz hierzu drückt sie ein inneres Zusammengehören aus.«479
Diese Fragen scheinen auf zwei Strategien der Explikation des Substanzbegriffs zu führen, die auch in heutigen Diskussionen anzutreffen sind. Die Absonderung der Substanz von allen Eigenschaften und räumlichen Verhältnissen, die Dilthey zunächst nahelegt, führt auf die Vorstellung eines eigenschafts- und ortlosen reinen »dies« (bare individual). Dessen Unräumlichkeit verwehrt allerdings selbst die Möglichkeit einer deiktischen Bezugnahme (wie sie die Verwendung des Demonstrativpronomens evoziert), weshalb es durchaus fraglich wird, ob es sich bei dem Konzept eines »bare individual« noch um einen vollziehbaren Gedanken handelt. Die ontologisch sparsamere Version (eine Bündeltheorie, wie sie Dilthey am Ende der zitierten Stelle andeutet), also das assoziative Zusammenfassen stabiler Eigenschaftskonstellationen, leistet nach Diltheys Auffassung hingegen zu wenig, da sie den internen Zusammenhang, den der Substanzbegriff ursprünglich erläutern sollte, nicht mehr artikuliert. Fraglich ist zudem, ob aus einer Bündeltheorie der Substanz überhaupt weitere gehaltvolle ontologische Festlegungen folgen. Die Übertragung auf die Kausalitätskategorie fällt noch knapper aus als die erste Ausführung: »Es würde ermüden, wollten wir nun zeigen, wie der Begriff der Kausalität ähnlichen Schwierigkeiten unterliegt. Auch hier kann bloße Assoziation die Vorstellung des inneren Bandes nicht erklären, und doch kann der Verstand nicht eine Formel entwerfen, in welcher aus sinnlich oder verstandesmäßig klaren Elementen ein Begriff zusammengesetzt würde, der den Inhalt der Kausalvorstellung darstellte.«480
Dilthey kommt zum selben Ergebnis wie beim Substanzbegriff: Ungenügen an einer deflationären Auffassung von Kausalität (etwa im Sinne einer bloßen Re479 GS I, 398. Dieser Fragenkatalog liest sich wie der Projektbeschreibung der analytischen Ontologie entnommen, nach deren überwiegender Auffassung es sich bei den angedeuteten Problemen jedoch nicht um Aporien, sondern lediglich um besonders vertrackte und hartnäckige Fragen handelt. 480 GS I, 399.
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gelmäßigkeit der Aufeinanderfolge zweier Phänomenklassen, wiederum wie beim Substanzbegriff liegt der Gedanke an Humes Kritik der herkömmlichen Auffassung nahe481); Unbestimmtheit der robusteren Version (für eine interne Widersprüchlichkeit der Kausalitätskategorie argumentiert Dilthey an dieser Stelle nicht). Damit ist nach Diltheys Auffassung gezeigt, dass die objektive Gültigkeit der Substanz- und der Kausalitätskategorie mangels eines klar bestimmbaren Gehaltes nicht ohne weiteres aufweisbar ist, womit eine wesentliche Voraussetzung metaphysischer Theorienbildung entfällt. Dilthey wird seine ausgesprochen knappe und zum Teil nur angedeutete Argumentation kaum selbst für einen zwingenden endgültigen Nachweis der Unmöglichkeit der Metaphysik gehalten haben. Sein Hinweis auf die Fragwürdigkeit zentraler Voraussetzungen metaphysischer Theorien reicht aber sicherlich zunächst aus, Rechenschaft seitens der Metaphysiker hinsichtlich der problematisierten Annahmen einzufordern. Gegenüber avancierteren Metaphysikern, die die Geltung der Kategorien nicht mehr vor-kritisch in einem unmittelbar ontologischen Sinne behaupten, sondern sie im Sinne »apriorische[r] Formen der Intelligenz« auffassen, denen wenn auch keine objektive, so immerhin noch eine intersubjektive Geltung zukäme, führt Dilthey ein doppeltes Argument: (P.1a) »Wären sie [sc. Substanz und Kausalität] solche Formen der Intelligenz selber, dann müßten sie als solche dieser gänzlich durchsichtig sein.«482 [Erläuterung von »durchsichtig«]: »Fälle solcher Durchsichtigkeit sind das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen, der Begriff von Gleichheit und Unterschied; in ihnen besteht über die Interpretation der Begriffe kein Streit: B kann unter dem Begriffe von Gleichheit nur dasselbe als A denken.«483 (P.2a) »Die Begriffe von Kausalität und Substanz sind augenscheinlich nicht von solcher Art.« Sie sind undurchsichtig, ihre Definitionen sind notorisch umstritten.
481 An anderer Stelle macht Dilthey deutlich, dass er die »klassische« Metaphysikkritik für seine Überlegungen voraussetzt: »Die seit Voltaire, Hume und Kant entwickelten Gründe, welche den beständigen Wechsel der metaphysischen Systeme und ihr Unvermögen, den Anforderungen der Wissenschaft zu genügen, erklärlich machen, sollen hier nicht wiederholt werden.« (GS V, 404). Das scheint auch für die Argumentationen der Einleitung zu gelten. Einer Bemerkung in den Ideen ist ferner zu entnehmen, dass Dilthey die immanente Widersprüchlichkeit der Substanzkategorie als von Johann Friedrich Herbart nachgewiesen ansah (vgl. GS V, 170 (»Die Selbigkeit, welche das Gleichzeitige und Sukzessive der einzelnen Lebensvorgänge zusammenhält, offenbart, vor den Gerichtshof der Vernunft gebracht, die Widersprüche, welche schon Herbart herausgehoben hat.«); vgl. Herbart 1993: 78 (§32), 181ff (§116–124), 230f (§134)). Insofern ist die Knappheit Diltheys bei der Diskussion dieser systematisch so zentralen Frage in gewissem Maße verständlich. 482 GS I, 400. 483 Ebd.
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(P.1b) »Wären Substanz und Kausalität solche Formen der Intelligenz a priori«, müssten sie invariant sein. (P.2b) »Diese Begriffe haben eine Entwicklungsgeschichte.« → (K) Die Begriffe von Substanz und Kausalität sind keine Formen der menschlichen Intelligenz a priori, sondern letztlich empirische Begriffe. Was ist von diesem Argument zu halten? Als bündige Widerlegung einer anspruchsvollen transzendentalen Kategorientheorie wird man es kaum verbuchen können. Es ist zumindest nicht offensichtlich, dass die von Dilthey angeführten Erfordernisse der Invarianz und Durchsichtigkeit von einer solchen als triftig anerkannt werden müssten. Und auch für den Fall, dass sie als relevante Eigenschaften akzeptiert werden, scheint eine Entgegnung seitens einer transzendentalphilosophischen Kategorienauffassung nicht viel mehr zu erfordern als einen Hinweis auf die Differenz von reinem und empirischem Bewusstsein oder von stabiler an sich bestehender Gültigkeit und unserer bisher unvollkommenen und deswegen variablen Kenntnis des eigentlichen Substanz- bzw. Kausalitätsbegriffes. Schlagender wird das Argument, wenn es gelingt, ihm einen gegenüber der Transzendentalphilosophie immanent ansetzenden Charakter zu verleihen. Im Rahmen der Kantischen Theorie kommt den Kategorien, insofern sie alle in gleicher Weise aus formalen Bestimmungen des Urteils gewonnen sind, eine prinzipielle Einheitlichkeit zu. Sollte sich Diltheys Beobachtung, dass die kategorialen Bestimmungen, die er beispielhaft anführt, in zwei qualitativ verschiedene Gruppen zerfallen (Dilthey nennt sie in Anschluss an Trendelenburg Formal- und Realkategorien)484, auf die Kantische Kategorientafel übertragen und sich so eine relevante Inhomogenität des Kantischen Kategoriensystems aufweisen lassen, wäre ihm eine schwerwiegende und nichttriviale Infragestellung des Kantischen Kategoriensystems und damit auch einer maßgeblichen transzendentalphilosophischen Auffassung der Substanz- und Kausalitätskategorie gelungen. Dilthey interpretiert die Metaphysikgeschichte sowohl in ihrer ontologischen als auch in ihrer transzendentalphilosophischen Phase als ein aporetisches Ringen mit den immanenten Widersprüchlichkeiten der Substanz- und der Kausalitätskategorie. Und auch wenn sich die Möglichkeit sicher nicht ausschließen lässt, dass eine hinreichend anspruchsvolle ontologische Theorie die von ihm aufgeworfenen Schwierigkeiten eines Tages lösen wird, zieht Dilthey angesichts der historischen Erfahrung den Schluss, dass es sich bei dem Versuch, eine Explikation von Substanz und Kausalität als reinen Vernunftbegriffen zu finden, um ein gescheitertes Unternehmen handelt. Darüber hinaus fasst er die dabei zutage tretenden Antinomien dieser Grundbegriffe als empirisches Indiz
484 Zu diesem Aspekt siehe Abschnitt 4.1.
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dafür auf, dass sich die Grundstruktur der Wirklichkeit eben nicht restlos mit begrifflichen Mitteln rekonstruieren lasse: »[…] die Wissenschaft muß sich auch hier [sc. bezüglich des Substanzbegriffs] schließlich, ihre Grenzen gegen das Unerforschliche wahrend, damit begnügen, diesen Begriff als ein bloßes Symbol für einen Tatbestand zu behandeln, welcher sich dem Erkennen, wenn es den Zusammenhang der Tatsachen aufsucht, als objektive Einheit in denselben darbietet, jedoch in seinem realen Gehalt unauflöslich ist.«485
Diese Flucht Diltheys in die Unerforschlichkeit hat fraglos etwas zutiefst Unbefriedigendes an sich (»mysterianism«). Zieht man jedoch in Betracht, dass seither nicht nur 150 weitere Jahre Erfahrung an metaphysisch-ontologischer Theoriebildung angefallen sind, (deren bleibender Ertrag noch zu taxieren wäre), sondern inzwischen auch Evidenzen vorliegen, die für eine Nichtanwendbarkeit der Substanz- und Kausalitätskategorie auf der basalsten Wirklichkeitsebene quantenphysikalischer Vorgänge sprechen, verdient Diltheys Position in dieser Frage ernsthafte Erwägung. Die Umwälzungen innerhalb der theoretischen Physik, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben, haben die Plausibilität sowohl der traditionellen als auch der transzendentalphilosophischen Ontologie nicht eben gestärkt: man denke etwa an die Bedeutung nicht-euklidischer Geometrien und die Verabschiedung des absoluten Raum- und Zeitbegriffs durch Einstein, an die Indeterminiertheit mancher quantenphysikalischer Vorgänge (zumindest nach der Kopenhagener Deutung), die Unschärferelation, den paradoxen Wellen-Teilchen-Dualismus oder auch an das Phänomen der Quantenverschränkung. Diese Befunde in Einklang mit den Lehren der Aristotelischen Substanzmetaphysik oder der Transzendentalen Ästhetik und Analytik zu bringen, ist zwar möglicherweise nicht völlig ausgeschlossen, aber auch sicherlich keineswegs trivial und erfordert fraglos nicht unerhebliche interpretative Revisionen.486 Für Diltheys Strategie einer Depotenzierung des Substanz- und Kausalitätsbegriffs von reinen, konstitutiven und apriorischen Begriffen zu empirischen, deren Geltungsbereich an den Bereich ihres Erwerbs und ihrer Bewährung gebunden ist, entstehen aus der Ablösung des Newtonschen Physikparadigmas hingegen erheblich geringere Schwierig-
485 GS I, 399. 486 Vgl. Heisenberg 1959: 50f (zur antiken Atomistik), 65–71 (zu Kant); »Die a priorischen Vorstellungen, die Kant als eine unbestreitbare Wahrheit ansah, sind in dem wissenschaftlichen System der modernen Physik nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form enthalten. […] Was Kant nicht vorausgesehen hatte, war die Möglichkeit, daß diese a priorischen Begriffe zwar die Voraussetzung für die Wissenschaft sein können, daß sie aber zur gleichen Zeit doch nur einen begrenzten Anwendungsbereich besitzen.« (S. 69). Keinerlei Revisionsbedarf sieht Otfried Höffe (vgl. Höffe 2007: 121f, 133–135).
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keiten.487 Vor dem Hintergrund seiner Erläuterung der Entstehung dieser Kategorien sind Anwendungsschwierigkeiten auf quantenphysikalischer Ebene in einem gewissen Sinne sogar zu erwarten.488
2.4.2 Das psychologische Argument Ein weiteres Argument gegen die Möglichkeit einer wissenschaftlichen, d.i. allgemeingültigen Metaphysik führt Dilthey in einem späteren Text, dem wir uns in einem anderen Zusammenhang noch ausführlich zuwenden werden. In Das Wesen der Philosophie (1907) problematisiert Dilthey nicht einzelne zentrale Kategorien, sondern die Konsistenz des Kategoriensystems im Ganzen. Er setzt dabei bei der Struktur des Seelenlebens an, das sich nach seiner Auffassung dreifach gliedert: in Intellekt, Gefühl und Willen. Diltheys psychologische Strukturlehre wird an anderer Stelle noch ausführlicher thematisiert, hier ist nur relevant, dass mit der psychologischen Trias keine Vermögenslehre aufgestellt wird. Intellekt, Gefühl und Wille bezeichnen jeweils eigensinnig strukturierte Welt- und Selbstverhältnisse einer »psycho-physischen Lebenseinheit«489, die alle in jedem aktuellen Seelenzustand in jeweils verschieden graduierter Ausprägung gegeben sind; von unabhängig arbeitenden psychologischen Modulen ist also ganz entschieden nicht die Rede. »Wirklichkeitserkenntnis nach den kausalen Relationen, Erleben von Wert, Bedeutung und Sinn und das willentliche Verhalten, das in sich den Zweck für die Willenshandlung und die Regel für die Bindung des Willens enthält – das sind verschiedene Verhaltungsweisen, welche in der seelischen Struktur verbunden sind. Ihre psychische Relation ist für uns im Erlebnis da; sie gehört unter die letzten erreichbaren Tatsachen des Bewußtseins. Das Subjekt verhält sich in dieser verschiedenen Weise zu den Gegenständen, hinter diese Tatsache kann nicht zu einem Grund derselben zurückgegangen werden. So können die Kategorien von Sein, Ursache, Wert, Zweck nach ihrer Provenienz aus diesen Verhaltungsweisen weder aufeinander noch auf ein höheres Prinzip zurückgeführt werden. Wir können die Welt nur unter einer der Grundkategorien auffassen.«490
Halbformalisiert lautet das Argument: 487 »Hier ist die Regel anzuwenden, dass der Ursprung dieser Kategorien untersucht und die Gültigkeit derselben auf den Erfahrungskreis eingeschränkt werden muss, aus der die Kategorie hervorging.« (GS XX, 208). In dieser Regel ist nicht zwangsläufig eine Verwechslung von Genese und Geltung zu sehen. Humes Kritik der Notwendigkeit der Kausalverknüpfung folgt ebenfalls dieser Strategie. 488 Siehe Abschnitt 4.2. 489 Vgl. GS I, 15; V, 212; VII, 86. Von der platonischen Lehre von den Seelenteilen etwa distanziert sich Dilthey explizit (vgl. GS I, 227). 490 GS V, 405 (Hervorhebung hinzugefügt).
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(P.1) Die Metaphysik beansprucht, das Ganze der Wirklichkeit in einem (konsistenten und kohärenten) Kategoriensystem abzubilden. (P.2) Uns Menschen ist die Wirklichkeit in drei nicht aufeinander reduzierbaren Formen gegeben (als Korrelat unseres Intellekts, Gefühls und Willens).491 (P.3) Jedes dieser Wirklichkeitsverhältnisse weist eine eigene, kategorial explizierbare Struktur auf. (P.4) Diese drei Kategoriensysteme (bzw. ihre »Grundkategorien«) verhalten sich inkommensurabel zueinander und sind nicht auf eine einheitliche tieferliegende Strukturebene zurückzuführen. (K.1) Ein einheitliches und konsistentes Kategoriensystem aufzustellen, das dem Ganzen der Wirklichkeit (zu dem auch die wesentlichen menschlichen Weltbezüge gehören) strukturell gerecht wird, ist nicht möglich. (K.2) Insofern als ein solches Kategoriensystem deren Grundlage bildet, ist eine allgemeingültige und universale Metaphysik nicht möglich. Dieses Argument lässt sich als ein Wiederaufgreifen des Unbehagens der romantischen Idealisten angesichts der Disparatheit der drei Kantischen Kritiken beschreiben. Jede einzelne der Kritiken unternimmt es, die grundbegriffliche Struktur eines der auch von Dilthey angeführten Wirklichkeitsverhältnisse zu explizieren. Doch spätestens angesichts des Verhältnisses der »Kategorien der Freiheit« (expliziert in der Kritik der praktischen Vernunft, entspricht bei Dilthey dem Willen) und den »reinen Verstandesbegriffen« (expliziert in der Kritik der reinen Vernunft, bei Dilthey dem Intellekt entsprechend), oder bezüglich der Freiheitsemphase der noumenalen Welt gegenüber dem Determinismus der phänomenalen, stellt sich das Problem ihrer Kompossibilität, das seither in der Kantexegese nicht zur Ruhe gekommen ist: lassen sich beide Kategoriensysteme in einer Welt unterbringen?492 Kant reagierte auf dieses Problem eines vermeintlichen Auseinanderfallens der theoretischen und praktischen Vernunft und damit einhergehend der phänomenalen und der noumenalen Welt mit der Kritik der Urteilskraft, die er als Erhellung eines Wirklichkeitsbereiches konzipierte, der als »unerforschliche Wurzel« der anderen beiden »Welten« fungieren und damit die Einheit des ganzen kritischen Systems sicherstellen sollte. Diesem Versuch Kants, die Einheit der drei Kritiken plausibel zu machen, wird man kaum nennenswerten Erfolg attestieren. Zumindest die jüngere Philosophengeneration (allen voran Johann Gottlieb Fichte) empfand ihn eher als eine Art 491 Vgl. GS I, 401 (»Was aber in der Totalität der Gemütskräfte gegeben ist, das kann nie von der Intelligenz ganz aufgeklärt werden.«). Diese in den Prämissen 2 und 4 in Anspruch genommene Inkommensurabilität bildet einen zentralen Gedanken von Diltheys Philosophie des Lebens (siehe Abschnitt 3.2.3). 492 Vgl. GS I, 318–328 (»Kants Kritik der Metaphysik empfing ihre Richtung durch diese Aufgabe, den notwendigen Kausalzusammenhang mit der moralischen Welt zusammenzudenken.« S. 327).
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nachträglicher »Flickschusterei«, der sie maßgeblich zur eigenen Theorieproduktion anregte.493 Aus der bereits dargestellten Phänomenologie der Metaphysik im zweiten Buch der Einleitung lässt sich ein weiteres Beispiel (diesmal: epochalen Ausmaßes) zur Illustration dieses Arguments entnehmen. Dort hatte Dilthey nachgezeichnet, wie mit den frühchristlichen Kirchenvätern eine Metaphysik des Willens neben die (ausschließlich vom Intellekt und der theoria her entworfene) aristotelische Substanzmetaphysik tritt.494 Die Spannungen zwischen beiden 493 Vgl. KdU B xix–xxv (»Also muß es doch einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben […]«, (S. xx, Hervorhebung im Original); »Denn alle Seelenvermögen oder Fähigkeiten können auf die drei zurückgeführt werden, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust, und das Begehrungsvermögen.« (S. xxii–xxiii, Hervorhebungen im Original); Fichte 1986: 18–20 (»Wie seine [sc. Kants] entscheidenden, und allein wahrhaft bedeutenden Werke, die drei Kritiken, vor uns liegen, hat er dreimal angesetzt. In der Kritik der reinen Vernunft war ihm die sinnliche Erfahrung das Absolute (x); […] Die hohe innere Moralität des Mannes berichtigte den Philosophen, und es erschien die Kritik der praktischen Vernunft. In ihr zeigte sich durch den inwohnenden kategorischen Begriff das Ich, als etwas an sich, was es in der Kritik der reinen Vernunft, lediglich gehalten und getragen von dem empirischen Ist, nimmermehr sein konnte; und wir hätten das zweite Absolute, eine moralische Welt = z. […] und es erschien die Kritik der Urtheilskraft, und in der Einleitung dazu, dem Allerbedeutendsten an diesem sehr bedeutenden Buche, das Bekenntniß, daß die übersinnliche und sinnliche Welt denn doch in einer gemeinschaftlichen, aber völlig unerforschlichen Wurzel, zusammenhängen müßten, welche Wurzel nun das dritte Absolute = y wäre. […] Kant hat daher durch den letzten entscheidenden Schlag an seinem Lehrgebäude dasjenige, dessen wir ihn beschuldigen [sc. nicht »bis zur reinen Einheit durchgedrungen« zu sein (S. 18)], keineswegs verbessert, sondern es nur freimüthig gestanden und selber aufgedeckt.«, Hervorhebungen im Original). 494 Zum »Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles« vgl. Ritter 2003a. Die Typisierung verschiedener Ausprägungen der Metaphysik wurde etwa von Theo Kobusch aufgegriffen und weiter differenziert. Kobusch unterscheidet drei Formen der Metaphysik: (i) die theoretische Metaphysik »als Wissenschaft vom Seienden«, zurückgehend auf Aristoteles, aber entscheidend konsolidiert erst im Rahmen der spätantiken Kommentarliteratur; sie ist »allgemeine Ontologie, Wissenschaftstheorie und Theologie« (Kobusch 1999: 31, 33); (ii) die »Metaphysik des Subjekts« bzw. der »Vereinigung mit dem Einen«; eine Tradition ausgehend von neuplatonischen Kommentaren zum platonischen Dialog »Parmenides« (etwa von Jamblich, Proklos, Ps.-Dionysius Areopagita), die sich nicht in Theoriebildung erschöpft, sondern an einer praktischen »Umkehr ins Innere« und »Transformierung des Bewußtseins« interessiert ist und in diesem Sinne »Philosophie als geistige Übung« auffasst (Kobusch 1999: 38, 45, 42f); und (iii) die »praktische Metaphysik« der von Origenes gestifteten frühchristlichen Tradition der spekulativ-mystischen Kommentierung des canticum canticorum (vgl. Kobusch 1999: 45ff), nach deren Selbstverständnis »die Metaphysik der christlichen Philosophie nicht die griechische Ontologie in anderer Gestalt, sondern eine gegenüber der aristotelischen Tradition neue, eigenständige, von ihr spezifisch unterschiedene Form der Metaphysik« sei (Kobusch 1999: 47). Im Vergleich fällt auf, dass Dilthey die zweite Form der Metaphysik in seiner Platon-Darstellung kaum erwähnt, also die transformativ-praktische Dimension des Platonismus zugunsten des theoretischen Anspruchs abblendet (vgl. GS I, 179–192). Sein Urteil zur »emanatistische[n] Metaphysik« fällt
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Theorieelementen wurden durch das um Ausgleich bemühte Werk des Augustinus zunächst zusammengezwungen, traten dann aber durch die Kommentierungs- und Systematisierungsarbeit der Scholastik mehr und mehr zu Tage. Mit den radikalen Ansätzen des Nominalismus und Voluntarismus im 14. und 15. Jahrhundert war die schroffe Unvereinbarkeit beider Metaphysikansätze schließlich nicht länger zu verleugnen. Damit wird die aporetische Situation der Spätscholastik von Dilthey gewissermaßen als das Ergebnis eines großangelegten geistesgeschichtlichen Experiments beschrieben, nämlich des Versuchs vom Substanzbegriff ausgehende metaphysische Theorien mit solchen, die auf dem Willen basieren, zusammenzuführen.495 Die Herausforderung für das menschliche Wirklichkeitsverhältnis und -verständnis, das Dilthey hier formuliert, ist immens und man wird wohl kaum behaupten wollen, dass es seither an Dringlichkeit verloren hätte. Der philosophische Anspruch, das menschliche Weltverhältnis als Erkennende, als Handelnde und als Empfindende mittels einer begrifflichen Struktur einzufangen und mithilfe eines vereinheitlichenden Vokabulars zu artikulieren, ist nach wie vor uneingelöst. Dilthey selbst deutet denkbare Strategien an, wie das Problem der Disparatheit der Wirklichkeitsverhältnisse umgangen werden könnte, ohne den universalen Anspruch der Metaphysik aufzugeben: »will sie [sc. die Metaphysik] sich durchsetzen, so muß sie immer entweder durch Trugschlüsse diese Kategorien in inneren Zusammenhang bringen, oder sie muß das in unserem lebendigen Verhalten Enthaltene verstümmeln.«496
Wenn gilt, dass wir die Welt »nur unter einer der Grundkategorien [sc. Sein, Ursache, Wert, Zweck] auffassen« können (s. o.), liegt es auch nahe, im Rahmen einer metaphysischen Theorie zu versuchen, die übrigen Grundkategorien auf diese eine zurückzuführen. Aufgrund der unterschiedlichen »Provenienz« der Grundkategorien ist eine solche Vermittlung für Dilthey der Sache nach jedoch ausgeschlossen und lässt sich nur durch »Trugschlüsse« erschleichen. entsprechend eher ungünstig aus: sie entstand, »indem die Phantasie, beflügelt von orientalischem Fabelwesen, das Geheimnis der Nähe und Ferne Gottes zu bewältigen rang und es doch nur in der Bilderschrift des Naturwissens auszudrücken imstande war: ein unfruchtbares Zwittergebilde aus der Ehe von Religion und Philosophie, Dichten und Denken, Orient und Okzident: keine Gestalt des Gedankens, mit welcher eine Geschichte der Metaphysik ernsthaft zu rechnen hätte, obgleich ihre Nachwirkungen durch das ganze Mittelalter hindurch bis in die neuere Zeit reichen.« (GS I, 257, Hervorhebung hinzugefügt). Aus dieser Wertung und der (gegenüber Augustinus) untergeordneten Rolle, die Dilthey dem Origenes für die christliche Tradition zuerkennt (vgl. GS I, 265), ist zu entnehmen, dass Dilthey die von Kobusch beschriebene zweite und dritte Form letztlich nicht als genuine und selbstständige Ausprägungen von Metaphysik anerkennt, da sie die »Grenzen allgemeingültiger Wissenschaft« überschreiten (GS I, 257). 495 Siehe oben das Schema in Abschnitt 2.2. 496 GS V, 405.
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Eine andere mögliche Strategie, die es erlauben würde, an dem Anspruch einer einheitlichen Metaphysik festzuhalten, bestünde darin, die Phänomenologie des Seelenlebens grundlegend anders zu beschreiben, beispielsweise nicht mehr als ein Verhalten zu Wirklichkeit. In diesem Sinne ließe sich der Wirklichkeitsbegriff weitgehend abkoppeln von der Sphäre menschlichen Erlebens und etwa an der Theoriesprache der Physik ausrichten, wie es im Rahmen des physikalistischen Naturalismus auch geschieht. »Wirklich« wäre dann, was im Rahmen der theoretischen Physik eine explanatorische Rolle spielt; die vermeintliche Wirklichkeit, die sich im menschlichen Erleben erschließt, würde dem weiten Feld der theoretisch unerheblichen Epiphänomenalität zugerechnet. Eine solche Revision käme nach Diltheys Auffassung einer »Verstümmelung« [sc. der erlebten Wirklichkeit] gleich, d. h. sie würde den tatsächlichen gelebten menschlichen Gehalten und Bezügen nicht gerecht; eine Entgegnung, die einen Naturalisten allerdings kaum beeindrucken dürfte. In seinen Beiträgen zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890) argumentiert Dilthey zudem dafür, dass die Strategie einer Explikation des Wirklichkeitsverhältnisses in ausschließlich theoretischen Begriffen und in repräsentationalistischem Vokabular keine überzeugende Zurückweisung des Außenweltskeptizismus leisten kann.497
2.4.3 Das epistemische Argument Die dritte in den Texten Diltheys identifizierbare Argumentationsstrategie zielt auf die Voraussetzung jeder »folgerichtigen Metaphysik« den Satz vom Grunde, also die Behauptung einer prinzipiellen Kongruenz von Seins- und Denkstrukturen, die es erlaubt, Wahrheiten, die weit über das Gegebene hinausgreifen, zu erschließen. (P.1) Jede Metaphysik setzt die Gültigkeit des Satzes vom Grunde und die Kongruenz von Denk- und Seinsstrukturen voraus. (P.2) Sofern deren Gültigkeit nicht abgesichert werden kann, haben auf sie aufbauende metaphysische Sätze bestenfalls hypothetische Geltung. (P.3) Die aus der Geistes- und Philosophiegeschichte bekannten Begründungen haben weitgehend ihre Plausibilität eingebüßt (Schöpfungsmythen, Weltvernunft, prästabilierte Harmonie, Pantheismus etc.).498 497 GS V, 126–130. 498 Die verschiedenen philosophischen Versuche einer Plausibilisierung der Kongruenz von Denk- und Seinsstrukturen, oder (wie Dilthey sich auch ausdrückt): die Versuche, »die metaphysische [sc. ontologische] Logik aufrechtzuerhalten« diskutiert Dilthey im Rahmen seiner Logik-Vorlesungen (vgl. GS XX, 167f, s. o.). Nicht berücksichtigt wird von ihm die Strategie, über eine evolutionäre Argumentation die Entsprechung von Denk- und Wirk-
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(P.4) Für endliche Erkenntnissubjekte lässt sich kein zwingender Nachweis ihrer Gültigkeit erbringen. (P.4*) Es gibt Evidenzen, die gegen die universelle Gültigkeit des Satzes vom Grunde sprechen (Quantenphysik). (K.1) Metaphysischen Sätzen kommt bestenfalls ein hypothetischer Status zu. (K.2) Metaphysik im Sinne einer apriorisch-apodiktischen Vernunftwissenschaft ist (für endliche Erkenntnissubjekte) unmöglich. Die Kongruenz von Denk- und Seinsstrukturen ist (aus der Perspektive endlicher Erkenntnissubjekte) nicht aufweisbar. So ist es etwa notorisch schwierig, die Gültigkeit von Denkgesetzen, wie dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, in einem ontologischen Sinne zu beweisen.499 Dilthey selbst erläutert diese Inkongruenz immer wieder dahingehend, dass sich Wirkliches nicht restlos in Begriffen »zersetzen« lasse.500 Metaphysische Theorien, die in dem einen oder anderen Sinn eine solche Kongruenz von Denk- und Seinsstrukturen voraussetzen, können keinen Anspruch auf Notwendigkeit und strikte Allgemeinheiten ihrer Aussagen erheben, solange nicht auch diese Voraussetzung mit apriorischer Gewissheit nachgewiesen ist. Dieses Argument spricht weniger für die unmittelbare Unmöglichkeit metaphysischer Theorienbildung, sondern leugnet den apriorischen und apodiktischen Charakter ihrer Einsichten.501 Die Aussicht, dass im Bereich des epistemisch Menschenmöglichen nur die Aufstellung möglicher metaphysischer Theorien liegen könnte, die nicht selten im Verhältnis empirischer Äquivalenz zueinander stehen, und zwischen denen keine Entscheidung herbeizuführen möglich wäre, zieht unmittelbar die kritische Frage nach Relevanz und Interesse einer solchen »Forschung« nach sich. Diltheys Metaphysikkritik weist in unserer Rekonstruktion also drei verschiedene Stränge auf: sie argumentiert (i) gegen die apriorische und damit auch gegen die universelle Geltung der Substanz- und der Kausalitätskategorie; wobei er so vorgeht, dass er im Wesentlichen die empiristische Kritik Humes an beiden lichkeitsstrukturen zu plausibilisieren. So könnte man versuchen, die relativ bessere Passung von Denk- und Wirklichkeitsstrukturen als bedeutenden Vorteil im Überlebenskampf zu beschreiben, doch dafür müsste zunächst gezeigt werden, dass die Fähigkeit zur adäquaten mentalen Repräsentation wirklicher Strukturen ein notwendiges Element von »fitness« im Sinne der Evolutionstheorie darstellt. Doch selbst dann wäre die objektive Gültigkeit der Denkstrukturen auf den im Überlebenskampf unmittelbar relevanten mesoskopischen Bereich beschränkt. 499 Die Möglichkeit wahrer Widersprüche lässt sich nicht aus rein begrifflichen Gründen ausschließen (»dialetheism«). Diesem Umstand wird in parakonsistenten Logikkalkülen Rechnung getragen (vgl. Priest; Berto; Weber 2018). 500 Vgl. GS XVIII, 199 (»Es gibt keine Zersetzung der Welt in Begriffe.«). Siehe Abschnitt 3.2.3. 501 Prämisse 4 lässt natürlich Raum für eine gewisse Plausibilisierung der Geltung des Satzes vom Grunde und eine Kongruenz zwischen Denk- und Seinsstrukturen (etwa auf abduktivem Weg und für einzelne Wirklichkeitsausschnitte), doch auch auf diesem Wege lässt sich ein apriorischer Theorieanspruch nicht aufrechterhalten.
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Kategorien aufgreift und um den Aufweis der historischen Variabilität dieser vermeintlichen reinen Verstandesbegriffe ergänzt; (ii) zieht Dilthey die Möglichkeit einer begrifflichen Erfassung der wesentlichen menschlichen Weltbezüge im Rahmen einer konsistenten Theorie in Frage. In einem schwachen Sinn ist diese Inkommensurabilitätsthese rein deskriptiv zu verstehen, und zwar dahingehend, dass eine überzeugende einheitliche Weltbeschreibung, die sowohl die kausale Geschlossenheit der materiellen Welt als auch die menschliche Freiheit (in einem wiedererkennbaren Sinn) berücksichtigt, bisher nicht vorliegt. Darüber hinaus behauptet Dilthey jedoch die stärkere These einer prinzipiellen Inkommensurabilität von Begrifflichem und Wirklichem, von Erkennen, Wollen und Fühlen zueinander, die er zudem als Grundaxiom seiner eigenen Philosophie etablieren wird. Zuletzt weist Dilthey (iii) den hypothetischen Charakter metaphysischer Theorien nach, der gegeben ist, sofern diese die Geltung des Satzes vom Grunde oder eine Kongruenz von Denk- und Seinsstrukturen voraussetzen, die er für grundsätzlich unbeweisbar hält. Dies hat eine empfindliche Depotenzierung des legitimen Anspruchs metaphysischer Theorien zur Folge, da die Problematizität der Voraussetzungen auch auf die im Rahmen der Theorie behaupteten Modalitäten durchschlägt und zu bloßer Möglichkeit abschwächt. Dilthey greift das Projekt einer wissenschaftlichen Metaphysik mithin in drei Hinsichten an: er stellt die immanente Konsistenz und inhaltliche Bestimmtheit zentraler Kategorien (Substanz, Kausalität) in Frage, er problematisiert die Möglichkeit eines vollständigen, konsistenten und kohärenten Kategoriensystems (Inkommensurabilität von Wollen, Fühlen, Erkennen) und stellt ihre Erkenntnisansprüche im Modus der Apriorizität (strikte Allgemeinheit und Notwendigkeit) als ungedeckt durch die epistemischen Ressourcen endlicher Erkenntnissubjekte dar. Ein bündiger und abschließender Beweis der Unmöglichkeit einer reinen Vernunftwissenschaft ist Dilthey gleichwohl nicht gelungen. (Die Angreifbarkeit der Prämissen Diltheys eigens darzulegen scheint uns unnötig. Es sei lediglich auf den thetischen Charakter der zentralen Inkommensurabilitätsthese hingewiesen.) Insofern ist Frischeisen-Köhlers Einschätzung der dialektischen Lage zuzustimmen. »Freilich scheitern alle diese [sc. metaphysischen] Konstruktionen, da sie unter Voraussetzungen stehen, welche, wie uns Dilthey gelehrt hat, selber noch in geschichtlichen Lebensverfassungen gegründet sind. Aber solange nicht der Nachweis geliefert ist, das[s] grundsätzlich ein Standpunkt nicht zu gewinnen ist, der die Einheit der Betrachtung wahrt, aber unabhängig von dem in der relativen Lebenserfahrung gegebenen Gehalt ist, kann die logische Möglichkeit einer künftigen Metaphysik nicht als widerlegt gelten.«502 502 Frischeisen-Köhler 1912a: 10. Ähnlich das Fazit von Thomas Nenon: vgl. Nenon 1990: 49–51.
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Ist damit nun in der Sache überhaupt etwas gewonnen? Oder ist Dilthey mit Blick auf sein Beweisziel schlicht gescheitert? Zunächst sollte es nicht sonderlich überraschen, dass Dilthey selbst, der die Endlichkeit unserer epistemischen Ressourcen so stark betont, letztlich die Mittel fehlen, um die Möglichkeit der Metaphysik (nach geradezu apriorischen Standards) strikt zu widerlegen. Gerade unter diesen Bedingungen kommt der im Zuge der Metaphysikgeschichte gemachten Erfahrung (der Phänomenologie der Metaphysik) eine so erhebliche Bedeutung zu. Denn da wir die Möglichkeit der Metaphysik mit unseren endlichen epistemischen Ressourcen nicht letztgültig und ein für alle Mal ausschließen können, wird sie eine stets gegebene theoretische Option bleiben, sei es im Modus der Hoffnung oder der Verlockung. Um nun aber zu entscheiden, ob die bloße »logische Möglichkeit« der Metaphysik ein guter Grund ist, weiterhin (nicht nur epistemische) Ressourcen aufzuwenden, um eine solche auch zu finden, ist ein historischer Blick auf diese Unternehmung und ihren bisherigen Ertrag letztlich unvermeidlich. So werden die Aussichten des metaphysischen Projekts etwa daran zu bemessen sein, ob sich mit Blick auf die Philosophiegeschichte eher so etwas wie theoretischer Fortschritt oder eher ein »Trümmerfeld […] metaphysischer Behauptungen [und] demonstrierter Systeme« konstatieren lässt.503 In beiden Fällen fungierte die Philosophiegeschichte als Erfahrungsraum, der genuine und nicht-substituierbare Lern- und Reflexionsmöglichkeiten eröffnet. So wie europäische Gesellschaften durch den Rückgriff auf die im Rahmen der Konfessionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts gemachten Erfahrungen lernen konnten und mussten, wie sich funktionale und wie dysfunktionale Arrangements der politischen und der religiösen Machtsphären auswirken, so versucht auch Dilthey die Philosophiegeschichte fruchtbar zu machen für eine begründete Stellungnahme zum Problem der Metaphysik und zwar gerade vor dem Hintergrund, dass eine stringente, rein systematische Entscheidung über deren Möglichkeit mangels epistemischer Ressourcen nicht getroffen werden kann.
503 GS VIII, 76. Es ist anzunehmen, dass eine Korrelation des jeweiligen Blicks auf die Philosophiegeschichte mit gewissen metaphysischen und metaphilosophischen Positionen besteht. Doch daraus folgt nicht, dass sich die Adäquatheit (philosophie)historischer Rekonstruktionen vollständig auf doktrinäre Festlegungen relativieren ließe. Das Handwerk des Historikers behält gegenüber allen systematischen Positionen und Interessen eine gewisse Autonomie und gerade in dieser Differenz von Systematik und Geschichte liegt dessen interessantes kritisches Potenzial (siehe Anhang). Daraus ergibt sich die Präsumtion, dass doktrinär erheblich engagierte Geschichtsdarstellungen tendenziell methodologische Mängel aufweisen. (Im Fall Bertrand Russells ist das wahrscheinlich unstrittig; ein für die Prüfung dieser These interessanter Fall wären die philosophiehistorischen Arbeiten von Scott Soames.)
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In diesem Lichte sollte dann auch Diltheys massiv anmutendes Fazit (»Metaphysik als Wissenschaft ist unmöglich.«504) betrachtet werden. Die behauptete Unmöglichkeit wäre im buchstäblichen Sinne allenfalls selbst unter Rückgriff auf metaphysische Setzungen und unter Inanspruchnahme von strikten Allgemeinheiten und behaupteten Notwendigkeiten einzulösen.505 Diese Unentscheidbarkeit enthebt jedoch nicht von der Notwendigkeit, gegenüber dem Projekt der Metaphysik eine Haltung zu entwickeln. Aufgrund seiner Rekonstruktion der Metaphysikgeschichte und seiner systematischen Argumente, die die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft prinzipiell in Frage stellen, kommt Dilthey zu dem Schluss, dass das Projekt der Metaphysik nicht einmal als theoretisches Desiderat angesehen werden sollte, das sich aufgrund der enormen immanenten Schwierigkeit der zu lösenden Probleme einer Verwissenschaftlichung zwar bisher entzogen habe, aber, insofern nur genügend personeller, theoretischer, disziplinärer und finanzieller Aufwand getrieben werden würde, früher oder später zuverlässig in den Zustand der Normalwissenschaft übergehen wird. Stattdessen erscheint ihm die Aussicht auf eine Wissenschaft der Metaphysik eher als eine anthropologisch fundierte und insofern notwendige epistemische Illusion endlicher Erkenntnissubjekte.506 Und erst die Entfaltung des historischen Bewusstseins, also die Aneignung des immensen Erfahrungsreservoirs, das die Menschheit im Lauf der Jahrhunderte u. a. im Umgang mit dem »metaphysischen Trieb« angesammelt hat, machte den emanzipatorischen Schritt möglich, diese Illusion zu durchschauen und einzuhegen.507
504 GS I. 398. 505 Vgl. Nenon 1990: 51 (»perhaps what we have is a ›hermeneutic‹ of the modern historical consciousness for which it is, at least from Dilthey’s standpoint, impossible to provide an argument which would establish the equivalent of metaphysical certainty without itself repeating the gesture of metaphysics.«, Hervorhebung hinzugefügt). 506 Dieser Blick auf die Metaphysikgeschichte ergibt sich aus Diltheys späterer Weltanschauungslehre (siehe dazu Abschnitt 2.5). Vgl. GS VIII, 224 (der »unauslöschliche metaphysische Trieb«). Angelegt ist dieser bereits in sehr frühen Aufzeichnungen (vgl. GS XVIII, 206f). 507 Vgl. GS I, 382f (»Der metaphysische Geist umspinnt freilich die Tatsachen der Geschichte und der Gesellschaft an unzähligen Punkten mit noch weit feineren Fäden: diese stammen aus dem natürlichen Vorstellen und Denken. […] Diese feineren und unvermeidlichen Täuschungen löst erst die Erkenntnistheorie völlig auf.«); GS V, 9; VII, 290f. Das hieße Metaphysikkritik wäre ebenso wie Atheismus und »Entzauberung der Natur« notwendigerweise ein zivilisatorisches Spätprodukt, ganz ähnlich wie gewisse astronomische Phänomene (Parallaxe, wiederkehrende Kometen, etc.) im Rahmen eines Menschenlebens mitunter überhaupt nicht beobachtbar sind, sondern die kumulierte Beobachtungsleistung vieler Generationen voraussetzen.
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2.5
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Comtes Erläuterung des metaphysischen Stadiums als eines bloßen Übergangsphänomens zwischen Theologie und positiver Wissenschaft ohne eigenen spezifischen Gehalt überzeugt Dilthey, wie verfolgt, nicht. Diesem scheint es in Anbetracht der Metaphysikgeschichte und unter Berücksichtigung des Beharrungsvermögens metaphysischer Denkmuster auch unter vermeintlich wissenschaftlichen Bedingungen vielmehr angemessen, der Metaphysik eine deutlich gewichtigere Rolle zuzuerkennen. Seine letzte, in seiner Weltanschauungslehre dokumentierte Auffassung zu dieser Frage lässt sich als eine Konstatierung eines anthropologisch fundierten Hanges zu metaphysischem Denken beschreiben. So trete neben den Erkenntnistrieb, wie er sich in der einzelwissenschaftlichen Forschung niederschlägt, das menschliche Bedürfnis nach einer Weltanschauung, verstanden als funktionales Erfordernis der menschlichen Psyche, nicht als optionale Ideologie. »Diese Struktur [sc. aller Weltanschauungen] ist jedesmal ein Zusammenhang, in welchem auf der Grundlage eines Weltbildes die Fragen nach Bedeutung und Sinn der Welt entschieden und hieraus Ideal, höchstes Gut, oberste Grundsätze für die Lebensführung abgeleitet werden.«508
Diese Aufgabe einer »vollständigen Auflösung des Lebensrätsels« erfüllen die positiven Einzelwissenschaften grundsätzlich nicht.509 Und auch aus einer Synopse der wissenschaftlichen Erkenntnisse einer Zeit entsteht noch keine Weltanschauung im Sinne Diltheys. Dazu ist ein Ausgriff auf das Ganze (die »Welt«) erforderlich und auch eine Deutungsanstrengung und Gewichtung der Wissensbestände unter axiologischem Aspekt. Dieses leisten in erster Linie Religion, Dichtung, Philosophie.510 Die Weltanschauungen, zu denen sie jeweils führen, unterscheiden sich »nach ihrem Bildungsgesetz, ihrer Struktur und ihren Typen«.511 Unser Interesse an Diltheys Theorie der Weltanschauungen gilt hier den Spezifika, die er expliziten Weltanschauungen im Medium des Begriffs, mithin philosophischen Weltanschauungen zuschreibt, denn sie dürften sich zugleich eignen, den persistenten Hang zu metaphysischen Denkmustern allgemeiner Verwissenschaftlichung zum Trotz zu erklären. Aussagen jedenfalls, die strikte 508 GS VIII, 82. 509 Ebd. 510 Vgl. GS V, 378–399; VIII, 87–100. Daraus ergibt sich umgekehrt eine kritische Distanz zu jedem Szientismus: wo die Funktion einer Weltanschauung faktisch erfüllt wird, hat man den Bereich wissenschaftlicher Forschung in aller Regel verlassen. Auffällig ist ferner die subtile Differenz zu Hegels Trias des absoluten Geistes. Dass Dilthey statt »Kunst« hier »Dichtung« ansetzt, deutet auf die große Relevanz der Sprache für die Ausbildung einer Weltanschauung hin. 511 GS VIII, 87.
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Allgemeinheit und notwendige Geltung beanspruchen, bieten sich für einen Ausgriff auf das Ganze, für Generalisierungen maximaler Reichweite geradezu an. »Die philosophische Weltanschauung, wie sie so unter dem Einfluß der Richtung auf Allgemeingültigkeit entsteht, muß ihrer Struktur nach wesentlich verschieden sein von der religiösen und der dichterischen. Sie ist im Unterschied von der religiösen universal und allgemeingültig. Und im Unterschied von der dichterischen ist sie eine Macht, die reformatorisch auf das Leben wirken will.«512 »Das Vorwiegende des Übergangs in die philosophische Form ist in der seelischen Tendenz gegründet, seinem Tun Festigkeit und Zusammenhang zu geben, was schließlich nur im allgemeingültigen Denken erreicht wird.«513 »Wenn die Weltanschauung begrifflich erfaßt, begründet und so zur Allgemeingültigkeit erhoben wird, so nennen wir sie Metaphysik.«514
Sowohl aus dem Aspekt der Allgemeingültigkeit, dem Insistieren auf Begründungen und damit auf Gewissheit, wie auch aus der Orientierung an Festigkeit und Zusammenhang spricht ein spezifisch menschliches Sicherheits- und Orientierungsbedürfnis. In dieser Hinsicht kann Metaphysik verstanden werden als Immunisierungsstrategie eines Welt- und Selbstverständnisses gegenüber empirischen Herausforderungen und Zumutungen. Die historisch aufweisbaren philosophischen Weltanschauungen lassen sich nach Dilthey drei Grundtypen zuordnen:515 (a) den ersten Typus bilden materialistische oder naturalistische Weltanschauungen, zu ihnen rechnet er neben Comtes Positivismus auch Demokrit, Lucrez, Epikur, Hobbes, die Enzyklopädisten, moderne Materialisten und Avenarius [d.i. materialistischer Monismus]; (b) zum zweiten Typus, dem objektiven Idealismus, zählen Herakleitos, die strenge Stoa, Spinoza, Leibniz, Shaftesbury, Goethe, Schelling, Schleiermacher, Hegel [d.i. idealistischer Monismus]; (c) als dritten Typus führt Dilthey den Idealismus der Freiheit, zu dem Platon, Cicero, die christliche Spekulation, Kant, Fichte, Maine de Biran, die ihm verwandten französischen Denker und Carlyle gehören [d.i. Dualismus]. Zu diesen drei Typen der Weltanschauung komme es, indem eine der Dimensionen des Seelenlebens (wollen, fühlen, erkennen) unter Hintansetzung der übrigen verabsolutiert werde. So konzipiert der Materialismus das Verhältnis zur Welt als ein im Grunde theoretisches, als ein »auffassendes Verhalten« und setzt 512 513 514 515
GS V, 400. GS V, 380f. GS V, 401. Vgl. im Folgenden: GS V, 402; vgl. Ermarth 1978: 323–338; Tuttle 1969: 54–61.
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als seinen Gegenstand primär die natürliche Welt in ihren kausalen Verhältnissen, neben denen »geistig[e] Lebenseinheiten nur wie Interpolationen im Texte der physischen Welt erscheinen«.516 Der objektive Idealismus denkt die Welt vom Gefühl her und nimmt sie entsprechend primär unter dem Wertaspekt wahr. Sie erscheint ihm als eine geistig-seelische Einheit, bestimmt von teleologischen Strukturen.517 Dem Idealismus der Freiheit ist schließlich der Wille zentral, er blickt auf die Welt durch die Augen des Akteurs und betont entsprechend die »Unabhängigkeit des Geistes von der Natur« und die »Souveränität der Persönlichkeit«. Aufgrund ihres globalen Charakters und ihrer miteinander unvereinbaren Festlegungen hinsichtlich der Struktur der Wirklichkeit, schließen sich die Weltanschauungstypen gegenseitig aus. Jede der Weltanschauungen stellt dabei eine einseitige Generalisierung eines der seelischen Grundverhältnisse dar. Daraus folgt nun für Dilthey, dass, da das Leben in diesen drei Dimensionen die nicht hintergehbare Grundlage seiner Philosophie518 bildet, alle Typen gleichermaßen berechtigt sind. »die Weltanschauungen sind gegründet in der Natur des Universums und dem Verhältnis des endlichen auffassenden Geistes zu denselben. So drückt jede derselben in unseren Denkgrenzen eine Seite des Universums aus. Jede ist hierin wahr. Jede aber ist einseitig. Es ist uns versagt, diese Seiten zusammenzuschauen. Das reine Licht der Wahrheit ist nur in verschieden gebrochenem Strahl für uns zu erblicken.«519
Diltheys Hinweis, dass metaphysische Großtheorien nicht allein kognitive Funktionen erfüllen, macht zum einen erklärlich, weshalb sie nicht – wie nach Comtes Schema zu erwarten wäre – mitsamt der Religion und dem Mythos längst vollständig durch positive Wissenschaft ersetzt worden sind. Zum anderen bedeutet diese Einsicht aber auch einen Fortschritt in der Bewusstmachung menschlicher Motivationsstrukturen. Der Umstand, dass eine anthropologisch bedingte Neigung zu metaphysischen Denkmustern anzunehmen ist und damit auch ein anthropologisch bedingtes strukturelles Interesse an der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Metaphysik, erhöht die Rechtfertigungslast aufseiten
516 517 518 519
GS V, 403. Ebd. Siehe Abschnitt 3.2.4. GS VIII, 224 (Hervorhebungen hinzugefügt). »So bleibe denn die Sonne mir im Rücken! / Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend, / Ihn schau’ ich an mit wachsendem Entzücken / […] / Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend, / Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer, / Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend, / Umher verbreitend duftig kühle Schauer. / Der spiegelt ab das menschliche Bestreben. / Ihm sinne nach, und du begreifst genauer: / Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.« (Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Erster Akt: Anmutige Gegend, Verse 4715ff, Hervorhebung im Original (GW XVIII/1, 108)); vgl. Antoni 195?: 48.
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der Verteidiger der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Metaphysik noch weiter, da er auf die Möglichkeit einer grundlegenden Befangenheit und unbewussten Wunschdenkens (zusätzlich zum beruflichen Eigeninteresse professioneller Metaphysiker) aufmerksam macht. Diese Verknüpfung der Metaphysikkritik der Einleitung mit der Weltanschauungslehre aus Diltheys letzten Lebensjahren dient einerseits als fruchtbare und weiterführende Explikation seiner Unzufriedenheit mit dem Comteschen Drei-Stadien-Schema, die er bereits im Rahmen des früheren Texts formuliert.520 Andererseits ist jedoch festzuhalten, dass sie nicht der in der Einleitung zu findenden Kontrastierung von Metaphysik und dem Meta-Physischen entspricht: »die metaphysische Wissenschaft ist ein historisch begrenztes Phänomen, das meta-physische Bewußtsein der Person ist ewig.«521
Mit letzterem ist offensichtlich nicht so etwas wie ein metaphysischer Trieb gemeint, der sich gegebenenfalls zur institutionalisierten Praxis eines anerkannten Betriebs wissenschaftlicher Metaphysik entfaltet. Der Ton dieser Passagen erinnert eher an eine dogmatisch ungebundene Frömmigkeit à la Schleiermacher. »Aber das Meta-Physische unseres Lebens als persönliche Erfahrung d. h. als moralischreligiöse Wahrheit bleibt übrig [sc. nach dem Ende der Metaphysik als Wissenschaft].«522 »Diese Erfahrungen [sc. des Willens in der Person] aber sind so persönlich, so dem Willen eigen, daß der Atheist dies Meta-Physische zu leben vermag, während die Gottesvorstellung in einem Überzeugten eine bloße wertlose Hülse sein kann. Der Ausdruck dieses Tatbestandes ist die Befreiung des religiösen Glaubens aus seiner metaphysischen Gebundenheit durch die Reformation. In ihr erlangte das religiöse Leben seine Selbständigkeit.«523
Interessanter als Diltheys Versicherung, dass seine Metaphysikkritik eine wohlverstandene Religiosität nicht tangiert, ist die epistemische Rolle, die er dem Meta-Physischen zuschreibt. So stelle es, trotz mangelnder Verallgemeinerbarkeit aufgrund seines persönlichen Charakters, also trotz seiner dediziert unwissenschaftlichen und unverwissenschaftlichbaren Form, für ihn offenbar doch eine Quelle von Evidenz dar, auf der so relevante Überzeugungen fußen, wie die
520 Vgl. GS I, 395 (»Die ganze Phänomenologie der Metaphysik hat gezeigt, daß die metaphysischen Begriffe und Sätze nicht aus der reinen Stellung des Erkennens zur Wahrnehmung entsprangen, sondern aus der Arbeit desselben an einem durch die Totalität des Gemüts geschaffenen Zusammenhang.«). 521 GS I, 386. 522 GS I, 384 (Hervorhebung im Original). 523 GS I, 385 (Hervorhebung im Original).
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von Integrität und Autonomie der eigenen Person.524 Das Meta-Physische bezeichnet demnach Elemente des Lebensvollzugs, die weder durch eine metaphysische Wissenschaft eine eigentliche Begründung erfahren können noch einer solchen bedürfen.525
524 GS I, 385 (»Nun entziehen sich aber die Erfahrungen des Willens in der Person einer allgemeingültigen Darstellung, welche für jeden anderen Intellekt zwingend und verbindlich wäre. […] Während die psychologische Wissenschaft vergleichend Gemeinsamkeiten des Seelenlebens an den psychischen Einheiten feststellen kann, verbleibt doch die Inhaltlichkeit des menschlichen Willens in der Burgfreiheit der Person.«). Hieran ließe sich gut eine Untersuchung zur Stellung des Personenbegriffs anschließen und möglicherweise auch ein Zugang zu Kobuschs »praktischer Metaphysik« entwickeln (vgl. Kobusch 1999: 38ff). 525 Sie sind als selbsttragende Vollzüge »beständig [ihr] eigener Beweis« (GS V, 131). Gleiches gilt nach Schleiermacher, an dem sich Dilthey hier wohl orientiert, für das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, weshalb eine sich recht verstehende christliche Dogmatik für Gottesbeweise auch keine Verwendung hat (vgl. Schleiermacher 1960: 174–180 (§33)); vgl. Gehlen 2016: 355–372 (»Irrationale Erfahrungsgewissheit«; hier besonders den Abschnitt über die Gewissheit des Satzes »Alle Menschen sind sterblich.« (S. 363–365)); Gebauer 2009: 160–165.
3.
Der Ausgang vom Leben »It is the diversity of life that renders thinking difficult. Many a beginning philosopher has been on the point of grasping the problem of suffering, but what sage can cope with that of happiness?« Thornton Wilder, The eighth day
Mit dem Lebensbegriff beginnt der positive Teil der Diltheyschen Philosophie. In seinen Texten gewinnt er erst nach und nach an Explizitheit und sachlicher Relevanz. Spätestens aber seit der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) überschreitet er deutlich die Wahrnehmungsschwelle und verfestigt sich dann über die Antrittsrede in der Akademie der Wissenschaften (1887) und die Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890) bis zu den Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) zusehends zu einem fest umrissenen philosophischen Terminus. Im Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) schließlich bildet er dann ein zentrales, fest etabliertes Theorieelement. An keiner Stelle jedoch findet sich eine bündige Definition, die alle relevanten Verwendungen abdecken würde. Dass eine systematische Rekonstruktion des Lebensbegriffs daher ihren Ausgang von einzelnen exemplarischen Begriffsverwendungen zu nehmen hat, ist zwar unvermeidlich, aber auch nicht unproblematisch, denn »was Dilthey unter Leben verstanden hat, kann […] nur sein Werk im ganzen erläutern.«526 Diese wertvolle exegetische Maßgabe, mit der Hans-Hermann Groothoff vor allzu eng geführten Bestimmungsversuchen des Lebensbegriffs warnt, ist in dem Sinne zu beherzigen, dass jede Explikation des Lebensbegriffs sich daran messen lassen muss, inwiefern sich von ihr zwanglos ein Zusammenhang zu beliebigen Aspekten des Diltheyschen Gesamtwerks herstellen lässt. Ein früher Tagebucheintrag macht deutlich, dass Diltheys Beschäftigung mit dem Lebensbegriff, trotz dessen recht später Prominenz, weit zurückreicht. »Leben heißt: in Anschauung und Tätigkeit alle Kräfte der Welt auf sich wirken lassen, alle Züge des eigenen Wesens zu einheitlicher Gestalt auswirken – so entsteht das Kunstwerk unseres Daseins.«527
526 Groothoff 1981: 101. 527 J 117; (24. 3. 1860).
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Der Ausgang vom Leben
Bereits in dieser Reflexion, in der sich offenkundig die persönliche Bildungserfahrung eines jungen Erwachsenen niederschlägt, zeichnen sich Elemente ab, die auch in der Folge die Kontur des Lebensbegriffs bestimmen werden. So ist die Rede von zwei Instanzen (Akteur und Welt), die sich wechselseitig bestimmen und zwar »in Anschauung und Tätigkeit«, also sowohl wirkend-handelnd als auch kognitiv-kontemplativ. Zudem wird dem Leben ein produktiver Charakter zugeschrieben, der sich in der Bildung des persönlichen Charakters manifestiert und im Lebenslauf niederschlägt. Als besonders auffällig ist außerdem die Häufung der Auszeichnungen: Einheit, Ganzheit, Totalität und Produktivität anzusprechen. In Diltheys erster monographischer Publikation, dem ersten Teil des Leben Schleiermachers (1870), wird der Ausdruck »Leben« dagegen noch überwiegend im umgangssprachlichen Sinn, in welchem er den Lebenslauf einer individuellen Person bezeichnet, verwendet und auch im ersten Buch der Einleitung in die Geisteswissenschaften fällt ihm noch keine besonders tragende Rolle zu.528 Erst im historisch angelegten zweiten Buch der Einleitung wird der Lebensbegriff als genuin philosophischer Begriff etabliert und gewinnt von da an in den Texten Diltheys immer mehr an Bedeutung. Dort heißt es etwa in einer einschlägigen methodologischen Reflexion: »Denn der Zusammenhang der Dinge ist ursprünglich von der Totalität der Gemütskräfte hervorgebracht worden; nur schrittweise hat dann das Erkennen das rein Gedankenmäßige aus ihm herausgelöst. Leben ist das erste und immer Gegenwärtige, die Abstraktionen des Erkennens sind das zweite und beziehen sich nur auf das Leben.«529
Diese Passage wirkt zunächst rätselhaft. Inwiefern hat die »Totalität der Gemütskräfte« den »Zusammenhang der Dinge« »ursprünglich« »hervorgebracht«? Handelt es sich hier nicht offenkundig um eine massiv idealistische These und damit um eine handgreiflich metaphysische Theorie? Eine solche Lesart lässt sich vermeiden, wenn man bedenkt, dass an dieser Stelle nur der »Zusammenhang der Dinge« und nicht die Dinge selbst auf die »Totalität der Gemütskräfte« zurückgeführt wird. Es ist hier also der basalen Gegenstandskonstitution gegenüber an höherstufige Synthesisleistungen des Subjekts zu denken. Ein Rückgriff auf eine bereits in anderem Zusammenhang angeführte Stelle erlaubt eine weitergehende Erschließung dieser Passage.
528 Vgl. Ulmer 1978: 394f. Auf die spätere, »bedeutsamere« Verwendung des Ausdrucks »Leben« verweist etwa GS XIII/2: 153 (»Schleiermacher geht vom Leben selber aus, das er in seiner ganzen Inhaltlichkeit und Bedeutung in sich erfährt und erfassen möchte. In diesem seinem Ausgangspunkte ist er allen mitphilosophierenden Zeitgenossen überlegen, und hierin liegt die außerordentliche Anziehungskraft, die er noch heute übt, der beinahe persönliche Zauber seiner Philosophie.«). 529 GS I, 148.
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»Wirklichkeitserkenntnis nach den kausalen Relationen, Erleben von Wert, Bedeutung und Sinn und das willentliche Verhalten, das in sich den Zweck für die Willenshandlung und die Regel für die Bindung des Willens enthält – das sind verschiedene Verhaltungsweisen, welche in der seelischen Struktur verbunden sind. Ihre psychische Relation ist für uns im Erlebnis da; sie gehört unter die letzten erreichbaren Tatsachen des Bewußtseins.«530
Nimmt man sie hinzu wird zweierlei deutlich. Unter »Totalität der Gemütskräfte« ist die bereits erwähnte psychische Trias von Vorstellen, Fühlen und Wollen zu verstehen und der »Zusammenhang der Dinge«, so legt die zweite Stelle nahe, werde zunächst erlebt (und nicht etwa gedacht), d. h. er ist primär im Erlebnis gegeben. »Was aber in der Totalität der Gemütskräfte gegeben ist, das kann nie von der Intelligenz ganz aufgeklärt werden.«531
Dieses Prinzip ist uns der Sache nach bereits in Diltheys Aufweis der Schwierigkeit eines einheitlichen und konsistenten Kategoriensystems begegnet und verdeutlicht weiter das Verhältnis, das Dilthey zwischen dem Leben und der Sphäre theoretischer Abstraktionen ansetzt: der erlebte »Zusammenhang der Dinge« lässt sich nur partiell und regional begrifflich-theoretisch artikulieren. In welchem Sinne ist nun dem Leben gegenüber diesen Abstraktionen ein Primat zuzusprechen? Geht es hier lediglich um eine genetische Priorität oder auch um Konsequenzen für die Geltung der gewonnen Abstraktionen? Die Allgemeinheit der Diltheyschen Formulierung legt nahe, dass er an dieser Stelle tatsächlich eine Art lebensphilosophischen Nominalismus vertritt: Leben steht mithin für die eigentliche, primäre Wirklichkeit, gegenüber der empirische Begriffe, d.i. die Abstraktionen der Erkenntnis, lediglich einen abgeleiteten, sekundären Charakter besitzen. Sie unabhängig von ihrer Entstehung als gültige Einsichten in eine dem Erleben noch zugrundeliegende Wirklichkeitsschicht anzusehen, schließt Dilthey offenbar aus. Ihren legitimen Gebrauch sieht er an ihren Rückbezug auf das Leben, auf ihren genetischen Ursprung gebunden.532 Eine andere relevante, spätere Begriffsbestimmung Diltheys lautet: »Leben ist der Zusammenhang der unter den Bedingungen der äußeren Welt bestehenden Wechselwirkungen zwischen Personen, aufgefaßt in der Unabhängigkeit dieses Zusammenhangs von den wechselnden Zeiten und Orten. Ich gebrauche den Ausdruck Leben in den Geisteswissenschaften in der Einschränkung auf die Menschenwelt; er ist hier durch das Gebiet, in dem er gebraucht wird, bestimmt 530 GS V, 405. 531 GS I, 401. 532 Diese vorläufige Charakterisierung der Diltheyschen Position zu dieser Frage wird im Abschnitt zu den Kategorien des Lebens im Einzelnen ausgewiesen und diskutiert (siehe 4.1 und 4.2).
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und keinem Mißverständnis ausgesetzt. Das Leben besteht in der Wechselwirkung der Lebenseinheiten.«533
Auch hier begegnet wiederum der Hinweis auf Zusammenhänge, diesmal allerdings ohne Bezug auf eine Erlebenskomponente, dafür ist die Rede von sozialen Wechselwirkungen. Schon diese wenigen Proben zentraler Verwendungsweisen des Lebensbegriffs machen deutlich, dass aufgrund der Bedeutungsfülle und der Disparatheit der Kontexte (handelt es sich nun um einen psychologischen oder um einen soziologischen Begriff ? usf.) eine einheitliche Interpretation des Lebensbegriffs sich mit nicht unerheblichen Problemen konfrontiert sieht. Wegen der grundlegenden Bedeutung, die diesem Begriff im Denken Diltheys zukommt, ist abzusehen, dass dessen Interpretation gravierende Konsequenzen für die Gesamtdeutung seines philosophischen Projekts entfalten wird. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn sich völlig divergente Diltheybilder letztlich auf eine interpretatorische Beschränkung auf einzelne Aspekte seiner Verwendung des Lebensbegriffs oder auf eine Versteifung auf im Vergleich mit anderen Stellen relativ unwesentliche Begleitbestimmungen zurückführen lassen. »Wie hältst Du’s mit dem Lebensbegriff ?« ist daher mit Fug und Recht als Gretchenfrage der Diltheyinterpretation zu bezeichnen.534 Auch wenn eine vielstimmige Dilthey-Exegese grundsätzlich begrüßenswert ist, ist es sinnvoll, vor der eigentlichen Interpretationsarbeit einen Strang der Diltheyrezeption eigens zu problematisieren, da er dermaßen irreführend und einflussreich ist, dass er leicht den Blick auf die eigentliche philosophische Substanz der Diltheyschen Position verstellen kann. Des Weiteren erweist sich Diltheys Inanspruchnahme des Lebensbegriffs bei genauerer Betrachtung als strukturell vielseitig und aspektreich, sodass auch eine angemessene Explikation des philosophischen Profils seiner »Philosophie des Lebens«, wozu in diesem Kapitel ein Versuch unternommen werden soll, deren verschiedenen Dimensionen Rechnung zu tragen und material-inhaltliche Hinsichten und Bestimmungen, methodologische und (nicht zuletzt) metaphilosophische jeweils festzustellen und voneinander zu unterscheiden hat. Philosophie »vom Standpunkt des Lebens«535 aus zu betreiben, wie es Dilthey anstrebt, führt in allen drei Bereichen zu charakteristischen Konsequenzen: es führt zu einer inhaltlichen Festlegung auf substantielle philosophische Thesen, wie es auch ein spezifisches (geistesgeschichtliches) Vorgehen in der konkreten Forschungsarbeit nahelegt und zudem die der Forschungsarbeit übergeordneten Überzeugungen maß533 GS VII, 228. 534 Einen Überblick über die mögliche Bandbreite an Positionen, die mit dem Lebensbegriff agieren, bietet Josef Simon (vgl. Simon 1973). 535 GS V, 136.
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geblich prägt (etwa hinsichtlich der Frage, was überhaupt ein philosophisches Problem ausmacht, was es bedeutet, ein solches zu lösen usw.).
3.1
»Lebensphilosophie« und »Philosophie des Lebens«
Als in den 1920er Jahren eine nennenswerte philosophische Rezeption Diltheys überhaupt erst einsetzte, hatte der Lebensbegriff bereits eine immense Konjunktur erfahren. Heinrich Rickert empfand das damalige Geistesleben als dermaßen unter dem Bann dieser philosophischen Idee stehend, dass er 1920 die »Philosophie des Lebens« als »am weitesten verbreitete philosophische Strömung unserer Tage« bezeichnen konnte.536 Lebensphilosophische Motive gewahrte er nicht nur in der Kunst und Religiosität, sondern auch in den Natur- und Geisteswissenschaften, in der Philosophie und sogar, wenn auch nur andeutungsweise, in der Mathematik.537 Ausgelöst wurde diese internationale Modeströmung nach Rickerts Auffassung im Wesentlichen durch zwei Autoren: Friedrich Nietzsche und Henri Bergson. Insbesondere das schriftstellerische Genie Nietzsches habe dem Lebensbegriff allererst »den lockenden verführerischen Goldklang und die neue blinkende Farbe« verliehen und sei daher maßgeblich für dessen massive Faszinationskraft verantwortlich.538 Als »der eigentliche Philosoph des Lebens« habe allerdings Henri Bergson zu gelten, da er (anders als Nietzsche) Urheber einer viel beachteten und in sich geschlossenen philosophischen Lehre sei (und nicht bloß einer »Stimmung« und »Überzeugung«).539 In diese auf »das Leben« hin polarisierte Atmosphäre hinein publizierten Diltheys Schüler 1924 den fünften und sechsten Band der Gesammelten Schriften unter dem von Dilthey selbst festgesetzten Titel »Die geistige Welt: Einleitung in die Philosophie des Lebens«. So nimmt es nicht Wunder, vor allem wenn man zudem die sich dem Publikum stellende Schwierigkeit in Rechnung stellt, aus den in diesen Bänden aneinandergereihten kleinteiligen Abhandlungen Diltheys einen adäquaten Eindruck von dessen philosophischem Profil zu gewinnen, dass die Rezeption Diltheys unter den verzerrenden Einfluss Nietzsches und Bergsons geriet. Nicht jeder Diltheykommentator und erst recht nicht jeder Diltheygegner scheint sich darüber klar geworden zu sein, dass unser Autor, wie Rickert klarsichtig betont, »völlig unabhängig von Nietzsche und Bergson war«.540 Allzu 536 537 538 539 540
Rickert 1920: 3. Vgl. Rickert 1920: 8–11. Rickert 1920: 20. Rickert 1920: 22. Rickert 1920: 27. Die Quellen, aus denen Dilthey seinen Lebensbegriff entwickelte, sind zahlreich; zu den wesentlichsten gehören der junge Hegel (vgl. GS IV, 138ff), Fichte, Schleiermacher, Goethe und die Autoren der Historischen Schule (vgl. Rothacker 1972: 62–
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leicht verleitet offenbar der bloße und vermeintlich vertraute Ausdruck »Leben« dazu, die Frage nach dem durch ihn bezeichneten Begriff für überflüssig zu halten.
3.1.1 Spekulative Missverständnisse und romantizistische Projektionen Diltheys ausführliche Auseinandersetzung mit der Tradition der Metaphysik und seine scharfe Kritik an ihr bilden den Hintergrund, vor dem seine eigenen philosophischen Thesen überhaupt erst ihre bestimmte Kontur gewinnen. Dass dieses wesentliche Element der Diltheyschen Philosophie vom Einsatz der Diltheyrezeption in den 1920ern an und weit darüber hinaus, kaum Beachtung fand, war für ein angemessenes Verständnis seiner Position nicht eben förderlich. Erklärlich ist dieser Umstand zum einen durch das zu dieser Zeit neu erwachte Interesse an metaphysischer Theoriebildung und zum anderen durch die Assoziierung Diltheys mit anderen lebensphilosophischen Autoren als Vertreter eines vermeintlich einheitlichen Philosophieansatzes (in den dann seine prononcierte Metaphysikkritik nur schwerlich zu integrieren war, weshalb es nahe gelegen haben dürfte, deren Gewicht möglichst herunterzuspielen). Manfred Riedel hat diese Fehlleistung der Rezeption klar als solche benannt und ebenfalls auf die spezifischen Interessenschwerpunkte der frühen DiltheyInterpreten zurückgeführt.541 Während daher einerseits Diltheys psychologischen Abhandlungen aus seiner »mittleren« Schaffenszeit und andererseits dem späten Aufbau der geistigen Welt in den Geisteswissenschaften und der Weltanschauungslehre die größte Aufmerksamkeit geschenkt wurde, neigte man dazu, die Einleitung in die Geisteswissenschaften einer positivistischen Frühphase Diltheys zuzurechnen, die er im weiteren Verlauf seines Schaffens zunehmend überwunden habe. Damit war eine einfache Erklärung für das Ausbleiben der abschließenden Teile der Einleitung und zugleich eine Rechtfertigung gefunden, die deutliche Metaphysikkritik Diltheys nicht allzu ernst nehmen zu müssen, was der philosophischen Sensibilität der 1920er entschieden entgegenkam. Besonders konsequent und freimütig verfährt in diesem Sinne Alfons Degener. Er vertritt die Auffassung, Diltheys Metaphysikkritik sei überhaupt nicht als dessen genuines Anliegen zu werten, sondern als bloß oberflächliche Akkommodation seinerseits an die Konventionen seiner »grundsätzlich metaphysik81). Auch Leopold von Ranke verwendet regelmäßig einen emphatischen Lebensbegriff (vgl. Ranke 1955: 41; Kessel 1954: 283, 285, 293, 307). Johannes Hennig betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung Wilhelm von Humboldts und Herders (vgl. Hennig 1934: 30ff, 53ff). Heinrich Rickert verweist in dieser Frage auf Diltheys »[engste] Fühlung mit der deutschen Romantik« (Rickert 1920: 27). 541 Vgl. Riedel 1978b: 43f.
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feindlichen oder -fälschenden […] Umwelt«.542 Entsprechend bietet er eine Interpretation der »Lebensphilosophie als Metaphysik des Lebens«.543 Fragwürdig werden Degeners Überlegungen schon durch den Umstand, dass er einen anderen Metaphysikbegriff als Dilthey zugrunde legt, ohne diese Verschiebung in Rechnung zu stellen. Während Dilthey unter Metaphysik, wie gesehen, eine apriorische Wissenschaft substantialer Formen im Stil des Aristoteles verstand, hat der Begriff für Degener keine sonderlich klar bestimmten Grenzen mehr: »Metaphysik ist nicht ein fachlich abgegrenzter Gegenstand der Philosophie, sondern Charakter des Philosophierens, letzten Endes Charakter des Philosophen.«544 In diesem Sinne entgrenzt und zudem nachhaltig euphorisiert von der »Auferstehung der Metaphysik«545 seiner Tage, begrüßt Degener Diltheys Lebensphilosophie als »[neue] Form von Metaphysik«.546 Eine solche Begriffsaufweichung lässt erkennen, dass in der Sache, und das heißt hier: in der Sache Diltheys, kein wesentlicher Aufschluss zu gewinnen ist, schließlich fragt dieser nach der Möglichkeit der Metaphysik als einer allgemeingültigen Wissenschaft und nicht im Sinne einer charakterologischen Symptomatik. Einem rekonstruktiven Zugriff auf Diltheys Philosophie des Lebens, der von der Metaphysikkritik (bewusst oder nicht) absieht, zeigt sich auch das konstruktive philosophische Projekt selbst notwendigerweise in einem völlig anderen Licht und in radikal veränderten Proportionen. Das am häufigsten anzutreffende Missverständnis des Lebensbegriffs, das auf eine solche Nichtbeachtung der systematischen und erkenntnistheoretischen Rahmenannahmen, auf die sich Dilthey durchgängig festlegt, zurückzuführen ist, besteht in dessen Explikation im Sinne der spekulativen Naturphilosophie der Romantik.547 Eine besonders pointierte Formulierung dieser Auffassung findet sich bei Karl Joël: »Er [sc. Dilthey] hat dieser Relativität [sc. der Weltanschauungen] eben doch ein Absolutes zugrunde gelegt, das Leben selber, das aus seiner eigenen Fülle die Buntheit der Weltanschauungen entladet. So tiefe Wahrheit ich darin erkenne, das Absolute Diltheys und unserer meisten Lebensphilosophen bleibt doch im Grunde nur der Quell des Relativen, ein völlig Unbestimmtes und Unbestimmbares, ein bequemes Negativum als Neutrum der Welt, in das man alles wirft, was man nicht deklinieren kann, ein dio-
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Degener 1933: 19; weniger zugespitzt, aber der Tendenz nach ähnlich: Glock 1939: 23–26. Degener 1933: 56ff. Degener 1933: 16. So ein für den Zeitgeist symptomatischer Buchtitel Peter Wusts von 1925 (vgl. Schnädelbach 1983: 232–235, 329n723; Degener 1933: 18). 546 Degener 1933: 19. 547 Neben Schelling und Novalis vgl. man die in [Bernoulli/Kern 1926] versammelten Autoren (u. a. Oken, Hufeland, Schubert, Troxler) und auch die Einleitung dieses passenderweise Ludwig Klages gewidmeten Bandes.
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nysisches asylum ignorantiae, ein dämonisches, alles gebärendes Chaos, ein ewig in seinen Gestalten wechselnder Proteus.«548
Stellt man ihr das philosophiehistorische Panorama an die Seite, mit dessen Hilfe Alfons Degener versucht, die Lebensphilosophie einzuordnen, werden die problematischen Aspekte dieses Interpretationsansatzes besonders deutlich. »Das ›Leben‹ ist für die Lebensphilosophie in neuer weltanschaulicher und neuer philosophischer Fassung zum Range einer letzten Gegebenheit aufgerückt. Es nimmt jetzt die Stellung und Bedeutung ein, die für das Mittelalter ›Gott‹, für das Natürliche System der Geisteswissenschaften von Descartes über Rousseau zu Kant die ›Natur‹ oder die gegensätzlich zugehörige ›Vernunft‹ inne hatte, die für die romantische Philosophie bei Fichte, Schelling, Hegel der ›Geist‹ hatte, und es entspricht schon dem, was über Dilthey hinaus bei Heidegger in stärkerer Konkretisierung und schärferer begrifflicher Fassung als ›Existenz‹ Organon und Gegenstand der Philosophie ist. Die Frage nach dem UrEinen ist in eine neue Epoche ihrer Geschichte getreten; sie soll jetzt eine wissenschaftliche Antwort finden vom ›Leben‹ aus.«549
Wenn Degener den Lebensbegriff Diltheys in eine Linie mit Zentral- und Letztbegriffen der Philosophiegeschichte stellt, insinuiert das substantielle und strukturelle Kontinuitäten, die es gerade zu prüfen gilt. Seinem Schema liegt offenbar ein Gedanke funktionaler Äquivalenz philosophischer Zentralbegriffe zugrunde, der es erlaubt, verbunden mit der Vorstellung einer philosophia perennis in Form eines invarianten metaphysischen Problembestandes, »Gott«, »Natur«, »Vernunft«, »Geist«, »Existenz«, »Leben« jeweils als verschiedene Theorieansätze zur Explikation des einen Grundproblems, d.i. als Antworten auf »die Frage nach dem Ur-Einen«, gegeneinander auszutauschen. In diesem Bild ist der jeweils in Anschlag gebrachte Zentralbegriff der einzige historisch variable Parameter, was den tatsächlichen Verhältnissen und Spielräumen historischer Variabilität der philosophischen Disziplin nicht ansatzweise gerecht wird. Nicht alleine die Theorieansätze sind inhaltlichen Veränderungen unterworfen, auch der mit ihnen jeweils erhobene Erklärungsanspruch, die Einschätzung des für erklärungsbedürftig Gehaltenen, die akzeptierten Klassen von Evidenzen, die Problembestände, die Relevanz- und Rationalitätskriterien, sodass einem der Gehalt einer Äquivalenzbehauptung wie »[der Lebensbegriff] nimmt jetzt die Stellung und Bedeutung ein, die für das Mittelalter ›Gott‹ […] hatte« zusehends zwischen den Fingern zerrinnt.550 548 Joël 1928: 9 (Hervorhebung im Original). 549 Degener 1933: 56. 550 Degener selbst weist darauf hin, dass die Grundbegrifflichkeit nicht der einzige zu berücksichtigende Parameter beim Theorienvergleich bleiben sollte, wenn er feststellt, dass bei Dilthey »das Metaphysische […] nicht mehr als metaphysische Substanz außerhalb der Wirklichkeit, sondern als metaphysische Bedeutsamkeit der Wirklichkeit in ihr selbst.« (Degener 1933: 32) Doch auch die Häufung des Prädikats »metaphysisch« in diesem Satz
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Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt die romantizistischspekulative Lesart des Lebensbegriffs weiterhin nicht unmaßgeblich den Blick auf Diltheys Philosophie.551 Auch die im allgemeinen Bewusstsein als rechtmäßige Erbengemeinschaft Diltheys geführte »Philosophische Hermeneutik« ist von einer strukturell ähnlichen Perspektive auf sein Werk bestimmt.552 Sowohl Heidegger als auch Gadamer übergehen in ihrer selektiven Aneignung Diltheyscher Begriffe und Motive konsequent dessen Metaphysikkritik. Ein unbeteiligter Beobachter sieht da häufig klarer als die Protagonisten, wie eine Bemerkung Jürgen von Kempskis beweist: »Die hermeneutische Philosophie setzt die Tradition der Metaphysik fort, gegen die sie sich absetzen will: die des platonischen Ideenrealismus und die der teleologischen Weltauffassung des Aristoteles.«553
Anstatt die Auflösung der Metaphysik und auch ihrer Rudimente zu betreiben, wie es Diltheys ursprünglich gefasste und durchgängig festgehaltene Intention war, scheint er ironischerweise eine philosophische Traditionslinie begründet zu haben, die eifrig daran arbeitet, die überkommene Metaphysik durch eine »hermeneutische Metaphysik« zu ersetzen.554 In einer Bemerkung zur Wortgeschichte des (dem »Leben« etymologisch nahestehenden) Ausdrucks »Erlebnis« legt Hans-Georg Gadamer nolens volens eine mögliche Ursache dafür offen. Bei ihm findet sich folgender kurioser Nachweis von dessen pantheistischem Charakter.555
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stellt nicht bereits sicher, dass und inwiefern es sich bei Dilthey und der Tradition um dieselbe Sache handelt. Beispielhaft hierfür ist die Formulierung von George G. Iggers: »In his later essays and fragments, Dilthey attempts to solve the apparent contradiction between his belief in the possibility of objective knowledge and the subjective origin of all cognition by referring subject and object to a common substratum, Life.« (Iggers 1983: 139). Vgl. Baumgartner 1997: 107f; Diwald 1963: 148 (»Im Gewande der Lebensphilosophie stellen sich Reste der alten Weltgeistlehre vor.«). Heideggers und Gadamers Diltheybild darzustellen, fällt nicht in den Umkreis dieser Untersuchung. Dass Heidegger sich für Diltheys Metaphysikkritik wenig empfänglich zeigt, ist offenkundig und erklärt zudem, weshalb er in Sein und Zeit eher an die (deutlich metaphysikaffinere) Position Yorcks anknüpft (vgl. Heidegger 2006: 397ff, §77). Diese Prädilektion für Diltheys Briefpartner setzt Gadamer fort. Bei ihm liegt die Sache ansonsten ähnlich wie bei Alfons Degener. Er erkennt in Diltheys Beeinflussung durch den Positivismus kein wesentliches Element seiner Philosophie, sondern sieht in ihr eher eine missliche zeitgeistbedingte Verstrickung (vgl. Gadamer 2010: 241–243, 246ff; 1985: 161f, 174). Mit diesen Hinweisen sind lediglich Ansatzpunkte einer Problematisierung gegeben; sie ersetzen freilich keine ins Einzelne gehende Untersuchung (vgl. Fagniez 2019: 332–336). von Kempski 1992c: 407; vgl. GS VII, 291; Gadamer 2010: 245. Ebd. Vgl. Gadamer 2010: 69.
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(1) Dilthey prägt den Erlebnisbegriff. (2) Dilthey war der Biograph Schleiermachers. (3) Schleiermacher verwendet an keiner Stelle den Ausdruck »Erlebnis«, dafür aber zahlreiche Synonyma. (4) Im Fall der Synonyma »ist der pantheistische Hintergrund deutlich sichtbar«. (5) Diltheys Erlebnisbegriff besitzt einen pantheistischen Charakter.
Diese Assoziationskette (sie ein Argument zu nennen, wird man wohl zu Recht zögern) lässt sich sinngemäß auf den Lebensbegriff übertragen (dabei würde allenfalls (3) entfallen). Wenn es sich psychologisch tatsächlich so verhalten sollte, dass den bildungsbürgerlichen Leser angesichts der zentralen Ausdrücke »Leben« und »Erlebnis« unweigerlich pantheistische Assoziationen ergreifen (wie es Gadamer offensichtlich ergangen ist), gegen die alle Begriffsbestimmungen seitens des Autors selbst nichts auszurichten vermögen, stellt sich die Frage, ob Dilthey nicht besser beraten gewesen wäre, für sein nachmetaphysisches Philosophieprojekt unbelastete Neologismen zu erfinden. Man stelle sich versuchsweise vor, das Wort »Leben« in den Texten Diltheys durch einen möglichst assoziationsfreien Kunstausdruck zu ersetzen, ohne dass der mit ihm bezeichnete Begriff in seinem Gehalt und seiner Verständlichkeit tangiert würde. Das scheint allerdings kaum möglich; hier könnte insofern eine (philosophisch interessante) Grenze terminologischer Willkür erreicht sein. Da der Weg einer unverfänglichen Übersetzung von Diltheys Terminologie also nicht gangbar sein dürfte, verbleibt die Option, sich die bei gegebener Terminologie einstellenden Assoziationen möglichst bewusst zu machen und einzuklammern, sich mit anderen Worten nicht die Begriffsbedeutung vom »Ton« des Ausdrucks vorgeben zu lassen, sondern von den Maßgaben des Autors und den systematischen Erfordernissen der Rahmenfestlegungen.556 Der Blick auf eine weitere exemplarische Verwendung des Lebensbegriffs durch Dilthey macht dessen Verständnis im Sinne eines metaphysischen Letztbegriffs und Absolutums hochgradig unplausibel. Im Kontext eines systematischen Problems, das Gadamer immerhin das »entscheidende« nennt, da es den Übergang »von der psychologischen zur hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften« markiere, greift Dilthey in folgender Weise auf den Lebensbegriff zurück.557 »Nun entsteht die Frage, wie kann ein Zusammenhang, der nicht als solcher in einem Kopf hervorgebracht wird, der also weder direkt erlebt ist, noch auf das Erlebnis einer Person zurückgeführt werden kann, aus deren Ausdrücken und den Aussagen über sie als ein solcher in dem Historiker sich bilden? Dies setzt voraus, daß logische Subjekte, 556 Gadamer 2010: 69 (»[Die Verbindung zur Totalität, zur Unendlichkeit] ist dem Ton, den das Wort Erlebnis bis zum heutigen Tage hat, deutlich vernehmbar.«). 557 Gadamer 2010: 228 (Hervorhebungen entfernt).
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die keine psychologischen sind, gebildet werden können. Es muß Mittel geben, sie abzugrenzen, es muß ein Rechtsgrund da sein, sie als Einheiten oder Zusammenhang aufzufassen. Wir suchen Seele; dies ist das letzte, zu dem nach langer Entwicklung der Geschichtschreibung wir gelangt sind. Und hier entsteht nun das große Problem: gewiß ist alles Wechselwirkung seelischer Einheiten, aber auf welchem Weg finden wir nun Seele da, wo nicht Einzelseele ist? Die tiefste Grundlage ist Leben und was von ihm ausgeht […]«558
Führt man sich die methodologischen Skrupel vor Augen, die Dilthey hier formuliert, wenn es darum geht, überindividuelle »logische Subjekte« zu setzen, die prinzipiell nicht im konkreten Erlebniszusammenhang gegeben sein können, die letztlich auch ausschlaggebend für Diltheys Distanznahme gegenüber dem Projekt einer Völkerpsychologie, wie sie sein enger Bekannter Moritz Lazarus gemeinsam mit Heymann Steinthal verfolgte, gewesen sein dürften, scheint die Annahme einer Einführung eines letzten Explanans im Sinne des Ur-Einen oder Ur-Grundes kaum nachvollziehbar. Auch wenn Dilthey eine Lösung des Problems mittels des Lebensbegriffs an dieser Stelle nur andeutet, wird doch deutlich, dass ein Verweis auf »ein dionysisches asylum ignorantiae, ein dämonisches, alles gebärendes Chaos« (s. o.) keinerlei Perspektive auf eine erkenntnistheoretische Absicherung der geisteswissenschaftlichen Forschung eröffnen würde (stattdessen: ignotus per ignotius). Die zentrale Frage im interpretatorischen Umgang mit dem Lebensbegriff bei Dilthey lautet mithin: erstreckt sich die Gültigkeit der metaphysikkritischen Restriktionen der Einleitung auch auf die mittlere und späte Schaffensperiode und damit auf den Lebensbegriff ? Ist davon auszugehen, dass Dilthey entweder um die Jahrhundertwende seine Ablehnung der Metaphysik aufgegeben hätte, um den Lebensbegriff mit mehr ontologischer Dignität versehen zu können, oder dass er in Bezug auf grundlegende Weichenstellungen seiner theoretischen Position gravierende Inkonsistenzen aufweist und ihm der metaphysische Charakter seines Lebensbegriffs schlicht nicht bewusst geworden wäre? Die primäre hermeneutische Strategie hat vernünftigerweise zunächst von der Einheit und Konsistenz des theoretischen Ansatzes eines Autors auszugehen und nur wenn diese Interpretationshypothese nicht zu halten ist, macht es Sinn zu Behelfskonstruktionen wie den genannten überzugehen. Einzelne Textstellen mit einem gewissen pantheistischen Sound reichen dabei nicht ohne weiteres hin, nachzuweisen, dass eine konsequent nachmetaphysische Rekonstruktion von Diltheys Philosophie des Lebens nicht in Betracht komme, genauso wenig wie allein der Umstand, dass Dilthey die Einleitung oder auch das Leben Schleier-
558 GS VII, 282 (Hervorhebung hinzugefügt).
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machers nicht vollendete, bereits einen Bruch und Neuansatz in seiner intellektuellen Biographie belegen kann.559 Klar ist zumal die Intention Diltheys. So finden sich im Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) zahlreiche und substantielle Rückgriffe auf die Einleitung und auch auf die psychologischen Schriften und zwar ohne die Spur einer inhaltlichen Revision.560 Gesprächsweise hat Dilthey noch 1904 (also deutlich nach den landläufigen Terminierungen seines vermeintlichem Neuansatzes in Reaktion auf die scharfe Kritik durch Ebbinghaus oder die Lektüre von Husserls Logischen Untersuchungen) gegenüber Kurt Breysig ausdrücklich betont, dass »er […] in der 2. Auflage [sc. der Einleitung] nichts, keinen Buchstaben zurückzunehmen [brauche].«561 Neben die hermeneutische Maxime, einen Autor möglichst stark zu machen, tritt zudem das systematische Interesse an dem von Dilthey konzipierten Projekt einer Philosophie des Lebens. Was zeichnet diesen Standpunkt aus? Und lässt er sich plausibel vertreten?
3.1.2 Konsequente Antimetaphysik An einzelnen Stimmen, die auf den postmetaphysischen Charakter des Lebensbegriffs hinwiesen, hat es nicht gefehlt. Ein feineres Ohr als Gadamer beweist hier Bollnow, indem er den »Ton« eines Ausdrucks nicht unbesehen auf den bezeichneten Begriff überträgt. »Im Begriff des Lebens fehlt bei Dilthey […] der religiös-metaphysische Klang dieses Wortes. Er bedeutet nicht eine besondere metaphysische Gegenständlichkeit neben der empirischen Wirklichkeit oder eine besondre metaphysische Ausdeutung der empirischen Wirklichkeit, sondern er bedeutet diese empirische Wirklichkeit selbst, grade in ihrer ganzen faktischen Gegebenheit.«562
Noch schärfer weist Helmuth Plessner auf das Irreführende romantischer Assoziationen bei der Interpretation von Diltheys Lebensbegriff hin.
559 Vgl. GS VIII, 78 (»[…] wie es sich in seinen Äußerungen objektiviert hat […] ist das Leben in unserm Wissen in unzähligen Formen uns gegenwärtig und zeigt doch überall dieselben gemeinsamen Züge.«). Hier eine Aktivität eines metaphysischen Subjekts (und damit auch dessen »Existenz«) behauptet zu sehen, erfordert ein geradezu naives Kleben an der sprachlichen Oberfläche. Vgl. GS VIII, 145 (dazu Stegmaier 1992: 166, wobei der grammatische Kontext Stegmaiers Lesart problematisch macht). 560 Vgl. GS VII, 10, 12, 13–15, 22, 41, 80, 87. 561 Breysig 1962: 107, das Gespräch ist auf Ende Dezember 1904 datiert; vgl. auch die einschlägigen Materialien GS I, 409–426. 562 Bollnow 1980: 46f, Hervorhebung im Original.
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»[Das] Absolute ist durch die geschichtliche Erkenntnis aufgelöst. Das ›Leben‹ tritt nicht an seine Stelle. Es ist kein neues An sich, kein Quellgebiet für geschichtliche Erscheinungen, kein Urgrund, der sich in seinen Manifestationen zugleich offenbart und verbirgt. Es hat nichts gemein mit den spekulativen Lebensbegriffen der Fichte, Schelling und Hegel noch mit den vitalistischen Substruktionen Nietzsches oder der nach ihm kommenden Bergson, Klages und Spengler.«563
Damit ist eine enorme Spannweite der Interpretationen aufgetan. Je nachdem ob man den Lebensbegriff mit Karl Joël oder eher mit Helmuth Plessner liest, man wird zu völlig verschiedenen Auffassungen der Diltheyschen Philosophie im Ganzen kommen. Gegeben die Rekonstruktionsergebnisse der ersten beiden Abschnitte dieser Arbeit, zusammen mit allgemeinen hermeneutischen Überlegungen und zudem der Aussicht auf einen unverhältnismäßig interessanteren systematischen Ertrag, kann nicht davon die Rede sein, dass diese beiden Interpretationspole als Extrempositionen anzusehen sind, zwischen denen die Wahrheit zu ermitteln wäre. Stattdessen ergibt sich aus ihnen die entschiedene Präsumtion, für die weitere Untersuchung Bollnows und Plessners Ansatz zugrunde zu legen, da er offensichtlich das metaphysikkritische Anliegen Diltheys bei der Explikation des Lebensbegriffs nicht aus dem Blick verliert, indem er ihn als wesentlich auf die »empirische Wirklichkeit« bezogen erläutert. Bereits damit wird eine grundsätzliche Differenz zu den philosophischen Projekten Bergsons und Nietzsches deutlich, deren Lebensbegriffe offenkundig einen spekulativen Charakter besitzen.564 Eine unqualifizierte Subsumtion Diltheys unter das Etikett »Lebensphilosophie« ist daher als irreführend zu bezeichnen und alles andere als eine erhellende geistesgeschichtliche Einordnung. Um daher eine unglückliche Überlagerung disparater Lebensbegriffe nicht länger zu perpetuieren, wird im Folgenden auch terminologisch zwischen (romantisch-spekulativer) »Lebensphilosophie« und (Diltheys noch zu erläuternder) »Philosophie des Lebens« unterschieden.565 Letzterer Ausdruck zeichnet sich zudem durch eine Doppelbedeutung (genitivus 563 Plessner 1990/91: 293. 564 Gerhard Masur ordnet die Fronten, wie uns scheint, zutreffend, wenn er festhält: »The antimetaphysical attitude of Marx and Darwin found its consummation in Weber, Dilthey, and Freud, and the countercurrents of Bergson and Croce were not strong enough to turn the tide.« (Masur 1961: 416). Dem Antiplatoniker Nietzsche einen spekulativen Lebensbegriff zuzuschreiben, ist kein Widerspruch. 565 Damit ist keineswegs behauptet, dass es keinerlei Ähnlichkeiten zwischen Dilthey, Nietzsche und Bergson hinsichtlich ihrer jeweiligen Begriffe vom Leben gäbe. Für eine differenzierte Sicht der Dinge scheint es uns jedoch hilfreich, substantielle Überschneidungen nicht allein aufgrund eines geteilten Ausdrucks zu unterstellen. Insofern ist die terminologische Identifizierung von »Lebensphilosophie« und »Philosophie des Lebens«, die Georg Misch in einem einflussreichen Aufsatz vornimmt, außerordentlich misslich (vgl. Misch 1926: 538– 540; siehe Abschnitt 4.3).
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Der Ausgang vom Leben
obiectivus und subiectivus) aus, die die für Diltheys Anliegen so zentrale reflexive Struktur der Selbstbesinnung gut zum Ausdruck bringt.
3.2
Materiale und methodologische Bestimmungen einer Philosophie des Lebens
Als Ausgangspunkt der inhaltlichen Bestimmung des Lebensbegriffs greifen wir auf einen Systematisierungsversuch zurück, den Karl Ulmer vorgelegt hat. Er kommt in ihm zu dem Ergebnis, dass Diltheys Verwendung des Ausdrucks »Leben« insgesamt vier Lebensbegriffe erkennen lässt, bzw. dass sich an Diltheys Lebensbegriff vier Aspekte unterscheiden lassen. a) Seele: »Leben bezeichnet einmal den Menschen als Individuum, als welches jeder sich selbst erfaßt.« Die spezifische Art des individualpsychologischen Zusammenhangs, den dieser Begriff bezeichnet, ist dem persönlichen Erleben prinzipiell zugänglich und schlägt sich in der je konkreten menschlichen Biographie nieder. Dilthey entwickelt zu dessen näherer Bestimmung in seinen psychologischen Abhandlungen das Theorem vom »erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens«, nach dem sich im Laufe eines Lebens gemachte Erfahrungen akkumulieren und in Wechselwirkung mit dem jeweiligen aktuellen biographischen Selbstverständnis einen prägenden und pfadabhängigen Einfluss auf folgende Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten ausüben.566 b) Geist: »Zugleich bezeichnet Leben aber auch den Gesamtzusammenhang der Menschen untereinander.« Diesem Lebensbegriff entspricht der Zusammenhang der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, in ihrer diachronen und synchronen Erstreckung. Der Totalitätsausgriff, der in Ulmers Charakterisierung steckt (Gesamtzusammenhang), ist dahingehend zu erläutern, dass mit diesem Begriff die Gesamtheit menschlicher Lebensäußerungen und -sedimentierungen, d.i. der Bestand des (im vollsten Sinne) Verstehbaren angesprochen ist. Für diese Sphäre verwendet Dilthey später den von Hegel entlehnten Ausdruck »objektiver Geist«.567 Dieser kann nicht als bloße Summe individualpsychologischer Ereignisse oder Dispositionen begriffen werden und erschließt sich auch dem Erleben nicht vollständig. Im Rahmen der Einleitung führt Dilthey zur Beschreibung der Kultursysteme, die allgemein dieser Sphäre zuzurechnen sind, »Begriffe zweiter Ordnung«
566 Ulmer 1978: 394; GS V, 177f; GS VI, 167; GS VII, 71f, 80f. 567 Ulmer 1978: 394; GS VII, 131, 228.
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ein, »welche von denen, die von der Individualpsychologie benutzt werden, spezifisch verschieden sind«.568 c) Ökologie569: »Leben besteht überall in der Wechselwirkung eines beseelten Körpers mit einer Außenwelt, die das Milieu desselben bildet.« Dilthey rezipiert die (biologischen) Milieutheorien seiner Zeit und sieht in den Wechselwirkungen zwischen Lebewesen und Außenwelt ein wesentliches Element des Lebens.570 d) Geschichte: »Leben ist die Fülle, die Mannigfaltigkeit, die Wechselwirkung des in alledem Gleichförmigen, was diese Individuen erleben. Es ist seinem Stoffe nach eins mit der Geschichte. An jedem Punkte der Geschichte ist Leben. Und aus Leben aller Art in den verschiedensten Verhältnissen besteht die Geschichte. Geschichte ist nur das Leben, aufgefaßt unter dem Gesichtspunkt des Ganzen der Menschheit, das einen Zusammenhang bildet.«571 Die Angemessenheit dieser von Ulmer vorgetragenen Begriffserläuterungen zeigt sich daran, dass sie sich problemlos durch Textstellen belegen lassen, und daran, dass gar nicht erst versucht wird, so etwas wie eine Realdefinition von »Leben« zu geben.572 Während die ersten beiden Aspekte (a: subjektiver Geist, b: objektiver Geist) dasjenige, was Dilthey unter »Leben« versteht durch Angabe der Extension bestimmen, verweist der dritte auf eine charakteristische Prozessform, in der sich »Leben« abspielt. Der vierte und letzte Aspekt besitzt wieder eher extensionalen Charakter. Er spricht gegenüber den drei vorangehenden mit der Geschichte zwar eine neue Facette an, diese lässt sich jedoch als echte Teilmenge der mit (a)
568 GS I, 45f. 569 Diese biologische Disziplin definierte Ernst Haeckel folgendermaßen: »Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ›Existenzbedingungen‹ rechnen können. Diese sind theils organischer, theils anorganischer Natur; sowohl diese als jene sind […] von der grössten Bedeutung für die Form der Organismen, weil sie dieselbe zwingen, sich ihnen anzupassen.« (Haeckel 1866: 286). 570 Ulmer 1978: 394f; GS VI 167; vgl. GS V, 200f, 212; GS VI, 143. 571 GS VII, 256; vgl. Ulmer 1978: 395. 572 Hans Werner Arndt behauptet: »Die Schwierigkeit, auf die wir stoßen, wenn wir nach Diltheys Verständnis seines Ausdrucks »Leben« fragen, […] liegt vielmehr darin, daß die Möglichkeit einer erklärenden Umschreibung und begrifflichen Bestimmung dessen, was hier mit »Leben« gemeint ist, gerade durch die Geltung des Satzes, das Erkennen könne nicht hinter das Leben zurückgehen, ausgeschlossen wird.« (Arndt 1967: 153). Damit ist fraglos eine relevante Schwierigkeit angesprochen (siehe Abschnitt 3.2.4). Arndt scheint uns aber das Problem der Konsistenz der Diltheyschen Position unnötig zu dramatisieren, indem er nicht bloß eine Realdefinition ausgeschlossen sieht, sondern jedwede »erklärende Umschreibung«. Hätte Arndt recht, wäre die Folge, dass man sich nur zwischen der Inkonsistenz oder der Unbrauchbarkeit einer Philosophie des Lebens entscheiden könnte, denn der konsequente Lebensphilosoph müsste über seinen Grundbegriff schweigen.
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und (b) bezeichneten Mengen auffassen.573 Damit bleiben zunächst drei klar abgrenzbare Lebensbegriffe bzw. drei Aspekte des mit »Leben« bezeichneten Phänomenbestandes. Von zentraler Wichtigkeit für die Einheitlichkeit des Diltheyschen Ansatzes ist nun, deren Verbindung untereinander aufzuweisen und damit die höherstufige Einheit seines Lebensbegriffes abzusichern. Wie bereits angedeutet, stellt sich dieses Vermittlungsproblem, von Dilthey als das »große Problem« apostrophiert (s. o.), in erster Linie in Bezug auf das Verhältnis von individualpsychologischem und kollektivem Lebensbegriff, von geisteswissenschaftlichen Begriffen erster und zweiter Ordnung: »auf welchem Weg finden wir nun Seele da, wo nicht Einzelseele ist?« Für die spekulativ-romantizistische Interpretationsstrategie ist dieses Problem nicht sonderlich gravierend. (Dieser Vorzug lässt sich womöglich sogar als deren hauptsächliche raison d’être begreifen.) Sie stellt die Einheit des Lebensbegriffs dadurch her, dass sie die beiden zu vermittelnden Instanzen (a+b, Seele und Geist, subjektiver und objektiver Geist) als Emanationen desselben Quellgrundes ansieht.574 Diesem Ur-Grund und Ur-Einen würde dann in emphatischem Sinne die Bezeichnung »Leben« zukommen, den seelischen und geistigen Prozessen und Ausformungen nur in einem abgeleiteten Sinne, ähnlich dem Verhältnis von natura naturans und natura naturata oder auch gewissen trinitarischen Spekulationen. Dieser indirekte genetische Zusammenhang von Seele und Geist ließe den Übergang vom einen zum anderen sicherlich erheblich unproblematischer erscheinen. Andererseits ist jedoch der Widerspruch dieses Rückgriffs auf Motive der romantischen Naturphilosophie zu Diltheys theoretischen Rahmenannahmen (insbesondere zu seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Setzung von transzendenten Entitäten) dermaßen eklatant, dass er als Rekonstruktionsansatz nicht ernsthaft in Betracht kommt. Auch rein systematisch erscheint der Versuch, die Einheit des Lebens letztlich in einem massiven substanzialen, d.i. ontologischen Sinn zu konzipieren, nicht weiterführend; der Charakter einer ad hoc-Lösung liegt zudem offen zu Tage.575 Auf der Linie des hier bisher entwickelten und verfolgten Interpretationsansatzes liegt eine solche vertikale Strategie, die auf einen fundierenden Seinsbereich zurückgeht, der als etwas Verbindendes und Grundlegendes hinter den Phänomenen angesiedelt ist, klarerweise nicht. Vor dem Hintergrund des bereits erarbeiteten Verständnisses für Diltheys Projekt bleibt daher allein die Möglich573 Geschichte als echte Teilmenge des subjektiven und objektiven Geistes zu bestimmen, schließt offenkundig einen gewissen Anthropozentrismus dieser Disziplin ein. Naturgeschichte wäre in dieser Perspektive bestenfalls ein Randgebiet, das nur insofern von Interesse wäre, als es Aufschluss gibt über die Vorgeschichte oder den Lebensraum von Menschen. 574 So explizit bei Hellmut Diwald (vgl. Diwald 1963: 186). 575 Zur Problematik der »metaphysischen Einheit des Lebens« vgl. Scheler 1948: 79–84.
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keit, den Zusammenhang des Lebensbegriffs in einem horizontalen Sinne, d.i. innerhalb der »empirischen Wirklichkeit«, zu explizieren. Dazu werden im Folgenden seine wichtigsten Bestimmungen und Konsequenzen durchgegangen, die Dilthey entweder direkt anspricht oder die im Zuge seiner konkreten Arbeit mit ihm erkennbar werden. Dabei wird sich herausstellen, dass zu ihnen materiale philosophische Positionen, methodologische Maximen sowie ein spezifisches metaphilosophisches Selbstverständnis gehören.
3.2.1 Ökologie: Reflexbogen und Regelkreis Die Wechselwirkungsbeziehung zwischen einer psychophysischen Lebenseinheit und ihrem Milieu bildet den Kern des ökologischen Verständnisses von »Leben«, dem sich Dilthey am ausführlichsten während der 1890er Jahre widmete. Diese Verwendungsweise des Lebensbegriffs ist als potentielle Vermittlungsinstanz innerhalb der Diltheyschen Begrifflichkeit besonders vielversprechend: Vermittlung von Menschenwelt und belebter Natur einerseits und möglicherweise eben auch von Seele und Geist. Anders als die bekannte Festlegung Diltheys, den Lebensbegriff strikt auf die Sphäre des Menschen zu restringieren, erwarten lassen würde, betont er an den Stellen, an denen er den ökologischen Lebensbegriff im Sinne der Milieu-Theorie ausführt, ausdrücklich eine Kontinuität der Lebensformen von den einfachsten Organismen über Pflanzen und Tiere bis zum Menschen.576 »Die Lebenseinheit steht mit der äußeren Welt in Wechselwirkung; die besondere Art dieser Wechselwirkung kann mit einem sehr allgemeinen Ausdruck, der hier nur eine Tatsache beschreiben will, welche in letzter Instanz nur am Menschen unserer Erfahrung sich wirklich aufschließt und nachher an ihm beschrieben werden wird, als Anpassung zwischen der psychophysischen Lebenseinheit und den Umständen, unter welchen sie lebt, aufgefaßt werden. In ihr vollzieht sich die Verbindung der Reihe sensorischer Vorgänge mit der Reihe der motorischen. Auch das menschliche Leben in seinen höchsten Formen steht unter diesem großen Gesetz der ganzen organischen Natur. So befinden wir uns beständig von äußeren Ursachen körperlich und seelisch bedingt; den Wert der Wirkungen von außen für unseren Organismus und unser Triebsystem drücken nach der angegebenen Hypothese die Gefühle aus. Von ihnen bedingt, vollziehen nun Interesse und Aufmerksamkeit eine Selektion der Eindrücke. […] Allmählich bildet sich ein fester Zusammenhang reproduzierbarer Vorstellungen, Wertbestimmungen und Willensbewegungen. Nun ist die Lebenseinheit nicht mehr
576 Vgl. GS VII, 228 (»Ich gebrauche den Ausdruck Leben in den Geisteswissenschaften in der Einschränkung auf die Menschenwelt […]«). Genau besehen ist damit keineswegs eine radikale Diskontinuität behauptet, sondern eher eine thematische Eingrenzung vorgenommen.
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dem Spiel der Reize preisgegeben. Sie hemmt und beherrscht die Reaktionen, sie wählt aus, wo sie eine Anpassung der Wirklichkeit an ihr Bedürfnis herbeiführen kann. Und was das Höchste ist: wo sie diese Wirklichkeit nicht zu bestimmen vermag, da paßt sie ihr die eignen Lebensprozesse an und beherrscht die unbändigen Leidenschaften und das Spiel der Vorstellungen durch die Tätigkeit des Willens. Das ist das Leben.«577
Dieser in extenso zitierten Passage sind zahlreiche aufschlussreiche Gesichtspunkte zu entnehmen. Allen voran der Gedanke, dass hier mit »Leben« eine Prozessform beschrieben ist, die allem Organischen, allem (im biologischen Sinn) Belebten gemein ist: wechselseitige Anpassung von Lebenseinheit und Milieu. In einem gewissen, sehr abstrakten und formalen Sinn ist das menschliche Leben gegenüber dem allgemeinen biologischen Phänomen nichts Besonderes oder qualitativ Verschiedenes. Allein unser Zugang zeichnet hier zunächst das menschliche Leben vor den anderen biologischen Lebensvorgängen aus. Denn wir kennen nur im Fall des Menschen den Lebensprozess »von innen«, nur hier erleben wir ihn.578 Alle anderen Lebensvorgänge können wir nur (von außen) beobachten. Von besonderem Interesse ist, an welchen Stellen Dilthey sich auf diesen Lebensbegriff im Sinne des ökologischen Zusammenhangs von Lebenseinheit und Milieu beruft. Ganz prominent geschieht dies natürlich in den psychologischen Abhandlungen von 1894 und 1895 selbst, aber beispielsweise auch in seinen Beiträgen zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890). Diltheys Vorgehen in dieser Abhandlung ist zu entnehmen, dass er grundsätzlich beabsichtigt, die Struktur von Lebenseinheit und Milieu anstelle des traditionellen epistemologischen Subjekt-Objekt-Verhältnisses zu installieren.579 Diese markante Umstellung wird von Dilthey kaum kommentiert. Was bedeutet, was beinhaltet sie?580
577 GS V, 212 (Hervorhebungen hinzugefügt). An anderer Stelle ist sogar von der »tierischmenschliche[n] Lebenseinheit« die Rede (GS V, 96). 578 GS XIX, 344 (»Wir kennen diese Struktur von innen nur an uns selber. Wir erfahren an uns, wie das Spiel der Reize in dieser Lebenseinheit, wo sie hochentwickelt ist, Zustände und Vorgänge hervorruft; worauf dann diese wieder Rückwirkungen nach außen zur Folge haben.«). Josef Simon weist darauf hin, dass das Leben »weder als reine Selbst- noch als reine Fremderfahrung« zu begreifen ist (Simon 1973: 849; vgl. Seebohm 1991). 579 Vgl. GS V, 95f; GS XIX, 349, 352; Aron 1969: 60f (»Cette substitution du sujet vivant au sujet abstrait, qui est l’idee dernière de toute la doctrine de Dilthey, est-elle originale? […] qui a jamais douté que la pensée fût une fonction de la vie?«). 580 Josef Simon gibt einen bedenkenswerten Hinweis, inwiefern der Lebensbegriff auf sehr präzise Weise mit den traditionellen metaphysischen Dichotomien zusammenhängt: »Leben ist seinem Stoff nach mehr und seinem Prinzip nach weniger als Handlung und damit ist es als etwas bestimmt, das weder eine reine Materie noch ein reines Prinzip hat, d. h. als etwas, in dessen Bestimmung die Dichotomie von gegebener Materie und bestimmendem geistigen Prinzip sich von beiden Seiten her aufhebt. Der Begriff des Lebens ist der Begriff, der das an
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Das herkömmliche (vor-kantische) epistemologische Schema lässt sich in seiner simpelsten Form wohl folgendermaßen veranschaulichen:
Schema 1; eigene Darstellung
Das Subjekt selbst ist hier kein Teil der zu erkennenden Außenwelt. Epistemisch gesprochen ist die Entfernung zum eigenen Körper ebenso weit wie zu einem beliebigen mesoskopischen raum/zeitlichen Gegenstand. Auf dem Weg der Wahrnehmung entstehen dem Subjekt (weitgehend ohne eigenes Zutun) Repräsentationen der Außenwelt (»Ideen«). Im Rahmen der erkenntnistheoretischen Fragestellung beginnt das Subjekt seine Repräsentationen hinsichtlich ihrer Validität zu untersuchen. Als Indiz ihrer Korrektheit, ihrer Übereinstimmung mit der Außenwelt (im Sinne einer Relation der »Korrespondenz«), gelten entweder gewisse Qualitäten der Repräsentationen selbst (»clare et distincte«) oder die Zurückführbarkeit ihrer einfachsten Bestandteile auf konkrete Erfahrung (»simple ideas«). Selbst im Erfolgsfall bleibt die Exterritorialität des Erkenntnissubjekts in diesem Schema erhalten, unmittelbaren Kontakt mit der Welt hat es auch als wissendes nicht, sondern immer nur mit den eigenen, im besten Fall adäquaten Repräsentationen (»veil of ideas«).
Schema 2; eigene Darstellung581
dieser Dichotomie orientierte europäische Philosophieren als Grenzbegriff begleitet.« (Simon 1973: 849). 581 Vgl. die Darstellungen in Krausser 1968: 127, 137.
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Verglichen mit tatsächlichen Erkenntnisvorgängen, sind beide Darstellungen hochgradig abstrakt, doch fällt das zweite Schema in entscheidenden Hinsichten gehaltvoller aus. Anders als bei der einseitigen Erkenntnisrelation handelt es sich bei den realen Lebensprozessen nicht ausschließlich um Verhältnisse mentaler Repräsentation, sondern zum Teil auch um kausale Vorgänge. Das Subjekt ist hier wesentlich verkörpert, findet sich selbst als Leib vor und ist als solcher selbst Teil der Umgebung, zu der es sich erkennend, wollend, fühlend verhält.582 Das impliziert, dass es nicht nur mit epistemischen Herausforderungen konfrontiert ist, sondern zunächst mit der der eigenen Selbsterhaltung, die es in der Regel, weitgehend durch von selbst ablaufende körperliche Prozesse (Atmung, Stoffwechsel), auch mit durchschnittlichem Erfolg bewältigt. Die (Subjekt und Leib umfassende) psychophysische Lebenseinheit nimmt ihre Umgebung erkennend wahr, bewertet sie unter dem Gesichtspunkt eigener Bedürfnisse und Ziele und wirkt handelnd auf sie ein. Diese Handlungen führen zu Veränderungen, die genau wie die eigenen körperlichen Bewegungen, selbst wiederum Gegenstand von Wahrnehmungen werden. Das erste Schema modelliert den Erkenntnisvorgang stattdessen als einseitig gerichteten Akt der Informationsübertragung, der aufseiten des Erkenntnissubjekts lediglich dessen (im engeren Sinne) kognitive Fähigkeiten involviert: Wahrnehmung und Intellekt. Das Erkenntnissubjekt erschöpft sich in einer Zuschauerfunktion, ist reines Weltauge.583 Dem Vertreter dieses »intellektualistischen« Bildes von Kognition braucht nicht die unplausible These zugeschrieben werden, er oder sie behaupte die reale Möglichkeit der Abtrennbarkeit der kognitiven Fähigkeiten und Prozesse von allen anderen, oder mit anderen Worten: die Möglichkeit der Existenz von Engeln, d.i. von körperlosen, reinen Intelligenzen. Was ein Vertreter des ersten Schemas hingegen durchaus behauptet, ist die begriffliche Abtrennbarkeit von (a) dem theoretischen Verhalten gegenüber dem praktischen; (b) die Unerheblichkeit des Umstands der Verkörperung des Erkenntnissubjekts für die Erkenntnistheorie; (c) die konzeptuelle Isolation der »rationalen Seelenteile« bzw. der kognitiven psychischen Fähigkeiten von der Gefühls- und Volitionssphäre.584 Der intellektualistische Erkenntnistheoretiker 582 Vgl. Simon 1973: 844 (»Die Erfahrung des Lebens bedeutet die Erfahrung eines Gegenständlichen, von dem das Subjekt sich selbst nicht abzuheben vermag und demgegenüber es in seinem Selbstbegriff als rein ›transzendentales‹ Denkvermögen scheitert. Eine der Grundbestimmungen in der Bedeutung des philosophischen Lebensbegriffs besteht somit in der in ihm liegenden Identifizierung des Denkens mit anderem, Nichtdenkendem. Der Lebensbegriff steht von daher der Dichotomie Denken – Materie entgegen.«). 583 Physiologisch versinnbildlicht wird das metaphysische Weltverhältnis vornehmlich durch den Vorgang visueller Wahrnehmung, für das ökologische Weltverhältnis böte sich hingegen die Atmung an. 584 Die begriffliche und reale Isolation des »Logismus« (GS XIX, 35) spielt Dilthey verschiedentlich durch, etwa in Form eines »bloß vorstellenden Wesens«, »das mitten in dem Ge-
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meint demnach nicht, dass es keine Praxis, keinen Leib des Erkenntnissubjekts, kein Gefühls- und Willensleben »gebe«, sondern allein, dass sie für die Erläuterung des Erkenntnisvorgangs keine relevante Rolle spielen. Eben diese intellektualistische These ist es, die Dilthey massiv bestreitet.585 Nach seiner Auffassung ist für eine sinnvolle und angemessene Rekonstruktion des Erkenntnisvorgangs der Rekurs auf die körperliche Existenz und das praktische Engagement des Erkenntnissubjekts sowie auf dessen Gefühls- und Willensleben unerlässlich. Immer wieder betont er die Notwendigkeit, die intellektualistisch verkürzte Erkenntnistheorie (eines Locke, Hume, Kant) weiterzuentwickeln zur »Selbstbesinnung«, die dem »ganzen Menschen« Rechnung trage und damit auch allererst dem tatsächlich ablaufenden Erkenntnisvorgang entsprechen könne.586 tümmel einer Schlacht gleichgültiger und willenloser Zuschauer seiner eigenen Zerstörung wäre« (GS V, 213), oder eines »intellektuellen Apparats«, der es niemals zu einer Unterscheidung von Selbst und Welt bringen würde (GS V, 130). Man könnte die Liste noch um »(d) ein unproblematisches Verhältnis zur Korrespondenztheorie der Wahrheit« ergänzen. Ein solches ist Dilthey nicht zu attestieren (vgl. GS I, 198f, 394). Die Frage, wie Dilthey sich zu externalistischen Erkenntnistheorien verhalten würde, kann hier nicht verfolgt werden. Es liegt aber nahe zu vermuten, dass er sie aufgrund seiner Problematisierung der Kausalitätskategorie für keinen vielversprechenden Ansatz halten würde. 585 GS XIX, 343 (»Die Erkenntnistheorie darf auch nicht auf das einseitige, ausschließliche Studium der intellektuellen Funktionen begründet werden.«). Aus dieser Position ergibt sich eine sachliche Nähe zu verschiedenen Forschungsprogrammen, die ebenfalls von der ökologischen Relation von Organismus und Milieu ausgehen. Hingewiesen sei an dieser Stelle lediglich auf die Umwelt- und Verhaltensforschung eines Jakob von Uexküll, auf den maßgeblich die Entwicklung der Begrifflichkeit von »Um-, Merk- und Wirkwelt«, der Gedanke des »Funktionskreises« des tierischen Organismus und die Diskussion typischer Handlungsschemata zurückgeht (vgl. von Uexküll 1973: 27ff, 151–156, 303ff); auf die Rekonstruktion teleologischer Strukturen mittels Regelkreisen im Rahmen der Kybernetik (in der Dilthey-Forschung hat auf diese Verbindung zuerst Peter Krausser hingewiesen; vgl. Krausser 1968: 93ff; der kybernetische locus classicus ist hier: Rosenblueth, Wiener, Bigelow 1943; siehe dazu Abschnitt 3.3.3); als aktuellen Fortführungen dieses Ansatzes auf die Theorien der »embodied cognition« im Rahmen der Kognitionswissenschaften (vgl. de Mul 2019: 54–60; er beansprucht hier die aus der Debatte um Evan Thompson und Francisco Varela stammenden Konzepte von »embodiment«, »embeddedness«, »enactment« und »extendedness« der Kognition bereits bei Dilthey nachzuweisen). Wichtiger Ideengeber für diesen interdisziplinären Forschungsansatz ist der Wahrnehmungspsychologe James J. Gibson (The Ecological Approach to Visual Perception, 1979), der wiederum u. a. Anregungen von von Uexküll fortführt. 586 GS I, xviii, 26, 87, 93f (»[…] kurz, einer Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften, oder tiefer: der Selbstbesinnung bedarf es […]«). GS XIX, 79 (»[…] Selbstbesinnung, im Gegensatz gegen Erkenntnistheorie. Denn die Selbstbesinnung findet im Zusammenhang der Tatsachen des Bewußtseins ebensogut die Grundlagen für das Handeln als die für das Denken.«); GS XIX, 276 (»Und zwar handelt es sich bei der Selbstbesinnung als Grundlegung des Wissens um die tiefsten Punkte und Standorte des status humanitatis und deren Wirkungen auf die Art, wie der Mensch das Wissen und sich selbst sieht. Es handelt sich bei den Geisteswissenschaften wiederum um die tiefsten Punkte des Wesens der inneren Erfahrung
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Die Unabtrennbarkeit des Erkenntnisvorgangs vom ökologischen Lebenszusammenhang in den drei angeführten Hinsichten ergibt sich Dilthey aus dem Umstand der funktionalen Integration aller Einzelaspekte. Erst das Zusammenspiel von Kognition, Volition und Emotion ermöglicht der Lebenseinheit angemessene Reaktionen auf die Herausforderungen und Chancen (»affordances«) seiner Umwelt. »Dieser seelische Strukturzusammenhang ist nun zugleich ein teleologischer. Ein Zusammenhang, welcher Lebensfülle, Triebbefriedigung und Glück zu erwirken die Tendenz hat, ist ein Zweckzusammenhang. Sofern die Teile in der Struktur so miteinander verbunden sind, daß die Verbindung Triebbefriedigung und Glück hervorzurufen, Schmerzen abzuwehren geeignet ist, nennen wir ihn zweckmäßig.«587
In der Theoriesprache der Kybernetik ließe sich sagen, dass das intelligente, »zielstrebige« Verhalten der Lebenseinheit als Systemeigenschaft anzusprechen ist. Es ergibt sich aus der geeigneten Zuordnung der einzelnen seelischen Elemente aufeinander und ist nicht auf die Leistung eines einzelnen psychischen »Moduls« zurückzuführen. Zur Illustration denke man an simple kybernetische Regelkreise wie einen in einem geeigneten Kontext eingesetzten Thermostaten. Dieser erfasst über einen Sensor die aktuelle Raumtemperatur (Ist-Wert), gleicht sie ab mit einer eingestellten Ziel-Temperatur (Soll-Wert) und aktiviert ein Heizelement im Raum solange, wie die Raumtemperatur noch unterhalb des Soll-Werts liegt. Was sich aus der Konstruktion des Thermostaten als Systemeigenschaft ergibt, ist das zielorientierte Verhalten der Gesamtapparatur, das bestrebt ist, durch geeignete Aktivierung der Heizung dauerhaft eine gewisse Mindesttemperatur im Raum herzustellen. Aus der Perspektive der Lebenseinheit stellen sich die vom seelischen Strukturzusammenhang angestrebten Ziele (die Soll-Werte) als ein »Bündel von und des Menschen. Wir können, was wir heute sehen können, nur annäherungsweise bestimmen, wenn wir gewahren, was die wissenschaftliche Besinnung gesehen hat. Wir können den Ort unserer heutigen Selbstbesinnung nur so bestimmen.«, Hervorhebung im Original). 587 GS V, 207. Dilthey ist ausgesprochen bemüht, zu betonen, dass es sich hier um eine rein »immanente« Teleologie handele, worunter er verstanden wissen möchte, dass die Gefühlsevaluationen in keinem objektiven Zusammenhang zu den Überlebenschancen der Lebenseinheit stehen, sondern sich nur auf dessen Erleben beschränken (vgl. GS V, 210, 216). In dieser abgeschwächten, nahezu entleerten Form würde der Gedanke des ökologischen Lebenszusammenhangs im Grunde seine Plausibilität weitgehend einbüßen. Dilthey scheint hier vor der Annahme objektiver teleologischer Strukturen zurückzuschrecken, die in der Naturauffassung seiner Zeit keinen Platz und vor allem keinen explanatorischen Rang besaß. Nach C. S. Pittendrigh scheint hingegen klar zu sein, dass auch eine robuste Rede von teleonomen Strukturen keinen Rückfall in ein teleologisches Naturverständnis bedeuten muss (vgl. Hassenstein 1981: 60–63, 70). Insofern lässt sich Diltheys immanente teleologische Struktur des Seelenlebens im Zuge seiner Erweiterung des psychologischen zum biologischen Standpunkt (s. u., GS XIX, 345) auch als »objektiv Zwecke realisierend« beschreiben.
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Trieben« dar.588 Die wahrgenommene Umwelt der Lebenseinheit werde zum einen bewusst reflektierend im Lichte der Triebe untersucht, wobei sich bereits ein Willenselement in der Lenkung der Aufmerksamkeit589 auswirke, zum anderen, und in erster Linie, werde sie aber vorbewusst evaluiert. Diesen vorbewussten Evaluationsprozess verbindet Dilthey mit der Sphäre der Gefühle, denn dessen Ergebnis werde von der Lebenseinheit als »Lust- [bzw.] Unlustgefühl« erlebt. In diesen teleologischen Strukturzusammenhang sieht Dilthey auch die kognitiven Fähigkeiten des Menschen eingebettet, erst in Bezug auf ihn werden sie (in ihren typischen Leistungen und vor allem auch in ihren systematischen Fehlleistungen) verständlich. »Im Strukturzusammenhang des Seelenlebens ist das Denken gleichsam eine Einschaltung zwischen Eindruck und Reaktion: es muß in Handlung umgesetzt werden. Darauf beruht das Spiel des Kindes wie die gesamte Kultur. Denken und Erkennen stehen in dem lebendigen Wesen innerhalb eines teleologischen Strukturzusammenhanges, der von der Perzeption der Außenwelt hinüberreicht zu der gegenseitigen Anpassung zwischen der Außenwelt und sich selbst.«590
Der der Lebenseinheit über die sensorische Apparatur zugeführte »kognitive Input« besitzt im Rahmen des Erlebens offenkundig nicht den Charakter neu588 GS V, 96. Es findet sich in Diltheys Texten keine einheitliche oder Vollständigkeit beanspruchende Auflistung dieser Triebe. Im Rahmen der Außenwelt-Abhandlung nennt er: »Nahrungstrieb, Geschlechtstrieb, Kinderliebe, Abwehr-, Schutz- und Vergeltungstriebe, Bewegungs- und Ruhebedürfnis, die sich daran schließenden sozialen, intellektuellen Gefühle und Volitionen bilden zusammen die Willensmacht des Menschen« (GS V, 96). Die Anführung der sozialen und intellektuellen Gefühle, die Dilthey offensichtlich in einer gewissen Kontinuität mit den vorher angeführten Trieben sieht, macht deutlich, dass er keineswegs ausschließlich auf Vitalfunktionen festgelegt ist (etwa auf ein »Recht des Stärkeren« oder auf das Festhalten am biologischen Überleben um jeden Preis). Die Frage von eigentlichen Werten stellt sich Dilthey in diesem Zusammenhang noch gar nicht. Das Bestehen eines Triebes ist daher auch nicht gleichzusetzen mit dessen moralischer Rechtfertigung oder auch nur seiner hinreichenden Motivationskraft. 589 Vgl. GS V, 203. 590 GS X, 13. Der erste Satz dieses Zitats offenbart eine große Nähe Diltheys zu pragmatistischen Positionen, wie in der Forschung verschiedentlich vermerkt wurde (vgl. Fellmann 1991: 21– 26; Jung 2003: 445f). Besonders frappierend ist die Übereinstimmung einer Formulierung Karl Mannheims: »Der Pragmatismus sieht den organischen Prozeß, in dem jeder Denkakt zugleich ein Teil des Gesamtverhaltens ist und macht die alte, von weltfremden Philosophen erfundene künstliche Trennung von Handeln und reiner Theorie rückgängig. Nur für eine Bücherstubenexistenz kann es als Wesen des Denkens erscheinen, rein kontemplativ zu sein, d. h. in sich zu ruhen, statt ein Organ des Weiterlebens und Wirkens zu bilden. Im ursprünglichen Lebenszusammenhang gibt es kein Denken, das nicht in den Bogen eines Handlungszusammenhangs eingespannt wäre.« (Mannheim 1958: 244 (Hervorhebung hinzugefügt)). Die systematischen Fehlleistungen der menschlichen Vernunft sind kognitionswissenschaftlich gut erforscht und lassen sich, neben verschiedenen »biases«, etwa im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten oder beim Abwägen von kurzfristigen und langfristigen Gratifikationen beobachten (vgl. Mercier/Sperber 2018: 205ff).
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traler Informationseinheiten oder nackter Sinnesdaten. Die Wahrnehmung wird durch das jeweilige Sensorium und die spezifische Triebstruktur der Lebenseinheit vorgängig strukturiert. Die Lebenseinheit findet sich daher stets in einer konkreten Situation vor, die sie mit gewissen Chancen oder Herausforderungen konfrontiert. So entspricht es dem Diltheyschen Modell auch bestens, zur Bezeichnung der »Input«-Seite (wie im Schema 2 geschehen) auf James J. Gibsons zu diesem Zwecke geprägten Ausdruck der »affordances« zurückzugreifen.591 Dem Intellekt kommt also primär eine praktische, handlungsleitende Funktion zu, im Kontext der Analyse gegebener Situationen, des Antizipierens und ZuEnde-Denkens möglicher Handlungsoptionen bis hin zur evaluierenden Kontrolle der tatsächlichen (im Unterschied zu den lediglich beabsichtigen) Konsequenzen des eigenen Handelns (»feedback«).592 Die gesamte menschliche Innenwelt wird mithin von Dilthey unter ihrem funktionalen Aspekt bestimmt als Umsetzungsort von Eindrücken zu Reaktionen. Diese Umsetzung hat zunächst einen recht kurzschlüssigen Charakter (wie etwa bei einem Kleinkind). Im Laufe des menschlichen Reifungsprozesses kommt es dann zu einem immer mittelbareren Zusammenhang von Eindruck und Reaktion, die Innenwelt stabilisiert sich zusehends und gewinnt an Situationsunabhängigkeit (beispielsweise durch die Entstehung eines Gedächtnisses oder die Ausprägung von Gewohnheiten). Je komplexer der Umsetzungsvorgang, desto größer die Freiheitsgrade der Lebenseinheit in Bezug auf ihr Milieu. Während zunächst Reize scheinbar unmittelbar in Reaktionen umgesetzt werden, die Le591 »The affordances of the environment are what it offers the animal, what it provides or furnishes, either for good or ill. The verb to afford is found in the dictionary, but the noun affordance is not. I have made it up. I mean by it something that refers to both the environment and the animal in a way that no existing term does. It implies the complementarity of the animal and the environment. […] If a terrestrial surface is nearly horizontal (instead of slanted), nearly flat (instead of convex or concave), and sufficiently extended (relative to the size of the animal) and if its substance is rigid (relative to the weight of the animal), then the surface affords support. […] It is stand-on-able, permitting an upright posture for quadrupeds and bipeds. It is therefore walk-on-able and run-over-able. It is not sink-intoable like a surface of water or a swamp, that is, for heavy terrestrial animals. Support for water bugs is different.« (Gibson 2015: 119, Hervorhebungen im Original); »But, actually, an affordance is neither an objective property nor a subjective property; or it is both if you like. An affordance cuts across the dichotomy of subjective-objective and helps us to understand its inadequacy. It is equally a fact of the environment and a fact of behavior. It is both physical and psychical, yet neither.« (Gibson 2015: 121). Insbesondere diese anvisierte psychophysische Neutralität trifft sich mit entsprechenden Bemühungen Diltheys. »Every animal is, in some degree at least, a perceiver and a behaver. It is sentient and animate, to use old-fashioned terms. It is a perceiver of the environment and a behaver in the environment. But this is not to say that it perceives the world of physics and behaves in the space and time of physics.« (Gibson 2015: 4, Hervorhebungen im Original). 592 Zu den kybernetischen Bezügen siehe Abschnitt 3.3.3, in der Sache weiterführend: Gehlen 2016: 149ff (»Elementare Kreisprozesse im Umgang«).
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benseinheit also gleichsam reflexhaft auf gegebene Eindrücke hin antwortet, wird der Zusammenhang von Reiz und Reaktion im Laufe ihres Lebensprozesses zunehmend vermittelter, indirekter, freier.593 Diesen Strukturzugewinn, der vor allem eine immer differenziertere und komplexere Verarbeitung der empfangenen Reize ermöglicht, bestimmt Dilthey als einen Vorgang der »Artikulation«. »Die Urzelle des inneren Lebens ist überall der Fortgang vom Eindruck aus dem Milieu des Lebewesens zu der Bewegung, die das Verhältnis zu diesem Milieu im Lebewesen anpaßt. Es gibt in allem Innenleben keine ursprünglichere Verbindung als diese. […] Die Entwicklung der Lebewesen zu höheren Formen ist also nach der Innenseite angesehen eine Artikulation; das Leben artikuliert sich. […] Zwischenglieder zwischen dem Eindruck und der vollzogenen Bewegung mehren sich. Das Anfangs- wie das Endglied nehmen zusammengesetztere Formen an.«594
Aussagen über das Artikulationsniveau und bereits über das bloße Vorhandensein einer Innenwelt nicht-menschlicher Lebensformen zu treffen, stehen, wie bereits erwähnt, vor der methodologischen Schwierigkeit nur mit Beobachtungen aus der Außenperspektive arbeiten zu können. Ein Indiz für ein hohes Artikulationsniveau stellt der Grad der Vermitteltheit zwischen Reiz- und Reaktionstypen dar, die Komplexität des funktionalen Bauplans. »Im Unterschied von den Naturwissenschaften entstehen Geisteswissenschaften, weil wir genötigt sind, in tierische und menschliche Organismen ein seelisches Geschehen zu verlegen. Von dem, was in unserer inneren Wahrnehmung uns gegeben ist, übertragen wir in sie auf Grund ihrer Lebensäußerungen ein Analogon. Die Grenze, von welcher ab wir in Organismen ein solches Geschehen verlegen müssen, ist zweifelhaft.«595
Pflanzen scheinen für Dilthey offenbar keine Kandidaten für den Besitz eines Seelenlebens zu sein, wohl aufgrund des Mangels des »Anscheins willkürlicher Bewegungen«.596 Bemerkenswert ist die Verknüpfung epistemischer Unsicherheit in dieser Frage mit der Konstatierung einer Art psychologischer »Nötigung« der Attribution eines Seelenlebens in bestimmten Fällen.597 Zusätzlich zur Beob593 Je höher eine Lebensform, desto komplexer auch ihr anatomisch-funktionaler Bauplan. Angefangen bei den simpelsten Reiz/Reaktions-Schemata: »Bringe ich mit einer Amöbe ein Körnchen in Berührung, so strecken sich Teile aus, umfassen das Körnchen und ziehen sich wieder zur Hauptmasse zurück.« (GS V, 211) Gelegenheit zur Anschauung dieser Verhältnisse bot sich Dilthey vermutlich im Zusammenhang seiner physiologischen und mikroskopischen Studien mit Wilhelm His in Basel (vgl. J 243, 256, 261, 283f, 314; Aron 1969: 54 (»Toute notre vie prend place dans le circuit vital qui relie l’individu au milieu.«)). 594 GS XIX, 345; vgl. entsprechend für die Ebene der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit GS I, 87. Zum Begriff der Artikulation vgl. Jung 2003. 595 GS V, 249 (Hervorhebungen hinzugefügt). 596 GS V, 249. Hätten Dilthey zeitraffende Videoaufnahmen von Pflanzen zur Verfügung gestanden, würde er diese Frage womöglich anders bewerten. 597 Auch für Dilthey scheint die Frage des Fremdpsychischen also nicht vorrangig ein Problem fehlender Gewissheit zu sein (man denke an Wittgensteins Bemerkung darüber, eine
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achtung der Freiheitsgrade des Verhaltens schlägt Dilthey angesichts »der Schwierigkeit, das Seelenleben der Tiere zu deuten« vor, den Grad von dessen Entfaltung »am einfachsten an ihrem Nervensystem gleichsam [abzulesen]«.598 An diesem Vorschlag wird Diltheys über Wilhelm His vermittelte Nähe zur physiologischen Forschung, zu den Arbeiten Johannes Müllers und Hermann von Helmholtz’, von Henry Maudsley und Adolf Horwicz, deutlich. Er stellt fraglos einen relevanten Hintergrund für Diltheys ökologischen Lebensbegriff dar, gleichwohl scheint uns die verwandte Idee des kybernetischen Regelkreises das interessantere und weiterführendere Modell zu sein.599 In den Prozess der zunehmenden Situationsungebundenheit des seelischen Artikulationsprozesses greift die kulturelle Lebensform des Menschen verstärkend ein. So vervielfacht sich beispielsweise die Genauigkeit, der Umfang und die Reichweite des menschlichen Gedächtnisses durch die Kulturtechnik der Schrift in erheblichem Maße. Und insbesondere die Kulturunternehmung der Wissenschaft ist hier zu nennen, zielt sie doch auf die Gewinnung möglichst situationsunabhängigen Wissens. Deren Erfolg seit dem Beginn der Neuzeit lässt sich daher auch als ein zentraler Faktor in Anschlag bringen, der dem von Dilthey kritisierten verkürzten intellektualistischen Verständnis des Erkenntnisvorgangs weiteren Vorschub geleistet haben dürfte. Wie Dilthey betont, steht Lebendiges allerdings stets, und zwar vom »Protoplasmaklümpchen« und der »Amöbe« an bis hin zum menschlichen Leben »in seinen höchsten Formen«, in konkreten Situationen.600 Wie dem Hinweis auf die »höchsten Formen« menschlichen Lebens zu entnehmen ist, sind diese nicht allein im Sinne eines für das Überleben relevanten und seiner sinnlichen Ausstattung zugänglichen Ausschnitts der unmittelbaren räumlichen Umgebung zu verstehen. Wenn daher Erich Rothacker im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie betont, »jede konkrete menschliche Handlung ist eine tunlichst sinnvolle Antwort auf eine konkrete Lage«, entspricht auch dies dem »großen Gesetz der ganzen organischen Natur« (s. o.), gleichgültig ob die Handlung dabei auf die Umgebungstemperatur oder auf den Forschungs- und Problemstand einer wissenschaftlichen Fachdisziplin reagiert.601 »[D]ie reinen Geistestaten nehmen genauso am Gesamtstil der Lebensantwort teil, wie die sog. Anpassungsprozesse,
598 599
600 601
»Einstellung zur Seele« eines Gegenübers einzunehmen (vgl. Wittgenstein 2006: 495f; Cavell 1999: 370ff). GS V, 211; vgl. Fn 511. Vgl. Nohl 1970b: 36f; Jung 2003: 445ff. Dort ist etwa die Rede von einer Orientierung Diltheys am »Modell des Reflexbogens« (445), zudem gibt Jung den Hinweis auf eine analoge Rezeption dieses physiologischen Modells bei John Dewey und George Herbert Mead (Fn 11); siehe Abschnitt 3.3.3. Vgl. GS V, 211. Rothacker 1971: 44 (vgl. S. 43–55).
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die bloß der Lebenserhaltung in rohem Sinne dienen.«602 Dieses fortführende Aufgreifen Rothackers verdeutlicht (wie bereits Diltheys Rede von sozialen und intellektuellen Gefühlen), dass die Verwendung des ökologischen Lebensbegriffs keineswegs eine problematische Naturalisierung oder einen biologistischen Reduktionismus bedeuten muss.603 Aus Diltheys ökologischem Lebensbegriff ergibt sich ein spezifischer Blick auf die menschliche Innenwelt und insbesondere auf das menschliche Denkvermögen, die beide als »Einschaltungen zwischen Eindruck und Reaktion« konzipiert werden und damit wesentlich in den Zusammenhang menschlicher Weltwahrnehmung und handelnder Stellungnahme einbezogen und auch aus ihm heraus verstanden werden.604 Die Differenz dieses Ansatzes zu einem, der die Innenwelt über ontologische Begriffe abzugrenzen und zu bestimmen sucht, ist eklatant. Diltheys scharfe Polemik gegen den Cartesianismus in dieser Sache macht deutlich, dass sie als das Ergebnis einer bewussten Abkehr von einer dualistischen Position betrachtet werden kann, mit Blick auf welche er an Yorck schreibt: »Die Existenz der Außenwelt soll von dem Ich aus erreicht werden. Seit Descartes ist man am Brückenschlagen.«605
Nach Diltheys Auffassung ist die Innenwelt nicht als ontologisch vorgegebene und abgesicherte Kategorie gegeben, sondern sie hat primär einen funktionalen Sinn und entfaltet sich allererst im Rahmen des Lebensprozesses, ist Ergebnis eines kontingenten Strukturaufbaus. Zugespitzt lässt sich sagen, Dilthey verabschiedet sich konsequent von dem cartesischen Programm, die Innen- und Außenwelt im Sinne eines Substanzendualismus zu konzeptualisieren, stattdessen orientiert er sich an dem Differenzierungsprozess, der beide Aspekte
602 Rothacker 1971: 54. Der Gedanke einer unter dem Einfluss ihres Milieus stehenden Lebenseinheit, auf das diese dann wiederum einwirkt, liegt sowohl Diltheys SchleiermacherBiographie als auch den in »Das Erlebnis und die Dichtung« [GS XXVI] versammelten Aufsätzen zugrunde. Wie Nohl bemerkt, greift Dilthey damit auf eine Bemerkung aus Goethes Vorwort zu »Dichtung und Wahrheit« zurück: »Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abspiegelt.« (GW XVI, 11; vgl. Nohl 1970b: 37). 603 Vgl. GS V, 96. Josef Simon hält die Verbindung von Leben und Geist sogar für dermaßen schwach, dass er Diltheys Ansatz »beim Leben, statt bei einem transzendentalen Subjekt« für »willkürlich« erklärt (Simon 1973: 856). 604 Jung charakterisiert treffend: »Der Innenraum der Erfahrung erweist sich als der Handlungsspielraum begehrend auf die Welt bezogener Menschen. […] Am Modell des Reflexbogens orientiert, will er die Tatsachen des Bewußtseins des Nimbus weltloser Innerlichkeit endgültig entkleiden.« (Jung 2003: 445). 605 B 55.
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artikuliert und auseinandertreten lässt.606 Da sie die dargestellten wesentlichen Verschiebungen im Begriff der Innenwelt und des Bewusstseins unterschlägt, ist eine Aussage wie die folgende daher nicht bloß irreführend, sondern streng genommen unzutreffend: »Der entscheidende Punkt aber scheint mir darin zu liegen, daß Dilthey immer noch im Rahmen der von Kant vertretenen und von Descartes inaugurierten Bewußtseinsphilosophie stehen bleibt. Über diesen Standpunkt geht er nicht hinaus, auch wenn er sich auf die Totalität des Seelenlebens beruft.«607
Der ökologische Lebensbegriff bezeichnet eben nicht allein den Anspruch der »Totalität des Seelenlebens« gerecht zu werden, sondern impliziert von vornherein eine differentielle Sicht auf Innen- und Außenwelt: »Ein Ich ohne ein Anderes, ein Außen ohne ein Innen sind sinnlose Worte. […] Das Eine muß so kernhaft selbständig als das Andere sein.«608
Die Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie markiert Dilthey mit aller Deutlichkeit: »Ich war früher bestrebt, die psychologische Grundlegung zur Geltung zu bringen gegenüber dem einseitigen Intellektualismus. […] Seitdem ich aber in der Struktur des Lebens die Grundlage der Psychologie erkannte, mußte ich den psychologischen Standpunkt zu dem biologischen erweitern und vertiefen.«609
Diesen wichtigen zweiten Schritt von der Totalität des Seelenlebens zur situierten und verkörperten psychophysischen Lebenseinheit unterschlagen Interpreten wie Ineichen und Diwald, wenn sie in Dilthey einen Bewusstseinsphilosophen und latenten Idealisten auszumachen meinen. 606 Zu dem Motiv, »sich an Differenz statt an Identität [zu] orientieren« vgl. Clam 2002. Dass Dilthey einen solchen Perspektivwechsel vollzogen hat, lässt sich (neben den bereits angeführten Stellen, die das Denken als »Einschaltung zwischen Eindruck und Reaktion« bestimmen) seiner Beschreibung des Unterschieds von innerer und äußerer Erfahrung entnehmen (vgl. GS V, 243f, 248 (»Selbstverständlich ist der Unterschied von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften nicht in der Unterscheidung zweier Klassen von Objekten gegründet.«, S. 248)). Den differenztheoretischen Ansatzpunkt Diltheys griff in der Folge Helmuth Plessner in seiner Konzeption der »Grenze« auf (vgl. Plessner 1975: 99–105). 607 Ineichen 1984: 59 (Hervorhebungen entfernt). Fraglich ist bereits, ob Descartes und Kant im selben Sinne als Bewusstseinsphilosophen bezeichnet werden können. Die erheblichen Qualifizierungen, die nötig wären, um diese Klassifizierung zu rechtfertigen, machen die Sammelbezeichnung im Wesentlichen nutzlos. Die schwerwiegendste Evidenz im Sinne Ineichens ist sicher Diltheys »Satz der Phänomenalität«. Doch eine erfolgreiche Berufung auf ihn müsste zusätzlich klären, welchen Bewusstseinsbegriff Dilthey in Anschlag bringt (vgl. dazu Abschnitt 3.2.7). 608 GS XIX, 338 (Hervorhebung hinzugefügt). Zu Diltheys Verwendung von »kernhaft« siehe Abschnitt 3.2.3. 609 GS XIX, 345 (Hervorhebung hinzugefügt). Das hier zitierte Manuskript wurde 1892/93, also ziemlich genau zehn Jahre nach der Einleitung verfasst.
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Wie steht es nach der erfolgten Explikation um die Aussicht, mithilfe des ökologischen Lebensaspektes eine (horizontale) Integration von subjektivem und objektivem Geist zu erreichen, und damit einer Lösung dieses zentralen Problems des Diltheyschen Ansatzes näher zu kommen? Auch wenn sich der subjektive Geist in dem aufgezeigten Sinn (ohne eine biologistische Reinterpretation) unter den ökologischen Lebensbegriff subsumieren lässt, wird es sicherlich kaum überzeugen, das Modell von Lebenseinheiten auf Institutionen oder ganze Gesellschaften zu übertragen.610 Stattdessen zeichnete sich (am Beispiel der Schrift) die Möglichkeit ab, Institutionen als das menschliche Mittel par excellence zur Gestaltung der sozialen Umwelt zu begreifen und sie auf diesem Wege in die »lebendige Zirkulation« zwischen Lebenseinheit und Milieu einzubinden.611 So gelingt es, die grundlegende kulturschaffende und institutionenbildende Fähigkeit des Menschen in den Blick zu bekommen, ohne die Eigenlogik des objektiven Geistes auf die Individualpsychologie zu reduzieren oder an irreführenden organizistischen Metaphern zu orientieren.
3.2.2 Totalität des Seelenlebens: anthropologische Adäquanz In der Vorrede zur Einleitung in die Geisteswissenschaften findet sich eine der zugleich eingängigsten und komprimiertesten Formulierungen von Diltheys philosophischem Programm. »In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem
610 Diesen Ansatz einer organizistischen Soziologie, deren prominentester Vertreter wohl Oswald Spengler sein dürfte, hat Hans-Joachim Lieber am Beispiel der Theorien von Herbert Spencer und Albert Schäffle überzeugend kritisiert (vgl. Lieber 1945: 70ff). Liebers Fazit, dass auch bei Dilthey ein problematischer Biologismus festzustellen ist, teilen wir hingegen nicht, da es auf einer Reihe unangemessener Rekonstruktionen von zentralen Diltheyschen Termini beruht. So missversteht er etwa die »immanent-subjektiv-teleologische Lebensstruktur« dahingehend, dass sie die Unmöglichkeit aller »Bezogenheit menschlichen Lebens auf ein der Sphäre des Bios Transcendentes« (S. 78) besagen würde. Daher auch kommt er zu der unzutreffenden Auffassung, der Strukturzusammenhang des Seelenlebens würde »in der Selbsterhaltung des Individuums innerhalb seines Milieus den Maßstab und das Regulativ aller Bewegung [finden]« (S. 75, Hervorhebung hinzugefügt). »Immanent« bedeutet in diesem Zusammenhang, wie gesehen, allerdings lediglich »dem Erleben immanent« (s. o.), keineswegs ist damit eine pauschale Negierung von geistigen oder kulturellen Werten impliziert. Neben Dilthey weist auch Jakob von Uexküll explizit auf schwerwiegende Probleme bei der Übertragung des Organismus-Modells auf die Sphäre des objektiven Geistes hin (GS I, 229; von Uexküll 1973: 330–334). 611 GS VI, 242; vgl. Gehlen 2004: 46ff (»Innenstabilisierung des Menschen durch Institutionen«).
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ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen, ob die Erkenntnis gleich diese ihre Begriffe nur aus dem Stoff von Wahrnehmen, Vorstellen und Denken zu weben scheint. Die Methode des folgenden Versuchs ist daher diese: jeden Bestandteil des gegenwärtigen abstrakten, wissenschaftlichen Denkens halte ich an die ganze Menschennatur, wie Erfahrung, Studium der Sprache und der Geschichte sie erweisen und suche ihren Zusammenhang.«612
An dieser Stelle ist nun der bereits erwähnte erste Distanzierungsschritt Diltheys gegenüber der hergebrachten Erkenntnistheorie zu beobachten, auf den dann die Erweiterung zum »biologischen Standpunkt« folgen wird, d.i. die Ergänzung um die ökologische Einbettung der Lebenseinheit in ihr Milieu. Zunächst geht es um seine, ebenfalls bereits angedeutete, Kritik am Intellektualismus der klassischen Erkenntnistheorien. Bereits in diesem Vorwurf steckt eine erste deskriptive These Diltheys, nämlich dass erkenntnistheoretische Untersuchungen als wesentlichen Bestandteil ein entweder ausdrücklich zugrunde gelegtes oder bloß impliziertes Bild vom Menschen als Erkenntnissubjekt beinhalten, man könnte sagen: ein anthropologisches Modell investierten.613 Dieses Modell, so Diltheys Beobachtung an den klassischen erkenntnistheoretischen Autoren, verdanke sich in der Regel einem Abstraktionsprozess. So nehme die Erkenntnistheorie ihren Ausgang typischerweise nicht von der »ganzen Menschennatur«, sondern sehe stattdessen von allen anthropologischen Aspekten ab, die vermeintlich nichts mit dem zu tun haben, was in ihrem jeweiligen Rahmen als zur »bloßen Denktätigkeit« gehörend erachtet wird. Übrig bleibe so ein Bündel rein kognitiver Vermögen und Prozesse, wohingegen alle Aspekte, die zum volitiven oder emotionalen Bereich gezählt werden, als unwesentlich aus der Betrachtung ausgeschlossen werden. Ein solcher Abstraktionsschritt scheint zunächst nicht per se problematisch zu sein. Im Sinne einer methodischen Konstitution des Untersuchungsgegenstandes ist er möglicherweise sogar unvermeidlich. Anders könnte man den spezifisch kognitiven Aspekt des menschlichen Geistes und mit ihm den Bereich einer 612 GS I, xviii (Hervorhebung hinzugefügt). Zurückgewiesen wird diese Forderung an die Erkenntnistheorie von [Ineichen 1984] und [Rickman 1984], die beide auf die Unterscheidung von empirischem und transzendentalem Subjekt bei Kant verweisen, die die Forderung nach anthropologischer Adäquanz gegenstandslos mache. Gerade die epistemologische Grundlage dieser Unterscheidung hält Dilthey für nicht tragfähig. 613 Mit Blick auf die Geschichtswissenschaft formuliert Dilthey dieses für die Geisteswissenschaften allgemein charakteristische Verhältnis: »Ein Typus der Menschennatur steht immer zwischen dem Geschichtsschreiber und seinen Quellen, aus denen er Gestalten zu pulsierendem Leben erwecken will; er steht nicht minder zwischen dem politischen Denker und der Wirklichkeit der Gesellschaft, welcher dieser Regeln ihrer Fortbildung entwerfen will.« (GS I, 32).
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reinen theoretischen Vernunft womöglich überhaupt nicht deutlich abgrenzen und beschreiben, und vor allem ließe sich sonst der hochgradig aufgeladene Gedanke einer Autonomie der Vernunft nicht plausibilisieren.614 Das Problematische dieser anthropologischen Verkürzung liegt nun für Dilthey darin, dass sie eine substantielle Annahme über den menschlichen Geist macht, die er für unzutreffend bzw. zumindest für schlecht begründet hält. Sie setzt nämlich voraus, dass der menschliche Geist letztlich einen modularen Aufbau aufweist, sodass problemlos ein Vermögen, hier eben das logistikón, unter Absehung aller anderen in seiner Funktion und Leistungsfähigkeit der Beobachtung unterworfen werden könnte.615 Wenn die menschliche Intelligenz, wie im letzten Abschnitt entwickelt, hingegen adäquat als Systemeigenschaft auf der Ebene der funktionalen Zuordnung von Lebenseinheit und Milieu beschrieben ist, scheint der Versuch, den »kognitiven Kern« des menschlichen Geistes aus der Totalität seines Seelenlebens isolierend herauszugreifen, von vornherein unplausibel.616 Dass erkenntnistheoretische Ansätze, die nicht vom »ganzen Menschen« (diesem »wollend fühlend vorstellenden Wesen«) ausgehen, regelmäßig im Skeptizismus enden, verbucht Dilthey als weiteres Argument für seine sachlichmethodologische Forderung, die im Folgenden als Forderung nach »anthropologischer Adäquanz« bezeichnet werden soll.617 Insbesondere am Problem der Realität der Außenwelt zeige sich, dass Erkenntnistheorien auf der schmalen psychologischen Basis rein kognitiven Zuschnitts erkennbar die Ressourcen 614 Vgl. die in diesem Sinne ansetzende Kritik Rickmans an Diltheys Insistieren auf dem »ganzen Menschen« (Rickman 1984: 169f). 615 Dilthey verwendet zur Bezeichnung der »Gesetze und Formen [des] Denkens« den Ausdruck »Logismus« (vgl. GS XIX, 35f; V, 80). Dem Erkenntnisinteresse der Metaphysik, die wie gesehen von der »metaphysischen (d.i. ontologischen) Gültigkeit der Logik« ausgeht, entspricht dann ein »Logismus in der Natur« (GS I, 387, 396f). 616 Gilbert Ryles Vorschlag, den menschlichen Geist mittels Adverbien zu bestimmen (vgl. Ryle 1979: 1–31; 2000: 107, 132, 264–269), entspricht dem Gedanken, auf den auch der Ausdruck »Systemeigenschaft« hier abzielt: qualifiziert wird die Art des Verhaltens der Lebenseinheit in einem Milieu, nicht die Verwendung eines »Vernunft«-Moduls konstatiert. Was sowohl Ryle als auch Dilthey methodisch zu vermeiden suchen, sind »unwanted para-mechanical hypotheses« über die Funktionsweise des menschlichen Geistes (Ryle 2000: 211; vgl. GS 158– 168, 191–196). 617 Geistesgeschichtlich hat die Berufung auf den »ganzen Menschen« (häufig im Sinne eines Protests des »Lebens« gegenüber dem »Begriff«) ihren Ort in der Gegenaufklärung und Romantik (Hamann, Herder, Jacobi); vgl. Nohl 1970a: 95–98, 113. Dilthey selbst schreibt schon sehr früh den Schlegel-Brüdern eine besonders wirkmächtige Vertretung dieses Gedankens zu (vgl. GS XI, 118). Peter Wust bezeichnet Dilthey aufgrund der Forderung nach einer Berücksichtigung des »ganzen Menschen« und seinem »Kampf gegen den Intellektualismus« als »Jakobi des 19. Jh.« (Wust 1963: 267). Als Vorbild in der Betonung der Rolle des Willens in der Psychologie und Anthropologie (»Voluntarismus«) kann u. a. Maine de Biran angesehen werden (vgl. Windelband 1957: 548f; Windelbands Charakterisierung der Psychologie Maine de Birans liest sich geradezu wie eine Antizipation des Diltheyschen Ansatzes).
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fehlen, um dem Außenweltskeptizismus zu begegnen. Ein skandalöser Zustand, wie bereits Kant beklagte.618 In seiner bereits angeführten Außenwelt-Abhandlung von 1890 führt Dilthey aus, dass er einen argumentativen Nachweis der Realität der Außenwelt mittels rein kognitiv-repräsentationaler Begriffe tatsächlich für aussichtslos hält. (a) »Das Wissen von einem unabhängigen Bewußtseinstranszendenten ist nicht unmittelbar gegeben.« (Unmittelbar gegeben sind nur unsere Bewusstseinstatsachen.) (b) »Dies Wissen kann aber ebensowenig durch Schlüsse zwingender Art gewonnen werden.«619 (Denn über die Gültigkeit von Schlüssen auf Bewusstseinstranszendentes kann nichts ausgemacht werde, da die Möglichkeit eines Abgleichs von Vorstellungen und Dingen an sich, durch eine Art von Draufsicht etwa, nicht gegeben ist.) (c) »Vernunft als bloße Denktätigkeit« bleibt in dieser Frage also in den Kreis ihrer Repräsentationen gebannt (in den Worten Diltheys: auf den »Stoff von Wahrnehmen, Vorstellen und Denken« begrenzt (s. o.)), ein unmittelbarer Zugang zum vermeintlich Repräsentierten steht ihr nicht offen. Angesichts dieser Aporie schlägt Dilthey vor, den Sinn der Frage nach der Realität der Außenwelt einer Prüfung zu unterziehen. »Der ganze Sinn der Worte Selbst und Anderes, Ich und Welt, Unterscheidung des Selbst von der Außenwelt liegt in den Erfahrungen unseres Willens und der mit ihm verbundenen Gefühle. Alle Empfindungen und Denkprozesse umkleiden gleichsam nur diese Erfahrungen. Könnte man sich einen Menschen denken, welcher ganz Wahrnehmung und Intelligenz wäre, dann würde dieser intellektuelle Apparat vielleicht alle möglichen Mittel zur Projektion von Bildern enthalten: niemals würde dieses alles doch die Unterscheidung eines Ich von realen Gegenständen möglich machen. Deren Kern ist vielmehr das Verhältnis von Impuls und Hemmung der Intention, von Wille und Widerstand.«620
Wie so oft haftet Diltheys »psychologische[r] Analyse« der Geruch einer Verwechslung von Genese und Geltung an.621 Eine Beschreibung der Entstehung der Unterscheidung von »Ich und Welt« im Kontext von Widerstandserfahrungen weist natürlich nicht bereits die Unzugänglichkeit dieser Unterscheidung für den reinen Intellekt nach. Doch genau besehen hat Diltheys Intervention an dieser Stelle auch eher den Charakter einer Wittgensteinschen Erinnerung als einer direkten Widerlegung.622 Er befragt mit ihr die Frage nach der Außenwelt: was 618 619 620 621 622
KrV B xxxix (Anm.); zitiert von Dilthey im Fazit der Abhandlung (vgl. GS V, 126). GS V, 128. GS V, 130f (Hervorhebungen hinzugefügt). GS V, 130. Vgl. Wittgenstein 2006: 303 (PU §127).
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wollten wir eigentlich wissen, als wir nach der Außenwelt fragten? Was meinen wir zunächst mit »Außenwelt« und was kann es bedeuten, ihre Realität zu bezweifeln oder sicherzustellen? Was wären dafür geeignete Erfolgskriterien? Welcher Ort kommt dieser Unterscheidung im wirklichen Leben zu? Dilthey erinnert nun daran, dass die rein theoretisch anmutende Frage, ob sich unser Glaube an die Existenz der Außenwelt rechtfertigen lasse, auf Begriffe und Unterscheidungen zurückgreife, die wir wesentlich als Handelnde erworben haben. Außenwelt erleben wir zunächst als denjenigen Widerstand, an dem sich unsere Handlungsintentionen brechen.623 Grundlegend für die Unterscheidung von Ich und Welt, Selbst und Außenwelt ist also jene Erfahrung, die Epiktet in der Differenz von ἐφ᾿ ἡμιν und οὐκ ἐφ᾿ ἡμιν festgehalten hat. Um die rein theoretisch gemeinte Frage nach der Unabhängigkeit der Außenwelt überhaupt formulieren und angemessen verstehen zu können, müssen wir bereits praktisch in der Welt engagiert sein. Wie ist Diltheys Stellungnahme in dieser Frage also einzuordnen? Gelingt ihm ein entscheidendes antiskeptisches Argument?624 Das möglicherweise nicht, zumindest nicht unmittelbar. Doch sein Hinweis, dass sich diese theoretische Debatte notwendig vor dem Hintergrund eines praktischen Engagements in der Welt vollzieht, in dem die Außenwelt allererst thematisch wird, dass es sich bei der Realität der Außenwelt nicht um einen erschlossenen Sachverhalt, sondern um einen erlebten handelt, nimmt dem Umstand, dass sich möglicherweise rein argumentativ die theoretische Möglichkeit der Existenz eines genius malignus, der uns durchgängig täuschen könnte, nicht ausschließen lasse, einiges von seinem Gewicht. Fraglich wird damit vor allem, ob der Erkenntnistheoretiker, wenn er sich zur rein theoretisch zugeschnittenen Frage nach der Realität der Außenwelt verhält, überhaupt an einem Problem arbeitet, das auch nur entfernt eine lebensweltliche Grundlage hat (wie gerne im Rahmen von Popularisierungsversuchen philosophischer Theorien behauptet wird). Diltheys Rückfragen an die Frage nach der Realität der Außenwelt machen deutlich, dass dieses Problem vielmehr allererst als Artefakt einer gewissen Klasse von (anthropologisch inadäquaten) epistemologischen Theorien entsteht.625 Es fällt gleichwohl nicht schwer, Diltheys Gedanken, wie bereits angedeutet, unter Verweis auf die Differenz von Geltung und Genese als Fehlschluss erscheinen zu lassen. Selbst wenn unser Begriff der Außenwelt im konkreten und 623 Vgl. GS V, 98ff. 624 Das antiskeptische Potenzial, das darin liegt, dass Dilthey »selbst« und »anderes«, »Ich« und »Welt« als untrennbare Begriffspaare anspricht (oder besser: ihren semantischen Gehalt an die Differenz beider Pole bindet) sei hier nur angedeutet (s. o.). In diesem differenziellen Zugriff wird eine kontrastlose Innenwelt, wie sie etwa der Solipsismus behauptet, im buchstäblichen Sinne undenkbar. 625 Zu einigen Aspekten des Profils dieser Theoriengruppe vgl. etwa Rorty 2018: 131ff, 192ff.
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praktischen Umgang mit der Welt entstanden sein sollte, hat dieser Umstand mit der Möglichkeit der intellektuellen Prüfung von Hypothesen über unser Verhältnis zur Außenwelt zunächst nichts zu tun, dies bliebe ein rein theoretisches Unterfangen. Eine solche Zurückweisung übersieht allerdings, dass Dilthey konkreter argumentiert und zwar gegen eine intellektualistische Verfälschung der Art unseres Weltkontakts, mithin inhaltlich gegen gewisse in diesem Zusammenhang anzutreffende implizite Vorentscheidungen. In skeptischen Szenarien wird dieser Kontakt nämlich regelmäßig auf ein Verhältnis zutreffender oder nicht-zutreffender mentaler Repräsentationen verkürzt. Zutreffende Repräsentationen als primäre oder sogar ausschließliche Form des menschlichen Weltverhältnisses anzusetzen, ist den tatsächlichen Verhältnissen gegenüber allerdings wenig angemessen, sondern setzt stattdessen in der Tat als anthropologisches Modell des epistemischen Subjekts einen »intellektuellen Apparat« (s. o.) oder so etwas wie Cavells »recording angel« voraus.626 Was dieser in seiner Dilthey in vielem kongenialen Analyse des Skeptizimus schließlich als dessen »Wahrheit« festhält, findet sich der Tendenz nach bereits bei Dilthey: »that the human creature’s basis in the world as a whole, its relation to the world as such, is not that of knowing, anyway not what we think of as knowing«.627 Das Prinzip der anthropologischen Adäquanz bewahrt damit sowohl vor einer intellektualistischen Verkürzung des menschlichen Weltkontakts wie vor der komplementären Sackgasse, den menschlichen Weltkontakt in der Form einer Argumentation sicherstellen zu wollen. Dass der Skeptizismus dazu neigt, das menschliche Weltverhältnis ausschließlich in epistemischen Begriffen des korrekten Repräsentierens zu erläutern, ist für Dilthey wiederum ein Indiz dafür, dass einer skeptischen Position typischerweise eine metaphysische Stellung zur Wirklichkeit zugrunde liegt, denn für diese ist es gerade charakteristisch, »den Weltzusammenhang in Wissen [aufzulösen]«.628 Die an diesem Punkt bestehende Wahlverwandtschaft von Skeptizismus und Metaphysik, Dilthey bezeichnet jenen auch als »Schatten« der Metaphysik,macht deutlich, dass eine Philosophie des Lebens in dem Maße, in dem sie antimetaphysisch ist, auch antiskeptisch zu sein beansprucht.629 Den Anspruch seinen Untersuchungen »den ganzen Menschen« zugrunde zu legen, löst Dilthey selbst dahingehend ein, dass er ihn als »wollend fühlend 626 Cavell 1999: 212 (»[…] someone with the sense of the philosopher as Recording Angel, outside the world, neither affecting it nor affected by it, taking stock.«); vgl. ebd.: 109. 627 Cavell 1999: 241. 628 GS V, 83. 629 Vgl. GS I, 125. Der antiskeptische Impuls stellt eine wichtige Verbindung zu Comtes positiver Philosophie dar (s. o.). Ebenfalls deutlich ist hier der umdeutende Rückgriff auf Kants Strategie eines dritten Wegs zwischen Skeptizismus (David Hume) und Dogmatismus (Christian Wolff); vgl. KrV A 856/B 884.
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vorstellende[s] Wesen« (s. o.) konzipiert und behandelt, also durch einen Rückgriff auf seine psychologische Trias. Dass diese nicht als bloße Erweiterung der anzusprechenden seelischen Vermögen missverstanden werde, versucht Dilthey schon durch sprachliche Mittel sicherzustellen. So markiert die auffällige Partizipialkonstruktion, in der jedes Glied den Gehalt der anderen modifiziert und in der Dilthey offenbar ganz bewusst keine Interpunktion verwendet, sehr nachdrücklich den holistischen Charakter einer nach Dilthey allein anthropologisch adäquaten Psychologie. Gegenüber diesem Manöver liegt der Einwand nahe, dass auf diesem Wege die anthropologische Einheit nicht zu gewinnen sei. Eine bloße Zusammenstückung des menschlichen Wesens aus diesen drei Dimensionen ergebe noch nicht den »ganzen Menschen« im Sinne einer Totalität, wie es Diltheys eigene Formulierung doch fordert.630 Dieses Monitum macht deutlich, dass zu den drei psychologischen Momenten so etwas wie ein Bezug auf ein »gemeinschaftliches Prinzip«631 hinzutreten müsste, um den postulierten Ganzheitscharakter adäquat zu rekonstruieren. Auch wenn Dilthey dieses Problem nicht selbst adressiert, bieten sich im Rahmen seiner Theorie für diese Funktion zwanglos zwei Begriffe an: das Erlebnis und das Handeln. Dass das Erleben von Dilthey selbst so gefasst wird, dass es die drei psychologischen Momente integriert, geht aus der bereits mehrfach zitierten Stelle hervor. »[…] – das sind verschiedene Verhaltungsweisen, welche in der seelischen Struktur verbunden sind. Ihre psychische Relation ist für uns im Erlebnis da.«632 Der für Dilthey so zentrale Begriff des Erlebens ist daher dahingehend zu verstehen, dass er präzise die ausgezeichnete Form der Selbstgegebenheit der seelischen Totalität darstellt. Die zweite Form der Integration besitzt demgegenüber einen mehr resultativen Charakter. Die psychophysische Lebenseinheit in ihrem Milieu evaluiert mittels ihrer Gefühlsapparatur den eigenen Zustand und die relevanten Eigenschaften ihrer Umgebung, erwägt und antizipiert auf der Grundlage ihrer Triebe und Bedürfnisse und mittels ihrer intellektuellen Fähigkeiten mögliche Handlungsverläufe und -strategien und wirkt letztlich infolge eines Willensentschlusses auf sich bzw. auf ihr Milieu handelnd ein. Somit kommt der Handlung der Charakter eines (Zwischen-) Resultats des funktionellen Kreislaufs zwischen Milieu und Lebenseinheit zu, 630 Vgl. Diwald 1963: 208f. 631 KrV B 106f. 632 GS V, 405. Eine parallele Stelle lautet: »Und das ist nun für das ganze Studium dieses seelischen Strukturzusammenhangs das Entscheidende: die Übergänge eines Zustandes in den anderen, das Erwirken, das vom einen zum anderen führt, fallen in die innere Erfahrung. Der Strukturzusammenhang wird erlebt.« (GS V, 206 (Hervorhebungen entfernt)). Das Problem der Integration von »Wollen, Fühlen Vorstellen« zu einer Ganzheit stellt sich in dieser Form im Rahmen der Psychologie überhaupt nicht, da sie mit der im Erleben gegebenen Ganzheit ansetzt. Die Trias ist daher bereits das Ergebnis eines ersten Analyseschrittes.
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einer punktuellen und zielgerichteten Integration von Gefühl, Intellekt und Willen.633 Der durchaus berechtigten Rückfrage, dass die »Ganzheit« des Menschen auch nicht über eine erweiterte Auflistung von psychologischen Einzelaspekten oder gar seelischen Vermögen erreicht werden könne, lässt sich also dahingehend begegnen, dass Dilthey über den Erlebnis-Begriff die epistemische Zugänglichkeit dieser Ganzheit thematisiert und mittels des Handlungs-Begriffs die funktionale Integration und Geschlossenheit der psychologischen Trias sichergestellt wird. Gleichwohl ist damit kein abschließender Nachweis der Vollständigkeit der psychischen Trias gelungen. Daraus folgt, dass der Ausgriff auf »Ganzheit« und »seelische Totalität« den Charakter einer methodologischen Norm behält und die Lehre von der psychischen Trias ein offenes Konzept bleibt.
3.2.3 Inkommensurabilität Zu den beiden rekonstruierten Schritten, der Berücksichtigung der seelischen Totalität und ihrer ökologischen Einbettung, tritt mit der Inkommensurabilität eine weitere für den Lebensbegriff relevante Qualifikation hinzu. Auf sie wurde bereits in den ersten beiden Argumenten gegen die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft Bezug genommen. Einmal in der Form einer Inkommensurabilität von Denk- und Seinsstrukturen, die darin zum Ausdruck kam, dass sich für die (nach Dilthey) empirischen Begriffe von Kausalität und Substanz keine widerspruchsfreie Definition finden lässt; zum anderen in der Form, dass die begrifflichen Strukturen der wesentlichen Dimensionen des menschlichen Weltverhaltens sich nicht aufeinander zurückführen lassen und auch nicht durch eine vereinigende, konsistente Theorie dargestellt werden können. Eine wesentliche Formulierung des Inkommensurabilitätsgedankens schließt sich unmittelbar an die zweite Form an: (a) »Was aber in der Totalität der Gemütskräfte gegeben ist, das kann nie von der Intelligenz ganz aufgeklärt werden.«634
Der genaue Sinn der Inkommensurabilitätsthese ist nicht leicht zu bestimmen und stellt die Diltheyinterpretation vor erhebliche Schwierigkeiten, da Dilthey 633 Dilthey spricht entsprechend von der »Teleologie« bzw. von der »subjektiv immanenten Zweckmäßigkeit« der Struktur des Seelenlebens (vgl. GS V, 207ff) und versteht darunter die Appetenz von lustvollen und die Aversion von schmerzlichen Zuständen. Dass diese Einrichtung auch geeignet ist, objektiv wünschenswerte Zustände herbeizuführen (Förderung von körperlicher und seelischer Gesundheit, Selbsterhalt oder den Erhalt der Gemeinschaft, etc.), hält er zwar für plausibel, weist der Vorstellung einer objektiven Zweckmäßigkeit gegenüber der erlebten subjektiven Zweckmäßigkeit den Status einer Hypothese zu (vgl. GS V, 210; siehe oben). 634 GS I, 401.
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von diesem Satz erheblichen Gebrauch macht. (Wie gesehen ruht auf ihm im Wesentlichen seine antimetaphysische Argumentation.) Aber welche Unmöglichkeit genau expliziert dieser Satz? In welchem Sinne beschränkt hier die Genese wiederum die Geltung? Was allerdings unmittelbar klar ist, ist, dass hier (pace Arndt) nur eine vollständige »Aufklärung« ausgeschlossen wird, keineswegs jegliche. Folgt man der erarbeiteten Begriffsbestimmung von »Erleben« und »Erlebnis«, lässt sich der Satz (a) reformulieren als: (a’) »Das Erlebte kann nie von der Intelligenz ganz aufgeklärt werden.«
In dieser Form behauptet die These eine Art von Irreduzibilität des Erlebens selbst, ähnlich dem »phänomenalen Bewusstsein«. An die qualitative Fülle und die spezifische Vollzugsperspektive des Erlebens (eben: an die Phänomenologie) reichen demnach theoretische Konstruktionen (und zwar selbst solche nicht, die den Anspruch einer »theory of everything« erheben) prinzipiell nicht heran. Diese Einschränkung wird man allerdings nur dann für erheblich halten, wenn und insofern man bereit ist, das Erleben selbst für erheblich zu halten. Doch insofern als das Erleben die primäre Form des menschlichen Wirklichkeitskontakts bildet, wird hier auch ein weiterer Aspekt angesprochen: die Inkommensurabilität von Denk- und Seinsstrukturen. »Das Denken als nachgeboren und nicht imstande, das Wesen dieses Positiven aufzulösen, da die Elemente des Positiven immer in der Zersetzung zurückbleiben, wie im chemischen Prozeß. Es gibt keine Zersetzung der Welt in Begriffe.«635
Um die Kommensurabilität von Denk- und Seinsstrukturen zu plausibilisieren und damit eine rückstandslose »Zersetzung der Welt in Begriffe« zu ermöglichen, wurde im Lauf der Geistesgeschichte in verschiedenen Formen (mythologisch, religiös, philosophisch) deren »Gleichursprünglichkeit« behauptet.636 Die Bezeichnung des Denkens als »nachgeboren« schließt sich stattdessen an die na635 GS XVIII, 198f; vgl. Schlegel 1967: 178 (»Der Satz des Widerspruchs ist auch nicht einmal das Prinzip der Analyse, nemlich der absoluten, die allein den Namen verdient, der chemischen Dekomposition eines Individuums in seine schlechthin einfachen Elemente.«, Hervorhebung hinzugefügt). 636 Tendenziell sogar eher die Vorgängigkeit des Denkens und der Vernunft: »Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος«, (Joh. 1,1). »Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. […] Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.« (H V, 44, Hervorhebungen entfernt). Vgl. GS I, 262; XX, 5 (zu Hegel: »Nie, in der ganzen Geschichte des menschlichen Denkens, ist ein gleicher Anspruch erhoben; nie ein gleiches Versprechen gegeben worden. Unser menschliches Denken wird zum Göttlichen erhoben. […] Nie aber auch in der ganzen Geschichte des menschlichen Denkens hat die Philosophie eine tiefere Niederlage erlitten, als durch den logischen Hochmut dieses Systems.«); siehe oben.
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turgeschichtliche Vorstellungswelt an, in der das Denken kein formatives Weltprinzip, sondern eine späte und ephemere Erscheinung darstellt.637 Offenbar überzeugen Dilthey auch die philosophischen Versuche, die Kommensurabilität von Denk- und Seinsstrukturen zu erweisen, nicht: Spinozas oder Hegels Identität beider, Aristoteles’ enges Korrespondenzverhältnis zwischen ihnen, Kants transzendentale Deduktion, Leibniz’ prästabilierte Harmonie.638 Nicht nur, dass eine solche Entsprechung nicht apriorisch beweisbar ist, es gibt nach Diltheys Auffassung sogar empirische Hinweise dafür, dass sich Denk- und Seinsstruktur partiell einer Kongruenz entziehen. Hier ist an die verschiedenen Friktionsphänomene zwischen Denk- und Seinsstrukturen zu denken: die hartnäckige widerständige »Kernhaftigkeit« von allem Wirklichen gegenüber dem Zugriff des Denkens und Willens, an dessen »Unerschöpflichkeit« an inhaltlichen Bestimmungen und vor allem an deren gelegentliche Widersprüchlichkeit.639 Letztere kommt insbesondere dann in Form manifester Antinomien zum Tragen, wenn regional einwandfrei etablierte und validierte Einsichten und Prinzipien (häufig in »weltanschaulicher Absicht«, s. o.) unbeschränkt generalisiert werden und so einen Ausgriff auf die Totalität der Wirklichkeit beanspruchen.640 Der zahlentheoretische Hintergrund des Ausdrucks »Inkommensurabilität« kann an dieser Stelle durchaus irreführend sein, denn die Inkommensurabilität einer irrationalen Zahl (wie der Kreiszahl π) gegenüber den rationalen Zahlen ist eine absolute, sie lässt sich schlicht nicht durch einen Bruch ganzer Zahlen darstellen. Eine solche Art der Inkommensurabilität zwischen Denk- und Seinsstrukturen anzunehmen hätte die vollständige Unerkennbarkeit der Wirklichkeit zur Folge, was Dilthey offenkundig nicht im Sinn hat. Sein eigenes Bild aus dem Bereich der Chemie (bei der Rede von einer »Zersetzung der Welt in Begriffe« könnte ihm gut das Bild einer gesättigten Lösung vor Augen gestanden haben) deutet stattdessen auf eine Art von gradueller oder partieller Inkommensurabilität. Denkstrukturen vermögen demnach durchaus, Aspekte von Seinsstrukturen einzufangen und zutreffend zu repräsentieren, aber immer nur partiell und unter dem Vorbehalt, dass stets mit einer (mitunter nicht nur marginalen) Differenz zwischen beiden zu rechnen wäre. – »The map is not the territory.« (Alfred Korzybski). Am empfindlichsten macht sich diese Differenz darin bemerkbar, dass wir im Bereich des Denkens Widersprüche konsequent ausschließen und damit im 637 Vgl. GS XIX, 345. 638 Vgl. GS XX, 167f. 639 Vgl. GS VII, 157 (»unauflösliche Widersprüche […] unrepräsentierbare Lebenstiefe«); siehe unten. 640 »Die Widersprüche entstehen also durch die Verselbständigung der objektiven Weltbilder im wissenschaftlichen Bewußtsein. Diese Verselbständigung ist es, was ein System zur Metaphysik macht.« (GS VIII, 8).
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Kontext praktischer Realitätsbewältigung auch »ganz gut fahren«, dasselbe für die Seinsstrukturen selbst jedoch nicht apriorisch dekretieren können.641 Nach Diltheys Vorstellung ist der menschliche Intellekt nur dazu in der Lage, partiell und regional für Aufhellung durch explanatorische Theorien zu sorgen. Das »Ganze« ist uns auf theoretischem Wege nicht zugänglich, zu ihm besteht Kontakt allein im Erleben. Zur weiteren Verdeutlichung sei Diltheys Gedanke mit der Position eines durchschnittlichen physikalistischen Naturalisten verglichen. Diese szientistische Position zeichne sich durch die Überzeugungen aus, dass das »Ganze« durchaus dem theoretischen Zugriff offenstehe, und dass geeignete Kandidaten für solche »theories of everything« allein in den Naturwissenschaften zu finden wären. Für einen solchen physikalistischen Szientisten bildete der aktuelle, avancierteste Stand der physikalischen Forschung »die letzte erreichbare Tatsache«. Die in ihrem Rahmen postulierten Entitäten stellten das ontologisch basale Inventar dar, aus dem die Welt in letzter Analyse »wirklich besteht«. Der Mensch selbst, mitsamt aller Aspekte seines phänomenalen Bewusstseins und seiner Lebenswelt, wird diesem Rahmen eingeordnet, sei es als bloßes Epiphänomen oder im Sinne einer starken Emergenz, woraus sich in der Regel eine massiv revisionistische Auffassung der menschlich-sozialen Verhältnisse ergibt. (»Der Mensch glaubt zwar durch sein Handeln eigenmächtig Kausalketten anzustoßen, in Wirklichkeit aber …«) Dem naiven lebensweltlichen Schein wird der objektive wissenschaftliche Befund dessen, was sich »in Wirklichkeit abspielt«, konsequent übergeordnet. In diesem Bild bleibt den Verhältnissen der Lebenswelt letztlich nur der Status einer lebensdienlichen und möglicherweise sogar -notwendigen Illusion. Mittels wissenschaftlicher Erkenntnisse wird sie aber als (vorerst noch) notwendige menschliche Selbsttäuschung entlarvt. Demgegenüber ergibt sich aus Diltheys Perspektive ein völlig verschiedenes Bild. Letztes evidentielles Fundament bilden hier nicht die Ergebnisse einer Einzelwissenschaft, sondern die »Verhaltungsweisen« des wollend fühlend vorstellenden Wesens »Mensch«. Die menschliche Unternehmung der Wissenschaft stellt selbst eine Hochstilisierung einer dieser Verhaltensweisen dar, nämlich des kontemplativ-intellektuellen Aspekts. Da konkrete Forschungsarbeit letztlich von individuellen Menschen auf der Basis und im Horizont ihrer lebensweltlichen Voraussetzungen geleistet wird, ist es nun prinzipiell ausgeschlossen, dass die Ergebnisse dieser Arbeit zu einer wesentlichen Revision des lebensweltlichen Selbstverständnisses führen könnten (von einer illusionstheoretischen Umdeu-
641 Bei Dilthey haben die Antinomien ihren Sitz in der Wirklichkeit und sind nicht wie bei Kant auf eine unsachgemäße Anwendung der Erkenntnisvermögen zurückzuführen.
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tung ganz zu schweigen).642 Der Sinn wissenschaftlicher Vollzüge und Erkenntnisse ist dauerhaft imprägniert mit lebensweltlichen Präsuppositionen und insofern auch gebunden an ihren genetischen Kontext.643 Die Vorstellung, der Mensch könnte, von seiner Lebenswelt vollständig absehend, zu einer objektiven Theorie der »Welt an sich« durchstoßen, und seine lebensweltliche Perspektive auf diesem Wege womöglich zugleich als Illusion durchschauen, oder er könnte als »intellektueller Apparat« ein Blick von nirgendwo auf die »wahren« Verhältnisse werfen, wird im Rahmen von Diltheys Auffassung selbst zu einer haltlosen Illusion. Der (handelnde) Mensch ist dem (theoretischen) Menschen nicht hintergehbar. Vorausgesetzt die menschliche Lebenswelt (d.i. das Ensemble der basalen menschlichen Verhaltungsweisen mitsamt der durch sie intendierten Gehalte) sei tatsächlich nicht mehr als eine lebensnotwendige Fiktion, wie könnte der dieser Illusion unterworfene Mensch sie durchschauen? Das mag ( je nach konkreter Ausgestaltung der physikalistischen Position) im Einzelnen zwar nicht komplett ausgeschlossen sein, doch angesichts konkreter gehirnphysiologischer 642 Problematisiert werden sollen lediglich tiefgreifende Revisionen, die die menschlichen Verhaltungsweisen selbst und deren grundlegende Begrifflichkeiten (Sein, Ursache, Handlung, Wert, Zweck, s. o.) betreffen. Dass beispielsweise der durch das Aufgehen der Sonne hervorgerufene geozentrische Augenschein heliozentrisch revidiert und korrigiert wird, ist mit Diltheys Forderung vom »ganzen Menschen« aus zu philosophieren ohne Weiteres vereinbar. Ebenso die Aufrechterhaltung der Aristotelischen Unterscheidung zwischen dem »für uns« und dem »der Sache nach Früheren«. Der revisionsresistente Kern besteht im Wesentlichen aus dem, was Hugo Dingler als »Grundfähigkeiten« anspricht. »Wir nennen nun alles, was wir mitbringen müssen, um handeln zu können, so daß wir unseren Aufbau beginnen, »Grundfähigkeiten«. Dazu gehört alles, was nötig ist, um den Aufbau zu beginnen, also etwa das, was wir in der Tagessituation schon können. Dazu gehört z. B. der Gebrauch der Tagessprache, das Denken, Wollen und Planen, unsere Körperbewegungen, das Erinnern etc., kurz alle unmittelbaren Handlungsmöglichkeiten. Jeder normale Mensch weiß von sich, daß er diese Grundfähigkeiten besitzt.« (Dingler 1955: 16, Hervorhebungen im Original). Die konkrete Abgrenzung und Explikation solcher »Grundfähigkeiten« ist allerdings alles andere als trivial, da sich etwa kaum vermeiden lässt, dass bereits in das Verständnis dieser Grundfähigkeiten theoretische Überzeugungsbestände hineinspielen. (Lässt sich allein sagen, was »handeln können« bedeutet, ohne auf einen wissenschaftlich zumindest beeinflussten Begriff der Kausalität Bezug zu nehmen?) Auch die nähere Erläuterung der »unmittelbaren Handlungsmöglichkeiten« ist notorisch vertrackt (vgl. Danto 1965). 643 Man denke vor allem an die Unverzichtbarkeit der Umgangssprache (»ordinary language«) im Laborkontext, in dessen kommunikativen Abläufen die Forschenden sich gegenseitig ganz selbstverständlich als handelnde Akteure auffassen und auch (besonders wesentlich für interventionistische Auffassungen des Kausalbegriffs) als solche handelnd einzelne Kausalketten isolieren und kontrollieren. Dieser bildet einen hochgradig standardisierten Lebensweltausschnitt, der für die Sicherstellung der Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Resultate unverzichtbar ist und daher in dieser Hinsicht durchaus eine Grenze von unqualifizierter Generalisierung wissenschaftlicher Theorien darstellt; vgl. Tetens 2006 (»Das Labor als Grenze der exakten Naturforschung«); Polanyi 2015: 160–171; von Wright 1977: 34–82.
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Versuchsanordnungen, die Befunde dieser Art letztlich nachweisen sollen, wird der Zweifel, ob eine solche Interpretation der jeweiligen Experimente tatsächlich alternativlos ist oder ob womöglich relevante methodologische und begriffliche Voraussetzungen nicht hinreichend berücksichtigt wurden, wohl nicht leicht vollständig auszuräumen sein. Diltheys zugleich material-systematische und methodologische Forderung, die philosophische Theorie am »ganzen Menschen« und nicht etwa an einem imaginären »intellektuellen Apparat« auszurichten, besagt also im Kern: (1) Der primäre und unmittelbare Wirklichkeitskontakt des Menschen ist im Erleben gegeben. (2) Das Erleben artikuliert sich in den Verhaltensweisen der psychologischen Trias: Fühlen, Wollen, Vorstellen. Diese drei Dimensionen werden als Einheit erlebt und schlagen sich resultativ in Form von Handlungen nieder, die die Umwelt der psychophysischen Lebenseinheit (oder diese selbst) modifizieren. (3) Die drei Dimensionen der seelischen Struktur sind nicht aufeinander zurückführbar. Zur Aufrechterhaltung der (lebendigen) Wechselwirkung von menschlicher Lebenseinheit und Umwelt sind alle drei Aspekte notwendig. Neben dieser praktischen Nichtzurückführbarkeit schließt Dilthey zugleich auch die theoretische aus, etwa in Form einer vollständigen theoretischen Beschreibung. (4) Jede theoretische Explikation der in den Verhaltungsweisen gegebenen begrifflichen Struktur hat partikularen Charakter, da sie sich immer auf jeweils eine Verhaltungsweise beschränken muss. (5) Es gibt keine kohärente und konsistente materiale Theorie, die allen drei Dimensionen der seelischen Struktur zugleich (und damit der Totalität des Seelenlebens) gerecht werden könnte. Nicht zuletzt die Kantischen Kritiken haben die Konsistenz der theoretischen Beschreibungen der grundlegenden menschlichen Verhaltungsweisen untereinander zu einem prominenten Problem gemacht. Bei Kant selbst scheint es sich um einen »dramatische[n] Gang in drei Akten« zu handeln, dessen Einheit, allen Konstruktionen und Versicherungen zum Trotz, fraglich bleibt.644 Somit rettet Diltheys Lebensbegriff gewissermaßen die Einheit der menschlichen Welt, jedoch unter Preisgabe ihrer Widerspruchsfreiheit.645 Die Wirklichkeit ist für ihn 644 Misch 1926: 540. 645 Eine Bemerkung Eckart Försters lenkt die Aufmerksamkeit auf einen weiteren, ganz ähnlichen »trade-off«. Er schreibt mit Blick auf die Kantischen Antinomien: »Denn nur, wenn Raum und Zeit sowie die Erscheinungen in ihnen für Dinge an sich gehalten werden, tritt die Antinomie auf und zwar unvermeidlich.« (Förster 2018: 47). Wenn Dilthey nun die Kantische Lösung als Depotenzierung insbesondere der Zeit nicht akzeptieren kann, scheint die
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zwar eine, sie zerfällt nicht in mehrere Welten (oder kaum vermittelbare Realitätsschichten und -aspekte), aber diese Wirklichkeit lässt sich nicht in ihrer Einheit mittels einer Rahmentheorie darstellen. »›Leben‹ wird in der Lebensphilosophie zu dem Totalitätsbegriff, dessen die Philosophie nach dem Idealismus und dem Historismus allein noch mächtig zu sein glaubt.«646
In Bezug auf Dilthey trifft diese Charakterisierung Schnädelbachs durchaus zu, wenn man im Auge behält, dass bei ihm der Lebensbegriff zwar klarerweise die Funktion eines (nicht theorieförmigen) Totalitätsbezugs erfüllt, dabei aber nicht als Flucht in das (absolut) Irrationale oder Spekulative dient, sondern vielmehr eine erkenntnistheoretisch reflektierte methodische Verwendung findet. Auch der von Schnädelbach angedeutete resignative Ton wird dem Umstand nicht gerecht, dass für Dilthey die Philosophie mit dem Leben endlich den Kontakt zur Wirklichkeit gefunden hat und damit auch allererst in der Lage sei, sinnvolle und fruchtbare Arbeit zu leisten.
3.2.4 Unhintergehbarkeit Ein in verschiedenen Abwandlungen immer wieder auftretendes Motiv der Diltheyschen Philosophie ist seine Überzeugung von der »Unhintergehbarkeit des Lebens«, eine Position, die von einem seiner Schüler als »Lebenspositivismus« bezeichnet wird.647 Womöglich fällt von einer Diskussion dieses Gedankens auch neues Licht auf die besprochene Inkommensurabilität, wie überhaupt bei der Entfaltung des Lebensbegriffs leicht der Eindruck entsteht, dass Dilthey sich mit verschiedenen Begriffen und Referenzen immer wieder von einer anderen Seite ein und demselben Gedanken annähert. Markante Formulierungen der Unhintergehbarkeitsthese lauten: »Leben ist nun die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden muß. Es ist das von innen Bekannte, es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann. Leben kann nicht vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht werden.«648 »Hauptsatz: dieser Lebenszusammenhang in seiner strukturellen Gliederung bildet Bedingungen alles Wissens, hinter die nicht zurückgegangen werden kann«.649
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logische Folge davon zu sein, dass er die antinomische Verfasstheit der Wirklichkeit in Kauf zu nehmen hat (vgl. GS V, 5). Schnädelbach 1983: 180 (Hervorhebung entfernt). Groethuysen 1969: 65–69. GS VII, 261. GS VIII, 189.
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Eine aufschlussreiche Anwendung dieses Prinzips stellt Diltheys Ablehnung von Kants Lehre der transzendentalen Idealität der Zeit dar, die er an exponierter Stelle, nämlich in dem Entwurf der Vorrede für die von ihm selbst noch geplante Sammlung seiner verstreut erschienen wichtigsten Arbeiten (aus diesem Vorhaben gingen dann die Bände V und VI der Gesammelten Schriften hervor), wie folgt skizziert: »Sollte die Realität der geistigen Welt gerechtfertigt werden, so bedurfte es dazu vor allem einer Kritik der Lehre Kants, welche die Zeit zu einer bloßen Erscheinung machte und damit das Leben selbst. […] Das Leben als Schein ansehen, ist eine contradictio in adjecto: denn in dem Lebensverlauf, in dem Wachsen aus der Vergangenheit und Sichhinausstrecken in die Zukunft, liegen die Realitäten, die den Wirkungszusammenhang und den Wert unseres Lebens ausmachen. Gäbe es hinter dem Leben, das in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verläuft, ein Zeitloses, dann wäre dieses ein Antezedens des Lebens: denn es wäre danach das, was für den Lebensverlauf in seinem ganzen Zusammenhang die Bedingung wäre: dieses Antezedens wäre dann das, was wir eben nicht erlebten und darum nur Schattenreich.«650
Festzuhalten ist ein Aspekt, auf den wir zunächst nicht weiter eingehen werden. Zeitlichkeit ist für Dilthey offenbar eine wesentliche Eigenschaft, eine conditio sine qua non von Lebensverhältnissen und -prozessen, was sich auch in seinen »Kategorien des Lebens« niederschlagen wird. Was genau an Kants Zeit-Lehre ist es nun aber, was Dilthey als so grundsätzlich inakzeptabel erscheint? Zeit als bloße Form der Erscheinungswelt zu betrachten, ihr aber die Gültigkeit für die Verhältnisse der vermeintlich ontologisch primären Welt des Noumenalen abzusprechen, muss vor dem Hintergrund einer Philosophie des Lebens samt ihren methodologischen Prämissen wie ein letztlich unvollziehbarer Gedanke wirken. Wenn man Diltheys bereits herangezogene Erläuterung des Wirklichkeitsbegriffs durch Widerstandserfahrungen, mithin durch einen Teilaspekt des Lebensprozesses selbst, in Betracht zieht, erscheint die Kantische Zumutung in der Tat geradezu grotesk: dasjenige Lebensverhältnis, das für die Gewinnung des menschlichen Wirklichkeitsbegriffs unabdingbar ist, soll mitsamt allen zeitlichen Verhältnissen und Prozessen selbst zum ontologischen Derivat erklärt werden. Wenn dieser Rekonstruktionsversuch zutreffend ist, stellt er im Wesentlichen eine Variation des oben erläuterten Arguments gegen eine radikale Revision des lebensweltlichen Selbstverständnisses durch die Generalisierung wissenschaftlicher Einsichten dar. Sowohl die Kantische Transzendentalphilosophie als auch der reduktive Physikalismus beanspruchen, die menschliche Binnen- oder Vollzugsperspektive zu ersetzen und radikal zu modifizieren, indem sie eine perspektivlose Draufsicht auf Mensch und Welt »an sich« entwerfen, die sich letztlich nicht auf erlebbare Verhältnisse stützt, sondern auf eine Kette von 650 GS V, 5.
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Schlüssen, die ausgehend von den im Empirischen gegebenen Gesetzmäßigkeiten zu deren kausalen oder transzendentalen Voraussetzungen übergeht. Solche Verfahren hat Dilthey im Sinn, wenn er auf das Ungedeckte von Versuchen, mittels des bloßen Denkens unser Wissen über die Welt über diejenigen in Erlebnissen erschlossenen und erschließbaren Gehalte hinaus zu erweitern oder sogar zu revidieren, hinweist. Versuche dieser Art, denkend den menschlichen Erlebenshorizont zu hintergehen, haben zur Voraussetzung, dass die Wirklichkeit letztlich rational, d.i. unseren Denkgesetzen entsprechend, strukturiert ist, wie es die rationalistische Metaphysik durch den Satz vom Grunde explizit allen ihren Deduktionen voraussetzt oder Kant durch seine Kopernikanische Wende. Wenn die herkömmlichen religiösen oder metaphysischen Begründungen dieses Satzes nicht mehr überzeugen, kommt dem Satz vom Grunde und damit auch den Versuchen mit dem Denken hinter das Leben zurückzugehen lediglich der Charakter mehr oder weniger plausibler Hypothesen zu. Wenn man Dilthey soweit folgt, ist es in der Tat geradezu rational, die sich auf Erlebniszusammenhänge aufbauenden Vollzugsgewissheiten höher zu bewerten als massiv revisionäre Folgerungen aus vermeintlich profunden philosophischen oder physikalischen Erkenntnissen zu akzeptieren, denen bei Lichte besehen nicht mehr als ein hypothetischer Charakter zuzuschreiben ist. Damit ist klar, dass Diltheys Ablehnung der Idealität der Zeit nicht lediglich einen punktuellen Dissens mit Kants Lehre markiert, sondern die transzendentale Methode im Kern betrifft. Die Erschließung der »Bedingungen der Möglichkeit« menschlicher Erkenntnis ist bei Kant ein rein begrifflich-intellektuelles Geschäft und auch wenn sie letztlich darauf hinausläuft, dass der legitime Vernunftgebrauch auf das Feld möglicher Erfahrung beschränkt sei, so sind diese selbst gerade kein Erfahrbares, sondern sollen die menschliche Erfahrung und deren Struktur ermöglichen und erklären. Der transzendentale Apparat selbst entzieht sich somit wesentlich der Vollzugsperspektive des empirischen Subjekts. Die Zugänglichkeit und Erkennbarkeit der »Bedingungen der Möglichkeit« menschlicher Erkenntnis bleiben im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft bemerkenswert unerläutert.651 Überlegungen dieser Art, also Problematisierungen der Bewusstseinstranszendenz des transzendentalen Apparats, mögen Dilthey den Anlass dafür gegeben haben, zu betonen, dass »die Bedingungen alles 651 Auf diese interne Spannung weist etwa Richard Rorty hin: »the question of how we know what conditions they [sc. objects] must conform to – how to validate knowledge-claims made from the transcendental standpoint – is discussed neither here [sc. B xvi–xvii] nor elsewhere in the first Critique.« (Rorty 2018: 138n12). So lässt sich etwa die Frage aufwerfen, welcher Status der Zweistämmelehre zukommen soll. Beschreibt sie tatsächlich ein Strukturelement, das menschlicher Erkenntnis als solcher notwendig zukommt, und wenn ja, wie lässt sich das begründen? Oder beruht ihre Evidenz vielmehr darauf, dass Kant die Erkenntnis von vornherein der Struktur der Zweistämmelehre entsprechend beschreibt?
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Wissens« nicht in einem erschlossenen transzendentalen Bewusstsein zu verorten, sondern im »Lebenszusammenhang in seiner strukturellen Gliederung« gegeben sind.652 »Die fundamentalen Voraussetzungen der Erkenntnis sind im Leben gegeben, und das Denken kann nicht hinter sie greifen.«653
»Im Leben gegeben« bedeutet allerdings nicht auch schon »erlebt«, denn nicht alle Aspekte der Lebensverhältnisse und -prozesse fallen auch ins Bewusstsein. Worin die »fundamentalen Voraussetzungen der Erkenntnis« genauer bestehen, ist damit also noch nicht gesagt. Fest steht immerhin, wo sie zu suchen sind. Das bedeutet offensichtlich eine erhebliche Umformung der Transzendentalphilosophie gegenüber ihrer orthodoxen Fassung.654 Wenn der Lebenszusammenhang selbst die Bedingungen (der Möglichkeit) des Erkennens bedeutet bzw. beinhaltet, also zugleich dessen Beschränkung und Ermöglichung, ist aber natürlich ausgeschlossen, dass mit den Mitteln des Denkens legitimerweise der Lebenszusammenhang und seine Vollzüge grundsätzlich in Frage gestellt werden könnten. In diesem szientismuskritischen Sinn haben Hugo Dingler und dann auch die Erlanger Konstruktivisten den Unhintergehbarkeitssatz aufgegriffen. Dingler versteht ihn dabei im Sinne einer prinzipiellen Grenze der Objektivierbarkeit. »Unhintergehbarkeit umfaßt eben den Umstand, daß etwas nicht Objekt werden kann, denn, um es zum Objekt zu machen, muß es uns möglich sein, uns »hinter« dasselbe zu stellen, es (das Objekt) der Beschauung zu unterziehen.«655
Diese Explikation scheint Diltheys Gedanken auch recht genau zu treffen, bei dem es etwa heißt:
652 GS VIII, 189. An anderer Stelle führt Dilthey, um die Erlebbarkeit dieser Aspekte zu gewährleisten, neben der inneren und äußeren als dritte Klasse die »transzendentale Erfahrung« ein (vgl. GS V, 246–248). 653 GS V, 136. 654 Ob in Diltheys Eingriffen eine Weiterentwicklung der Transzendentalphilosophie in Richtung eines Zugewinns an innerer Konsistenz zu sehen ist oder eher eine sinnwidrige Psychologisierung, die einen Verlust des Verständnisses für den eigentlichen Sinn der transzendentalphilosophischen Fragestellung anzeigt (so bereits die Tendenz einer der ersten Auseinandersetzungen mit Diltheys Philosophie: vgl. Krakauer 1913: 34ff), kann hier nicht diskutiert werden. Diltheys Kant-Darstellung im Rahmen seiner letzten Vorlesungen bietet Bischoff 1935: 46ff; vgl. GS IV, 44–47. 655 Dingler 1955: 18. Paul Lorenzen sieht die Pointe von Diltheys Unhintergehbarkeitssatz hingegen in einem prinzipiellen Primat der Praxis und erläutert ihn entsprechend: »Alles Denken ist eine Hochstilisierung dessen, was man im praktischen Leben immer schon tut.« (Lorenzen 1988: 26). Dieser Satz ist grundlegend sowohl für die Darstellungsform der Logischen Propädeutik als auch für ihren Gehalt (vgl. Kamlah/Lorenzen 1973: 15–27).
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»Das Denken ist im Leben, kann also nicht hinter dieses selber sehen.«656
Das Leben ist dem menschlichen Denken ein unübersteigbarer Letzthorizont, es kann keinen festen Standpunkt jenseits desselben einnehmen. Dies gelingt nur punktuell und vorübergehend durch methodische Anstrengung oder (häufiger noch) durch Selbsttäuschung. Damit bildet das »Leben« bei Dilthey auch den letzten Explikationshintergrund und bezeichnet dabei ein inhaltlich nicht festgelegtes, prinzipiell offenes und erlebbares Geschehen. Was genau wird durch den Unhintergehbarkeitssatz aber nun ausgeschlossen? Diese Frage lässt sich naturgemäß nicht erschöpfend und nur durch eine unsystematische Liste beantworten. a) Einen »view from nowhere«, also die unqualifizierte Akzeptanz einer generalisierten wissenschaftlichen »theory of everything«, in der selbst kein Platz ist für Wesen, die diese Theorie aufgestellt und die dafür notwendigen Experimente durchgeführt haben (s. o., Schema 1). b) Spinozas Zumutung, »sub specie aeternitatis« zu philosophieren.657 Im Sinne einer methodischen Abstraktionsübung von allen zeitlichen Verhältnissen lässt sie sich punktuell womöglich realisieren. Als Perspektive auf die Wirklichkeit und den Lebensvollzug stellt sie eine Unmöglichkeit dar, die bereits von Søren Kierkegaard ausführlich ridikülisiert worden ist. c) Ein »dogmatisches« Verhältnis zur Wirklichkeit.658 Jede Dogmatik erhält Sinn und Bedeutung erst im Kontext des Lebensvollzugs. Ein an sich trivialer Sachverhalt, der erst in einer differenzierten Schriftkultur auffällig werden kann, die dann dazu neigt, Texten eine gewisse Bedeutungsautonomie zuzuschreiben. »Leben ist das erste und immer Gegenwärtige, die Abstraktionen des Erkennens sind das zweite und beziehen sich nur auf das Leben.«659
Das gilt für Rechtsdogmatiken in Bezug auf die tatsächliche Rechtspraxis nicht weniger als für Dogmatiken im theologischen Sinn in Bezug auf das religiöse Leben konkreter Gemeinschaften. Und nicht weniger für philosophische Systeme und wissenschaftliche Theorien: kodifizierte Propositionenmengen sind nur in einem abgeleiteten Sinn sinnvoll, letztlich gewinnen sie Sinn nur vor dem Hin-
656 GS XIX, 347. 657 Baruch de Spinoza, Ethica, pars quinta, propositio XXIX (Spinoza 2015: 570f); vgl. Toulmin 2003: 118 (»Pure mathematics is possibly the only intellectual activity whose problems and solutions are ›above time‹. […] As a model argument for formal logicians to analyse, it may be seducingly elegant, but it could hardly be less representative.«). 658 »Dogmatik« ist hier im Sinne der von Erich Rothacker untersuchten »Dogmatischen Denkform« zu verstehen (vgl. Rothacker 1954: 245, 249–258). Eine genauere Bestimmung des Bedeutungsbegriffs erfolgt im Rahmen der Darstellung der »Kategorien des Lebens« (siehe Abschnitt 4.2.2). 659 GS I, 148.
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tergrund ihrer Einbettung in menschliche Lebensvollzüge und durch den Vorgang einer verstehenden Aneignung. Ein dogmatisches Verhältnis zur Wirklichkeit bestünde hingegen darin, das eigene Leben oder das Leben der eigenen Gemeinschaft als bloßen Anwendungsfall eines autoritativen Textes aufzufassen, handele es sich dabei um die marxistische Theorie oder andere »maßgebliche Bücher«. »Ehedem suchte man, von der Welt aus Leben zu erfassen. Es gibt aber nur den Weg von der Deutung des Lebens zur Welt. Und das Leben ist nur da in Erleben, Verstehen und geschichtlichem Auffassen. Wir tragen keinen Sinn von der Welt in das Leben. Wir sind der Möglichkeit offen, daß Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen.«660
Was auch immer hier genau unter »Sinn und Bedeutung« zu verstehen sein mag (eine Frage, der wir im nächsten Kapitel nachgehen werden), offenbar stehen sie in einer engen Verbindung zum Lebensprozess. Die Wechselwirkungsbeziehungen von Lebenseinheit und Milieu (zu denen auch intersubjektive Verhältnisse zählen) sind der Quellgrund für (menschliche) Sinn- und Bedeutungsgehalte, die sich dann sekundär niederschlagen können in Texten, Skulpturen, Institutionen, in den Formen des objektiven Geistes. Auch für wissenschaftliche Anstrengungen bleibt das Leben ein letzter, nicht reduzierbarer Bezugspunkt. »Wir denken, um zu leben. Wenn in dem Forscher der Drang zu erkennen in einseitiger Energie vom ganzen Dasein Besitz nimmt, so ist in dem geistigen Leben der Menschheit diese seine Arbeit doch stets einem Zusammenhang untergeordnet, in welchem der Mensch zur vollen Verwirklichung des Ganzen seiner Kräfte nach allen ihren Beziehungen zu der Welt, in der er sich findet, zu gelangen strebt. Wie unermeßlich wichtig unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse auch in diesem Zusammenhange sind: der Mensch selber reicht doch über sie hinaus und bestimmt ihnen ihre Stelle und ihren Wert.«661
Die Illusion einer freistehenden Dogmatik, einer selbstgenügsamen Theorie scheint ein Symptom einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft zu sein. Die menschenmögliche Existenz des reinen Theoretikers stellt eine luxurierende Einseitigkeit dar, die als entlastet-hochstilisierte Lebensform eminent produktiv sein kann, auf der Ebene der Gesellschaft aber entsprechend durch komplementäre Lebensformen (im Härtefall durch Sklaven) kompensiert werden muss.
660 GS VII, 291. 661 GS XIV/1: 10. Erst nach den ambivalenten Erfahrungen mit den technischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts scheint denkbar geworden zu sein, dass es der Mensch sein könnte, dem in diesem Prozess »Stelle und Wert« zugewiesen wird (vgl. Anders 2002: 260– 271; 1995: 128–130).
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Diese faktische Einbettung der Theorie verliert der »besonnene« Erkenntnistheoretiker auch in seinem wissenschaftlichen Arbeiten nicht aus dem Blick.662 »Die intellektuell mächtigsten Geister haben in naiver Genialität ihrem Werk des Erkennens gelebt, oder sie haben die interesselose Vertiefung des Geistes in die sachliche Erkenntnis auch philosophisch in einseitiger Energie zur Geltung gebracht; menschlich größer, universaler in ihrer Betrachtung von Leben, Welt und Menschendasein harmonischer abgestimmt sind doch die Naturen, welche aus der Fülle einer reichen Menschennatur, aus dem ganzen Gefühl des Lebens philosophiert haben.«663
d) Eine voraussetzungslose Philosophie. Die These von der Unhintergehbarkeit des Lebens bedeutet zudem eine Absage an die von Kants Konzeption einer (von jeder empirisch-sinnlichen Beimischung) reinen Vernunft genährte und von Hegel explizierte Vorstellung, die Vernunft könne die eigenen Voraussetzungen restlos einholen und sich dadurch völlig autonom konstituieren. Das Programm einer voraussetzungslosen Philosophie wird als Illusion spekulativen Philosophierens angesehen.664 Eine besonders relevante Form Voraussetzungslosigkeit anstrebenden Philosophierens stellt der epistemologische Fundamentalismus dar, also etwa die von Descartes verfolgte Idee, mit dem Wissen ganz von vorne, »a primis fundamentis« anzufangen und nur solche Wissensbestände für den Neuaufbau zu verwenden, denen apodiktische Gewissheit zukommt. Auch hinter diesem Projekt steht der letztlich aussichtslose Versuch, mittels des Denkens hinter das Leben zurückzugehen und den Lebensprozess zumindest nachträglich auf das Fundament eines gesicherten Wissens zu gründen. Auch eine absolut sichere Erkenntnisfundamente in den luftleeren Raum verlegende Epistemologie ist unter den Bedingungen der »Unhintergehbarkeit des Lebens« kein menschenmögliches Vorhaben. Die erkenntnistheoretische Reflexion, die sich ihrer notwendigen Einbettung in den Lebensprozess bewusst ist, also die »Selbstbesinnung« in Diltheys Sinn, ist hingegen wesentlich eingespannt in die Lebensvollzüge und kann punktuell zwar Bedingungsverhältnisse zwischen Wissensansprüchen und Voraussetzungen von wissenschaftlichen Theorien aufklären
662 Diese sozialen Aspekte finden sich bei Dilthey nur andeutungsweise. 663 GS XIV/1: 10. Als Exponenten der letzteren Art führt Dilthey hier neben Schleiermacher Platon und Shaftesbury an. Nicht zu vergessen ist natürlich auch hier der »Mensch schlechthin«: Goethe. 664 Vgl. HW V, 71. Diltheys Skepsis gegenüber diesem Desiderat (wie auch gegenüber dem »reinen Denken«) geht vermutlich nicht zuletzt auf seinen Lehrer Trendelenburg zurück (vgl. Köhnke 1986: 48–51); B 221 (Juli 1896): »Die Philosophie hat keinen voraussetzungslosen allgemeingültigen Anfang. Der Anfang verfällt einem Cirkel. Wir können nur denkend, analysierend, sonach urtheilend und schließend Thatsachen als unwidersprechlich gegeben feststellen, und darum handelt es sich doch. Sonach setzen wir die Geltung der Denkvorgänge für Feststellung von Thatsächlichkeit dabei voraus.«; vgl. Plantinga 1980: 76f.
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und deren Ansprüche prüfen, aber sie kann nicht das Ganze des menschlichen Wissens auf allem Zweifel und Wandel enthobene Grundlagen hieven. »Es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft der Wirklichkeit: dies ist schließlich eine Trivialität und doch ein wichtiger Satz. […] So gibt es denn auch keinen voraussetzungslosen Ausgangspunkt der allgemeinsten Wissenschaft des Wirklichen, der Philosophie. […] Das heißt, sie beginnt damit, die in dem Verhältnis des Denkens zu der Erfahrungsordnung gelegenen, von den positiven Wissenschaften gemachten Annahmen durch eine umfassende Analyse aufzuklären, und ihre Untersuchung kann nie einen Punkt außer jenen Annahmen gewinnen, der für die Intelligenz nicht existiert, sie kann nur diese Annahmen aus ihrem Verhältnis zueinander prüfen, aus den Wirkungen ihrer Elimination, aus denen ihrer Veränderung usw.«665
Diese Zurückweisung der Vorstellung, es ließen sich ausgezeichnete Fundamente der Erkenntnis aufweisen, erscheint in vielem wie eine Vorwegnahme von Quines Konzeption eines »web of belief« (freilich ohne dessen naturalistische Restriktionen), das nur am Rand im Kontakt mit der Empirie stehe und in dessen Mitte relativ erfahrungsferne Sätze, wie etwa logische Prinzipien, anzusiedeln wären, für die aber alle gleichermaßen gelte: »no statement is immune to revision«.666 Bei Dilthey heißt es: »Der Empirismus hat kein Haar mehr Recht als der Rationalismus; der Ausgang von den Erfahrungen ist um nichts sicherer als der von den an sich evidenten Wahrheiten.«667
Wie ferner Quine die Aufgabe der Erkenntnistheorie unter dem Slogan »epistemology naturalized« im Wesentlichen der deskriptiven wissenschaftlichen Beschreibung der menschlichen Sinnesorgane und Gehirne zuschlägt, so ergibt sich auch für Dilthey aus dem Satz der Unhintergehbarkeit die Unmöglichkeit, die erkenntnistheoretische quaestio juris von der physiologisch-psychologischen quaestio facti restlos zu trennen.668 Die hier rhapsodisch aufgeführten Konsequenzen des Unhintergehbarkeitssatzes haben überwiegend den Charakter einer resignativen Reichweitenmin665 GS XIX, 13; Schlegel 1967: 179 (»Einiges muß die Philosophie einstweilen auf ewig voraussetzen, und sie darf es, weil sie muß.«); 171 (»Die Philosophie geht noch zu sehr grade aus, ist noch nicht zyklisch genug.«). 666 Quine 1964: 43. 667 GS XIX, 13; vgl. van Fraassen 2002: 38–45. 668 GS V, 148f (»Aber augenscheinlich können die geistigen Tatsachen, welche den Stoff der Erkenntnistheorie bilden, nicht ohne den Hintergrund irgendeiner Vorstellung des seelischen Zusammenhangs miteinander verbunden werden. Keine Zauberkunst einer transzendentalen Methode kann dies in sich Unmögliche leisten. […] Der Schein, dies leisten zu können, beruht schließlich darauf, daß der Erkenntnistheoretiker in seinem eignen lebendigen Bewußtsein diesen Zusammenhang besitzt und aus ihm denselben in seine Theorie überträgt. Er setzt ihn voraus. Er bedient sich seiner. Aber er kontrolliert ihn nicht. […] So ist es gekommen, daß die Grundbegriffe der Vernunftkritik Kants durchweg einer bestimmten psychologischen Schule angehören.«); vgl. Krausser 1968: 210–212.
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derung und einer Herabsetzung der erwartbaren Leistung des menschlichen Denkens, sie betonen die Beschränktheit und Endlichkeit unseres Intellekts (»available light«, Clifford Geertz). »So ist das Denken, welches doch schließlich das Universum zu begreifen sich anschickt, an den vorübergehenden Bestand des organischen Lebens gebunden, höchst gebrechlich, nur an einzelnen Stellen des organischen Lebens auftretend, auch in diesem nur in Intervallen, eine vorübergehende Funktion. Überall tritt es so an dem Leben und in dessen Dienste auf. In seinem Zusammenhang muß man es auch zu verstehen suchen. Leben ist das erste; in dasselbe sind Eindruck, Vorstellung und Denken eingewoben«669
Allen wissenschaftstheoretischen Relativierungen des Erkenntniswerts der Naturwissenschaften (im Sinne seines phänomenalistischen Antirealismus) zum Trotz, ist es letztlich doch die Perspektive der Naturgeschichte und Evolutionsbiologie (und womöglich die Schopenhauer/Nietzsche-Lektüre), die Dilthey hier dem menschlichen Intellekt den ihm gemäßen Ort und Anspruch zuweist. Sie übertrumpft damit alte Vorstellungen über Rang und Stellung der Vernunft im Kosmos, wie sie etwa in der stoischen Lehre von der Weltvernunft oder am Beginn des Johannesevangeliums Ausdruck finden, aber sich etwa auch aus der Kopernikanischen Wende Kants ergeben.670 Sie ist bei Dilthey nicht länger formatives Prinzip der Wirklichkeit und damit auch nicht mehr dazu prädisponiert, das Wesen der Dinge adäquat zu schauen und »rückstandslos« zu erkennen, sondern eben »vorübergehende Funktion«. Eine Formulierung, die sich in ihrer lakonischen Kargheit und unsauberen Alliteration so auch bei Gottfried Benn finden könnte.
3.2.5 Erlebnis und Unmittelbarkeit Wiederholt ist unsere Rekonstruktion auf das »Erlebnis« gestoßen. Ihm kommen in Diltheys Philosophie zentrale Funktionen zu. So stellt es den primären Wirklichkeitskontakt her und ist zugleich die ausgezeichnete Art der Selbstgegebenheit der seelischen Struktur in ihrer Ganzheit. Im Umkreis des Erlebnis669 GS XIX, 345. Man vergleiche damit den Beginn von Nietzsches nachgelassenem Text Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne: »In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«: aber doch nur eine Minute. […] Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten.« (KSA I, 875). 670 In erkenntnistheoretischer Hinsicht findet Dilthey hingegen nicht zu einer so entschiedenen Stellungnahme und lässt die Perspektiven der empirischen Forschung und der Transzendentalphilosophie, obwohl unvereinbar, nebeneinander bestehen (vgl. GS I, 15f, 20f).
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begriffs fallen regelmäßig erläuternd gemeinte Ausdrücke, die allerdings selbst hochgradig erläuterungsbedürftig sind. So vor allem die Rede von »Unmittelbarkeit« und die Anspielungen auf eine Art von durch sie gegebene »Infallibilität«. Dilthey unterscheidet in seiner Psychologie verschiedene Artikulationsebenen des Erlebens; in ihrer Benennung ist er allerdings nicht sehr konsistent.671 a) Grundlegend ist das Innewerden. Auf dieser basalsten Erlebnisebene besteht noch kaum Struktur: weder die Differenz von Innen und Außen, noch die von Selbst und Welt ist ausgeprägt, entsprechend liegt hier auch noch kein IchBewusstsein vor. Das Erleben gleicht einem ungegliederten Strom, der auf eine zwar unartikulierte und vorprädikative Weise doch bewusst gegeben ist.672 Genauer beschreibt das Innewerden die Tatsache des bewussten Gegebenseins von Tatsachen. (Wobei die Tatsachen erst auf höheren Stufen als solche verfügbar werden.) Die Strukturelemente des Innewerdens bleiben auch auf den höheren Erlebnisebenen erhalten, in ihm verankert Dilthey letztlich seinen Wirklichkeitsbegriff. »Jede Tatsache, deren ich so innewerde, ist eine Tatsache des Bewußtseins. Jede derselben ist als Tatsache des Bewußtseins eine Wirklichkeit. Hierbei ist gleich viel, ob der Inhalt der Empfindung eine äußere Realität hat: zunächst ist diese Empfindung Wirklichkeit als Tatsache des Bewußtseins. […] Dieses Innewerden einer Tatsache ist nun der Maßstab aller Wirklichkeit überhaupt. Was ich so innewerde und was ich aus solcher Tatsache erschließen kann, macht den ganzen Bezirk der Wirklichkeit aus.«673
b) Auf der nächsten Stufe treten die innere und die äußere Wahrnehmung auseinander, es entstehen unter den gegebenen Tatsachen des Bewusstseins auf diese Weise »zwei Kreise«.674 Diese Differenzierung erfolgt maßgeblich durch eine willentliche Lenkung der Aufmerksamkeit.675 Die äußere Wahrnehmung wird aufgrund der mit ihr verbundenen Widerstandserfahrung als Erscheinung eines vom Selbst unterschiedenen Objekts interpretiert und dieses entsprechend nach außen, an eine bestimmte Raum/Zeitstelle verlegt. Die innere Wahrnehmung hingegen wird als »Zustand unserer selbst«, als die »Sache selbst« und so dezidiert nicht als Erscheinung erlebt.676 In Bezug auf die Innenwelt findet daher die Unterscheidung von Ding-als-Erscheinung und Ding-an-sich keine Anwendung.
671 672 673 674 675 676
Vgl. Ermarth 1978: 130–132. Vgl. GS V, 170, 244f; XIX, 338f. GS XIX, 339, Hervorhebung hinzugefügt. GS XIX, 339. GS V, 244. GS I, 394 (»Unser Hoffen und Trachten, unser Wünschen und Wollen, diese innere Welt ist als solche die Sache selber.«).
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c) Der nächste Schritt führt zu Versprachlichung und diskursivem Denken. »Erst wenn wir dies unmittelbare Wissen [sc. über dasjenige, dessen wir innewerden] uns zu deutlicher Erkenntnis bringen oder anderen mitteilen wollen, entsteht die Frage, wiefern wir hierdurch über das in der inneren Wahrnehmung Enthaltene hinausgehen. Die Urteile, welche wir aussagen, sind nur gültig unter der Bedingung, daß die Denkakte die innere Wahrnehmung nicht abändern, daß dies Zerlegen und Verknüpfen, Urteilen und Schließen die Tatsachen unter den neuen Bedingungen des Bewußtseins als dieselben erhält.«677
Erst mit ihm wird sprachliche Kommunikation von bestimmten semantischen Gehalten möglich und erst auf dieser Ebene verwendet Dilthey den Ausdruck »Urteil«. Ist damit gesagt, dass der Übergang von der zweiten zur dritten Stufe den Übergang von einem vorprädikativen Erleben zu einem prädikativen, urteilsförmigen Erfahren bedeutet? Dass hier ein Schritt von vor-logischer Wahrnehmung zum Denken im engeren Sinn vorliegt? Leider legt sich Dilthey auch hier nicht genau fest. Dass hier eine relevante Grenze überschritten wird, zeigt sich aber doch daran, dass Dilthey das Problem aufwirft, ob durch die urteilsförmige Struktur der Gehalt der ursprünglichen inneren Wahrnehmung nicht verändert oder gar verfälscht wird. In frühen Aufzeichnungen zu diesem Problem, in denen er statt von »Erlebnis« von »Erfahrung« spricht, ist er offenbar der Auffassung, dass sich der Übergang in die prädikative Struktur nicht argumentativ vermitteln lasse. »Die Anwendbarkeit des Logismus [sc. der Gesetze und Formen meines Denkens] auf die Erfahrungen bildet die erste Voraussetzung der Grundlegung der Wissenschaft. Sie kann nicht bewiesen, sondern nur an ihren Folgen erprobt werden. […] Nun kann ein Rechtsgrund dieser Anwendung durch eine an die Spitze der Philosophie tretende Untersuchung nicht gefunden werden; jedenfalls würde eine solche Untersuchung selbst wieder der Gesetze und Formen des Denkens bedürfen und sonach zur Voraussetzung haben. Sonach gibt es unter keinen Umständen einen voraussetzungslosen Gang der Philosophie von den an sich wahren Erfahrungen zu aus ihnen abgeleiteten abstrakten Sätzen.«678
In der reiferen psychologischen Abhandlung von 1894 fasst Dilthey das Verhältnis von Erlebnis und Denken nicht mehr in der kontradiktorischen Form von prädikativen und nicht-prädikativen Strukturen, sondern im Sinne einer Abstufung. Bereits in den »Anschauungen« Kants »wirken überall Denkvorgänge oder ihnen äquivalente Akte mit. So das Unterscheiden, Abmessen von Graden, Gleichsetzen, Verbinden und Trennen. […] Diese Prozesse bilden das weite und 677 GS I, 394. 678 GS XIX, 35f (Hervorhebung hinzugefügt). Das Zirkularitätsargument scheint wie Lewis Carrolls scheiternder Versuch, den modus ponens zu beweisen, zu funktionieren (Carroll 1895).
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unermeßlich fruchtbare Gebiet des schweigenden Denkens. […] Und alles diskursive Denken kann als eine höhere Stufe dieser schweigenden Denkvorgänge dargestellt werden.«679 Dass auf irgendeiner Ebene des menschlichen Erlebens ein epistemischer Zugriff auf von begrifflichen Operationen und Strukturen unbeeinflusste Gegebenheiten möglich wäre, weist Dilthey als erkenntnistheoretische Naivität zurück. »So mag ich mich abmühen wie ich will um die reine Erfahrung eines Gegebenen: es gibt das nicht […]«680
Doch wie ist dieser »Satz der Intellektualität der Sinneswahrnehmung bzw. der inneren Wahrnehmung«, nach dem »nichts Gegebenes als solches unmittelbar beobachtet oder wahrgenommen werden kann«, mit der von Dilthey regelmäßig beschworenen Unmittelbarkeit des Erlebens zu vereinbaren?681 Nach dem Gesagten ist klar, dass Unmittelbarkeit im Sinne eines durch keine begrifflichen Operationen strukturierten »Inputs« auf keiner Ebene des menschlichen Erlebens zugänglich ist, weder im Bereich der inneren noch der äußeren Wahrnehmung. Unmittelbarkeit wird stattdessen als ein Merkmal in Stellung gebracht, das die innere Wahrnehmung gegenüber der äußeren auszeichnet.682 Während diese sich auf ein von ihr verschiedenes Objekt beziehe, gelte für die innere Wahrnehmung diese Differenz nicht, hingegen aber das Berkeleysche esse est percipi. Im Erleben der eigenen emotionalen Verfasstheit etwa ist einem nicht die eigene Verunsicherung, die Neugier, der Zorn als Erscheinung des eigentlichen Gefühls gegeben, sondern das Gefühl selbst wird unmittelbar erlebt. Die besondere Qualität von Unmittelbarkeit und Gewissheit gilt mithin nur für Aussagen insofern sie sich auf das Erleben selbst beziehen, das »Innewerden« in Diltheys Terminologie. Sie erstreckt sich nicht auf mögliche Gegenstände und äußere Sachverhalte, auf die wir das Erleben hin verstehen. »Soweit das Innewerden reicht, soweit existiert das ganze Problem des Wissens überhaupt nicht. […] Dadurch, daß ich bin, weiß ich von mir selber. Ich brauche mein Fühlen nicht mehr zu fühlen, sondern indem es ist, und dadurch, daß es ist, weiß ich es.«683
679 GS V, 149. Ganz ähnlich heißt es bereits in »Erfahren und Denken«: »Nur weil im Leben und Erfahren der ganze Zusammenhang enthalten ist, der in den Formen, Prinzipien und Kategorien des Denkens auftritt, nur weil er im Leben und Erfahren analytisch aufgezeigt werden kann, gibt es ein Erkennen der Wirklichkeit. Schon die bloße Analyse der logischen Formen und Prinzipien ist unmöglich, wenn wirklich der Vorstellungsablauf gänzlich vom Denkvorgang unterschieden ist.« (GS V, 83). 680 GS XIX, 335. 681 Ebd. 682 Vgl. die wertvolle Analyse bei Cüppers 1933: 78f. 683 GS XIX, 54.
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Sobald sich das Innewerden der inneren Erfahrung mit der Wahrnehmung sinnlicher Gegenstände verschränkt, wie es in den Geisteswissenschaften der Normalfall ist, kann von Infallibilität nicht mehr die Rede sein: »Nicht dasjenige ist, dessen ich gewiß bin, sondern mein Gewißsein ist eine Tatsache, eine Tatsache meines Bewußtseins.«684
Das Prädikat der Unmittelbarkeit ist deswegen so entscheidend, da es einen relevanten epistemischen Vorzug markiert: »je unmittelbarer, desto gewisser«. Denn Inferenzen als mittelbare epistemische Zugriffe stehen unter Korrektheitsbedingungen und sind damit immer auch potenzielle Irrtumsquellen. Andersherum ließe sich daher sagen, dass wenn Erlebnisse nicht-inferentielles Wissen bereitstellen würden (was aufgrund der Intellektualität der inneren und äußeren Wahrnehmung nicht der Fall ist), sie damit ein Kandidat für besonders sicheres Wissen wären. Dilthey räumt nun, wie gesehen, der inneren Wahrnehmung gegenüber der weniger unmittelbaren äußeren Wahrnehmung einen epistemischen Vorzug ein. Dieser bestehe aufgrund der esse-est-percipi-Struktur der inneren Wahrnehmung, also aufgrund ihres unmittelbaren Wirklichkeitskontaktes. Aufgrund des inferentiellen Charakters auch der inneren Wahrnehmung kann für diese gleichwohl keineswegs absolute Gewissheit oder Infallibilität reklamiert werden (und so weit gehen Diltheys Formulierungen auch an keiner Stelle). Der Vorzug der inneren Wahrnehmung liege genauer darin, dass nicht nur ihr Gegenstand, sondern auch ihr Zusammenhang unmittelbar erlebt werde, während wir einen solchen in Bezug auf die äußere Welt durch intellektuelle Konstruktionen selbst herstellen müssen. Jeder weiß aus dem eigenen Erleben, wie eine Wahrnehmung die emotionale Gestimmtheit verstärken oder auch kippen lassen kann, wie sich eine Tagträumerei zu einem Vorsatz und sogar zu einem Lebensplan verfestigen kann. Diese Art von Übergängen ist uns bestens vertraut und daher auch nicht sonderlich rätselhaft. (Dass alle psychischen Zusammenhänge so leicht zu durchschauen seien, wird man kaum behaupten können.) Wie Ereignisse in der äußeren Welt zusammenhängen (etwa in Form der Impulsübertragung zweier Körper) und häufig sogar, ob zwischen ihnen eine kausale Verbindung besteht (eine solche wird in manchen Kulturen etwa zwischen Schwangerschaften und dem Vollzug von Geschlechtsverkehr nicht erkannt), ist uns hingegen nicht unmittelbar zugänglich, nicht erlebnisförmig einsichtig.685 Wir können lediglich 684 Ebd. 685 Vgl. GS V, 143 (»Nun unterscheiden sich zunächst von den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dadurch, daß jene zu ihrem Gegenstand Tatsachen haben, welche im Bewußtsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in diesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten.«).
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»von außen« das Vorliegen gewisser Regel- und Gesetzmäßigkeiten konstatieren. Mit welchen theoretischen Mitteln wir dabei diese Muster der Ereignisketten erklären und prognostizieren, bleibt von den Beobachtungen selbst prinzipiell unterbestimmt und ihre Erkenntnis daher hypothetisch.686 In diesem Kontext fällt der bis zum Überdruss zitierte Satz »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.«687, dessen Pointe offenkundig weniger in einem methodologischen Dualismus liegt, sondern in dem verschiedene Grade von epistemischer Unmittelbarkeit zum Ausdruck kommen. Zu klären bleibt allerdings, als wie gravierend der Schritt vom schweigenden zum diskursiven Denken, von der zweiten zur dritten Stufe anzusehen ist. Für Positionen, die die begriffliche Struktur der menschlichen Wahrnehmung besonders stark betonen (wie etwa die von John McDowell), fällt dieser Schritt naturgemäß kaum ins Gewicht, wird tendenziell trivial. Für sie sind Wahrnehmungsvorgänge bereits in Anmutungsqualitäten gehüllte Urteile, deren Übertragung in die diskursive Sphäre keine besonderen Schwierigkeiten mit sich bringt. Hier gelte es lediglich, die implizit in ihnen liegenden Urteile auszusprechen, mit ernsthaften Übersetzungsschwierigkeiten ist nicht zu rechnen. Dilthey in dieser Frage zu verorten, ist nicht ganz einfach. Zum einen nämlich spricht Dilthey bereits auf der Ebene der inneren Wahrnehmung, also auf der zweiten Ebene von Wissen, sogar von »unmittelbarem Wissen« (siehe oben; GS I, 394), obwohl explizite Urteile erst auf der dritten Ebene ins Spiel kommen; andererseits macht er klar, dass dieses »unmittelbare Wissen« noch keinen sonderlich klaren und distinkten Gehalt besitzt. Diese Unklarheit überrascht an dieser Stelle nicht, ist doch bereits der Gedanke des »schweigenden Denkens« als Vermittlungsinstanz zwischen der Sphäre des Begriffs und dem Vor-Logischen zumindest für die orthodoxe Fregesche Auffassung ein Unding, denn nach ihr ist das Vorliegen eines Urteils und von prädikativen Strukturen nicht graduierbar. Die Rede von »halben Urteilen«, die zwar bereits Klassifikationen und Vergleiche erlauben, aber keinen distinkten Gehalt aufweisen, ist in dieser Sicht Symptom einer begrifflichen Konfusion. Was hingegen durchaus als graduiert vorliegend gedacht werden kann, ist das Verfügen über die diskriminative Fähigkeit, Sinneseindrücke zuverlässig verschiedenen Klassen zuzuordnen. Ein musikalisch gebildetes Ohr hört beispielsweise unmittelbar, welches Intervall gerade erklingt.688 Diese Fähigkeit ist un-
686 Zum Begriff der Hypothese vgl. GS V, 140–145. 687 GS V, 144. 688 Dilthey bespricht zwar selbst das Phänomen der Variabilität der Integration von Begrifflichkeit und Sinnlichkeit nicht, aber er stellt die spezifischen Ordnungsstrukturen der jeweiligen Sinnesgebiete deutlich heraus, welche in seinen Augen gegen eine pauschale (Kantische) Trennung in zwei Stämme der Erkenntnis sprechen. Stattdessen ist bei ihm die
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gemein plastisch und in den unterschiedlichsten Graden ausgeprägt (in Bezug auf absolute Tonhöhen, Intervallumfänge, Zuverlässigkeit, etc.). Und auch hinsichtlich der Frage, ob sie als inferentiell oder nicht erlebt wird. Konfrontiert mit einem Intervall hat die geübte oder talentierte Hörerin ein »unmittelbares (d.i. ein nicht-inferentielles) Wissen« davon, dass sie gerade eine (womöglich etwas unsauber intonierte) Quarte gehört hat, die Musikstudentin im ersten Semester ihrer Gehörbildung versucht das Gehörte hingegen mit memorierten Intervallen (etwa indem sie sich Motive bekannter Stücke innerlich vorsingt) zu vergleichen und ihre völlig ungeübte Nachbarin kann vielleicht nicht mehr als eine moderate Aufwärtsbewegung der Tonhöhe konstatieren. Diese Variabilität spricht dafür, die Größe des Schrittes von der zweiten zur dritten Stufe nicht stipulativ festzusetzen. (Auch die Frage, ob eine »privatsprachliche« Gehörbildung möglich ist, also eine die ganz auf der Ebene des schweigenden Denkens verliefe, ganz ohne sprachliche Bezeichnungen für die verschiedenen Intervalle, ist wohl nur empirisch zu beantworten.) Für den weiteren Kontext der Diltheyschen Theorie ist ein Verschleifen und Trivialisieren des Unterschieds von schweigendem und diskursiven Denken allerdings problematisch, da sein Insistieren auf dem Primat des Erlebnisses und der Irreduzibilität des Erlebens auf das Denken natürlich trotz der Intellektualität der inneren Wahrnehmung eine grundsätzliche Heterogenität zwischen dem Erleben und der diskursiven Sphäre voraussetzt. d) Den vierten und letzten Schritt in der Entfaltung der psychischen Niveaustufen bildet die Selbstreflexion oder die Selbstbesinnung. Hier wendet sich die Lebenseinheit reflektierend auf sich selbst und den eigenen seelischen Strukturzusammenhang zurück. Die Möglichkeit zur sozialen Handlungskoordination beruht wesentlich auf der Entfaltung und Einübung einer Alltagspsychologie (»folk psychology«), mithin auf der Fähigkeit den Mitmenschen Überzeugungen zuzuschreiben und deren Intentionen zu lesen. Daran anknüpfend, die involvierten Konzepte klärend und systematisierend, ruht auf diesen Verstehenspraktiken nach Diltheys Vorstellung die wissenschaftliche Arbeit einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie. »Der erfahrene Zusammenhang des Seelenlebens muß die feste, erlebte und unmittelbar sichere Grundlage der Psychologie bleiben, wie tief sie auch in die experimentelle Einzelforschung eindringe. […] Aus diesem allem ergibt sich als ein weiterer Grundzug der psychologischen Forschung, daß sie aus dem Erleben selber herauswächst und in diesem stets ihre festen Wurzeln behalten muß, soll sie gesund und hoch wachsen. […]
Rede von dem »Postulat einer Immanenz der Ordnung oder Form in dem Stoff unserer Erfahrungen« (GS V, 79).
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Wie von selber geht das psychologische Denken in die psychologische Forschung über.«689
Auf der Grundlage des erlebten seelischen Strukturzusammenhangs in seiner Totalität unternimmt es diese Disziplin, stabile Formationen herauszuheben, geeignete Begriffe zu bilden, die den tatsächlich beobachtbaren seelischen Prozessen entsprechen, typische Bildungen und Prozesse zu beschreiben. Damit erarbeitet sie die Grundlage für alle Wissenschaften, die den Menschen als handelndes Wesen thematisieren oder implizieren, d.i. für alle Geisteswissenschaften. Anders als die konstruierend verfahrende Elementarpsychologie setzt sie keine hypothetischen Grundbestandteile des Seelenlebens an (wie etwa »simple ideas«), sondern hält sich an das Erlebbare. Auch beansprucht sie dem menschlichen Seelenleben auf dem Niveau, auf dem es tatsächlich geführt wird, zu begegnen, anstatt sich wie die Assoziationspsychologie auf simpelste Wahrnehmungs- und Lernvorgänge zu beschränken. »Die Betrachtung des Lebens selber fordert, daß die ganze unverstümmelte und mächtige Wirklichkeit der Seele von ihren niedrigsten bis zu ihren höchsten Möglichkeiten [zur Darstellung] gelange […] bis zu dem religiösen Genius, bis zu dem Religionsstifter, dem geschichtlichen Helden und dem künstlerischen Schöpfer […]«690
Die Möglichkeit zur Selbstbeobachtung sieht Dilthey durchaus als gegeben an, auch wenn er das Problematische am Vorgang der Introspektion deutlich benennt. »Ich kann zweifellos auf einen Schmerz, dessen ich inne werde, meine Aufmerksamkeit richten, ihn sonach beobachten. Auf diesem Vermögen, innere Zustände zu beobachten, beruht die Möglichkeit der experimentellen Psychologie.«691 Diese setze allerdings einen Willensakt zur Lenkung der Aufmerksamkeit auf die inneren Abläufe voraus, durch den bereits in das Beobachtungsobjekt eingegriffen werde. Hier macht sich also ein Verhältnis geltend, wie es Hugo Dingler im Anschluss an Diltheys Unhintergehbarkeitsthese ausgesprochen gesehen hat. Unser eigenes Seelenleben können wir nicht in actu vollständig vergegenständlichen, weil wir unweigerlich immer auch dessen Akteur sind. »Daher können wir niemals das Spiel der Vorstellungen beobachten, wir können niemals den Denkakt selbst mit Aufmerksamkeit auffassen. Von solchen Vorgängen wissen wir nur aus der Erinnerung. Aber diese ist ein viel zuverlässigeres Hilfsmittel, als in der Regel angenommen wird, zumal können wir den eben unterbrochenen Vorgang in solcher Erinnerung noch erhaschen, wie die letzten Fäden eines abgerissenen Gewebes.«692 689 690 691 692
GS V, 172f (Hervorhebungen entfernt). GS V, 157. GS V, 198. Ebd.
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Dilthey verweist hier auf ein Phänomen, dem Husserl dann große Aufmerksamkeit schenken sollte, nämlich auf den Umstand, dass unser zeitliches Erleben in der Regel nicht die Form eines ausdehnungslosen Gegenwartspunktes hat. Einerseits ist uns zu einem bestimmten Zeitpunkt bereits ein gewisser Umkreis von zukünftigen Umständen und Ereignissen präsent (»Protention«), andererseits ragen gerade erst vollzogene bzw. unterbrochene Vorgänge und Handlungen noch in die erlebte Gegenwart hinein (»Retention«). Dieses letztere Phänomen, die Retention von just vergangenen seelischen Vorgängen, sichere nach Dilthey die Möglichkeit einer gewissen psychologischen Selbstbeobachtung trotz der Problematik der Nichtobjektivierbarkeit in actu. Obwohl also das seelische Leben sich gegenüber der äußeren Wahrnehmung durch Unmittelbarkeit auszeichnet, ist psychologische Erkenntnis auf Umwege angewiesen, sei es über die Erinnerung oder sogar über die Formen des objektiven Geistes. Dem Umweg über die Außenwelt räumt Dilthey dabei sogar aus methodologischen Gründen den Vorrang ein. »Die Psychologie ist aber darauf angewiesen, die Mängel der einzelnen Hilfsmittel gegeneinander zu kompensieren. So verbindet sie Wahrnehmung und Beobachtung unserer selbst, Auffassung anderer Personen, vergleichendes Verfahren, Experiment, Studium der anomalen Erscheinungen. Durch viele Tore sucht sie den Eingang in das Seelenleben. Eine sehr wichtige Ergänzung aller dieser Methoden, sofern sie mit Vorgängen sich beschäftigen, ist die Benutzung der gegenständlichen Produkte des psychischen Lebens. In der Sprache, dem Mythos, der Literatur und Kunst, überhaupt in allen geschichtlichen Leistungen haben wir gleichsam gegenständlich gewordenes psychisches Leben vor uns […].«693
Die Unmittelbarkeit und Unhintergehbarkeit des Seelenlebens bedeute demnach für die psychologische Forschung eine schwerwiegende Limitation. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, verlegt Dilthey den Fokus von den nur indirekt zu erfassenden seelischen Vorgängen selbst zu den öffentlich zugänglichen und stabilen Produkten des menschlichen Seelenlebens. Damit gewinnt die Hermeneutik erhebliche systematische und methodologische Bedeutung als Form einer indirekten Psychologie. »Was der Mensch sei, das erfährt er ja doch nicht durch Grübelei über sich, auch nicht durch psychologische Experimente, sondern durch die Geschichte.«694
693 GS V, 199. 694 GS V, 180. Bei Droysen heißt es: »Auch der Mensch hat seine kreatürliche Seite, aber das genus homo ist doch nicht bloß Tier; dieser sein naturalistischer Gattungsbegriff füllt nicht sein ganzes Wesen aus wie bei Tier und Pflanze; man könnte sagen, statt des Gattungsbegriffs ist ihm die Geschichte.« (Droysen 1960: 10; vgl. ebd.: 357 (§82)).
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3.2.6 Erleben, Ausdruck, Verstehen Wäre die psychologische Forschung und damit auch die philosophische Selbstbesinnung allein auf die Selbstbeobachtung durch Introspektion beschränkt, bedeutete dies eine enorme Beeinträchtigung. Tatsächlich bestehe jedoch außerdem die Möglichkeit, Ausdrücke von Geistigem zu verstehen; dieses Verhältnis, das, wie gesehen, bereits in der Einleitung und den psychologischen Abhandlungen vorgesehen ist, thematisiert Dilthey im Aufbau der geschichtlichen Welt besonders ausführlich unter dem Titel der »Lebensäußerungen«. »In der Sinnenwelt auftretend, sind sie der Ausdruck eines Geistigen; so ermöglichen sie uns, dieses zu erkennen. Ich verstehe unter Lebensäußerung nicht nur die Ausdrücke, die etwas meinen oder bedeuten (wollen), sondern ebenso diejenigen, die ohne solche Absicht als Ausdruck eines Geistigen ein solches für uns verständlich machen.«695
Gegenüber der Introspektion, bei der eine Lebenseinheit mittels innerer Wahrnehmung ihrer Zuständlichkeit unmittelbar innewird, ist der Weg über den Ausdruck insofern indirekt, als hier ein Umweg über die Sinnenwelt, also die äußere Wahrnehmung, erfolgt. Dem der Sinnenwelt angehörenden Ausdruck komme dabei eine Art Zeichen- bzw. Symptomcharakter zu und lasse so einen Beobachter ein (vom Ausdruck selbst verschiedenes) Geistiges erkennen.696 Festzuhalten ist, dass unter »Ausdruck« hier nicht allein Kommunikationshandlungen fallen und damit unter das zu erkennende Geistige auch nicht allein Bedeutungsintentionen. Sprachliche Äußerungen bilden zwar eine besonders wichtige Untergruppe der Äußerungen, erschöpfen sie jedoch nicht. Dilthey unterscheidet nun drei Klassen von Lebensäußerungen: a) »Begriffe, Urteile, größere Denkgebilde«; b) »Handlungen«; c) »Erlebnisausdruck«.697 Die erste Klasse zeichne sich dadurch aus, dass sie »ausgelöst aus dem Erlebnis« ist. »Das Urteil sagt die Gültigkeit eines Denkinhalts unabhängig vom Wechsel seines Auftretens, der Verschiedenheit von Zeiten oder Personen aus. […] So ist das Urteil in dem, der es ausspricht, und dem der es versteht, dasselbe; es geht wie durch einen Transport unverändert aus dem Besitz dessen, der es aussagt, über in den Besitz dessen der es versteht.«698 Hier ist ein Grad robuster Idealität erreicht, 695 GS VII, 205. Zum »Geistigen« vgl. die Abschnitte zur inneren Wahrnehmung. Zur Introspektion vgl. GS VII, 231f. 696 Vgl. GS V, 318 (»Sonach nennen wir Verstehen den Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen.«). 697 GS VII, 205f. 698 GS VII, 205.
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insofern als auf dieser Ebene zwei raum/zeitlich distinkte Äußerungen zuverlässig als individuelle Instanziierungen (»token«) desselben Schemas (»type«) erkannt und behandelt werden können. Der Satz des Pythagoras beispielsweise bleibe unbeeinflusst in seinem Gehalt und seiner Identität von jedweder Bezugnahme oder Kontextualisierung; in welcher Sprache und von welcher Person auf ihn referiert wird, ist für ihn und seinen Gehalt völlig unerheblich. Damit ist erstmalig auch eine gewisse Unabhängigkeit von den realen Lebensprozessen erreicht, die bisher als Letzthorizont für alle Verhaltensformen der psychophysischen Lebenseinheit behandelt worden sind. Diese Auskunft stellt daher einen besonders klaren Beleg dafür dar, dass Dilthey keineswegs einen allgemeinen Relativismus anstrebt. Vor dem Hintergrund der bisher erarbeiteten Rekonstruktion der Diltheyschen Theorie, stellt sich allerdings die Frage, wie sich diese Sphäre der Idealität zum Lebensprozess und dessen Unhintergehbarkeit genau verhält. Eine Auskunft die Dilthey an dieser Stelle schuldig bleibt. Soll der Ausgang vom Leben im bisher dargestellten Sinn weiterhin verbindlich und erheblich sein, kann die Idealität (d.i. die Kontextunabhängigkeit und Bedeutungsstabilität) von Begriffen, Urteilen, Theorien nicht als eine Art von gegebener Absolutheit angesehen werden. Denn sonst verlöre Diltheys Kritik am Logismus jeden nachvollziehbaren Sinn. Naheliegend wäre, sie im Rahmen des Lebensprozess als Produkt einer »progressiven Entrelativierung« (Ernst Tugendhat) zu betrachten.699 Dieser Vorgang ließe sich (mit Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen) als eine Hochstilisierung von praktischen Lebensfunktionen etwa durch Normierung der wissenschaftlichen Sprache verstehen.700 Anders als die erste Klasse der Lebensäußerungen ist die zweite nicht unmittelbar auf Kommunikation angelegt. »Eine Handlung entspringt nicht aus der Absicht der Mitteilung. Aber nach dem Verhältnis, in dem sie zu einem Zweck steht, ist dieser in ihr gegeben. Der Bezug der Handlung zu dem Geistigen, das sich so in ihr ausdrückt, ist regelmäßig und gestattet wahrscheinliche Annahmen über dieses.«701
699 Tugendhat 1992: 271. Das Verhältnis von Idealsphäre und Lebensprozess entspricht damit in etwa demjenigen von Ideal- und Normalsprache im Rahmen der »ordinary language philosophy«, nach dem die Idealsprachen nicht als Explikation einer vorrangigen Substruktur aller zu beobachtenden natürlichen Sprachen zu betrachten sind, sondern als Ausdruck des Vermögens der natürlichen Sprachen, durch die Einführung konventioneller Regeln (nahezu) beliebig formalisierte und explizite Kunstsprachen (Kalküle, Programmiersprachen; etc.) zu etablieren. 700 Vgl. Kamlah/Lorenzen 1973: 70–116. Zum Begriff des »Hochstilisierens« vgl. oben, Lorenzen 1988: 26. Gunter Gebauer beschreibt mit Blick auf Wittgenstein eine Praxis der Herstellung von Idealität, die noch tiefer ansetzt als bei Kamlah und Lorenzen (vgl. Gebauer 2009: 86–90 (»Lernen das Gleiche zu tun«)). 701 GS VII, 206.
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Handlungen sind in der Regel verstehbar, auch und gerade, wenn sie nicht als Mitteilung intendiert sind. Hier bedeutet »verstehen« so viel wie: »auf einen wahrscheinlichen Seelenzustand des oder der Handelnden zurückführen«. Je weiter allerdings der Prozess der Ablösung des Ausdrucks vom Lebenszusammenhang fortschreitet, desto mehr verändert sich offenbar auch die Bedeutung von »verstehen«. Um schließlich den Satz des Pythagoras oder die Evolutionstheorie zu »verstehen«, ist ein Bezug auf das Seelenleben ihrer Urheber völlig irrelevant. Sie sind vollständig »objektive Gebilde«.702 Um sie zu »verstehen«, ist es nötig die Folgerungsbeziehungen zwischen ihren einzelnen Sätzen, die einschlägigen Experimente usf. zu kennen. Wenn die Frage nach dem Zusammenhang von wissenschaftlichen Theorien und ihren Urhebern aufgeworfen wird, dann als Spezialinteresse eines Biographen. Und auch in Bezug auf Handlungen lässt sich neben der Intention des Akteurs in gewissen formalisierten Kontexten vom Eigensinn einer Handlung sprechen. Um etwa die Betätigung der Glocke durch die Parlamentspräsidentin zu »verstehen«, ist ein Wissen um das Protokoll in der Regel hilfreicher als die Kenntnis ihres Seelenlebens. Für das Sprachverstehen überlagern sich beide Aspekte, je nachdem ob eher auf die semantische oder die pragmatische Sprachebene abgehoben wird. Bemerkenswert an Diltheys Charakterisierung der Handlungen als Klasse von Lebensäußerungen sind ferner seine Qualifizierungen des Zusammenhangs zum Seelenleben des Akteurs als eines »regelmäßigen« und der »Wahrscheinlichkeit« des durch sie ermöglichten Wissens. Beides deutet darauf hin, dass hier die Notwendigkeit einer strikten Gesetzmäßigkeit ausgeschlossen ist. Ohne jede Regelmäßigkeit des Zusammenhangs von Handlung und dem »Geistigen, das sich in ihr ausdrückt« wäre ein Handlungsverstehen überhaupt nicht möglich; das bedeutet jedoch nicht, dass dieser Zusammenhang in Form einer bspw. kausalen Gesetzesmäßigkeit zu suchen ist.703 Die erreichbare Auskunft über das Seelenleben eines Akteurs über dessen Handlungen ist bereits insofern wesentlich limitiert, als immer nur ein Bruchteil der möglichen Handlungen, der rudimentären Handlungsimpulse auch tatsächlich realisiert werden kann. »Die Tat tritt durch die Macht eines entscheidenden Beweggrundes aus der Fülle des Lebens in die Einseitigkeit. Wie sie auch erwogen sein mag, so spricht sie doch nur einen Teil unseres Wesens aus.«704
702 GS VII, 57. 703 Dilthey führt die Frage an dieser Stelle nicht weiter. In einem ganz ähnlichen Kontext rekonstruiert Gunter Gebauer den Ausdruckscharakter von Handlungen als wesentlich nicht kausal, sondern »symbolisch« und bezieht sich dabei auf Nelson Goodmans Begriff der Exemplifikation (vgl. Gebauer 1981: 140–145). 704 GS VII, 206.
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Der Beobachter ist daher meist zusätzlich auf die Selbstkommentierung des Akteurs angewiesen, um die Bedeutung seiner Handlungen angemessen einordnen zu können. Andererseits bedeutet der Schritt »in die Einseitigkeit« durch die Handlung auch für den Akteur selbst einen nicht unerheblichen Erkenntnisgewinn. So lassen sich auf vermeintlich unmittelbare Selbstkenntnis gegründete Selbstzuschreibungen mit ihnen konsequent widersprechenden Handlungen auf Dauer nicht vereinbaren. Ob und wie sehr man etwa »fleißig«, »mutig«, »großzügig«, »eifersüchtig« zu nennen ist, auch das erfährt man nicht durch Introspektion, sondern durch Beobachtung der eigenen Handlungen. In der dritten Klasse dreht sich das eben konstatierte Verhältnis von Einseitigkeit und Fülle geradezu um. »Der Ausdruck kann nämlich vom seelischen Zusammenhang mehr enthalten, als jede Introspektion gewahren kann. Er hebt es aus Tiefen, die das Bewußtsein nicht erhellt.«705
Damit gibt Dilthey en passant zu erkennen, dass, auch wenn gilt, dass das Erleben die Form der Selbstgegebenheit der seelischen Totalität darstellt, das seelische Geschehen gleichwohl nicht vollständig ins Erleben eingeht. Das primäre (und einzig diskutierte) Beispiel für diese Form der Lebensäußerung sind für Dilthey Kunstwerke. Auch ihnen komme gegenüber ihren Urhebern eine entschiedene Selbstständigkeit zu. »Kein wahrhaft großes Kunstwerk kann […] einen seinem Autor fremden geistigen Gehalt vorspiegeln wollen, ja es will von Autor überhaupt nichts sagen.«706
Wie diese beiden Bestimmungen des Erlebnisausdrucks zusammengehen, ist nicht leicht zu sagen. Einerseits soll das Kunstwerk das Innerste des Künstlers zum Ausdruck bringen, auf das dieser auf anderem Wege als über die Kunst auch selbst keinen Zugang hat, andererseits entstehe in diesem Prozess ein Werk, dessen Bedeutung und Sinn in ihm selbst liege und nicht in seinem Bezug auf den Urheber. Möglicherweise ist der Gedanke so zu verstehen, dass das Kunstwerk Seelisches aus einer solchen Tiefenschicht zutage fördere, dass es nicht mehr der spezifischen Person des Urhebers zurechenbar ist. Es handelte sich bei dem Ausgedrückten insofern um etwas Über- bzw. Unter-Persönliches, was zumindest auch das allgemeine Interesse an »großer« Kunst ein wenig erklären würde. Hinsichtlich der Ausprägung des Verstehens bringt Dilthey ein Kontinuum in Anschlag, das von den »elementaren Formen des Verstehens« bis zu den »höheren Formen des Verstehens« reicht.707 Dabei bilden die elementaren Formen des Verstehens die Grundlage für alle wissenschaftlichen und methodologischen 705 GS VII, 206. 706 GS VII, 207. 707 Vgl. GS VII, 207f, 210–213.
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Hochstilisierungen. Sie sind ein nicht wegdenkbarer Bestandteil der menschlichen Lebensform.708 Als Beispiele führt Dilthey an: – die Fähigkeit, Mitmenschen zutreffende Handlungsintentionen sowie emotionale Zuständlichkeiten zuzuschreiben; – den übergeordneten Zweck von Teilhandlungen zu erkennen; – darauf aufbauend: der Erstspracherwerb.709
Diese Leistungen erfolgen in der Regel ohne bewusste Anstrengung, ohne einen Rekurs auf eine explizite Methodik und zudem hochgradig zuverlässig. Auf ihnen ruhen letztlich alle Formen sozialer Interaktion und Kooperation. Im Rahmen ausdifferenzierter Gesellschaften werden auch diese allgemeinmenschlichen710 Kompetenzen reflektiert, systematisiert und hochstilisiert und zwar in den Kultursystemen, in denen auch die geisteswissenschaftlichen Einzelwissenschaften entstehen: Religion/Theologie, Jurisprudenz, Literatur/Philologie. Die höheren Formen des Verstehens werden dann relevant, wenn die Selbstverständlichkeit von überlieferten Gehalten nicht mehr gegeben ist, ihnen aber gleichwohl weiterhin eine hohe gesellschaftliche Relevanz zugeschrieben wird. So hat es die Praxis und Theorie der Hermeneutik in erster Linie mit der »Auslegung lebenswichtiger Werke« zu tun.711 Voraussetzung für eine hochentwickelte Verstehenspraxis ist das materielle Fixieren und Erhalten der Lebensäußerungen. »Sie [mehrere Bezüge möglich: die geschichtliche Wissenschaft; die Technik (des Verstehens)] ist daran gebunden, daß dauernd fixierte Lebensäußerungen dem Verständnis vorliegen, so daß dieses immer wieder zu ihnen zurückkehren kann. Das kunstmäßige Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen nennen wir Auslegung.«712
Unter allem Material, dem der Mensch »wirkend sein Gepräge aufgedrückt hat«713 und in dem sich so »der Geist objektiviert hat«, unter allen »Überresten, 708 Diltheys Ausführungen zu den »elementaren Formen des Verstehens«, also zu seinem vorwissenschaftlichen Verstehensbegriff, finden bei Interpreten naturgemäß wenig Aufmerksamkeit, die das Selbstbild der sogenannten »philosophischen Hermeneutik« reproduzieren, nach dem Dilthey als Vertreter der »traditionellen Hermeneutik« das Verstehen lediglich unter dem Aspekt der Methodologie der Geisteswissenschaften in den Blick bekommen habe, bevor es dann Heidegger als »ursprüngliche[n] Seinscharakter des menschlichen Lebens selber« offenbarte (Gadamer 2010: 264; vgl. Rodi 1990: 89f, 98–101; Plantinga 1980: 62). 709 Vgl. GS VII, 207f. 710 Die Allgemeinheit des elementaren Verstehens schließt individuelle Unterschiede der Ausprägung dieser Fähigkeit natürlich nicht aus (Dilthey nennt sie »persönliche Genialität«, GS VII, 216). Differenzen dieser Art machen im Laufe der Kultur- und Sozialgeschichte die Ausprägung eines hermeneutischen Spezialistentums umso wahrscheinlicher. 711 GS V, 320. 712 GS VII, 217, Hervorhebung im Original. 713 GS VII, 148; vgl. Droysen 1960: 22 (»Und diese menschliche Signatur ist so scharfer und ätzender Art, daß, wo auch nur Reste, auch nur Spuren von ihr noch vorhanden sind, man
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Denkmälern und Quellen« kommt sprachlichen Resten, den Texten, größte Bedeutung zu.714 »Da nun das geistige Leben nur in der Sprache seinen vollständigen, erschöpfenden und darum eine objektive Auffassung ermöglichenden Ausdruck findet, so vollendet sich die Auslegung in der Interpretation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins. Diese Kunst ist die Grundlage der Philologie. Und die Wissenschaft dieser Kunst ist die Hermeneutik.«715
Die Erwägung der Bedeutung der Schrift für die Möglichkeit des Aufbaus der geschichtlichen Welt hat verschiedentlich zu folgender kontrafaktischen Vorstellungsübung geführt: Was wüssten wir über die Griechen ohne schriftliche Quellen? Was ließe sich allein anhand der Überreste, der Statuen, Gebäude, Keramiken usw. über ihr Kultur- und Innenleben sagen? Und was erschließen dem gegenüber etwa die antiken Tragödien, die Homerischen Epen und die Platonischen Dialoge? Die emphatische Betonung der Sprache als Ausdrucksform des »geistigen Lebens« scheint in einer gewissen Spannung zu der bereits erwähnten Unerschöpflichkeit des Lebens und vor allem zu seiner partiellen Widerständigkeit gegenüber theoretischen Zugriffen zu stehen. Wie kann es unter Diltheys Rahmenannahmen möglich sein, dass sich das geistige Leben in der Sprache »vollständig, erschöpfend und objektiv« ausdrückt? sofort erkennt, daß sie von Menschengeist und Menschenhand stammen, also Ausdruck und Abdruck des innersten Wesens dessen und derer sind, die es so geformt haben.«). 714 Vgl. Droysen 1960: 24 (»In der Sprache vor allem hat der Mensch die Möglichkeit, aus der Einsamkeit seines in sich geschlossenen Wesens herauszutreten. Das Ichsein, die absolute Schranke, die Seele von Seele trennt, baut in der Sprache die Brücke von sich hinaus, zu sich hinein. Die Sprache, durch das Ohr vermittelt, ist nur Eine solche Äußerungsweise, in der die Totalität des Ichseins hervorbricht, freilich die vollkommenste und zugleich primärste.«), 37ff. Aufgrund der großen Nähe zwischen Droysen und Dilthey sind gerade die kleinen Differenzen von besonderem Interesse. Anders als Dilthey räumt Droysen der Sprache nur einen relativen, keinen qualitativen Vorrang vor anderen Äußerungsformen ein. Und anders als Dilthey denkt Droysen offensichtlich das Verhältnis von Subjekt und Umwelt nicht ökologisch, sondern geht ganz traditionell von selbstgenügsamen Ich-Kernen aus (s. u.). Auf dieser Grundlage die Möglichkeit des Erstspracherwerbs zu erläutern, bringt einige Schwierigkeiten mit sich. 715 GS VII, 217, Hervorhebung im Original. Das Vorliegen schriftlicher Quellen gilt gemeinhin als Beginn der Geschichte gegenüber der Vorgeschichte. Diese Zäsur hat zwei Seiten: einerseits beschreibt sie den Zeitpunkt, an dem »die Menschen der Vergangenheit zu uns Historikern zu sprechen beginnen«, andererseits stellt die Schrift selbst eine bedeutsame Kulturschwelle dar, an der die Menschen der Vergangenheit »mit sich selber zu sprechen beginnen« (Vogt 1949: 7). Die Bedeutung der Zäsur im ersten Sinn ist nicht von der Hand zu weisen. Dass die Menschheit mit der Schrift aber auch allererst in eine geschichtliche Lebensform eingetreten sei, hat Theodor Schieder u. E. zurecht problematisiert (vgl. Schieder 1968: 23–26). Die Bedeutung nicht-kodifizierter Traditionsbildungen (»oral history«) gerät dabei aus dem Blick (vgl. GS I, 24f).
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Die Qualifikation des sprachlichen Ausdrucks als »vollständig« und »erschöpfend« als Hyperbole aufzufassen, hinter der nicht mehr steht als eine relative Auszeichnung der Sprache gegenüber anderen Ausdrucksformen, ist inhaltlich etwas unbefriedigend und stimmt auch nicht so recht mit dem emphatischen Charakter der Stelle überein. Offenbar ist unter »geistigem Leben« nicht einfach das Erleben als solches zu verstehen, für das wäre ein vollständiger Ausdruck in der Tat nicht denkbar, sondern allein die Sphäre seiner Inhaltlichkeit. Dass diese sich in sprachlicher Form vollständig auszudrücken vermag, deutet darauf hin, dass sie selbst wesentlich sprachlich artikuliert ist. Festzuhalten bleibt nach diesem knappen Durchgang durch die Grundbegriffe der hermeneutischen Philosophie Diltheys, dass die zentrale Trias von Erleben, Ausdruck und Verstehen offenbar zwanglos als Explikation des ökologischen Verhältnisses von Lebenseinheit und Milieu aufgefasst werden kann, wie es sich auf dem Artikulationsniveau der menschlichen Lebensform darstellt. Die Kulturwelt aus Artefakten, Institutionen usw. versteht Dilthey als objektiven, d.i. Objekt gewordenen Geist, als das dauerhafte Produkt von Einprägungsvorgängen von Bedeutungsgehalten in materielle Substrate. Durch diese Objektivierung entschärft sich nun auch etwas das Problem der Introspektion. Der subjektive Geist, das menschliche Bewusstsein, kann sich selbst nur bedingt beobachten, ohne damit (isolierend, stabilisierend, abstrahierend) in den Ablauf der geistigen Prozesse selbst einzugreifen, zudem stellt deren Flüchtigkeit die Beobachtung vor weitere Schwierigkeiten. Da der indirekte Weg über den externalisierten Geist diese Probleme nicht kennt, da Texte, Kunstwerke, Gebäude, usf. stabile und bewusstseinsunabhängige Untersuchungsgegenstände darstellen, kommt ihm nach Diltheys Auffassung entscheidende Bedeutung für die Entfaltung anspruchsvoller hermeneutischer Praktiken zu. In diesem Prozess der kulturellen Umformung der menschlichen Umwelt, der »Realisierung des Geistes in der Sinnenwelt« treten die subjektive und die objektive Seite dieses Lebensprozesses zunehmend als zwei klar unterschiedene und jeweils eigensinnig strukturierte Instanzen auseinander.716 »Erfassen wir die Summe aller Leistungen des Verstehens, so tut sich in ihm gegenüber der Subjektivität des Erlebnisses die Objektivierung des Lebens auf.«717
Die Gegenstände des objektiven Geistes gewinnen eine Eigenbedeutung, die nicht restlos auf das subjektive Bewusstsein ihrer Urheber zurückgeführt werden kann. Zugleich erläutert Dilthey im Rahmen seiner Ausführungen über das elementare Verstehen, weshalb es dennoch unangemessen wäre, das Verhältnis von subjektivem und objektivem Geist zu einer Kluft zu dramatisieren. 716 GS VII, 146. 717 Ebd.
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»Aus dieser Welt des objektiven Geistes empfängt von der ersten Kindheit ab unser Selbst seine Nahrung. Sie ist auch das Medium, in welchem sich das Verständnis anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen vollzieht. Denn alles, worin sich der Geist objektiviert hat, enthält ein dem Ich und dem Du Gemeinsames in sich.«718 »Jedes Wort, jeder Satz, jede Gebärde oder Höflichkeitsformel, jedes Kunstwerk und jede historische Tat sind nur verständlich, weil eine Gemeinsamkeit den sich in ihnen Äußernden mit dem Verstehenden verbindet; der einzelne erlebt, denkt und handelt stets in einer Sphäre von Gemeinsamkeit, und nur in einer solchen versteht er. […] Wir leben in dieser Atmosphäre, sie umgibt uns beständig. […] Wir sind in dieser geschichtlichen und verstandenen Welt überall zu Hause, wir verstehen Sinn und Bedeutung von dem allen, wir selbst sind verwebt in diese Gemeinsamkeiten.«719
So wie sich der Organismus ganz buchstäblich aus den Materialien seiner Umwelt aufbaut, so nährt sich der subjektive Geist von den ihn umgebenden Gehalten des objektiven Geistes. Vom Beginn der Ontogenese an und bereits vor dem Erstspracherwerb ist jedes Individuum eingebunden in die soziale und kulturelle Zirkulation von Bedeutungen. Dieser Umstand kann geradezu als ein Pfeiler einer ökologischen Sichtweise (ganz im Unterschied zu jeder Bewusstseinsphilosophie) bezeichnet werden, so hält auch James J. Gibson fest: »We were created by the world we live in.«720 Damit ist ein deutlicher Unterschied gegenüber der herkömmlichen Auffassung markiert, nach der Subjekte so etwas wie selbstgenügsame und autarke Ich-Kerne sind, die lediglich optional und sekundär Brücken in die Sphäre der Gemeinsamkeit schlagen. Die entscheidende hermeneutische Frage lautet für Dilthey, von den realen Lebensprozessen her denkend, also nicht: wo finden wir geteilten Boden für die Inseln der isolierten Einzelsubjekte?, sondern eher: wie sehen, ausgehend von einer Sphäre von Gemeinsamkeit und Öffentlichkeit, die Prozesse der Individualisierung aus? 721 So lesen sich Diltheys biographische, aber auch seine geis718 719 720 721
GS VII, 208. GS VII, 146f, Hervorhebungen hinzugefügt. Gibson 2015: 122. Ein aufgrund seiner Einfachheit besonders klares Beispiel von Individualisierung ist der (im Grunde erstaunliche) Vorgang, wie Schulkinder innerhalb kürzester Zeit die Vorgaben der Ausgangsschrift verlassen und eine individuelle Handschrift entwickeln. Vgl. GS V, 273 (»Die menschlich-geschichtliche Welt, wie sie auf dem Grunde von Gleichförmigkeiten durch die so rätselhafte Individuation sich wie ein Stamm in getrennten Ästen ausbreitet […]«, Hervorhebung hinzugefügt). Sowohl Diltheys Rede von der Rätselhaftigkeit der Individuation (»individuum est ineffabile«, GB I, 325; GS XIII/1: 1) sowie der Umstand, dass er hier zu einem Vergleich aus dem Feld der Botanik greift, legen einen Bezug zur Gedankenwelt Goethes (selbst ein eifriger Sammler von Handschriften) ausgesprochen nahe (vgl. Meinecke 1959: 511, 531f, 540ff; GW II/2, 477: »Sie [sc. die Natur] scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen.«; vgl. GW XII, 12–20 (zur »Bildung und Umbildung organischer Naturen«)). Offen bleibt auch in dieser Blickrichtung, wie weit der geteilte Grund konkret reicht. Ist aus dem Umstand, dass ontogenetische
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tesgeschichtlichen Arbeiten auch nicht wie Ausübungen eines mysteriösen divinatorischen Ahndungsvermögens zur instantanen Erfassung fremder Individualität, sondern wirken eher wie ein methodisches Abschreiten und versuchsweises Rekonstruieren eines konkreten Individualisierungsgeschehens.722
3.2.7 Immanenz und Evidenz Im Rückblick auf sein Lebenswerk stellt der fast achtzigjährige Dilthey einen »herrschende[n] Impuls in [s]einem philosophischen Denken« fest: »das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen«.723 Dieser Gedanke der Immanenz ist in der Tat von grundlegender Bedeutung für Diltheys Philosophie. Er sieht in ihm die gemeinsame systematische Konsequenz sowohl des Kantischen Kritizismus als auch des Comteschen Positivismus: »die Einschränkung des Wissens auf das
Sozialisationsprozesse immer in konkreten, d.i. begrenzten Gemeinschaften vor sich gehen, auf einen partikularistischen Charakter des menschlichen hermeneutischen Vermögens zu schließen? Oder reichen geteilte Prinzipien soweit herab, dass sich Anknüpfungspunkte für den verstehenden Umgang mit jeder menschlichen Kultur ergeben? Dieses Problem kann hier nicht abschließend diskutiert werden, auch wenn es beispielsweise für eine Stellungnahme in aktuellen Diskussionen zur »kulturellen Aneignung« von erheblicher Bedeutung ist. Klar dürfte sein, dass die hier entwickelte Lesart des Lebensbegriffs derartig tief ansetzt, nämlich auf der Ebene biologisch-ökologischer Prozesse und Verhältnisse, dass ihr eine universalistisch-kosmopolitische Lesart des Verstehensvermögens besser entspricht als eine kommunitaristische, auch wenn natürlich nicht abgestritten zu werden braucht, dass die durch das Verstehen zu überwindende Kluft sehr unterschiedlich weit ausfallen kann. (Vgl. GS V, 317: »Das […] historische Bewußtsein ermöglicht dem modernen Menschen, die ganze Vergangenheit der Menschheit in sich gegenwärtig zu haben […]«, Hervorhebung hinzugefügt). 722 Vgl. GS V, 268f (»So sind von der geistigen Lebenseinheit ab bis zu den Systemen der Kultur in den Formen der Organisation überall Gleichförmigkeiten verbunden mit der Individuation. In jeder einzelnen Geisteswissenschaft kommt diese Verbindung zum Ausdruck. […] Es sind nun die vergleichenden Methoden, durch welche das Positive, das Geschichtliche, das Singulare, kurz die Individuation selber Gegenstand der Wissenschaft wird.«, Hervorhebung hinzugefügt). Zu den vergleichenden Wissenschaften zählt Dilthey auch die Biologie (vgl. GS V, 310ff). »Das Problem der menschlichen Individuation ist das eigentliche Problem von Diltheys historischen Arbeiten.« (Frischeisen-Köhler 1912c: 165) »In seiner wissenschaftlichen Ehrlichkeit und Selbstkritik hat er [sc. Dilthey] immer wieder den Satz: ›Individuum est ineffabile‹ ausgesprochen. Aber es lebte in ihm ein glühender Trieb, diesen Satz unwahr zu machen.« (Spranger 1912: 16; vgl. Frischeisen-Köhler 1912c: 166; GS V, 330). Vor dem Hintergrund einer Rekonstruktion von Individuationsprozessen sind auch Diltheys »Studien zur Geschichte des deutschen Geistes« zu sehen (vgl. GS V, 12ff; GS III). Die Entfaltung einer nationalen Literatur bezeichnet in ihnen eine entscheidende Schwelle bei der Ausbildung einer geistig-kulturellen Identität und Individualität. 723 GS V, 4. Diesen Anspruch im Gebiet und mit den Mitteln der Dichtung realisiert zu haben, spricht Dilthey Goethe zu (»Goethe bedeutet für uns heute dies Verständnis des Lebens aus ihm selbst und dessen freudige Bejahung.«, GS XXVI, 162; vgl. Peschken 1972: 38).
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Erfahrbare«.724 Als Charakterisierung des Kantischen Standpunktes gilt das sicherlich nur cum grano salis, einerseits bindet er den Verstandesgebrauch an die Erfahrung und entsagt damit der Spekulation als möglicher Erkenntnisquelle, andererseits sind die »Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung«, wie sie die Transzendentalphilosophie untersucht, selbst nicht im Gebiet des Erfahrbaren anzutreffen. Dem begegnet Dilthey mit der Einführung einer eigenen Klasse von Erfahrungen neben der inneren und äußeren: der transzendentalen.725 Den Versuch einer Harmonisierung Kants und Comtes, d.i. einer Austreibung der Restmetaphysik aus jenem und einer Übertragung der konstitutionstheoretischen Fragestellung in die Gedankenwelt von diesem, so klar das Anliegen auch sein mag, hat Dilthey nicht im Einzelnen durchgeführt. Mit Blick auf Comtes Dreistadiengesetz ergibt sich der Immanenzgedanke recht unmittelbar. Im theologischen Stadium erklärt sich die Menschheit die Phänomene durch Rekurs auf »mehr oder weniger zahlreiche übernatürliche Mächte« und deren »willkürliches Eingreifen«.726 An die Stelle anthropomorpher Agenten treten im metaphysischen Stadium dann »allgemeine Kräfte, wirkliche Wesenheiten (personificierte Abstractionen), welche den verschiedenen Lebewesen eigen […] sind«.727 Diesem zweiten Stadium entspricht Diltheys an Aristoteles orientierter Metaphysikbegriff (die »Metaphysik der substantialen Formen«) sehr präzise und auch seine von Spinoza übernommene Charakterisierung der metaphysischen Begriffsbildung durch Abstraktion (»notiones universales«). Das wissenschaftliche dritte Stadium unterscheide sich von den vorangehenden zunächst durch einen Akt der Resignation. Der Erkenntnisanspruch wird relativiert auf die dem Menschen tatsächlich zur Verfügung stehenden epistemischen Ressourcen. Hypothesen, die das dem Menschen Gegebene (d.i. die Phänomene) prinzipiell transzendieren, seien letztlich unentscheidbar und zudem für die eigentlichen menschlichen Interessen unfruchtbar.728 Die Erforschung von ersten und letzten Ursachen, von inneren Wesen und Kräften sei demnach, weil kindisch und müßig, am besten einzustellen. Der erwachsene menschliche Geist setze sich nur solche Aufgaben, die prinzipiell auch lösbar seien: das heißt (nach Comte) die Untersuchung der Phänomene und »ihrer invariablen Verhältnisse von Sukzession und Ähnlichkeit«.729 Unter diesem Aspekt wird deutlich, dass die Geschichte der Eta724 GS V, 5. 725 Vgl. GS V, 246f. 726 Comte 1975a: 21 (»agents surnaturels plus ou moins nombreux […] l’intervention arbitraire«, tr. G. H. Schneider). 727 Comte 1975a: 21 (»forces abstraites, véritables entités (abstractions personnifiées) inhérentes aux divers êtres du monde«, tr. G. H. Schneider). 728 Vgl. Comte 2009: 64–67 (§12). 729 Vgl. Comte 1975a: 22 (»s’attacher uniquement à découvrir, par l’usage bien combiné du raisonnement de l’observation, leurs lois effectives, c’est-à-dire leurs relations invariables de succession et de similitude«, eigene Übersetzung).
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blierung des wissenschaftlichen Stadiums für Comte ganz wesentlich ein Fortschritt in der Realisierung von Immanenz ist: ein Weg von der Transzendenz über die Inhärenz zur Immanenz und zwar sowohl auf der Ebene der wissenschaftlichen Fragestellungen als auch auf der der zulässigen explanatorischen Instanzen. Dieses Resultat der Comteschen Konzeption macht sich Dilthey explizit zu eigen. Das Leben aus ihm selber zu verstehen, bedeutet daher, es nicht aus einer erschlossenen Substruktur abzuleiten, sondern es in seiner erlebbaren syn- und diachronen Strukturgesetzlichkeit zu erfassen. Um den Immanenzgedanken weiter zu verdeutlichen, greift Dilthey wiederholt auf eine charakteristische Metapher zurück: »Für diese Bühne des Lebens ist die Rückwand der Kulissen einerlei.«730
Sie verdeutlicht in erster Linie das bereits erläuterte Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften. Dass naturwissenschaftlich zu beschreibende Abläufe an jeder Stelle und zu jedem Zeitpunkt notwendige Voraussetzung für geistiges Leben sind, ist völlig unbestritten. Ebenso ist klar, dass auch das Bühnenspektakel allererst durch eine ganze Reihe von raffinierten und zum Teil verborgenen Machinationen so ablaufen kann, wie es für den gewünschten ästhetischen Effekt notwendig ist. Beides ändert jedoch nichts daran, dass für den Sinnzusammenhang des Dramas die Kenntnis der Kulissen in der Regel völlig unerheblich ist. Eine frappierende Wendung der Handlung durch Erfordernisse der Beleuchtungstechnik zu erklären, ist keine ernstzunehmende hermeneutische Hypothese. Ob das Herabfallen eines Scheinwerfers während einer Aufführung auf Materialversagen oder auf eine Regieanweisung zurückzuführen ist, entscheidet 730 Zitiert bei Misch 1924: lviii; vgl. GS XXII, 102 (»Die Bedeutung des Lebens liegt eben in dem Zusammenhang, der in die innere Wahrnehmung fällt. Dies ist die Bühne, und hier sind Ort, Umgebung und Personen, unter welchen das Drama des Lebens sich abspielt. Unser Interesse ist verhältnismäßig gering, Holz und Leinwand und Lampen zu sehen, welche die Rückwand der Kulissen bilden.«). Hochgradig interessant, dass Adolf Portmann auf dieselbe Metapher zurückgreift, um das Verhältnis von Verhaltensforschung und Molekularbiologie zu veranschaulichen: »Um die heutige Situation der Lebensforschung zu erfassen, will ich zu einem gewagten Vergleich greifen. Das reiche Spiel des Lebens erscheint mir wie ein großartiges fremdes Schauspiel, das vor uns aufgeführt wird. Will ich dieses Theater des Lebens ganz gründlich kennen, dann muß das von zwei Standorten aus geschehen: Ich muß vor der Bühne als Beschauer verweilen und versuchen, den Sinn des Geschehens zu erfassen, das sich vor mir abspielt. Ich muß aber auch hinter der Bühne Bescheid wissen, ich muß doch erfassen, wie man das alles macht. […] Entscheidend ist das Erleben von Farbe und Ton, nicht das physikalisch oder chemisch Erfaßbare, das Anlaß zu solchem Erleben ist. Das heißt nicht, daß der heutige Verhaltensforscher sich nicht sehr genau über das Geschehen hinter der Bühne orientiert; es ist ihm nicht gleichgültig, wie das Blau der Blüte zustandekommt, es mag ihn interessieren, wer und was den Ton in einem bestimmten Lebensdrama erzeugt hat. Er kann jedoch von all dem absehen; denn sein Problem ist das Zusammenspiel von erlebenden Organismen zu einer lebendigen Handlung.« (Portmann 1974: 48, 51; Hervorhebungen hinzugefügt; vgl. Gens 2008: 302–312; Ders. 2013: 237–242).
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darüber, diesen Vorgang entweder als Unfall oder als Teil des Bedeutungszusammenhangs des Bühnengeschehens zu klassifizieren. Die Bühnenmetapher verweist mithin auf die semantische Autarkie der Lebensprozesse. Diese sind auf der Ebene, auf der sie faktisch erlebt und vollzogen werden, auch verständlich. Eine naturwissenschaftliche Rückführung auf eine Substruktur oder auch eine theologische Einspannung in eine transzendente heilsgeschichtliche Narration ist dafür nicht erforderlich und selten hilfreich.731 »Hier ist das Leben selber. Es ist beständig sein eigener Beweis.«732
Gemeint ist der Prozess der Wechselwirkung von Lebenseinheit und Milieu, das Umsetzen von Wahrnehmungen und Situationsevaluationen in Handlungen, das ständig begleitet ist von dem Gefühl eines zu überwindenden Widerstands, worin Dilthey die basalste Form der Wirklichkeitserfahrung überhaupt sieht. »Wille, Kampf, Arbeit, Bedürfnis, Befriedigung sind die immer wiederkehrenden kernhaften Elemente, welche das Gerüst geistigen Geschehens ausmachen.«733 »Unser Hoffen und Trachten, unser Wünschen und Wollen, diese innere Welt ist als solche die Sache selber.«734
Der widerstandsüberwindende Vollzug der Lebensprozesse ist begleitet von einer eigentümlichen und grundlegenden Evidenz, sie beglaubigen sich in gewissem Sinne selbst. Was wäre etwa auch eine illusionäre Anstrengung oder ein nur scheinbarer Kampf ? Um den Evidenzaspekt und die eigentümliche Form der Gewissheit, die für Dilthey mit dem Lebensprozess verbunden sind, noch zu unterstreichen, verweist er im Rahmen der Einleitung auf den Umstand, dass Augustinus sein proto»cogito« an vielen Stellen nicht mit dem Verb cogitare, sondern vivere bildet. »Du, der du dich erkennen willst, weißt du, daß du bist?« »Ich weiß es.« »Und woher?« »Ich weiß es nicht.« »Fühlst du dich einfach oder vielfach?« »Ich weiß es nicht.« »Weißt du, daß du dich bewegst?« »Ich weiß es nicht.« »Weißt du, daß du denkst?« »Ich weiß es.« »Also ist es wahr, daß du denkst?« »Es ist wahr.« Und zwar knüpft Augustinus, wie später Descartes, die Selbstgewißheit an den Zweifel selber. In demselben werde ich inne, daß ich denke, mich erinnere. Dieses Innewerden umfaßt nicht nur das Denken,
731 GS VII, 234 (»Jede Lebensäußerung hat eine Bedeutung, sofern sie als ein Zeichen etwas ausdrückt, als ein Ausdruck auf etwas hinweist, das dem Leben angehört. Das Leben selber bedeutet nicht etwas anderes.«). 732 GS V, 131. 733 Ebd. Diese eigentümliche Verwendung des Ausdrucks »kernhaft« und verwandter anderer, stets in engster Verbindung mit dem Wirklichkeitsbegriff, ist für Dilthey ausgesprochen charakteristisch und kehrt ständig wieder (vgl. GS I, 400; V, 112, 132; VII, 291; XVIII, 198f). 734 GS I, 394.
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sondern die Totalität des Menschen; als Leben bezeichnet er mit einem tiefen, wahren Ausdruck den Gegenstand der Selbstgewißheit.735
In der Auseinandersetzung mit der akademischen Skepsis formuliert Augustinus Argumentationsgänge, die deutlich die Struktur des Descartes’schen cogito-Arguments vorwegnehmen.736 Mit ihnen beansprucht er, den Skeptikern seiner Zeit die Ungewissheit des Wahrnehmungswissens konzedierend, zumindest einen Bezirk des »inneren Lebens« vor den destruktiven Schlüssen der skeptischen Philosophie abzuschirmen. »[I]m christlichen Bewußtseinsstande war zuerst eine Geistesverfassung gegeben, welche eine erkenntnistheoretische Grundlegung mit dem positiven Ziele, die Realität der inneren Welt zu begründen, möglich machte.«737 Anders als Descartes bezeichnet Augustinus die die Selbstgewissheit verbürgende Evidenz nicht mit dem Ausdruck »cogito«, sondern mit »vivo«, was Dilthey als Ausdruck der seelischen Totalität nachdrücklich begrüßt.738 Wie ist dieser affirmative Bezug auf die cartesische Philosophie via Augustinus zu verstehen? Ist der Cartesianismus nicht gerade die klassische Philosophie des »dis-embodied thinking«? Wie geht das zusammen mit der bisher entwickelten ökologischen Lesart des Lebensbegriffs und mit Diltheys Weiterentwicklung seines psychologischen Standpunkts zu einem biologischen? Der einfachste Weg, mit diesen offensichtlichen Spannungen umzugehen, wäre ein entwicklungsgeschichtlicher. Man könnte etwa meinen, dass im Rahmen der Einleitung, in der sich der Augustinus/Descartes-Bezug findet, der Lebensbegriff noch nicht vollständig entfaltet wäre. Und sobald er das dann ist, finde sich auch kein Bezug auf ein cogito-Argument mehr. In einem buchstäb735 GS I, 259f (Hervorhebung im Original). 736 Zu diesem Zusammenhang vgl. Horn 1997. Einschlägige Stellen bei Augustinus sind die folgenden: De beata vita 2,7; Soliloquia II 1,1f; De libero arbitrio II 3,7; De trinitate X 10, 13– 16, XV 12, 21; De vera religione 39,73, De civitate Dei XI, 26. 737 GS I, 257. 738 Vgl. die eigentümliche cartesisch-kantische Verschränkung in GS XIX, 173 (»das Selbst, welches mit seinem: ich denke, ich will, ich fürchte seine wechselnden Zustände begleitet«); Bollnow 1988: 179; KrV B 131f. Diltheys entschiedene Bevorzugung der Augustinischen Formulierung gegenüber der cartesischen ist an dieser Stelle nicht völlig überzeugend. Der Vorwurf, dass bei Augustinus die »Totalität des Menschen« (GS I, 260) in Blick genommen werde, während bei Descartes hingegen nur die »bloße Denktätigkeit« (vgl. GS I, xviii) in Betracht komme, besteht, führt man sich Descartes’ ausgesprochen breite Anlage der cogitationes vor Augen, nur scheinbar (»Sed quid igitur sum? Res cogitans. Quid es hoc? Nempe dubitans, intelligens, affirmans, negans, volens, nolens, imaginans quoque, & sentiens.«, René Descartes, Meditationes de prima philosophia, II (OD VII, 28)). Augustinus’ Formulierung bringt diese beiden im Grunde gemeinsame Breite nur deutlicher zum Ausdruck. Das Ausspielen des Augustinischen vivo gegen das Descartes’sche cogito hält Philipp Lersch für ein bezeichnendes Charakteristikum der Lebensphilosophie (vgl. Lersch 1932: 7; Groethuysen 1969: 4f, 178).
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lichen Sinn mag das zutreffen, inhaltlich überzeugt es nicht, da Dilthey durchweg an dem Gewissheitsvorzug des Erlebten gegenüber allem Konstruierten und Erschlossenen festhält. Deutlichsten Niederschlag findet das cartesische Moment in Diltheys Denken im Satz der Phänomenalität, den er mit keinem Wort, auch nicht auf dem biologischen Standpunkt, zurücknimmt.739 »Auf dem Standpunkte des Lebens gibt es keinen Beweis durch Überschreitung des im Bewußtsein Enthaltenen auf etwas Transzendentes.«740 »Der oberste Satz der Philosophie ist der Satz der Phänomenalität: nach diesem steht alles, was für mich da ist, unter der allgemeinsten Bedingung, Tatsache meines Bewußtseins zu sein; auch jedes äußere Ding ist mir nur als eine Verbindung von Tatsachen oder Vorgängen des Bewußtseins gegeben; Gegenstand, Ding ist nur für ein Bewußtsein und in einem Bewußtsein da.«741 »Die Welt ist in uns.«742
Auf diese letzte Bemerkung aus dem Nachlass baut Hellmut Diwald im Grunde seine ganze Diltheyinterpretation auf, nach der Dilthey als veritabler Idealist, in letzter Konsequenz sogar als Solipsist zu verstehen sei.743 Diwald versteht den Immanenzgedanken offenbar im Sinne einer strikten Bewusstseinsimmanenz.744 Das Hauptproblem von Diwalds interpretatorischem Zugriff besteht darin, den epistemologischen Charakter von Diltheys Aussagen ontologisch auszumünzen. In den beiden ausführlicheren Äußerungen werden keine Existenzaussagen getroffen, die Rede ist von »Beweis« und »Gegebenheit«. Allein die letzte aus ihrem Zusammenhang gerissene Bemerkung scheint ontologisch gemeint zu sein, doch auch sie lässt sich zwanglos als verknappte und überspitzte epistemische Be739 O. F. Bollnow, der die Trennbarkeit des psychologischen und des hermeneutischen Ansatzes bei Dilthey für möglich hält, zeigt sich entsprechend irritiert darüber, dass Dilthey den Satz der Phänomenalität nach 1900 nicht zurücknimmt. Zwar macht er in dem »Erlebnissatz« im Umfeld des Aufbaus eine Weiterbildung desselben aus (vgl. GS VII, 230f), weist zugleich jedoch darauf hin, dass beide Sätze deutlich verschiedene Funktionen erfüllen (vgl. Bollnow 1988: 179–181). 740 GS V, 136. 741 GS V, 90. 742 GS VIII, 259. 743 Vgl. Diwald 1963: 23–53; (»Geschichte wird von Dilthey in gut idealistischer Manier nach strenger Analogie des menschlichen Geistes verstanden. […] Es wird von Dilthey ausdrücklich behauptet, aus der Geschichtlichkeit des Menschen ergebe sich die Konsequenz, daß das Erleben des eigenen Selbst absolut identisch ist mit dem Verstehen aller Geschichte.«, S. 39 (Hervorhebung im Original); »Von einer unabhängigen äußeren Wirklichkeit kann also auch unter diesem Gesichtspunkt nichts übrigbleiben.«, S. 60). Zum Solipsismus äußert sich Dilthey ziemlich unmissverständlich; vgl. GS V, 91. 744 Vgl. Diwald 1963: 41 (»Solange ›Leben‹ unterschiedslos mit Geschichte gleichgesetzt wurde, konnte es keinen Bereich in der Realität geben, welcher der Geschichtlichkeit entzogen war und solange mußte auch das geschichtliche Denken im Käfig der reinen Immanenz gefangen bleiben.«, Hervorhebung im Original).
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merkung verstehen.745 Zentral für diesen Zusammenhang ist Diltheys relationale Wirklichkeitsauffassung, wie sie auch in seiner Formulierung des »Satzes der Phänomenalität« Ausdruck findet. Für endliche Erkenntnissubjekte sind ontologische Aussagen nicht ohne Berücksichtigung der epistemischen Zugangsbedingungen zu den behaupteten Seinsstrukturen möglich. Menschenmöglich ist Ontologie immer nur in epistemologischer Brechung. Auch hier gibt es eben keine unbeteiligte Draufsicht auf das Inventar der Welt. Das bedeutet aber keineswegs, dass »Gegenstand, Objekt, Ding« in ihrem ontologischen Bestand von der menschlichen epistemischen Bezugnahme abhängig wären. Dazu äußert sich Dilthey überhaupt nicht, da es sich um eine typische müßige, weil unentscheidbare Frage handelt, die unter das positivistische Verdikt fällt. Nach Diwalds Lesart muss die Idee der Relationalität hingegen »aufgehoben werden zugunsten der Subjektseite«.746 Ein gravierender Schritt, für den sich keinerlei überzeugende Anhaltspunkte, geschweige denn sachliche Erfordernisse, finden. Die knappe Darstellung möglicher idealistischer Abwege macht deutlich, dass das cartesische Moment im Denken Diltheys dem ökologischen Lebensbegriff unter- bzw. einzuordnen ist und nicht andersherum. Das heißt: im Kontext der realen Lebensprozesse stellt die Sphäre des Erlebens einen epistemisch ausgezeichneten Bereich relativ größter Unmittelbarkeit, Evidenz und Gewissheit dar. Sie ist für Dilthey der Ort des primären Wirklichkeitskontakts, aber nicht selbst die ganze Wirklichkeit.
3.3
Metaphilosophische Konsequenzen »Diese Systematik und Dialektik [sc. Schleiermachers] kommt uns zuweilen wie eine gewaltige Maschine vor, die im Leeren arbeitet.« (J 87)
Bereits in den 1920ern, dem eigentlichen Beginn einer philosophischen Rezeption Diltheys, hatte man den Sinn für die Schärfe der Diltheyschen Metaphysikkritik verloren und neigte dazu, sie als etwas übertriebene Formulierung einer
745 Gleichwohl ist einzuräumen, dass Dilthey sich gelegentlich auch in einer »massiven« idealistischen Weise ausdrückt (d.i. in einer Form, die nicht allein darauf abzielt, die Endlichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens zu unterstreichen); vgl. GS XIX, 9f. Hier unterscheidet sich unser Interpretationsansatz fundamental von dem Diwalds. Während dieser solche Aussagen als Ausdruck einer metaphysischen Letztorientierung Diltheys zum Ausgangspunkt seiner ganzen Interpretation macht, verfolgen wir den Gedanken, dass mit der Philosophie des Lebens ein Aufgabenfeld und Selbstverständnis der Philosophie abgesteckt ist, für das (interessanterweise) solche unentscheidbaren metaphysisch-ontologischen Stellungnahmen letztlich keinen Unterschied machen. 746 Diwald 1963: 60.
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Kritik der aristotelischen Tradition der Metaphysik zugunsten einer Metaphysik anderer Fasson abzutun. »Kurz und bündig gefaßt: sie [sc. die Lebensphilosophie] setzt das Leben als philosophischen Grundbegriff an die Stelle, wo in der antiken Tradition seit Parmenides das Seiende, τὸ ὄν, steht: das Seiende, dieser spezifisch griechische, von Aristoteles zur Definition der philosophischen Grundwissenschaft benutzte Begriff.«747
Formulierungen dieser Art legen es nahe, den Übergang zu einer Philosophie des Lebens als eine mehr oder weniger geringfügige Korrektur der traditionellen Philosophie aufzufassen. Zwar findet diese Korrektur an deren Fundamenten statt, auf der Ebene der Grundbegriffe, gleichwohl aber hat sie den lokalen und partiellen Charakter einer simplen Substitution, um einen umformenden Eingriff in die Struktur des Gebäudes handelt es sich erkennbar nicht. Der Umbau zur Philosophie des Lebens bezeichnet in dieser Lesart einen lediglich doktrinären Wandel, metaphilosophisch bleibt alles, insbesondere das Verhältnis zu den Einzelwissenschaften, beim Alten. Dabei wird allerdings die ausgeprägte metaphilosophische Dimension der Diltheyschen Metaphysikkritik, für die insbesondere die Heideggersche Linie eine nahezu vollständige Unempfänglichkeit beweist, schlicht unterschlagen.
3.3.1 Sozio-kulturelle Einbettung: die funktionale Bestimmung der Philosophie Eine Rekonstruktion der Philosophie des Lebens, die sich in erster Linie auf die Ersetzung des metaphysischen Grundbegriffes »Sein« durch »Leben« kapriziert (wie es die angeführte exemplarische Formulierung Georg Mischs nahelegt), läuft Gefahr, die metaphilosophischen Aspekte, die mit dem Konzept der Philosophie des Lebens wesentlich verbunden sind, aus dem Blick zu verlieren. Denn einem solchen Blick stellt sich der Übergang von traditioneller Metaphysik zur Philosophie des Lebens als ein schlichter doktrinärer (wenn auch grundbegrifflicher) Wandel dar, von dem dann auch nicht mehr einzusehen ist, warum sein Endpunkt nicht als »Metaphysik des Lebens« bezeichnet werden sollte. Keine Berücksichtigung findet dabei, dass auch und gerade das Philosophieverständnis selbst bei Diltheys Bruch mit der Metaphysiktradition nicht unangetastet bleibt. Philosophie des Lebens bedeutet daher nicht lediglich eine andere Philosophie, sondern ganz entscheidend und ganz entschieden: »eine andere Art des Philo-
747 Misch 1926: 540; Katsube 1931: 6f (»Dieses Seiende und dessen Sein als Gegenstand der Metaphysik haben sehr subtiles und angestrengtes Denken von großen Männern erfordert. Im Vergleich mit diesen Begriffen scheint der Begriff des Lebens trivial und gewöhnlich.«, S. 7).
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sophierens«748. Diese Veränderung betrifft im Kern das Verhältnis der Philosophie zu den anderen Kultursystemen, mithin ihre sozio-kulturelle Einbettung. Insbesondere ist es das Verhältnis zu den Einzelwissenschaften, das sich nicht länger entlang der Linien, wie sie Aristoteles mit seinem Konzept der prima philosophia gezogen hatte, plausibel gestalten lässt. Die Philosophie verliert als Philosophie des Lebens den Charakter einer Fundamentalwissenschaft, sowohl was die Geltung ihrer Aussagen betrifft als auch den Anspruch, eigene Gehalte zu generieren. Weder ist von ihr eine Grundlegung der anderen Disziplinen, eine Sicherstellung von deren Wissenschaftlichkeit zu erwarten, noch eine Erkenntnisproduktion aus eigenen Kräften, dazu fehlt ihr sowohl eine spezifische Methode als auch ein eigener Gegenstandsbereich. So das Ergebnis von Diltheys umfangreicher historisch-systematischer Untersuchung zum Wesen der Philosophie (1907).749 Der identitätsstiftende Kern der Philosophie lasse sich in diachroner Perspektive nur durch Angabe eines Bündels sozio-kultureller Funktionen angeben, von denen der Gewinnung von reflexiver »Besinnung« bezüglich der Implikationen, Werte und Interessen von gesellschaftlichen Praktiken eine besondere Rolle zukommt.750 »Die Unsicherheit der Abgrenzung, wie sie in der Beweglichkeit der Merkmale der Philosophie begründet ist und zurückweist auf die Begriffsbestimmung der Philosophie als einer Funktion, kann erst ganz verstanden werden, wenn wir auf den Lebenszusammenhang im Individuum und in der Gesellschaft zurückgehen und ihm die Philosophie einordnen.«751
Bereits die Vorstellung, das Selbstverständnis der Philosophie in Begriffen der Soziologie zu explizieren, wie es durch Diltheys funktionalistischen Philosophiebegriff offenbar geschieht, provoziert zuverlässig Abwehrreflexe, die deutlich machen, welchen Einfluss die überkommene Auffassung von eindeutigen hierarchischen Verhältnissen zwischen prima philosophia und nachgeordneten Einzelwissenschaften immer noch hat. Die Einbettung der Philosophie in den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang führt zu einer wechselseitigen Organisationsstruktur, während die metaphilosophische Implikation des prima philosophia-Modells auf eine hierarchische Schichtung hinausläuft, in der die Philosophie die Fundamentalposition beansprucht.752
748 Misch 1924: xli (von Misch als Zitat aus Diltheys Nachlass ausgewiesen, vgl. GS V, 429). 749 Vgl. Todorov 2004: 492–496. Für eine ausführliche Darstellung und Rekonstruktion dieses Textes vgl. den Anhang. 750 Vgl. GS V, 413–416. 751 GS V, 371 (Hervorhebung hinzugefügt). 752 Siehe Abschnitt 2.1.3.
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Grundlagenwissenschaften wird das Privileg zugesprochen, die eigene Forschung nach rein sachlichen Gesichtspunkten zu gestalten. Ihre Probleme gelten durch »theoretische Neugier« (Hans Blumenberg) als hinreichend motiviert, von Nützlichkeits- und Relevanzerwartungen werden sie gesellschaftlich weitgehend abgeschirmt.753 Auch dieses nach dem (prima philosophia-Modell) zweitbeste Arrangement, die Gestaltung der Philosophie als Form begrifflicher Grundlagenforschung (neben und analog zur Mathematik und theoretischen Physik) aufzufassen, lässt sich nur dem Schein nach aufrechterhalten. Der Philosophie des Lebens folgend sollte die Philosophie sich nicht länger als Quellgebiet von besonders grundlegenden und in ihrer Wissenschaftlichkeit ausgezeichneten Wissensbeständen verstehen, sondern als eingespannt in eine gesamtgesellschaftliche Wissenszirkulation und (ebenso wie die Geisteswissenschaften) auch in praktische Kontexte.754 Die tiefgreifende Revision des philosophischen Selbstverständnisses, die Dilthey anstößt, ist umso erstaunlicher, wenn man es mit dem seiner Zeitgenossen und auch seiner Nachfolger abgleicht. Dass die Ausbildung einer entpsychologisierten Erkenntnistheorie für die akademische Etablierung der Philosophie im 19. Jahrhundert eine erhebliche Rolle spielte, dürfte als philosophiehistorischer Konsens gelten. Insbesondere die Neukantianer vertraten die 753 Natürlich findet eine solche Evaluation auch bezüglich der Grundlagenforschung statt. Es hat sich aber herausgestellt, dass sie dann am produktivsten im Sinne der Gesellschaft arbeitet (d.i. im Sinne technisch-industrieller Verwertbarkeit), wenn sie diesem Druck nicht unmittelbar ausgesetzt ist. 754 »Diese Wissenschaften [des Geistes] sind in der Praxis des Lebens selber erwachsen, durch die Anforderungen der Berufsbildung entwickelt und die Systematik der dieser Berufsbildung dienenden Fakultäten ist daher die naturgewachsene Form des Zusammenhangs derselben. Wurden doch ihre ersten Begriffe und Regeln zumeist in der Ausübung der gesellschaftlichen Funktionen selber gefunden.« (GS I, 21; vgl. GS XX, 31f). An diesen Gedanken schließt Christofer Zöckler seine unter marxistischem Einfluss zugespitzte Interpretation der Geisteswissenschaften als »Praxiswissenschaften« an (vgl. Zöckler 1975: 50 (»Wie Marx und Engels versucht auch Dilthey dem Dualismus von reiner Theorie und metaphysisch überhöhter Ethik, wie er seit Kant zu einem Grundpfeiler der bürgerlichen Ideologie geworden war, die Basis zu entziehen.«), 76 (»So begreift Dilthey das Verhältnis von Theorie und Praxis als ein wechselseitiges: Die Praxis kann sich nicht ein für allemal einer festgelegten Theorie vergewissern: die Theorie kann ihren Anspruch auf Objektivität nur dann zu Recht erheben, wenn sie sich auf die praktische Veränderung der Geschichte bezieht.«); vgl. Groothoff 1981: 57ff). Im Wesentlichen stimmen Zöcklers Beobachtungen mit den Grundlinien der hier entwickelten Lesart überein. Offensichtlich denkt Dilthey an dieser Stelle in erster Linie an die juristische und theologische Fakultät, zieht man die spätere funktionalistische Charakterisierung auch der Philosophie mit in Betracht, gilt der Praxischarakter auch von ihr, wenngleich sie natürlich nicht auf dieselbe unmittelbare Weise in Zusammenhang mit einem geschlossenen und klar umrissenen Berufsstand steht. »Prinzipien des individuellen und sozialen Handelns […] An diesen haftet freilich schließlich das wesenhafte Interesse der Philosophie, ja aller Wissenschaft, zumal in unseren Zeiten [sc. 1890].« (GS V, 90); vgl. Ermarth 1978: 303 (»disciplinary circulation«).
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Auffassung, dass in einer »reinen Erkenntnistheorie«, die sich allein den quaestiones juris widme und alle empirischen Fragen den Einzelwissenschaften überantworte, die Kernaufgabe einer seriösen philosophischen Disziplin zu sehen ist.755 Dieses Projekt einer gereinigten Erkenntnistheorie erscheint vor dem skizzierten Hintergrund einer unter Legitimationsdruck stehenden philosophischen Disziplin jedoch auch wie eine Immunisierungsstrategie zur Aufrechterhaltung des überkommenen hierarchischen Überordnungsverhältnisses gegenüber den Einzelwissenschaften. Kritiker dieses Projekts (wie Dilthey, der die Idee einer voraussetzungslosen Erkenntnistheorie für eine Chimäre hält) werden schnell mit dem Bann des Psychologismus-Vorwurfs belegt. Auch die quasireligiöse Vehemenz, mit der das erfolgt, deutet darauf hin, dass es hier häufig nicht allein um einen bloß inhaltlichen Disput geht.756 Als ein weiteres Beispiel einer solchen Immunisierungsstrategie kann der insbesondere von Martin Heidegger exemplifizierte intellektuelle Habitus gelten. Heidegger sieht sich im Zuge seiner »Fundamentalontologie« mit dermaßen »ursprünglichen« Fragen befasst, dass er sich der Berücksichtigung »abkünftiger« einzelwissenschaftlicher Forschungen überhoben glaubt, sei es in Fragen der Etymologie, der Geschichtswissenschaft oder Philologie.757 Dieser vermeintlich schärfste Über- und Verwinder der metaphysischen Tradition stellt die
755 Vgl. Rorty 2018: 131–139 (dort auch weitere Literatur), 392f; Mannheim 1970a: 255–262. Mit Blick auf heutige Alternativen zu einer abgekoppelten »reinen Erkenntnistheorie« ist vor allem an die naturalisierte Erkenntnistheorie Quines zu denken. Für das Selbstverständnis des Naturalismus überhaupt scheint die Anschlussfähigkeit für und an einzelwissenschaftliche Forschung eine zentrale Rolle zu spielen, was ihn aus Sicht des hier entwickelten Philosophieverständnisses durchaus empfiehlt. Neben der einseitigen Weltanschauungskomponente des Naturalismus (s. o.) fällt seine Einbettung in die Wissenszirkulation allerdings hochgradig selektiv aus. 756 Vgl. Kusch 1995: 12–16, 160–177. Richard Rorty sieht in der Bemühung um »Reinhaltung« der Philosophie, worin man den eigentlichen Sinn hinter dem Anathema über die Psychologisten sehen kann, einen soziologisch zu erklärenden, periodisch wiederkehrenden Mechanismus des Grenzmanagements eines um Solidität und Professionalität bemühten »Faches« (vgl. Rorty 1975/76: 337f, 351f, 356; Rorty 2018: 131–139). 757 Damit schließen wir uns im Wesentlichen der Einschätzung Wilhelm Kamlahs an (vgl. Kamlah 1975a: 118f: »Daß aber das Wortgeflecht, das Sie [sc. Heidegger] um den Stamm von ›Stellen‹ legen und schließlich in den Terminus ›Gestell‹ verknoten, nur zu Scheinerhellungen führt, daß gerade diese langwierigen Erörterungen denjenigen, der schlichter und genauer fragen und denken möchte, enttäuschend ermüden, möchte ich nicht ungesagt lassen. Und was Ihr Ignorieren der Arbeiten anderer angeht, als beliebiges Beispiel nur dies: Kennen Sie denn die Untersuchungen von Olschki nicht […]?«). Dieser Rezeption Heideggers mag ein grundsätzliches Missverständnis zugrunde liegen, doch scheint uns Heidegger zwar den Modus des verbindlichen Aussagens, aber nicht den des Behauptens ernsthaft infrage zu stellen (vgl. Hampe 2016: 55, 140f).
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mit dem prima philosophia-Modell gegebene disziplinäre Vorzugsstellung der Philosophie gegenüber den Einzelwissenschaften nicht ansatzweise in Frage.758 Demgegenüber wirkt Diltheys freimütiges Aufgeben alter disziplinärer Privilegien, die unter den Bedingungen eines ausdifferenzierten und autonom arbeitenden akademischen Fächerspektrums ohnehin hochgradig unplausibel geworden sind, wie eine nüchterne Zurkenntnisnahme gesellschaftlicher Realitäten und das nicht im Stile eines verbitterten Rückzugsgefechts, sondern als positive Neubesinnung über den Sinn und die Perspektiven fruchtbarer philosophischer Arbeit.759 Damit distanziert sich Dilthey von einem Philosophieverständnis, das lange gerade ihre Abkoppelung von gesellschaftlicher Einbettung (etwa als »Magd der Theologie«) als Autonomiegewinn aufgefasst hatte und sie als begriffliche Grundlagenwissenschaft angesehen wissen wollte, die Probleme von rein theoretischem Interesse behandele und deren wissenschaftlicher Würde es nicht entspräche, das weitere Schicksal ihrer Einsichten und Ergebnisse oder deren auch nur mögliche An- und Verwendbarkeit zu besorgen. Dieses Ideal einer »splendid isolation« der institutionalisierten Philosophie seiner Zeit betrachtet Dilthey als eine verhängnisvolle Illusion. Nicht Emanzipation und Autonomie sind seine Konsequenz, sondern Sterilität und Belanglosigkeit.760 Mit großem Nachdruck gibt Dilthey zu verstehen, dass seine Philosophie des Lebens dieser »metaphysische[n] Kathederphilosophie« in entschiedener Opposition gegenübersteht.761 Damit bezeichnet »Kathederphilosophie« 758 Kunstwerke und insbesondere Dichtung akzeptierte Heidegger hingegen durchaus als relevanten Input. 759 Die Ablehnung einer Überordnung der Philosophie gegenüber den Einzelwissenschaften findet sich schon früh: »Wenn man erwägt, was menschliches Wissen sei, auf welch ein Segment der Dinge sich das Philosophieren bezieht, und in welchen Irrtümern es sich bewegt, so begreift man die philosophische Eitelkeit nicht, welche von einer Suprematie über die ›Einzelwissenschaften‹ träumt. Als wäre nicht die Philosophie auch eine ›Einzelwissenschaft‹. […] Kein anderer ist der Charakter, der unserer Epoche aufgeprägt ist, als die Durchdringung der empirischen Wissenschaften und der Philosophie.« (J 81, 26. 3. 1859); später dann: »[…] der Erkenntnisvorgang selber ist nur einer. Die Unhaltbarkeit der Sonderung philosophischer und positiver Untersuchung ergibt sich einfach daraus, daß die Begriffe, deren sich diese Erkenntnisse bedienen […], sowie die elementaren Sätze, zu welchen sie gelangen oder von denen sie ausgehen […], nur unter Mitwirkung der Psychologie zureichend festgestellt werden können.« (GS I, 58f, Hervorhebung entfernt); Aron 1969: 29 (»Cette interpretation de l’identité de la philosophie et de la science reste sans doute valable durant toute la carrière de Dilthey. […] Là réside le positivisme qu’il n’a jamais dépassé, là réside aussi son originalité«). 760 »Erklärt sich aber ein Kulturgebiet völlig zum Selbstzweck, so ist die gefährliche Entwicklung möglich und schon oft eingetreten, daß die Gesellschaft ihn zwar noch susteniert, aber nichts mehr von ihm erwartet. Diesen Zustand haben die Philosophie und die bildenden Künste heute [sc. 1956] nahezu erreicht.« (Gehlen 2004: 73). 761 GS VIII, 196–199. Diltheys Kritik an der akademischen Philosophie seiner Tage fällt nicht so beißend (und auch nicht so weitläufig) aus wie Schopenhauers Wüten gegen die »Universitäts-Philosophie«. Zieht man allerdings in Betracht wie souverän Dilthey sich in den
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die metaphilosophische Dimension der Metaphysik, ihren Betriebsmodus und ihr Selbstverständnis, und auch gegen sie wendet sich die Philosophie des Lebens. Dilthey kann die Metaphysik daher auch rein formal über ihre Beziehungslosigkeit bestimmen: »Sofern sie [sc. die Philosophie] eine objektive Erkenntnis des Weltzusammenhangs [sc. im ganzen] sucht, unter Loslösung desselben von der Lebendigkeit, in der er gegeben ist, nenne ich sie Metaphysik.«762
Ähnlich heißt es bereits in der Einleitung: »Wir sahen aber ferner, daß uns keine Erkenntnis des konkreten Totalzusammenhangs der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit vergönnt ist, als welche durch Zergliederung desselben in Einzelzusammenhänge, sonach vermittels dieser Einzelwissenschaften erreicht wird. […] Dagegen müssen die isolierten Einzelwissenschaften des Geistes [sc. abstraktes Naturrecht, abstrakte politische Ökonomie, […] System der natürlichen Religion, kurz, […] das natürliche System des 17. und 18. Jahrhunderts] der toten Abstraktion verfallen; die isolierte Philosophie des Geistes ist ein Gespenst; die Sonderung der philosophischen Betrachtungsweise der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit von der positiven ist die verderbliche Erbschaft der Metaphysik.«763
Neben der Beziehungslosigkeit gegenüber den positiven Einzelwissenschaften bestehe ein weiterer Aspekt der Kathederphilosophie darin, außerakademische Philosophie konsequent zu marginalisieren, was im Zuge der Bemühung um eine Vereinzelwissenschaftlichung der Philosophie nur folgerichtig ist. »Außerakademische Philosophie« klingt dann auch ab der Mitte des 19. Jahrhunderts (vermutlich erstmals) nach einem hölzernen Eisen. Zum Selbstverständnis der Philosophie des Lebens gehört demgegenüber die Bemühung um eine größtmögliche Sensibilität und bereitwillige Rezeptivität, was philosophische Tendenzen und Gehalte in anderen Kultursystemen (vor allen in Musik, Literatur und Kunst) anbelangt, insofern auch durch sie die spezifischen Funktionen der Philosophie erfüllt werden.764 Für die Philosophie bedeutet eine sozio-kulturelle Einbettung genauer Limitationen auf Seiten des Inputs und Outputs.765 Sie muss sich nun auch daran messen lassen, inwiefern ihre Ergebnisse anschlussfähig und fruchtbar für andere Kulturbereiche sind. So haben sich etwa einerseits die Sätze der Erkennt-
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akademischen Institutionen bewegte, erhält eine solche Kritik »von innen« ein ganz eigenes Gewicht. GS VIII, 68 (Hervorhebung hinzugefügt) In enger terminologischer Passung zu diesem systematischen Punkt übersetzt Karl Mannheim den emphatischen Gegenstand metaphysischer Theorien (»Absolutheiten«) treffend mit »Unbezüglichkeiten« (Mannheim 2015: 77). GS I, 113; vgl. GS I, 73f, 79f. Vgl. GS V, 366–371, 412f; VIII, 32 (»Es gibt ein philosophisches Verhalten, welches nichts von der Profession eines Fachphilosophen enthält.«). Vgl. Ulmer 1978: 381f.
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nistheorie und Wissenschaftstheorie der tatsächlich stattfindenden empirischen Forschungsarbeit und der dokumentierten Wissenschaftsgeschichte gegenüber zu bewähren. Andererseits ist theoretische Neugier für die Motivierung philosophischer Fragestellungen nicht länger ausreichend. Sie habe zu akzeptieren, dass ihre Frage- und Problemstellungen und auch ihre Lösungsvorschläge und Theorien auch mit Blick auf ihre gesellschaftliche Relevanz bewertet werden.766 Muss diese Forderung nach einer Reintegration der Philosophie in den kulturellen Gesamtzusammenhang aber nicht als eine frivole Infragestellung der Würde, Professionalität und Autonomie der Disziplin, die doch durch jahrhundertelange Sublimierungsarbeit allererst mühevoll errungen werden mussten, empfunden und entsprechend abgelehnt werden? Zum einen ist für eine angemessene Einschätzung der Forderung wichtig, dass sie nicht von außen an die Disziplin herangetragen wird, sondern sich Dilthey im Zuge seiner historischsystematischen Besinnung über sein Fach ergibt. Zum anderen ist es sicher eine dramatisierende Zuspitzung, zu behaupten, hier gehe es unmittelbar um die Autonomie des Faches. Etwas nüchterner ausgedrückt könnte man sagen, es gelte lediglich anzuerkennen, dass es Aufklärungspotenziale neben (und auch bezüglich) der Philosophie gibt, die diese selbst nicht bereitstellen kann und auf die sie für ihr intellektuell und sozial redliches Arbeiten ebenso angewiesen ist, wie für die Ausbildung eines kritischen Selbstverständnisses.767 Ebenso wie auf der individualpsychologischen Ebene der Intellekt von Dilthey in den Lebensprozess der psychophysischen Lebenseinheit reintegriert wird, in die rezeptiven und handelnden Wechselwirkungsprozesse mit ihrem Milieu, hebt er mit der Idee der sozio-kulturellen Einbettung der Philosophie (und der Geisteswissenschaften überhaupt) hervor, wie die spezifischen Teilfunktionen der Philosophie eingebunden sind in das hochgradig komplexe und differenzierte Funktionengeflecht moderner Gesellschaften. Für das Subsystem »Philosophie« gilt (wie für jede andere gesellschaftliche Teilfunktion auch), dass es auf die Bereitstellung von Leistungen und Ressourcen durch andere Kultursysteme angewiesen ist und dass als Maßstab seiner Leistungsfähigkeit und Fruchtbarkeit 766 Dies bedeutet keine Aufgabe des Wahrheitsanspruches, den die Philosophie mit ihren Behauptungen, insofern sie solche aufstellt, verbindet. Bedeutsamkeit und Relevanz sind zusätzliche Anforderungen. Zum Begriff der Bedeutsamkeit siehe Abschnitt 4.2.2. 767 Vgl. GS VIII, 208 (»Die Geschichte muß befragt werden, was Philosophie sei. Sie zeigt den Wechsel im Gegenstand, die Unterschiede in der Methode; nur die Funktion der Philosophie in der menschlichen Gesellschaft und ihrer Kultur ist das, was in diesem Wechsel sich erhält.«, Hervorhebung hinzugefügt). Neben der Perspektive der Geschichte ist hier vor allem die Soziologie zu nennen, die zu Diltheys Zeit im deutschsprachigen Raum häufig noch von Philosophen betrieben wurde (Ferdinand Tönnies, Georg Simmel). Ein besonders anspruchsvolles Programm »soziologischer Aufklärung« hat Niklas Luhmann entworfen und verfolgt (vgl. Luhmann 1967). Zur Wissenssoziologie vgl. Kusch 1995; Damböck 2012b: 179f.
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auch die Anschlussfähigkeit und Brauchbarkeit seiner Erkenntnisse, Einsichten, Reflexionspotenziale für andere Kultursysteme zu betrachten sind.768 Für den »Input« des Systems Philosophie bedeutet das, dass eine ausschließliche Orientierung an rein systematischen Problemständen bei der Identifizierung und Formulierung von philosophischen Problemen (der Modus der »wirkungslosen Kathederweisheit«769) aufgegeben wird. Doch auch eine gestufte Lösung, nach der auf die rein theoretische Forschung in einem zweiten Schritt eine Anwendung der Theorien und Ergebnisse auf gesellschaftliche Probleme und Zustände erfolgt, wird von Helmuth Plessner unter Berufung auf Dilthey als unzureichend abgewiesen. »Philosophie steht zur Wirklichkeit in einem anderen Verhältnis, das Anwendungen von vornherein ausschließt. Sie kann zur Wirklichkeit Kontakt nur gewinnen, wenn sie zentral in das Fundament ihrer selbst die Wirklichkeit mit aufnimmt, so daß sie nicht erst im Ergebnis, sondern im Ansatz schon von der Wirklichkeit lernen wird. Philosophie darf nicht von oben zum Leben kommen wollen […], sondern muß sich in den Blickbahnen dieses Lebens selbst zu ihm hin gestalten.«770
Von Dilthey werde diese Forderung faktisch befolgt, weniger kommentiert.771 Auch auf der »output«-Seite kommt es gegenüber der Kathederphilosophie durch die Berücksichtigung realer Lebensprozesse und der konkreten soziokulturellen Einbettung zu charakteristischen Umstellungen. 768 Das Funktionengeflecht hat nach einem Ausdruck von Gregory Bateson »holistischen Charakter«, d.i. »[there is no] unilateral control of a part over the whole« (vgl. Bateson 2000: 267f, 316); mit dem Ausdruck »unilateral control« ist hingegen die Fundamentalposition der prima philosophia treffend bezeichnet. Bezüglich der Form, in der die Philosophie ihre gesellschaftliche Funktion erfüllt, weist Dilthey auf einen gewissen, historisch beobachtbaren Spielraum hin (GS V, 366 »Wie sie [sc. die Philosophie] in ihren einzelnen Positionen diese Funktion erfüllt, ist bedingt von deren Verhältnis zum Ganzen und zugleich von der Kulturlage nach Zeit, Ort, Lebensverhältnisses, Persönlichkeit. Daher duldet sie keine starren Abgrenzungen durch einen bestimmten Gegenstand oder eine bestimmte Methode.«). Das bedeutet auch, dass sich Diltheys funktionalistisches Philosophieverständnis zunächst neutral zu der von Michael Hampe diskutierten Unterscheidung von »behauptendakademischer und reflektierend-maieutischer Philosophie« verhält (vgl. Hampe 2016: 45ff). 769 GS VIII, 196. 770 Plessner 2003: 140 (Hervorhebung im Original). Dass Plessner diese neuartige Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit entscheidend von Dilthey erkannt und anvisiert sieht, durchzieht den ganzen Text und kulminiert in dem Abschnitt zu »Diltheys Idee einer Philosophie des Lebens« (S. 165ff). Die bereits im Ansatz bestehende Ausrichtung auf Wirkliches zahlt sich nach einer Beobachtung Diltheys sowohl epistemisch als auch künstlerisch aus: »Es ist die Stärke dieser Lebensphilosophie, daß ihr direkter Bezug auf das Leben in metaphysischer Vorurteilslosigkeit jede Kraft des Sehens und des künstlerischen Darstellens in diesen Denkern verstärkt.« (GS VIII, 197, Hervorhebung entfernt). 771 Neben expliziten Wendungen an sein Publikum (»Nur aus dem Verständnis der Gegenwart kann das rechte Wort an Sie ergehen«, GS VIII, 190) lässt sich an einigen Texten Diltheys beobachten, dass er sie ganz bewusst als außertheoretisch motiviert darstellt (vgl. GS I, 4; GS VI, 242; Fichte 1956: 73–75).
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»Das Kriterium heißt Fruchtbarkeit.«772 »Leben und Lebenserfahrung sind die immer frisch fließenden Quellen des Verständnisses der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt; das Verständnis dringt vom Leben aus in immer neue Tiefen; nur in der Rückwirkung auf Leben und Gesellschaft erlangen die Geisteswissenschaften ihre höchste Bedeutung, und diese Bedeutung ist in beständiger Zunahme begriffen. Aber der Weg zu dieser Wirkung muß durch die Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnis gehen.«773
Insbesondere letztere Bemerkung macht deutlich, dass es Dilthey allerdings nicht um ein Engagement in einem kurzschlüssigen, tagesaktuellen Sinn geht. Gleichwohl ist das Leerlaufen des philosophischen Apparats eine reale Möglichkeit, die in letzter Konsequenz die gesellschaftliche Daseinsberechtigung der Philosophie (wie jeder anderen Institution auch) in Frage stellt.774 Gegenüber den gesellschaftlichen Bedeutsamkeitszumutungen und Relevanzerwartungen kann sich die Philosophie nicht dauerhaft auf eine hermetische Professionalisierung und Spezialisierung zurückziehen.775 Bei den Sozialwissenschaften beobachtet Mannheim die problematische Tendenz, ihre Fragestellungen statt an Relevanzgesichtspunkten an pragmatischen Kriterien wie der einfacheren Messbarkeit auszurichten. »Denn es kann nicht geleugnet werden, daß die Übertragung naturwissenschaftlicher Methoden auf die Soziologie dazu geführt hat, daß man nicht mehr nach dem fragt, was man wissen möchte und was für den nächsten Schritt in der Entwicklung der Gesellschaft von entscheidender Bedeutung wäre, sondern nur noch mit solchen Tatsachenkomplexen sich befaßt, die nach einer bestimmten, bereits vorhandenen Methode meßbar sind.«776 772 Rothacker 1965: 171; Rothacker 1942: 66. Ausdruck und Idee gehen vermutlich wiederum auf Goethe zurück: »was fruchtbar ist allein ist wahr« (Vermächtnis, GW XVIII/1, 36); vgl. Diwald 1963: 102. Vgl. GS I, 85; GS V, 42; Ermarth 1978: 154 (»The actual ›critical‹ test of knowledge does not come from some prior logical proof, but from the actual process of seeing it at work.«); vgl. Abschnitt 4.1, 4.2.2. 773 GS VII, 138 (Hervorhebung hinzugefügt); vgl. B 156f. 774 Vgl. J 87, Wittgenstein 2006: 366 (»das Rad gehört nicht zur Maschine, das man drehen kann, ohne daß Anderes sich mitbewegt«, PU §271). 775 Vgl. Rorty 2018: 61. Dilthey bezeichnet die »produktive Leistung« des naturwissenschaftlichen Denkens als »esoterisch« (GS VII, 136), woraus sich indirekt ein exoterischer Charakter der Geisteswissenschaften ableiten lässt: »Leben, Lebenserfahrung und Geisteswissenschaften stehen so in einem beständigen inneren Zusammenhang und Wechselverkehr.« (ebd.) Dem für Bedeutsamkeitsaspekte sensibilisierten Philosophen wird sich angesichts mancher Produktionen seiner Profession gelegentlich der Gedanke an den Spott Senecas geradezu aufdrängen: »Welch kindische Albernheiten! Dafür haben wir [ernsthaft] die Augenbrauen hochgezogen? Dafür haben wir uns den [Philosophen-]Bart wachsen lassen? Das ist es, was wir tiefernst lehren und mit Stubenhockerblässe? Willst Du wissen, was die Philosophie der Menschheit verheißt? Einen Rat (consilium).« (Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, lib. V, XLVIII, 7; tr. H. Gunermann; F. Loretto; R. Rauthe). 776 Mannheim 2015: 46.
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3.3.2 Philosophie als Wirklichkeitswissenschaft Eine zentrale positivistische Intuition, die auch Dilthey in sein Philosophieverständnis übernimmt, besteht in der Verwiesenheit auf Gegebenes. Anders als es beim Aufstellen von Theorien über mögliche Welten, beim Durchführen imaginärer Experimente oder beim Betreiben »spekulativer Anatomie« des menschlichen Geistes (Gilbert Ryle) geschieht, hält sich die vom Geist des Positivismus inspirierte Philosophie an die ontologische Modalität der Wirklichkeit (»le réel, par opposition au chimérique«, 2.1.2). Da Dilthey sich diesen Aspekt auf so emphatische Weise zu eigen macht, scheint es naheliegend, seine Philosophie des Lebens im Kern als eine »Wirklichkeitswissenschaft« zu apostrophieren.777 Geprägt wurde dieser Ausdruck von Georg Simmel in seiner Schrift »Die Probleme der Geschichtsphilosophie« (1892).778 Über die Rezeption durch Max Weber fand er dann Eingang in die Soziologie. Bei ersterem bezeichnet er das Gegenteil einer Gesetzeswissenschaft. Wirklichkeitswissenschaft par excellence ist ihm die Geschichtswissenschaft, die eben zu schildern habe, »was wirklich geschehen ist«.779 Max Weber hingegen sieht mit demselben Ausdruck, den er allerdings auf die Sozialwissenschaften anwendet, ein spezifisches Erkenntnisziel angegeben: »Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen […]«.780 Interessanter als Simmels Übereinstimmung mit Windelbands Differenzierung von nomothetischen und idiographischen Wissenschaften (die Dilthey, wie gesehen, für relativ unbrauchbar hält), ist die Charakterisierung des Verhältnisses des Erkennens zur Wirklichkeit, die Max Weber unmittelbar auf die zitierte Stelle folgen lässt: »Nun bietet uns das Leben, sobald wir uns auf die Art, in der es uns unmittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen, eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, ›in‹ uns und ›außer‹ uns.«781
Fast überraschend, dass dieser Satz nicht von Dilthey selbst stammt. Die Betonung des Lebens, die erkenntnistheoretische Verwendung von »besinnen«, der Rekurs auf innere und äußere Erfahrung und die Betonung der unerschöpflichen Fülle der Wirklichkeit könnten es erwarten lassen. Weber schreibt hier den So-
777 Diltheys eigene Formulierungen lauten: »Wissenschaft des Wirklichen« (GS VIII, 172), »Wirklichkeitsphilosophie« (GS V, 138, 434) und »Philosophie der Erfahrung und Wirklichkeit« (GS XVIII, 193ff; XIX, 306f). 778 Vgl. Johach 1974: 64n126. Dort referiert Johach auch, wie Hans Freyer nachweist, dass Dilthey gerade keine Wirklichkeitswissenschaft im Sinn habe (S. 65). 779 Simmel 1892: 43. 780 Weber 1988: 170 (Hervorhebung im Original). 781 Weber 1988: 171.
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zialwissenschaften ein Verhältnis zur Wirklichkeit zu, wie es Dilthey für die Geisteswissenschaften insgesamt im ersten Buch der Einleitung entwickelt hat. »Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß jeweils nur ein endlicher Teil derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, daß nur er ›wesentlich‹ im Sinne von ›wissenswert‹ sein solle.«782
Wenn in diesem Sinne der Geschichtswissenschaft, den Sozialwissenschaften oder den Geisteswissenschaften insgesamt der Charakter von Wirklichkeitswissenschaften zugeschrieben wird, scheint das inhaltlich recht klar und sachlich auch nicht weiter problematisch zu sein. Welchen Sinn kann es aber haben, die Philosophie als Wirklichkeitswissenschaft zu bezeichnen? Schließlich interessiert sich Philosophie doch typischerweise für die abstraktesten und damit wirklichkeitsfernsten Gegenstände und statt Einzelinstanziierungen von »Wissen« oder anderen Begriffen zu untersuchen, fragt sie in der Regel danach, was unter allen möglichen Umständen notwendig gegeben sein müsse, damit ein Fall von »Wissen« vorliege. Bei dem philosophischen Geschäft der Explikation von Wesenseigenschaften, dem Aufspüren von Implikationsverhältnissen und der Angabe von Definitionsmerkmalen scheint die Modalität der Wirklichkeit gegenüber der Möglichkeit und der Notwendigkeit geradezu der unwichtigste Aspekt zu sein.783 Und doch verortet Dilthey gerade in diesem paradox anmutenden Schritt zur Wirklichkeit das Proprium und den innovativen Kern seiner Arbeit, wohingegen er die »metaphysische Kathederphilosophie« als eine »Philosophie von Möglichkeiten [und] Wünschbarkeiten« bezeichnet.784 »Denn in demselben [Werk, sc. in der Einleitung in die Geisteswissenschaften] ist jede von den bisherigen Ergebnissen des philosophischen Nachdenkens abweichende Erkenntnis ein Ausfluß des einen Grundgedankens, die Philosophie sei zunächst eine Anleitung, die Realität, die Wirklichkeit in reiner Erfahrung zu erfassen und in den Grenzen, welche die Kritik des Erkennens vorschreibt, zu zergliedern.«785
Bemerkenswert ist, wie Dilthey hier das Prädikat »rein« nicht wie Kant auf die Vernunft anwendet, sondern auf die Erfahrung.786 Diese soll frei bleiben und zwar von (metaphysisch-dogmatischen) Präkonzeptionen, die ihr eine Struktur vorschreiben (etwa eine sensualistische) nach der sie dann mehr oder weniger ge782 Weber 1988: 171 (Hervorhebung im Original). 783 Als Vertreter dieser Standardmeinung sei Diltheys Lehrer F. A. Trendelenburg zitiert: »Im Nothwendigen ist zunächst die Kraft des Denkens ersichtlich. Ohne Denken gäbe es weder Mögliches noch Nothwendiges, sondern nur Wirkliches. […] Nur das Denken vermag zu erproben, dass etwas nicht anders sein kann, als es ist, d. h. das Wirkliche zum Nothwendigen zu erheben.« (Trendelenburg 1870: 13, Hervorhebung im Original). 784 GS VIII, 196. 785 GS I, 123. 786 Richard Avenarius’ »Kritik der reinen Erfahrung« erscheint ab 1888.
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waltsam interpretiert wird (»Empirie und nicht Empirismus«787). Die reine Erfahrung wäre demnach stattdessen die philosophisch anzustrebende »ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung«.788 Struktureigenschaften müssen sich aus dieser selbst ergeben, sich an ihr aufweisen lassen, anstatt ihr aufgrund externer Theorieerfordernisse übergestülpt zu werden. Kants »reine Vernunft« hingegen hatte sich gerade freigehalten vom Kontakt mit aller empirischen Wirklichkeit und in dieser Distanz sahen nach ihm auch die Neukantianer die Auszeichnung der eigentlich philosophischen Fragestellung. Die quaestiones facti sind zugunsten der quaestiones juris aufzugeben. Wenn Dilthey Kants Kritik der reinen Vernunft als eine Kritik der historischen Vernunft neu aufgreift, kommt auch darin ein entschlossener Schritt in Richtung Wirklichkeit zum Ausdruck, sowie eine enge Verbindung von Wirklichkeit und Philosophiegeschichte, wie Riedel treffend kommentiert. »Die Kritik der historischen Vernunft ist einerseits die Kritik des Vermögens des Menschen, sich selber und die von ihm geschaffene Gesellschaft und Geschichte zu erkennen, und sie ist andererseits – was in der Regel übersehen wird – die Kritik jener reinen Vernunft, die in den Systemen der Metaphysik ihre geschichtliche Wirklichkeit hat und insofern eine ›historische Vernunft‹ genannt werden kann.«789
Die Ausrichtung der Philosophie an der Modalität der Wirklichkeit ist fraglos ungewöhnlich, doch auch nicht völlig präzedenzlos. So scheint Hegels790 Bestimmung der Aufgabe der Philosophie in manchen ihrer Wendungen von Diltheys »Anleitung die Realität, die Wirklichkeit zu erfassen« zunächst nicht allzu weit entfernt: »Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft.«791
Doch für Hegel ist Wirklichkeit nicht wie für Dilthey dasjenige, was sich in »unverstümmelter Erfahrung« darbietet, sondern durch seinen definitorischen Gewaltstreich vorgängig mit Vernunft identifiziert.792 »Wirklich« bezieht sich in Hegels idiosynkratischem Sprachgebrauch gerade nicht auf die kontingente, erfahrbare und erlebbare Realität, sondern auf »Realität unter dem Aspekt der Vernunft« und das bedeutet letztlich »Realität insofern sie vernünftige, d.i. begriffliche, d.i. notwendige Strukturen aufweist«. Insofern kann bei Hegel gerade 787 788 789 790
GS XVIII, 193ff; vgl. Dierse 2013. GS I, 123. Riedel 1978b: 45. Der folgende knappe Seitenblick beschränkt sich auf Hegel. Ein Abgleich mit der »positiven Philosophie« des späten Schelling wäre sicherlich ebenfalls lohnend. Neben [Dingler 1955] hat Heinrich Maier eine dreibändige »Philosophie der Wirklichkeit« (1926–35) vorgelegt. 791 HW VII, 26 (Hervorhebungen im Original). 792 »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« (HW VII, 24).
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nicht von einer Ausrichtung der Philosophie an der (kontingenten) Wirklichkeit die Rede sein.793 Unter einem anderen Aspekt ergibt sich schon eher eine gewisse Ähnlichkeit ihrer Positionen und zwar hinsichtlich der Verwiesenheit der Philosophie auf geschichtlich gegebene Gehalte. Auch nach Hegels Auffassung produziert die Philosophie keine Gehalte aus eigener Kraft (selbst nicht die Kategorien der Logik), sondern ist darauf beschränkt, das historisch angefallene Material reflektierend zu durchdringen und auf den Begriff zu bringen.794 So fällt für ihn die Philosophiegeschichte zusammen mit dem historisch möglichen Stand der philosophischen Wissenschaft selbst. »[…] so kommt dazu [sc. zum Belehren, wie die Welt sein soll] ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. […] Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«795
Die Gestalten bilden sich im Medium der realen Lebensprozesse (und nicht als freischwebende Begriffskonstruktionen), so würde Dilthey diesen Passus womöglich lesen und entsprechend zustimmen. Das prinzipielle Zuspätkommen der Philosophie entspricht auch Diltheys Überzeugung. Wie Hegel hebt er den Charakter der Philosophie als einer dem Kulturprozess (und damit einhergehend: dem Erkenntnisgewinn der Einzelwissenschaften) nachträglichen Reflexionspraxis hervor. »[Der Philosoph] zeigt überall die Nachdenklichkeit des Epimetheus.«796 »Philosophie analysiert, aber produziert nicht. […] Indem sie zerlegt, analysiert, kann sie nur einzeln zeigen und zusammenfassen, was da ist, was sie unter den Tatsachen des Bewußtseins vorfindet.«797 793 »Herbart wie Hegel sind nicht ins Freie der wirklichen geschichtlichen Welt gelangt.« (GS VII, 280). 794 Hegels Ausdruck lautet: »zum Begriffe [zu befreien]« (HW VII, 26). Vgl. ferner HW VII, 24 (»Stellung der Philosophie zur Wirklichkeit«), 25 (»[…] so gewährt hingegen die Philosophie die Einsicht, daß nichts wirklich ist als die Idee.«); 26 (»Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit […]. Geht seine Theorie in der Tat drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie sein soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden läßt.«, Hervorhebung entfernt). 795 HW VII, 28 (Hervorhebung im Original). 796 GS VIII, 31 (Hervorhebung hinzugefügt). 797 GS VIII, 172; vgl. Todorov 2004: 494f; GS VIII, 176 (»Ihr Material sind die Einzelwissenschaften, ihr Prinzip ist die Autonomie des Denkens […]«). Dieses Motiv findet sich auch bei Friedrich Heinrich Jacobi, wie Herman Nohl darstellt: »Wie überall in Ethik und Ästhetik der Verstand nur ein Sekundäres ist, ein Nachhinkendes, so auch die Philosophie insgesamt:
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»Sonach hat die Selbstbesinnung (Erkenntnistheorie) die Wissenschaft als Material zu ihrer Voraussetzung. Die Wahrheit, die wir besitzen, ist in den Wissenschaften enthalten.«798
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, wie sich das vielzitierte »Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt.«799
vor dem Hintergrund unserer Fragestellung geradezu wie ein Ansatz zu einer funktionalistischen Bestimmung der Philosophie liest, wie wir sie bei Dilthey dann konsequent entfaltet finden. »Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte«.800
Auf diesen Satz, in dem sich viel von seinem Denken kondensiert, kommt Dilthey immer wieder zurück. Auch wenn Dilthey die Selbsterkenntnis durch die Geschichte in den meisten Kontexten gegen die psychologische Methode der Introspektion ausspielt, drängt sich doch auch der Gedanke an die Abwertung der Geschichtsschreibung durch Aristoteles in seiner Poetik geradezu auf. Dort spricht der Philosoph der Dichtung den höheren Rang (»καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον«) gegenüber der Geschichtsschreibung zu, da sie nicht (wie eben die Geschichtsschreibung) lediglich berichte »was wirklich geschehen ist«, sondern was »[nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit] geschehen könnte«.801 Dieser Gegenstandsunterschied begründet nach Aristoteles einen Vorzug der Dichtung, da die Darstellung des Möglichen eher auf das Allgemeine bezogen sei, während die Geschichtsschreibung eher am Besonderen hafte. Der Darstellung und Erkenntnis von Allgemeinem komme gegenüber individuellen Einzelfällen entsprechend auch ein höherer epistemischer Wert zu. Bereits Diltheys Reaktion auf Windelbands Rektoratsrede ist zu entnehmen, dass er sich diese (ganz parallele) aristotelische Bestimmung nicht zu eigen macht. Gegenüber der sauberen Trennung der wissenschaftlichen Disziplinen in nomothetische und idiographische, die Windelband vorgeschlagen hatte, insistiert Dilthey auf dem Umstand, dass sich die Geisteswissenschaften (vor allem die »systematischen Geisteswissenschaften«, aber eben auch die in ihrem Spektrum
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sie ist das Leben in Begriffen dargestellt […]. Bevor das neue Leben sich nicht geschaffen hat, kann es keine Philosophie aussprechen.« (Nohl 1970a: 128f, Hervorhebung hinzugefügt). Von Otto Friedrich Bollnow liegt eine Darstellung Jacobis als eines Lebensphilosophen vor (Stuttgart 1933). GS XIX, 300 (Hervorhebungen entfernt). HW VII, 26 (Hervorhebungen im Original). GS VIII, 226; ähnlich GS V, 180; GS VII, 279; vgl. Droysen 1960: 10; Rothacker 1931: 478. Bernhard Groethuysen und Hans-Joachim Schoeps haben entsprechend Anthropologien auf historischer, statt auf lebenswissenschaftlicher Grundlage entwickelt. Aristotles, Poetik IX, 1451b (tr. M. Fuhrmann).
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dem idiographischen Pol am nahestehendste Geschichtsschreibung) eben nicht in der Aufstellung historischer Tableaus erschöpfen, sondern wesentlich an der Erhellung der intrikaten Verknüpfung von Allgemeinem und Besonderem interessiert sind.802 Deutlicher noch als in der Einschätzung der Rolle von Allgemeinem und Besonderem, weicht Dilthey in der Bewertung der Modalitäten vom Aristotelischen Pfad ab. Für ihn stellt gerade die historische Erkenntnis den solidesten und fruchtbarsten Weg zur Einsicht in das Menschenmögliche dar. Der schlagendste Aufweis, dass ein spezifischer Handlungstyp, eine charakteristische Institution, eine bemerkenswerte Leistung in den Bereich des Menschenmöglichen fällt, (besonders wenn sich diese der intuitiven zeitgenössischen Nachvollziehbarkeit entziehen) ist durch den Schluss von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit gegeben. Naive unmittelbare Abzirkelungen des »Wahrscheinlichen« im Sinne des Aristoteles, sofern sie nicht durch die Auseinandersetzung mit den Einsichten der Geschichtswissenschaft, Anthropologie, Ethnographie oder anderer Wirklichkeitswissenschaften kontrolliert und erweitert werden, fallen allzu leicht entweder phantastisch oder borniert aus.803 Unter nachmetaphysischen Bedingungen ist eine direkte Erkenntnis des Menschenmöglichen, d.i. eine solche die ohne den Umweg über eine tatsächliche und festgehaltene Aktualisierung dieser Möglichkeit auszukommen meint, geradezu unplausibel geworden.804 Apriorische Deduktionen des Menschenmöglichen (beispielsweise aus einer zugrunde gelegten »Natur des Menschen«) verblassen vor der Konfrontation mit der Wirklichkeit des (Un-)Menschlichen wie sie die Erfahrungen (nicht nur) des 20. Jahrhunderts lehren.805 802 GS V, 257f. 803 Dieser Aspekt wird auch von Aristoteles in Anschlag gebracht, um die größere Glaubwürdigkeit von historischen Stoffen (gegenüber fiktiven) zu begründen: »οὐ γὰρ ἂν ἐγένετο, ει᾿ ἦν ἀδύνατα« / »es wäre ja nicht geschehen, wenn es unmöglich wäre« (Aristoteles, Poetik IX, 1451b18, tr. M. Fuhrmann). Andererseits muss auch betont werden, dass der Kategorie des Wahrscheinlichen im hermeneutischen Geschäft, in dem sowohl der Historiker als auch die Ethnologin engagiert ist, eine wesentliche Bedeutung zukommt. Schließlich kann im konkreten Fall kaum restlos sicher entschieden werden, ob beispielsweise tatsächlich ein extrem ungewöhnliches Verhalten oder bloß ein Fehler in der Interpretation des Materials vorliegt. 804 Da nach Dilthey die ontologische Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch nicht vorausgesetzt werden kann und er auch wesentliche Züge der Kantischen Transzendentalen Ästhetik und Analytik nicht akzeptiert, kann er auch auf Kants Bestimmung des Möglichen nicht zurückgreifen: »Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich.« (KrV B 265, Hervorhebung entfernt). So bleibt ihm letztlich nur der Schluss von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit. 805 Vgl. Plessner 2003: 160–165: »Nur wenn und weil wir nicht wissen, wessen der Mensch noch fähig ist, hat es einen Sinn, das leidvolle Leben auf dieser Erde zu bestehen.« (S. 161). Das schreibt Plessner 1931. »Für uns Deutsche jedenfalls steht es so, daß die Frage nach dem, was möglich war, durch die Aufdeckung dessen, was wirklich geworden ist, ihre Erledigung gefunden hat.« (Litt 1948: 151).
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Auf das Äußerste zugespitzt lässt sich die Option zwischen einer Orientierung an Wirklichkeit gegenüber einer an Möglichkeit und Notwendigkeit durch folgende exemplarische Passagen verdeutlichen. »Der Philosoph, der sich die Aufgabe einer solchen Beschreibung [sc. des Zeitalters] setzte, würde unabhängig von aller Erfahrung einen Begriff des Zeitalters, der als Begriff in gar keiner Erfahrung vorkommen kann, aufsuchen, und die Weisen, wie dieser Begriff in der Erfahrung eintritt, als die nothwendigen Phänomene dieses Zeitalters darlegen; und er würde in dieser Darlegung die Phänomene begreiflich erschöpft, und sie in der Nothwendigkeit ihres Zusammenhangs untereinander vermittelst ihres gemeinsamen Grundbegriffs abgeleitet haben. […] Zuvörderst: hat der Philosoph die in der Erfahrung möglichen Phänomene aus der Einheit seines vorausgesetzten Begriffs abzuleiten, so ist klar, dass er zu diesem Geschäfte durchaus keiner Erfahrung bedürfe, und dass er bloss als Philosoph, und innerhalb seiner Grenzen streng sich haltend, ohne Rücksicht auf irgend eine Erfahrung und schlechthin a priori, wie sie dies mit dem Kunstausdrucke benennen, sein Geschäft treibe, und, in Beziehung auf unseren Gegenstand, die gesammte Zeit und alle möglichen Epochen derselben a priori müsse beschreiben können.«806
Leopold von Ranke ist es, der auf diesen für Fichte so typischen deduktionsfreudigen Gestus hinweist, um sich und das eigene methodische Vorgehen davon abzuheben. »C. Wird man nicht aus dem Allgemeinen zu dem Besonderen fortgehen können? Fr. Ohne Sprung, ohne neuen Anfang kann man aus dem Allgemeinen gar nicht in das Besondere gelangen. Das Real-Geistige, welches in ungeahnter Originalität dir plötzlich vor den Augen steht, läßt sich von keinem höheren Prinzip ableiten. Aus dem Besonderen kannst du wohl bedachtsam und kühn zu dem Allgemeinen aufsteigen; aus der allgemeinen Theorie gibt es keinen Weg zur Anschauung des Besonderen.«807
Man wird es wohl als »understatement« bezeichnen müssen, wenn Ranke an anderer Stelle das ausnahmslose Scheitern von Theorie-Ansprüchen Fichteschen Zuschnitts als empirische Tatsache konstatiert. »Soweit es in gedruckten Werken vorliegt, habe ich nicht gefunden, daß irgend[eine] Philosophie auch nur mit einigem Schein sich des Besitzes bemächtigt hätte; daß es ihr gelungen wäre, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen aus dem speculativen Begriff zu deduciren; – denn dem Begriff der Speculation entzieht sich und entweicht auf allen Seiten die Realität der Tatsache.«808
806 Fichte 1971: 5 (Hervorhebungen hinzugefügt). Diese Stelle bei Fichte zitiert Ranke selbst (vgl. Kessel 1954: 292). Die Frage, welche der in einem Zeitalter bestehenden begrifflichen Möglichkeiten auch tatsächlich aktualisiert sind, also präzis die Frage nach der Wirklichkeit, überschreitet auch nach Fichte die dem Philosophen gesetzten Grenzen. 807 Ranke 1925: 22. Zu dieser Passage bemerkt Rothacker, sie sei »die radikalste Formulierung des Historismus, die [er] kenne« (Rothacker 1950: 40). 808 Kessel 1954: 294.
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Nicht unberührt von Überlegungen in diesem Geist Rankes, die sich in dieser Frage mit der Tendenz des Positivismus treffen, dürfte der junge Dilthey gewesen sein, als er sein »Theorem von der völligen Positivität der Welt« formulierte, das er – und das ist einmalig in Diltheys Texten – sogar als »[seine] Metaphysik« anspricht.809 Eine zusammenhängende Darstellung dieses Gedankens liegt nicht vor, nur einige unzusammenhängende Notate. Deren wichtigste lauten: »Die naturwissenschaftliche Theorie vermag nur abstrakte, mathematisch ausdrückbare Seiten der Phänomene darzustellen. […] Diese Weltseele ist ein Abgrund von Individualität. […] Strenge Aufhebung des Satzes: omnis determinatio est negatio. Das Weltall als ganz positiver Inbegriff von Qualitäten. Das Denken als nachgeboren und nicht imstande, das Wesen dieses Positiven aufzulösen, da die Elemente des Positiven immer in der Zersetzung zurückbleiben, wie im chemischen Prozeß. Es gibt keine Zersetzung der Welt in Begriffe. […] Letzte Generalisation: aus der positiv gearteten Welt und dem sie bedingenden Gedankenlauf kann nirgend reine Idealität entspringen. Hier liegt der eigentümliche salto mortale der bisherigen Philosophie. Auch unsere höchsten Ideen sind Generalisationen eines Positiven.«810
Systematisch interessant und erläuterungsbedürftig ist in erster Linie die »strenge Aufhebung« und sogar »Zerstörung« des Satzes: omnis determinatio est negatio, die aus der Akzeptanz der völligen Positivität der Welt folgen soll. Hegels Beanspruchung dieses (spinozistischen) Prinzips wird meist im Sinne eines semantischen Holismus verstanden, in dem Sinn, dass die Zuschreibung eines bestimmten semantischen Gehalts (durch eine affirmative Prädikation) notwendig das Absprechen einer Reihe anderer bestimmter Gehalte impliziere. Letztlich ruht in diesem Bild die Bestimmtheit der Gehalte selbst auf den inferentiellen Verknüpfungen der verschiedenen Prädikate untereinander. Wie lässt sich aber von dieser Auffassung über die Bestimmtheit von Bedeutungen eine Verbindung zur Positivität der Welt herstellen? Offenkundig ab809 Vgl. GS XVIII, 197–201 (hier: S. 198); Misch 1924: xcvii–xcviii. 810 GS XVIII, 198f (Hervorhebungen im Original). Wenn »reine Idealität« prinzipiell nicht erreichbar ist, hieße das, dass auch für die erste Klasse der Lebensäußerungen (»Begriffe, Urteile, größere Denkgebilde«, s. o.) perfekte Übertragbarkeit ein unrealisierbares Ideal bliebe. Dies hätte zur Folge, dass wie beim Kinderspiel »Stille Post« jeder Schritt im Zeichenprozess, jede Codierung und De-Codierung, jede Instanziierung eines »types« Gelegenheit zu einer Verschiebung des semantischen Gehalts böte. Absolute Bedeutungskonstanz ließe sich nicht ein für alle Mal sicherstellen. Das müsste jedoch keineswegs in semantischer Anarchie enden und zum Zusammenbruch jeder Kommunikation führen, da nicht nur mit korrumpierenden Effekten zu rechnen wäre, sondern auch mit bedeutungsstabilisierenden, etwa dem Bezug zur Praxis oder der Verschriftlichung. Insbesondere wäre davon auszugehen, dass sich zufällige (also unsystematische) semantische »Schwankungen« ausgleichen und um eine durchschnittliche Bedeutung herum einpendeln würden, insofern die Kommunikationsgemeinschaft nur hinreichend groß und aktiv ist.
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weichend von dieser semantischen Lesart scheint Dilthey den Satz Spinozas unmittelbar ontologisch aufzufassen. Doch worin besteht die Spannung zwischen Diltheys emphatischen Individualitätsbegriff und der durch den Satz behaupteten Äquivalenz von Negation und Determination? Grob vereinfacht und an einem geometrischen Beispiel veranschaulicht, behauptet der spinozistische Satz die (informationelle) Äquivalenz der beiden folgenden Figuren:
Schema 3; eigene Darstellung
Ob die Abhebung beider Kreisausschnitte gegeneinander durch die positive Bestimmung des kleineren Ausschnitts erfolgt oder ob zunächst der größere Ausschnitt positiv bestimmt wird und sich dann der kleinere durch die von Gesamtkreis und größerem Ausschnitt gebildete Differenz ergibt, ist lediglich eine Frage des Vorgehens oder der Darstellung, in der Sache führen beide Wege zum selben Ergebnis. Für geometrische (und auch für arithmetische) Verhältnisse völlig unproblematisch. Übertragen auf den ursprünglichen semantischen oder ontologischen Zusammenhang, behauptet der spinozistische Satz also die prinzipielle Äquivalenz von positiver Bestimmung eines Gehalts und Negation aller anderen Gehalte. Der semantische Gehalt einer affirmativen Prädikation müsste sich so ersetzen lassen durch die Aufzählung aller negierten Gehalte. Und ontologisch gewendet wäre demnach die Wirklichkeit ebenso gut durch (eine Liste von) Existenzaussagen zu bestimmen wie durch den Ausschluss aller möglichen Welten, die nicht realisiert sind. In beiden Fällen erfordert die Übertragung allerdings einen Zugriff auf das Ganze, um jeweils die Kontrastmenge bilden zu können, einmal auf so etwas wie das »inferentielle Netz aller Gehalte« oder den »Raum des Sinns«, im anderen Fall auf die Menge aller möglichen Welten. Für eine Rekonstruktion des Diltheyschen Gedankens von der völligen Positivität der Welt scheint hierin der entscheidende Grund für die Zurückweisung des spinozistischen Satzes zu liegen.811 Während robuste Metaphysiker wie 811 Auch in der Einleitung bringt Dilthey die »beständige Widerlegung des Satzes von Spinoza«
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Spinoza und Hegel vor dem Umgang mit solchen Totalitäten nicht zurückschrecken mögen, markiert dieser Schritt für einen an den Erkenntnishorizont endlicher Subjekte orientierten Denker eine absolute Unvollziehbarkeit. Die Wirklichkeit lässt sich aus der Perspektive endlicher Erkenntnissubjekte eben nicht durch die Exklusion aller nicht realisierten möglichen Weltzustände bestimmen, sondern allein durch den (erfahrungsförmigen) Rekurs auf die Positivität der Welt. Omnis determinatio est negatio mag für einen göttlichen Intellekt gelten, für endliche Erkenntnissubjekte ist er schlicht leer. – Diltheys Gedankenbruchstücke verschärfen dabei Rankes Skepsis gegenüber einer Antizipation der Wirklichkeit durch die Mittel der Allgemeinheit (Begriffe) noch beträchtlich.812 Nicht nur ist ein Ausgriff auf die Totalität des Möglichen durch die Mittel des Denkens illusorisch und ein deduktiver Übergang vom Begriff zur Wirklichkeit alles andere als unproblematisch. Selbst die nachträgliche Erkenntnis des Wirklichen durch die Mittel des Denkens geht nach Dilthey nicht restlos auf, stößt auf letzte Grenzen. Wie gesehen, wird Dilthey an diesem Gedanken einer partiellen (wenn auch nicht totalen) Inkommensurabilität von Wirklichkeit und Begriff durchgängig festhalten.813 Die Enttrivialisierung bzw. die Dramatisierung des Übergangs von der Möglichkeit des Denkbaren zur Wirklichkeit des tatsächlich Gegebenen, wie sie sich aus der denkerischen Haltung Rankes und Diltheys ergibt, macht auch einsichtig, in welchem Sinne jener von einer »gewissen Hochachtung vor dem, was geschehen, vergangen, erschienen ist« spricht.814 Gemeint ist damit keine pauschale Rechtfertigung des Bestehenden qua Bestehenden. Die Haltung, die Ranke hier zum Ausdruck bringt, hat nicht den Sinn einer moralischen Qualifikation des
mit dem »Singularen, Individualen [sic]« in Verbindung, aber ohne eine nähere Erläuterung zu geben (GS I, 26). 812 Die Begrenztheit einer solchen lässt sich vielleicht positiv ausgedrückt gerade als das »Freie der wirklichen geschichtlichen Welt« verstehen (GS VII, 280, s. o.). »Der Fluß des Lebens aber ist überall nur einmal, jede Welle in ihm entsteht und vergeht. Diese Schwierigkeit ist, seitdem Hegel zuerst die Verstandeserkenntnis, die in dem Charakter der Aufklärungszeit war, dem Wesen der menschlich-geschichtlichen Welt gegenüberstellte, das eigentliche Problem der geschichtlichen Methode.« (Ebd.). Eine Bemerkung Rankes weist darauf hin, wie eine vorstellungsmäßige Antizipation des Wirklichen naturgemäß zur Selbstbestätigung und zur Ausblendung von Alterität neigt: »Wollten wir irgendwo ihm [s.c. dem was geschehen, vergangen, erschienen] mit unsrer Einbildung vorgreifen, so würden wir unsrem Zweck selbst entgegen arbeiten, und wir würden nur den Widerschein unsrer Einbildungen und Theorien erkunden.« (Kessel 1954: 296). 813 In dieser Hinsicht bewahrheitet sich demnach die von Diltheys Tochter Clara kolportierte Selbstauskunft Diltheys, nach der dieser »sein Schaffen eigentlich nur [als] ein Ausführen des Denkens und Planens seiner Jugend« betrachtete (J iii). Die hier behandelten Aufzeichnungen datiert Misch »um 1870« (Misch 1924: xcvii), die Herausgeber von GS XVIII auf die Jahre 1874–79. 814 Kessel 1954: 296.
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Verwirklichten, sondern zielt auf eine ontologische Auszeichnung des Wirklichen gegenüber allem bloß möglichen.815 Diese Haltung liegt auch Diltheys Überzeugung von der völligen Positivität der Welt zugrunde und hält sich bis zur Ausformung seiner Auffassung der Philosophie als Wirklichkeitswissenschaft durch. Aus ihr spricht ein radikales und geradezu schmerzlich zugespitztes Endlichkeits- und Kontingenzbewusstsein.816 Die Wirklichkeit übt ihren limitierenden und dirigierenden Einfluss auch dort aus, wo sich der Mensch in bloßen Denkmöglichkeiten und reinen Vorstellbarkeiten zu ergehen glaubt, und andersherum ist auch der Schritt von der abstrakten Theorie zur Wirklichkeit, und sei diese noch so kohärent und konsistent, nie trivial und keine bloße Frage einer geeigneten Spezifikation.817 »Wenn ein Metaphysiker behauptet, nur auf Grund dieses Satzes des Widerspruchs die letzten Tatsachen, zu denen Wissenschaft gelangt, zur Denkbarkeit zu verknüpfen, dann lassen sich stets positive Gedanken nachweisen, welche insgeheim seine Entscheidungen leiten. Denkbarkeit muß also hier mehr bedeuten als Widerspruchslosigkeit. […] Denkbarkeit ist hier nur ein abstrakter Ausdruck für Vorstellbarkeit, diese aber enthält nichts anderes, als daß das Denken, wenn es den festen Boden der Wirklichkeit und der Analysis verläßt, trotzdem von Residuen des in ihr Enthaltenen geleitet wird.«818 815 So anerkennt Ranke ganz ausdrücklich die Existenz des Guten und Bösen (vgl. Kessel 1954:299f), anders als Iggers behauptet (vgl. Iggers 1983: 80). 816 Unter diesem Aspekt hat Jos de Mul Diltheys Werk untersucht; vgl. de Mul 2004: 352–370. 817 Nohl sieht in der veränderten Stellung zu den Modalitäten eine wesentliche Pointe der Rede von Irrationalität bei Dilthey und anderen: »Und nun heißt es: diese Welt ist irrational bis in den Grund hinein, da draußen wie in der Seele. […] Der Aufklärung war der Begriff der letzte Kern der Wirklichkeit, ihre eigentliche Substruktion, das unauflöslich Letzte, das die Analyse erarbeitete, jetzt ist er ein Abgeleitetes, Sekundäres. […] Der erste erkenntnistheoretische Ausdruck für diese Wendung ist, daß der rationale Beweis aus der begrifflichen Möglichkeit auf die Wirklichkeit nicht mehr als schlüssig erkannt wird. Möglich ist, was ohne Widerspruch gedacht werden kann, aber [i] nicht alles Widerspruchslose muß gedacht werden, und [ii] nicht alles, was gedacht werden kann, ist wirklich, und [iii] es gibt Wirklichkeit, die nicht gedacht werden kann, sogar geistige Wirklichkeit, die dem rationalen Denken nicht zugänglich ist. Rationale Demonstration beweist kein reales Sein.« (Nohl 1970a: 95) Punkte [i] & [ii] sind allerdings trivial; Punkt [iii] hingegen hat explosive Konsequenzen, da er bedeutet, dass selbst aus Widersprüchlichkeit nicht länger auf Nichtexistenz geschlossen werden kann. Für Dilthey könnte man präzisieren: wir verfügen über keinen apriorischen Nachweis der ontologischen Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch. Aus dem Umstand, dass unsere Logikkalküle und Denkapparate schlecht mit Widersprüchen umgehen können, folgt nicht, dass keine existieren. Die Antinomien, die bei dem Versuch, die Lebenskategorien definitorisch zu durchdringen, zutage treten, sind zudem ein positiver Hinweis darauf, dass die Wirklichkeit z. T. widersprüchliche Eigenschaften aufweisen könnte. 818 GS I, 404 (Hervorhebung im Original). »Vorstellbarkeit«, so könnte man Diltheys Punkt auch formulieren, ist keine genuine Wissensquelle, sondern entpuppt sich allzu leicht als Funktion gemachter Erfahrungen. Sie artikuliert demnach lediglich hochgradig derivative Wissensbestände. Hieraus ergeben sich gegenüber der philosophischen »Methode« der »Gedankenexperimente« gravierende Bedenken. Mit Experimenten (im Medium der
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Um implizite Inanspruchnahmen theoretischer Ressourcen, die allenfalls einer quasi-göttlichen Instanz oder zumindest nur aus einer Gottesperspektive verfügbar wären, aber in der Form disziplinärer Gewohnheiten und doktrinärer Selbstverständlichkeiten gar nicht weiter auffällig werden, konsequent zu Bewusstsein zu bringen, orientiert sich Diltheys Philosophie des Lebens durchgängig (man könnte sagen: im Sinne des Euripidischen »τὸ σοφὸν δ᾿ οὐ σοφία τὸ τε μὴ θνητὰ φρονεῖν«819) an den begrenzten epistemischen Möglichkeiten und Fähigkeiten gewöhnlicher »Eintagsmenschen«.820 Aus dieser Orientierung folgt die emphatische Auszeichnung der Wirklichkeit als philosophischer Leitmodalität, denn anders als Möglichkeit und Notwendigkeit steht sie dem menschlichen Erleben offen. »Es gäbe kein Mögliches, inwiefern [sic] das Mögliche erst da erscheint, wo der Gedanke das Wirkliche löst und lockert und mit den abgehobenen Elementen desselben für sich operiert; es gäbe kein Nothwendiges, inwiefern [sic] das Nothwendige das Sein als vom Gedanken durcharbeitet und durchdrungen darstellt.«821
Diese Erläuterung Trendelenburgs hebt den abgeleiteten Charakter der Modalitäten Möglichkeit und Notwendigkeit gegenüber der Wirklichkeit hervor, weshalb ihm Dilthey hier sicher zustimmen könnte. Gegeben Diltheys ausgeprägte Skepsis gegenüber Operationen des Intellekts, die »für sich« erfolgen, d.i. unkontrolliert durch den Umsatz in Handlungen und die damit einhergehenden Evaluations- und Kontrollpotenziale (feedback) und die nicht einmal mittelbar eingebettet sind in reale Lebensprozesse, wird klar, dass auch seine Auszeichnung der Wirklichkeit im gleichen Sinne epistemologisch motiviert ist. Der, wie gezeigt, damit verbundene resignative Grundton der Philosophie des Lebens als einer Wirklichkeitsphilosophie verbindet sich wiederum, und auch das ist typisch positivistisch, mit einer geradezu enthusiastischen Betonung und Auskostung eines massiven, gehaltvollen und ungefilterten Wirklichkeitskontakts. Die Empfänglichkeit für Wirklichkeit allerdings – und dies deutet auf eine wichtige Komplexitätssteigerung der positivistischen Rede vom »Gegebenen«
Wirklichkeit) haben diese in der Regel ohnehin wenig gemein; »Gedankenspiel« wäre daher für viele die treffendere Bezeichnung (vgl. Wittgenstein 2006: 364 (PU §265)). Dieser punktuelle Blick auf verbreitete philosophische Praktiken lässt es als durchaus fraglich erscheinen, ob von einer Diltheyschen Perspektive tatsächlich nahezu alle möglichen Spielarten der (analytischen) Philosophie gutzuheißen wären, wie es Christian Damböck nahelegt (vgl. Damböck 2018: 207–210). 819 Euripides, Bakchen, 395f (»Das Wissen und Denken, das menschliches Maß überschreitet, ist nicht Weisheit.«, tr. Kurt Steinmann). vgl. Cavell 1999: 207 (»Philosophy and the Rejection of the Human«), 109, 216, 222; Aron 1969: 97–99. 820 Ein wiederkehrendes Motiv bei den klassischen Tragikern: γένος ἁμερίων; vgl. Sophokles, Antigone, V. 789f; Euripides, Iphigenie auf Aulis, V. 1330f. 821 Trendelenburg 1870: 13 (Hervorhebung hinzugefügt).
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hin – liegt nicht einfach vor; sie erfordert mitunter sogar (wie im Fall des historischen Bewusstseins) eine Kultivierung über mehrere Generationen hinweg. »Dem mit den Geisteswissenschaften Beschäftigten will dasselbe [das vorliegende Werk; sc. die Einleitung in die Geisteswissenschaften] sonach gleichsam die Organe für die Erfahrung der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt ausbilden.«822 »Ich möchte diese Wirklichkeit [des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens] sehen lehren – eine Kunst, die lange geübt sein will wie die der Anschauung von räumlichen Gebilden – und diese Nebel und Phantome [abstrakter Wesenheiten] verscheuchen.«823
3.3.3 Systemtheoretische Interpretamente Dass zwischen Diltheys Konzeption der Philosophie des Lebens und zentralen Begriffen der Systemtheorie824 auffällige Affinitäten und Homologien bestehen, deutet sich in der Forschungsliteratur (etwa in den Untersuchungen Helmuth Plessners, Theodor Litts und Michael Ermarths) verschiedentlich an. Als solcher benannt und für die Diltheyinterpretation fruchtbar gemacht wurde dieser Bezug maßgeblich von Peter Krausser. Dieser wertvolle und weiterführende Beitrag hat bedauerlicherweise nicht die Aufnahme gefunden, die er verdient hätte. Da die Entsprechung zwischen Philosophie des Lebens und Systemtheorie selbstverständlich auch keine vollständige ist, ist es hilfreich, sich neben den Schnittmengen auch die Grenzen der Übereinstimmung klar zu machen. (1.) Anerkenntnis der Komplexität als einer prinzipiellen (nicht nur vorläufigen) Erkenntnisgrenze. So hat sich bereits im Zuge der Explikation des Anliegens der Einleitung gezeigt, dass es die »höchst zusammengesetzte Wirklichkeit der Geschichte« sei, die die Unmöglichkeit einer seriösen oder sogar wissenschaftlichen Geschichtsphilosophie zur Folge habe.825 Verallgemeinert man diesen Punkt, ergeben sich interessante Verbindungen auch zu anderen Überzeugungen Diltheys. Wenn ein erkennendes System durch die eigene endliche strukturelle Komplexität wesentlich in seiner Informationsverarbeitungskapazität limitiert ist, kann es nur selektiv auf Informationen seiner Umwelt reagie-
822 GS I, 123. Zum »geschichtlichen Sehen« siehe Abschnitt 5.3. 823 GS I, 42. Worauf sich der Vergleich mit der »Übung der Anschauung von räumlichen Gebilden« genau beziehen soll, erschließt sich nicht unmittelbar. Womöglich hat Dilthey hier Phasen der frühkindlichen Entwicklung im Sinn. 824 Der folgende Überblick trägt im Wesentlichen bereits angesprochene Aspekte zusammen. Nicht alle Ver- und Nachweise werden dabei wiederholt. Für die hier angebrachten groben Pinselstriche ist eine Differenzierung von Kybernetik und Systemtheorie nicht relevant. 825 GS I, 94.
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ren, es ist auf Komplexitätsreduktion angewiesen.826 Daraus wiederum ergeben sich prinzipielle Grenzen für die Fähigkeit eines Systems, sich selbst zu beobachten. Denn wenn das beobachtende System und das beobachtete System (wie im Fall der Selbstbeobachtung) gleich komplex sind und ein gewisser Anteil der Ressourcen des beobachtenden Systems durch den Vorgang der Beobachtung selbst gebunden ist, folgt daraus, dass ein System sich prinzipiell nicht selbst vollständig durchschauen und erfassen kann.827 Dieses Verhältnis kommt im Fall der psychologischen Selbstbeobachtung (Introspektion) nicht zum Tragen, da deren Reichweite nach Diltheys Auffassung schon durch viel basalere Probleme eingeschränkt wird. Unmittelbar relevant wird es aber für die Aussichten des erkenntnistheoretischen Projekts, erkennend die eigenen Erkenntniswerkzeuge zu erfassen und zu prüfen.828 (2.) Philosophie ist nicht voraussetzungslos.829 Dabei spricht Dilthey sowohl Existenzvoraussetzungen an (über die Einbettung in die Lebensabläufe einer Lebenseinheit) als auch logische Voraussetzungen ihrer objektiven Geltung an (durch den Verweis auf die Abhängigkeit der Erkenntnistheorie von empirischem Wissen).830 »Die fundamentalen Voraussetzungen der Erkenntnis sind im Leben gegeben, und das Denken kann nicht hinter sie greifen.«831 Für Dilthey ist selbstverständlich, dass das Denken diese Voraussetzungen nicht selbst bereitstellen kann. Damit ist der Gedanke einer Selbsterzeugung des Denkens, wie ihn etwa Fichte entwickelt, illusorisch. Was das Denken ebenfalls nicht leisten kann, ist jedoch selbst eine nachträgliche vollständige kognitive Aufarbeitung dieser Voraussetzung (die Hegelsche Form der Voraussetzungslosigkeit). Somit steht das Denken für Dilthey notwendig in einer Relation zur Wirklichkeit, die der Grundstruktur kybernetischer Theorien entspricht: als ein (operativ geschlos826 Vgl. Ashby 1984: 179–181 (»channel capacity«, »monitoring«), 206–213 (»the law of requisite variety«), 244ff (»regulating the very large system«). 827 Ermarth 1978: 138 (»Human understanding can, within limits, interpret aspects of life with precision and validity, but it cannot exhaustively explain all its dimensions: life is more than it can know of itself.«). 828 GS I, 419 (»So gibt es keinen legitimen Anfang, kein in sich gegründetes Erfahrungsurteil, sondern jeder Anfang ist willkürlich. Die verschiedenen erkenntnistheoretischen Ausgangspunkte tragen immer dies Merkmal der Willkür an sich, haben immer Voraussetzungen, auf die sie zurückgehen. Ich schließe: die Erkenntnistheorie ist nie etwas Definitives. Sie wird nur immer so viel Gültigkeit haben, als sie von ihrem Anfang aus dem in den Erfahrungswissenschaften Gewonnenen genugtut.«); vgl. Ermarth 1978: 151 (»Dilthey, in contrast, insisted that ›knowledge of knowledge,‹ for all its second-order claims of superior jurisdiction, is itself an empirical inquiry and that it too must rely upon an extended concept of experience for its ›proof‹.«); Scanlon 1989; Makkreel 2003. 829 Vgl. GS XIX, 13. 830 Vgl. GS V, 12f (»Auch die Philosophie tritt in den Kreis der Erfahrungswissenschaften, welche auf den gesetzmäßigen Zusammenhang der Erscheinungen gerichtet sind.«). 831 GS V, 136.
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senes, energetisch und kausal offenes) System gegenüber einer Umwelt von unkontrollierbarer und unprozessierbarer Komplexität. Dass das Leben von endlichen Erkenntnissubjekten als Rätsel erfahren wird, ist demnach kein kontingenter Umstand.832 (3.) Besonders naheliegend ist es, in den von Dilthey beschriebenen Wechselwirkungsbeziehungen zwischen Lebenseinheit und Milieu die systemtheoretische System/Umwelt-Unterscheidung wiederzuerkennen und im »immanent teleologischen Zusammenhang des Seelenlebens« eine kybernetische »feedback«-Struktur. So wie eine geeignet eingerichtete Apparatur »zielgerichtet« eine bestimmte Variable via negativer Rückkopplung um einen Sollwert herum oszillieren lässt, so arbeiten auch in Diltheys Strukturpsychologie die seelischen Dimensionen von Denken, Wollen, Fühlen dahingehend zusammen, bestimmte grundlegende Zwecke zu verwirklichen und basalen Trieben zu entsprechen.833 Ein weiterer Vorteil der Modellierung des Diltheyschen Konzepts mittels systemtheoretischer Ressourcen liegt in der Möglichkeit, den Vorgang der Artikulation der seelischen Struktur weiter zu bestimmen. »Das ganze System der tierischen und menschlichen Welt stellt sich als die Entfaltung dieser einfachen Grundstruktur des Seelenlebens [sc. der Vorgänge des Vorstellens, Fühlens und Wollens] in zunehmender Differenzierung, Verselbstständigung der einzelnen Funktionen und Teile sowie höherer Verbindung derselben untereinander dar.«834 »Zwischenglieder zwischen dem Eindruck und der vollzogenen Bewegung mehren sich. Das Anfangs- wie das Endglied nehmen zusammengesetztere Formen an.«835
Dieser Vorgang des Komplexitätsaufbaus durch funktionale Differenzierung ist im Rahmen der Systemtheorie ausgiebig erforscht worden und wird im Wesentlichen als eine Iteration der System/Umwelt-Differenz beschrieben, womit gesagt werden soll, dass es innerhalb des Systems zur Ausbildung von Subsystemen kommt, die zueinander wiederum im Verhältnis von System und Umwelt stehen, und sich dieser Prozess prinzipiell beliebig oft wiederholen kann, wodurch immer mehr zu unterscheidende Systemebenen und funktionale Verknüpfungsmöglichkeiten entstehen.836
832 Vgl. GS VIII, 80f, 140f (»das Antlitz dieses Lebens selber […] diese Sphinx«), 208f. 833 Krausser diskutiert den Zusammenhang von negativer Rückkopplung und Teleologie für Dilthey und legt ihn auch seiner Rekonstruktion des hermeneutischen Zirkels zugrunde (vgl. Krausser 1968: 32, 120–141, 144; Ashby 1984: 219 (»the error-controlled regulator«)). 834 GS V, 211 (Hervorhebungen hinzugefügt). 835 GS XIX, 345. 836 Dieses Modell führt nicht zwangsläufig zu der fragwürdigen Behauptung, dass sich auch die Subsysteme zu ihrer Umwelt »vorstellend, fühlend, wollend« verhalten. Eine solche »homunculus«-Theorie ist dadurch zu vermeiden, dass die funktionalen Zusammenhänge für jede Systemebene eigens spezifiziert werden.
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(4.) Eine weitere bemerkenswerte Übereinstimmung liegt darin, dass sowohl Kybernetiker wie auch Dilthey mit der Regelkreisstrukur zu ähnlichen Modellen greifen, um lernende Systeme zu beschreiben.837 Ein zentraler Aspekt von Lernvorgängen ist dabei, dass sich das Handeln nicht allein an internen Größen wie dem Körpergefühl oder Handlungsintentionen orientiert, sondern an dem faktisch in der Außenwelt eingetretenen Folgen der Handlung.838 Dieser konstitutiven Umweghaftigkeit kommt entscheidende Bedeutung nicht nur für die Handlungstheorie zu, auch bei Diltheys Überwindung der Introspektion als psychologischer Methode und darüber hinaus in Form des objektiven Geistes für seine gesamte Kulturtheorie spielt dieser Gedanke eine absolut zentrale Rolle.839 Festzuhalten bleibt, dass sich kybernetische Regelkreismodelle auf geradezu kongeniale Weise dazu eignen, die wesentlichen Eigenschaften von Diltheys ökologischem Lebensbegriff zu explizieren. Dass das »Denken […] in Handlung umgesetzt werden« muss, stellt innerhalb seiner Rationalitätstheorie eine wesentliche Forderung dar.840 Damit beschreibt er die Einbettung des Denkens in den Lebensprozess, in die Zirkulation von Situationserfassung, intellektuellen Funktionen, Handlungsinnervation, Erfolgskontrolle, nicht nur als den durchschnittlichen Normalfall, wie er für basale Vollzüge gegeben ist, sondern erkennt ihr gegenüber abgekoppelten intellektuellen Prozessen eine essentielle Kontrollfunktion zu. Der Zustand der Zirkulation ist daher die Norm, im Sinne einer internen, funktionalen Normativität.841 (5.) Indem sie von funktional differenzierten Kultursystemen ausgeht, fällt außerdem Diltheys Gesellschaftstheorie kongenial zu systemtheoretischen Überlegungen aus.842 Der systemische Blick auf die Kultursysteme und ihre Verflechtungen erlaubt ihm etwa, das Erziehungssystem nicht nur durch die Brille des Humanismus als philanthrope Veranstaltung zur ausgewogenen und autonomen Entfaltung individueller Anlagen zu betrachten, sondern auch unter dem funktionalen Aspekt der Selbsterhaltung des Gesellschaftssystems zu thematisieren.
837 Vgl. GS IX, 222f; Krausser 1968: 148f, 187–192; Ashby 1960: 1–12 (»Our problem is, first, to identify the nature of the change which shows as learning, and secondly, to find why such changes should tend to cause better adaptation for the whole organism.«, S. 12). 838 Vgl. Krausser 1968: 127–131. 839 Vgl. GS XIX, 276 (»Zentrum bilden die Selbstbesinnung und das Verstehen. Allerdings ist die Selbstbesinnung primär, aber das Verstehen anderer bedingt auch andererseits die Selbstbesinnung, ähnlich wie Selbstbewußtsein und Welt miteinander in einem Zusammenhang verbunden [sind].«, Hervorhebung im Original). 840 GS X, 13. 841 Vgl. GS I, 97 (»Ein Arrangement der Wirklichkeit kann nie an sich, sondern immer nur in seiner Beziehung zu einem System von Energien Wert haben.«). 842 Grundlegend für diesen Aspekt: Hahn 1999.
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»Die Erziehung ist eine Funktion der Gesellschaft. […] Der soziale Erneuerungsprozeß, vermöge dessen stets neue Individuen als Elemente der Gesellschaft in sie eintreten, verlangt, daß diese Individuen zu dem Punkte entwickelt werden, an welchem sie die Personen der gegenwärtigen Generation ersetzen können.«843
Für Diltheys systemischen Blick löst eine Gesellschaft mittels ihres Erziehungssystems die anspruchsvolle Aufgabe, ein komplexes dynamisches Gleichgewicht zwischen dem Aufwachsen und dem Ausfallen von Funktionsträgern zu regulieren und das auch noch bei sich mitunter wandelnden Funktionen.844 Denn auch auf gesellschaftlicher Ebene gilt es Lernfähigkeit sicherzustellen, die von ungeeigneten Systemstrukturen geradezu vollkommen blockiert werden kann. Gerade an dieser Stelle zeigt sich bei steigendem gesellschaftlichen Differenzierungsgrad für Dilthey die wachsende Relevanz der Geisteswissenschaften, mittels derer eine Gesellschaft Wissen über sich selbst generiert, um einerseits das eigene dauerhafte Funktionieren sicherstellen und um andererseits auf problematische Entwicklungen reagieren zu können.845 (6.) Wenn Dilthey in der systemischen Einstellung selbst »[das] einzelne Individuum [als] ein Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen« beschreibt, ist die Grenze der bestehenden Affinitäten zur Systemtheorie fast erreicht.846 Denn in der systemtheoretischen Modellierung fallen sowohl die Dimension der Individualität als auch die des Erlebens samt seiner phänomenalen Qualität komplett aus. Damit lässt sich aus kybernetischer Richtung auch kein Zugang zu Diltheys Ansatz beim erlebenden Zugriff auf die Totalität der seelischen Struktur erreichen. Kybernetiker beanspruchen ganz im Gegenteil intelligentes Verhalten aus simplen Bauteilen zu konstruieren, »zusammenzustücken« würde Dilthey wohl sagen.847 Ebenfalls nicht anschlussfähig ist, dass einige Kybernetiker sich auf einen materialistischen Rahmen festlegen, weil es möglich ist teleonome Strukturen durch rein kausale Mittel herzustellen bzw. zu rekonstruieren.848 Diese ontologische Agenda ist der Kybernetik aber nicht wesentlich. Für den Schritt vom physiologischen Reflexbogen, der Dilthey als Modell der Wechselwirkungen von Lebenseinheit und Milieu als zeitgenössisches wissenschaftliches
843 Vgl. GS IX, 13–15, hier: 192. 844 In diesem dynamisch-funktionalen Sinn sind »Erziehungsprozesse« in der Tat »grundsätzlich konservativ« (Hampe 2016: 116). 845 Vgl. GS I, 4 (»eine Lebensfrage für unsere Zivilisation«), 36f; skeptisch aus systemischen Gründen äußert sich Bateson mit Blick auf die Herausforderung der Lernfähigkeit westlichindustrieller Gesellschaften durch die ökologische Krise (vgl. Bateson 2000: 337). 846 GS I, 51. 847 Vgl. GS V, 211. 848 Vgl. Rosenblueth et al. 1943; Ashby 1960: 1 (»I hope to show that a system can be both mechanistic in nature and yet produce behaviour that is adaptive.«). Um das nicht nur theoretisch zu zeigen, konstruierte Ashby 1948 seinen »homeostat«.
266
Der Ausgang vom Leben
Modell vor Augen stand,849 zu kybernetischen Flussdiagrammen ist gerade bezeichnend, dass letztere von den kausalen Verhältnissen und der materiellen Instanziierung der von ihnen beschriebenen Strukturen absehen und allein auf Informationsflüsse und funktionale Zusammenhänge abheben.850 So gewendet ergibt sich wiederum eine klare Übereinstimmung mit Dilthey, der, wie gesehen, in den verschiedensten Kontexten eine Strategie der Vergleichgültigung ontologischer Fragen gegenüber den eigentlich erheblichen Vorgängen und erlebbaren Transaktionen betreibt.851 Mit Krausser und Fichte lässt sich der Lebensbegriff Diltheys geradezu (nicht als ein »substratloses«, sondern) als ein »substratneutrales Tun« charakterisieren.852 Die Umstellung von autarken selbstidentischen Substanzen, zwischen denen allererst »Brücken zu schlagen« wären, zu einem Ansatz bei der Differenz, bei der Grenze von System und Umwelt, die von charakteristischen Vollzügen allererst etabliert und stabilisiert wird, konnte an Diltheys Übergang vom psychologischen zum biologischen Standpunkt nachvollzogen und so der ökologischen Lesart des Lebensbegriffs zugrunde gelegt werden.853
849 Vgl. Nohl 1970b: 36f; Jung 2003: 443–451; 2008: 286–270. 850 Deshalb würde man auch das Organigramm einer Institution gründlich missverstehen, wollte man ihm etwa entnehmen, welche Büros auf derselben Etage liegen. Krausser spricht daher vom »relativ substrat- und materialneutralen Charakter der hypothetischen Grundstruktur«, d.i. des Regelkreises (Krausser 1968: 142–144). 851 Am prägnantesten ausgedrückt in seiner Verwendung der Bühnenmetapher (vgl. GS XXII, 102; Misch 1924: lviii) oder der wiederkehrenden Floskel »gleichviel, welcher der metaphysische Tatbestand sei« (GS I, 15). 852 Siehe Abschnitt 4.2; vgl. Krausser 1968: 142–144. 853 Vgl. GS V 107–109, 432f; GS XVIII, 84; B 55 (»Seit Descartes ist man am Brückenschlagen.«); Aron 1969: 60f; Clam 2002: 16–33.
4.
Kategorien des Lebens »[…] die Geschichte flimmert und fackelt dir vor den Augen! ein Gewirre von Szenen, Völkern, Zeitläuften – lies erst und lerne sehen!« Johann Gottfried Herder, HD V, 505
Bereits aus der Strukturvorgabe, die sich aus Diltheys Bezugnahme auf Kants Kritik der reinen Vernunft ergibt, entsteht die Frage, wie eine Kategorienlehre für die Erkenntnis der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit aussehen könnte. Kants Anspruch, die »reinen Verstandesbegriffe« vollständig aufgeführt zu haben, die zusammen mit der Anschauung erfolgreichen Weltbezug (d.i. Erfahrung) allererst ermöglichen und selbst zugleich Denk- und Seinsstrukturen darstellen, schraubt die Erwartung an eine solche erheblich in die Höhe.854 Die Textgrundlage für Diltheys Kategorienlehre bilden die Einleitung mit den Plänen zu ihrer Fortsetzung sowie der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften und auch dessen geplante Fortsetzungen.855 Ab den 1890er Jahren findet der Ausdruck »Kategorien des Lebens« zu ihrer Bezeichnung Verwendung. Und auch wenn sie sich auf einen Zeitraum von annähernd 30 Jahren erstreckt, weist die Konzeption in ihrer Anlage doch eine erkennbare und sich durchhaltende Einheitlichkeit auf. Da Dilthey seine Kategorienlehre jedoch zu keinem Zeitpunkt wirklich ausgeführt hat, ist jeder Rekonstruktionsversuch in erheblichem Maße auf interpretatorische Interpolationen angewiesen. Die bisher erarbeitete Lesart seiner Philosophie des Lebens dient uns in diesem Sinne im Folgenden als Hintergrundfolie, in Bezug auf die die Plausibilität von alternativen Interpolationen und Ergänzungen abgeschätzt werden kann. Dilthey stellt seine Kategorienlehre nicht explizit als Kritik der Kantischen Auffassung dar. Daraus zu schließen, bei seinen Überlegungen handele es sich um ein das Kantische System lediglich ergänzendes Projekt, führt jedoch in die Irre. Gleich zu Beginn der Einleitung hält Dilthey ausdrücklich fest:
854 Vgl. KrV B 102ff. 855 Vgl. GS I, 386–408 [1883]; GS VII, 228–245 [1910]; GS XIX, 333–388 [1892/93].
268
Kategorien des Lebens
»Es liegt in der Natur des Gegenstandes, daß die Einsichten, deren es zur Lösung dieser Aufgabe bedarf, in die Wahrheiten zurückreichen, welche der Erkenntnis sowohl der Natur als der geschichtlich gesellschaftlichen Welt zugrunde gelegt werden müssen.«856
Diltheys Anspruch ist demnach zunächst so zu verstehen, dass er nicht etwa eine zusätzliche Bereichsontologie und Begriffstheorie neben den Kantischen, die auf das Newtonsche Universum zugeschnitten sind, zu etablieren beabsichtigt, sondern durchaus eine »grundständige« Kategorienlehre, von der aus sich dann auch der systematische Ort der naturwissenschaftlichen Grundbegriffe angeben lassen würde. Zieht man zudem seine gegenüber den Neukantianern besonders abstechende Skepsis gegenüber der transzendentalen Methode selbst in Betracht, auf der die Kantische Kategorienlehre ihrerseits ganz wesentlich beruht, erscheint ein konzilianteres Bild der theoretischen Lage recht unplausibel.857
4.1
Formal- und Realkategorien
Die Unterscheidung der Grundbegriffe in Formal- und Realkategorien ist für Diltheys Kategorienlehre von fundamentaler Bedeutung858. Während sich jene durch eine vollständige Klarheit und Durchsichtigkeit auszeichnen, weisen diese »einen dunklen Kern einer nicht in sinnliche oder Verstandeselemente auflösbaren Tatsächlichkeit« auf.859 Auf diese »unauflösliche Kernhaftigkeit« der Wirklichkeit gegenüber dem Denken sind wir bereits im Zusammenhang der (partiellen) Inkommensurabi-
856 GS I, 3 (Hervorhebung hinzugefügt); vgl. Misch 1926: 542; Gadamer 1993a: 28 (»Man suchte der ›Kritik der reinen Vernunft‹ eine ›Kritik der historischen Vernunft‹ zur Seite zu stellen.«). 857 »Durch einen Erweiterungsbau der Kritischen Philosophie war hier nichts zu gewinnen, weil die Entdeckung der geschichtlichen Welt den Boden selbst in Bewegung zeigte, auf dem ihn das 18. Jahrhundert errichtet hatte.« (Plessner 1990/91: 293). 858 Auch F. A. Trendelenburg, Diltheys akademischer Lehrer, unterscheidet »reale« und »modale Kategorien« und bestimmt sie in einer Weise, von der sich Dilthey offenbar nicht allzu weit entfernt hat. Demnach sind »reale Kategorien […] solche, durch welche das Denken das Wesen der Sachen ausdrücken will«, und »modale Kategorien […] solche Grundbegriffe, welche Momente aus der erkennenden Thätigkeit als solcher zum Inhalt haben.« (Trendelenburg 1870: 336, Hervorhebungen entfernt). Auch Trendelenburgs Ablehnung eines »reinen Denkens« als menschenunmöglich und seine Betonung der metaphysischen und logischen Voraussetzungen der Wissenschaften in ihrem Gegenstand und ihrer Methode haben offenbar bleibenden Einfluss auf Dilthey ausgeübt (vgl. Trendelenburg 1870: 335, 530f). Über die Vorbehalte, die Trendelenburg gegenüber dem psychologischen Zugriff auf die Kategorien, den er bei Herbart konstatiert, zum Ausdruck bringt, setzt sich Dilthey hingegen relativ unbekümmert hinweg (vgl. Trendelenburg 1870: 336). 859 GS I, 400.
Formal- und Realkategorien
269
lität von Denken und Sein gestoßen.860 Indem Dilthey für die Realkategorien also den Doppelcharakter einer Seins- und Denkstruktur aufgreift, worauf bereits die Bezeichnung hinweist, ist in systematischer Hinsicht zu erwarten, dass sie zum primären Austragungsort der grundlegenden Erkennbarkeit und Nichterkennbarkeit der Wirklichkeit werden. Beide Kategoriengruppen führt Dilthey auf einen jeweils verschiedenen Ursprung zurück: »Dieselben [sc. die realen Kategorien] sind gar nicht in der Vernunft gegründet, sondern in dem Lebenszusammenhang selber. Das Merkmal jener formalen Kategorien ist ihre gänzliche Durchsichtigkeit und Eindeutigkeit. Diese weist auf ihren Ursprung im Denken. Das Merkmal der realen Kategorien ist die Unergründlichkeit ihres Gehaltes durch das Denken. Sie sind Zusammenhang des Lebens. Dieser ist für das Innewerden sicher und bewußt. Aber für den Verstand ist es unergründlich.«861
Während die Realkategorien im Rahmen der wechselwirkenden Lebensprozesse zwischen der Totalität des Seelenlebens und ihrem Milieu eine strukturierende Rolle spielen, beziehen sich die formalen Kategorien lediglich auf die Arbeitsweise des Intellekts. Die Beispiele für die Formalkategorien, die Dilthey anführt, stimmen weitgehend mit der Liste der elementaren logischen Funktionen862 überein, die bereits die »Intellektualität der inneren und äußeren Wahrnehmung« ausmachten: – »das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen«; – »der Begriff von Gleichheit und Unterschied« (GS I, 400); – »die intellektuellen Vorgänge, in welchen unterschieden, verbunden, bezogen, geordnet wird« (GS XIX, 338); bzw. die Begriffe, durch die diese Vorgänge vollzogen werden (»Identität, Gleichheit, Unterschied«; GS XIX, 361); – »Einheit, Vielheit, Gleichheit, Unterschied, Grad, Beziehung«, (GS VII, 196).
Von ihnen allen gilt, dass sie keine »echte[n] und volle[n] Kategorien im Sinne von Aristoteles und Kant« sind.863 Dazu fehlt ihnen die Sachhaltigkeit. 860 GS I, 396; GS VII, 291; GS XVIII, 198f (»Das Denken als nachgeboren und nicht imstande, das Wesen dieses Positiven aufzulösen, da die Elemente des Positiven immer in der Zersetzung zurückbleiben, wie im chemischen Prozeß. Es gibt keine Zersetzung der Welt in Begriffe.«). Auch dieses Motiv hat einen Goethe-Bezug: »Es [sc. die Kinder der Freude] waren verständige, geistreiche, lebhafte Menschen, die wohl einsahen, daß die Summe unsrer Existenz, durch Vernunft dividiert, niemals rein aufgehe, sondern daß immer ein wunderlicher Bruch übrig bleibe.« (Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Teil I, Buch IV, Kapitel 18, GW V, 269). Zur außerordentlichen Konjunktur dieses Gedankens vgl. Windelband 1909: 12f. Trendelenburg spricht in dieser Frage interessanterweise geradezu komplementär zu Dilthey von einer »Gemeinschaft zwischen Denken und Sein«, betont also optimistisch die Kommensurabilität beider Größen (vgl. Trendelenburg 1870: 13f, 533). 861 GS XIX, 361. 862 Vgl. GS V, 149. 863 GS XIX, 360.
270
Kategorien des Lebens
»Diese Verhältnisse finden im Denken statt. Es gibt ja nicht außer uns eine Gleichheit, sondern es gibt nur zwei Tatsachen, in bezug auf welche das Denken eine Operation vornimmt, die deren Natur erhellt. Es gibt draußen keine Allgemeinheit, sondern es gibt nur Tatsachen, die das Denken in sie einordnet und so sich verdeutlicht. Kategorien dieser Art nenne ich formal.«864
Mittels der Formalkategorien hebt das Denken nach Diltheys Vorstellung demnach relationale Eigenschaften von Gegenständen oder Gegenstandsgruppen hervor, die nicht als objektive Eigenschaften den Gegenständen selbst zugeschrieben werden können. Ob ich einen Baum unterscheidend als »groß« in Bezug auf mich oder als »klein« in Bezug auf einen Gebirgszug einordne, ändert an seinen tatsächlichen Eigenschaften nichts. Mit Blick auf die »Allgemeinheit«, wenn darunter nicht etwas Harmloseres als hier unterstellt zu verstehen sein sollte, scheint das weniger überzeugend. Ob dieser »Baum« eine »Ulme« ist oder nicht (bereits eine zweifache Subsumtion unter Allgemeinbegriffe), bezeichnet doch wohl einen objektiven Sachverhalt. Ansonsten müssten Diltheys »Tatsachen« letztlich als prädikatlose Gegenstände einer bloß deiktischen Bezugnahme gedacht werden. Weiterhin bringt Dilthey die Unterscheidung von »Qualitäten« und »Intensität« ins Spiel. Letztere ordnet er dem »beziehenden Denken«, also den Formalkategorien zu, die Qualitäten wären demnach den Realkategorien zuzurechnen.865 Allein, man dürfe auch nicht jede Qualität schon als Kategorie bezeichnen: »Niemand bezeichnet Blau oder Farbe als eine Kategorie. Selbst Eigenschaft wäre für sich genommen nicht eine Kategorie, sondern erst die Beziehung zwischen Eigenschaft und der Einheit oder Substanz in dem Ding macht eine Kategorie aus.«866
Im Umfeld des Aufbaus lautet Diltheys Begriffsbestimmung: »In den Prädikaten, die wir von Gegenständen aussagen, sind Arten der Auffassung enthalten. Die Begriffe, die solche Arten bezeichnen, nenne ich Kategorien. Jede solche Art faßt in sich eine Regel der Beziehung. Die Kategorien bilden in sich systematische Zusammenhänge, und die obersten Kategorien bezeichnen höchste Standpunkte der Auffassung der Wirklichkeit. Jede solche Kategorie bezeichnet dann eine eigene Welt von Prädizierungen. Die formalen Kategorien sind Aussageformen über alle Wirklichkeit. Unter den realen Kategorien treten aber solche auf, die in der Auffassung der geistigen Welt ihren Ursprung haben, wenn sie auch dann in Umformungen auf die ganze Wirklichkeit Anwendung finden.«867
864 GS XIX, 361. Diesen massiven Nominalismus wird man freilich nicht mehr als »metaphysische Vorurteilslosigkeit« bezeichnen können (vgl. GS VIII, 197). 865 GS XIX, 340. 866 GS XIX, 360f. 867 GS VII, 192. Hier scheint eine gewisse Spannung hinsichtlich des Wirklichkeitsbezuges der formalen Kategorien zwischen [GS VII] und [GS XIX] zu bestehen. Einmal wird die For-
Formal- und Realkategorien
271
Die Systematisierungsaussichten für die Realkategorien sind nach Diltheys Auskunft ausgesprochen begrenzt. »Es gibt keinen Kunstgriff, diese Kategorien definitiv und reinlich auszusondern, ihre Zahl festzustellen und ihre Ordnung zu bestimmen. […] Daher ist auch nie ein Versuch gelungen, die Natur, Zahl und Ordnung dieser Kategorien festzustellen. Die Artikulation des Lebens wird in gewissen Zügen oder Linien, welche durch sie hindurchgehen, aufgefaßt, unter Absehen von den anderen. Und nichts zeigt besser die Natur von Leben in diesem Zusammenhang, als wie diese Kategorien ineinander übergehen, in vielen Abschattungen uns bewußt werden, ohne daß irgendeine Abgrenzung ein absolutes Recht hätte. […] Eine Formel, die eine reale Kategorie eindeutig bestimmte, ist nicht möglich, da die Unergründlichkeit des Lebenszusammenhangs für das begriffliche Denken in jeder Kategorie wiederkehrt. Und die Ordnung derselben ist nicht zu bestimmen, da man gleichsam an ganz verschiedenen Zipfeln diesen Zusammenhang erfassen kann.«868
Damit sind wohl sämtliche Vorzüge der Kantischen Kategorientafel, die wesentlich deren intellektuellen Reiz ausmachen, abgeräumt. Die Realkategorien, die »Kategorien des Lebens«, als welche Dilthey sie auch bezeichnet, sind hingegen: – – – – – –
undefinierbar; nicht eindeutig voneinander abgrenzbar; nicht zählbar; sie besitzen kein Kriterium ihrer Vollständigkeit; über ihre Rolle und Funktion lässt sich keine abschließende Klarheit gewinnen; sie lassen sich (anders als Kants Tafel) in ganz verschiedene systematische Anordnungen bringen.
Diesen recht erheblichen Zumutungen steht ein relativer Vorteil gegenüber. Da die Kategorien des Lebens geradezu als Friktionsstellen zwischen Wirklichkeit und Denken angelegt sind, beweist ihre Widerständigkeit gegenüber dem Versuch einer begrifflichen Durchdringung bereits deren objektive Gültigkeit. Eine metaphysische Deduktion erübrigt sich. Diesen Schnittstellen-Charakter der Lebenskategorien bringt Dilthey auch dahingehend zum Ausdruck, dass er sie als »Organe alles Verständnisses von Wirklichem für uns« anspricht.869 Alle angeführten Beschränkungen ergeben sich dabei, das ist bei aller mit ihnen verbundenen Resignation einzuräumen, doch konsequent aus den bereits erläuterten theoretischen Weichenstellungen der Philosophie des Lebens. Insbesondere die malität bestimmt als Mangel an Wirklichkeitsbezug überhaupt, das andere Mal als unspezifischer Bezug auf Wirklichkeit überhaupt. 868 GS XIX, 362. 869 GS XIX, 360. Die konstitutive Dimension scheint hier schwächer ausgeprägt als in der Kantischen Theorie, da nur auf ihre Rolle für das »Verständnis« eines (offenbar ohnehin bestehenden) Wirklichen hingewiesen wird.
272
Kategorien des Lebens
Unmöglichkeit mittels des Denkens aus dem Lebenszusammenhang auszusteigen, um ihn sich gleichsam »von außen« vollständig gegenständlich zu machen, scheint die derart begrenzte Systematisierbarkeit der Lebenskategorien zur einsichtigen Konsequenz zu haben. Somit bildet sich durch die Unterscheidung von bloß formalen, reinen Verstandeskategorien und realen, materialen Lebenskategorien Kants Form/Inhaltsdualismus in Diltheys Kategorienlehre auf eigentümliche Weise ab, den er andererseits in Form der Lehre von den zwei Stämmen der Erkenntnis (Sinnlichkeit und Verstand) deutlich ablehnt.870 Dabei sind es insbesondere gewisse »Zusätze«, die Kant mit der Form/Inhaltunterscheidung verknüpft, die Dilthey nicht teilt. So vor allem die eindeutige und ausschließliche Zuordnung von bloßer Mannigfaltigkeit zur Empfindungsseite und von Einheit, Ordnung und Struktur zur Verstandesseite.871 Von welchen Realkategorien ist aber nun genau die Rede? Eine kompakte Liste bietet Dilthey nicht, anders lassen es die Vorankündigungen der Eigenart dieser Kategorien auch nicht erwarten. Folgende finden Erwähnung: – GS I: – GS XIX:
Ding (398) Wirken & Leiden (354, 368ff) Lebenseinheit & Ding / Subjekt & Objekt (359f, 363) Selbigkeit (362ff) Essentialität/Wesen, Zweck, Wert, Sinn, Bedeutung (374ff) (lediglich »Lebensbegriffe« sind:) Abbilden (386) Freiheit / innere Lebendigkeit (387) Haben, Besitzen, Zugehören (387) Herrschaft, Machtsphären (388) – GS VII: Zeit, Dauer (229ff) Bedeutung (232ff) Gestaltung, Ideal (232) Zweck (232, 236) Struktur (237) Bedeutsamkeit, Wert (238) 870 GS XIX, 340 (»Diese Unterscheidung [von Form und Materie] ist durch Kant und seine Schule sehr notorisch geworden. Aber etwas ihr Entsprechendes findet sich in jeder Erkenntnistheorie und muß sich in ihr finden.«); seine Kritik formuliert Dilthey vor allem in der Abhandlung »Erfahren und Denken«, vgl. GS V, 80 (»das Nebeneinander der Empfindungen und der [sic] Logismus ist nicht durch erkenntnistheoretische Analysis aufgelöst: die Erfahrungselemente und das Denken liegen starr nebeneinander«); KrV B 29. 871 Vgl. GS XIX, 341; GS V, 78f (»So werden wir durch die Tatsachen selbst zu dem Postulat einer Immanenz der Ordnung oder Form in dem Stoff unserer Erfahrungen geführt. Die falsche Sonderung des Stoffes der Eindrücke von den Formen des zusammenfassenden Anschauens und Denkens, […] diese ganze Erneuerung des psychischen Dualismus muß aufgehoben werden.«).
Formal- und Realkategorien
273
Werte (241) Das Ganze und seine Teile (243f) Entwicklung, Wesen, Individualität (244) Fruchtbarkeit (289) Kraft (290)
Das durch diese Kategorien des Lebens aufgespannte Feld stellt man sich am besten als Ebene vor, auf der sich Kreise mit unterschiedlichen Radien und unscharfen Rändern verschieden weit überlappen und zum Teil auch vollständig ineinander oder vollständig außerhalb einander liegen. Besonders herausgehoben behandelt Dilthey die Kategorie der Bedeutung. Die Kategorien der Struktur, der Bedeutsamkeit, des Werts stellt er als ihr zu- und untergeordnet dar.872 Den Lebensbegriffen weist er im Unterschied zu den Lebenskategorien eine lediglich regionale Bedeutung zu.873 Auch wenn Dilthey eine endgültige und eindeutige Ordnung der Lebenskategorien als sachunangemessen ablehnt, stellt er sie doch, dem Impuls zur Systematisierung vorsichtig nachgebend, als abgestuft hinsichtlich ihrer Relevanz und als in gewisse inhaltliche Zusammenhänge und Gruppen gegliedert dar. Ebenfalls mit besonderem Nachdruck hebt Dilthey die Bedeutung der Zeit für die Lebensprozesse und abgeleitet auch für die geisteswissenschaftliche Begriffsbildung hervor.874 In diesem Ausschnitt des Kategorienfeldes nennt er außerdem: Kontinuität, Erinnerung, Dauer, Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft, Entwicklung. Mit Blick auf »Gleichzeitigkeit, Aufeinanderfolge, Zeitabstand, Dauer, Veränderung« konstatiert Dilthey eine gewisse Gemeinsamkeit mit den zeitlichen Verhältnissen der sinnlichen Gegenstände und entsprechend auch mit den Objekten der Naturwissenschaften, während er hingegen Bedeutungszusammenhänge relativ scharf von Kausalrelationen abgrenzt.875
872 Vgl. GS VII, 232 (»Bedeutung ist die umfassende Kategorie, unter welcher das Leben auffaßbar wird.«), 237–239. 873 Vgl. GS XIX, 386–388; VII, 239 (hier scheint es zwischen beiden hingegen keinen Unterschied zu geben). 874 »In dem Leben ist als erste kategoriale Bestimmung desselben, grundlegend für alle andern, die Zeitlichkeit enthalten.« (GS VII, 192). Die Dynamik und die Einmaligkeit des Geschehens stellen für die geisteswissenschaftliche Begriffsbildung die wesentlichsten Herausforderungen dar (GS VII, 280: »das eigentliche Problem der geschichtlichen Methode«). Die platonische Lösung dieses Problems ridikülisiert er in einer Randbemerkung zu Husserls Aufsatz »Philosophie als strenge Wissenschaft«: »Echter Plato! der erst die werdenden fließenden Dinge im Begriff festmacht und dann den Begriff des Fließens zur Ergänzung danebensetzt.« (Misch 1924: cxii; diese Bemerkung bezieht sich auf Husserl 1911: 316). Größtes Gewicht legt auch F. A. Trendelenburg auf die Kategorie der Bewegung, die ihm als Scharnier von Logik und Metaphysik, Denken und Sein dient (vgl. Trendelenburg 1870: 141ff; Lehmann 1953b: 75; Herbart 1993: 204ff). 875 GS VII, 193, 228.
274
4.2
Kategorien des Lebens
Genese und Status der Lebenskategorien
Verschiedentlich weist Dilthey darauf hin, dass die Lebenskategorien nicht als Bestandteile eines apriorischen Kognitionsapparates aufgefasst werden können.876 »Das a priori Kants ist starr und tot; aber die wirklichen Bedingungen des Bewußtseins und seine Voraussetzungen, wie ich sie begreife, sind lebendiger geschichtlicher Prozeß, sind Entwicklung, sie haben ihre Geschichte, und der Verlauf dieser Geschichte ist ihre Anpassung an die immer genauer induktiv erkannte Mannigfaltigkeit der Empfindungsinhalte. Das Leben der Geschichte ergreift auch die scheinbar starren und toten Bedingungen, unter welchen wir denken. Nie können sie zerstört werden, da wir durch sie denken, aber sie werden entwickelt.«877
Deutlich hervorzuheben ist, dass Dilthey offenkundig nicht etwa die Kantische Frage nach den (logischen) Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung anders beantwortet als Kant selbst, sondern eine andere Frage aufwirft. Ihn interessieren die »wirklichen Bedingungen des Bewußtseins« und das sind bei ihm nicht ausschließlich logische, sondern in erster Linie psycho- und biologische. Wenn er also die Bedingungen des Bewusstseins als im Leben gegeben betrachtet, dann stellen die Kategorien des Lebens deren inhaltliche Artikulation dar.878 Sie repräsentieren demnach den jeweils erreichten Zwischenstand in einem denkbar groß angelegten (sowohl onto- als auch phylogenetischen) Lernprozess.879 Damit artikulieren sie die Wirklichkeitsauffassung einer psychophysischen Lebenseinheit zu einem gegebenen Zeitpunkt, mithin die ihr nach ihrer Vorgeschichte und ihrem Selbstverständnis offenstehenden Erfahrungs-, Handlungs- und Denkmöglichkeiten. Gegen deren Apriorizität spricht bereits der Umstand, dass sie eine (rekonstruierbare) Entwicklungsgeschichte besitzen und dass sie nicht hinreichend epistemisch durchsichtig sind.880 Dieses letzte Kriterium gilt relativ zur Klarheit, Eindeutigkeit und Stabilität der formalen Kategorien.881 Gleichwohl 876 GS I, xviii (»Nicht die Annahme eines starren a priori unseres Erkenntnisvermögens, sondern allein Entwicklungsgeschichte, welche von der Totalität unseres Wesens ausgeht, kann die Fragen beantworten, die wir alle an die Philosophie zu richten haben.«). 877 GS XIX, 44. 878 »The knowledge which we have (including the knowledge of mind itself) is not the result of a deduction of transcendental forms, but the distilled product of man’s cumulative experience. The proper critical approach to consciousness is not only empirical but historical, for knowledge is developmental in character.« (Ermarth 1978: 151). 879 Dieses Programm, man könnte es als »induktive Metaphysik« bezeichnen, hat Dilthey ebenfalls nicht durchgeführt. Als Illustration der Form eines solchen Lernprozesses eignet sich etwa Peter Kraussers kybernetische Lösung des Humeschen Induktionsproblems (vgl. Krausser 1961: 465, 472f; Krausser 1968: 187–192). 880 Vgl. GS I, 400; GS XIX, 364; siehe Abschnitt 2.4.1. 881 Damit setzt Dilthey voraus, dass diejenigen Kategorien mittels derer wir denken, auch selbst relativ unproblematisch erkennbar sein müssten. Verschiedene Formen der Betriebs-
Genese und Status der Lebenskategorien
275
gibt Dilthey die (vermeintlich Kantische) Frage nach den Bedingungen und Voraussetzungen des Bewusstseins offenbar nicht auf, die Erwartung, dass sie sich ein für alle Mal und zudem mit apodiktischem Anspruch beantworten ließe, jedoch schon.882 Diltheys Apriori ist demnach, so die Bestimmung ex negativo im Vergleich mit der Kantischen Transzendentalphilosophie, ein »historisches«883 bzw. ein »relatives«884. Eine saubere Trennung (und sei sie rein begrifflich) in die zwei Faktoren einer sinnlich vermittelten, chaotischen Mannigfaltigkeit und mit dem Subjekt gegebenen Einheits- und Ordnungsfunktionen (Kategorien) ist undurchführbar und von der Erfahrung nicht gedeckt. Zu der Kantischen Unterscheidung von Inhalt und Form stehen die Lebenskategorien eigentümlich quer, indem sie materiales Wissen über die Wirklichkeit mit ordnungsbildender Struktur verknüpfen.885 Als wichtigen Impulsgeber bei der Umformung des Kantischen Kategoriensystems in eine für die geisteswissenschaftliche Arbeit brauchbarere Richtung führt Dilthey einen Denker an, für den er ansonsten kaum ein gutes Wort übrig
882 883 884
885
blindheit (das Auge, das sehend das eigene Sehen nicht zugleich sehen kann) sprechen dagegen, dies anzunehmen. Da Dilthey mit den formalen Kategorien allerdings Beispiele für vollständige Durchsichtigkeit vorliegen, kann er meinen, diesen Einwand nicht berücksichtigen zu brauchen. Die Frage nach apriorischen Begriffen oder Verstandesfunktionen in ihrer ursprünglichen Kantischen Form hält Dilthey für transzendent, d.i. für unbeantwortbar (vgl. GS VIII, 259f). Vgl. Ermarth 1978: 157f. Vgl. Krausser 1968: 63f. Sehr instruktiv und sachlich weiterführend ist in dieser Frage Theodor Litts Untersuchung zum Allgemeinen im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, in der er Dilthey eine Zwischenposition zwischen einer bloßen (metaphysikfreien, quasi-positivistischen) Beschreibung der Tatsachen des Bewusstseins und einer anspruchsvollen transzendentalen Konstitutionslehre zuschreibt. Dabei artikuliert er den bei Dilthey lediglich angelegten Gedanken einer Verschränkung von apriorischem und nichtapriorischem Wissen, wodurch auch das apriorische Wissen durch seine Verknüpfung mit dem nicht-apriorischen gleichsam einen historischen Index erhält und nicht mehr als »zu einer logischen ›Schicht‹ verselbstständigt [gedacht werden kann], die in Ablösung von der Fülle und Konkretheit des Nichtapriorischen einer autochthonen Entwicklung und Ausgestaltung fähig wäre.« (Litt 1980: 49; vgl. das Schema auf S. 45). Für Kant gilt das glatte Gegenteil. (»Nun ist Metaphysik, nach den Begriffen, die wir hier davon geben werden, die einzige aller Wissenschaften, die sich eine solche Vollendung und zwar in kurzer Zeit, und mit nur weniger, aber vereinigter Bemühung, versprechen darf, so daß nichts vor die Nachkommenschaft übrig bleibt, als in der didaktischen Manier alles nach ihren Absichten einzurichten, ohne darum den Inhalt im mindesten vermehren zu können.«, KrV A xx). Er hielt einen Abschluss des kritischen Geschäfts »noch vor Ablauf des gegenwärtigen«, d.i. des 18., Jahrhunderts für möglich (KrV A 856/B 884). Hier schlägt sich womöglich ein Motiv Schleiermacherschen Denkens nieder; vgl. GS XIV/1: 112 (»Die in den Kategorien ausgedrückten Funktionen, die Denkregeln sind nicht das von dem Stoff unseres Denkens trennbare apriori, das im Subjekt irgendwie schon enthalten wäre. Sie entstehen aus dem Zusammenwirken beider Faktoren […]«); Ermarth 1978: 157 (»The forms and categories of experience must be brought down from their transcendental heights into the dynamic process of experience itself«).
276
Kategorien des Lebens
hat: Johann Gottlieb Fichte. Warum hier Fichte? Gegeben Diltheys ausführliche Auseinandersetzung mit Hegel, würde man doch erwarten, dass er sich für die Aufgabe einer Dynamisierung des Kategoriensystems sowie der Anreicherung desselben mit historischem Gehalt eher an dessen »Wissenschaft der Logik« wenden würde. Zudem überbietet Fichte den Systematisierungsanspruch Kants, welcher Dilthey bereits uneinlösbar vorkam, noch einmal erheblich, indem er die Deduktion der Kategorien aus einem Prinzip verfolgt. Wenn also nicht vom Fichteschen Deduktionseifer, wovon geht dann der produktive Impuls auf Dilthey aus? »Kants Analysis hatte in den Tiefen des Bewußtseins Formen der Intelligenz, wie sinnliche Anschauung, Kategorien, Schemata der reinen Verstandesbegriffe, Reflexionsbegriffe, theoretische Vernunftideen, Sittengesetz, Urteilskraft aufgefunden, und er hatte ihre Struktur bestimmt. Jede dieser Formen war im Grunde Tätigkeit. Aber dies trat doch erst ganz hervor, als Fichte in Setzung, Entgegensetzung, Zusammenfassung die Welt des Bewußtseins entstehen ließ – überall darin Energie, Fortschreiten aufdeckend.«886
Grob vereinfachend lässt sich also sagen, dass Fichte an die Stelle von Kants zwischen Rezeptivität und Spontaneität vermittelnder Position eine entschiedene Einseitigkeit setzt und die Rezeptivität auf der transzendentalen Ebene auf Spontaneität zurückführt. »Das Ich setzt das Nicht-Ich als beschränkt durch das Ich. […] Das Ich setzt sich selbst, als beschränkt durch das Nicht-Ich.«887 Insofern erklärt Fichte, was bei Kant eine Teilbestimmung war, die Tätigkeit, zum letzten Wesen des Bewusstseins. »An diesem Punkte versteht man Fichtes tiefste Intention. In der angestrengten Versenkung des Ich in sich findet es sich nicht als Substanz, Sein, Gegebenheit, sondern als Leben, Tätigkeit, Energie. Und er hat [damit?, MJT] bereits die Energiebegriffe der geschichtlichen Welt ausgebildet.«888
Was Dilthey hier zustimmend hervorhebt, ist der Gedanke eines »substratlosen Tuns«, negativ ausgedrückt: die Beschränkung der Anwendbarkeit des Substanzbegriffs auf die Welt der äußeren Wahrnehmung.889 886 887 888 889
GS VII, 100f. Fichte 1997: 46f. GS VII, 157. »Die für das gemeine Bewußtsein paradoxe Zumutung der Wissenschaftslehre läuft somit darauf hinaus, der Kategorie der Substantialität die fundamentale Bedeutung zu rauben, welche sie in der naiven, sinnlichen Weltanschauung hat. In dieser denkt man überall ein ›Seiendes‹ als Träger und Ursache der Tätigkeiten: bei Fichte dagegen soll als das Ursprüngliche das ›Tun‹ begriffen werden und das Sein nur als das zweckgesetzte Mittel dafür gelten.« (Windelband 1957: 512, Hervorhebung im Original) An gleicher Stelle referiert Windelband die Polemik Jacobis, der diesen Gedanken mit einem »Stricken nicht etwa des Strumpfs, sondern des Strickens« vergleicht. Aufgegriffen und propagiert wurde das Kon-
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Auf einen weiteren Aspekt und auch auf die spezifische Grenze der Zustimmung Diltheys zu Fichte verweist folgende Stelle: »Es war Fichtes geniale Intuition, die für das Seelenleben, allgemein für den Geist, solche [sc. für die Erkenntnis der menschlich-geschichtlichen Welt geeignete] Begriffe bildete. In ihnen trat Energie an die Stelle von Substanz; Tätigkeiten, die im Geiste auftreten, stehen in Beziehung zu früheren und im Gegensatz zu gleichzeitigen, und so entsteht ein Fortschreiten, das durch die Zeit, die in ihr wirkende Energie, die Einheit, die sich differenziert, möglich wird. Aber nur dies Schema gleichsam von seelischer Dynamik war seine Leistung, die Ausführung selbst heftete sich an kantische Begriffe anstatt an die Wirklichkeit.«890
Hier sieht Dilthey offenbar in Fichtes Deduktion der Kategorien aus einem Prinzip zwar eine Art schematischen Vorgriff auf die Differenzierungs- und Artikulationsprozesse der psychophysischen Lebenseinheit und ihrer seelischen Struktur, doch geht ihm allerdings der entscheidende Wirklichkeitsbezug ab.891 Fichte stellt nach Diltheys Auffassung also die »Welt des Bewusstseins« als das Produkt von seelischen Handlungen, von geistiger Tätigkeit dar. Diesen Vorgang von einer unartikulierten Einheit zur gegliederten Struktur begreift er dabei als proto-historisch: er ist produktiv,892 er ist eine Abfolge von (Tat-)Handlungen, ein Fortschreiten,893 bei dem jeder Schritt auf die Ergebnisse des vorhergehenden aufbaut. »Die Wissenschaftslehre soll sein eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes.«894
Die Genese der Lebenskategorien beschreibt Dilthey – sich hier durch den Anspruch und die Konzeption des Wirklichkeitsbezugs deutlich von Fichte unterscheidend – als Prozess eines Erfahrungserwerbs, als eine Art von akkumuliertem kognitivem Niederschlag aus zahllos wiederholten Erlebnisepisoden von Wechselwirkungsvorgängen zwischen einer Lebenseinheit und ihrem Milieu. Die
890 891 892 893 894
zept des »substratlosen Tuns« insbesondere von Karl Fortlage (vgl. Windelband 1957: 550, 557). J. F. Herbart warnt hingegen vor einer idealistischen Sackgasse: »Wer aber vorwärts gehen will, lege zuerst den weit verbreiteten Irrtum ab, als müßte man die Substanzen scheuen […], und als würde etwas für bessere Einsicht gewonnen, wenn man Kräfte dagegen einführte.«, Herbart 1993: 302, Hervorhebungen entfernt). GS VII, 280. Nohl sieht hingegen gerade in Fichtes Bezug zur Wirklichkeit eine besondere Stärke; vgl. Nohl 1970a:188–191 (»Man muß sich klarmachen, welcher Schritt hier von Fichte getan wird. Bisher hatten alle Philosophen die Wirklichkeit außer sich gehalten.«, S. 190). In dieser von Kant ausgehenden und von Fichte forcierten Fokussierung auf das produktive Vermögen des menschlichen Geistes sieht Dilthey einen entscheidenden Fortschritt in der Geschichte der Hermeneutik (vgl. GS V, 327; GS VII, 217, 234). Hierin sieht Dilthey die Grundlage für den Entwicklungsbegriff Hegels (vgl. GS IV, 54; VII, 101, 110). Fichte 1997: 141; vgl. GS VII, 110.
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Lebenskategorien sind mithin beides: einerseits dezidiert empirische Grundbegriffe, andererseits soll ihnen in gewisser Weise aber auch eine konstitutive Funktion zukommen. Dieser letzte Aspekt verdient dabei besonderes Interesse. Da Dilthey die transzendentale Methode zur Bestimmung der für die Erfahrung konstitutiven Aspekte ablehnt, also den Schluss auf begrifflich isolierbare bzw. eigens konstruierte Elemente und Leistungen, und stattdessen darauf besteht, dass sich die Erkenntnistheorie an das erfahrungsmäßig Aufweisbare hält, steht ihm nur der Weg offen, eine im Unterschied zur Transzendentalphilosophie strikt immanente Theorie der Erfahrungskonstitution zu entwickeln.895 Es ist also damit zu rechnen, dass gewissen (phänomenologisch zugänglichen) Erfahrungsgehalten und Strukturelementen eine (für gewisse andere Vollzüge) konstitutive Rolle zugewiesen wird, ohne dass dabei das Feld des »Erlebbaren« verlassen wird.896 Um den Vorgang des Erwerbs der Kategorien des Lebens zu rekonstruieren, verweist Dilthey auf »anthropologische, ethnologische und historische Tatsachen« sowie auf die Beobachtung der frühkindlichen Entwicklung.897 Sobald das Kind beispielsweise beginnt, einen Unterschied zwischen Sachen und Personen zu machen, sobald es anfängt, Einzelgegenstände und Personen über Situationsgrenzen hinweg als dieselben wiederzuerkennen und ein Bewusstsein personaler Identität auszubilden, zeigt es, dass es eine grundlegende Kenntnis des Lebensbegriffs der »Selbigkeit«898 erlangt hat. Und ähnliches gilt für die Kategorie des »Wirkens und Leidens« für das frühkindliche motorische Erkunden der Umwelt und des eigenen Körpers. Diese Vorgänge beschreibt Dilthey auch als eine Form des Mustererkennens, als eine gewonnene Sensibilität für relativ stabile Formationen im stetig wechselnden Fluss des Geschehens.899 Die Fähigkeit 895 Im Kontext der Frage nach dem Recht unseres Glaubens an die Außenwelt formuliert Dilthey folgende methodologische Maxime: »Die philosophische Begründung dieses Glaubens kann nur dasjenige analytisch darstellen, was in der lebendigen Erfahrung gegeben ist und dann vermittels der in dieser Erfahrung aufgefundenen Bestandteile den Horizont derselben erweitern.« (GS V, 133) Da sich die »lebendige Erfahrung« durch ihren Ganzheitscharakter auszeichnet, der für Dilthey nicht auf die Kombination isolierter Bestandteile zurückzuführen ist, wäre es angemessener, anstatt von »Analyse« an dieser Stelle mit Rudolf Carnap von »Quasianalyse« zu sprechen, ein vom ihm entworfenes Verfahren zur »Analyse« von solchen Ganzheiten (vgl. Carnap 1998: 97–104; zum Verhältnis Carnap – Dilthey mit besonderer Berücksichtigung der Idee des methodischen »Aufbaus« vgl. Damböck 2012a: 80–86; zur Vermittlung Diltheyscher Ideen an Carnap über Herman Nohl in Göttingen vgl. Patzig 1966: 100f). 896 Leider finden sich zu dieser Kernfrage nur sehr vereinzelte Bemerkungen Diltheys. 897 GS XIX, 372; vgl. GS XIX, 363; GS V, 98–100; Hennig 1934: 82–84. 898 Vgl. GS XIX, 362ff. 899 GS VII, 280 (»Es ist als sollten in einem beständig strömenden Fluß Linien gezogen werden, Figuren gezeichnet, die standhielten.«); GS XIX, 7 (»Das Gleichförmige, im Wechsel aufgefaßt, ist der Begriff; die Regel, nach welcher Veränderungen vor sich gehen, ist das Gesetz.«); GS XIX, 361 (»Die Artikulation des Lebens wird in gewissen Zügen oder Linien,
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hierzu wird man wohl den formalen Kategorien zuschreiben müssen, denn andere theoretische Ressourcen stehen in Diltheys Theoriekontext zunächst nicht zur Verfügung.900 Erst viel später wird der Begriffsverwenderin unter gewissen Umständen klar werden, dass diese Lebenskategorien, anhand derer sie sich weitgehend erfolgreich in der Welt orientiert, sich nicht auf saubere Definitionen und untereinander nicht in einen eindeutigen und konsistenten systematischen Zusammenhang bringen lassen. Versuche einer begrifflichen Analyse und definitorischfestlegenden Bestimmung der Lebenskategorien fördern unweigerlich deren flagrante Unsystematizität und latente Inkonsistenz zutage. Angesichts dieser unordentlichen begrifflichen Zustände tritt die Metaphysik auf den Plan, mit dem Anspruch, die Lebenskategorien zu klaren und bestimmten Begriffsgehalten zu vereindeutigen. So versteht Dilthey philosophische Grundkategorien wie »Substanz« und »Kausalität« als metaphysische Rekonstruktionsanstrengungen frühkindlich bzw. unter archaischen Kulturzuständen erworbener, lebensweltlicher Unterscheidungsdispositionen.901 Damit entsteht eine dritte Klasse von Kategorien in Diltheys Theorie. Neben die Realkategorien und die Formalkategorien, treten die metaphysischen Rekonstruktionen der Realkategorien. Sie zielen darauf, die Vorzüge der beiden ersten Kategoriengruppen zu vereinen: die Durchsichtigkeit, Eindeutigkeit und Klarheit der formalen und die Sachhaltigkeit und Fülle der realen Kategorien.902 welche durch sie hindurchgehen, aufgefaßt, unter Absehen von den anderen.«); vgl. Stegmaier 1992: 201. 900 Die entsprechende Kompetenz besteht offenbar nicht in einem (impliziten) Auffassen einer Definition, die sich nachträglich durch die Angabe von notwendigen und hinreichenden Begriffsmerkmalen explizieren ließe und die vorgängig alle denkbaren Gegenstände eindeutig klassifizieren würde. Einschlägig sind hier die verwandten Überlegungen des mittleren und späten Wittgenstein zum Begriffserwerb durch Beispiele (vgl. Wittgenstein 2006: 237–265, 277f, 281–283 (PU §§1–47, 66f, 72–76); Cavell 1999: 168–190), der regelmäßig auf unklare Randfälle führt und die Projektion eines bekannten Ausdrucks in neue Kontexte erfordert. Aufgrund ihrer Affinität in dieser Frage wäre vermutlich beiden die GettierProblematik weder inhaltlich überraschend, noch als sonderlich problematisch in ihren Konsequenzen vorgekommen. 901 Vgl. GS I, 398; V, 105–108, XIX, 369f. 902 Die Konstellation von unbestimmten und unartikulierten Lebensbegriffen und metaphysischen Rekonstruktionen lässt sich, einmal auf sie aufmerksam geworden, in den verschiedensten Kontexten beobachten. Man denke etwa an die Rede von den Eigenschaften Gottes: zunächst im Rahmen gelebter Religiosität, dann in der kodifizierten Form theologisch-dogmatischer Sprachwendungen und schließlich im religionsphilosophischen Destillat der omni-Prädikate der »perfect being theology«. Noch anschaulicher vielleicht im paganen Kontext die Verwendung von δαίμων für die Bezeichnung einer unbestimmten göttlichen Präsenz, deren ausdifferenzierte bzw. identifizierte Form die mit Eigennamen und charakteristischen Zuständigkeitsbereichen versehenen θεοί darstellen. Auch hier ist zu beobachten, wie auf der artikulierten und differenzierten Stufe, latente Inkonsistenzen zu Bewusstsein kommen (Identitätsbedingungen der einzelnen Götter bei regional wechseln-
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Dazu gilt es, den fluiden und unbestimmten Charakter der Lebenskategorien durch begriffliche Abgrenzungen und Festlegungen zu vereindeutigen, zu stabilisieren, zu begradigen. Die auf diesem Weg entstandenen Kategoriensysteme tragen nach Dilthey allerdings bis in die abstraktesten Höhen metaphysischer Systemkonstruktion das Mal ihres chaotischen Ursprungs. Selbst in den sublimsten Kontexten philosophischer Theorienbildung ist ein gelegentliches Flackern der Kategoriengehalte nicht abzustreiten und unter dem Brennglas begrifflicher Analyse tritt deren antinomische Struktur unabweisbar zu tage.903 Vor dem Hintergrund der kantischen Kategorienlehre erscheinen diese Überlegungen Diltheys mit ihrem stark reduzierten Anspruch leicht als unbefriedigend, hinsichtlich möglicher Antinomien womöglich sogar als frivol. Umso bemerkenswerter sind da die Übereinstimmungen bis in frappierende Details mit Ausführungen Werner Heisenbergs, der – selbst zwar keine Autorität auf dem Feld der Kategorientheorie – eine ganz ähnliche Sicht auf die Lebenskategorien »Ding« und »Wirken und Leiden« entwickelt und damit auch auf ihre philosophischen Sublimationen »Substanz« und »Kausalität«. »Alle die Begriffe und Worte, die sich in der Vergangenheit durch das Wechselspiel zwischen der Welt und uns selbst gebildet haben, sind hinsichtlich ihrer Bedeutung nicht wirklich scharf definiert. Damit ist gemeint: wir wissen nicht genau, wieweit sie uns dazu helfen können, unseren Weg durch die Welt zu finden. Oft wissen wir, daß sie in einem sehr weiten Bereich innerer und äußerer Erfahrungen angewendet werden können, aber wir wissen niemals ganz genau, wo die Grenzen ihrer Anwendbarkeit liegen. Dies gilt selbst bei den einfachsten und allgemeinsten Begriffen wie Existenz
den Namen und Eigenschaften; Widersprüche der mythologischen Überlieferung; für den abrahamitischen Gott: die Vereinbarkeit der Gottesprädikate). 903 Vgl. oben (Abschnitt 2.4.1). Wichtiger Gewährsmann für diesen Gedanken ist Johann Friedrich Herbart; vgl. Herbart 1993: 78 (§32: »die Formen der Erfahrung sind wirklich gegeben; aber sie sind von der Art, daß sie widersprechende Begriffe liefern«); vgl. GS V, 170; GS XIX, 366. Bei Nohl findet sich zu dieser Sache (zu dem Versuch, die Lebensprozesse begrifflich zu fixieren) ein wertvoller Hinweis auf Friedrich Schiller (vgl. Nohl 1970a: 174– 176). Es liegt dann nahe, dasjenige, was Nohl bei Schiller als »Polarität des Lebens« anspricht, als Grundlage einer sich in Widersprüchen fortentwickelnden Entwicklungsform des Lebens selbst anzusehen, aus der Hegel und andere schließlich den Gedanken der Dialektik herauslesen: »Damit war das große Werkzeug gefunden, das nun die ganze nächste Generation, soweit sie denkerisch ist, entwickelt: Das Leben ist überall polar und läßt sich nur so dialektisch als Einheit von Gegensätzen verstehen.« (174). Michael Ermarth grenzt Diltheys Auffassung gegenüber Hegels genauer ab. Während dieser eine »Idealdialektik of thought« vertrete, habe Dilthey eine »Realdialektik of concrete forces and tendencies« im Blick (Ermarth 1978: 116). Als zeitgenössische Vertreter einer Realdialektik verweist Ermarth zudem auf Kuno Fischer, Rudolf Haym und Julius Bahnsen (vgl. Ermarth 1978: 366n12). Ein sprechender Buchtitel des Letztgenannten lautet etwa: Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt, 1880/82.
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oder Raum und Zeit. Daher wird es niemals möglich sein, durch rationales Denken allein zu einer absoluten Wahrheit zu kommen.«904
Dem Blick des Philosophiehistorikers erschließt sich zudem, dass auch die Bemühung um diachrone semantische Stabilität nicht vollständig gelingt. In vergleichender Perspektive zeigt sich, dass sich die philosophischen Grundbegriffe von der (nicht stillstellbaren) Entwicklungsgeschichte der Lebenskategorien nur unvollständig haben emanzipieren können. So begegnet auch hier Diltheys grundlegende Überzeugung von der partiellen Inkommensurabilität von Denkund Seinsstrukturen wieder. Der Versuch, die Dynamik und Fülle der realen Lebensprozesse im Medium des Begriffs zu reproduzieren, führt unvermeidbar zu Widersprüchen. Die einzige Alternative dazu läge darin, die Verbindung der philosophischen Kategorien zu den Kategorien des Lebens zu kappen, sofern möglich, und sie in freischwebenden Konstruktionen und vollständiger Sterilität im »armchair« neu zu erfinden. Dies hätte vermutlich allerdings auch die vollständige Unbrauchbarkeit philosophischer Theorien zur Folge. Die Einbettung der Kategorien des Lebens in die Zirkulation der Lebensprozesse und den Strom des Erlebens ist, was nicht wenige Kommentatoren als Spezifikum der Diltheyschen Konzeption hervorheben.905 Das Kategoriensystem verliert so freilich seinen zeitenthobenen Charakter, gewinnt allerdings nach Diltheys Auffassung aber auch nur auf diesem Wege einen belastbaren Wirklichkeitsbezug. Es stellt keinen absoluten Maßstab mehr dar, artikuliert keine »zeitlose[n] Wesensstrukturen«, sondern markiert relative Ruhepole im Strom des Geschehens, Inseln materialer sowie struktureller Stabilität, die der Lebenseinheit und ganzen Kulturen und Gemeinschaften zur Orientierung dienen.906 Plessner bezeichnet sie treffend als »einen zur geschichtlichen Wirklichkeit äußersten Gegenpol«. 904 Heisenberg 1959: 71; vgl. Russell 1912/13. Werner Stegmaier schlägt als Ersetzung der problematischen Substanzkategorie die »Fluktuanz« vor (vgl. Stegmaier 1992: 201, 248: »Eine Fluktuanz ist eine Substanz im Fluß; Fluktuanz ist die Kategorie der Selbständigkeit in einer Philosophie der Inkommensurabilität.«, S. 27). 905 »Diese neue Stellung zum Apriori in seinem Verhältnis zum Aposteriori geschaffen zu haben, ist das Werk Diltheys.« (Plessner 2003: 165); vgl. Ermarth 1978: 157f; Krausser 1968: 63–65. 906 Die von James J. Gibson entwickelten »Kategorien« entsprechen aufgrund ihres empirischen und psychologischen Charakters den Lebenskategorien Diltheys weitgehend. Gibson geht zwar von relativ einfachen Vorgängen visueller Wahrnehmung aus, stellt jedoch in Aussicht, dass sich seine ökologische Theorie der »affordances« bis in die Kultur- und Sozialsphäre hinein weiterführen ließe (vgl. Gibson 2015: 36f, 126f), so scheint auch andersherum Diltheys Theorie der Lebenskategorien, die ihrerseits auf der Ebene der Kulturprozesse ansetzt, prinzipiell offen zu sein für eine Kontaktaufnahme »nach unten«. So ergeben sich beispielsweise aus der durchschnittlichen menschlichen Körpergröße und der Auflösungskraft seiner Sinnesorgane sowie aus der durchschnittlichen Dauer des menschlichen Lebens und den Grenzen seiner Aufmerksamkeitsspanne für beide Autoren (mit unterschiedlichen
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»Kategorien des Lebens sind demnach geschichtlich gewordene Größen von geschichtsbildender Macht. Die Philosophie steht hier auf eine ganz neue Art im Austausch mit der Erfahrung: nicht mehr in starrem Abstand zu oder in Selbstpreisgabe zu Gunsten ihrer Wahrscheinlichkeitserkenntnis, auch nicht mehr als Verklärung und Verewigung der Erfahrung im Sinne Hegels, sondern im Kreislauf mit ihr in ihn selbst eingeschaltet, eine selbst unabgeschlossene Theorie unabgeschlossener geschichtlicher Vergangenheit.«907
Ohne einen übergeschichtlichen Maßstab lässt sich die Frage, ob gewisse Kategorien bzw. ihre historischen Konkretionen die Wirklichkeit besser als andere treffen oder nicht, kaum sinnvoll stellen. (Eine Frage, die für die Kantischen Kategorien überhaupt nicht entstehen kann, allenfalls für die empirischen Begriffe. Eine Unterscheidung, die bei Dilthey flüssig wird.) Die angemessene Perspektive ist auch hier wieder eine immanente. Die Güte eines »Systems« von Lebenskategorien bemisst sich an dessen Fruchtbarkeit, an der Kunstgerechtheit der »Zergliederung der Wirklichkeit«908, die möglichst vielfältige Anschlussoperationen erlaubt und die für die Zwecke und (Orientierungs-)Bedürfnisse einer Gemeinschaft mehr oder weniger hilfreich sein kann. Angedeutet wurde bereits, dass durch Diltheys immanente Anlage seiner Kategorienlehre der Bereich des Apriori und der des durch das Apriori Ermöglichten nicht länger in eigenständige Bereiche zerfällt werden kann. Gleichwohl gibt Dilthey den Anspruch, Konstitutionsverhältnisse zu erfassen, auch nicht vollständig auf, um sich etwa strikt auf seine Maxime »Analyse und Description!« zurückzuziehen.909 Dieses eigentümliche Ineinander des Begründenden und Begründeten wird durch Theodor Litt aufgegriffen und fortgeführt. »Es würde kein nicht-apriorisches Wissen geben, wenn es nicht die ›Voraussetzungen‹ gäbe, auf denen es fußt: diese aber sind die vom apriorischen Wissen gewußten Voraussetzungen. Es würde aber auch kein apriorisches Wissen geben, wenn es nicht die Voraussetzungen gäbe, um die es weiß: diese aber sind die vom nicht-apriorischen
Akzenten) »natürliche« Maßstäbe räumlicher und zeitlicher Verhältnisse, die mit den Standardeinheiten der Physik zunächst nichts zu tun haben (vgl. Gibson 2015: 5–8; für Dilthey siehe Abschnitt 4.2.1). Ähnliches ist prima facie auch für die anderen von Gibson diskutierten Kategorien zu erwarten. Johannes Hennig entwickelt von Humboldt her »physiognomische, dynamische und physiologische« Kategorien (vgl. Hennig 1934: 62–69). 907 Plessner 1990/91: 295f (Hervorhebung hinzugefügt). 908 Platon, Phaidros 265e: »κατ᾽ εἴδη διατέμνειν κατ᾽ ἄρθρα πέφυκεν« (siehe Anhang). Georg Misch berichtet: »Das, was Dilthey seinen Schülern zu geben hatte, sprach er so aus: ›Ich habe versucht, ihnen Methoden der Forschung mitzuteilen – die Zergliederungskunst der Wirklichkeit, die den Philosophen macht, das historische Denken.« (Misch 1947: 31). 909 Eduard Spranger erinnert, wie Dilthey diese Formel in einem seiner letzten Seminare (1901) mantra-artig wiederholte (vgl. Spranger 1966: 151).
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Wissen gemachten Voraussetzungen. Hier ist eins nur mit dem anderen und durch das andere.«910
Die Historisierung des Apriori und seine Integration in den Bereich des Erlebbaren scheinen keine besonders attraktiven systematischen Aussichten zu eröffnen, laufen sie doch ziemlich unvermeidlich auf eine zugleich relativistische und psychologistische Kategorientheorie hinaus. Vom Standpunkt des Lebens zu philosophieren hat, das haben die Rekonstruktionen bis hierin immer wieder ergeben, auch zur Konsequenz, sich weniger an theoretischen Wünschbarkeiten als an endlichkeitssensiblen Machbarkeiten zu orientieren. Ein sinnvoller, und das heißt zumindest: ein operationalisierbarer Maßstab hält Kontakt zu den Möglichkeiten und Grenzen, die mit dem »status humanitatis« einhergehen.911 Relativistische und psychologistische Tendenzen sind nicht bereits als solche Anzeichen der Falschheit einer Theorie, wenn auch vielleicht ihrer Unerfreulichkeit. Da auch Dilthey den Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht in Frage stellt, mit diesem allein jedoch noch nicht viel erreicht ist, gilt es vielmehr vom Ende her den Grad der Relativität zu bestimmen. Die Frage, »Wie idiosynkratisch oder wie konsensuell werden die Ergebnisse eines Forschungsprojekts am Ende ausfallen?«, ist nämlich, sofern keine apriorische Versicherung gegen Relativismen zu Gebote steht, eine empirische und damit offene. Ein Risiko, das einzugehen sich möglicherweise lohnt (bzw. das zu vermeiden, man sich mitunter nicht leisten kann). Dabei könnte sich herausstellen, dass der Bezug auf Strukturen des Lebens, auch wenn immer nur aus einer subjektiven und individuellen Perspektive vollziehbar, letztlich doch eine erstaunlich robuste Objektivität entwickelt. Inwiefern sich die relativ zur bisher erarbeiteten Lesart zumindest anfangsplausiblen Interpretationsansätze der Lebenskategorien bewähren, wird sich an der Erschließung einzelner und konkreter Lebenskategorien zeigen. Im Folgenden geben wir allerdings statt einer erschöpfenden Darstellung der Lehre von den Lebenskategorien nur einige knappe, exemplarische Skizzen zu drei zentralen Kategoriefeldern: Zeit, Bedeutung, Kraft. Nicht nur dass sich in diesen Grundbegriffen gleichsam die Organe des Wirklichkeitsverständnisses der psychophysischen Lebenseinheit ausbilden, mittels ihrer erfolgt mittelbar ebenfalls der Aufbau der geschichtlichen Welt. Insofern orientiert sich die Rekonstruktion 910 Litt 1980: 47. Litt verwendet den Ausdruck »Voraussetzungen« offenbar im engeren, logischen Sinn. 911 GS XIX, 276. Der Begriff des Wissens beispielsweise, der nach der Standarddefinition Wahrheit umfasst, ist für fallible Wesen strenggenommen (in den allermeisten Kontexten) definitiv nicht operationalisierbar. Das zu ignorieren, führt regelmäßig zu ausgesprochen unfruchtbaren Theorien. (Damit ist aber keineswegs behauptet, dass der Wissensbegriff aufzugeben sei oder in sich problematisch wäre.) Zur »Methode des Operationalisierens« siehe Gebauer 2009: 81–85.
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der Lebenskategorien auch bereits an der übergeordneten Frage nach dem historischen Bewusstsein, dem das letzte Interesse dieser Untersuchung gilt.
4.2.1 Zeiterleben und Zeitdimensionen »I delight sensually in Time, in its stuff and spread, in the fall of its folds, in the very impalpability of its grayish gauze, in the coolness of its continuum.« Vladimir Nabokov, Ada or Ardor: A Family Chronicle
Die Zeit ist der Angelpunkt aller Lebenskategorien. »In dem Leben ist als erste kategoriale Bestimmung desselben, grundlegend für alle anderen, die Zeitlichkeit enthalten.«912 Diese Auszeichnung der Zeitlichkeit erscheint nur konsequent, führt man sich vor Augen, dass Dilthey den Lebensprozess selbst als Umsatzvorgang innerhalb der seelischen Struktur, also zwischen Vorgängen des Wollens, Fühlens, Vorstellens, und zwischen der Lebenseinheit und ihrem Milieu einführt.913 Auch wenn sich die Lebenskategorien nach Dilthey prinzipiell nur mehr oder weniger rhapsodisch aufsammeln lassen, bietet ihr Bezug zur Zeitlichkeit dennoch ein gewisses strukturierendes Potenzial, insofern dieser eben »grundlegend für alle anderen [kategorialen Bestimmungen]« des Lebens ist. Wie aber lassen sich der formalen Struktur eines bloßen zeitlichen Nacheinanders gehaltvolle kategoriale Bestimmungen abgewinnen? Entscheidend ist offensichtlich, welcher Zeitbegriff hier aufgerufen wird. »Zeit ist für uns da, vermöge der zusammenfassenden Einheit unseres Bewußtseins. Dem Leben und den in ihm auftretenden äußeren Gegenständen sind die Verhältnisse von Gleichzeitigkeit, Aufeinanderfolge, Zeitabstand, Dauer, Veränderung gemeinsam. Aus ihnen sind auf der Grundlage der mathematischen Naturwissenschaft die abstrakten Beziehungen entwickelt worden, die Kant seiner Lehre von der Phänomenalität der Zeit zugrunde gelegt hat. Dieser Rahmen von Verhältnissen umspannt, aber erschöpft nicht das Erlebnis der Zeit, in welchem ihr Begriff seine letzte Erfüllung findet.«914
912 GS VII, 192; vgl. GS VII, 229: »Dieses Leben ist immer und überall örtlich und zeitlich bestimmt – lokalisiert gleichsam in der raum/zeitlichen Ordnung der Abläufe an Lebenseinheiten.«. 913 Vgl. Plessner 1975: 171–180 (»Die Zeithaftigkeit des lebendigen Seins«; S. 180: »Lebendiges Sein […] Ein Sein, das – in sich vermittelt – (unter dem Bilde des unendlichen Kreislaufs oder der ruhigen Flamme) die beständige Überführung vom einen in den anderen Modus der Zeit und die Einheit der Überführung, d. h. Gegenwart, bedeutet.«, Hervorhebung entfernt). 914 GS VII, 192f (Hervorhebung im Original).
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Auch an dieser Stelle kommt also Diltheys methodologische Maxime zum Tragen: »Leben ist das erste und immer Gegenwärtige, die Abstraktionen des Erkennens sind das zweite und beziehen sich nur auf das Leben.«915 So lassen sich bereits zwei Zeitbegriffe unterscheiden: eine Zeitordnung des Lebens und eine der äußeren Gegenstände. Beiden gemeinsam ist eine Reihe formaler Relationen: Gleichzeitigkeit, Aufeinanderfolge, etc. Die wesentliche Differenz besteht darin, dass der eine Zeitbegriff dem »Erlebnis der Zeit« entspringt, während der andere aus diesem durch Abstraktionsvorgänge die objektive Zeit physikalischer Vorgänge herausdestilliert. Im Folgenden bezeichnen wir (mit Hans Blumenberg) die Zeitordnung des Lebens als »Lebenszeit«, womit die Zeit als Lebenskategorie angesprochen sei, und die Zeitordnung der äußeren Gegenstände als »Weltzeit«.916 Insofern die Weltzeit eine Abstraktion aus der Fülle der Lebenszeit darstellt, ist davon auszugehen, dass sich ihr Gehalt in den Bestimmungen erschöpft, die beiden gemeinsam sind. Demnach ist sie zu betrachten als das bloße Nacheinander, als ein restlos neutralisiertes und homogenisiertes quantifizierbares Kontinuum, das wir gewohnt sind, als unabhängige Variable in die Differentialgleichungen der Physik einzusetzen und uns als »eine ins Unendliche fortgehende Linie [vorzustellen], in welcher das Mannigfaltige eine Reihe ausmacht, die nur von einer Dimension ist«.917 Insbesondere Ernst Cassirer ist es zu verdanken, mit seinen Untersuchungen diesen Abstraktionsvorgang zur Gewinnung der Weltzeit in seiner Unwahrscheinlichkeit und Aufwendigkeit allererst sichtbar gemacht zu haben.918 Die Herausarbeitung der Weltzeit ist zweifelsfrei als Kul915 GS I, 148. 916 Vgl. Blumenberg 1986: 69ff. Übernommen werden lediglich die Ausdrücke Blumenbergs, die mit ihnen bezeichneten Begriffe ergeben sich aus der Rekonstruktion. Offenkundig besteht zudem eine sachliche Nähe der Lebenszeit zur »A series« und der Weltzeit zur »B series« (vgl. McTaggart 1908: 458). Auch die Unterscheidung von »naturwissenschaftlicher« und »historischer Zeit«, wobei unter jener »abstrahierte und wiederholbare Zeit bzw. Zeitabschnitte« und unter dieser hingegen eine »individualisierende« Zeit zu verstehen sind, entspricht dem hier besprochenen Sachverhalt (Heuss 1959: 15). Der früheste Heidegger hält den hier verhandelten Unterschied (und zwar unter Rückgriff auf den Lebensbegriff) folgendermaßen fest: »Die Zeiten der Geschichte unterscheiden sich qualitativ. […] Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft hat somit gar nichts von dem homogenen Charakter des naturwissenschaftlichen Zeitbegriffs. Die historische Zeit kann deshalb auch nicht mathematisch durch eine Reihe ausgedrückt werden, da es kein Gesetz gibt, das bestimmt, wie die Zeiten aufeinanderfolgen. Die Zeitmomente der physikalischen Zeit unterscheiden sich nur durch ihre Stelle in der Reihe; die historischen Zeiten folgen zwar auch aufeinander, sonst wären sie überhaupt nicht Zeiten, aber jede ist in ihrer inhaltlichen Struktur eine andere. Das Qualitative des historischen Zeitbegriffes bedeutet nichts Anderes als die Verdichtung – Kristallisation – einer in der Geschichte gegebenen Lebensobjektivation.« (Heidegger 1916: 187, Hervorhebungen entfernt). 917 KrV B 50. 918 Vgl. Cassirer 2010a: 123–166, Ders. 2010b: 183–217.
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turleistung ersten Ranges anzusehen, ohne die weder die Entstehung der modernen Naturwissenschaften noch die Erstellung präziser Bahnfahrpläne möglich gewesen wäre. So mag es überraschend wirken, dass Dilthey es für geboten hält, die philosophische Reflexion der Arbeit der Geisteswissenschaften stattdessen beim »Erlebnis der Zeit«, also bei der vermeintlich vorwissenschaftlichen Lebenszeit, ansetzen zu lassen, – wenn dieses Vorgehen aus seinem Umgang mit dem Verhältnis von primären Realkategorien und deren metaphysischen Rekonstruktionen nicht bereits vertraut wäre. Sich nicht an das primäre Phänomen gehalten zu haben, sondern seiner Transzendentalphilosophie die abgeleitete abstrakte Struktur einer bloß formalen Weltzeit zugrunde gelegt zu haben, wertet Dilthey als empfindliche Schwäche der Kantischen Philosophie. Doch um welche im Zeiterleben implizit gegebenen Gehalte und Strukturen, von denen im Übergang zur Weltzeit gerade abgesehen wird, geht es ihm dabei? »Hier [sc. im Erlebnis der Zeit] wird die Zeit erfahren als das rastlose Vorrücken der Gegenwart, in welchem das Gegenwärtige immerfort Vergangenheit wird und das Zukünftige Gegenwart. Gegenwart ist die Erfüllung eines Zeitmomentes mit Realität, sie ist Realität im Gegensatz zur Erinnerung oder zu den Vorstellungen von Zukünftigem, die im Wünschen, Erwarten, Hoffen, Fürchten, Wollen auftreten. Diese Erfüllung mit Realität oder Gegenwart besteht beständig, während das, was den Inhalt des Erlebens ausmacht, sich immerfort ändert. […] So sind die Teile der erfüllten Zeit nicht nur qualitativ voneinander unterschieden, sondern wenn wir von der Gegenwart aus rückwärts auf Vergangenheit blicken und vorwärts auf Zukunft, so hat jeder Teil des Flusses der Zeit, abgesehen von dem, was in ihm auftritt, einen verschiedenen Charakter.«919
Das Zeiterleben wird hier beschrieben als strukturiert sowohl durch das kontinuierliche »Vorrücken der Gegenwart«, die wiederum eingespannt ist in die Horizonte von Vergangenheit und Zukunft, als auch durch verschiedene »intentionale Einstellungen«, die das Erleben der Zeit jeweils eigentümlich organisieren. Wovon abstrahiert demnach die Weltzeit? Diltheys Beispiele verallgemeinernd und übereinstimmend mit den Befunden Cassirers und Heideggers lässt sich sagen: von der gesamten Dimension der qualitativen Bestimmungen und Ausdifferenzierungen der Zeit (zugunsten rein quantifizierbarer Verhältnisse).920 Eine ganz grundlegende qualitative Auszeichnung kommt dabei der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit und Zukunft als Augenblick der »Er919 GS VII, 193. Eindeutig ist hier die »A series« gemeint (vgl. McTaggart 1908: 458). 920 Cassirer 2010a: 140 (»Für den Gang, den die theoretische Erkenntnis, den die Mathematik und die mathematische Physik nimmt, ist es bezeichnend, daß in ihm der Gedanke der Homogenität der Zeit sich immer schärfer durchbildet und herausarbeitet. Kraft dieses Gedankens kann erst das Ziel der mathematisch-physikalischen Betrachtung, kann erst die fortschreitende Quantifizierung der Zeit erreicht werden.«).
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füllung mit Realität« zu, die sich entsprechend auf dem neutralisierten und homogenisierten Zeitstrahl der Weltzeit nicht wiederfindet. Das Zeiterleben ist zeitlich situiert. »Jeder Weltpunkt ist durch seine Raum-Zeitkoordinaten x1,x2,x3,x4 bestimmt; aber diese bedeuten hierbei einfach numerische Werte, die sich durch keine Sondercharaktere mehr voneinander unterscheiden und die demgemäß auch miteinander vertauschbar sind. Für die mythisch-religiöse Weltansicht aber wird die Zeit niemals zu einem derartigen gleichförmigen Quantum, sondern ihr ist sie, so universell sich schließlich ihr Begriff gestalten mag, nach wie vor als ein eigentümliches ›Quale‹ gegeben.«921
Eine solche besonders prägnante mythisch-religiöse qualitative Ausdifferenzierung der »Zeiten« findet sich etwa im Buch Kohelet: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit […].«922
Die komplexe qualitative Ausdifferenzierung der Zeit in verschiedene Zeiten, wie sie im Rahmen einer mythisch-religiösen Weltanschauung besonders anschaulich gegeben ist, (man denke nur an die verschiedenen Fest- und Fastenzeiten, an den Wechsel der Jahreszeiten und die gravierende Veränderung der Lebensform, die er in Agrargesellschaften bedeutet,) verunmöglicht geradezu den Gedanken einer prinzipiellen Austauschbarkeit jedes Zeitpunkts durch jeden anderen. Da es Dilthey offenkundig nicht um eine Regression auf den Stand eines vormodernen, noch nicht entzauberten Welt- und Zeiterlebens zu tun ist, gilt es, sein systematisches Anliegen von den kulturgeschichtlichen und ethnologischen Beobachtungen abzuheben. Mit Blick auf dieses bleibt festzuhalten: (1) Grundlegend für die philosophische Reflexion der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit und der sie theoretisch erschließenden Geisteswissenschaften sind die kategorialen Bestimmungen, die im Erleben der Zeit gegeben sind. (2) Die (objektiv-physikalische) Weltzeit wird (entsprechend dem Verhältnis von Realkategorie und metaphysischer Rekonstruktion) betrachtet als Sublimierungsprodukt, als Ergebnis eines Abstraktionsprozesses, in dem von der qualitativen Ausdifferenzierung des Zeiterlebens nahezu vollständig abgesehen wird. Sie kommt daher als Ausgangspunkt einer prinzipiellen philosophischen Selbstbesinnung (contra Kant) nicht in Frage.
921 Cassirer 2010a: 140. 922 Koh. 3, 1–4 (Lutherübersetzung, revidiert 2017).
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(3) Die qualitative Ausdifferenzierung der Zeit ist keineswegs an eine mythischreligiöse Weltsicht gebunden, (auch wenn eine kulturgeschichtliche Tendenz zur Einebnung der qualitativen Einebnung der Räume und Zeiten nicht abzustreiten ist,) sondern gründet im Zeiterleben selbst (etwa in der qualitativen Differenzierung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und lässt sich im Rahmen einer geeigneten (d.i. Struktur-)Psychologie relativ allgemeingültig explizieren. Die Umstellung von der Weltzeit auf die Lebenszeit als Teil einer philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften hat unmittelbar Konsequenzen für die historische Hilfswissenschaft der Chronologie. Sie gibt der Geschichtsschreibung durch die Gewinnung gehaltvoller Kategorien ein aussagekräftigeres und bedeutungsvolleres Gerüst zur Erfassung, Gliederung und nicht zuletzt zur Darstellung zeitlicher Abläufe, sei es im Rahmen der politischen oder der Geistesgeschichte, an die Hand. Die zeitliche Struktur »geistiger Bewegungen« etwa, also von charakteristischen Verschiebungen auf der Ebene des subjektiven und objektiven Geistes, nach Stunden und Minuten, nach Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten anzugeben, ist zweifelsohne eine nützliche und allgemein verständliche Konvention. Zwischen der dargestellten Sache und den verwendeten Maßeinheiten besteht dabei jedoch keinerlei inhaltliche Verbindung, so könnten diese prinzipiell durch (fast) beliebig andere ersetzt werden.923 In einem recht frühen Text (Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, 1875), einer wichtigen Vorstudie zur Einleitung in die Geisteswissenschaften und zugleich einer nachträglichen Reflexion seines eigenen Vorgehens im ersten Band des Lebens Schleiermachers, geht Dilthey der Frage nach, wie denn so etwas wie eine »na923 Dieses Problem zeigt sich etwa in der Schwierigkeit, die Bedeutung von Jahrhundertschwellen zutreffend einzuschätzen. Man sollte prima facie annehmen, dass der Jahreswechsel von 1892 auf 1893 nicht mehr oder weniger relevant ist als der von 1899 auf 1900. Doch scheint es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, die an sich qualitätlose Durchnummerierung der Jahre auch neutral zu behandeln. Die nicht allein unter Historikern beobachtbare Tendenz, sich an »runde Zahlen« zu halten und (à la Michel Foucault) in ganzen Jahrhunderten mit vermeintlich scharfen Grenzen zu denken, beruht meist weniger auf einer sachlichen Grundlage als auf Zäsuren, die allein durch das zur Chronologie verwendete dekadische Zahlensystem motiviert sind. So entsteht andersherum eine gewisse Suggestionskraft durch die Vorstellung des Wechsels in ein neues Saeculum auf die geistigkulturellen Kreativkräfte, beispielsweise im Sinne eines gesteigerten Avantgarde-Bewusstseins oder einer Decadence-Lage. Man denke nur an Sigmund Freuds Vordatierung seiner eigentlich 1899 erschienen Traumdeutung auf das Jahr 1900, durch die leicht der Anschein eines Anspruchs auf das Prädikat »Jahrhundertbuch« entsteht (auch, wenn die Datierung auf den Wunsch des Verlegers zurückgehen sollte: vgl. Marquard 1982: 85–90 (hier: 86); Odo Marquards Text stellt selbst ein gutes Beispiel für die Suggestivkraft, die von Jahrhundertgrenzen ausgeht, dar.).
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türliche Einheit für anschauliches Abmessen der Geschichte geistiger Bewegungen« aussehen könnte.924 Da der »Verlauf geistiger Bewegungen« letztlich von menschlichen Individuen getragen wird, liegt es nahe, zunächst die Dauer eines »Menschenleben[s] in seinem mittleren Durchschnitt und in der Aufeinanderfolge seiner Lebensalter« als eine solche anzusetzen.925 Mit ihr wäre demnach ein natürlicher Maßstab zur Abschätzung von Dauer gegeben, von Zeiträumen (in denen sich kulturelle Prozesse – im Unterschied etwa zu geologischen Verschiebungen – abspielen), in Bezug auf ihn ließe sich dann sagen, was lange und was kurz währt.926 Damit ist zunächst ein erstes zeitliches »Gerüst« zur Strukturierung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit gegeben. In einem zweiten Schritt führt Dilthey als raffinierteres chronologisches Hilfsmittel den Generationenbegriff ein. »Generation ist zunächst […] die Bezeichnung für einen Zeitraum, und zwar ebenfalls eine von innen abmessende Vorstellung, welche der des Menschenlebens eingeordnet ist. Dieser Zeitraum reicht von der Geburts- bis zu derjenigen Altersgrenze, an welcher durchschnittlich ein neuer Jahresring am Baum der Generationen sich ansetzt.«927
»Generation« ist demnach eine Größe, die sich »von innen«, mithin aus der Vollzugsperspektive ergibt, was gemäß Diltheys Immanenzleitlinie als Aus924 GS V, 36; vgl. die rückblickende Fußnote in GS VII, 177. 925 GS V, 36 (Hervorhebung entfernt). 926 Dilthey liefert an dieser Stelle keine Beispiele. Die Taxierung der Dauer von Kriegen oder des Bestehens von Institutionen scheint allerdings intuitiv auf dieser Grundlage zu erfolgen. Wie lange bestand im klassischen Athen eine Demokratie? Wie lange dauerte der 30-jährige Krieg? Wie schnell verlief die Reformation? Auf diese Fragen lässt sich natürlich durch Angabe einer präzisen Anzahl von Jahren antworten, anschauliche Bedeutung erhalten diese Auskünfte jedoch erst unter Rekurs auf die Zahl der betroffenen Generationen (vgl. Plessner 1975: 180–184). Eine Erforschung der »Zeitstruktur der Wahrnehmung«, der artspezifischen Maßstäbe von Dauer, wurde von Karl Ernst von Baer aus zoologischer Perspektive angestoßen und von Jakob Johann von Uexküll fortgeführt (vgl. Blumenberg 1986: 267–290). Sie bestimmten etwa für verschiedene Lebensformen die minimalen und maximalen Zeitintervalle, innerhalb derer Veränderungen von ihnen gerade schon oder gerade noch als solche erlebt werden können, sowie die Zeitdauer, die es jeweils braucht, bis ein Reiz zur bewussten Wahrnehmung gelangt. 927 GS V, 36f, Hervorhebung hinzugefügt. Auch wenn der Begriff der Generation zunächst etwas archaisch anmuten mag und etwa den Gedanken an alttestamentarische Chroniken aufruft (»x zeugte den y, der wiederum den z, usw. usf.«), schenkte ihm die zu Diltheys Zeit aufkommende Sozialstatistik große Aufmerksamkeit, was wiederum Dilthey interessiert zur Kenntnis nahm (vgl. GS V, 41n1). Dem ist zu entnehmen, dass er offenbar gegen eine statistische Präzisierung der »von innen« stammenden Vorstellung nichts einzuwenden hatte. Gustav Rümelin kommt übrigens nach Auswertung der Daten auf eine Dauer einer Generation in den mitteleuropäischen Verhältnisse seiner Zeit von 35–36 Jahren. Die Differenz zu den 33 1/3 Jahren, mit denen Herodot noch rechnete, ergebe sich aus der veränderten Sozialstruktur (vgl. Rümelin 1875: 296f). Eine ausgezeichnete Aufarbeitung dieses Themas mit zahlreichen Hinweisen zu Anknüpfungen an Dilthey in dieser Sache bietet: Mannheim 1970b: 514–522; vgl. ferner Fagniez 2019: 336–344; Heidegger 2006: 384f (§74).
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zeichnung zu verstehen ist. Sie beschreibt nicht die Spanne zwischen Geburt und Tod eines Menschen, sondern die zwischen Geburt und Geburt der unmittelbaren Nachkommenschaft. Aus ihr ergibt sich (für das Jahr 1875): »Die intellektuelle Geschichte Europas seit Thales, dem ersten wissenschaftlichen Forscher, dessen Namen und Verdienst sich erhalten hat, umfaßt nur 84 Generationen; wir sind von der letzten Blüte der Scholastik kaum durch 14 Generationen getrennt.«928
Dilthey geht offenbar davon aus, dass diese beiden Beispiele für sich sprechen, und erläutert sie auch nicht weiter. An das zweite Beispiel, der Entfernung von der Scholastik, ließe sich die Überlegung anschließen, dass die Dynamik geistiger Veränderungen vermutlich dahingehend limitiert ist, dass der Abstand im Überzeugungsbestand, den eine Generation gegenüber der Generation ihrer Eltern erreicht, gewisse Grenzen gewöhnlich nicht überschreitet. Eine kulturellgeistige Verschiebung wie die fortschreitende Säkularisierung in Westeuropa bedeutete eine radikale Umstrukturierung des allgemeinen Selbst- und Weltverständnisses. Wenn sie (wie sich aus Diltheys Rechnung ergibt) in lediglich 14 Generationen erfolgt ist, lässt sich dem so etwas wie ein durchschnittlicher Innovationsdruck bzw. der von jeder Generation zu leistende Säkularisierungsschritt entnehmen, der natürlich maßgeblich das Verhältnis zu der jeweiligen Elterngeneration geprägt haben dürfte.929 Mithin erlaubt die Umrechnung zeitlicher Abstände in »Generationen« eine anschaulichere und aussagekräftigere Taxierung als es durch die bloße Angabe einer Anzahl von Jahren möglich wäre und ist zudem informativer als eine Orientierung an der durchschnittlichen Lebensdauer, da sie die Zeitspanne physischer wie geistiger Reproduktion und Kreativität angibt. In ihrem Rhythmus erfolgt auch der Kulturtransfer von einer Generation zur nächsten, aus dem sich wiederum die Spielräume für Innovationen und Veränderungen sowie die Anforderungen an die Konservierung und Aufrechterhaltung von Strukturen und Gehalten ergeben. »Man kann den Inbegriff der unzähligen Bedingungen, welche auf die intellektuellen Leistungen einer Generation wirken, in zwei Gruppen zerlegen. Zuerst tritt gewissermaßen der Besitzstand der intellektuellen Kultur hervor, wie er sich zu der Zeit vorfindet, in welcher die Generation sich bildet; von diesem Besitzstande aus blickt man in eine sehr große Mannigfaltigkeit möglicher Fortschritte. Indem sich nun das heranwachsende Geschlecht des angesammelten geistigen Gehaltes bemächtigt und von ihm
928 GS V, 37. 929 Diese Überlegung ist offenkundig hochgradig angreifbar: sie beachtet weder den relevanten Unterschied zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Schichten oder auch zwischen Landund Stadtbevölkerung, noch mögliche Restaurationstendenzen oder simple Stagnation. Durch sie soll auch lediglich ein Hinweis gegeben sein, wie sich aus dem Generationengerüst relativ direkt Anstöße zu geisteswissenschaftlichen Fragestellungen ergeben.
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aus fortzuschreiten sucht, befindet es sich dabei unter dem Einfluß der zweiten Gruppe von Bedingungen: des umgebenden Lebens, gesellschaftlicher, politischer, mannigfach unterschiedener Kulturzustände, insbesondere neu hinzutretender intellektueller Tatsachen; durch diese werden nun den Möglichkeiten weiterer Fortschritte, die von der früheren Generation aus sich darbieten, bestimmte Grenzen gezogen.«930
Inwiefern Dilthey mit dem Generationenbegriff ein brauchbares geistesgeschichtliches Hilfsmittel entwirft931 oder in erster Linie seine konservativen privat-politischen Überzeugungen dokumentiert, die ihn veranlassen die retardierenden Momente im geschichtlichen Prozess und die Bedeutung der Kontinuität gegenüber disruptiven Ereignissen und deren Innovationspotenzial ungebührlich in den Vordergrund zu schieben und damit gewissermaßen Reform gegen Revolution auszuspielen, ist zunächst eine offene Frage.932 Dass es sich bei seinen Überlegungen in jedem Fall nicht allein um die Explikation eines konservativen Blicks auf die Geistesgeschichte handelt, folgt bereits daraus, dass er das Vorkommen von Brüchen und Sprüngen nicht grundsätzlich zu leugnen braucht, sondern ihnen gegenüber lediglich auf eine tieferliegende Kontinuität verweist, 930 GS V, 37. Mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte formuliert Dilthey: »Die Folge der Generationen, welche die europäische Wissenschaft geschaffen haben, bildet, in gewissen Grenzen die Sache verstanden, ein durch Kontinuität verbundenes Ganzes.« (GS V, 38; vgl. dazu GS V, 38–40). Es liegt nahe, die Abfolge von Prägung der Jugend durch die vorherrschenden Kulturverhältnisse und dann die Beeinflussung eben dieser Verhältnisse durch die herangewachsene neue Generation als Umlauf im Wechselwirkungsverhältnis zwischen Lebenseinheit und Umwelt, wie es der ökologische Lebensbegriff vorsieht, aufzufassen; vgl. Groethuysen 1913: 251 (»Die Idee der Generation entspringt aus der Anschauung des Lebens selbst in seiner Gliederung. Sie bringt eine Gemeinsamkeit der Lebensstellung zum Ausdruck, wie sie aus der Gesetzmäßigkeit des Lebenslaufes folgt. Diese Lebensstellung bedingt die Art und Weise, in welcher der Besitzstand der Kultur, welchen eine Generation vorfindet, erarbeitet wird. Dieser Besitzstand ist nicht ein fertiges Gebilde; es kann nicht einfach das Fazit einer Zeit gezogen werden, es genügt nicht, ihre Resultate mit den Resultaten früherer Zeiten zu vergleichen, sondern in der genetischen Betrachtungsweise zeigt sich uns, wie ein überkommener Lebensgehalt nun selbst wieder unter den Bedingungen des umgebenden Lebens zum Erlebnis wird.«). 931 Vgl. GS I, 34 (»Und nur der Historiker, der sozusagen von diesen Lebenseinheiten aus die Geschichte aufbaut, der durch den Begriff von Typus und Repräsentation sich der Auffassung von Ständen, von gesellschaftlichen Verbänden überhaupt, von Zeitaltern zu nähern sucht, der durch den Begriff von Generationen Lebensläufe aneinanderkettet, wird die Wirklichkeit eines geschichtlichen Ganzen erfassen, im Gegensatz zu den toten Abstraktionen, die zumeist aus den Archiven entnommen werden.«, Hervorhebungen hinzugefügt). Dilthey selbst macht vom Generationenbegriff sowohl in den Aufsätzen von Das Erlebnis und die Dichtung als auch in seiner Schleiermacherbiographie ausgiebigen Gebrauch. Zur biographischen Theorie und Praxis Diltheys und weiterer Literatur vgl. D’Alberto 2005. 932 Massive Kritik an Diltheys Inanspruchnahme der Kategorie der Kontinuität wurde in erster Linie vorgebracht, da in ihr ein metaphysisches Residuum ausgemacht wurde (vgl. Baumgartner 1997: 88–114), tendenziell aber auch insofern, als sie vermeintlich als Ausdruck seines bürgerlichen Klasseninteresses entlarvt werden könne (vgl. Peschken 1972: 48f; Zöckler 1975: 194ff).
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die sich aus dem Umstand ergibt, dass sich Innovationen und Traditionsbrüche in der Kultur- und Geistesgeschichte in der Regel durch Neuinterpretationen und selektive Rückgriffe auf den »Besitzstand der intellektuellen Kultur« ergeben und nicht durch eine creatio ex nihilo.933 Auch die Innovatoren und Revolutionäre sind Kinder ihrer Zeit, ihre Agenda und ihr Selbstverständnis entstehen in der lebendigen Auseinandersetzung mit und der punktuell kreativen Aneignung von vorliegenden kulturellen Gehalten und auch ihre Wirksamkeit und Produktivität kann zunächst auf keine anderen Formen und Kanäle zurückgreifen, als sie die jeweils zur Verfügungen stehenden Institutionen ihnen bieten.934 Insofern scheint es zunächst sachangemessen und auch deskriptiv zutreffend, der Kontinuität eine gewisse Priorität gegenüber disruptiven Kräften und Ereignissen einzuräumen, als auch Revolutionen und Traditionsbrüche vor einem Hintergrund der Kontinuität erfolgen. Ein minimaler, kontinuierlicher Kulturtransfer von Generation zu Generation bildet die Grundlage dafür, dass überhaupt von einer geschichtlichen Lebensform die Rede sein kann.935 Diese grundlegende Schicht der Kontinuität infrage zu stellen, bedeutet, sich einen Zustand vorzustellen, in dem von der Vergangenheit prinzipiell keinerlei Wirkung auf die 933 Zugleich betont Dilthey aber auch deutlich, dass der spezifische Beitrag einer Generation aus keiner noch so vollständigen Kenntnis der herrschenden Bedingungen antizipiert werden kann (vgl. GS V, 38; XXVI, 174f). 934 Selbst das der Philosophie seit der Neuzeit eigene Pathos des »Ganz-von-vorne-Beginnens«, das besonders nachdrücklich von Descartes artikuliert wurde, erweist sich bei Lichte besehen ebenfalls als eine punktuelle Innovation vor einem massiven Aufgreifen traditioneller Elemente (vgl. Kobusch 2013). In poetischer Emphase heißt es bei Dilthey: »Ja, meine Freunde, lasset uns dem Licht zustreben, der Freiheit und der Schönheit des Daseins. Aber nicht in einem neuen Anfang, abschüttelnd die Vergangenheit. Die alten Götter müssen wir mitnehmen in jede neue Heimat.« (GS VIII, 226, Hervorhebung hinzugefügt). Der junge Dilthey betont die Rolle der Kontinuität selbst gegenüber einem so disruptiven Ereignis wie dem Einbruch der Offenbarung in die Geschichte: »Aber das innere Gesetz der Geschichte verlangt, daß unbedingter Ernst mit der Kontinuität gemacht werde. Paulus soll nicht außer Zusammenhang mit Philo und dem, was wir sonst von der jüdischen Theologie apostolischer Zeit wissen, verstanden werden […]« (J 95). Später formuliert er sogar ein »Gesetz der Kontinuität«, nach dem dasjenige bewahrt werde, was die Philosophie an kulturellen Hervorbringungen durchdrungen habe (vgl. GS VIII, 202). Theodor Litt fragt sich, wie es sein kann, dass ein Umstand von einer solchen Relevanz und Reichweite, wie der des notwendigen Stehens in Traditionen, so relativ spät erst thematisch werden konnte und entwickelt mit Hegel einen Vorschlag gegen den »rationalistisch verdünnten Begriff der Tradition«, in dem sich viele Diltheysche Elemente wiederfinden und an dem sich ablesen lässt, dass eine Reflexion des »Problems der Tradition« keineswegs auf eine verkappte Rehabilitierung von Autoritätsargumenten hinauslaufen muss (Litt 1951: 313, 320f). 935 Baumgartners Resultat, dass die Kontinuitätskategorie bei Dilthey aufgrund »ontologischmetaphysischer Implikate« (Baumgartner 1997: 109) letztlich als unhaltbar und nicht weiterführend zu betrachten ist, beruht maßgeblich auf einer Rekonstruktion des Zusammenhangs von subjektivem und objektivem Geist einerseits und der Rolle der Selbstgewissheit andererseits, die an den entsprechenden Stellen dieser Arbeit [siehe Abschnitte 3.1, 3.2.7 und 4.2.1] als unangemessen zurückgewiesen wird.
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Gegenwart ausginge, d.i. nichts weniger als ein völliges Aussetzen des Wirkungszusammenhangs (s. Abschnitt 4.2.3), der vollständige Kultur- und Traditionsabbruch als Dauer- und Normalzustand. »Diskontinuität heißt nicht, daß die Geschichte kein Kontinuum wäre.«936
Die weitergehende Relevanz der chronologischen Einteilung in Generationen erläutert Dilthey folgendermaßen: »Generation ist alsdann eine Bezeichnung für ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit von Individuen; diejenigen, welche gewissermaßen nebeneinander emporwuchsen d. h. ein gemeinsames Kindesalter hatten, ein gemeinsames Jünglingsalter, deren Zeitraum männlicher Kraft teilweise zusammenfiel, bezeichnen wir als dieselbe Generation. Hieraus ergibt sich dann die Verknüpfung solcher Personen durch ein tieferes Verhältnis. Diejenigen, welche in den Jahren der Empfänglichkeit dieselben leitenden Einwirkungen erfahren, machen zusammen eine Generation aus. […] Eine solche Generation bilden z. B. A. W. Schlegel, Schleiermacher, Alexander von Humboldt, Hegel, Novalis, Friedrich Schlegel, Hölderlin, Wackenroder, Tieck, Fries, Schelling. Und in diesem Sinn bildet dann eine Generation eine Zusammenordnung von Erscheinungen zu einem dem erklärenden Studium zu unterwerfenden Ganzen.«937
Gegenüber dem allgemeineren Begriff der durchschnittlichen menschlichen Lebensspanne kommen dem der Generation also weitere Bestimmungen zu: (1) er bezeichnet den natürlichen Rhythmus des Kulturtransfers von einer Generation zur nächsten,938 dazu arbeitet er (2) mit einem typischen Ablauf von qualitativ verschiedenen Lebensphasen eines Individuums: auf die formativprägende Kindheit und Jugend, in der sich das Individuum überwiegend rezeptiv verhalte, folgt der »Zeitraum männlicher Kraft«, d.i. das Zeitfenster mit dem größten Potenzial zu produktiver Wirksamkeit.939 Sie gruppiert (3) die Vertreter
936 Wittram 1963: 11. 937 GS V, 37. Was die prägenden Eindrücke dieser exemplarischen Generation betrifft, hat Friedrich Schlegel selbst einen Vorschlag formuliert: »Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.« (Schlegel 1967: 198). 938 Vgl. GS I, 50 (»So strömt in jeder Generation neu die Inhaltlichkeit und der Reichtum der Menschennatur, sofern sie in einem Bestandteil derselben gegenwärtig oder mit ihm in Beziehung sind, in das auf diesen gegründete System ein.«), GS I, 65f. 939 Diesen Abschnitt der Blüte und Vollkraft bezeichneten die Griechen als ἀκμή und setzten ihn um das 40. Lebensjahr herum an (vgl. Nohl 1979: 29). Bei dürftiger Überlieferungslage (wie etwa bezüglich der Vorsokratiker) kommt ihm bei Rekonstruktionsversuchen von zumindest ungefähren biographischen Daten bis heute entscheidende Bedeutung zu. An anderer Stelle charakterisiert Dilthey die Lebensphase des Alters als den Prozess einer fortschreitenden Verhärtung und »herben Abgeschlossenheit« bei mitunter voll entfalteter seelischer Struktur (vgl. GS V, 219f). Hier wäre der Ort für eine ganze Theorie bzw. Phänomenologie der Lebensalter als einem Kompendium qualitativ differenzierter Lebenszeiten. Eine Fundgrube dafür, besonders in historisch vergleichender Perspektive, wären vor allem die in der
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einer Generation unter dem Gesichtspunkt der Gleichzeitigkeit und fasst sie damit zu einer »Kohorte« zusammen, sowohl was deren prägende Kindheits- und Jugenderfahrungen betrifft als auch den ungefähren Zeitraum ihrer Wirksamkeit. Die Lebensverläufe und geistig-kulturellen Leistungen einer Generation beziehen sich regelmäßig aufeinander, teilen konkrete Gehalte und erhellen sich so gegenseitig, was wiederum einem hermeneutischen Zugriff auf diese Leistungen als wertvolle Ressource dienen kann. Wenn nun dem Umstand, dass die Vertreter einer Generation während ihrer formativen Zeit weitgehend denselben prägenden Einflüssen ausgesetzt sind, für ihren relativ einheitlichen Charakter erhebliche Bedeutung zukommt, ist davon auszugehen, dass die Brauchbarkeit des Generationenbegriffs in einem gewissen Maß an die Homogenität der entsprechenden Gesellschaft gebunden ist.940 Bei zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung ist es daher plausibel anzunehmen, dass auch die prägenden Einflüsse deutlich divergieren und einzelne Generationen zuletzt kaum noch ein einheitliches Gepräge erkennen lassen. Andererseits scheint dem Generationenbegriff auch heute noch hinreichend erschließende Kraft zuzukommen, wenn man seine durchgängige Inanspruchnahme durch die empirische Sozialforschung, Unternehmensberatungen oder die Werbeindustrie bedenkt. Einiges ist nach Betrachtung der Lebensalter und des Generationenbegriffs daher festzuhalten. Die besprochenen Zeitstrukturen ergeben sich tatsächlich aus dem Erleben von Zeit, insofern man darunter nicht das strikt individuellprivate Erleben versteht, sondern ein kulturell geteiltes Erleben typischer Verlaufsformen des menschlichen Lebens, das sich in dem diffusen Wissen einer allgemeinen Lebenserfahrung niederschlägt.941 So entsteht zwischen den Einschnitten von Geburt und Tod ein typischer, in qualitativ unterscheidbare Phasen gegliederter Lebensverlauf von: Geburt, (früher) Kindheit, Jugend, Adoleszenz, Reife/Akme, (hohem) Alter, Tod. Die genaueren Abgrenzungen der Phasen, ihre jeweilige Bewertung, die Gestaltung von Übergangsriten zwischen ihnen u.v.m. können je nach kultureller Gemeinschaft und historischem Zeitpunkt erheblich auseinanderfallen. Einzelne Phasen können über weite Strecken sogar ganz
biographischen und erzählenden Literatur zur Anwendung gebrachten Schemata und Kategorien. 940 Zur Verschränkung zeitlicher und sozialer Ordnungsstrukturen vgl. Luhmann 1976, 1980. 941 Wie schon in Blumenbergs Ausdruck der Lebenszeit tritt hier und im Vorangehenden die alltägliche Bedeutung von »Leben« (die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod eines jeden Menschen) gegenüber Diltheys (ökologischem) Lebensbegriff in den Vordergrund. Das ist jedoch insofern unproblematisch, als beide Bedeutungen eng beieinander liegen. Für die psychophysische Lebenseinheit, die man als »Mensch« bezeichnet, realisiert sich der ökologische Lebensprozess schließlich in den Konfinien seines Lebenslaufs.
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ausfallen, wenn man an die Zeit vor der »Entdeckung der Kindheit« (Philippe Ariès) denkt. Insofern bilden die Lebensphasen eine recht genaue Illustration der von Plessner vorgebrachten Qualifikation der Lebenskategorien als »geschichtlich gewordene[n] Größen von geschichtsbildender Macht« (s. o.). Denn einerseits ist ihre historische »Gewordenheit« offenkundig und inzwischen auch gut erforscht, andererseits haben sie für das jeweilige gesellschaftliche Gefüge, für die Zuweisung von Status, Rechten und Pflichten und nicht zuletzt für das individuelle Selbstverständnis eine kaum zu überschätzende Bedeutung. Somit ist davon auszugehen, dass sie, sei es durch bewusst-thematische Bezugnahme oder nicht, punktuell und strukturell, eine enorme handlungsorientierende Wirkung entfalten und damit auch »geschichtsbildend« wirken. Das Beispiel der qualitativ verschiedenen Lebensphasen verdeutlicht zudem, dass sich in Bezug auf das menschliche Leben Strukturelemente von überindividueller Relevanz hervorheben lassen, ohne dass damit in einem problematischen ontologischen Sinne die »Identität des unerschöpflichen Lebens« behauptet oder gar ein »überall identisches Leben« postuliert wäre.942 Eine solche Setzung ist unnötig, da auf typische Strukturen Bezug genommen wird.943 Dies impliziert weder die abgetrennte Existenz des Typus selbst, noch eine Allaussage in Hinsicht auf den anvisierten Geltungsbereich.944 Die Existenz der Menge aller individuellen menschlichen Lebensläufe anzunehmen, reicht in ontologischer Hinsicht aus, um die verschiedenen typischen Lebensphasen verständlich zu 942 Baumgartner 1997: 107; vgl. Fagniez 2019: 146–150. 943 Dem Typus kommt offenbar eine Zwischenstellung zwischen Leben und Begriff, Allgemeinem und Besonderem zu. Er artikuliert ein Allgemeines, ohne auf einer Definition zu beruhen oder auf eine solche zu führen (vgl. GS VII, 188: »Der [sc. geisteswissenschaftliche] Begriff spricht einen Typus aus. Er entsteht im vergleichenden Verfahren.«; Johach 1974: 118f: »Geschichtlicher Typus ist Repräsentation eines Allgemeinen im Besonderen in der Weise, daß Bedeutung und in die Gegenwart wirkende Kraft an ihm offenbar werden.«, Hervorhebungen im Original); vgl. Katsube 1931: 73–103; Faber 1974: 89–108; Tuttle 1969: 79–93; Rodi 2016. Neben den Lebensaltern lassen sich etwa auch Temperamentenlehren (man denke etwa an die »Charaktere« des Theophrast) als Rekonstruktionsversuche einer typischen Struktur auffassen (vgl. GS V, 233f). 944 Die Eigenschaften eines Typus stimmen zum Teil mit denen einer generischen Aussage wie »die Giraffe besitzt sieben Halswirbel« überein. Auch sie verpflichtet einen nicht dazu, die Existenz dieser generischen Giraffe anzunehmen, noch auf die Akzeptanz der Allaussage »jede Giraffe besitzt sieben Halswirbel«. Vgl. Plessner 1990/91: 293 (»[Das Leben] ist kein neues An sich, kein Quellgebiet für geschichtliche Erscheinungen, kein Urgrund, der sich in seinen Manifestationen zugleich offenbart und verbirgt. […] Das Leben im Sinne Diltheys ist die geschichtliche Erfahrung selbst […]«, Hervorhebung hinzugefügt); Bollnow 1980: 46f (»[Der Begriff des Lebens] bedeutet nicht eine besondere metaphysische Gegenständlichkeit neben der empirischen Wirklichkeit oder eine besondre metaphysische Ausdeutung der empirischen Wirklichkeit, sondern er bedeutet diese empirische Wirklichkeit selbst, grade in ihrer ganzen faktischen Gegebenheit.«, Hervorhebung im Original); siehe Abschnitt 3.1.
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machen. Wie bereits angedeutet, ist die Relevanz und Aussagekraft solcher typischen Strukturen selbst historisch variabel. In welchem Maße unter konkreten Bedingungen die Aufstellung einer Typologie möglich ist und welchen Einfluss sie auf das Selbstverständnis und Handeln der jeweiligen Gruppenmitglieder entfaltet, ist historisch variabel und letztlich eine empirische Frage. Gezeigt hat sich am Zeiterleben, dem Generationenbegriff und den Lebensaltern außerdem, wie sich aus den gewonnenen zeitlichen Lebenskategorien unmittelbar Fragestellungen, Maßgaben und Hilfsmittel der geisteswissenschaftlichen Forschung ergeben. Ferner ist zu bemerken, dass die Ausführungen bisher nahezu durchgängig auf der von Dilthey angedeuteten Linie von »Organen des Wirklichkeitsverständnisses« lagen, Hinweise auf eine konstitutive Funktion der Lebenskategorien waren hingegen bislang nicht festzustellen. Da die Zeitlichkeit, wie Dilthey zu verstehen gibt, alle Lebenskategorien beeinflusst, wird sie auch in den nächsten beiden Abschnitten stets mitverhandelt. So dürften auch die in diesem Abschnitt angesprochenen zeitlichen Lebenskategorien (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, menschliche Lebensspanne, Generation, Lebensalter, Dauer, Kontinuität) bei der Darstellung der folgenden Kategorien weiter relevant bleiben.945
4.2.2 Bedeutung, Struktur, Bedeutsamkeit »The world of physical reality does not consist of meaningful things. The world of ecological reality […] does.«946
Von einem Theoretiker von Verstehensprozessen ist anzunehmen, dass die Kategorie der Bedeutung in seinen Überlegungen eine prominente Stelle einnehmen wird. Diese Erwartung wird von Dilthey auch nicht enttäuscht. Um das Aufkommen von naheliegenden Missverständnissen zu vermeiden, sei jedoch darauf hingewiesen, dass Dilthey sich zwar als eifrigen Leser der »Logischen Untersuchungen« Edmund Husserls zu erkennen gibt, hingegen jedoch keinerlei Hinweis für eine Rezeption der Schriften Gottlob Freges vorliegt. Insofern nun der heute gängige Bedeutungsbegriff, insbesondere in seiner Fokussierung auf sprachliche Bedeutung, massiv durch letzteren geprägt wurde, ist ein vorgängiger Hinweis, dass Diltheys Bedeutungsbegriff vollständig Frege-unabhängig ist, si945 Dilthey bezeichnet »Generation«, die Lebensalter und -spanne selbst nicht als Lebenskategorien. Wir haben hier im Zuge unserer Verstehensbemühungen von Dilthey lediglich angedeutete Linien ausgezogen, die der Sache nach durch alle zeitlichen Schichten seines Werks verlaufen. Diltheys Bemerkung in der Fußnote zu [GS VII, 177] lässt sich durchaus als Legitimation für eine solche Zusammenführung heranziehen. 946 Gibson 2015: 28.
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cher nicht unangebracht. Um ihn einzuführen, bietet es sich an, an einen bereits diskutierten Begriff anzuschließen. »Das Erlebnis ist eine Einheit, deren Teile durch eine gemeinsame Bedeutung verbunden sind.«947
Hieraus ist unmittelbar zu entnehmen, dass Dilthey der Bedeutung eine zusammenhang- und sogar einheitsstiftende Funktion zuschreibt. Anders als »Erleben« ist der Ausdruck »Erlebnis« bisher unerläutert geblieben. Zu ihm bemerkt Dilthey: »Erleben und Erlebnis sind nicht eins vom andern abgeteilt; es sind Ausdruckswendungen für dasselbe.«948
Damit besteht zwischen dem »Erleben«, das wir als Selbstgegebenheitsweise seelischer Totalität dargestellt haben (s. Abschnitt 3.2.2), und dem »Erlebnis« offenbar lediglich ein Aspektunterschied bei identischer Referenz. Die grammatische Form der Ausdrücke legt nahe, dass es sich beim »Erleben« um den Prozessaspekt und beim »Erlebnis« eher um den erlebten gegenständlichen Gehalt handelt. Soviel sei versuchsweise angenommen. Nimmt man die in der unmittelbaren Umgebung dazu fallende Bemerkung hinzu, dass »die Kategorie der Bedeutung […] einen besonders nahen Zusammenhang zum Verstehen [habe]« und zieht außerdem die Referenzen auf den »Erzähler« und den »Geschichtschreiber« mit in Betracht, ergibt sich, dass das »Erlebnis« zu verstehen ist, als kleinste bedeutungstragende Einheit im Strom des Erlebens und das will heißen: als kleinste für sich verstehbare Einheit.949 Dies ist eine Größe, die in narrativen Kontexten durchgängig Anwendung findet. Aus überschaubaren Einzelsituationen und bedeutsamen Begebenheiten heraus einen komplexen Handlungsstrang aufzubauen oder mittels ihrer die politische Lage einer Epoche oder den Verlauf eines ausgebreiteten Kriegsgeschehens zu schildern, ist für den Erzähler wie für den Geschichtsschreiber gewissermaßen täglich Brot. Damit wird, so die darin steckende philosophische These Diltheys, im Medium der Narration eine Struktur verdeutlicht und zugespitzt, die bereits das Leben selbst kennzeichnet.950
947 GS VII, 234. 948 GS VII, 231. 949 »Was so im Fluß der Zeit eine Einheit in der Präsenz bildet, weil es eine einheitliche Bedeutung hat, ist die kleinste Einheit, die wir als Erlebnis bezeichnen können.« (GS VII, 194). 950 Diese Bemerkung gilt neben den narrativen Kontexten für die Dichtung allgemein, worin wiederum das Schaffen Goethes exemplarisch ist (vgl. GS XXVI, 148–151, 156–162, »Goethe zuerst erhob die Dichtung mit Bewußtsein zum Organ eines objektiven Weltverständnisses.«, S. 167). Mit Blick auf das Thema der Individuationsprozesse formuliert Dilthey sogar: »Die Kunst ist das Organ des Lebensverständnisses.« (GS V, 274).
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»Der Lebensverlauf besteht aus Teilen, besteht aus Erlebnissen, die in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen. Jedes einzelne Erlebnis ist auf ein Selbst bezogen, dessen Teil es ist; es ist durch die Struktur mit anderen Teilen zu einem Zusammenhang verbunden.«951
Häufig wird der Bedeutungsbegriff im Kontext der Semiotik verwendet und erläutert. Ein Zeichen, eine Äußerung zu verstehen, heißt dann, die Bedeutung des Zeichens bzw. der Äußerung zu erfassen; einen Text zu verstehen, heißt etwa, die von ihm ausgedrückten Propositionen zu erkennen. Bemerkenswerterweise verwendet Dilthey in Kontexten, in denen es um die Verwendung von Zeichen geht, den Bedeutungsbegriff in der Regel nicht (siehe Abschnitt 3.2.6), den korrelativen Verstehensbegriff allerdings schon. »Sonach nennen wir Verstehen den Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen.«952
Wenn Dilthey nun sowohl den semiotischen Bedeutungsbegriff, für den er selbst meist Ausdrücke wie »ein Psychisches« oder »ein Geistiges« verwendet, als auch seinen eigenen, den er wesentlich durch den inneren Zusammenhang eines Erlebnisses erläutert, als Korrelatbegriff zum Verstehen bezeichnet, wirft das die Frage auf, ob hier mehrere Bedeutungen von »Verstehen« im Spiel sind. Diese Schwierigkeit bringt er selbst zur Sprache: »Jede Lebensäußerung hat eine Bedeutung, sofern sie als ein Zeichen etwas ausdrückt, als ein Ausdruck auf etwas hinweist, das dem Leben angehört. Das Leben selber bedeutet nicht etwas anderes. Es ist in ihm keine Sonderung, auf der beruhen könnte, daß es etwas bedeutete, außer ihm selbst.«953
Der semiotische Bedeutungsbegriff setzt also eine »Sonderung« voraus. (Hier liegt es nahe, mit de Saussure »eine Sonderung in Bezeichnendes (signifiant; bei Dilthey: außen) und Bezeichnetes (signifié; bei Dilthey: innen)« zu ergänzen.) Diese Struktur ist allerdings für das Leben selbst, und damit auch für das einzelne Erlebnis, nicht gegeben; in ihm kommt nichts von ihm Verschiedenes zum Ausdruck. Was aber heißt dann: »ein Erlebnis verstehen«? Worin besteht dann dessen Bedeutung? Diltheys Auskunft lautet zunächst: die Bedeutung des Lebens ist das Leben selbst.954 Es verweist auf nichts von ihm Verschiedenes. Für das einzelne Erlebnis hieße das entsprechend, dass seine Bedeutung ebenfalls nicht in etwas kategorial von ihm Verschiedenen bestehen kann, aber (so muss man
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GS VII, 195. GS V, 318. GS VII, 234 (hier fällt der Ausdruck zum Zweck der Zuspitzung dann doch); vgl. GS VII, 235. Womöglich steckt auch hier Goethe dahinter: »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst.« (Goethe an Johann Heinrich Meyer, 8. Februar 1796, GB II, 215).
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hier wohl ergänzen) durchaus in etwas numerisch von ihm Verschiedenem.955 Die Bedeutung eines Erlebnisses besteht demnach also in einem Bedeutungskern (im Wesentlichen eine nacherlebbare Stellungnahme), in Verbindungen zu anderen Erlebnissen und (vermittelt darüber) in seiner Einbettung in das Erleben als Ganzes, d.i. in den eigenen oder fremden Lebenslauf.956 Die Art dieser Einbettung entwickelt Dilthey ausführlich im Rahmen einer phänomenologischen Untersuchung: 955 Zwischen dieser Bestimmung der Bedeutung des Erlebnisses als dessen Verbindung zu anderen Erlebnissen und der bereits eingeführten Festlegung, dass das Erlebnis als kleinste (für sich zu verstehende) Bedeutungseinheit anzusehen ist, besteht unleugbar eine gewisse Spannung. Es scheinen hier zwei Wege offen zu stehen: das konsequente Absprechen der Eigenbedeutung von Erlebnissen. Die Eigenbedeutung ergäbe sich dann erst im durch Differenzen konstituierten Netz der Erlebnisse untereinander, ohne dass die einzelnen Erlebnisse dazu substantielle Eigenbedeutungen beisteuern würden. Die Identität eines Erlebnisses wäre schlicht die eines Knotens in diesem Netz. Diese Lösung erscheint allerdings recht postmodern und auch etwas gewaltsam. Dichter an Dilthey wäre es wohl, lediglich davon auszugehen, dass sich die Bedeutung eines Erlebnisses nicht in seinen Verbindungen zu anderen Erlebnissen erschöpft. Durch die wird es sicherlich angereichert, trägt aber gewissermaßen bereits für sich und in sich einen Bedeutungskern. Aber wiederholt sich dann nicht die ursprüngliche Frage: Was heißt dann »ein Erlebnis verstehen«? Wie lässt sich der Gedanke von einem dem Erlebnis eigenen Bedeutungskern mit der Forderung nach Immanenz verbinden? Möglicherweise so: die Bedeutung eines Erlebnisses besteht in dessen Verbindung zu anderen Erlebnissen und einem spezifischen, ihm eigenen »Bedeutungskern«. Das Verstehen dieses Bedeutungskerns lässt sich wiederum erläutern als das Auffassen einer Situation. Diese wieder ist zu beschreiben als ein nacherlebbarer Akt der Stellungnahme einer psychophysischen Lebenseinheit unter konkret gegebenen Bedingungen (vgl. GS XXVI, 115: »Im Leben ist mir mein Selbst in seinem Milieu gegeben, Gefühl meines Daseins, ein Verhalten und eine Stellungnahme zu Menschen und Dingen um mich her […]«). Die Annahme einer für sich bestehenden Verständlichkeit des einzelnen Erlebnisses (»Bedeutungskern«) scheint vor allem deswegen notwendig zu sein, um überhaupt verstehenden Zugang zu einem fremden Lebenszusammenhang gewährleisten zu können, bei dem in der Regel ein Zugriff auf den Gesamtzusammenhang fehlt bzw. – wie im Falle von fiktiven Personen (eines Romans bspw.) – ein solcher biographischer Gesamtzusammenhang gar nicht besteht (siehe nächste Fußnote). Vgl. GS VII, 199 (»So ist dem Greis, der zurückschaut, jeder Moment seiner Existenz in doppeltem Sinn bedeutend: als genossene Lebensfülle und als in den Zusammenhang des Lebens hineinwirkende Kraft. […] Jedes Leben hat einen eigenen Sinn. Er liegt in einem Bedeutungszusammenhang, in welchem jede erinnerbare Gegenwart einen Eigenwert besitzt, doch zugleich im Zusammenhang der Erinnerung eine Beziehung zu einem Sinn des Ganzen hat.«). 956 Als Beispiel für letzteren Fall sei an die Bedeutung erinnert, die man der Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca im April 1336 (bzw. dessen literarischer Inszenierung) für den Verlauf der europäischen Kulturgeschichte zugemessen hat (vgl. Blumenberg 1996: 397– 403). Die Art und Weise, wie einzelne Erlebnisse im Kontext fremder Lebensläufe bedeutsam werden können (und meist wird man ihnen dabei auch eine gewisse Konstanz der Bedeutung zuschreiben), scheint durch die Annahme eines mit dem Erlebnis verbundenen, nacherlebbaren Bedeutungskerns am leichtesten erklärbar (siehe vorige Fußnote). Vgl. GS VII, 233 (»In allen diesen und anderen Fällen hat der einzelne Moment Bedeutung durch seinen Zusammenhang mit dem Ganzen, durch die Beziehung von Vergangenheit und Zukunft, von Einzeldasein und Menschheit.«).
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»Ich liege des Nachts wachend, ich sorge um die Möglichkeit, in meinem Alter die begonnenen Arbeiten zu vollenden und ich leide tief in dieser Sorge.«957
Das Erleben (und zudem das Beobachten des Erlebens) dieser Situation versucht Dilthey nun wiederum zu beobachten, um daran exemplarisch eigentümliche Schwierigkeiten, die sich den Geisteswissenschaften bei ihrem Ausgang vom Erleben stellen, aufzuzeigen. »Da ist ein struktureller Bewußtseinszusammenhang, in welchem gegenständliches Auffassen die Grundlage bildet, und eine innere Beziehung von Gefühlen sich als Sorge um und als Leiden über den gegenständlich aufgefaßten Tatbestand auf ihn bezieht; derselbe ist als Tatsachenkomplex meines Bewußtseins für mich da. Und dies Innewerden und das, dessen ich inne werde, sind eins.«958
Dichter ist an das »Gegebene« nicht heranzukommen; nun beginnt bereits das Eingreifen. »Ich kann nun auf diesen Tatbestand achten. Eine innere Beobachtung, sei es des Erlebnisses oder seines erinnerten Bestandes tritt ein. So wird er mir zum Gegenstand. Was ich aber bemerke und wodurch ich so inhaltlich den Gegenstand mir aufkläre, das ist in dem Erlebnis selbst enthalten oder es repräsentiert als Erinnerung mir den Gegenstand. Insofern ist der Gegenstand dem Erlebnis immanent. Andererseits vollzieht sich eine Sonderung des Erlebnisses vom Gegenstand: dieser wird ihm partiell transzendent. Und hier ist nun das Entscheidende, daß diese partielle Transzendenz in dem Erlebnis selber sowie in dem Verhältnis des Auffassens zu ihm gegründet ist.«959
Mit aller wünschbaren phänomenologischen Sorgfalt führt Dilthey hier vor Augen, wie jeder Schritt in Richtung inhaltlicher Bestimmtheit des Gegenstandes (zunächst ausgehend von der simplen willentlichen Lenkung der Aufmerksamkeit) zugleich eine teilweise Dissoziierung der Unmittelbarkeit, Einheit und damit auch der Gewissheit des Erlebnisses zur Folge hat. Dieser Prozess der Vergegenständlichung setzt sich weiter fort. »Indem ich auf den Gegenstand achte, bringe ich die strukturellen Beziehungen, die in dem Gefühlszustand liegen, zu distinguierendem Bewußtsein. Ich hebe sie durch die elementaren logischen Operationen heraus, isoliere sie, identifiziere die strukturellen Verbindungen im gegenwärtigen mit der in früheren Erlebnissen. In einzelnen auseinanderliegenden Momenten kann ich, während ich so daliege,960 einzelne Züge des 957 GS VII, 28; vgl. Aron 1969: 75f. 958 GS VII, 28; kurz vorher bestimmt Dilthey das Erlebnis ähnlich einer propositionalen Einstellung als »strukturelle Einheit von Verhaltungsweisen und Inhalten« (GS VII, 25); darauf scheint er hier zurückzugreifen. Für das Folgende vgl. die im Abschnitt 3.2.5 dargestellten, sich auf dem Innewerden aufbauenden Stufen. 959 GS VII, 28. 960 An dieser Stelle neigt der Verfasser dazu, ebenfalls fortgezogen zu werden, und zwar zu der bekannten Illustration auf den ersten Seiten von Ernst Machs »Analyse der Empfindungen« (zuerst 1886), die dieser mit den Worten beschreibt: »Liege ich z. B. auf einem Ruhebett, und
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Erlebnisses herausheben, an denen dann wieder andere anhängen. Und indem ich diese dem Erlebnis immanenten Beziehungen so distinguiere, wird mein Auffassen vom Erlebnis selbst fortgezogen auf Grund der in demselben enthaltenen Struktur zu den strukturell mit ihm verbundenen, es begründenden Erlebnissen.«961
Die Zergliederung des Erlebnisses und die Bestimmung seiner Elemente schreitet voran. Die »elementaren logischen Operationen«962 bzw. die Formalkategorien kommen an dieser Stelle zu bewusstem Einsatz. Die bisher völlig immanent verlaufende Analyse-, Explikations- und Bestimmungsarbeit am Erlebnis führt schließlich dazu, dass »wie von selbst« Bezüge zu anderen Erlebnissen auftauchen. Die von Dilthey vorgeführte Selbstbesinnung über die im Erleben und im Beobachten des Erlebens ablaufenden Prozesse mündet in das Aufscheinen der Bedeutung des Erlebnisses. Mit seiner Formulierung des »Fortgezogenwerdens« legt Dilthey offenbar größten Wert darauf, dass es sich hierbei nicht um ein in irgendeiner Form beabsichtigtes Herstellen von Verbindungen seitens des erlebenden Subjekts handelt.963 Sie werden vielmehr (und zwar als Teil des Erlebnisses selbst) vorgefunden bzw. das Subjekt findet sich selbst als fortgezogenes wieder. Diese Freilegung der Bedeutung des Erlebnisses, auf die diese exemplarische Selbstbesinnungsszene hinausläuft, erlaubt nun dessen genauere Einordnung. »Die Vorstellung meiner Manuskripte ist die Auffassungsgrundlage meines Erlebnisses, und ich sondere dieselbe aufmerkend aus. Von dem Gefühl über dies Gegenständliche sondere ich das der Müdigkeit als Grundlage und das der so begründeten Sorge um die Vollendung dieser Manuskripte. Ich bringe mir die strukturellen Beziehungen dieser Bestandteile distinguierend zum [sic] Bewußtsein. Und eben infolge der strukturellen Natur dieser Erlebniseinheit fordert das Auffassen den Fortgang zu rückwärts gelegenen, strukturell zusammenhängenden Erlebnissen. Ich bin müde vom Arbeiten, ich schließe das rechte Auge, so bietet sich meinem linken Auge das Bild der folgenden Figur 1.« (Mach 1987: 15). Beide Liegeszenen finden aneinander ein geradezu ideales Gegenstück: buchstäblich Tag und Nacht; bei Mach zunächst reduzierteste (einäugige) Auffassung optischer Signale; bei Dilthey Fokussierung auf ein Erlebnis, in dem sich wie in einem Wassertropfen die Totalität des Seelenlebens bricht; vor allem aber: ein Blick nach außen und ein Blick nach innen. 961 GS VII, 28 (Hervorhebung hinzugefügt); zum »Fortgezogenwerden« vgl. von der Groeben 1934: 153–159. 962 Als da sind: »Assoziation, Reproduktion, Vergleichung, Unterscheiden, Abmessung der Grade, Trennung und Verbindung, des Absehens vom einen und Heraushebens des anderen, worauf dann die Abstraktion beruht« (GS V, 149). Dilthey bezeichnet sie auch als »Wahrnehmungen zweiten Grades« (GS VII, 42). 963 Autoren wie Marcel Proust oder Vladimir Nabokov, die dieses Fortgezogenwerden (sowohl des Lesers als auch der dargestellten Personen) durch Strukturähnlichkeiten zwischen verschiedenen Zeitebenen ausgiebig inszenieren und praktizieren, lassen sich als Zeugen dafür heranziehen, dass Dilthey hier einen validen phänomenologischen Punkt macht. Zu überlegen wäre, inwiefern auch die Darstellungstechnik des »stream of consciousness« auf diesem Phänomen beruht.
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weiß von dem Inhalt meines Schrankes durch Musterung, ich sorge mich um unfertig Daliegendes, dessen Vollendung noch unberechenbare Arbeit von mir verlangt. All dies Über, Von und Auf, alle diese Beziehungen des Erinnerten auf das Erlebte, kurz diese strukturellen inneren Beziehungen müssen von mir, der ich jetzt die Fülle des Erlebnisses auffassend erschöpfen will, aufgefaßt werden. Und eben, um es zu erschöpfen, muß ich rückwärts im strukturellen Gefüge zu den Erinnerungen anderer Erlebnisse zurückgehen.«964
Drei Gefühlvaleurs des aktuellen Erlebnisses werden unterschieden, die jeweils in Zusammenhang stehen mit einem anderen vergangenen Erlebnis: mit der zurückliegenden Arbeitsanstrengung (Müdigkeit), mit der Musterung des Schrankinhalts (Gegenstandsbezug), mit dem Klarwerden über den Zustand der Manuskripte (Sorge). Diese aufscheinenden Verbindungen zu vergangenen Erlebnissen tragen offenbar dazu bei, die Differenzierung der die aktuellen Situation ausmachenden Aspekte mit zu ermöglichen. Und darüber hinaus findet eine Abstufung der Relevanz der Einzelaspekte für die erlebte Gesamtsituation statt. Das Gefühl der Müdigkeit wird als »Grundlage« und das der Sorge als durch sie »begründet« angesprochen. Dadurch vereindeutigt sich das reflektierende Bewusstsein die vorliegende Situation weitergehend, ordnet sie ein, deutet sie aus und nimmt bereits ansatzweise Stellung zu ihr: der besorgte Zustand wird in der Hauptsache auf die durch die Arbeit des Tages erschöpfte Schaffenskraft zurückgeführt; der objektive Zustand der Manuskripte bleibt weiterhin dürftig, doch ist die Lage nicht so desolat und die Aussicht auf Abschluss des Textes nicht so düster, wie es in dieser durch Müdigkeit getränkten Nachtstunde erscheinen mag; bei Morgenlicht betrachtet, wird sich die Situation sicher anders, bewältigbarer darstellen. In dem eben ausführlich dargestellten Prozess der Selbstbeobachtung macht Dilthey geradezu inflationären Gebrauch von dem Ausdruck »Struktur« (und verwandter Bildungen), der nicht weiter erläutert wird. An anderer Stelle, und zwar im näheren Kontext der Darstellung der Lebenskategorien, wird »Struktur« als Unterkategorie der »Bedeutung« eingeführt. »Während die Bedeutung die Kategorie für den unzerlegten Lebenszusammenhang ist, entsteht die Kategorie der Struktur erst aus der Analysis dessen, wo Lebendes in ihm wiederkehrt.«965 964 GS VII, 28f. Die Frage drängt sich auf, ob systematisch zwingende Gründe dafür vorliegen, dass hier ausschließlich von rückwärtigen Verbindungen die Rede ist. Man könnte doch vermuten, dass die Bedeutung des Erlebnisses auch von den Plänen, den antizipierten Zukünften, in die es eingeordnet ist, bedingt ist (etwa als Sorge um die Fertigstellung des opus magnum, das entscheidend die Auffassung der Nachwelt vom eigenen Werk prägen soll). Bereits das Stichwort der »Sorge« lässt an Heidegger denken; der bei Dilthey hier ausgeblendete Bezug auf die Zukunft ruft dessen Begriff des »Entwurfs« auf (Vgl. Heidegger 2006: 144ff, 191ff, 406ff; vgl. Landgrebe 1928: 361–366). 965 GS VII, 237.
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Dies entspricht dem dargestellten Beobachtungsprozess, der sich als Vergegenständlichungs-, Artikulations-, Analysevorgang erwiesen hat, recht genau. Je weiter er fortschreitet, desto häufiger fällt auch der Ausdruck »Struktur«. So scheint, dass auch zwischen »Bedeutung« und »Struktur«, wie bereits zwischen »Erleben« und »Erlebnis«, lediglich ein Aspektunterschied besteht. Demnach ließe sich sagen: Struktur ist artikulierter (und d.i. gegliederter, konkreter und inhaltlich bestimmter) Bedeutungszusammenhang. Insofern dieser Vorgang der inhaltlichen Artikulation und Bestimmung durch die elementaren logischen Operationen bzw. die Formalkategorien erfolgt, steht der Strukturbegriff (anders als der Begriff der Bedeutung) im Grunde bereits zwischen den Real- und den Formalkategorien. Denn erst auf dieser Stufe der Artikulation lässt sich überhaupt sagen, worin die zunächst vage gefühlten (bzw. im Fortgezogenwerden erlebten) Zusammenhänge zu vergangenen Erlebnissen bestehen. Dies geschieht indem ein »Wiederkehrendes« identifiziert, also als ein Wiederkehrendes erkannt wird (ein Objekt, eine Stimmung, ein Geruch, eine Geste, ein Farbton, eine Konstellation, usw.).966 Neben diesen Ähnlichkeitsbeziehungen ist auch mit strukturellen Verbindungen anderen Typs zu rechnen, so vor allem mit Ursache/ Wirkungsverbindungen, in der Selbstbeobachtungspassage durch »Arbeit« und »Müdigkeit« exemplifiziert. Die strukturellen Verbindungen verknüpfen die Erlebnisse derart, dass sie untereinander größere Einheiten einer wiederum einheitlichen Bedeutung bilden. Das heißt nun, dass nicht weniger als drei Begriffe von Struktur auseinandergehalten werden müssen.967 Zunächst ist von Struktur im Sinne einer (im Erlebnis bestehenden) »strukturellen Einheit von Verhaltungsweisen und Inhalten« die Rede.968 Dieser Begriff wird unmittelbar vor dem referierten Selbstbeobachtungsabschnitt eingeführt und wird in dessen Rahmen wiederholt aufgerufen. »Mein wahrnehmendes Verhalten samt seiner Beziehung auf den Gegenstand ist so gut ein Erlebnis als mein Gefühl über etwas oder mein Wollen von etwas.«969 Diese Art der Struktur weist durch die Korrelation von »Verhaltungsweisen und Inhalten« eine gewisse Ähnlichkeit zu propositionalen Einstellungen auf (wissen, dass; fürchten, dass; …), nur dass als Inhalt von Dilthey offenbar nicht allein Propositionen, sondern auch Gegenstände vorgesehen sind und dass 966 »Es gibt Augenblicke des Lebens, in welchen die Begebenheiten, gleich geflügelten Weberschiffchen, vor uns sich hin und wieder bewegen, und unaufhaltsam ein Gewebe vollenden, das wir mehr oder weniger selbst gesponnen und angelegt haben.« (GW V, 545f). »I confess I do not believe in time. I like to fold my magic carpet, after use, in such a way as to superimpose one part of the pattern upon another. Let visitors trip.« (Nabokov 1999: 106). 967 Zu diesem Schluss kommt, auf die in dieser Sache klärende Husserllektüre verweisend, auch Dilthey (vgl. GS VII, 14n1). Unsere Rekonstruktion der drei Begriffe weicht, dem Zusammenhang der bisherigen Darstellung folgend, im Wortlaut von dieser Vorgabe ab. 968 GS VII, 25. 969 GS VII, 25f, Hervorhebungen hinzugefügt.
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auch die Präpositionen entsprechend variabel sind. Wenn es also zu Beginn der Selbstbeobachtung heißt »Da ist ein struktureller Bewußtseinszusammenhang, in welchem gegenständliches Auffassen die Grundlage bildet […]«, lässt sich das übersetzen in: [gegenwärtiges Erlebnis ist geprägt von der Verhaltungsweise der Wahrnehmung, deren Gegenstand (»Auffassungsgrundlage«) der (vorgestellte) Zustand der Manuskripte ist].970 Die Stelle der auffälligen Betonung der verschiedenen Präpositionen (»All dies Über, Von und Auf«) im Zuge der Selbstbeobachtung verstärkt nochmals den Bezug auf die angeführte Stelle zur Erläuterung dieses Strukturbegriffs.971 Neben diesen von der Korrelation von Verhaltungsweise und Inhalt ausgehenden Begriff 972 tritt die von Dilthey bereits in den psychologischen Texten der 1890er Jahren entwickelte Auffassung von der »Struktur des Seelenlebens«.973 Unter diesem Strukturbegriff ist die jeweils spezifische Konstellation und relative Stärke von kognitivem, emotivem und volitivem Moment zu verstehen, wie sie sich zu einem gegebenen Zeitpunkt als psychischer Gesamtzustand realisieren. Psychische Zustände zerfallen nach Dilthey nicht sortenrein in Vorstellungen, Gefühle und Willensakte, sondern alle drei Momente sind in jedem Bewusstsein (zu einem gewissen Grad) zu jedem Zeitpunkt im Spiel. Das Überwiegen eines der Momente bestimmt die Struktur des Gesamtzustandes und aufgrund dieser überwiegenden Strukturausprägung erfolgt dann eine Klassifikation des psychischen Zustandes unter die Rubrik »Vorstellung«, »Gefühl« oder »Willensakt«. Auch wenn diese beiden Strukturbegriffe klar unterscheidbar sind, ist festzustellen, dass Dilthey sie in der Selbstbeobachtungspassage sehr eng miteinander verzahnt, indem er die drei Momente der psychischen Trias als Kandidaten der Verhaltungsweisen fungieren lässt.974 Zu dieser Verschränkung tritt in derselben Passage schließlich der dritte Strukturbegriff, der auf den diachronen Zusammenhang verschiedener Erlebnisse etwa aufgrund eines wiederkehrenden Moments abhebt, dessen Verbindung zu den ersten beiden weniger eng erscheint als deren Verzahnung miteinander. Die Lebenskategorie der Bedeutung, die (abgesehen von einigen Nebenbedeutungen) im Kern das Verhältnis von Lebensabschnitten und einzelnen Erlebnissen zum ganzen Lebenslauf bezeichnet, allgemeiner: Teil/Ganzes-Relatio970 GS VII, 28. 971 Vgl. GS VII, 25f und 28f: beide Male »über, von und auf«. 972 In ihm ist deutlich ein Aneignungsversuch der Husserlschen Korrelatstruktur von Noema und Noesis zu erkennen. Diese konkreten Ausdrücke werden zwar erst in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie (1913) eingeführt und kommen in den Logischen Untersuchungen (1900/01), die Diltheys Lektüre bildeten, noch nicht vor. Doch, darauf verweist Husserl im Vorwort zur zweiten Auflage der Untersuchungen, zeichnen sie sich der Sache nach bereits im früheren Werk ab (vgl. Husserl 2009: 13f). 973 Vgl. GS V, 200–204. 974 Siehe oben; »wahrnehmen von/Bezug auf, Gefühl über, Wollen von« (vgl. GS VII, 25f).
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nen artikuliert, wird von Dilthey immer wieder mit der Zeitdimension der Vergangenheit und mit der Erinnerung in Verbindung gebracht. »Die Kategorie der Bedeutung bezeichnet das Verhältnis von Teilen des Lebens zum Ganzen, das im Wesen des Lebens gegründet ist. Wir haben diesen Zusammenhang nur vermittels der Erinnerung, in welcher wir den vergangenen Lebenslauf überblicken können.«975 »Nur die Kategorie der Bedeutung überwindet das bloße Nebeneinander, die bloße Unterordnung der Teile des Lebens. Und wie Geschichte Erinnerung ist und dieser Erinnerung die Kategorie der Bedeutung angehört, so ist diese eben die eigenste Kategorie geschichtlichen Denkens.«976
Nachvollziehbarer werden diese Bemerkungen, wenn man bedenkt, dass Dilthey hier vor allem an die Selbstbesinnung eines individuellen Menschen über seine eigene Biographie denkt. Seine Vergangenheit und Gegenwart bilden für ihn den Teil des Ganzen seines Lebens, der ihm oder ihr allein zugänglich ist. Sofern wir aber in der Gegenwart Pläne in die Zukunft hinein verfolgen, werfen diese auch ein Licht auf die eigene Vergangenheit und tragen so dazu bei, deren Bedeutung zu bestimmen und zu strukturieren. Insofern ist die Zuordnung von Bedeutung und Vergangenheit nicht als absolute zu verstehen. »Beständig wechselt unsere Auffassung von der Bedeutung des Lebens. Jeder Lebensplan ist der Ausdruck einer Erfassung der Lebensbedeutung. Was wir unserer Zukunft als Zweck setzen, bedingt die Bestimmung der Bedeutung des Vergangenen.«977
Aus der Vollzugsperspektive des Lebens heraus, lässt sich die Bedeutung des eigenen Lebenszusammenhangs, der Zusammenhang, in dem dessen Teile zum Ganzen stehen, prinzipiell nur unvollkommen bestimmen, allein deshalb, weil 975 GS VII, 233. 976 GS VII, 202. 977 GS VII, 233. Diese relative Gewichtung von überwiegender Rückwärts- und partieller Vorwärtsorientierung war bereits in der Selbstbeobachtungspassage zu erkennen. Zwar spannte dort die »Sorge« um die Aussicht auf Vollendung der Manuskripte die ursprüngliche Situation wesentlich mit auf, die Artikulation ihrer Bedeutungsdimension erfolgte jedoch hauptsächlich durch den rückwärtsgewandten Blick. So wie Dilthey die Bedeutungskategorie der Vergangenheit zuordnet, verweist er auch auf eine Kategoriengruppe, die primär auf die Zukunft gerichtet ist (»Zweck, Ideal, Gestaltung des Lebens«; vgl. GS VII, 233, 236, 242). Unter der Kategorie des »Werts« versteht er schließlich die Evaluation eines Gegenstandes durch ein Subjekt, die als solche einen Bezug auf die »Wirklichkeit des Gegenstandes« involviert und insofern einen engen Bezug zur Gegenwart (als dem Inbegriff des Wirklichen) aufweist (GS VII, 242; vgl. GS VII, 236). In keinem dieser Fälle ist die Zuordnung starr, stets wird auf Übergänge von einer Zeitdimension und einer Kategoriengruppe in die anderen hingewiesen. Da die Bedeutung als Kategorie des Zusammenhangs von Teil und Ganzem es vermag, die Wert- und Zweckdimension zu einem »Totalzusammenhang« zu integrieren, kommt ihr (und damit auch der Dimension der Vergangenheit) gleichwohl eine gewisse Vorrangstellung zu (GS VII, 236; vgl. GS VII, 202; Aron 1969: 78; Carr 1985: 424–428).
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sich das eigene Leben in eine (mehr oder weniger) offene Zukunft hinein vollzieht und daher nicht als abgeschlossenes Ganzes vorliegt. Die Kategorie der Bedeutung bezeichnet daher »eine Beziehung, die niemals ganz vollzogen wird. Man müßte das Ende des Lebenslaufes abwarten und könnte in der Todesstunde erst das Ganze überschauen, von dem aus die Beziehung seiner Teile feststellbar wäre. Man müßte das Ende der Geschichte erst abwarten, um für die Bestimmung ihrer Bedeutung das vollständige Material zu besitzen.«978
Hierin liegt eine tiefe Tragik des menschlichen Lebens: In demselben Moment, in dem die Datenlage endlich eine abschließende Bestimmung der Bedeutungsstruktur des eigenen Lebens erlaubt, erübrigt sich (aus naheliegenden Gründen) zugleich das Geschäft einer Besinnung über den eigenen Lebenslauf restlos, insofern dessen Sinn primär in der Orientierung der eigenen Lebensführung besteht. Eine Tragik, die vermutlich bedeutend drückender empfunden werden würde, wenn wir nicht als hermeneutische Wesen ganz selbstverständlich die (zum großen Teil abgeschlossen vorliegenden) Lebensläufe anderer Personen nachvollziehen könnten. Der Blick des Historikers schließlich löst sich nahezu vollständig von den engen durch die menschliche Lebensspanne gesetzten zeitlichen Grenzen und betrachtet mitunter Räume und Dauern, die den Umfang eines Menschenlebens weit hinter sich lassen. Der Prozess der retrospektiven Bestimmung von Bedeutung bleibt davon allerdings, so Diltheys systematische Pointe, unberührt. »Man müsste das Ende der Geschichte erst abwarten.« Insofern das im Irrealis formuliert ist und das Geschäft des Historikers in der Erkenntnis der Bedeutungsstruktur des Geschehens besteht, ist historisches Wissen konstitutiv vorläufig. Das Wissen darum, »was schließlich daraus geworden ist«, erlaubt dem Historiker zwar eine der zeitgenössischen Perspektive gegenüber überlegene Position. Aber auch er oder sie kann nicht antizipieren, »was noch alles daraus werden wird«.979
978 GS VII, 233. Das wusste bereits Solon, den Herodot die Sentenz »Niemand ist vor seinem Ende glücklich zu preisen.« dem Kroisos vortragen lässt (vgl. Herodot, Historien I, 30– 33.86). Gadamers zu dieser Stelle geäußerte Ablehnung wirkt wenig konsistent (»Offenbar ist es nicht so, daß jeweils das Letzte, was jemand erlebt, die Bedeutung des Lebenszusammenhangs erst vollendet und bestimmt. […] Ein Augenblick kann für ein ganzes Leben entscheidend werden.«, Gadamer 1993a: 31). Solange ein Leben aber nicht abgeschlossen ist, ist auch nicht auszuschließen, dass sich ein solcher entscheidender Augenblick noch ereignen wird. 979 Diese Struktur historischen Wissens hat Arthur C. Danto ausführlich analysiert. Dazu weist er auf die für die Geschichtsschreibung besonders charakteristischen »narrative sentences« hin. Das sind solche, die den unmittelbaren Zeitgenossen eines Ereignisses prinzipiell nicht zu Gebote stehen, weil sie ein Wissen um das, was aus diesem Ereignis später folgen wird, voraussetzen (vgl. Danto 2007: 143ff; »On the assumption that the war was so-called because
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Zur Ausschöpfung des Gehaltes des Erlebnisses gehört, wie ebenfalls an der Selbstbeobachtungspassage zu sehen, auch eine Explikation von Relevanzgesichtspunkten. Dort anhand der Fragen: Was ist hier grundlegend? Was eine bloße Folge? Diese Dimension spricht Dilthey mit dem Ausdruck »Bedeutsamkeit« an. Die durch ihn bezeichnete Kategorie entwickelt er im unmittelbaren Anschluss an die »Struktur« und bezieht sie wie diese durchgängig auf die beiden gemeinsame Grundkategorie »Bedeutung«. Das lässt vermuten, dass auch hier ein gegenüber von »Bedeutung« und »Struktur« neuer Aspekt (der im Wesentlichen selben Sache) zu Bewusstsein gebracht werden soll. »Bedeutsamkeit ist die auf der Grundlage des Wirkungszusammenhanges entstehende Bestimmtheit der Bedeutung eines Teiles für ein Ganzes. Sie tritt im Lebensverhalten zum Wirkungszusammenhang als ein Verhältnis der Glieder desselben, das weiter greift als das Erlebnis des Erwirkens und die Glieder in einer vom Erwirken unabhängigen Ordnung verknüpft.«980
(Den Bezug auf den »Wirkungszusammenhang« lassen wir zunächst unerläutert. Er wird Gegenstand des nächsten Abschnitts sein.) Wie bereits die »Struktur« steht auch die »Bedeutsamkeit« aufseiten der »Bestimmtheit der Bedeutung«. Sie setzt ebenfalls das Erlebnis in seiner analysierten und artikulierten Form voraus. Welcher Aspekt ist nun der Bedeutsamkeit eigentümlich? »Wir erfassen die Bedeutung eines Momentes der Vergangenheit. Er ist bedeutsam, sofern in ihm eine Bindung für die Zukunft durch die Tat oder durch ein äußeres Ereignis sich vollzog. Oder sofern der Plan künftiger Lebensführung erfaßt wurde. Oder er ist für das Gesamtleben bedeutsam, sofern das Eingreifen des Individuums in dieses sich vollzog, in welchem sein eigenstes Wesen in die Gestaltung der Menschheit eingriff.«981
Bedeutsam ist ein Moment, ein Erlebnis folglich dann, wenn es (bedeutsame) Konsequenzen hat. Graphentheoretisch gesprochen lassen sich (nach unserer of its length, nobody could presumably describe it in 1618 – or at any time before 1648 – as the ›Thirty Years War‹.«, S. 152). 980 GS VII, 238f. Der Bedeutsamkeitsbegriff hat im Anschluss an Dilthey eine eigentümliche Karriere gemacht. Erich Rothacker formuliert geradezu einen »Satz der Bedeutsamkeit«, der so etwas wie ein Mindestmaß an empfundener Relevanz von Eindrücken bezeichnet, vergleichbar dem Konzept der Wahrnehmungsschwelle für die Intensität sinnlicher Qualitäten (vgl. Rothacker 1971: 98f). Heidegger eignet ihn sich im Rahmen von »Sein und Zeit« ebenfalls an (vgl. Heidegger 2006: 83ff). Und schließlich räumt ihm Blumenberg in seinen Arbeiten zum Mythos eine ausgesprochen prominente Stellung ein (vgl. Blumenberg 2006: 68–126). 981 GS VII, 233. Auch auf den Begriff der Fruchtbarkeit wird von Dilthey in diesem Zusammenhang verwiesen: »ich finde dasjenige in der Gegenwart bedeutend, was fruchtbar ist für die Zukunft, für mein Handeln in ihr, für das Fortschreiten der Gesellschaft zu ihr hin.« (GS VII, 289). »Fruchtbar« ist demnach das Weiterführende, das Anschlussfähige, das Ergiebige und Vielversprechende (vgl. GS XX, 5).
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bisherigen Rekonstruktion) Erlebnisse als Knoten auffassen und deren strukturelle Verbindungen als Kanten. Ein Maß der Bedeutsamkeit eines Erlebnisses wäre dann die relative Größe der Anzahl der von ihm zu (von ihm aus gesehen in der Zukunft liegenden) Erlebnissen bestehenden strukturellen Verbindungen, wobei der Bezug auf den »Wirkungszusammenhang« dahingehend zu verstehen sein dürfte, dass sich der Bedeutsamkeitsbegriff nur auf strukturelle Verbindungen eines bestimmten Typs bezieht, nämlich primär auf Ursache/WirkungsBeziehungen und nicht etwa auf Ähnlichkeitsverhältnisse. Eine naheliegende Komplizierung des Modells bestünde darin, zur Bewertung der Bedeutsamkeit eines Erlebnisses dessen Folgen nicht nur abzuzählen, sondern zusätzlich nach ihrer Bedeutsamkeit zu gewichten.982 Dieses graphentheoretische Modell dient lediglich der annäherungsweisen Verdeutlichung von theoretischen Verhältnissen, die bei Dilthey strikt qualitativ konzipiert sind. Strukturelle Beziehungen und auch Erlebnisse lassen sich (nach seiner Auffassung) nicht eindeutig voneinander abgrenzen und damit auch nicht zählen. Trotz dieser gravierenden Beschränkung der Aussagekraft des Modells fängt es doch einen Aspekt ein, der auch der umgangssprachlichen Rede von Relevanz entspricht, die ebenfalls ohne Quantifizierungen auskommt. Bedeutsam ist etwas dann, wenn Bedeutsames aus ihm folgt.983 Für das »Einzeldasein« etwa der Besuch einer Sylvesterparty, der zu einer Eheschließung führt; für das »Gesamtleben« möglicherweise Luthers Thesenanschlag mit seinen unabsehbaren Konsequenzen, darunter der 30-jährige Krieg. »Erleben und Verstehen ergeben als erste Einsicht, daß in ihnen Zusammenhang aufgeht. Wir verstehen nur Zusammenhang. Zusammenhang und Verstehen entsprechen einander.«984
982 Diesem iterativen Modell entspricht die Grundstruktur des frühesten Google-Algorithmus zur rein formalen Erkennung der relevantesten Suchergebnisse durch eine graphentheoretische Analyse der gesetzten Links (nur dass dieser Algorithmus die Verlinkungen, die auf eine Seite verweisen zur Bewertung heranzieht und nicht die von der Seite ausgehenden Links). 983 Diese Bestimmung trifft sich mit Gregory Batesons Erläuterung des Informationsbegriffs: »a difference which makes a difference« (Bateson 2000: 459, Hervorhebungen entfernt); noch deutlicher, wenn man die Bemerkung »Difference which occurs across time is what we call ›change‹.« (Bateson 2000: 458) hinzunimmt. Von den von Danto unterschiedenen Formen der Relevanz entspricht die Bedeutsamkeitskategorie Diltheys damit am ehesten der »consequential significance«, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass Dilthey anders als Danto der Auffassung ist, dass damit eine objektive Struktur angesprochen wird (vgl. Danto 2007: 132–135). 984 GS VII, 257. Die Erläuterung des Bedeutungsbegriffs als einer Kategorie des Zusammenhangs bietet aussichtsreiche theoretische Alternativen zum Fregeschen Bedeutungsbegriff. In eine verwandte Richtung deuten (neben dem Brandomschen Inferentialismus) der Sinnbegriff Luhmanns (vgl. Luhmann 1987: 92ff; Clam 2002: 57–59) sowie von Oliver R. Scholz vorgelegte Überlegungen zum Verstehensbegriff (vgl. Scholz 2016).
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Durch die Zusammenhangskategorie der Bedeutung wird neben der Beziehung, die zwischen Lebensläufen und ihren Teilen besteht, auch für höherstufige Gegenstände der Geisteswissenschaften ein Weg zur Erläuterung ihrer Konstitution eröffnet. So legt Dilthey sich die Frage vor, welcher Rechtsgrund etwa für die Einführung von »Bewegungen« oder »Zeitaltern« als Subjekten geisteswissenschaftlicher Aussagen besteht.985 Wie lassen sich Sätze über »das Mittelalter« oder über »die Reformation« ausgehend von den Erlebnissen konkreter Lebenseinheiten verstehen?986 Diesen Übergang zu den »historischen Kategorien« erläutert Dilthey nicht ausführlich, deutet aber an, dass die Lebenskategorien von Bedeutung, Zweck, Struktur relevant bleiben.987 Dass es sich bei diesen Gegenständen um »Bedeutungseinheiten« handelt, ist auch unmittelbar plausibel. »Denn an sich sind ja alle Veränderungen in der gleichen Weise ursächlich miteinander verbunden, kausal grenzt sich die Gründung des Deutschen Reiches, französische Revolution nicht ab von dem, was vorher oder nachher in dem entsprechenden Kreise geschehen ist.«988
Auch nach diesem Erläuterungsschritt der Lebenskategorien fällt die Ausbeute in Sachen Konstitutionstheorie schmal und inhaltlich anders gelagert aus, als es von einem Kantischen Standpunkt aus zu erwarten gewesen wäre. Denn die Konstitutionsleistung der Lebensbegriffe wird von Dilthey nicht als Alternativangebot zur Transzendentalphilosophie mit Blick auf die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung erläutert, sondern mit dem thematischen Fokus, den »Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« verständlich zu machen.989 Die ursprüngliche transzendentalphilosophische Problematik der Gegenstandskonstitution wird von Dilthey de facto nicht wieder aufgegriffen, was unter den Bedingungen seiner (gegenüber Kant entschieden) deflationären Kategorienlehre auch kaum anders vorstellbar ist.990 985 Vgl. GS VII, 264ff, 282f, 286. Für die Gegenstandskonstitution im Kantischen Sinn interessiert sich Dilthey in diesem Zusammenhang offenbar nicht. 986 »Die Urzelle der geschichtlichen Welt ist das Erlebnis, in dem das Subjekt im Wirkungszusammenhang des Lebens zu seinem Milieu sich befindet.« (GS VII, 161). 987 GS VII, 286; vgl. Nohl 1979: 109 (»Es steht hier kein System mehr dem Leben und der Geschichte gegenüber, sondern die aufgeklärte Gliederung des Lebens ist das lebendige System der Geschichte.«). Zudem weist Dilthey aber auch deutlich darauf hin, dass die Lebenskategorien als Basis der historischen Kategorien nicht ausreichen (GS VII, 251); Aron 1969: 107 (»La biographie est finalement une époque vue à travers un homme.«). 988 GS VII, 270. 989 Die Überlegungen im Text »Leben und Erkennen« liegen thematisch der transzendentalen Fragestellung der Gegenstandskonstitution auf der Ebene von Wahrnehmungsgegenständen zwar näher, liefern aber nur eine genetische Erläuterung zur Entstehung der Substanzund der Kausalitätskategorie mit antirealistischer Pointe (vgl. GS XIX, 362–374). 990 Es ist auch nicht ersichtlich, wie Dilthey einerseits am »nachgeborenen« Charakter des menschlichen Denkens und dessen Bedeutung für die partielle Inkommensurabilität von Denk- und Seinsstrukturen festhalten und andererseits zugleich eine transzendentalphilo-
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4.2.3 Wirkungszusammenhang, Kraft und Kraftübertragung »Only connect!« E. M. Forster, Howards End
Alle bisher entwickelten Bestimmungen wurden aus dem Erlebnis selbst oder aus dessen Analyse entwickelt.991 Wenn Dilthey daher auf denselben Seiten einen »Erlebnissatz« formuliert, hat das potentiell weitreichende Folgen für den ganzen theoretischen Kontext. »Der Erlebnissatz: alles, was für uns da ist, das ist es nur als ein solches in der Gegenwart Gegebenes. Auch wenn ein Erlebnis vergangen ist, ist es für uns nur da als ein im gegenwärtigen Bewußtsein Gegebensein. Verhältnis zum Satz des Bewußtseins: der Satz ist allgemeiner (und voller). Denn er umfaßt auch das Nichtwirkliche.«992
Die Brüchigkeit des Zusammenhangs, in dem diese Formulierung steht, erschwert eine Bestimmung ihrer Stoßrichtung. Zunächst entsteht der Eindruck, als sollte (ganz im Sinne der Philosophie als Wirklichkeitswissenschaft) die sophische Theorie der Gegenstandskonstitution verfolgen könnte. Am nächsten kommt Dilthey der kantischen Fragestellung, wenn er als Unterklasse der inneren Erfahrung die transzendentale Erfahrung einführt. Auf dieses hölzerne Eisen greift er allerdings nicht wieder zurück, eigentliche theoretische Arbeit wird mit ihm nicht geleistet. So bleibt diese Klasse der Erfahrung eine ziemlich vage Idee (GS V, 246–248). Dass Dilthey die Perspektive der transzendentalen Ontologie nicht übernimmt, obwohl er Kant eine für alles Philosophieren so maßgebliche Rolle zuschreibt, konstatierte bereits Hugo Krakauer. Dass er deswegen selbst »ganz in der Problemsphäre, der Fragestellung der ontologischen Metaphysik [leben]« sollte, folgt daraus allerdings nicht (vgl. Krakauer 1913: 45–48, hier: 47). 991 Die Verschiebung, die Jacob Owensby zwischen den Ausführungen zu den Lebenskategorien in »Leben und Erkennen« [GS XIX] und im Aufbau [GS VII] konstatiert, sind nicht überzubewerten. Ein Neuansatz Diltheys ist nicht zu erkennen. »In the ›Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹ the category of meaning is the expression of the connection of individual moments of the past into a mnemonic whole. That is, the past is given as a remembered whole […]. This formulation represents an objective approach to life in which the events of life are to be understood in their relation to other events and the cultural milieu of which they are a part. In ›Leben und Erkennen‹ Dilthey does not view meaning as an objective part-whole relation, rather he proceeds more psychologically by defining meaning in terms of the subjective processes of feeling and willing whose fulfillment is the goal of life.« (Owensby 1987: 563). Zutreffend ist, dass sich der Bedeutungsbegriff des Aufbaus in [GS XIX] nicht findet. Das kann allerdings auch auf die verschiedene thematische Ausrichtung der Texte zurückzuführen sein. Irreführend ist es jedoch nahezulegen, Dilthey hätte um willen der objektiven Momente die subjektiv-psychologischen abgeblendet, denn die bleiben durchweg erhalten. Owensby selbst spricht ganz korrekt von der Vergangenheit »as a remembered whole« und verweist damit auf den weiterhin zentralen subjektiven Anteil. Der frühe Bedeutungsbegriff wird also in Richtung der objektiven Kultursphäre entfaltet, nicht revidiert. 992 GS VII, 230; vgl. Bollnow 1988: 181. Dieser »Erlebnissatz« ist notorisch unklar formuliert, so ist nicht einmal der Bezug von »der Satz« eindeutig zu ermitteln (da es nahe liegt, eine Überbietung des Früheren durch das Spätere anzunehmen, ist vermutlich der Erlebnissatz und nicht der Satz des Bewusstseins, d.i. der Satz der Phänomenalität gemeint).
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Zuordnung von Erlebnis – Gegenwart – Wirklichkeit betont werden. Primär wirklich ist allein im Erlebnis Gegebenes; im Erlebnis gegeben zu sein, bedeutet in der Gegenwart des Erlebnisses gegeben zu sein. Auch Vergangenes (und Zukünftiges) existiert nur insofern es in der Gegenwart des Erlebnisses gegeben ist. Das bedeutete, dass mit dem »Nichtwirklichen« das »Nichtmehrwirkliche« gemeint wäre, das aber in seinen Nachwirkungen gleichwohl zur Fülle der Gegenwart beiträgt. Dann allerdings würde der Erlebnissatz im Wesentlichen die Zeitreflexionen des Augustinus aufgreifen. »Weder das Zukünftige ist noch das Vergangene, und man kann auch von Rechts wegen nicht sagen, es gebe drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vielleicht sollte man richtiger sagen: es gibt drei Zeiten, Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen, und Gegenwart des Zukünftigen. Denn diese drei sind in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht. Gegenwart des Vergangenen ist die Erinnerung, Gegenwart des Gegenwärtigen die Anschauung, Gegenwart des Zukünftigen die Erwartung.«993
Im Folgenden wird sich zeigen, wie Dilthey diesen bei Augustinus als seelisches Verhältnis gefassten Bezug auf Vergangenheit und Zukunft mittels des Begriffs des Wirkungszusammenhangs objektiv wendet. Das Nachschwingen der Vergangenheit in der Gegenwart und deren Schwangergehen mit dem, was kommen wird, bezeichnet Dilthey mit einer weiteren Lebenskategorie. »So ist die Gegenwart von Vergangenheiten erfüllt und trägt die Zukunft in sich. Dies ist der Sinn des Wortes ›Entwicklung‹ in den Geisteswissenschaften«.994
Mit Blick auf die Bedeutsamkeit war davon die Rede, dass sie »auf der Grundlage des Wirkungszusammenhangs« beruhe. So liegt nahe, dass es sich bei diesem um das System der strukturellen Zusammenhänge desselben Typs handelt, also um Ursache/Wirkungsbeziehungen, die allerdings primär in der Außenwelt verlaufen, genauer: in der Sphäre des objektiven Geistes. Als »Wirkungszusammenhang«, der zwar nicht unmittelbar im Rahmen der Lebenskategorien behandelt, aber durchaus als »Grundbegriff der Geisteswissenschaften« eingestuft wird, spricht Dilthey mithin einen Aspekt der »geistigen Welt« als ganzer an, insofern diese aus »dauernden Produkten« des menschlichen Geistes besteht.995 Er lässt sich geradezu als systematische Rekonstruktion eines Goetheverses beschreiben: »Kein Wesen kann zu nichts zerfallen.«996
993 Augustinus 1982: 318 (Confessiones XI, tr. Wilhelm Thimme: »[…] praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris expectatio […]«). 994 GS VII, 232. 995 GS VII, 152, 153, 156. 996 Goethe, Vermächtnis (GW XVIII/1, 35).
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Alles was Teil der »geistigen Welt« wird, wirkt fort, auch wenn es selbst nicht fortbestehen sollte.997 Das Athen des 5. Jahrhunderts »ist nicht mehr«, wirkt in vielen Kontexten und Hinsichten aber kraftvoll weiter. Dieser Aspekt eines allgemeinen Wirkungszusammenhangs lässt an die Gravitationskraft denken, mit der jeder Massekörper auf jeden anderen Massekörper, gleichgültig in welcher Entfernung, einwirkt. Inwiefern hier tatsächlich belastbare Analogien bestehen, wird zu prüfen sein. Zunächst ist Dilthey jedenfalls um eine Abgrenzung des Wirkungszusammenhangs vom naturwissenschaftlichen Kausalnexus bemüht. »Dieser Wirkungszusammenhang unterscheidet sich von dem Kausalzusammenhang der Natur dadurch, daß er nach der Struktur des Seelenlebens Werte erzeugt und Zwecke realisiert. Und zwar nicht gelegentlich, nicht hier und da, sondern es ist eben die Struktur des Geistes, in seinem Wirkungszusammenhang auf der Grundlage des Auffassens Werte zu erzeugen und Zwecke zu realisieren. Ich nenne dies den immanentteleologischen Charakter der geistigen Wirkungszusammenhänge.«998
Insofern menschliche Akteure unter Wertgesichtspunkten handeln und mit ihrem Engagement in der Welt Zwecke zu realisieren beabsichtigen, ist zu erwarten, dass diese Werte und Zwecke sich in der Sphäre des objektiven Geistes, dem Inbegriff menschlich-kultureller Hervorbringungen, niederschlagen und an diesen »dauernden Produkten« auch dauerhaft ablesbar sind. (Zu sagen, dass das klassische Athen in der Form einer Menge exemplarisch realisierter Werte und des mit ihnen verbundenen Anspruchs fortwirkt, wirkt zumindest nicht unplausibel.999) Anders als naturwissenschaftlich beschreibbare Kausalverhältnisse kann der von Dilthey in den Blick genommene Wirkungszusammenhang »nicht
997 Auch unter diesem Aspekt einer Irreversibilität des Eintritts in den Wirkungszusammenhang macht Diltheys Dramatisierung des Übergangs vom bloß Möglichen zum Wirklichen nachvollziehbaren Sinn. 998 GS VII, 153; vom »immanent-teleologischen Charakter« war zunächst in Bezug auf die seelische Struktur die Rede (vgl. GS V, 207). Zu Diltheys Werttheorie finden sich im Anhang einige weitere Hinweise. Offenbar versteht Dilthey unter ihnen handlungsleitende, -rechtfertigende, -evaluierende, -motivierende, usw. Gesichtspunkte, die sich zumindest zum Teil im Erlebnis erschließen. Ohne »Werte an sich« zu postulieren, geht er doch von einer robusten Intersubjektivität von Werturteilen aus. Die Rede ist von einer »unendliche[n] Fülle von Daseinswert, negativem, positivem, von Eigenwerten« (GS VII, 236; vgl. 241–243). Und er hält fest: »Es handelt sich um ein objektives Auffassen des Wertes der einzelnen Vorgänge für das geschichtliche Leben der Menschheit.« (GS XIX, 278). 999 Sich dem Wertanspruch klassischer Wertrealisierungen auszusetzen, läuft selbstverständlich nicht auf den Versuch einer Wiederholung dieser Leistungen oder einer Wiederbelebung gewesener Institutionen hinaus: »What is dead is dead, and in many important respects we would not want to revive it even if we knew what that could mean. What is alive from the Greek world is already alive and is helping (often in hidden ways) to keep us alive.« (Williams 2008: 7).
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nach [seiner] Intensität gemessen«, sondern nur »erlebt« werden.1000 Die Unmöglichkeit die im Rahmen des Wirkungszusammenhangs wirkenden Kräfte quantitativ zu erfassen, führt Dilthey dazu, dessen partielle Unabhängigkeit von und spezifische Differenz gegenüber dem Kausalnexus dahingehend zu kommentieren, dass in jenem das Prinzip der Energieerhaltung (»causa aequat effectum«) nicht zur Anwendung komme.1001 Stattdessen zeichne sich die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit nicht nur durch »Erhaltung«, sondern wesentlich auch durch »Glück und Entwicklung der Individuen, Erhaltung und Steigerung der Art und Gattung« aus.1002 Die im Wirkungszusammenhang Diltheys bestehenden Kräfte sind also durchaus intensive Größen und lassen sich daher prinzipiell hinsichtlich ihrer Stärke sortieren. Doch gibt es dafür kein Verfahren einer allgemeingültigen Messung, nur die Wertauffassung im Erleben der Lebenseinheiten.1003 Mithin kommt dem Wirkungszusammenhang ein eigentümlich subjektiv/ objektiver Doppelcharakter zu: er besteht in einem objektiven Sinne (in dem Wertanspruch, der von allen jemals geschehenen Wertrealisierungen ausgeht), unabhängig von den aktualen Erlebnissen und Wertauffassungen. Er stellt also eine fortdauernde Möglichkeit, erlebnisförmig aufgefasst zu werden, dar. Andererseits haben die realisierten Werte und Zwecke keinen anderen Sinn, als eben durch ihr Aufgefasstwerden in individuellen Erlebnissen sich auf das Handeln der entsprechenden Lebenseinheit auszuwirken und damit zu neuen Realisierungen von Werten und Zwecken beizutragen.1004 Da Erlebnis nicht unmittelbar auf Erlebnis einwirken kann, stellt der objektive Geist, die Sphäre realisierter Zwecke und Werte, eine notwendige Vermittlungsinstanz zwischen den Individuen dar; er bildet, wie gesehen, die Sphäre der Gemeinsamkeit. Das damit verbundene Auseinandertreten von subjektivem und objektivem Geist, der Umstand, dass der Gehalt des objektiven Geistes nicht auf das individuelle Erleben zurückgeführt werden kann, dass dieser gegenüber den Intentionen der 1000 GS VII, 159; vgl. Seneca, De vita beata, II, 2: »animi bonum animus inveniat«. 1001 Vgl. GS V, 158, 194 (»Ohne das Denkmittel des causa aequat effectum gab es für die erklärende Psychologie keine sichere Regel des Fortschreitens.«), 265; GS VI, 66; GS VII, 228; GS IX, 182f. Formuliert wurde dieses auch als Erster Hauptsatz der Thermodynamik bekannte Prinzip in den 1840ern von Robert Mayer. Die Gegenposition zu Dilthey vertritt auf exemplarische Weise J. F. Herbart (vgl. Herbart 1993: 310–315). 1002 GS VI, 66. 1003 Der Vorgang der »Wertauffassung« ist genauer ein nacherlebender und verstehender, das ist an dieser Stelle aber noch nicht weiter erheblich. 1004 Andeutungen dieses subjektiv/objektiven Doppelaspekts finden sich auch in Bezug auf »Zweck« (vgl. GS VII, 257) und »Bedeutsamkeit« (vgl. GS VII, 239). Ludwig Landgrebe spricht in diesem Zusammenhang von einem »Ansichsein« der Geschichte oder einem »An sich des Vergangenen« (vgl. Landgrebe 1928: 344, 352f). Zur Rolle der Objektivität in den Geisteswissenschaften und zur Differenz von Mythos und Geschichte vgl. Litt 1928: 97ff; Gehlen 2004: 264–269.
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Subjekte einen unsteuerbaren und zum Teil unübersehbaren Eigensinn entwickelt, wurde bereits angemerkt.1005 Da in Diltheys Begriff des objektiven Geistes der Aspekt der Materialität notwendig enthalten ist, ist das bisher gegebene Bild vom Wirkungszusammenhang in einem schwerwiegenden Sinn unvollständig. Insoweit es sich bei der Sphäre des objektiven Geistes immer auch um konkrete materielle Gegenstände handelt, kann im Zuge einer Erläuterung des Wirkungszusammenhangs von dessen positiver Zuordnung zum Kausalnexus nicht abgesehen werden. In der Einleitung findet Dilthey dafür ein prägnantes Beispiel. »Wie unscheinbar ist oft die Veränderung, welche die schöpferische Macht des Geistes in der Außenwelt hervorgebracht hat: und doch ruht in dieser allein die Vermittlung, durch welche der so geschaffene Wert auch für andere da ist. So sind die wenigen Blätter, welche, als ein materieller Rückstand tiefster Gedankenarbeit der Alten in der Richtung der Annahme einer Bewegung der Erde, in die Hand des Kopernikus kamen, der Ausgangspunkt einer Revolution in unserer Weltansicht geworden.«1006
Diltheys stark betonte Abhebung des Wirkungszusammenhangs vom Kausalnexus, sollte daher nicht zu dem Missverständnis verleiten, dass dieser in der Form einer mysteriösen Fernwirkung völlig ohne materielle Grundlage, nur für sich, bestehen und sich auswirken könnte.1007 Andererseits lässt sich durch keine physikalische Untersuchung der »wenigen Blätter« deren (in diesem Fall: epistemischer) Wert erkennen und damit auch die unabsehbare Wirkung ihrer Wiederentdeckung nicht erklären. Andersherum gilt vielmehr, dass die Bedeutsamkeit eines Ereignisses und die Größe des von ihm ausgehenden Wertanspruchs die Wahrscheinlichkeit dafür erhöhen, dass seine materiellen Spuren und Reste überliefert werden.1008 Der Wirkungszusammenhang im Sinne Diltheys ist also einerseits gebunden an ein materielles Substrat, andererseits besteht er in relativer Selbstständigkeit gegenüber dieser Grundlage und den
1005 Vgl. GS VII, 154; (s. o.). Bereits Hegel weist im Rahmen seiner Handlungstheorie, einem Grundbaustein seiner Lehre vom objektiven Geist, darauf hin, dass sich eine Handlungsintention im Zuge ihrer Realisierung mehrfach an der Wirklichkeit wie an einem fremden Medium bricht (S. 215) und so »in ihrer Äußerlichkeit als die meinige [allererst] gewußt« (S. 211) werden muss (vgl. HW VII, 208–223). 1006 GS I, 18 (Hervorhebung hinzugefügt). 1007 Im Fall von Texten bildet etwa auch die Kenntnis der entsprechenden Sprache eine notwendige Voraussetzung des Wirkungszusammenhangs. 1008 »Daß diese Dokumente für irgendeine Gegenwart so spärlich sind, ist die Folge der Auswahl, welche die Geschichte als Erinnerung unter dem Wust des Geschriebenen vornimmt. Sie läßt zu Staub, Asche und Fetzen alles werden, was keine Bedeutung hat.« (GS VII, 254) Andererseits kann herausragende Bedeutung etwa für eine Besatzungsmacht auch einen Grund zur gezielten Zerstörung dieses Dokuments oder Monuments darstellen.
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kausalen Wirkungsverhältnissen in einer in sich geschlossenen Zirkulation von Wertauffassung und -realisation.1009 Die Intensität des von einem Ereignis ausgehenden Wertanspruchs, die damit gegebene stehende Möglichkeit zur Wertauffassung, bezeichnet Dilthey nun, so unser rekonstruktiver Vorschlag, als »Kraft«; die tatsächlich realisierten Akte der Wertauffassung, die tendenziell zu handlungswirksamen Dispositionen in der Gegenwart beitragen oder sogar zu konkreten Anschlusshandlungen führen, als Vorgänge der »Kraftübertragung«.1010 »[…] indem aber die Geschichte die Veränderungen zu verstehen und auszudrücken sucht, geschieht es durch Begriffe, welche Energien, Bewegungsrichtungen, Umsetzungen der historischen Kräfte ausdrücken. Je mehr die historischen Begriffe diesen Charakter annehmen, desto besser werden sie die Natur ihres Gegenstandes ausdrücken.«1011
In einer Anmerkung Diltheys zu einer Briefstelle, in der Yorck von Wartenburg sich über das Verhältnis von Jesus als »Mensch und historische Kraft« zu dessen dogmatischer Ausdeutung durch das Christentum äußert, heißt es in letzter Generalisierung: »umgekehrt: alle Geschichte ist solche Kraftübertragung, nicht blos das Christenthum.«1012
Von entscheidender Bedeutung ist hier, sich klarzumachen, dass es sich nicht um eine (mehr oder weniger metaphorische) Übertragung des Newtonschen Kraftbegriffs auf die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit handelt. Vielmehr ist 1009 Vgl. Owensby 1994: 121–125 (»[…] the ›system of influences‹ [sc. Wirkungszusammenhang] is a more general concept meant to include purpose, power relations, and natural causes as part of a meaning-constituting context that contains its own principle of unity.«, S. 122); Seebohm 1991: 80 (»Die hier zu erforschenden ›Wirkungszusammenhänge‹ sind verstehbare Motivationszusammenhänge.«); Bischoff 1935: 10–14. 1010 »Sobald nun aber der Begriff des Wertes gebildet ist, wird er vermöge des Bezuges zum Leben zu einer Kraft, da er zusammenfaßt, was im Leben zerteilt, dunkel und verfließend ist. Werden Werte nun in der Geschichte, Wertanschauungen als Ausdrücke des Lebens in den Dokumenten aufgefunden, so erhalten sie hier durch das Nacherleben ihrer Beziehung zum Leben zurück, was in ihnen enthalten war.« (GS VII, 243, Hervorhebung im Original; vgl. GS VII, 199). Folgt man den Beobachtungen Luhmanns und Schorrs, ist diese Begriffsverwendung typisch für den Neuhumanismus um 1800 (Herder, Schleiermacher, et al.): »Die gegenwartswirksame Vergangenheit wird […] als Kraft […] präsentiert.« (Luhmann/Schorr 1988: 158, Hervorhebung im Original). Ludwig Landgrebe lässt seine Analyse der Diltheyschen Grundbegriffe mit einem nachdenklichen Hinweis auf dessen »Auffassung der Geschichte als Kraftübertragung« ausklingen (Landgrebe 1928: 366). Rückblickend auf die Kategorie der Fruchtbarkeit lässt sich diese im Anschluss an die Bestimmung der Kraft und der Kraftübertragung als die Chance eines Wertanspruchs beschreiben, von einer Lebenseinheit aufgefasst und zu neuen Wertrealisierungen umgesetzt zu werden. 1011 GS VII, 203. 1012 B 155 (15. Dezember 1892), Anm. 6 (Hervorhebung im Original).
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dieser, analog zum Verhältnis von Lebenszeit und Weltzeit, als eine wissenschaftliche Sublimierung und Abstrahierung aus der eigentlichen Lebenskategorie »Kraft« zu betrachten.1013 Die Impulsübertragung zwischen zwei aufeinanderstoßenden Billardkugeln veranschaulicht von dieser nur einen sehr beschränkten Aspekt. Primäre Phänomene von Kraft sind vielmehr die überwältigende Präsenz eines mächtigen Baumes oder Berges, das Mitreißende eines gemeinschaftlichen Tanzes oder Liedes, die Würde einer großen Seele. »Dies Wort [Präsenz] bezeichnet, daß das, was als Bestandteil des Strukturzusammenhangs, der das Erlebnis bildet, der Vergangenheit anheimgefallen ist, aber als Kraft in die Gegenwart hineinreichend erfahren wird, hiernach zu der Gegenwart in unserem Erleben ein eigenes Verhältnis hat, nach dem es in sie einbezogen wird: ein anderes Verhältnis als das, welches der Erlebnislage der Gegenwart fremd gegenübersteht, oder das, durch andere Erlebnisse getrennt, doch in seinem Einfluß auf die Gegenwart wirkend von uns erlebt wird.«1014
Eine Komplikation, die von Dilthey an dieser Stelle angedeutet wird, besteht darin, dass mit verschiedenen Arten von Kraftübertragungen zu rechnen ist: unmittelbaren und mittelbaren. Der erste Fall ist der weitaus einfachere. Er liegt vor, wenn sich eine Lebenseinheit erinnernd, also bewusst und thematisch dem Wertanspruch eines vergangenen Ereignisses oder überlieferten Gebildes aussetzt: etwa die junge Dramatikerin, die eine klassische Tragödie als verpflichtenden Maßstab der eigenen Arbeit wahrnimmt; der Wehrdienstverweigerer, der in Luthers Verhalten vor dem Wormser Reichstag ein Exempel von persönlicher Integrität und Standhaftigkeit sieht. Solche Fälle einer (relativ) unmittelbaren Kraftübertragung sind so überschaubar wie selten. Im Normalfall erfolgt die Kraftübertragung hingegen hochgradig gebrochen durch die Akte der Wertauffassung und -realisierung unzähliger Individuen, überlagert von den völlig disparaten Auswirkungen verschiedenster Kraftzentren und auch vom Machtgefüge der bestehenden Verhältnisse.1015 Die Lebenseinheit ist in der Regel konfrontiert mit einer Kakophonie aus Wertansprüchen, deren diffuse Resultante als kultureller status quo, als axiologischer Zeitgeist (neben dem Einfluss von Interessen und Machtstrukturen) die orientierende Matrix für ihr Handeln abgibt. In dieser Form erfolgt die Kraftübertragung klarerweise unreflektiert, sogar unbewusst und ohne eine thematische Zurechenbarkeit auf einzelne, 1013 Vgl. GS VII, 202; hingegen: Katsube 1931: 131f. 1014 GS VI, 315f; vgl. Ermarth 1978: 218. 1015 Ein Beispiel einer mittelbaren Kraftübertragung wäre etwa darin zu sehen, dass sich nach Max Webers These im kapitalistischen Wirtschaftssystem Werte und Motivationsstrukturen verselbstständigt haben, die ursprünglich typischerweise dem asketischen Protestantismus zuzurechnen waren. Insofern erlebt jeder in einem kapitalistischen System lebende Mensch die mittelbare Kraftauswirkung des Wertanspruchs dieser spezifischen protestantischen Lebensform, ob er oder sie nun darum weiß oder nicht.
Ist Dilthey ein Irrationalist?
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identifizierbare Kraftzentren. Dilthey gibt zudem den Hinweis, dass der axiologische Zeitgeist verschiedenen Klassen von Werten gegenüber unterschiedlich empfänglich sein kann, so beschreibt er etwa die religiöse Sensibilität des ausgehenden 19. Jahrhunderts (im Vergleich zur Reformationszeit) als massiv limitiert.1016 In gewisser Weise legt der Begriff des Wirkungszusammenhangs den Blick auf den Kern von Diltheys Geschichtsbegriff frei. Denn insofern er in diesem die Grundstruktur der geschichtlichen Welt bestehen lässt und ihn selbst im Kern als einen Zirkulationsvorgang von Prozessen der Wertauffassung und -realisierung begreift, wird erkennbar, wie grundsätzlich er die Geschichte vom Begriff der Handlung her denkt. Auch die objektiv bestehenden Wirkungszusammenhänge wirken letztlich nur vermittelt über die sich handelnd zu ihrer jeweiligen Situation verhaltenden menschlichen Individuen weiter fort.1017 Nicht-axiologische Kausalprozesse bilden demgegenüber die Ebene der dafür notwendigen Voraussetzungen (Überlieferung von Überresten bspw.) bzw. der limitierenden Hemmnisse (Verfügbarkeit von Rohstoffen, Fruchtbarkeit von Ackerflächen, Krankheitsausbrüche, Naturkatastrophen, Klimaveränderungen, usw). Sie haben damit fraglos einen mitunter wesentlichen (hemmenden oder ermöglichenden) Einfluss auf die Prozesse der Kraftübertragung, die sich im Kontext der Wirkungszusammenhänge abspielen, doch stehen sie selbst in der Regel nicht im Fokus der geschichtlichen Perspektive. Sie zählen zur Kulisse, vor der sich das eigentliche Schauspiel ereignet.
4.3
Ist Dilthey ein Irrationalist?
Nach der Rekonstruktion der theoretischen Grundstruktur von Diltheys Philosophie des Lebens und deren Konsequenzen für die geschichtliche Welt in den vorangehenden Kapiteln lässt sich nun eine informiertere und sachlichere Stellungnahme zu den beiden üblichen Vorwürfen, die regelmäßig gegen seine Position geäußert werden, formulieren. Das Problem des Relativismus wurde bereits en passant einige Male berührt.1018 Dabei hat sich eine wiedererkennbare 1016 Vgl. GS VII, 215f. Verschiedene Konfigurationen in der kulturell geteilten Auffassung von Wertgesichtspunkten, »relativ selbstständige« und »in sich zentrierte« Ausschnitte des Wirkungszusammenhangs, so deutet Dilthey an einigen Stellen an, erlauben schließlich eine Differenzierung verschiedener »Zeitalter und Epochen« und stellen letztlich auch den Bezugsgegenstand der Rede von nationalen Identitäten dar (vgl. GS VII, 173–179: »So kann nun eine staatlich organisierte Nation als eine individuell bestimmte Struktureinheit von Wirkungszusammenhängen gefaßt werden.«, S. 173). 1017 Vgl. Droysen 1960: 133. 1018 Siehe zudem Abschnitt 5.5.
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Haltung Diltheys zu dieser Frage abzuzeichnen begonnen. Den »status humanitatis« sieht er, so konnte festgestellt werden, in epistemischer Sicht dahingehend charakterisiert, dass ihm ein operationalisierbarer (d.i. ein in konkreten epistemischen Verfahren tatsächlich verwendbarer) absoluter Maßstab nicht zu Gebote steht. Auch wenn er einen robusten Wahrheitsanspruch und die Orientierung am Ideal sachhaltiger, objektiver Korrektheit nicht aufgibt, hegt er nicht die Vorstellung, dass die Philosophie einen gegenüber den in den Einzelwissenschaften implementierten Erkenntnisprozeduren verschiedenen Königsoder auch nur Schleichweg zu diesem Ziel weisen könnte.1019 Sie kann allerdings durch Reflexionsprozesse der Selbstbesinnung dazu beitragen, im menschlichen Überzeugungsbestand bloß Subjektives von Sachhaltigem zu trennen und damit einen Weg der »progressiven Entrelativierung« (Tugendhat) zu beschreiten. Dass das Problem des epistemischen und axiologischen Relativismus nicht durch apriorische Absicherungen ein für alle Mal gelöst werden kann, ist nach Diltheys Auffassung eine anthropologische Unausweichlichkeit, die sich nicht per philosophischem Dekret aus der Welt schaffen lässt. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, wie sich dennoch, im Rahmen eines kulturellen Lernprozesses und durch Etablierung geeigneter Verfahren und Institutionen, ein relativ objektiver Kern des Überzeugungsbestandes relativ zuverlässig auszeichnen lässt.1020 Letztlich ist es auch die Rolle, die die »Sphäre der Gemeinsamkeit« bereits in der individuellen Ontogenese spielt (s. o.), die Dilthey sowohl in Bezug auf den Kulturprozess selbst, als auch in Bezug auf die geisteswissenschaftliche Forschung, an einer sich a posteriori einstellenden axiologischen und epistemischen Konvergenz der Lebenseinheiten nicht ernsthaft zweifeln lässt. Der zweite Vorwurf, mindestens ebenso schwerwiegend, lautet Irrationalismus. Er verbindet sich häufig mit der zu Beginn des dritten Kapitels zurückgewiesenen romantizistischen Auffassung des Lebensbegriffs, ist aber nicht auf sie zu reduzieren. Schon aufgrund des durch ihn nur allzu leicht freisetzbaren Empörungspotenzials verdient das Problem eine ausführlichere Erwägung. Um die Situation des Philosophierens gegen Ende der 1980er Jahre zu bestimmen, sah auch Jürgen Habermas, immerhin kein grundsätzlich abgeneigter 1019 »Es ist nicht möglich, die in der Erfahrung gegebene Welt, deren Erkenntnis die Arbeit der Einzelwissenschaften ist, durch eine von ihrem Verfahren unterschiedene metaphysische Methode zu tieferem Verständnis zu bringen.« (GS V, 356). 1020 Vgl. Richey 1935: 36–44, 51f; Krausser 1968: 196–209 (»Für Dilthey bedeutet die nach ihm allein mögliche, nie absolute, sondern stets nur graduell als mehr oder weniger vorliegend annehmbare Objektivität einer Aussage oder Interpretation deren Bewährung im Raum intersubjektiv verwendbarer Methoden zu ihrer Feststellung und Kontrolle an Erfahrungstatbeständen, die selbst ebenfalls intersubjektiv und wiederholt zugänglich und identifizierbar sind.«, S. 208).
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Rezipient Diltheys, sich veranlasst, auf die Umbrüche der nachhegelschen Zäsur (s. Abschnitt 1.1) zurückzugehen. Von dort her stammten schließlich die relevanten Weichenstellungen philosophischer und metaphilosophischer Art, die er für seine historische und auch systematische Grundorientierung als maßgeblich betrachtet. »Damals hatte sich der Aggregatzustand des Philosophierens verändert: seitdem haben wir zum nachmetaphysischen Denken keine Alternative.«1021 Dilthey selbst hätte wohl keinen Grund, die Bezeichnung des »nachmetaphysischen Denkens« für seine eigene Philosophie zurückzuweisen. Für Habermas allerdings stellt Dilthey in diesem epochalen Umbruchsprozess lediglich eine ambivalente Übergangsposition dar, deren problematischer Charakter besonders an seinem Verhältnis zu Kant erkennbar werde. So wertet Habermas Diltheys Ansatz der »Lebensphilosophie« als einen »hilflosen« Versuch über die Transzendentalphilosophie Kants hinauszukommen, ohne über die dafür eigentlich nötigen systematischen Mittel (vermutlich: eine Theorie kommunikativen Handelns) zu verfügen und sich deswegen »in einer unklaren transzendental-empirischen Doppelperspektive [zu verstricken]«. »An die Stelle der transzendentalen Synthesis trat die scheinbar konkrete, aber strukturlose Produktivität des ›Lebens‹.«1022 In dieser Kritik liegen Erhellendes und Verstellendes dicht beieinander. Wie bereits gesehen, lässt sich Diltheys Philosophie des Lebens in der Tat zutreffend als Revision der Kantischen Transzendentalphilosophie charakterisieren. Und weiterhin hat sich gerade die Vermittlung von Empirie und Transzendentalität als ein wesentlicher Aspekt dieser Revision erwiesen. Es wurde jedoch deutlich, dass es sich dabei um eine bewusst vorgenommene theoretische Positionierung und nicht etwa um einen unterlaufenen Lapsus handelt, sodass eine Würdigung des Ansatzes Diltheys eine Rekonstruktion der ihn dabei leitenden systematischen Intentionen erfordert. Dass durch diese Engführung der empirischen und der transzendentalen Ebene systematische Folgeprobleme entstehen, die Dilthey nicht auf befriedigende Weise expliziert oder gar ausräumen kann, liegt freilich auf der Hand. Besonders aufschlussreich ist an dieser Stelle jedoch die Rede von der »Strukturlosigkeit der Produktivität des ›Lebens‹«, da sie all die üblichen Vorurteile aufruft, die mit der problematischen Sammelbezeichnung »Lebensphilosophie« einhergehen. Man wird sicherlich nicht lange nach einem »Lebensphilosophen« zu suchen haben, der in Habermas’ Sinn »Leben« als Gegenpol zu »Vernunft« konzipiert und handhabt und diese schlichte Dichotomie entsprechend auch anhand der Begriffe »Produktivität« und »Struktur« fortsetzt. Für Dilthey gilt dieses allzu simple lebensphilosophische Dogma, wie nicht oft genug 1021 Habermas 1988: 36. 1022 Habermas 1988: 48.
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betont werden kann, allerdings nicht. Die Produktivität des Lebens zeichnet sich für ihn gerade durch eine spezifische und aufweisbare Strukturierung aus, die zu explizieren er geradezu als sein systematisches Hauptgeschäft ansieht: durch die Formulierung einer Lehre von den »Kategorien des Lebens«. Mit seinem Verdikt übergeht Habermas also geradezu die initiale Erfahrung Diltheys, an die sich im Grunde dessen ganzes Werk anschließt und die man durchaus als eine Transposition der ebenso grundlegenden Goetheschen Naturerfahrung auf den Bereich der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit auffassen kann: Leben ist strukturbildend.1023 In dieser Hinsicht weist Diltheys Lebensbegriff eine größere Nähe und Affinität zur Biologie als zur Romantik auf: Leben ist für ihn nicht der Antipode zu Struktur, der vernunftfremde Gärungsboden, sondern die strukturbildende Dynamik selber. Leben ist ein fortwährender Artikulationsprozess, der beständig Ordnung hervorbringt, Strukturen ausbildet, Komplexität steigert. Auf diesem Niveau ist der Irrationalismusvorwurf also schlicht als sachunangemessen zurückzuweisen.1024 Der geeignetere Angriffspunkt wäre Diltheys Grundgedanke einer partiellen Inkommensurabilität von Denk- und Seinsstrukturen, in dessen Kontext er das inkriminierende Prädikat sogar zur Beschreibung der eigenen Position verwendet: »So ist in allem Verstehen ein Irrationales, wie das Leben selber ein solches ist; es kann durch keine Formeln logischer Leistungen repräsentiert werden.«1025
Was bleibt hier überhaupt noch abzuwägen? Guilty as charged. Es ist allerdings die Frage aufzuwerfen, ob die sachliche These, die Dilthey selbst hier als eine irrationalistische markiert, die massiven Folgerungen rechtfertigt, die mit dem 1023 Die Rede ist sogar von einem »Zusammenhang zwischen Leben und Wissenschaft, nach welchem die gedankenbildende Arbeit des Lebens Grundlage für das wissenschaftliche Schaffen bleibt« (GS VII, 136). Das Denken ist nichts dem Leben Fremdes, sondern dessen eigenes Vermögen. Die im Zuge der Lebensprozesse erfolgenden Artikulations- und Individualisierungsvorgänge, die »gedankenbildende Arbeit des Lebens« kommt insofern ihrer Erfassung durch das Denken entgegen als sie in typischen Strukturen erfolgt (vgl. dazu die Ausführungen zu den Lebensaltern: Abschnitt 4.2.1). 1024 Ein ähnliches Missverständnis liegt bei Gadamer (und anderen) vor, wenn sie an Diltheys Bemerkung »Das Leben wird frei vom Erkennen durch Begriffe; der Geist wird souverän allen Spinneweben dogmatischen Denkens gegenüber.« (GS VII, 291) mittels unqualifizierter Generalisierung das Verhältnis von Denken und Leben schlechthin meinen ablesen zu können (vgl. Gadamer 1993a: 32). Es gilt, das Leben von metaphysischen Begriffskonstruktionen, von »Begriffsdichtungen« (GS I, 223) und »metaphysischen Fabelwesen« (GS I, 227), von »Kasernenbauten radikaler Doktrinen« (GS IX, 180) und »psychologische[n]« und »Hypothesenluft[schlössern]« (GSXIX, 342), aber zugleich: es durch ein auf geeignete Weise in den Lebensprozess eingebettetes begriffliches Denken zu befreien. Die Logik nicht von der Kalkülkonstruktion her zu verstehen, sondern von der Argumentationspraxis, läge daher auf der Linie Diltheys (vgl. Toulmin 2003: 234f). 1025 GS VII, 218.
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Irrationalismusvorwurf regelmäßig einhergehen. Die in diesem Sinne schärfste und weitreichendste Form des Irrationalismusvorwurfs geht zurück auf Georg Lukács.1026 Und auch wenn kaum jemand das von Lukács’ gezeichnete Bild noch ohne Weiteres akzeptieren würde, so hat sich doch eine gewisse Aura des Verfemten an den von ihm gebrandmarkten Begriffen und Autoren festgesetzt. Im Standardlexikon der DDR-Philosophie heißt es ganz auf der von ihm vorgegebenen Linie: »Als eigentliche Begründer und zugleich Hauptvertreter der Lebensphilosophie gelten in Frankreich Bergson und in Deutschland Dilthey. […] Mit ihren ausgesprochen irrationalistischen, relativistischen und pessimistischen Lehren haben die Vertreter der Lebensphilosophie zersetzend gewirkt und entscheidend die Ideologie des deutschen Faschismus mit vorbereitet.«1027
Eine sachlichere Explikation derselben Assoziation von Lebensphilosophie und Präfaschismus findet man beispielhaft bei Schnädelbach: »Die Lebensphilosophie hebt durch ihre eigenen konzeptuellen Prämissen die traditionelle Differenz zwischen Natur und Kultur tendenziell auf und erleichtert damit dem allgemeinen Biologismus in der Kulturtheorie, der wieder im nationalsozialistischen Rassismus kulminiert, den Erfolg.«1028
Die entscheidenden Fragen lauten: Was genau heißt hier »Lebensphilosophie«? Und: Ist Dilthey ein Lebensphilosoph in diesem problematischen Sinn? Ebenfalls bei Schnädelbach findet sich dazu ein brauchbarer Klärungsversuch. »Die Lebensphilosophie macht das Leben zum Prinzip. Sie ist nicht als Gegensatz zur Schulphilosophie gemeint, auch nicht als Antwort auf den ›Sinn des Lebens‹, erst recht nicht nur als Philosophie des Organischen, sondern sie ist eine philosophische Position, die etwas, was wesentlich im Gegensatz zu Rationalität, Vernunft, Begriff oder Idee steht, zur Grundlage und zum Maßstab von allem macht: Leben als etwas Irrationales. Man kann darum die Lebensphilosophie als Metaphysik des Irrationalen und so in einem wertfreien Sinne als Irrationalismus bezeichnen.«1029
1026 Lukács 1974: 363–386, besonders 385f (»Dilthey als Begründer der imperialistischen Lebensphilosophie«). Das Vorläufertum Diltheys in Bezug auf den Faschismus versteht Lukács dabei im Sinne einer »objektiven Dialektik«, nicht auf der Ebene psychologischer »Absichten« (Lukács 1974: 363). 1027 Klaus/Buhr 1976: 713f (Art. »Lebensphilosophie«). Es kann hier nicht um eine Evaluation der politischen Implikationen der Diltheyschen Philosophie des Lebens gehen, noch weniger um eine Rekonstruktion von geistesgeschichtlichen Wirkungslinien oder Rückgriffen, die im Zusammenhang mit ihr stehen. Uns interessiert einzig, ob und inwiefern der Irrationalismusvorwurf ein sachliches Problem der Philosophie des Lebens trifft, das aus systematischen Gründen heraus das ganze Projekt in Frage stellt. 1028 Schnädelbach 1983: 183. Ob dieser Punkt speziell Dilthey trifft, ist fraglich, wenn man bedenkt, dass ihm standardmäßig gerade sein Antinaturalismus vorgeworfen wird. 1029 Schnädelbach 1983: 174 (Hervorhebungen entfernt und eigene hinzugefügt).
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Wie verhält sich Dilthey zu diesen Kriterien? (a) (b) (c) (d) (e)
Leben als Prinzip: ja; kein Gegensatz zur Schulphilosophie: doch (siehe Abschnitt 3.3.); keine Antwort auf den ›Sinn des Lebens‹: doch (siehe Abschnitt 4.2.2); keine bloße Philosophie des Organischen: ja; Leben steht wesentlich im Gegensatz zu Rationalität, Vernunft, Begriff oder Idee: nein; (f) Leben wird zum Maßstab und Grundlage von allem: ja; (g) vertritt eine Metaphysik des Irrationalen: ?.
Das Ergebnis ist uneinheitlich und für eine aussagekräftige Klassifikation recht dürftig. Die auf Dilthey eindeutig zutreffenden Kriterien (a), (d) und (f) weisen neben dem Bezug zur Biologie lediglich formale Bestimmungen auf, indem sie dem Lebensbegriff eine zentrale Position innerhalb der Theorie zuschreiben. Daher hängt ihre weitere Bedeutung vollständig von der inhaltlichen Ausgestaltung des investierten Lebensbegriffs ab. Zentral für diese ist Kriterium (e). Schnädelbach (und viele folgen ihm darin) unterscheidet an dieser zentralen Stelle nicht, ob Leben lediglich in Differenz zu »Rationalität, Vernunft, Begriff oder Idee« gesehen wird oder als Gegensatz. Diese Unterlassung führt zu dem grotesken Umstand, dass zwischen Dilthey und offen misologischen Autoren kein relevanter Unterschied gemacht werden kann, von deren sprechenden Buchtiteln Schnädelbach selbst einige aufführt: »Der Geist als Widersacher der Seele« (Ludwig Klages, 1929–32) »Untergang der Erde am Geist« (Theodor Lessing, 1924) »Bewußtsein als Verhängnis« (Alfred Seidel, 1927).1030
Auf deskriptiver Ebene unterstellt Schnädelbach, dass alle Lebensphilosophien von einem Gegensatz von Leben und Vernunft ausgehen, diese These bezeichnet er als »metaphysischen Irrationalismus«.1031 Hinzu komme allerdings noch eine wertende Stellungnahme derart, dass dem Leben in diesem Gegensatz der Vorzug gegeben wird.
1030 Vgl. Schnädelbach 1983: 178; Platon, Phaidon 89c. 1031 Für Schnädelbach zunächst eine valide metaphysische These, »denn es könnte ja wahr sein, daß das Ganze das Irrationale ist und nur ein Teil des Ganzen rational« (Schnädelbach 1983: 180, Hervorhebung entfernt). Von dieser Formulierung wird allerdings im Grunde nur noch ein extremer Panlogismus ausgeschlossen. Alles Interessante hängt hingegen davon ab, wie das Verhältnis von Irrationalem und Rationalem genau bestimmt wird (als Differenz, Gegensatz, Widerspruch, usf.).
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ja deskriptiv: es besteht ein Gegensatz zwischen Nietzsche; Leben und Vernunft Scheler; Bergson
nein Dilthey
normativ: Leben ist relativ zur Vernunft das höhere Gut
Scheler
Nietzsche; Bergson
sinnlos
Dilthey
Der normative Aspekt scheint für Schnädelbach ein notwendiges Element einer lebensphilosophischen Position zu sein, weshalb er Scheler, der zwar die deskriptive These teilt, die normative jedoch zurückweist, nicht als Lebensphilosophen verbucht.1032 Diltheys Einordnung in dieses Schema macht die minimale Aussagekraft der Klassifikation deutlich.1033 Bei ihm lässt sich eben kein grundsätzlicher Gegensatz von Leben und Vernunft nachweisen, so dass etwa die Ausprägung des einen nur auf Kosten des anderen erfolgen könnte. Das Erkennen ist selbst eine Lebensfunktion, dient dessen Orientierung, Gestaltung und Leitung. Beides ist für ihn grundsätzlich in einem positiven Sinne aufeinander verwiesen, entfaltet sich aneinander.1034 Dieser positiven Zuordnung unbeschadet, fallen Leben und Vernunft bei Dilthey aber auch nicht zusammen, sondern sind jeweils eigensinnig strukturiert und verhalten sich partiell inkommensurabel zueinander. Dass allerdings trade-offs zwischen Leben und Vernunft der Normalfall wären, würde Dilthey als unzutreffend zurückweisen. Beider Entfaltung ist nicht per se unvereinbar, sie sind keine Antagonisten.1035 1032 Schnädelbach 1983: 319n527. Schelers Einordnung folgt seiner Positionierung in »Die Stellung des Menschen im Kosmos« (1928). Die Klassifizierung von Nietzsche erfolgt prima facie und unter Berücksichtigung von Texten wie »Der Geburt der Tragödie«, »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«, »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Im Fall Bergsons folgen wir Schnädelbach (vgl. Schnädelbach 1983: 184). 1033 In dem frühen Aufsatz von Max Scheler zu den lebensphilosophischen Ansätzen Nietzsches, Diltheys und Bergsons wird der Eindruck noch vermieden, als handele es sich bei ihnen um eine homogene Theorieformation. Insbesondere wird kein Versuch unternommen einen vereinigenden Lebensbegriff zu identifizieren. Die punktuellen Schnittmengen zwischen den Lebensphilosophen scheinen eher in einzelnen Sachfragen, etwa in der Kritik an einer naturwissenschaftlich operierenden (Assoziations-)Psychologie, zu bestehen als in einem grundbegrifflichen Konsens (vgl. Scheler 1955). Schelers Zusammenstellung wirkt nicht zuletzt von dem Anliegen motiviert, die Lebensphilosophie als Vorstufe der Phänomenologie zu deuten. 1034 Erkennbar u. a. an Formulierungen wie: »Das Leben ist uns nicht unmittelbar, sondern aufgeklärt durch die Objektivierung des Denkens gegeben.« (GS V, 5 (Hervorhebung hinzugefügt)); oder: »Denn das Leben verlangt gebieterisch eine Leitung durch den Gedanken.« (GS VI, 189); »[…] die gedankenbildende Arbeit des Lebens […]« (GS VII, 136); »Dagegen ist das Denken in seiner einfachen Elementarnatur gar nicht vom Leben zu trennen.« (GS XIX, 355). Margarete von der Groeben spricht der Sache nach zutreffend, wenn auch mit einem etwas falschen Tonfall, von einem »besinnlichen Zug des Lebens« (von der Groeben 1934: 158). 1035 Vgl. Wunsch 2015: 210.
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Daher lässt sich die normative Frage aus Diltheys Perspektive nicht im generischen Sinn entscheiden, sondern nur bezogen auf den Einzelfall. Wenn Schnädelbach versucht, Dilthey einerseits als Hauptvertreter oder sogar Begründer der Lebensphilosophie zu führen, und zugleich einen Antagonismus von Leben und Vernunft als wesentliches Merkmal einer lebensphilosophischen Position ansetzt, ist das in der Sache nicht überzeugend. Besonders deutlich wird es, wenn man versucht, Schnädelbachs generische Aussagen über die Lebensphilosophie am vermeintlichen Vorzeigeexemplar Dilthey nachzuvollziehen (neben den Beispielen oben etwa: »Die Wirkungsgeschichte der Lebensphilosophie fällt zusammen mit der Abkehr von der Geschichte […].«1036). Es drängt sich mithin die Entscheidung auf, die Bedeutung der Sammelbezeichnung »Lebensphilosophie« entweder in Richtung einer nahezu gehaltlosen Klammer zu korrigieren [ = Menge aller Theorien, die »dem« (genauer: einem) Lebensbegriff eine zentrale Rolle zuschreiben], oder Dilthey aus dem Kernbereich der Lebensphilosophie auszusondern und diesen Schritt dann auch terminologisch zu markieren (s. Abschnitt 3.1). Da Lukács den Prozess der Zerstörung der Vernunft, in den er auch Diltheys Philosophie einordnet, mit Schelling beginnen lässt, ist in diesem Zusammenhang ein kurzer Seitenblick auf diesen bisher kaum erwähnten Autor angebracht.1037 Dass Schelling in der bisherigen Rekonstruktion kaum eine Rolle gespielt hat, ist darauf zurückzuführen, dass Dilthey keinen seiner zentralen Begriffe oder Unterscheidungen mit ihm in Verbindung bringt, obwohl er seine Anknüpfungen an Kant, Fichte oder Hegel ansonsten deutlich markiert.1038 Doch auch wenn keine wesentliche explizite Bezugnahme vorliegen sollte, bleibt eine sachliche Übereinstimmung natürlich möglich. Eine typische Formulierung Schellings bezüglich der Stellung des Verstandes in der Welt lautet etwa: »Nach der ewigen Tat der Selbstoffenbarung ist nämlich in der Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt. Aus diesem Verstandlosen ist
1036 Schnädelbach 1983: 179. Um diesen Satz zu verteidigen, könnte man einerseits Dilthey als Gründungsfigur aus der Wirkungsgeschichte der Lebensphilosophie herausrechnen oder andererseits betonen, dass Schnädelbach hier lediglich auf eine Koinzidenz hinweist, eine (Mit-)Verursachung höchstens andeutend, aber nicht behauptend. 1037 Vgl. Lukács 1974: 114ff (»Schellings intellektuelle Anschauung als erste Erscheinungsform des Irrationalismus«). 1038 Als primäres Beispiel einer irrationalistischen Metaphysik dient Dilthey die Philosophie Schopenhauers (vgl. GS I, 397; Müller 1985).
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im eigentlichen Sinne der Verstand geboren. Ohne dies vorausgehende Dunkel gibt es keine Realität der Kreatur; Finsternis ist ihr notwendiges Erbteil.«1039
Auch wenn Schelling sich hier einer im Grunde mythischen Sprache bedient, lassen sich doch einige Züge der Diltheyschen Position wiedererkennen, so vor allem die Bestimmung des Denkens als einer gegenüber dem Ganzen der Wirklichkeit abgeleiteten, späteren, weniger ursprünglichen Instanz.1040 Auch die Motive der Unauflösbarkeit und des »nicht aufgehenden Rest[es]«, mit denen Dilthey regelmäßig seine Überzeugung von der partiellen Inkommensurabilität von Seins- und Denkstrukturen erläutert, finden sich bei Schelling wieder. Schließlich entspricht der Verweis auf die Kreatürlichkeit und die mit ihr einhergehende Finsternis Diltheys wiederholt festgestelltem Bemühen, der menschlichen Endlichkeit, insbesondere in epistemischer Hinsicht, Rechnung zu tragen. Deskriptiv lassen sich also ohne großen Aufwand gewisse Schnittmengen zwischen Dilthey und Schelling bezüglich der Frage nach der Stellung der Vernunft im Ganzen der Wirklichkeit feststellen. Um einer Bewertung des Irrationalismusvorwurfs mit Blick auf Dilthey näher zu kommen, ist es hilfreich, sich klarzumachen, welche Position er mit den Thesen, auf die sich der Vorwurf bezieht, ausschließt. Das Problem aus dieser Perspektive anzugehen, schlägt auch Michael Ermarth vor, wenn er zu bedenken gibt: »a warning against rationalism is not the same as irrationalism.«1041 Um diesen Warnungscharakter, der Diltheys Inkommensurabilitätsthese zukommen könnte, besser zu verstehen, wenden wir uns einigen in diesem Sinne »rationalistischen« Positionen zu. Auf eine solche Tendenz verweist Max Frischeisen-Köhler, wenn er die Position des methodischen Idealismus der Marburger Schule gegenüber dem »Realitätsproblem« folgendermaßen charakterisiert: »Nach diesem Idealismus ist nirgends von einem außerhalb des Logischen anzusetzenden Sein zu reden. ›Sein‹ und ›wahr gedacht‹ sind streng identisch. Für das Denken kann es kein anderes Sein als ursprünglich erdachtes Sein, d. h. ideales Sein geben. Das Weltganze hat keinen anderen Bestand als in den Begriffen und Urteilen der wissen1039 Schelling 2011: 32, Hervorhebungen hinzugefügt. Übereinstimmend mit Diltheys Diagnose, dass im Satz vom Grund der rote Faden der Metaphysikgeschichte zu sehen ist, postuliert Schelling in der »Freiheitsschrift« als »das vor allem Grunde Vorhergehende« und »schlechthin betrachtete Absolute« den »Ungrund« (Schelling 2011: 78–80, hier: 79). Lukács verortet Schellings Irrationalismus hingegen vor allem in dessen Eingriff in die Geschichte der Dialektik mittels seines Begriffs der »intellektuellen Anschauung« (vgl. Lukács 1974: 118f, 127). 1040 In frühen Aufzeichnungen bezeichnet Dilthey mit ganz ähnlichem, archaischem Sound »das Denken als nachgeboren« (GS XVIII, 198). Später drückt Dilthey denselben Gedanken durch Verweis auf die seelische Struktur und die Nichtrückführbarkeit der seelischen Totalität auf begriffliches Denken aus. 1041 Ermarth 1978: 137.
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schaftlichen Erkenntnis. […] Eine panlogistische Metaphysik ist die unabwendliche Konsequenz einer jeden Logik, die sämtliche Realbehauptungen auf logische Relationen reduziert.«1042
Vor dieser dem Neukantianismus der Marburger Schule zugeschriebenen Stellungnahme zum »Realitätsproblem« hebt sich Diltheys Position deutlich ab. Während im idealistischen Bild auch jeder Sachbezug innerhalb des Denkens verläuft und die Objekte des Denkens letztlich als immanente intentionale Denkobjekte zu verstehen sind, weshalb die Annahme einer Wirklichkeitssphäre außerhalb des Denkens weder sinnvoll noch notwendig ist, ordnet Dilthey die Wirklichkeit, trotz seines Satzes der Phänomenalität, dem Denken nicht komplett ein oder unter und versucht den Kontakt zu ihr eigens zu erläutern und sicherzustellen. John McDowells These der Unbegrenztheit des Begrifflichen artikuliert prima facie eine ganz ähnliche Position, wie sie Frischeisen-Köhler den Marburger Idealisten zuschreibt. »[…] the conceptual is unbounded; there is nothing outside it.«1043
Letztlich führen beide Positionen dazu, den Wirklichkeitsbegriff vom Denken her zu bestimmen und folgen damit der Kantischen Strategie. Nach Diltheys Auffassung ist eine solche vorgängige Abstimmung der Denk- und Seinsstrukturen nicht plausibel. Endliche Erkenntnissubjekte können mit einer solchen nicht rechnen und zugleich verfügen sie konstitutiv auch über keine metaphysische Draufsicht, um wenigstens nachträglich einen Abgleich der Denk- und Seinsstrukturen vorzunehmen. Damit aber wird die erfahrbare Grenze von Begrifflichem und Nicht-Begrifflichem zum wesentlichen Ort des Wirklichkeitskontakts. Diltheys Irrationalismus, sowohl in seiner Motivation als auch in seinem sachlichen Gehalt, als Protest gegenüber panlogistischen und transzendentalphilosophischen Rekonstruktionen des menschlichen Weltverhältnisses anzusehen, führt auf folgende Thesen: (1) Die (partielle) Inkommensurabilität von Denk- und Seinsstrukturen erlaubt allererst die erfahrungsmäßige Gewinnung eines Begriffs der Grenze von Begrifflichem und Nicht-Begrifflichem. (2) Dieser Begriff spielt eine zentrale Rolle für die Explikation dessen, was es für ein endliches Wesen heißt, in Kontakt zur Wirklichkeit zu stehen.
1042 Frischeisen-Köhler 1912b: 14. 1043 McDowell 1996: 44.
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(2*) Ohne den Begriff einer Grenze von Begrifflichem und Nicht-Begrifflichem lässt sich der Wirklichkeitskontakt endlicher Wesen nicht verständlich machen.1044 Zentral ist auch hier für Dilthey wiederum nicht, was letztlich der ontologische Sachverhalt sein mag, sondern ob und wie sich im menschlichen Erleben die Existenz einer solchen Grenze zwischen Begrifflichem und Nichtbegrifflichem niederschlägt. Der Befund ist für Dilthey eindeutig: nicht fassbare Individualitäten, dunkle Kernhaftigkeit, antinomische Verfasstheiten, inhaltliche Unerschöpfbarkeit, Widerständigkeit sind erlebbare Charakteristika, aufweisbare Friktionsphänomene, die sich einstellen, sobald das Denken auf die Wirklichkeit ausgreift, während Vorgänge, die sich innerhalb des Denkens abspielen von Klarheit, Bestimmtheit und Durchsichtigkeit bestimmt sind. Der an sich nötige Nachweis, dass sich die Fragestellungen McDowells und Diltheys in relevanten Hinsichten aufeinander abbilden lassen, wurde hier nicht geführt. Dennoch ist die Konfrontation beider Positionen insofern aufschlussreich, als Dilthey beide von McDowell gemeinsam als vollständige Disjunktion präsentierte Optionen ablehnt: weder ist der Bereich des Begrifflichen unbegrenzt, noch lässt sich sinnvoll auf völlig unbegriffliche Instanzen rekurrieren (»myth of the given«).1045 McDowell, konfrontiert mit Diltheys Grenzziehung zwischen Denk- und Seinsstrukturen, würde wohl auf die begriffliche Struktur, die auch in der Wirklichkeitserfahrung in Diltheys Sinn noch enthalten ist (etwa auf die Existenz durchgängig bestimmter Einzelgegenstände), hinweisen, um so seine These der Unbegrenztheit aufrecht zu erhalten. Doch dieser Zug würde (insofern man ihn denn mitginge, schließlich steht die antinomische Verfasstheit der Wirklichkeit, die aus Diltheys Perspektive nicht a priori auszuschließen ist, dem zunächst entgegen) wohl in erster Linie zeigen, dass McDowells Unterscheidung von »conceptual« und »non-conceptual« letztlich nicht sonderlich interessant ist, da sie keinerlei Licht auf die für das menschliche Erleben tiefgreifende Bedeutung der Grenzerfahrung von Sein und Denken zu werfen vermag, die Dilthey im Blick hat. In eben diesem Sinne zitiert ihn Georg Misch: »Diese Wirklichkeit ist gedankenmäßig, unserm Denken zugänglich, in ihrer Lebendigkeit bedeutsam und doch unergründlich… Das Leben ist zugleich gedankenmäßig und unerforschlich.«1046 Dieses zugespitzte Endlichkeits- und Kontingenzbewusstsein ist es auch, das Dilthey von der Übernahme des absoluten Geistes Hegels abhält, (ein Autor, der 1044 Diese Thesen artikulieren nach McDowell lediglich eine »common sense«-Auffassung, die sich und ihr Anliegen systematisch missversteht (McDowell 1996: 44). 1045 Vgl. McDowell 1996: 24, 39. 1046 Misch 1924: liv; vgl. Nelson 2002.
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auch in einer noch so losen Sammlung panlogistischer Tendenzen nicht fehlen darf). Der absolute Geist stellt nach Diltheys Auffassung in den Formen von Kunst, Religion und Philosophie eine Stufe dar, auf der ein »Wissen des Geistes von sich selbst als der schaffenden Macht aller Wirklichkeit« erreicht wird, auf der mithin sämtliche Friktionsphänomene zwischen Seins- und Denkstrukturen wegfallen müssten, indem sich alles dem begrifflichem Zugriff gegenüber Widerständige als unwirklich erweist.1047 »Er [sc. Hegel] konstruierte die Gemeinschaften aus dem allgemeinen vernünftigen Willen. Wir müssen heute von der Realität des Lebens ausgehen; im Leben ist die Totalität des seelischen Zusammenhanges wirksam. Hegel konstruiert metaphysisch; wir analysieren das Gegebene. Und die heutige Analyse der menschlichen Existenz erfüllt uns alle mit dem Gefühl der Gebrechlichkeit, der Macht des dunklen Triebes, des Leidens an den Dunkelheiten und den Illusionen, der Endlichkeit in allem, was Leben ist, auch wo die höchsten Gebilde des Gemeinschaftslebens aus ihm entstehen. So können wir den objektiven Geist nicht aus der Vernunft verstehen, sondern müssen auf den Strukturzusammenhang der Lebenseinheiten, der sich in den Gemeinschaften fortsetzt, zurückgehen.«1048
Somit lässt sich festhalten, dass Dilthey die partielle Inkongruenz von Seins- und Denkstrukturen als default-Position endlicher Wesen etabliert. Das Leben und das Denken sind nicht in restlose Deckung zu bringen, doch stehen beide auch nicht in einem notwendig antagonistischen Verhältnis zueinander, weder in ihren konkreten Vollzügen noch in ihren Wertorientierungen. Eine Opposition von Vitalwerten und geistigen Ansprüchen wird man bei Dilthey nicht finden.1049 Wenn man den Ausdruck nicht im Sinne einer prinzipiellen Vernunftfeindlichkeit auffasst, ist also ein Irrationalismus Diltheys durchaus aufweisbar.1050 Der Sinn dieser endlichkeitstheoretischen Position geht allerdings in dem Mo1047 GS VII, 149. 1048 GS VII, 150 (Hervorhebung hinzugefügt). 1049 Sehr deutlich hingegen vertreten von Max Scheler, bei dem der Übergang von der Vital- in die Geistsphäre prinzipiell eine Art Vorzeichenwechsel impliziert. »Das, was den Menschen allein zum ›Menschen‹ macht, ist nicht eine neue Stufe des Lebens […], sondern es ist ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip […].«; »Mit dem Tiere verglichen, das immer ›Ja‹ zum Wirklichen sagt […] ist der Mensch der ›Neinsagenkönner‹, der ›Asket des Lebens‹, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit.« (Scheler 2010: 27, 40; Hervorhebungen entfernt). Zugleich weist Scheler jedoch »negative Theorien des Menschen« zurück, nach denen der Geist aus der Negation des Lebens allererst entstehe (S. 42–45), und auch den von Ludwig Klages inszenierten »Kampfzustand« zwischen beiden Sphären (S. 61–63), wobei insbesondere die zweite Abgrenzung einige Fragen aufwirft. 1050 »Von einem ›Irrationalismus‹ Diltheys zu sprechen, überlassen wir fortan denjenigen, die die Texte Diltheys nicht kennen.« (Huschke-Rhein 1979: 406). Im Anschluss an Schellings Rede vom »Verstandlosen« könnte man Diltheys Position auch als »Arationalismus« bezeichnen, (um nicht Gefahr zu laufen, als unkundig zu gelten).
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ment verloren, in dem der Unterschied von »Differenz von« und »Gegensatz zwischen« Denken und Sein, Begriff und Leben nicht festgehalten wird.1051
1051 »[…] la distance qui sépare la philosophie de la vie, qui veut rester rationnelle et rigoureuse, de l’irrationalisme frénétique.« (Aron 1969: 101). Weiterführende Überlegungen finden sich bei: Litt 1928: 7f, 31; Mannheim 1984: 197–200.
5.
Das historische Bewusstsein »Wie der Jäger das Gamswild beschleicht, nähern wir uns über Gletscher und Eis und zwischen Abgründen der gewaltigen Wahrheit, welche in der Wirklichkeit des Lebens liegt.« (GS XIX, 276)
Die in den vorangehenden Kapiteln geleistete Rekonstruktion der philosophischen Position Diltheys, die Erläuterung seiner Grundbegrifflichkeiten und die Explikation seines Philosophieverständnisses erfolgte mit dem Ziel, die Grundlagen und den Hintergrund zu klären, die seine Rede vom »historischen Bewusstsein« allererst verständlich machen. Wenn es zutreffend ist, »Leben« als den materialen Ausgangspunkt und als methodologische Maßgabe der Diltheyschen Philosophie zu bezeichnen, dann bildet das »historische Bewusstsein« ihren ständigen Fluchtpunkt. Dass mit ihm gewissermaßen der Schlussstein seines Theoriegebäudes angesprochen ist, ist auch vonseiten der Kommentatoren weitgehend klar gesehen worden, so wird Dilthey mitunter geradezu als »[Philosoph] des historischen Bewußtseins« tituliert.1052 In der Tat laufen in diesem Begriff zahlreiche Fäden, die Dilthey zeitlebens verfolgte, zusammen. Nicht nur spürte er in geistesgeschichtlicher Forschung der Entstehung desselben nach. Die in diesen historisch-systematischen Arbeiten eröffneten Perspektiven wiederum vertieften, klärten und verschärften das historische Bewusstsein auf der Seite des Forschenden entscheidend weiter. Eine Dynamik, die er gegen Ende seiner Laufbahn mit der Beobachtung zusammenfasst: »Der Typus Mensch zerschmilzt in dem Prozeß der Geschichte.«1053
Und das, wo doch Dilthey den Ausgang vom handelnden Menschen in der Einleitung als methodologische Grundlage und verbindende Klammer der Geisteswissenschaften herausgearbeitet hatte, und sich durch ihn und die an seinen Lebensprozessen entwickelten Kategorien auch allererst die Tür zur geschichtlichen Welt öffnet. Zunehmend herausgefordert von diesem Rückschlag der Ergebnisse der eigenen Untersuchungen auf die theoretischen und methodologischen Voraussetzungen ebendieser Forschungen, thematisiert er mit dem »historischen Bewusstsein« Sinn und Grundlage des eigenen Arbeitens und 1052 Derbolav 1966: 190. 1053 GS VIII, 6.
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Das historische Bewusstsein
Forschens und hält damit nicht zuletzt die eigene hochstilisierte hermeneutische Lebensform zur Selbstbesinnung an. Wie ist diese Form des Bewusstseins möglich? Wie ist sie historisch entstanden? Was bedeutet sie anthropologisch? Stellt sie einen Aufschwung dar oder ist sie Symptom des Verfalls? Diesem abschließenden Kapitel kommt die Aufgabe zu, auf Grundlage der erarbeiteten Einsichten plausible Antworten auf diese durch das historische Bewusstsein aufgeworfenen Fragen zu formulieren und dabei en passant auch eine Art Rekapitulation und Integration der im Laufe der Arbeit zusammengetragenen Aspekte und angeklungenen Motive zu leisten. Von Dilthey selbst liegen nur die Problemexposition und erkennbar beunruhigte Hinweise auf dessen enorme Reichweite vor, sowie einzelne Andeutungen einer letztlich optimistischen Positionierung, sodass auch bezüglich der so bedeutsamen Frage des historischen Bewusstseins der rekonstruktive Zugriff auf Interpolationen und das Ausziehen von Linien, auf das Weiterdenken von Tendenzen und Festlegungen angewiesen ist. Dieser Zusammenschau der zentralen Stränge unserer Diltheyinterpretation sei eine orientierende Explikation des Phänomens selbst vorangestellt.
5.1
Fixierung des Phänomens
In Beziehung zur Vergangenheit stellt sich früher oder später stets diejenige Frage, die in verschiedenen Kontexten auf charakteristische Weise zugespitzt zu haben, das besondere Verdienst von Günther Anders ist: haben oder gehabt werden (habere vel haberi)?1054 Eine Option, die zu implizieren scheint, dass sich als Mittel zur Vermeidung des (von der Geschichte) »Gehabt werdens« vorzüglich, wenn nicht ausschließlich, ein umso bewussteres und methodischeres »Haben« der Geschichte anbietet.1055 Daher auch wird ein Mindestmaß der thematischen Auseinandersetzung mit der Geschichte (sei es der des eigenen Kulturkreises und Gemeinwesens, der eigenen Familie, der Institutionen, in denen man sich bewegt, etc.) gemeinhin zu 1054 Vgl. Anders 2002: 70, 181; Anders 1995: 188f. 1055 Auf diesen Sachverhalt verweist ebenfalls das bekannte Wort Santayanas: »[…] when experience is not retained, as among savages, infancy is perpetual. Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.« (Santayana 1962: 184); bei Alfred Heuss findet sich im gleichen Sinn: »Der Mensch bedarf nicht der Vergangenheit, sondern er hat sie, oder besser noch, die Vergangenheit hat ihn.« (Heuss 1959: 22; vgl. Droysen 1960: 31 (»[…] es ist zunächst nur Empfangenes, Überkommenes, Angewöhntes, es ist unser, als wäre es nicht unser, es hat uns mehr, als wir es haben, es beherrscht uns.«)). Auf das Motiv des von der Geschichte »Gehabt werdens« spielt ebenfalls ein Buchtitel Huizingas an: »Im Bann der Geschichte« (vgl. Huizinga 1943: ix); und auch Gerhard Masur greift das Motiv auf (vgl. Masur 1971a: 16f). Diese Liste ließe sich beliebig verlängern.
Fixierung des Phänomens
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den notwendigen Voraussetzungen einer mündigen Lebensführung gerechnet. Klassisch formuliert findet sich diese Überzeugung bei Cicero: »nicht zu wissen, was sich zutrug, ehe man geboren wurde, bedeutet immer ein Kind zu bleiben.«1056 Der Sachverhalt, der hier von Cicero ausgedrückt wird und auch in der an Anders angelehnten Frage anklingt, ist offensichtlich hochgradig spezifizierungsbedürftig und zwar in nahezu jeder Hinsicht. Was kann es etwa heißen, seine Vergangenheit zu haben und mehr noch von ihr gehabt zu werden? In welchen Formen, auf welche Weisen findet das statt? Geht es dabei »nur« um ein Wissen (wie es die Formulierung Ciceros zumindest nahelegt)? Welcher Art ist dieses Wissen genau und wieviel davon ist »genug«?1057 Auch wenn man auf diese Weise die klassische Sentenz erst einmal zu einer hinreichend diskutablen These angereichert hätte, wäre ihre Aussicht auf Zustimmung vermutlich alles andere als gesichert. Zu leicht erinnert sie an den etwas abgestandenen Geruch eines gewissen, »humanistisch« genannten Bildungshabitus verknöcherter Gelehrsamkeit, dessen ausschließliche Maßgeblichkeit für den Bildungsbegriff und vor allem für die Bildungspraxis zurückgedrängt zu sehen, nahezu allgemein als längst fällige Befreiungs- und volkswirtschaftliche Wohltat empfunden wird.1058 Es schließen sich also die Fragen an: Welche Relevanz erkennen wir dem Haben von Vergangenheit in unseren gesellschaftlichen Praktiken und Wertungen faktisch zu und welche sollten wir ihm zukommen lassen? Und komplementär dazu: Wie hoch taxieren wir damit das Risiko, von der Geschichte »gehabt zu werden«? Denn nicht allein, dass Institutionen, denen in besonderer Weise die kollektive Pflege des Verhältnisses zur Vergangenheit anvertraut ist, im Kampf um knappe Ressourcen chronisch unter Rechtfertigungsdruck stehen, weil sich der öffentliche Nutzen und die gesellschaftliche Relevanz ihrer Arbeit offenbar nur schwer vermitteln lässt. Der Umgang mit der Vergangenheit gilt nicht bloß als (volkswirtschaftlich) nutzlos, seit Nietzsches Tagen ist zudem der Verdacht nicht mehr auszuräumen, dass er sogar schädlich sein könnte. Das Wissen um den Aufstieg und den Niedergang und damit auch um die Vergänglichkeit verschiedenster politischer Gebilde und Religionen, Sitten und Gesetze ist geeignet, die Kon1056 Cicero, Orator, 120: »nescire autem, quid ante quam natus sis acciderit, id est semper esse puerum.« (Dem wiedergegebenen Wortlaut liegt die Übersetzung von Harald Merklin zugrunde). Vgl. Droysen 1960: 31. 1057 Was die Extension des zu wissenden historischen Pensums angeht, steht nach wie vor Goethes Marke im Raum: »Wer nicht von dreytausend Jahren / Sich weiss Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben.« (Goethe, Westöstlicher Diwan, Rendsch Nameh, GW XI/1.2, 54). 1058 Vgl. Michael Hampes Hinweise zu weiteren problematischen Aspekten des humanistischen Bildungsanspruchs: Hampe 2016: 122–128 (»Kaste gebildeter Begriffsgourmets«, S. 128).
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Das historische Bewusstsein
tingenz auch der gegenwärtigen Institutionen zu Bewusstsein zu bringen und damit deren dauerhaften Bestand womöglich bereits zu erschüttern. Das Säurebad historisch-philologischer Kritik zudem, das zunächst die Emanzipation des Bürgertums von feudaler und kirchlicher Autorität entscheidend mitermöglichte, droht früher oder später auch dessen eigene sittliche und dogmatische Substanz, den Universalismus und die Ideale der Aufklärungszeit anzugreifen. Was einerseits einen integralen Bestandteil eines aufgeklärten Welt- und Selbstverhältnisses auszumachen scheint, könnte sich als nicht dauerhaft stabilisierbar erweisen, weder geistig, moralisch noch politisch, sondern letztlich in Skeptizismus, historischen Relativismus oder gar Nihilismus münden. Damit kommt dem historischen Bewusstsein eine eigentümliche Ambivalenz zu: einerseits ist es notwendige Voraussetzung für den Bestand eines und die mündige Teilhabe an einem liberal-demokratischen Gemeinwesen, andererseits droht ein Übergewicht des historischen Bewusstseins zu den genannten destabilisierenden Konsequenzen zu führen, die letztlich jede Orientierung im Hier und Jetzt verunmöglichen und jede Handlungsfähigkeit lähmen.1059 Dass mit wachsendem historischem Wissen und interkulturellem Überblick relativistische, skeptizistische oder sogar nihilistische Tendenzen einhergehen können, stand auch Wilhelm Dilthey mit zunehmender Klarheit und Dringlichkeit vor Augen. Als politisch-kulturelle Zeitdiagnose: »Sie haben recht, und furchtbar rasch nähern sich uns die Katastrophen; die Glaubenslosigkeit dieses Zeitalters d. h. seine Unfähigkeit, Überzeugungen, welche den Menschen gegen die armselige umzingelnde geschwätzige, begehrliche, bietende, unterstützende gesellschaftliche Menge frei machen und ihn dem wahren im Unsichtbaren gegründeten Zusammenhang gegenüber finden, zu erhalten oder – was dasselbe – neu hervorzubringen, führt uns in diese Katastrophen.«1060
Als Generalisierung der Beobachtungen, die sich im Zuge der geistesgeschichtlichen Forschung einstellen: »Ein scheinbar unversöhnlicher Gegensatz entsteht, wenn das geschichtliche Bewußtsein in seine letzten Konsequenzen verfolgt wird. Die Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, sie sei eine Religion oder ein Ideal oder philosophisches System, sonach die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung des Zusammenhanges der Dinge 1059 Die Wahrnehmung einer »Krise des Historismus« (gen. sub. & ob.) greift ausgehend von Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung (1874) immer mehr um sich, um dann in den 1920er Jahren im Werk Ernst Troeltschs zu kulminieren (vgl. Iggers 1983: 177–195; Meinecke 1959: 1–5). 1060 B 156 (Weihnachten 1892); zu Diltheys Krisenbewusstsein siehe Abschnitt 2.1.2. Die von Dilthey befürchtete und zum Teil bereits beobachtete »Anarchie der Vorstellungen« (GS V, 9) bildet in deutlich verschärfter Form den geistigen Hintergrund von Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« (vgl. Ulmer 1972: 70–78).
Fixierung des Phänomens
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ist das letzte Wort der historischen Weltanschauung, alles im Prozeß fließend, nichts bleibend. Und dagegen erhebt sich das Bedürfnis des Denkens und das Streben der Philosophie nach einer allgemeingültigen Erkenntnis.«1061 »Viel stärker als jede systematische Beweisführung wirkt gegen die objektive Gültigkeit jeder bestimmten Weltanschauung die Tatsache, daß eine grenzenlose Zahl solcher metaphysischen Systeme sich geschichtlich entwickelt hat, daß sie einander zu jeder Zeit, in welcher sie bestanden, ausgeschlossen und bekämpft haben und bis auf diesen Tag eine Entscheidung nicht herbeigeführt werden konnte.«1062
Und, konfrontiert mit der religiös gebundenen, kraftvoll entschlossenen Einseitigkeit Paul Yorcks von Wartenburg, in der Rückwendung auf die eigene hermeneutische Lebensform: »Ist mein eigener historischer Gesichtspunkt nicht unfruchtbarer Skeptizismus, wenn ich an einem solchen Leben messe? Wir müssen diese Welt leiden und besiegen, wir müssen auf sie handeln: wie siegreich tut das mein Freund: wo ist in meiner Weltanschauung eine gleiche Kraft? […] Wäre der Relativismus das letzte Wort der Philosophie, dann wäre das vornehme Lächeln D’Alemberts über die Offenbarungen auch die definitive Gemütsart jedes wahrhaft ehrlichen Mannes.«1063
Die Textstellen machen deutlich, dass Dilthey die destruktiven Konsequenzen des historischen Bewusstseins zeitlebens als philosophische und auch als persönliche Herausforderung empfand. Auch wenn er dem Relativismus nicht das letzte Wort zuerkennt und die irritierenden Auswirkungen des historischen Bewusstseins für eine Durchgangsphase hält, hat er offenbar keinen theoretischen Zug gefunden, um diese Herausforderung ein für alle Mal abzuräumen. Als Ausweg votiert Dilthey anders als Nietzsche nicht für eine Beschränkung der Dosierung des historischen Bewusstseins, sondern für die Flucht nach vorne: nicht methodische Naivität und Ignoranz, sondern allein dessen möglichst 1061 GS V, 9 (Hervorhebungen hinzugefügt). GS VIII, 224 (»[…] das geschichtliche Bewußtsein, das diesen absoluten Zweifel hervorgebracht hat […]«). Diese Überzeugung lässt sich auch als Endpunkt eines biographischen Weges begreifen, den Dilthey zunächst als Pastorensohn und Theologiestudent antrat. Bereits in seinem aus dem Nachlass publizierten »Rechnungsabschluß der Gegenwart« macht sich der junge Dilthey allerdings klar, dass sich weder mit den Mitteln der Philosophie noch auf dem Wege historischer Forschung der Wahrheitsanspruch des Christentums stützen lässt (vgl. GS XIV/2: 589–593; Antoni 195?: 51f; Aron 1969: 23). 1062 GS VIII, 3. Blaise Pascal zieht bekanntlich den entgegengesetzten Schluss: »es wäre nicht möglich, daß es so viele falsche Wunder gäbe, wenn es keine wahren gibt, und nicht so viele falsche Religionen, wenn es nicht eine wahre gibt, denn wäre von alldem nie etwas vorhanden gewesen, so ist es gleichsam unmöglich, daß die Menschen es ersonnen hätten, und noch weniger möglich, daß so viele andere daran geglaubt hätten.« (Pascal 2004: 400). 1063 GS VIII, 233f. Handelndes Eingreifen in die Verhältnisse erfordert eine gewisse Einseitigkeit, das sieht auch der junge Dilthey: »Kein Mensch kann sein Selbst an ein großes Ziel setzen, ohne einseitig, nach anderen Seiten hin abschneidend zu werden.« (GS XI, 151).
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Das historische Bewusstsein
vollständige Entfaltung und weitgehendste Vertiefung versprechen so etwas wie Halt und Orientierung.1064 Die geschichtliche Forschung »muß schließlich die Wunde heilen, die sie geschlagen hat.«1065 »›Das Messer,‹ so fuhr ich fort, ›des historischen Relativismus, welches alle Metaphysik und Religion gleichsam zerschnitten hat, muß auch die Heilung herbeiführen. Wir müssen nur gründlich sein. Wir müssen die Philosophie selbst zum Gegenstand der Philosophie machen. Eine Wissenschaft ist notwendig, welche durch entwicklungsgeschichtliche Begriffe und vergleichendes Verfahren die Systeme selbst zum Gegenstande hat.‹«1066
An diesen letzten Schritt schließen sich einige Fragen an. Kommentatoren, die den Ausblicken Diltheys auf eine solche positive und produktive Wendung des historischen Bewusstseins eher skeptisch begegnen, wie sich auch Dilthey selbst nicht durchgängig von ihnen überzeugt zeigt, attestieren ihm (bei gegenläufigen Intentionen) sogar eine faktisch fortschreitende »Ästhetisierung« seines Standpunkts.1067 Anstatt an den gesellschaftlichen Gestaltungsansprüchen der Einleitung festzuhalten, so die Diagnose, ziehe sich Dilthey bis zur Zeit des Aufbaus mehr und mehr auf eine kontemplative und alles verstehende Zuschauerposition zurück, von der aus schließlich kein Weg mehr zu einer für ein wirkkräftiges Engagement nötigen Einseitigkeit erkennbar ist. Bevor wir diese Frage aufrollen, sei auf eine weitere Komplikation des historischen Bewusstseins hingewiesen, die sich zur Zeit Diltheys erst allmählich abzuzeichnen beginnt. Diese weitere paradoxe Struktur des Versuchs, die Vergangenheit zu haben (besser: das Haben der Vergangenheit gesellschaftlich zu organisieren), hat mit 1064 Vgl. KSA I, 252f, 257, 330f; vgl. GS VIII, 10 (»Es ist, als ob in der Philosophie dieses Jahrhunderts ein dunkles Gefühl waltete: nur wenn sie das Studium ihrer Vergangenheit zum tiefsten Punkt verfolge, werde Geschichte, ihr Gegner bisher, zu ihrem Arzte werden.«); GS VIII, 224. Hayden White bietet einen materialreichen Überblick über die verbreitete Einschätzung der Geschichte als einer Belastung (vgl. White 1966: »the burden of history«; ferner Wittram 1969: 7–24: zur »Befreiung vom Geschichtsbewusstsein«). 1065 GS VI, 303 (Subjekt des Satzes eigentlich »Die Religionswissenschaft«); vgl. GS VII, 290f; GS IX, 218. Just in diesem Gedanken sieht Georg Lukács eine besonders verhängnisvolle »Illusion« Diltheys (Lukács 1974: 385). Vgl. Ulmer 1978: 396–400. 1066 GS VII, 234. Zu dem Projekt einer »Philosophie der Philosophie« siehe den Anhang. 1067 Vgl. Derbolav 1966: 225 (»Setzt man dagegen jenes Geschichtemachen in die Erinnerung des Gewesenen […] dann verkehrt sich das Bild. Die fundierende Praxis gerät aus dem Blick, der Primat des Praktischen wird suspendiert; Geschichte als ›Präsens des Vergangenen in der Gegenwart hört auf, Motiv zu sein und wird zum Quietiv. Und die Gegenwart verwandelt sich aus einem Feld verantwortlichen Handelns und Entscheidens in einen Ort des Erlebens und Nacherlebens, der das Vergangene immer schon bei sich hat, sofern es ihm bedeutsam geworden ist.«, Hervorhebung im Original), 238 (»Wer die Geschichte zu einem ästhetischen Kathartikum macht, wie es die Kunst ist, der hebt den Betrachter über die Geschichte hinaus, er läßt ihm seine eigene geschichtliche Verpflichtung als lästige Nötigung ansehen […] Hier aber hat Dilthey das letzte wegweisende Wort nicht gesprochen.«); Aron 1969: 105f; Johach 1974: 77, 123, 162–164; Fagniez 2019: 122–129.
Fixierung des Phänomens
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der extrem fortgeschrittenen Arbeitsteiligkeit und dem enormen Spezialisierungsgrad heutiger Gesellschaften zu tun. In ihnen wird der Umgang mit der Vergangenheit ähnlich wie bei den allermeisten anderen gesellschaftlichen Funktionen in letzter Instanz an gewisse Experten delegiert, hier: an die Geschichtswissenschaft. Diese hat inzwischen allerdings einen solchen Spezialisierungs- und Professionalisierungsgrad erreicht, dass ihre Ergebnisse vom öffentlichen Bewusstsein kaum noch nachvollzogen, geschweige denn angeeignet, werden können.1068 Im Nachkriegsdeutschland hat Alfred Heuss diese Problematik eines drohenden »Verlustes der Geschichte« zu allgemeinem Bewusstsein gebracht. »Die gegenwärtige Welt, welche auf der einen Seite mit historischem Wissen im Zustand einer spezifischen und abseitigen, nur von ›Spezialisten‹ zu handhabenden Verfügbarkeit angefüllt ist, andererseits täglich mit Denkformen umgeht, die sich, direkt oder indirekt, aus dem Historismus ableiten, wird im Durchschnitt von einem nahezu enthistorisierten oder ahistorischen Bewußtsein repräsentiert, d. h. durch ein Bewußtsein, welches über keinerlei aktuelle oder aktualisierbare Rapporte zur Vergangenheit verfügt.«1069
Diese Diskrepanz zwischen dem Stand avancierter Geschichtswissenschaft einerseits und der tatsächlichen gesellschaftlichen Verfügbarkeit historischen Wissens andererseits beschreibt Heuss näher unter Rückgriff auf zwei Funktionen der Geschichte. »Geschichte als Wissenschaft« sei derjenige Modus, in dem 1068 Der Kulturhistoriker Johan Huizinga macht bereits 1941 auf eine seit der Mitte des 19. Jahrhunderts abnehmende »Lesbarkeit« von Geschichtsdarstellungen aufmerksam, die er durch eine zunehmende »Formlosigkeit« und diese wiederum durch die gewachsene »Unanschaulichkeit der neueren historischen Vorgänge« selbst erklärt, die zu einer »Schrumpfung [des episch-dramatischen] Elementes in der Geschichte« führen würde (vgl. Huizinga 1943c: 112–114, 123, 127). Auf dasselbe Phänomen verweist auch Alfred Heuss, ordnet es allerdings völlig anders ein (vgl. Heuss 1959: 56). Neben dem zunehmend unanschaulichen »Zuschnitt« der Geschichtswissenschaft verweist Heuss auf den Umstand, dass in der Geschichtswissenschaft gegenüber den zugleich klassischen und populären Werken eines Ranke, Droysen oder Mommsen eine Entkopplung von »Forschung und Darstellung« stattgefunden habe, die die Einbettung von Forschungsergebnissen in übergreifende narrative Zusammenhänge als nachrangig erscheinen lasse und dazu führe, dass sich die Disziplin inzwischen allein an »autonomen Erkenntnisimpulsen« orientiere (vgl. Heuss 1959: 64–66). 1069 Heuss 1959: 57 (Hervorhebung hinzugefügt). An dieser Stelle heißt es im direkten Anschluss: »Sie gleicht dem Mann ohne Gedächtnis, der an totalem Gedächtnisschwund leidet und seine eigene Vergangenheit vergessen hat.« Der Entstehungskontext legt nahe, dass Heuss hier vermutlich Mitbürger vor Augen hat, die aus welchen Gründen auch immer keinerlei Erinnerung an ihre eigene Vergangenheit vor 1945 zu haben scheinen. Heuss’ Analyse wirkt vor der massiven Verdrängungsleistung der deutschen Nachkriegsgesellschaft sicherlich besonders treffend, ihr kommt – wie die strukturelle Übereinstimmung mit der Einschätzung Huizingas unterstreicht – darüber hinaus aber auch eine allgemeinere Bedeutung zu.
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Das historische Bewusstsein
historisches Wissen von einem kleinen Kreis von Spezialisten erarbeitet und verwaltet wird, in ihm ist der Trend einer fortschreitenden Entkopplung von Geschichtsforschung und Geschichtsdarstellung festzustellen.1070 Ein Mangel an Forschungsergebnissen sei nicht zu beklagen. »Geschichte als Erinnerung« meint hingegen dasjenige historische Wissen, das einem beliebigen Staatsbürger »durchschnittlich« zur Verfügung steht und ihm oder ihr entsprechend differenzierte und verlässliche »Rapporte zur Vergangenheit« ermöglicht. Dieser Aspekt ist nun nach der Auffassung von Heuss im Verschwinden begriffen. Um diese Kluft von virtuell vorhandenem historischem Expertenwissen und tatsächlich »aktualisierbarem« Wissen der durchschnittlichen Bevölkerung einzuordnen, verweist Heuss auf eine entscheidende Disanalogie zwischen naturwissenschaftlichem und historischem Expertenwissen. Die »Natur der wissenschaftlichen Erkenntnis« unterscheide sich in beiden Fällen drastisch von der »Natur der naiven Betrachtung«. Aber selbst, wenn man theoretisch der Auffassung ist, dass es Sache der Naturwissenschaften sei, uns Laien darüber zu belehren, wie die Natur »in Wirklichkeit« strukturiert ist, setze das die Geltung der lebensweltlichen Perspektive auf sie nicht vollständig außer Kraft. Die kopernikanische Wende nimmt einem Sonnenaufgang nichts von seiner phänomenalen Qualität. Heuss betont daher, »daß der Mensch über zwei Arten von Naturerfahrungen verfügt und diese in durchaus verträglicher Weise seinen Bewußtseinshorizont ausfüllen«.1071 Für das historische Wissen gelte dies aber nicht: »Das geschichtliche Wissen verträgt keine anderen Götter neben sich […]«, es ist »sozusagen intolerant«. Daher gelte: »Wir sind nicht in der Lage, ein naives geschichtliches Verständnis neben das wissenschaftliche zu stellen. Während die Natur trotz ihrer wissenschaftlichen Beherrschung nicht aufgehört hat, sich für den Menschen in beiden Brechungen darzustellen, ist die Geschichte gleichsam monopolisiert worden vom Historiker.«1072
Als Grund für diese Disanalogie führt Heuss etwas pauschal den »Wahrheitsanspruch des Historikers« an.1073 Da nun ein solcher auch seitens des Naturwissenschaftlers erhoben wird, wird man wohl genauer sagen müssen, dass »Geschichte als Erinnerung« auf eine Weise auf Wahrheit verpflichtet ist, wie es bei der naiven lebensweltlichen Naturbetrachtung nicht der Fall ist, bzw. dass sich (idealerweise) kein lebensweltlicher Bezug zur Geschichte etablieren und
1070 Vgl. Heuss 1959: 32ff, 64f. 1071 Heuss 1959: 9. 1072 Heuss 1959: 12f. Diese Überlegung entspricht dem und verdeutlicht den von Dilthey beobachteten exoterischen Charakter der Geisteswissenschaften (vgl. GS VII, 136). 1073 Heuss 1959: 12.
Fixierung des Phänomens
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stabilisieren kann, der mit dem wissenschaftsförmigen Wissen in dieser Sache nicht vereinbar ist.1074 Nach Heuss ist der Kontaktverlust zwischen beiden Formen des GeschichteHabens nicht allein für die vom geschichtswissenschaftlichen Fortschritt abgehängte Öffentlichkeit bedauerlich. Er konstatiert auch eine Abhängigkeit in gegenläufiger Richtung und schreibt der »spezifischen Form der ›Erinnerung‹« im »Zusammenhang des historischen Wissens […] eine Fundamentalfunktion« zu, »und dies in genetischer wie logischer Hinsicht.«1075 Sie habe sogar als »das Prius aller nur denkbaren historischen Auffassungsweisen« zu gelten, »denn nur in ihr offenbart sich der Begriff der historischen Zeit«.1076 Folgt man Heuss soweit, ergibt sich, dass historisches Wissen, anders als naturwissenschaftlich-technisches Wissen nur bedingt (an Experten) delegierbar ist. Soll es nicht zu einem »Verlust der Geschichte« (als Erinnerung) kommen, der effektiv eine qualitative und quantitative gesellschaftliche Regression hinsichtlich des (wahrheitsbezogenen) öffentlichen und privaten Umgangs mit der Vergangenheit bedeuten und sich zudem nachteilig auf die professionelle Geschichtswissenschaft selbst auswirken würde, ist die »lebendige Zirkulation« von historischem Wissen zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft, zwischen den Formen professioneller Geschichtsforschung und persönlich-erinnerungsförmiger Aneignung essentiell.1077 Neben das Spannungsfeld von durch historisches Wissen freigesetzte Emanzipation und Auflösung tritt damit ein weiteres. Denn auf der einen Seite gestaltet sich der wissensförmige Bezug auf die Vergangenheit in der Form einer wissenschaftlichen Fachdisziplin mit dem damit zusammenhängenden Apparat von Expertentum und einschlägigen Institutionen; auf der anderen Seite ist unabdingbar, dass historisches Wissen von der durchschnittlichen Bevölkerung angeeignet und in konkreten Situationen aktualisiert werden kann. Beide Aggregatzustände des historischen Wissens folgen einer spezifischen Eigenlogik und 1074 Faktisch kommen fraglos zum Teil weitreichend revisionistische Geschichtsauffassungen von Privatpersonen und Gruppen vor. Die dennoch bestehende ideale Verpflichtung auf Wahrheit kommt in diesen Fällen in der Form zum Ausdruck, dass solche »alternative Geschichtsbilder« von außen als zutiefst problematisch oder sogar pathologisch betrachtet (ggf. auch juristisch sanktioniert) werden und dass deren Aufrechterhaltung aufseiten ihrer Proponenten mit massivem emotionalem Aufwand und erheblichen psychologischen Kosten verbunden ist. Zudem suchen Geschichtsrevisionisten, wenn sie sich nicht auf eigene Augenzeugenschaft berufen, typischerweise Unterstützung von »alternativer Geschichtsforschung«. Davon strikt zu trennen, ist natürlich der Dissens innerhalb der professionellen Geschichtswissenschaft selbst; vgl. Trouillot 2015: 10–13. 1075 Heuss 1959: 31. 1076 Heuss 1959: 32. 1077 GS VI, 242. Um die Brisanz eines solchen Verlustes einschätzen zu können, müsste natürlich zunächst eine Erläuterung der Funktion der »Erinnerung« für ein liberal-demokratisches Gesellschaftssystem erläutert werden.
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Das historische Bewusstsein
unterliegen verschiedenen Anforderungen, sodass im Zuge zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung die Friktionen zwischen beiden immer erheblicher werden. Im Folgenden wird daher zu prüfen sein, inwiefern Diltheys Begriff des historischen Bewusstseins geeignet ist, auch mit diesen Spannungen produktiv umzugehen.
5.2
Wege in die Zukunft
Die im vorangehenden Abschnitt verfolgten Überlegungen zur Option zwischen einem Haben der Geschichte und einem Gehabtwerden durch sie sind unmittelbar anschlussfähig an die weiter oben erfolgte Explikation von Diltheys Konzeption des Wirkungszusammenhangs. Dort wurde zwischen den Formen eines bewussten unmittelbaren Fortwirkens von vergangenen Ereignissen und einem diffusen mittelbaren unterschieden, auf die sich das Haben respektive das Gehabtwerden gut abbilden lassen. »Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte. Umsonst werfen andere die ganze Vergangenheit hinter sich, um gleichsam neu anzufangen vorurteilslos mit dem Leben. Sie vermögen nicht abzuschütteln, was gewesen, und die Götter der Vergangenheit werden ihnen zu Gespenstern. Die Melodie unseres Lebens ist bedingt durch die begleitenden Stimmen der Vergangenheit.«1078
Man wird, so offenbar Diltheys Auffassung, die Geschichte nicht los; man kann aus dem Wirkungszusammenhang nicht aussteigen. Aber man kann durch Ausbildung des historischen Bewusstseins graduell den von ihm ausgehenden Einfluss erkennend durchschauen und so etwa einzelne Kraftzentren identifizieren, Zusammenhänge zwischen solchen ausmachen, eigener Bedingtheiten bewusstwerden und sie auf ihre Quellen zurückführen.1079 Diese zumindest partielle Durchleuchtung und Artikulation des Wirkungszusammenhangs erlaubt eine reflektiertere, präzisere und distanziertere Stellungnahme zum von ihm ausgehenden normativen Druck. Demgegenüber bezeichnen die »Gespenster der Vergangenheit« ein ungeklärtes Getriebenwerden durch unerkannt sich auswirkende Kräfte und undurchschaute Machtstrukturen. Der Verdacht, dass das historische Bewusstsein zwar einen klaren Fortschritt in der kognitiven Aufklärung von in der Gegenwart weiterwirkenden Kräften bedeutet, aber damit letztlich lediglich einer kontemplativen Zuschauerposition Vorschub leisten würde, lässt sich mit Bezug auf die dargestellte Theorie des Wirkungszusammenhangs dahingehend genauer erläutern, dass mit ihm der
1078 GS VIII, 226. 1079 »[…] may trace it home […]«, Philip Larkin, Continuing to Live (Larkin 2004: 177).
Wege in die Zukunft
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Vorgang der Kraftübertragung in Zweifel gezogen wird. Diltheys Konzeption, dass die aus der Vergangenheit als wirkende Kräfte in die Gegenwart ragenden Begebenheiten zu aktualen Episoden von Wertauffassungen führen würden, von denen wiederum orientierende und motivierende Kräfte zu neuerlicher Einwirkung auf die gegenwärtigen Verhältnisse ausgehen, ist daher genauer zu prüfen. Den schwerwiegendsten, weil treffgenauesten Einwand gegen diesen zentralen Aspekt von Diltheys Projekt hat in dieser Sache Arnold Gehlen und zwar im letzten Abschnitt der Neufassung seines Hauptwerks formuliert. Relevant ist eine Diskussion Gehlens vor allem deswegen, weil seiner Kritik eine präzise Wahrnehmung von Diltheys systematischem Anliegen zugrunde liegt, was durchaus nicht immer der Fall ist. Seine Rekonstruktion geht aus von folgendem zentralen Satz aus Diltheys Beiträgen zum Studium der Individualität, auf den im Folgenden als »Sympathieprinzip« Bezug genommen werden soll: »Erleben eines eignen Zustandes und Nachbilden eines fremden Zustandes oder einer fremden Individualität sind nun im Kern des Vorgangs einander gleichartig.«1080
Ließe sich von der Geltung dieses Prinzips ausgehen, ergäbe sich in der Tat eine aussichtsreiche Perspektive, wie eine Vertiefung des historischen Bewusstseins zur Orientierung und Motivierung von Handlungen beitragen könnte. Der Historiker würde – so Gehlens Darstellung von Diltheys Strategie – den immensen Fundus seines historischen Wissens durchforsten und durch die vorstellungsmäßige Reaktualisierung ihm bekannter historischer Begebenheiten die Motivationskräfte der jeweiligen historischen Akteure wiederum in sich selbst induzieren. Dazu Gehlen: »Man kann mit aller Hingabe die Ideenwelt z. B. des englischen Puritanismus erforschen und zu verstehen suchen, man kann die geistige Willenskraft darin bewundern, die Energie der ›innerweltlichen Askese‹ und ihre gewaltigen Auswirkungen in der wirtschaftlichen und politischen Welt – man wird dadurch nicht jene ›Sicherheit und Festigkeit‹ erreichen, die die Puritaner hatten, weil man eben auf dem Wege des Verstehens nicht Puritaner werden kann. Hier steckt einer der tiefsten und schwer aufdeckbaren Irrtümer Diltheys. […] Wenn das wahr wäre [sc. Diltheys Sympathieprinzip], dann wäre auch das Nacherleben und Vorstellen der seelischen Energie eines anderen schon die Entstehung derselben Energie in einem selbst, während es doch keine drastischere Kluft gibt, als zwischen dem vorgestellten Willen und dem wirklichen Willen.«1081
Die Kluft zwischen aktualen seelischen Motivationskräften und bloß vorgestellten vergrößert Gehlen noch weiter durch eine skizzenhafte Rekonstruktion 1080 GS V, 276. Statt »sind einander gleichartig« zitiert Gehlen an dieser Stelle »sind einander gleich«, was seiner Argumentation auch besser entspricht (Gehlen 2016: 461). 1081 Gehlen 2016: 461 (Hervorhebung im Original).
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der Genese des historischen Bewusstseins. Diese voraussetzungsreiche Bewusstseinsform sieht er zuerst in Montesquieus »Esprit des Lois« von 1748 voll entfaltet und betont: »dieses unverlierbar gewordene historische Bewußtsein ist gänzlich ein Resultat der Aufklärung«, worunter er den Prozess der fortschreitenden Neutralisierung traditionaler sittlicher, religiöser und rechtlicher Normen versteht.1082 Dieser Prozess überführe die »natürlicherweise« geltenden Normen aus dem Medium fraglos verpflichtender Weltstrukturen in das zugleich subjektivierte und distanzierte bloßer Vorstellungen. Erst mit dieser Distanzierung von den eigenen normativen Überzeugungen werde eine sachlich-thematische Zuwendung zu ihnen möglich und zugleich führe das Bewusstwerden des subjektiven Überzeugungscharakters der normativ-sittlichen Substanz bereits zu einer Infragestellung von deren Geltungsansprüchen. In diesem Sinn setzt eine objektive Thematisierung der eigenen Leitüberzeugungen das Bewusstsein von deren Kontingenz voraus und eröffnet damit zugleich erstmalig ein Feld einer echten Pluralität von tatsächlich möglichen Moralen und Religionen, während diese bis dahin ausschließlich als Häresien oder sittliche Perversionen in den Blick genommen oder angesprochen werden konnten. Erst auf diesem Feld weitgehend neutralisierter Normen stehe der Unternehmung einer vorbehaltlosen »deskriptiven Kulturforschung« (vergleichende Ethnologie) nichts mehr im Wege.1083 Was Max Webers These von der Entzauberung der Welt für die Entstehung der technisch-instrumentellen Rationalität und ihr freies Disponieren über die Natur bedeutet, lässt sich nach Gehlen für die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit in der Entstehung des historischen Bewusstseins wiedererkennen, das unterschiedslos alle Wertungssysteme als neutralisierte der vergleichenden Forschung erschließt und somit notwendig zum »Relativismusproblem« führe.1084 Das historische und das technisch-instrumentelle Bewusstsein entstehen damit als »Partner« auf dem Boden der Aufklärung; dieses »beutet die Natur aus«, jenes »die Geschichte«.1085 Dieser bewusstseinsgeschichtliche Exkurs führt insofern zu einer Verschärfung der psychologischen Argumentation Gehlens gegen das Sympathieprinzip, als durch ihn eine notwendige Verbindung von vorstellungsmäßiger, d.i. distanziert-vergegenständlichter Verfügbarkeit historischer Gehalte und deren geltungsmäßiger Neutralisierung zumindest nahelegt wird. Diltheys »bewußte Suche nach Triebfedern ist hoffnungslos«, eben weil sie auf der Ebene von Vorstellungen stattfindet, die als solche keine verpflichtende Wirkung mehr entfalten können: 1082 Gehlen 2016: 457. Zum Folgenden vgl. Gehlen 2016: 457–459. 1083 Gehlen 2016: 462. In ähnlichem Zusammenhang formuliert Erich Rothacker: »Die menschliche Erinnerung mußte zunächst entzaubert werden.« (Rothacker 1950: 11). 1084 Vgl. Gehlen 2016: 459. 1085 Gehlen 2016: 467.
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»Dies ist eine fallacia intrinseca des Reflexionszustandes: in der modernen, überbewußten und isolierten Seele werden alle Inhalte zwar verstehbar, aber in der Sphäre des Meinens und Vorstellens, und eben damit vergegenständlicht und entmachtet, motivationsschwach.«1086
Das historische Bewusstsein, so Gehlens Verdikt, das in völliger Freiheit und Unverbindlichkeit vorstellungsmäßigen Zugang zu einer unbegrenzten Fülle historischer Gehalte herstellen kann, bleibe selbst »inhaltslos«.1087 Mit dem instrumentellen Bewusstsein teilt sich das historische, neben dem gemeinsamen Ursprung, weiterhin darein, dass es »keine Endzwecke setzen [kann], und daß aus [ihm] heraus keine Verhaltensweisen folgen, in denen Endzwecke festgehalten werden.«1088 In Gehlens Argumentation gegen das Sympathieprinzip Diltheys lassen sich mithin zwei Stränge unterscheiden: ein psychologischer, der darauf hinausläuft, das von Dilthey vorausgesetzte psychische Phänomen selbst zu leugnen, und ein bewusstseinshistorischer, der im Grunde die Aussichten eines jeden konstruktivpolitischen Projekts auf dem Boden der Aufklärung empfindlich schmälert. Beide Argumentationslinien mögen zunächst durchaus plausibel erscheinen, überzeugen jedoch letztlich nicht. Zunächst zur psychologischen Frage. Gehlens Beispiel, dass ein historisches Studium des Puritanismus wohl kaum die Chance erhöhen wird, dass aus der entsprechend forschenden Historikerin auch tatsächlich eine Puritanerin werden wird, überzeugt insofern, als es auf die Fragwürdigkeit der unmittelbaren Wirksamkeit historischer Gelehrsamkeit als solcher aufmerksam macht, sowohl was deren spezifische Gerichtetheit als auch deren motivationale Intensität betrifft. Sollte Diltheys »tiefer Fehler« allerdings in einer solchen simplen Verwechslung von »vorgestelltem Willen« und »wirklichem Willen« bestehen, ist einigermaßen rätselhaft, weshalb dieser Fehler zugleich besonders »schwer aufzudecken« sein sollte.1089 Fraglich ist allerdings, ob Gehlen und Dilthey überhaupt dasselbe Phänomen im Blick haben. Dilthey bringt nämlich zur Verdeutlichung des von ihm anvisierten psychologischen Phänomens das Beispiel eines Theaterzuschauers.
1086 Gehlen 2016: 462. 1087 Gehlen 2016: 464. 1088 Gehlen 2016: 465 (Hervorhebungen im Original). Verstanden als Gegenwartsdiagnose würde Dilthey diesen Befund der Halt- und Orientierungslosigkeit sicherlich teilen (vgl. GS VIII, 190–194), aber Gehlen wohl nicht darin folgen, ihn als völlig hoffnungslos einzustufen. In einer großangelegten Synthese geisteswissenschaftlicher Forschung im Rahmen seiner Philosophie des Lebens sah er durchaus die Möglichkeit gegeben, neue Orientierung und Verbindlichkeit zu stiften (vgl. GS V, 9). 1089 Vgl. Gehlen 2016: 461.
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»Wir stellen dann [sc. wenn wir vor der Bühne sitzen] nicht nur vor, wir nehmen nicht nur wahr: wir erleben die seelischen Zustände nach. Und dieser innige Anteil entspringt nun nicht aus den Bezügen unserer eignen Interessen zu dem, was auf der Bühne vorgeht. Die Rückbeziehung auf das, was uns selbst begegnen könnte, enthält nicht den Grund unserer Seelenbewegung. Das Gegenteil ist der Fall.«1090
Dieses Phänomen scheint sich nicht von der Hand weisen zu lassen. Die Anteilnahme an der Darbietung einer dramatischen Handlung lässt sich sicher nicht angemessen als rein kognitives Phänomen rekonstruieren. Der psychologische Reiz einer Wiedererkennungsszene etwa oder der, der sich beim Verfolgen der Verwicklungen einer sich überschlagenden Verwechslungshandlung einstellt, besteht klarerweise in einem emotionalen und kognitiven Engagement besonderer Art seitens des Zuschauers.1091 Ist es plausibel, hier die von Gehlen monierte Verwechslung von vorgestelltem und wirklichem Willen anzusetzen? Eher nicht: das Schicksal Othellos sympathisierend nachzuvollziehen, bedeutet nicht, dass im Zuschauer dieselben Eifersuchtsgefühle und der fatale Willensentschluss, zur Rache zu schreiten, induziert werden. Das emotionale Engagement des Zuschauenden ist eigentümlich virtualisiert, läuft in einem deutlichen »als ob«Modus ab, ohne dass darunter allerdings dessen Intensität litte. Das Schauspielbeispiel Diltheys macht deutlich, dass Gehlens unpräzise Zitierung des Sympathieprinzips alles andere als unschuldig ist.1092 Das »Nachbilden eines fremden Zustandes oder einer fremden Individualität« und das »Erleben eines eignen Zustandes« sind klarerweise nicht »gleiche«, d.i. identische Vorgänge. Nachvollzogene Eifersucht induziert nicht ebenso elementare Eifersucht, sondern einen »gleichartigen«, deutlich verwickelteren, aber nicht zwangsläufig weniger intensiven Gemütszustand. Dieses »Urphänomen« also steht Dilthey bei der Formulierung des Sympathieprinzips vor Augen.1093 Unter Rückgriff auf die nützlichen Differenzierungen, die Max Scheler am Sympathiephänomen geleistet hat, könnte man vielleicht sagen, dass Gehlen
1090 GS V, 277 (Hervorhebungen hinzugefügt). »Das Publikum kommt in das Theater mit dem geheimnisvollen Triebe, sein Leben, die Menschen um sich, die Schicksale über ihnen anzuschauen als ein Fremdes und doch das Seine.« (GS XXVI, 87, Hervorhebung hinzugefügt). 1091 Vgl. Aristoteles, Poetik 1452b: »ἀναγνώρισις«; 1455b24: »δέσις«. 1092 Vgl. GS V, 276 und Gehlen 2016: 461 (s. o.). 1093 GS V, 277. Vgl. zudem GS V, 250 (»So tritt also zu dem ersten Merkmal geistiger Tatsachen ein zweites, nämlich die Gleichartigkeit der Tatsachen eigner innerer Erfahrung mit denen, welche wir in die anderen menschlichen Körper zu verlegen genötigt sind, die hierauf gegründete Möglichkeit, die eignen inneren Erfahrungen bis in ihre letzte Tiefe in anderen Personen wiederzufinden, und endlich der so entstehende Zusammenhang einer geistigen Welt.« (Hervorhebungen hinzugefügt)).
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Diltheys Sympathieprinzip in seiner Struktur als Gefühlsansteckung auffasst.1094 Übertragen auf Diltheys Kontext des historischen Verstehens würde die Ansteckung allerdings gerade nicht im Rahmen geteilter Situationen erfolgen, wie es Scheler für diese Phänomenklasse vorsieht (»die Lustigkeit in einer Kneipe«), sondern lediglich im Medium vorgestellter Begebenheiten. Wichtig am Ansteckungsphänomen ist außerdem, dass der auslösende Affekt und der ausgelöste Affekt desselben Affekttyps sind und dass die Übertragung unwillkürlich und unmittelbar stattfindet. Dieses Profil kommt Gehlens Auffassung vom Sympathieprinzip bei Dilthey zwar recht nahe, es entspricht Diltheys eigenem Beispiel aber offensichtlich nicht. In unmittelbarer Umgebung des Theaterbeispiels beschreibt Dilthey selbst das Auftreten von Sympathieereignissen als ein Resonanzphänomen, das sich nur in dafür geeigneten konkreten Konstellationen und in entsprechenden Graden einstellt, und erklärt es zudem zur vorwissenschaftlichen Voraussetzung höherstufiger Verstehensleistungen: »Auch das Verstehen ist von dem Maß der Sympathie abhängig, und ganz unsympathische Menschen verstehen wir überhaupt nicht mehr. […] Gemäß diesen Verhältnissen hat auch die wissenschaftliche Auslegung oder Interpretation als das kunstmäßig nachbildende Verstehen immer etwas Genialisches, d. h. sie erlangt erst durch innere Verwandtschaft und Sympathie einen hohen Grad von Vollendung. So wurden die Werke der Alten erst im Zeitalter der Renaissance ganz wieder verstanden, als ähnliche Verhältnisse eine Verwandtschaft der Menschen zur Folge hatten. Dieses innere Verhältnis, das die Transposition ermöglicht, bildet sonach die Voraussetzung aller hermeneutischen Regeln, und dieselben können nur aus einem auf diesem lebendigen Verhalten beruhenden methodischen Vorgehen gegenüber den verschiedenen Gegenständen die einzelnen Bestimmungen ableiten.«1095
Die Verwandtschaft ganzer Epochen verortet Dilthey also maßgeblich in »ähnlichen Verhältnissen«, worunter in diesem Fall wohl sozio-kulturelle und politische Gegebenheiten zu verstehen sind, also bspw. das Entstehen polis-ähnlicher Gebilde in Norditalien (Florenz, Venedig, Bologna).1096 Daneben betont er aber 1094 Vgl. Scheler 1948: 11–15. Scheler unterscheidet neben der Vorstufe des »Nachfühlens« vier Formen der Sympathie: das unmittelbare Mitfühlen (»mit Jemand«), das Mitgefühl (»an Etwas«), »die bloße Gefühlsansteckung« und die »echte Einsfühlung« (S. 9). 1095 GS V, 277f (Hervorhebungen entfernt und neu gesetzt). Die Behauptung der Unverständlichkeit des Unsympathischen ist problematisch, besteht doch gerade im Gegenteil das zutiefst Beunruhigende in der Bekanntschaft mit Humbert Humbert. 1096 Im Umkehrschluss folgt aus dieser an das Bestehen »ähnlicher Verhältnisse« gebundenen Sympathievoraussetzung, dass bei entsprechend großem historischem und kulturellem Abstand mit harten Grenzen des Verstehens zu rechnen ist. Kandidaten solcher Verstehensgrenzen wären etwa die von Gehlen (u. a.) besprochenen »Kulturschwellen« (Monotheismus, Viehzucht, Ackerbau, Freilegung der »Faktenaußenwelt«; vgl. Gehlen 2004: 17, 60f, 110–122). Über diese Grenzen hinweg »verstehen« zu wollen, führe Gehlen zufolge nur
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auch das Bestehen von individuellen Wahlverwandtschaften: »[der] Luther Rankes, der Win[c]kelmann Goethes, der Perikles des Thukydides«.1097 Damit verallgemeinert Dilthey den zentralen Punkt des Theaterbeispiels: notwendige Bedingung des Verstehens anderer Personen ist ein hinreichend ausgeprägtes Sympathieverhältnis. Auch Scheler sieht ein solches Bedingungsverhältnis und belegt in seiner Klassifikation die entsprechende Form der Sympathie mit den Ausdrücken »Nachfühlen«, »Nach(er)leben«.1098 »Das ›Nachfühlen‹ und ›Nachleben‹ haben wir also vom ›Mitfühlen‹ streng zu scheiden. Es ist wohl ein Fühlen des fremden Gefühls, kein bloßes Wissen um es oder nur ein Urteil, der Andere habe das Gefühl; gleichwohl ist es kein Erleben des wirklichen Gefühles als eines Zustandes. Wir erfassen im Nachfühlen fühlend noch die Qualität des fremden Gefühles – ohne daß es in uns herüberwandert oder ein gleiches reales Gefühl in uns erzeugt wird.«1099
Beide Kriterien Schelers treffen Diltheys Beispiel gut: weder ist das Engagement des Zuschauers im Theater rein kognitiv, noch erleidet er dieselben Gefühlszustände wie die Personen des Dramas. Und auch die Bedeutung, die Scheler dem Nachfühlen für den Historiker zuschreibt, scheint bestens zu Diltheys Gedankengang zu passen. »Der Historiker von Bedeutung, der Romanschriftsteller, der dramatische Künstler müssen die Gabe des ›Nacherlebens‹ in hohem Maße besitzen; aber ›Mitgefühl‹ brauchen sie nicht im mindesten mit ihren Gegenständen und Personen zu haben.«1100
Übertragen auf Gehlens Beispiel des mit dem Puritanismus beschäftigten Historikers bedeutet dies, dass diesem sowohl ein kognitiver als auch wesentlich ein emotionaler Bezug zu einigen seiner Gegenstände zu unterstellen ist. Ein solches emotional gefärbtes Verhältnis scheint auch Gehlen selbst in Rechnung zu stellen, wenn er einräumt, dass der Historiker möglicherweise Bewunderung für seinen Gegenstand hegt. Doch auch ein solcher »angereicherter Gegenstandsbezug« ist für Gehlen kein aussichtsreicher Kandidat, um in ihm den Ansatzpunkt einer konstruktiven Wirkung des historischen Bewusstseins anzunehmen. Vorstellungen als vergegenständlichte, subjektivierte Bewusstseinszustände sind für Gehlen, wie der bewusstseinshistorische Argumentationsstrang zeigt, per se »motivationsschwach«. Effektive Handlungsmotivation scheint er fast
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zu das eigene Seelenleben projizierenden Fehlschlüssen (vgl. Gehlen 2004: 110f, (unter Bezug auf Dilthey:) 131). GS V, 278. Vgl. Scheler 1948: 228ff (»Vom fremden Ich«). Scheler 1948: 5 (Hervorhebung entfernt). Scheler 1948: 5. Eine gewisse Spannung besteht hier allerdings zu Diltheys These, dass wir »ganz unsympathische Menschen überhaupt nicht mehr verstehen« (s. o.).
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ausschließlich solchen Überzeugungen zuzuschreiben, die die Bewusstseinsschwelle noch nicht überschritten haben, sondern den Akteuren gewissermaßen noch im Nacken sitzen. Solche Verhältnisse sieht er exemplarisch verwirklicht im Verpflichtungsgehalt intakter, d.i. nicht-problematisierter, Institutionen. Unterschwellige Überzeugungen und andere ebenfalls »hinter dem Rücken der Akteure« wirkende Triebe sind es, die nach Gehlens Vorstellung letztlich effektiv und verlässlich, d.i. »auf Dauer«, zu Handlungen bzw. zu stabilen Handlungsdispositionen führen. Vorstellungen kommt dabei höchstens die Rolle nachträglicher Rationalisierungen zu. Im eigentlichen Sinne handlungswirksam kann im Rahmen seiner Theorie nur eine Bewusstseinsform sein, die Gehlen im Unterschied zum historischen und instrumentellen Bewusstsein das »ideative« nennt. »[Die] Schöpferkraft desselben [weist sich] in der Gründung von Institutionen [aus], die wesensmäßig in einer idée directrice, einer Führungsidee zentrieren.«1101 Als konkrete Leistung dieses ideativen Bewusstseins diskutiert Gehlen ausführlich die Institution des Totemismus, der (durch die Überwindung der Anthropophagie, die umweghafte Etablierung von Selbstbewusstsein und die Disziplinierung zu asketischem Verhalten) die epochalen Leistungen von Viehzucht und Ackerbau ermöglichte.1102 Um diesen Leistungszusammenhang zu beschreiben, greift er auf den Gedanken einer »sekundären objektiven Zweckmäßigkeit« zurück, der beschreiben soll, dass die Folgen der Etablierung des Totemismus von keinem der Akteure planend intendiert worden wären. »Die ursprünglich keineswegs angestrebte, sondern unerwartete, aber überwältigende objektive Zweckmäßigkeit hat dieses [sc. totemistische] Verhalten rückwärts stabilisiert. […] Das instrumentelle Bewußtsein hat diese Institutionen gerade nicht geschaffen, es ist überhaupt, wie wir gegenwärtig eher ›durchmachen‹ als wissen, unfähig zur Begründung stabiler und humanisierender Institutionen.«1103
Hier wird also nun von Gehlen der Maßstab offengelegt, nach dem er Diltheys Versuch, das historische Bewusstsein konstruktiv zu wenden, als »hoffnungslos« bewertet. Die Gültigkeit dieses Maßstabs ist allerdings durchaus angreifbar. Als Rekonstruktion des Leistungskomplexes, der die Menschheit über entscheidende, möglichweise sogar »absolute« Kulturschwellen gehoben hat, ist das ideative Bewusstsein möglicherweise ein geeignetes begriffliches Mittel. Dass bei diesem singulären menschheitsgeschichtlichen Durchbruch planendes instrumentelles Bewusstsein nicht maßgeblich beteiligt war, folgt allerdings bereits aus der Anlage Gehlens: denn Selbstbewusstsein, ohne das eine Planung gesell1101 Gehlen 2016: 467. 1102 Vgl. Gehlen 2016: 468–477. 1103 Gehlen 2016: 474, 478 (Hervorhebung im Original).
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schaftlicher Institutionen kaum vorstellbar ist, soll ja erst durch das Überschreiten dieser Schwelle möglich geworden sein. Daraus lässt sich dann aber keineswegs umgekehrt die intrinsische Unfähigkeit des instrumentellen (und das meint hier auch: des historischen) Bewusstseins »zur Begründung stabiler und humanisierender Institutionen« ableiten. Gehlen selbst liefert ein Gegenbeispiel ad hominem. Denn da nach Gehlens Analyse ausgeschlossen ist, dass Dilthey in seinem ausgeprägten historischen Bewusstsein (sei es professionell oder persönlich) einen tragenden Boden habe finden können, rekurriert Gehlen, um zu erklären, weshalb Dilthey trotzdem nicht in Defaitismus und Skeptizismus versunken sei, auf dessen »reelle institutionelle Bindung […] und die Institutionen der Wissenschaft«, die »damals noch eine spezifische und intakte Moral stützten« und daher für Dilthey und seine Zeitgenossen auch noch als »Religionsersatz« (im Rahmen der Institutionenlehre Gehlens ist das wohl als Auszeichnung zu verstehen) hätten fungieren können.1104 Dass die »Institutionen der Wissenschaft« allerdings nicht plausibel als Leistungen des ideativen Bewusstseins angesehen werden können, erwähnt Gehlen nicht.1105 Von den archaischen Randbedingungen der menschlichen Kulturgeschichte lassen sich keine unmittelbaren Maßgaben für handlungsleitende Überzeugungen im Kontext entfalteter, neuzeitlicher Gesellschaften ableiten, wie es Gehlen in der Form des ideativen Bewusstseins versucht. Daraus folgt weiter: allein der Umstand, dass Diltheys Projekt im Medium instrumentellen und historischen Bewusstseins (d.i. auf dem Boden der Aufklärung) abläuft, verunmöglicht es nicht auch schon. Auch wenn das von Gehlen angesetzte handlungstheoretische Prinzip »je bewusster, desto motivationsschwächer« letztlich durch empirische Forschung überprüft werden müsste, scheint es bereits prima facie nicht sonderlich plausibel. Je bewusster eine Überzeugung einem Akteur vor Augen steht, desto exponierter ist sie sicherlich, d. h. desto mehr fordert sie eine Stellungnahme heraus. Damit steigt einerseits das Risiko, dass sie problematisiert, bezweifelt und in der Folge eingeklammert oder sogar verworfen wird, damit eröffnet sich andererseits aber auch die Möglichkeit einer provisorischen oder auch emphatischen Bejahung. Dass solche nach ihrer Thematisierung nachdrücklich affirmierten Überzeugungen (man denke etwa an die Idee der Gerechtigkeit) nicht handlungswirksam sein sollten, mag in philosophischen Seminaren zwar behauptet werden, zunächst widerspricht es doch dem massiven Schein der Lebenswelt. 1104 Gehlen 2016: 463. 1105 Damit ist natürlich nicht behauptet, dass der Einfluss der Institution »Wissenschaft« durchgängig ein humanisierender gewesen sei oder ist. Das gilt vermutlich für keine Institution.
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Bei Scheler findet sich eine weitere Qualifikation des »Nachfühlens«, die für die motivationale Rolle des historischen Bewusstseins problematisch sein dürfte. Dort heißt es: »Das ›Nachfühlen‹ bleibt noch in der Sphäre des erkennenden Verhaltens und ist kein sittlich relevanter Akt.«1106
Greift hier nicht wiederum die Kritik Gehlens am unverbindlichen, weil vorstellungsmäßigen Alles-Verstehen? Wenn mit dem Nachfühlen die Sphäre des Sittlichen noch nicht betreten ist, wie kann es dann Grundlage für eine Verpflichtung und sei es eine Selbstverpflichtung sein? In dem Satz, der unmittelbar auf die von Gehlen zitierte Formulierung des Sympathieprinzips folgt, erläutert Dilthey, dessen Zusammenhang mit seiner Psychologie. »In jedem erfüllten Lebensmoment ist die Totalität unserer Gemütskräfte wirksam.«1107
Hinter diesem Gedanken steht das strukturpsychologische Grundprinzip, dass das Seelenleben nicht in einfachste Elemente zerfällt, die wiederum eindeutig als Vorstellungen, Gefühls- oder Willensregungen rubrizierbar wären. Stattdessen zeichnet sich ein seelischer Querschnitt dadurch aus, dass sich in ihm alle der genannten »Gemütskräfte« analytisch aufweisen lassen, jeweils spezifisch gewichtet und strukturiert. Schreibt man jemandem zu einem Zeitpunkt ein rein kontemplatives Verhalten zu (»denken«), bedeutet das strukturpsychologisch expliziert nicht, dass sein Bewusstseinszustand zu dem betrachteten Zeitpunkt ausschließlich oder auch nur überwiegend aus Vorstellungen bestehen würde, sondern vielmehr, dass die spezifisch vorstellende Bewusstseinsstrukur in diesem Moment die psychische Gesamtstruktur prägt, d.i. die emotionalen und volatilen Regungen in ihrem Sinne integriert. Im Rahmen der Strukturpsychologie ist das Problem, wie bloße Vorstellung einen Einfluss auf die Willensbildung haben könnten, daher nicht sonderlich virulent. Vorstellung, Gefühl, Willensregung bezeichnen hier keine »natürlichen Arten«, unter die auftretende seelische Vorgänge eindeutig subsumiert werden könnten, sondern Abstraktionen aus einem jeweilig unterschiedlich strukturierten und letztlich individuellen seelischen Ganzen. Im tatsächlichen psychischen Prozess sind alle drei Momente immer schon integriert, der graduelle Übergang von einem zum anderen ist der unproblematische Normalfall.1108 1106 Scheler 1948: 4f (Hervorhebung im Original). 1107 GS V, 276. 1108 Wenn Gehlen das Seelenleben in die Schichten unbewusster Antriebe und motivationsschwacher Vorstellungen und Meinungen sauber zerfällt und zwischen beiden eine Kluft annehmen zu müssen glaubt, scheint uns das in einer gewissen Spannung zu strukturpsychologischen Elementen seiner eigenen Überlegungen zu stehen, mittels derer er die
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Nach der bisherigen Diskussion der Einwände Gehlens scheint es unproblematisch anzuerkennen, dass eine Vergegenwärtigung historischer Begebenheiten im Normalfall mit einem gewissen emotionalen Engagement einhergeht.1109 Zu prüfen bleibt, ob eine solche wertende Stellungnahme, einen hinreichenden Verpflichtungscharakter aufweist, der dann als plausibler Kandidat hinreichender Handlungsorientierung und -motivation betrachtet werden könnte. Aus dem bloßen episodischen Umstand, in Anbetracht gewisser historischer Ereignisse Bewunderung oder Abscheu zu empfinden, ergibt sich ein solcher Verpflichtungscharakter sicherlich nicht ohne weiteres. In posttraditionalen Gesellschaften ist ein solcher im Grunde nur als Ergebnis eines Akts der Selbstverpflichtung vorstellbar. Sich durch eine historische Begebenheit verpflichtet zu wissen, bedeutet dann, eine bestimmte Person oder Leistung als vorbildhaft für das eigene Verhalt anzuerkennen.1110 Der hier angedeutete Akt einer Selbstverpflichtung aufgrund gewisser historischer Begebenheiten lässt sich genauer beschreiben als Aneignung einer spezifischen Tradition, denn durch ihn setzt man sich nolens volens auch zu jenen Personen und Gruppen in ein affirmatives oder abgrenzendes Verhältnis, die sich vor einem zu den entsprechenden historischen Ereignissen und Gehalten verhalten haben. Man wird unweigerlich Teil einer Wirkungsgeschichte.1111 Der thematische Bezug auf Vergangenes erfolgt dabei stets unter einer konkreten Beschreibung (»under a description«) und das impliziert: relativ zu einer Menge von einschlägigem Kontextwissen, flankierenden Wertungen und HinterHistorizität und Plastizität des menschlichen Seelenlebens hervorhebt. »Die Hemmbarkeit des Antriebslebens, seine Besetzbarkeit mit Bildern und die ›Verschiebbarkeit‹ oder Plastizität sind also Seiten desselben Tatbestandes, und in gewöhnlicher Rede nennen wir ›Seele‹ zunächst die Schicht der in Bildern und Vorstellungen sich meldenden Antriebe, bewußten Bedürfnisse und orientierten Interessen.« (Gehlen 2016: 57, Hervorhebungen im Original). 1109 Unter »historischen Begebenheiten« sind hier, dem Puritanismus-Beispiel Gehlens folgend, in erster Linie die Biographien großer historischer Persönlichkeiten zu verstehen, die häufig in prägnanten Konfliktkonstellationen kulminieren. Von diesem Paradigma historischer Forschung hat sich die Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert weitgehend emanzipiert zugunsten einer Pluralisierung in verschiedenste Richtungen (Institutionenforschung, long durée, Netzwerkforschung, Technikgeschichte, Post-Kolonialismus, »Alltagsforschung« (Ginzburg), usw.). Diltheys Theorie des historischen Bewusstseins schließt eine solche Auffächerung der historischen Forschung in keiner Weise aus. Aus ihr ergibt sich aber durchaus die Überzeugung, dass das vermeintlich überholte Paradigma einer an Biographien orientierten Geschichtsdarstellung als unverzichtbarer Kernbestand geschichtlichen Denkens anzuerkennen ist, was aber eher für die Didaktik des Faches Konsequenzen haben dürfte als für die hochspezialisierte historische Forschung. 1110 Analog im negativen Fall; hier besteht die Verpflichtung darin, dazu beizutragen, dass sich etwas (d.i. eine spezifische Klasse von Vorgängen, von denen historische Verwirklichungen bekannt sind) nicht wiederholt. 1111 Vgl. Gadamer 2010: 305ff.
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grundannahmen. Der Bezug auf dieselben Ereignisse kann daher zu inhaltlich sehr verschiedenen Stellungsnahmen und Selbstverpflichtungen führen.1112 Das Aufnehmen und Fortsetzen von Traditionen, aber auch das bewusste Kappen bestimmter Traditionslinien, bestimmt nun ganz wesentlich das Selbstverständnis sowohl von sozialen Gruppen als auch von Individuen mit. Vorgänge wie das Aufgreifen und Fortsetzen, aber auch das bewusste Abbrechen von Traditionen, der Eintritt in Institutionen1113 und die Übernahme von entsprechenden Funktionen erfolgen demnach immer auch unter dem Gesichtspunkt des Interesses an der Aufrechterhaltung oder auch Reformulierung von gewissen Selbstbeschreibungen, d.i. letztlich bezogen auf ein Interesse an biographisch-personaler Integrität.1114 Seneca nennt es lapidar: »concordet sermo cum vita«.1115 Wenn der Widerspruch des normativen Gehaltes, auf den man sich auf beschriebenem Weg verpflichtet hat, zum eigenen Verhalten oder gegenüber anderen eingegangenen Verpflichtungen zu eklatant wird, kann die entsprechende Person ihr Selbstverständnis nicht mehr auf plausible Weise über die Zugehörigkeit zu bestimmten Traditionen oder Institutionen explizieren bzw. verlieren solche Versuche jede Aussicht auf intersubjektive Anerkennung.1116 Da diese hochstufigen Selbstverständnisse wesentlich die diachrone personale Identität bestimmen, indem sie weite biografische Zeiträume unter vereinheit1112 Man denke beispielsweise an Søren Kierkegaards Auseinandersetzung mit der dänischen Staatskirche. Beide Parteien würden sich als (im positiven Sinne) verpflichtet durch das Leben und die Lehre Jesu beschreiben, aber sie explizieren diese Verpflichtung auf letztlich völlig inkompatible Weise. 1113 »Die zahlreichen Institutionen, unter die wir subsumiert sind, die sich von den ursprünglichen Motiven längst abgelöst haben und nun kraft ihres Selbstzweck-Umschlagens eine verpflichtende Autorität geltend machen, sind kaum aufzuzählen. Ein Briefwechsel, den jemand mit verschiedenen Personen unterhält, ist schon eine solche Institution.« (vgl. Gehlen 2004: 66ff (»Verpflichtungsgehalt der Institutionen«), hier: S. 67). Zur Selbstverpflichtung siehe Gebauer 2009: 206f. 1114 Bernard Williams beschreibt eine entsprechende Struktur als »shame« (αι᾿δώς): »He [sc. Sophokles’ Ajax] could not go on living, and that was because of just such a reciprocal structure as we have now seen in the workings of shame. It was in virtue of the relations between what he expected of the world and what the world expects of a man who expects that of it. […] In his particular case, the interlocked expectations between himself and the world are of course peculiarly connected with his status as an heroic warrior, and that is why, in his case, his grotesquely unsuccessful and ridiculous attempt counts for so much. […] He has no way of living that anyone he respects would respect – which means that he cannot live with any self-respect. That is what he meant when he said poreuteon, that he had to go.« (Williams 2008: 84f, Hervorhebung im Original). 1115 Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, lib. IX, LXXV, 4. 1116 Die menschliche Psyche beweist mitunter eine erstaunliche Toleranz gegenüber auftretenden Inkonsistenzen dieser Art. Da aber sowohl die axiologische Evaluierung historischer Begebenheiten wie auch die der eigenen Lebensführung prinzipiell unter intersubjektiver Kontrolle erfolgt und letztlich auf Anerkennung angelegt ist, sind subjektiver Willkür in diesem Feld recht enge Grenzen gesetzt.
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lichenden Gesichtspunkten integrieren, weisen sie gegenüber vereinzelten emotionalen Episoden der Rührung eine viel stabilere und langfristigere Struktur auf, sodass sie letztlich Niederschlag in habituellen Charakterdispositionen finden. Sie werden ein zentraler und integraler Bestandteil des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens. Anzunehmen, dass von dieser Tiefenschicht zuverlässige und entscheidende Handlungsimpulse ausgehen, erscheint relativ unproblematisch. Mit dieser Skizze sollte lediglich ein Weg angedeutet werden, wie sich die bereits im Kontext des Wirkungszusammenhangs angesprochene Zirkulation von Wertanspruch und -realisierungsvorgängen psychologisch genauer verstehen lassen könnte. Den Vorgang der Kraftübertragung, der bei Dilthey nicht näher erläutert wird, wie hier versucht, als vermittelt über die Verpflichtungskraft von normativ gehaltvollen Selbstbeschreibungen und die soziale Kontrolle durch Anerkennungsverhältnisse zu verstehen, macht ihn weitgehend unabhängig von der Geltung des Sympathieprinzips. Genauer: erst vor dem Hintergrund normativ gehaltvoller Selbstbeschreibungen und intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse lässt sich verständlich machen, wie sich aus dem Bezug auf vergangene Wertrealisierungen (und den durch sie möglicherweise ausgelösten episodischen sympathetischen Emotionen), stabile und entscheidende Ressourcen zur Handlungsorientierung, -motivierung und damit zur Gestaltung der Zukunft ergeben können. Gehlen ist vorzuwerfen, dass er unzutreffenderweise unterstellt, dass die produktive und positive Rolle des historischen Bewusstseins allein auf dem Sympathieprinzip beruhen würde. Gehlens Aufweis dessen mangelnder Eignung als Grundlage für diese grundlegende Theorieposition überzeugt jedoch zum Teil. Weniger überzeugend wirkt allerdings seine prinzipielle Skepsis gegenüber der normativen Bindungskraft von Verbindlichkeiten in allen ihren posttraditionalen Formen (d.i. kontraktuelle Verhältnisse, Selbstverpflichtungen, soziale Kontrolle, Anerkennungsbeziehungen, institutionelle Rollen und Vorgaben, usw.), die sich neben psychologischen Argumenten nicht unwesentlich auf persönliche und politische Erfahrungen stützt. Durch Gehlens Fokussierung auf das Sympathieprinzip und die Ausblendung des Wirkungszusammenhangs lenkt er die Aufmerksamkeit auf einen entscheidenden weiterführenden Aspekt. Akzeptiert man für einen Moment, die Kraftübertragung, also den Umsatz von aus der Vergangenheit fortwirkenden Kräften in Gestaltungsmächte zukünftiger Verhältnisse, nach dem Gehlenschen Modell als einen Vorgang der Gefühlsansteckung im Medium der Vorstellung aufzufassen, fällt unmittelbar auf, dass der Umstand, dass es sich bei den vorgestellten Ereignissen um historische Begebenheiten handelt im Grunde keine Rolle spielt. Für die sympathievermittelte Induktion von Gefühlen ist die Historizität der imaginierten Vorgänge weitgehend unerheblich; von fiktionalen Vorgängen müsste nach den theoretischen Vorgaben Gehlens dasselbe Stimu-
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lationspotenzial ausgehen. Der Umstand, dass die menschliche Sympathie durch fiktive Begebenheiten ebenso ausgelöst werden kann wie durch historische, scheint sich nicht abstreiten zu lassen. Dilthey selbst entwickelt das Sympathieprinzip, wie gesehen, sogar ausgehend von einem fiktiven (Theater-)Kontext. Andererseits scheint es extrem unplausibel, dass für seine Konzeption des historischen Bewusstseins, wenn man ihr eine gewisse Affinität zu seiner Vorstellung der Philosophie als Wirklichkeitswissenschaft unterstellt, der Unterschied von wirklichen historischen Ereignissen und bloß möglichen fiktiven Ereignissen keine Rolle spielen sollte. Die naheliegendste Lösung dieser Schwierigkeit besteht im Verweis auf den von Gehlen ausgeblendeten Wirkungszusammenhang, in dem eben nur ein Teil der Kraftauswirkungen, nämlich die (relativ) unmittelbaren, im Medium von Vorstellungen erfolgt. Da für die mittelbaren Einwirkungen die Imaginationstätigkeit desjenigen, auf den die Kräfte der Vergangenheit sich auswirken, unerheblich ist, kommen hier Wirkungen von fingierten Vorgängen nicht in Betracht. (Außer natürlich insofern die Fiktionen selbst Teil des Wirkungszusammenhangs geworden sind, was man vermutlich von den Homerischen Epen für die archaische und klassische griechische Kultur behaupten kann.) Da das historische Bewusstsein wesentlich in der bewussten Aneignung und Aufklärung des Rapports zur Vergangenheit besteht, also in der Überführung von unbewussten mittelbaren Kraftauswirkungen der Vergangenheit in bewusste unmittelbare, bleibt dieser Lösungsversuch unzureichend, solange nicht auch für die unmittelbare Kraftauswirkung die Bedeutung der Historizität geklärt wird. Welche Rolle kommt dem Wahrheitsanspruch historischer Aussagen für den für Dilthey so zentralen Vorgang der Kraftübertragung zu, oder mit Heuss: inwiefern erfordert »Geschichte als Erinnerung« Kontakt zur »Geschichte als Wissenschaft«? Welche Bedeutung kommt der Unterscheidung von Mythos und Geschichte zu?
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Der »Aufbau der geschichtlichen Welt« erfolgt nach Dilthey ausgehend vom Erlebnis konkreter menschlicher Lebenseinheiten. Vom ihm aus und seinem Zusammenhang zum Ganzen des jeweiligen Lebens werden die Lebenskategorien entwickelt, aus denen dann wiederum in einem kontinuierlichen (wenn auch bisher nur postulierten) Übergang die historischen Kategorien entstehen, mithin das theoretische Werkzeug der geisteswissenschaftlichen Einzelwissenschaften.1117 Einen ersten zwar noch vorwissenschaftlichen, aber ausgesprochen re1117 Dilthey ist nicht der Auffassung, dass sich sämtliche begriffliche Mittel und Methoden der
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levanten Schritt in Richtung der Entfaltung der Geisteswissenschaften sieht Dilthey in der Selbstbesinnung von Einzelpersonen und der Praxis ihrer schriftlichen Fixierung gemacht, in der autobiographischen Literatur. »Die Selbstbiographie ist die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt.«1118
In der Autobiographie wendet sich eine Lebenseinheit von einem bestimmten Abschnitt dieses Lebenszusammenhangs ausgehend auf die Ereignisse der eigenen Vergangenheit zurück. Dabei löst sie eine ganze Reihe beachtlicher Aufgaben, mit Dilthey gesprochen: die Artikulation eines Bedeutungs- und Wirkungszusammenhangs und zwar wesentlich unter Beanspruchung der Lebenskategorien.1119 Es geht hierbei etwa um folgende (zum Teil nur begrifflich trennbare) Einzelleistungen: (1) Feststellung der Sachverhalte; (2) Differenzierung der Begebenheiten nach ihrer Relevanz für das (bisher vorliegende) Ganze; (3) Herstellen von Verbindungen, Ausmachen von Tendenzen, Feststellung von Brüchen und Umorientierungen; (4) Konstruktion der Einzelereignisse im Sinne eines kohärenten Entwicklungsprozesses, in dem das Spätere plausibel aus dem Vorangehenden folgt; (5) Darstellung der Lebensgeschichte in Form einer (intersubjektiv verständlichen) Narration.1120
Diese Liste als Folge von einzelnen Arbeitsschritten zu verstehen, würde übersehen, wie weitgehend der vermeintlich letzte Schritt, der Schritt von der Sammlung und Aufbereitung des biographischen Materials zur Darstellung des Lebenszusammenhangs im Medium einer Narration, bereits alle vorangehenden Aspekte durchformt. Sowohl die Relevanzgesichtspunkte (2) als auch die Kohärenz- und Plausibilitätskriterien (4) sind implizit bereits von einem Vorver-
Geisteswissenschaften aus den Lebenskategorien ableiten lassen müssen (vgl. GS VII, 251; s. o.). 1118 GS VII, 199. Diltheys Schüler und Schwiegersohn Georg Misch verfolgte zeitlebens das monumentale Projekt einer Geschichte der Autobiographie (4 Bd., 1907/1955/1959/1967). 1119 An erster Stelle setzt bereits die Idee der Autobiographie die Kategorie der »Selbigkeit« voraus, das Bestehen einer diachronen personalen Identität (vgl. GS XIX, 362f). 1120 Die immense allgemeine Forschungsliteratur zum Thema »Narration und narrative Strukturen« wird im Folgenden nicht berücksichtigt. Der Sinn der hier improvisierten und entsprechend primitiven Narrationstheorie besteht lediglich darin, gewisse Aspekte der Diltheyschen Reflexionen herauszuarbeiten, die er selbst nicht unter diesem Stichwort thematisiert (vgl. Carr 1986: 45ff, 73ff; Owensby 1994: 79–105).
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ständnis der narrativen Einbettung der Teile in das Ganze geleitet.1121 Grenzen hinsichtlich der Plausibilität eines Entwicklungsprozesses ergeben sich auch aus einem durchschnittlichen Wissen der Psychologie, Psychopathologie und ganz allgemein aus anthropologischen Erkenntnissen. Durch sie allein wird aber lediglich ein recht weites Feld möglicher Entwicklungsvorgänge abgesteckt, das von den impliziten narrativen Kriterien für eine »schlüssige Geschichte« erst im Einzelnen erschlossen und weitergehend differenziert wird. Die unter Punkt (3) angesprochenen Strukturelemente sind schließlich unmittelbar identisch mit konventionellen »plot«-Wendungen (»twists«, Peripetien, Klimax, Stagnation, Gabelungen, Vorwegnahmen, Wiederholungen, usf.). Entscheidend kommt hinzu, dass der Autobiograph nicht allein mit der Strukturierung der Einzelereignisse seines Lebens konfrontiert ist, sondern auch mit den jeweils bereits erreichten Ständen seines Selbstverständnisses, ob diese sich materiell niedergeschlagen haben (etwa in der Form von Tagebuchaufzeichnungen) oder auch nicht. Daher gehören narrative Strukturen (oder zumindest Vorstufen zu solchen) bereits zum Ausgangsmaterial des Autobiographen, nicht erst zur finalen Darstellungsform. So kann Dilthey auch sagen: »Da ist also das Geschäft historischer Darstellung schon durch das Leben selber halb getan.«1122 So liegt eine erste Strukturierung des Materials bereits vor: »Erlebnisse« gliedern sich zu geschlossenen Bedeutungseinheiten. Weiter hält das Erinnerungsvermögen selektiv vorrangig die bedeutsamsten Erlebnisse fest und lässt den größten Teil der Begebenheiten in Vergessenheit versinken. (Zu der vom Leben »bereits geleisteten Arbeit« können ebenso aber auch Verdrängungsprozesse und die Ausbildung von hartnäckigen biographischen Selbsttäuschungen gehören.) Die Bedeutung des Vorgangs der autobiographischen Selbstbesinnung und ihrer schriftlichen Fixierung schätzt Dilthey mit Blick auf die Geisteswissenschaften außerordentlich hoch ein: »Und hier nähern wir uns nun den Wurzeln alles geschichtlichen Auffassens. Die Selbstbiographie ist nur die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebensverlauf. Solche Selbstbesinnung aber erneuert sich in irgendeinem Grade in jedem Individuum. Sie ist immer da, sie äußert sich in immer neuen Formen.«1123 1121 Von hier aus gewinnt die Dimension der »Kontinuität« und auch ihre Problematisierung eine weitere Dimension, der hier aber nicht weiter nachgegangen werden kann (siehe Abschnitt 4.2.1). 1122 GS VII, 200. 1123 GS VII, 200. Damit verhält sich die Autobiographie zum Einzelleben wie die Geisteswissenschaften zur geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit (vgl. GS I, 116 »[historische Vernunft: das Vermögen] des Menschen, sich selber und die von ihm geschaffene Gesellschaft und Geschichte zu erkennen.«). Manch Kommentator steht dieser Auszeichnung der Autobiographie (und abgeleitet auch der Biographie) durch Dilthey recht ratlos gegenüber (vgl. Johach 1974: 176f; Flach 1970: 176f, 186 [Flach attestiert ihr diltheyinterne Plausibilität
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Er erklärt die Fähigkeit zur autobiographischen Selbstbesinnung geradewegs zu einem entscheidenden Element der Berufseignung eines Historikers: »Die Macht und Breite des eigenen Lebens, die Energie der Besinnung über dasselbe ist die Grundlage des geschichtlichen Sehens. Sie allein ermöglicht, den blutlosen Schatten des Vergangenen ein zweites Leben zu geben. Ihre Verbindung mit dem grenzenlosen Bedürfnis, sich fremdem Dasein hinzugeben, sein eigenes Selbst in diesem zu verlieren, macht den großen Geschichtsschreiber.«1124
Betrachtet man die Autobiographie mit Dilthey als »Wurzel alles geschichtlichen Auffassens« impliziert das eine auffällige Betonung der Bedeutung des Aspekts der Geschichtsdarstellung gegenüber der Geschichtsforschung. Letztere, also das Ermitteln, Sicherstellen und Prüfen der Fakten, spielt im Bereich der Autobiographie eher eine untergeordnete Rolle. Dilthey erwähnt an den einschlägigen Stellen keine Vorgänge, die diesem Bereich zuzuordnen wären; sein Interesse liegt deutlich auf den Leistungen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Besinnung über das biographische Material und der Darstellung des Lebensverlaufs in Form einer Narration stehen.1125 Sie bestehen im Wesentlichen in der Artikulation des Bedeutungs- und Wirkungszusammenhangs, im Herausheben von Zusammenhängen, in der Identifikation bedeutsamer Knotenpunkte. Aus dieser Verteilung der Akzente spricht eine Vorstellung vom Geschäft des Historikers, der eine Dissoziation von Geschichtsforschung und Geschichtsdarstellung, wie sie Alfred Heuss zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts als bestimmenden Trend innerhalb seiner Disziplin konstatierte, hochgradig problematisch vorkommen muss. Das Werk Leopold von Rankes, für Dilthey »die Erscheinung des historischen Vermögens selber«, steht demgegenüber exemplarisch für eine besonders enge Integration beider Dimensionen der historischen Arbeit.1126 Angesichts der von Alfred Heuss beschriebenen Pathologien des historischen Bewusstseins gewinnt Rankes Betonung der Relevanz des narrativen Aspekts weiteres Gewicht: »die Geschichte kann nicht anders überliefert werden als durch Gedächtnis und Erzählung.«1127
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und diltheyexterne Unbrauchbarkeit.]; vgl. de Mul 2003: 422–424 [Jos de Mul weist hier auf einige postmoderne Komplikationen hin.]). GS VII, 201; vgl. Ranke 1860: 3 (»Ich wünschte mein Selbst gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen […]«). Der Hinweis auf Aspekte der persönlichen Eignung zum Historikerberuf legt im Umkehrschluss nahe, dass Dilthey den Erwerb der (von ihm hier nicht explizit erwähnten) Kompetenzen des Geschichtsforschers (Kenntnis der historischen Hilfswissenschaften, Beherrschung der historisch-kritischen Methode, kunstgerechter Umgang mit Quellen und Archiven, usw.) für relativ unproblematisch hält, also für im Wesentlichen lehr- und lernbar; vgl. GS I, 374. GS V, 9. Kessel 1954: 307.
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Im Zuge autobiographischer Selbstreflexion führt der Versuch, einzelne Bedingtheiten und Einflüsse des eigenen Lebenslaufs auszumachen und zurückzuverfolgen dazu, dass das jeweilige Selbst sich mitten im größeren Wirkungszusammenhang der geschichtlichen Welt wiederfindet. »Die geschichtliche Welt ist immer da, und das Individuum betrachtet sie nicht nur von außen, sondern es ist in sie verwebt. […] Wir sind zuerst geschichtliche Wesen, ehe wir Betrachter der Geschichte sind, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesen.«1128
»Immer schon da« ist die geschichtliche Welt allerdings nur in der Form diffuser, indirekter und unbewusster Einwirkungen geschichtlicher Kräfte, aufgehellt und als solche erkannt, wird sie erst nachträglich im Medium autobiographischer Reflexion und geisteswissenschaftlicher Forschung. »Immer schon da« sind auch narrative Strukturen. Sie werden nicht erst retrospektiv und zum Zwecke der Darstellung einem ihnen an sich fremden Material auferlegt, sondern gehören bereits untrennbar zur Handlungs- und Vollzugsperspektive.1129 »die erste Bedingung für die Möglichkeit der Geschichtswissenschaft liegt darin, daß ich selbst ein geschichtliches Wesen bin, daß der, welcher die Geschichte erforscht, derselbe ist, der die Geschichte macht.«1130
Dieser auch als Vico-Prinzip bezeichnete Gedanke soll plausibilisieren, dass sich Strukturelemente individueller Lebensprozesse (solche der Narrativität, aber auch die Kategorien des Lebens) auch in dem aus unzähligen Überlagerungen von individuellen Handlungsvollzügen resultierenden Geschichtsprozess Niederschlag finden und dieser nicht ein völlig strukturfremdes Gebilde ergibt.1131 Den Gedanken der Verwobenheit könnte man so ähnlich auch in Bezug auf die natürliche Welt formulieren. Der entscheidende Unterschied, den erst die VicoAllusion verdeutlicht, besteht also darin, dass die geschichtliche Welt, nicht aber die natürliche, in ihrem Bestand auf menschliches Handeln zurückgeführt werden kann. Aus Diltheys theoretischem Standpunkt und seinem methodischen Ansatz bei der Autobiographie ergibt sich somit, dass (1) für die Erkenntnis und die Darstellung von Wirkungs- und Bedeutungszusammenhängen narrative Strukturen 1128 GS VII, 277f. Hierin besteht eine Übertragung von Gibsons allgemein-ökologischer Bemerkung auf kulturell-historische Verhältnisse: »We were created by the world we live in.« (Gibson 2015: 122). 1129 Man denke etwa an ihre Rolle für die Planung oder Erklärung von Handlungen und insbesondere von Handlungssequenzen. 1130 GS VII, 278. 1131 »Verum et factum convertuntur«. Kritisch dazu Habermas 1973: 188–190 (»scholastischer Topos, schlechter Zirkel«); Stephan Otto rekonstruiert den Gedanken hingegen als Ausgangspunkt einer transzendentalphilosophischen Theorie der geschichtlichen Welt (vgl. Otto 1979: 180–188).
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eine grundlegende Rolle spielen, und dass (2) auch die Resultate der Geschichtsforschung ihr Potenzial für die persönliche und gesellschaftliche Selbstbesinnung erst im Medium einer narrativen Darstellung vollends entfalten. Die Darstellung mittels einer narrativen Struktur stellt damit so etwas wie den Goldstandard in der verstehenden Erschließung von Bedeutungs- und Wirkungszusammenhängen dar.1132 Was lässt sich mit diesen Maßgaben noch anfangen? Für das Selbstverständnis der Historikerzunft jedenfalls scheinen sie eine Auffassung der eigenen Disziplin zu repräsentieren, über die die Zeit längst hinweggeschritten ist, und das nicht im Sinne eines Sündenfalls, sondern durchaus als begrüßenswerter methodologischer Fortschritt, als Zugewinn an Wissenschaftlichkeit, Differenzierung, Selbstkritik.1133 Doch selbst unter Bedingungen einer hochgradigen disziplinären Binnendisziplinierung und den mit ihr einhergehenden wissenschaftstheoretischen Ungeklärtheiten scheint der Bezug zur Geschichtsdarstellung vonseiten der Geschichtswissenschaft nicht abzureißen. »Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung sind nicht ohne weiteres dasselbe. Die Geschichtsschreibung kann eine eigentümliche Form der Geschichtswissenschaft sein, neben der es noch zahlreiche andere Formen von Historiographie gibt, aber die Geschichtswissenschaft hat auch ganz andere Möglichkeiten, ihre wissenschaftlichen Ziele zu verfolgen: so die Quellenedition, die systematische Quellenkunde im Rahmen der Hilfswissenschaften und vieles mehr. […] Im großen Reich der Geschichte als Wissenschaft gibt es zwar eine Fülle zulässiger Weisen, in denen Forschung betrieben werden kann, aber die wesentlichste Weise ist doch immer diejenige, die alles nur Stoffliche, alles das, was nur Material, Mittel des Forschens ist, hinter sich läßt und
1132 Beispielhaft sei auf Carlo Ginzburgs narrative Darstellung der Lebensgeschichte »eines Müllers um 1600« verwiesen. Ihm war es aufgrund überlieferter Inquisitionsakten möglich, einen individuellen Lebenslauf aus einer gesellschaftlichen Schicht zu rekonstruieren, für die aufgrund der Überlieferungslage ansonsten fast ausschließlich statistische Aussagen getroffen werden können. Hier ist der mit der narrativen Form verbundene Mehrwert für die verstehende Erschließung von Bedeutungs- und Wirkungszusammenhängen besonders augenfällig (vgl. besonders die methodologischen Vorbemerkungen in Ginzburg 2002: 7–22). 1133 Selbst Alfred Heuss behandelt das Zusammenfallen von »Geschichte als Erinnerung« und »Geschichte als Wissenschaft« zur Zeit Rankes nicht als anstrebenswerten Idealzustand, sondern als Ausdruck einer nicht wiederherstellbaren »besonderen Konstellation« (vgl. Heuss 1959: 56f, 64f; hier: 56). Der Abstand zu Diltheys Selbstverständlichkeiten lässt sich besonders deutlich an dem vorsichtig-apologetischen Ton ablesen, mit dem Reinhard Wittram die Biographie als legitimen Gegenstand der Geschichtswissenschaft zu verteidigen sucht (vgl. Wittram 1969: 57–71). Insbesondere die Annales-Schule, aber auch andere sich primär an der Sozialstruktur orientierende geschichtswissenschaftliche Ansätze lehnen es aus methodologischen Gründen ab, geschichtliche Prozesse vom individuellen Menschen her und in narrativen Strukturen zu verstehen (vgl. Owensby 1994: 74n25).
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daran geht, den geschichtlichen Prozeß in seinem Verlauf und in seinen Gesetzmäßigkeiten zu analysieren.«1134
An diesen letzten Schritt vom Zugänglichmachen und Aufbereiten des historischen Materials zur »wesentlichsten Weise« der Forschung, der Analyse des geschichtlichen Prozesses, lassen sich Diltheys Überlegungen zur Artikulation von historischen Wirkungszusammenhängen unmittelbar anschließen, wenn man akzeptiert, dass diese Analyse des geschichtlichen Prozesses wiederum auf eine Darstellung desselben angewiesen ist, und diese zu einem gewissen Grade (wiederum gegenstandsbedingt) in der Form narrativer Strukturen erfolgt. Für Diltheys Position ist nun entscheidend, dass der Schritt zu Darstellung als noch zum wissenschaftlichen Teil des Historikerhandwerks gehörig und nicht etwa als bloße Wissensvermittlung oder als Übergang auf das Feld der Poetik und Rhetorik betrachtet wird, und das heißt wesentlich: dass er ein Wahrheit beanspruchender und wahrheitsfähiger Bereich der geschichtlichen Forschung ist.1135 Wenn dies nicht der Fall wäre, ließe sich für Diltheys Konzeption des historischen Bewusstseins kein ausreichender Wirklichkeitsbezug herstellen, welcher aber zum einen für die Geschlossenheit des Ansatzes einer durchgängigen Orientierung an der Wirklichkeit ausgesprochen wichtig ist, zum anderen aber auch um sicherstellen zu können, dass die (unmittelbare) Kraftübertragung aus der 1134 Schieder 1968: 115. So beginnt das vorzügliche Kapitel »Die Darstellungsformen der Geschichtswissenschaft«. Mit Blick auf die wissenschaftliche Erarbeitung und Bereitstellung historischen Materials zitiert Alfred Heuss Theodor Mommsens Wort von dem »Ordnen der Archive der Vergangenheit«, zu dem er – in Übereinstimmung mit Schieder – zu bedenken gibt: »Gewonnen war mit ihnen [sc. den unendlichen Quellenpublikationen des 19. Jahrhunderts] selbstverständlich noch keine einzige wirkliche historische Aussage, aber angelegt eine Vielheit von solchen im Zustande der Möglichkeit.« (Heuss 1959: 34). Damit deuten Schieder und Heuss eine Differenzierung bezüglich der historischen Unterdisziplinen an, die Diltheys Unterscheidung von Bühne und Kulisse entspricht. 1135 Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff scheint für den historischen Kontext, dessen Tatsachen sich als vergangene prinzipiell nicht zur Gegebenheit bringen lassen, unbrauchbar zu sein, entsprechend wird Rankes Absichtserklärung, zeigen zu wollen, »wie es eigentlich gewesen« ist, gerne als naiv belächelt (Ranke 1957: 4). Droysen weist darauf hin, dass im Rahmen des konstruktiven Geschäfts des Historikers »Objektivität« und »Tatsache« eine neue Bedeutung gewinnen (»Es heißt der Natur der Dinge, mit denen unsere Wissenschaft beschäftigt ist, verkennen, wenn man meint, es da mit objektiven Tatsachen zu tun zu haben. Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor. Was in irgendeiner Vergangenheit objektiv vor sich gegangen ist, ist etwas ganz anderes als das, was man geschichtliche Tatsache nennt.«, Droysen 1960: 133). Wenn im Folgenden von Wahrheit und Objektivität die Rede ist, setzt das keine besondere Auffassung des Wahrheitsbegriffs für die Aussagen der Geschichtswissenschaft voraus, sondern meint lediglich den Umstand, dass über einen Gegenstand ein rationaler Diskurs geführt werden kann bzw. meint dasjenige, an dem sich ein solcher Diskurs orientiert. Vgl. Beiser 2019: 115–119; Nohl 1979: 26 (»Die Rankesche Objektivität bedeutet nur eine erkenntnistheoretisch bewußte Form dieses ursprünglichen Motivs jeder Geschichtsschreibung.«); Litt 1948: 94; Wittram 1963: 20–32.
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Vergangenheit hinüber in die Gestaltung der Zukunft nicht der unverbindlichen Subjektivität persönlichen Meinens anheimgestellt bleibt. Doch eben dieser neuralgische Punkt wird mitunter massiv bestritten, besonders prominent durch Hayden White. White unterscheidet fünf Ebenen der theoretischen Bearbeitung, die das historische Material auf dem Weg zu einer Geschichtsdarstellung durchläuft.1136 Stufe 1 bildet bei ihm die Chronik, eine ungefilterte, unbewertete chronologische Aufzeichnung der Begebenheiten.1137 Sie stellt eine erste Verarbeitungsstufe der überlieferten historischen Urkunden dar. Stufe 2 bildet die Erzählung. Dazu werden Ereignisse aus der Chronik herausgegriffen und zu Startpunkten, Zwischenstationen und Endpunkten einer Narration erklärt.1138 Auf Stufe 3 erfolgt das »emplotment«, also die narrative Ausgestaltung der Erzählung, für die White die Formen der »romance«, der Tragödie, der Komödie und Satire vorsieht. Auf Stufe 4 erfolgt die Einbettung in einen theoretischen Rahmen (»formist«, »organicist«, »mechanistic«, »contextualist«). Und mit Stufe 5 ist schließlich eine ideologische Positionierung gegenüber der aktuellen gesellschaftlichen Praxis im Sinne des Anarchismus, Konservatismus, Liberalismus oder Radikalismus gemeint. Die Stufen 3–5 bedeuten gegenüber dem Material der Chronik spezifische Anreicherungen, und zwar solche theoretischer (Stufe 4), ästhetischer (Stufe 3) und ethischer Art (Stufe 5).1139 Die entscheidende Frage, ob und inwiefern die Entscheidungen des Historikers auf diesen letzten drei Stufen begründbar sind, 1136 Vgl. für das Folgende White 2014: 5. 1137 Vgl. dazu Arthur C. Dantos ausgesprochen nützliche Fiktion eines »idealen Chronisten«: »I now want to insert an Ideal Chronicler into my picture. He knows whatever happens the moment it happens, even in other minds. He is also to have the gift of instantaneous transcription: everything that happens across the whole forward rim of the Past is set down by him, as it happens, the way it happens. The resultant running account I shall term the Ideal Chronicle […]. Once E is safely in the Past, its full description is in the I.C. We may now think of the various parts of the I.C. as accounts to which practising historians endeavour to approximate their accounts.« (Danto 2007: 149, Hervorhebungen entfernt). Diese ideale Chronik ist demnach absolut vollständig und korrekt und weist dennoch im Sinne eines Grenzbegriffs besonders interessante Limitationen auf. So kann der ideale Chronist etwa nicht zwischen mehr oder weniger bedeutsamen Ereignissen (im Sinne Diltheys) unterscheiden, denn dazu müsste er deren Folgen kennen. Da Bedeutsamkeit sich nur in der Rückschau zuschreiben lässt, ist sie der »instantanen Transkription« des idealen Chronisten nicht zugänglich. 1138 Die interessante Frage ist hier, ob sich für diese Entscheidung »constraints« aus dem Material der Chronik (Stufe 1) ergeben. White erläutert sie stattdessen im Rückblick von den höheren Stufen, von der bereits entfalteten Narration her; vgl. stattdessen Aristoteles Poetik VII, 1450b28. 1139 Vgl. White 2014: 26.
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einen Wahrheitsanspruch erheben oder lediglich als dezisionistisch zu charakterisieren sind, lässt White in der Schwebe.1140 Da sich jedoch nicht einmal Hinweise darauf finden, weshalb auf den drei Stufen eine der Formen gegenüber einer anderen begründeterweise vorzuziehen sein könnte und White durchgehend die Abgrenzung zur Dichtung aufzuheben bemüht ist, drängt sich der Eindruck auf, dass nach seiner Auffassung jeder Schritt über die Chronik hinaus wissenschaftlich nicht nur nicht hinreichend begründbar ist: »It is sometimes said that the aim of the historian is to explain the past by ›finding‹, ›identifying‹, or ›uncovering‹ the ›stories‹ that lie buried in chronicles; and that the historian ›finds‹ his stories, whereas the fiction writer ›invents‹ his. This conception of the historian’s task, however, obscures the extent to which ›invention‹ also plays a part in the historian’s operations.«1141
sondern sogar ohne Wahrheitsbezug erfolgen könnte: »In my view, ›history‹, as a plenum of documents that attest to the occurrence of events, can be put together in a number of different and equally plausible narrative accounts of ›what happened in the past‹, accounts from which the reader, or the historian himself, may draw different conclusions about ›what must be done‹ in the present.«1142
Für die Aussicht, dass vom historischen Bewusstsein eine auch nur minimal orientierende Wirkung ausgehen könnte, wäre eine solch lose Verbindung zwischen den Überresten und Quellen zu adäquaten Geschichtsdarstellungen katastrophal. Auch wenn man Hayden White vielleicht nicht auf eine dezisionistische Position festlegen kann, lässt er allein durch den Zuschnitt seiner Fragestellung, (sein Buch öffnet mit einem Kapitel zur »Poetik der Geschichtsschreibung«,) das Bild entstehen, als würde der wissenschaftsförmige, an Fakten orientierte, Wahrheit beanspruchende Charakter der Geschichtsschreibung nicht weiter reichen als bis zur Erstellung einer verlässlichen Chronik. Dann scheint der Wissenschaftler abzudanken und die Feder an den Dichter weiterzureichen, der aus dem Fundus der Materialsammlung heraus, geleitet allein von poetischen, ideologischen, ästhetischen und weltanschaulichen Gesichtspunkten, eine Geschichtsdarstellung »erfindet«, die von Gleichgesinnten goutiert 1140 Vgl. White 2014: 26 (»I am not concerned, then, with ranking the different conceptions of history produced by the nineteenth century in terms of either their ›realism‹ or their ›scienticity‹. By the same token, my purpose is not to analyze them as projections of a given ideological position. I am interested only in indicating how ideological considerations enter into the historian’s attempts to explain the historical field and to construct a verbal model of its processes in a narrative.«). Eine solche thematische Festlegung ist natürlich zunächst legitim. Problematisch ist allerdings, dass durch die vollständige Ausblendung der Wahrheitsfrage zugunsten der poietischen Dimension auch deren relatives Gewicht letztlich nicht bewertet werden kann. 1141 White 2014: 6 (Hervorhebung im Original). 1142 White 2014: 283.
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wird.1143 In dieser Schärfe mag das nicht Whites Position sein, doch die Frage steht im Raum: was ist an diesem Bild überhaupt verkehrt? Handelt es sich bei Geschichtsdarstellungen nicht tatsächlich um einen Akt der »Sinngebung des Sinnlosen«?1144 Von Diltheys Position aus ist dem scharf zu widersprechen.1145 Nicht allein das Feststellen und Prüfen von historischen Tatsachen erfolgt wahrheitsbezogen, auch hinsichtlich der Wirkungs- und Bedeutungszusammenhänge bestehen nach Diltheys Auffassung historische Tatsachen, die es zu entdecken gilt, die nicht erst erfunden zu werden brauchen.1146 Um die Wahrheitsorientierung der Geschichtsschreibung aufrechtzuerhalten, braucht nicht die unplausible Überzeugung unterstellt zu werden, dass das historische Material »an sich« bereits die 1143 Mit manchen Formulierungen bewegt sich auch Danto in diese Richtung (»The identical event will have a different significance in accordance with the story in which it is located or, in other words, in accordance with what different sets of later events it may be connected.«, Danto 2007: 11 (Hervorhebung entfernt); »I shall say, then, that any narrative is a structure imposed upon events, grouping some of them together with others, and ruling some out as lacking relevance.«, Danto 2007: 132 (Hervorhebung hinzugefügt)). Unklar bleibt wiederum, ob Danto objektive »constraints« für diese geschichtspoetischen Entscheidungen anerkennt. 1144 Vgl. Lessing 1983: 15 (»Geschichte ist Geschichteschreibung, das heißt die Stiftung dieses Sinnes, die Setzung dieses Kausalzusammenhangs, die Erfindung dieser Entwicklung. Sie vorfindet nicht den Sinn der Welt; sie gibt ihn.«), 19 (»Ich aber gedenke darzutun, daß ›Wirklichkeit‹ (die einzige, die wir besitzen) nur von Naturwissenschaften übermittelt wird, während Geschichte, aus Wunsch und Wille, Bedürfnis und Absicht entsteigend, Traumdichtungen des Menschengeschlechtes verwirklicht.«), 56ff (»logificatio post festum«). 1145 Zunächst allerdings ist auch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Hayden Whites Ansatz und der zwischen Diltheys Weltanschauungstypen bestehenden Gleichberechtigung, Unvereinbarkeit und Unentscheidbarkeit (siehe Abschnitt 2.5) festzustellen. Zumal Dilthey außerdem selbst von der »Vieldeutigkeit des geschichtlichen Stoffes« spricht (GS I, 374, Hervorhebung entfernt), stellt sich auch bei ihm die Frage nach der Objektivität der Erkenntnis der geschichtlichen Welt und der Möglichkeit ihrer weltanschaulichen Penetrierung. »Vieldeutig« ist der geschichtliche Stoff gegenüber verschiedenen geschichtsphilosophischen Vereinheitlichungs- und Vereindeutigungsanstrengungen, denen Dilthey keine Wissenschaftlichkeit zuerkennt (2.1.1). Während White die unentscheidbare Vieldeutigkeit direkt auf die Stufe der Chronik folgen lässt, gehören für Dilthey hingegen Geschichtsdarstellungen noch nicht zwangsläufig zur Ebene der der Diskussion prinzipiell entzogenen weltanschaulichen Letztorientierung, sondern zum wissenschaftlichen Geschäft des Historikers. Mit Blick auf die unvermeidliche Meinungsvielfalt in der Historikerzunft selbst formuliert Wittram: »Man könnte sagen: wahr ist in der Geschichtsforschung, was den Wechsel der Gesichtspunkte, den Wandel der Zeitanschauungen überdauert.« (Wittram 1963: 25). 1146 Vgl. GS VII, 262, 291 (»Und der Relativität gegenüber macht sich die Kontinuität der schaffenden Kraft als die kernhafte historische Tatsache geltend.«). Zur Objektivität des Bedeutungs- und Wirkungszusammenhangs siehe Abschnitte 4.2.2 und 4.2.3. Insofern Wirkungszusammenhänge auch kausal-materielle Zusammenhänge voraussetzen, lassen sie sich zumindest indirekt belegen (etwa persönliche Bekanntschaften durch Briefwechsel, Kenntnisse von Publikationen seitens einer Person durch das Verfassen von entsprechenden Rezensionen, usf.).
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eine und einzig wahre Geschichtsdarstellung implizieren würde. Nötig wäre allerdings, dass man die Möglichkeit einräumt, alternative Geschichtsdarstellungen dahingehend zu bewerten, inwieweit sie den bestehenden historischen Bedeutungs- und Wirkungszusammenhängen mehr oder weniger entsprechen. Die Rede von einer »Sinngebung des Sinnlosen« ist hingegen schon deswegen irreführend als sie nahelegt, dass die Chronik als eine Sammlung von sinnfreiem Material anzusehen wäre, auf das Sinnstrukturen allererst zu projizieren wären. Wenn man allerdings handelnden Einzelpersonen1147 in der geschichtlichen Welt eine gewisse und sei es auch nur marginale Rolle zuerkennt, dann folgt aus Diltheys Überlegungen zur autobiographischen Selbstbesinnung, dass das historische Material, insofern es auf menschliche Handlungen zurückgeführt werden kann, immer schon Bedeutungszusammenhänge aufweist und zwar »all the way down«.1148 Daraus folgt allerdings nicht, dass sich auch für die akkumulierten Effekte menschlicher Einzelhandlungen, etwa auf der Ebene ganzer Staaten und Volkswirtschaften oder auch für den geschichtlichen Prozess im Ganzen, eine Tendenz ergeben müsste, die in irgendeiner Hinsicht als beabsichtigt oder gar als rational zu beschreiben wäre. (Auf dieser Ebene scheint Theodor Lessing, vermutlich unter dem Eindruck des 1. Weltkriegs, mit seinem Begriff des Sinnlosen anzusetzen.) Dilthey beschreibt die spezifische Sensibilität für die objektiv bestehenden Wirkungs- und Bedeutungszusammenhänge als Fähigkeit geschichtlich zu sehen.1149 Dieses geschichtliche Sehen wird durch individuelle Begabung begünstigt, erfordert allerdings in jedem Fall ausgiebiger Übung und Kultivierung, worunter insbesondere die professionelle historisch-kritische Arbeit an und mit den Quellen zu verstehen ist. Den »historischen Sinn« als eine spezifisch geschärfte Form der Rezeptivität gegenüber dem historischen Material und seinen Strukturen zu beschreiben, unterstreicht nochmal den Anspruch, dass der Historiker, die Historikerin auch in der Gestaltung von Geschichtsdarstellungen auf Tatbestände reagiert, auch wenn diese nicht in jedem Fall Dritten andemonstrierbar sein sollten, sondern zu ihrer Auffassung Begabung, Takt, vor allem aber Schulung und Übung erfordern. Über Diltheys Anspruch der Objektivität der Bedeutungs- und Wirkungszusammenhänge lässt sich mit theoretischen Mitteln allein nicht entscheiden. Dazu müsste man etwa prüfen, ob in der Historikerzunft ein rationaler Diskurs nicht nur über isolierte Tatsachenbehauptungen geführt wird, sondern auch über Bedeutungs- und Wirkungszusammenhänge, oder ob diese eher als Ausdruck persönlicher, ästhetischer, ethischer oder 1147 Herodot bestimmt seinen Gegenstand als »τὰ γενόμενα ἐξ ἀνθρώπων« (Historien I, proeom). 1148 Dass das eben nicht anders vorstellbar ist, beweist für Theodor Lessing den fiktionalen, den Projektionscharaker dieser Zusammenhänge (vgl. Lessing 1983: 83). 1149 Vgl. GS I, 42; GS VII, 201; Ankersmit schlägt ergänzend einen »historischen Tastsinn« vor (Ankersmit 2012: 98).
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ideologischer Präferenzen vonseiten der Geschichtsdarstellenden angesehen werden. Dass letzteres offensichtlich nicht der Fall ist, dass also typischerweise auch für die Ebene der Bedeutungs- und Wirkungszusammenhänge seitens professioneller Produzenten von Geschichtsdarstellungen ein Wahrheitsanspruch erhoben wird, liegt auf der Hand.1150 Um zu entscheiden, ob dieser Anspruch aber tatsächlich in der Form eines rationalen Diskurses verhandelt wird, also mittels geeigneter Belege und Argumentationsformen, müsste man allerdings in eine eingehende wissenschaftstheoretische und -soziologische Untersuchung einsteigen. Der von Dilthey immer wieder in den Vordergrund gestellte Wirklichkeitsbezug lässt sich für das historische Bewusstsein nicht so leicht erläutern. Verhält es sich doch im Fall der Gegenstände, auf die sich historische Aussagen letztlich beziehen, so, dass sie in aller Regel nicht mehr existieren und damit auch auf keine Weise in der Reichweite eines erlebnisförmigen Zugriffs liegen. Sie sind im Sinne Diltheys zu keiner aktualen Gegebenheit zu bringen. Was von der Vergangenheit noch existiert, liegt in der Form von Überresten, von Quellen und Denkmälern vor.1151 Sie sind fraglos wirklich und der allgemeinen Erfahrung zugänglich (Droysen spricht in diesem Sinn von »historischer Empirie«), doch bilden sie selbst eben nicht den eigentlichen Gegenstand historischen Wissens (d.i. die »Tatsächlichkeiten, über die wir Aufklärung suchen«).1152 Er besteht in den Vorgängen und Begebenheiten, von denen das »historische Material« Zeugnis ablegt.1153 Diese geschichtliche Welt selbst ist wesentlich erschlossen, aufgebaut (bestenfalls methodisch), aber nicht gegeben. Gemessen am positivistischen Ideal einer »Wirklichkeitswissenschaft«, die größten Wert auf empirische Aufweisbarkeit legt, ist ihr Status damit wohl als »prekär« zu bezeich1150 Zuletzt exemplarisch mitzuverfolgen an dem zwischen den Historikern Christopher Clark und Stephan Malinowski ausgetragenen Dissens zur Frage nach dem Einfluss der Hohenzollern auf das Ende der Weimarer Republik und den Aufstieg der Nationalsozialisten, der immerhin zu einer Überzeugung Clarks zugunsten der Gegenposition führte. Der Umstand, dass diese Auseinandersetzung im Rahmen juristischer Verfahren stattfand, ist der Wahrheitsfindung im Sinne der Geschichtswissenschaft jedoch nicht unbedingt zuträglich. Dass Historiker mit ihren Aussagen überhaupt Anspruch auf Wahrheit und Objektivität erheben würden, bezweifelt Jacob Owensby mit Blick auf die nordamerikanische Zunft: »Contemporary historians have largely abandoned the ›noble dream‹ of objectivity.« (Owensby 1994: 137n1). 1151 Vgl. Droysen 1960: 37–84; GS VII, 279 (»All seine [sc. des Geschichtsschreibers] Arbeit, sie zurückzurufen, ist Auslegung der Reste, die zurückgeblieben sind.«). 1152 Droysen 1960: 18. 1153 Vgl. die dreigliedrige Analyse, die Droysen zur Erläuterung der »historischen Methode« anbietet: »1. […] das Material, das uns zur historischen Empirie vorliegt; 2. […] das Verfahren, mit dem wir aus diesem historischen Material Ergebnisse gewinnen; 3. […] die so gewonnenen Ergebnisse und deren Verhältnis zu den Tatsächlichkeiten, über die wir Aufklärung suchen« (Droysen 1960: 18, 26f).
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nen.1154 Doch finden sich ähnliche Skrupel, wie sie Dilthey gegenüber einer realistischen Interpretation physikalischer Theorien nachdrücklich äußert, in Bezug auf die geschichtliche Welt an keiner Stelle.1155 Und auch Ranke vertritt den Wirklichkeitsbezug seiner Disziplin recht offensiv: »[…] die Philosophie [erinnert] stets an die Forderung des höchsten Gedankens; – die Historie stets an die Bedingung der Existenz […]«1156
Mangels unmittelbarer Gegebenheit der geschichtlichen Welt bleibt als geeigneter Kandidat, den Wirklichkeitsbezug des historischen Bewusstseins zu erläutern, daher nur der Wahrheitsanspruch historischer Aussagen, genauer: der Wahrheitsanspruch historischer Darstellungen, der sich nicht nur auf die kolportierten Einzelereignisse erstreckt, sondern auch auf die zwischen ihnen bestehenden Wirkungs- und Bedeutungszusammenhänge, an die sich wiederum die geschichtspoetischen Entscheidungen der narrativen Ausgestaltung der Geschichtsdarstellung anhängen, die dadurch auch in dieser Hinsicht als mehr oder weniger zutreffend beurteilt werden können. Die Betonung der narrativen Dimension von Geschichtsdarstellungen ergab sich aus der Beobachtung von Alfred Heuss, dass »Geschichte als Wissenschaft« nicht ohne weiteres anschlussfähig ist für »Geschichte als Erinnerung«, zu der auch das historische Bewusstsein in unserem Sinn zu rechnen ist. Nach Diltheys Ausführungen zur autobiographischen Selbstbesinnung ergab sich dann die narrative Struktur zur Darstellung 1154 Wenn auch nicht direkt »chimärisch«, so ist ihr imaginärer Charakter nicht zu verleugnen. Alfred Heuss betont freimütig: »Dem geschichtlichen Wissen dagegen steht keine unmittelbare Anschauung zu Gebote, und es vermag sich derselben deshalb auch nicht zu bedienen. Es ist ausschließlich Vorstellung und sieht sich gänzlich von der Möglichkeit ausgeschlossen, an eine sinnliche Gegebenheit seines Gegenstandes irgendwie zu appellieren […] Daß Geschichte in einem sehr konkreten Sinne Vorstellung ist, kommt jedem zu Bewußtsein, wenn er bedenkt, wie stark der Beitrag der menschlichen Phantasie zum geschichtlichen Urteil ist. Ohne Phantasie gibt es keine Geschichte.« (Heuss 1959: 11). Demgegenüber behauptet Frank R. Ankersmit eine genuin »historische Erfahrung«, die – wenn auch auf einer vorwissenschaftlich-subjektiven Ebene – einen »direkten und unmittelbaren Kontakt mit der Vergangenheit« ermögliche (vgl. Ankersmit 2012: 35–41, hier: 98). Der entscheidende Unterschied zu den bei Dilthey festzustellenden »Bildungserfahrungen« (siehe Abschnitt 5.4) liegt darin, dass Ankersmit eine »historische Erfahrung«, also eine Erfahrung von Vergangenem für möglich zu halten scheint, die nicht durch Phantasie (Heuss) oder historisches Wissen vermittelt ist. 1155 Dilthey spricht sogar von »geschichtlicher Wirklichkeitserkenntnis« (B 156). Auch der Verweis auf die Unterscheidung von innerer und äußerer Erfahrung löst diesen Widerspruch nicht. (In dem Sinne, dass die Geschichte der inneren, die Physik der äußeren Erfahrung zugeordnet und daraus jeweils ein verschiedener ontologischer Status abgeleitet werden könnte.) Denn, obwohl (einige) historische Vorgänge psychologische Abläufe umfassen, die uns möglicherweise »von innen« bekannt sind, so bleiben sie selbst und ihre relevanten Umstände doch Artefakte einer auf das überlieferte historische Material gestützten abduktiven Hypothese. 1156 Kessel 1954: 294.
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von Wirkungs- und Bedeutungszusammenhängen als Bindeglied zwischen autobiographischem Selbstverständnis und der »erinnerungsförmigen« Aneignung der geschichtlichen Welt. Was genau gewinnt das historische Bewusstsein aber durch den über den Wahrheitsanspruch historischer Aussagen vermittelten Wirklichkeitsbezug? Intensität der motivierenden und orientierenden Kräfte offenbar nicht, die zeichnen schließlich auch das unter Manipulations- und Propagandaeinfluss stehende historische Bewusstsein aus (möglicherweise sogar in einem höheren Grade).1157 Das historische Bewusstsein als Wünschelrute zur Auffindung historischer Wahrheit zu beschreiben, (so als käme es nur dann zu einer Kraftübertragung, wenn die gehegten Überzeugungen den historischen Tatsachen entsprechen,) wäre auch wenig überzeugend.1158 Andererseits scheint es aber auch unbefriedigend, den Wirklichkeitskontakt des historischen Bewusstseins auf einen rein textimmanenten »Wirklichkeitseffekt« der Geschichtsdarstellung zusammenschnurren zu lassen.1159 Eine weitere Option, die sich aus Sicht der Theorie Diltheys ergibt, wäre, dass durch den Wahrheitsbezug die bewusst-unmittelbaren Kraftauswirkungen des historischen Bewusstseins in Übereinstimmung bleiben mit den unbewusstmittelbaren, die immerhin den weitaus überwiegenden Teil der von der Vergangenheit her fortwirkenden Kräfte ausmachen. Im Zuge seiner AußenweltAbhandlung, in der er die Erfahrung von Wirklichkeit auf das Erleben einer Widerständigkeit gegenüber dem eigenen Wollen zurückführt, wirft Dilthey auch die Frage nach der »Realität der geschichtlichen Personen« auf und vertritt die Auffassung, dass sie »für uns« nicht »ausschließlich auf hermeneutischen
1157 »Geschichtsbewußtsein ist ein feuergefährlicher Stoff, zumal in Gesellschaften, die es nicht mehr durch Tradition vermitteln können, sondern bei beschleunigtem Wandel durch institutionalisierte Lehre, Propaganda oder Aufklärung immer neu erzeugen. Dieser feuergefährliche Stoff lagert in Zeiten demokratischer Willensbildung flächig […]« (Jeismann 1985a: 22). Die Verführbarkeit durch historisches Bewusstsein thematisiert Litt ausführlich (vgl. 1948: 31–37, »Wir Heutigen wissen, von welcher Art die Zeitläufte sind, in denen die Historie aus der Studierstube hervorgeholt und von der breiteren Öffentlichkeit in Anspruch genommen wird.«, S. 31). Aus dieser Erfahrung heraus eine »radikale Enthistorisierung« anzustreben, bedeutete allerdings einen »gewollten Rückzug in die Barbarei« (S. 36f). 1158 Allerdings könnte sich diese Auffassung auf den Beweis des Geistes und der Kraft berufen (»ἀπόδειξις πνεύματος καὶ δυναμεως«, 1. Kor. 2,4). Doch dessen Kraftlosigkeit beklagte schon Lessing und wies auf den »garstige[n] breite[n] Graben« hin, der ihn daran hindere, in historischen Fragen letzte Gewissheit zu erreichen (vgl. Lessing 2003: 349–254, hier: 353; GS VII, 29: »Das erinnerte Erlebnis ist nun für das Bewußtsein, das in dem gegenwärtigen Erlebnis lebt, transzendent.«). 1159 Vgl. Barthes 1984: 153–174 (»l’effet de réel«, S. 167).
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und kritischen Schlüssen« beruhe, sondern durch »lebendigere Vorgänge« vermittelt sei.1160 »Die Realität von Luther, Friedrich dem Großen oder Goethe empfängt aus deren beständigem Wirken auf unser eigenes Selbst, also aus der Bestimmung dieses Selbst durch den fortwirkenden, in der Historie immer weitere Kreise ziehenden Willen dieser mächtigen Personen eine erhöhte Energie und Kernhaftigkeit.«1161
Wird hier eine neue Form des Bezugs zur Vergangenheit behauptet? Ein unmittelbares Erleben historischer Personen? Mehr als Andeutungen liefert Dilthey an dieser Stelle nicht, doch ist immerhin so viel klar, dass auch die »lebendigeren Vorgänge«, die er als Ergänzung zum von Geschichtsdarstellungen gebotenen Bild der Vergangenheit anführt, keine rätselhafte Fernwirkung sein können, sondern ihrerseits historisches Wissen voraussetzen. Um die »mächtige« Fortwirkung Friedrichs oder Luthers als die von Friedrich und Luther zu erkennen, muss dem »Selbst« bereits einiges über die entsprechenden Personen bekannt sein. Worauf Dilthey mithin hinweist, sind persönliche Formen der Aneignung historischen Wissens und des regelmäßigen Umgangs mit historischem Material. So wird jemand, der etwa aus eingehender Lektüre der Briefe Luthers sich eine differenzierte Vorstellung von dessen Charakterzügen erworben hat, womöglich dessen persönliche »Handschrift« in gewissen Wendungen der protestantischen Dogmatik wiedererkennen und dies als Erlebnis von Luthers Wirkungsmacht verbuchen. Doch Vorgänge dieser Art sind auch dann nicht völlig ausgeschlossen, wenn sie auf der Grundlage falscher Überzeugungen stattfinden, so dass auch hier der Wirklichkeitsbezug zwar keine notwendige Voraussetzung darstellt, aber doch die Chance dafür drastisch erhöhen dürfte, dass sich aus voneinander unabhängigen historischen Quellen und aktualen Erfahrungen der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit ein übereinstimmendes, detailliertes und prägnantes Bild der Vergangenheit ergibt. Zudem ist nicht allein von der Wahrheit der sich auf Vergangenes beziehenden Überzeugungen eine spezifische Wirkung für die Gegenwart zu gewärtigen, sondern auch von der Einstellung des Für-wahr-Haltens selbst. Diese macht einen relevanten Unterschied im Umgang mit fiktiven Texten und mit historischen Darstellungen aus. Von Begebenheiten, die für historisch gehalten werden, wird geglaubt, dass sie tatsächlich eingegangen sind in den kausalen Nexus und in den Wirkungszusammenhang und somit den heutigen Zustand der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit mit herbeigeführt haben, ferner dass nicht ausgeschlossen ist, dass bisher unbekannte Überreste von ihnen aufgefunden werden (bzw. bereits bekannte ihnen zugeordnet werden können). 1160 GS VII, 113f. 1161 GS VII, 114.
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Das historische Bewusstsein
Wenn sich, wie gesehen, Geschichtsdarstellungen von fiktiven Erzählungen hinsichtlich der narrativen Struktur nicht unterscheiden und so gleichermaßen eine nacherlebende Aneignung des Erzählten ermöglichen, stellt sich die Frage, weshalb Dilthey der Dichtung für die anthropologische Selbsterkenntnis nicht dieselbe Rolle zuschreibt wie der Geschichte. In allen den pointierten Formulierungen der Form »Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte«1162 taucht sie nicht auf. Offenbar wirkt sich auch hier Diltheys Orientierung an der Wirklichkeit als Leitmodalität aus. Zum einen sind es, wie eben ausgeführt, eben die tatsächlich stattgefundenen historischen Ereignisse und ihre Fortwirkungen, die den jeweiligen Menschen und die jeweiligen Gesellschaften und Verhältnisse zu dem und denen gemacht haben, die sie jeweils sind. Zum anderen, wenn gilt, dass die menschliche Erkenntnis des Möglichen primär über das Wirkliche erfolgt,1163 dann stellt sich gegenüber den äußeren oder inneren Vorgängen fiktiver Erzählungen immer die nicht leicht ausräumbare Frage, ob das Dargestellte denn auch »wirklich« möglich ist. Mit dieser Art der Möglichkeit ist nicht das logisch, physikalisch oder metaphysisch Mögliche, sondern – so könnte man sagen – das Menschenmögliche gemeint.1164 Handelt es sich bei den geschilderten Vorgängen um menschlich realisierbare Möglichkeiten oder liegen sie jenseits gewisser psychologischer, sittlicher, sozialer, motivationaler, physiologischer etc. Grenzen? So ist es etwa in diesem Sinne zunächst eine offene Frage, ob das Verhalten der Euripidischen Medea als menschenmöglich einzustufen ist. Um das zu entscheiden, wird man unter anderem auf historisches Wissen zurückgreifen müssen. Die Geschichte belehrt demnach über beglaubigte und erprobte, weil bereits realisierte Möglichkeiten menschlichen Verhaltens. Diese bilden zwar lediglich einen Ausschnitt aller möglichen Denkbarkeiten, aber einen, dem für die Orientierung, Evaluation und Motivation im Blick auf gegenwärtige Handlungsspielräume eine enorme Bedeutung zukommt.
1162 GS VIII, 226. Der Vorzug der Dichtung bestehe darin, dass in ihrem Medium seelische Vorgänge durchsichtiger und pointierter als in der Geschichte konstruiert werden können (vgl. GS V, 11). 1163 Gemäß dem abschwächenden Schluss von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit. 1164 Im Rahmen seiner Kategorienlehre diskutiert Dilthey die Modalitäten nicht eigens. Doch liegt es nahe, im hier angedeuteten Menschenmöglichen die entsprechende Lebenskategorie zu sehen und in der logischen, metaphysischen und physikalischen Möglichkeit deren verschiedene Rekonstruktionen.
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Bildungsgeschehen und -produkt
5.4
Bildungsgeschehen und -produkt »Das Leben […] ist meistens nur die Erziehung einer Generation durch die andere […]« Leopold von Ranke1165
Bisher wurde das historische Bewusstsein als eine Form des Wissens um Vergangenes und historische Zusammenhänge thematisiert. Das in diesem Sinne aufgefasste historische Bewusstsein ließ sich zwanglos zusammenführen mit den bewusst-unmittelbaren Kraftauswirkungen, die Dilthey im Rahmen seiner Theorie des Wirkungszusammenhangs eingeführt hatte. Ein mindestens ebenso relevanter Aspekt des historischen Bewusstseins wurde damit allerdings noch nicht angesprochen: die Geschichtlichkeit des Seelenlebens. Wie Droysen nahelegt, drängt sich dieser Gedanke nahezu auf, sobald ein Erkenntnissubjekt beginnt, auch sich selbst in den historischen Zusammenhang einzuordnen. »Die historische Forschung setzt die Reflexion voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vermittelter, gewordener, ein historisches Resultat ist.«1166
Auch aus Diltheys Konzept des Wirkungszusammenhangs, nach dem der ganze Bereich des objektiven Geistes in seiner aktuellen Form als Resultat der sich überlagernden Kausalprozesse und Krafteinwirkungen der Vergangenheit zu begreifen ist, und der Vorstellung der menschlichen Ontogenese als eines Inkulturationsprozesses, der in einer Sphäre der Gemeinsamkeit abläuft, ergibt sich unmittelbar eine unabsehbare Bedingtheit aller Einzelpersonen durch Zurückliegendes. Die Frage ist, wie tiefgreifend man diese historische Plastizität des Menschen ansetzt. Diltheys weiter oben angeführte Bemerkung, nach der »der Typus Mensch […] in dem Prozeß der Geschichte [zerschmelze]« deutet auf eine gewisse Radikalität in dieser Frage hin.1167 Andererseits setzt Diltheys Verstehenstheorie eine gewisse, zumindest strukturelle Übereinstimmung zwischen dem Seelenleben der verstehenden und dem der zu verstehenden Person voraus.1168 Sodass eine zu weit gehende Umformung des Typus Mensch im historischen Prozess nicht mehr positiv nachvollzogen werden könnte, sondern nur indirekt durch den Befund der Nichtverstehbarkeit, durch das systematische Scheitern von Verstehensbemühungen, erkennbar werden würde. Auch wenn dies als dramatischer Grenzfall aus seiner These der Geschichtlichkeit des Seelenlebens folgt, richtet Dilthey seine Aufmerksamkeit vorrangig auf die kleinen Verschiebungen und die konkreten Formen, in denen sich diese Prozesse vor 1165 Kessel 1954: 283. 1166 Droysen 1960: 332. 1167 GS VIII, 6. Im Übergreifen der historischen Dynamik auf den »Typus Mensch« sieht Herman Nohl erst das eigentliche historische Bewusstsein erreicht (vgl. Nohl 1979: 27f). 1168 Vgl. GS V, 329f.
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Das historische Bewusstsein
allem im Gebiet der Geistesgeschichte ereignen. Anders als Droysen beschränkt Dilthey die Plastizität des Menschen dabei nicht auf den »Inhalt unseres Ich«, sondern dynamisiert das Seelenleben in nahezu allen Hinsichten und verschärft damit den Plastizitätsgedanken erheblich. An die Stelle eines stabilen »Typus Mensch«, den im historischen Prozess wechselnde Inhalte durchströmen, tritt für Dilthey der »Entwicklungsgedanke«, also die Vorstellung von einem beständigen Aufbau, Umbau und Verfall seelischer Strukturen.1169 Die Auflösung des seelischen Form/Inhaltdualismus zugunsten des Entwicklungsgedankens ist uns bereits verschiedentlich begegnet.1170 Sowohl in Diltheys psychologischer Interpretationen der Lebenskategorien und ihrer konsequenten Empirisierung, als auch in seiner Beschreibung des Seelenlebens als eines Artikulationsprozesses in sowohl phylo- als auch ontogenetischer Hinsicht, also eines Vorgangs des Komplexitäts- und Strukturaufbaus, spielte dieser theoretische Zug eine zentrale Rolle. Um der Geschichtlichkeit des Seelenlebens gerecht zu werden, reicht es für Dilthey nicht aus, geistesgeschichtliche Verschiebungen und Umlagerungen im grundlegenden Überzeugungsbestand der Menschheit nachzuvollziehen. Um die schöpferische historische Dynamik zu verstehen, muss man bereits auf der Ebene von einfachen Wahrnehmungsvorgängen ansetzen. Das klassische empiristische Modell erweist sich dafür als ungeeignet. So setzt David Hume zwei Klassen von mentalen Entitäten an, Eindrücke (»impressions«) und deren Nachbilder (»ideas«), und versucht aus ihnen, das Seelenleben zu rekonstruieren und damit zu erklären. Komplexe Eindrücke sind in diesem Bild analysierbar in absolut einfache und Ideen restlos zurückführbar auf Eindrücke. Als Beispiel für einfache Eindrücke führt Hume selbst die Wahrnehmung von konkreten Farbqualitäten an. Jeder einfache Eindruck besitze eine spezifische Qualität und diese Qualität gehe über auf die dem einfachen Eindruck zugeordnete einfache Idee. Somit entsteht eine strikte 1:1-Entsprechung zwischen einfachen Eindrücken und einfachen Ideen, wobei einem Eindruck/Ideen-Paar jeweils eine identische atomare Qualität zukommt (etwa ein bestimmter Farbton) und beide sich lediglich hinsichtlich ihrer Intensität unterscheiden.1171 Diese Modellierung hat zur Folge, dass der Wahrnehmungsvorgang nach Hume einen begrifflichen und diskreten Charakter gewinnt. Jeder einzelne einfache Eindruck lässt sich eindeutig beschreiben als »eine Instanz der Qualität y«, für den gilt, dass 1169 GS VIII, 6. 1170 Vgl. Misch 1924: lxxxiii; Mannheim 1970a: 254–256. Dilthey unterscheidet im Bezug auf das Form/Inhaltschema nicht zwischen logischen und psychischen Sachverhalten. 1171 »After the most accurate examination, of which I am capable, I venture to affirm, that the rule here holds without any exception, and that every simple idea has a simple impression, which resembles it; and every simple impression a correspondent idea.« (Hume 1978: 3 (I, I, 1)).
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das entsprechende Bewusstsein entweder schon früher Instanziierungen dieses Qualitätstypus erlebt hat und dann bereits eine entsprechende »Idee der Qualität y« vorliegt, oder dass diese Qualität erstmalig erfahren wird und somit dem Bewusstsein fortan ein neuer Farbton auf der mentalen Qualitätenpalette für etwaige Assoziationsprozesse zur Verfügung steht. Mit diesem psychologischen Modell ist für Dilthey Innovation und Kreativität auf der grundlegenden Ebene der basalen Gehalte ausgeschlossen. Es komme in seinem Rahmen lediglich zu Instanziierungen feststehender und eindeutig bestimmter Qualitäten, die dann in verschiedene und darunter auch neuartige Konstellationen eingehen können. Kreativität wird damit zu einem relativ oberflächlichen Phänomen der Kombinatorik von in sich stabilen Gehalten. Abgesehen von den internen Schwierigkeiten der Humeschen Theorie ist es vor allem dieser sich aus ihr ergebende Blick auf Kreativität und Innovation, der sie Dilthey als unbrauchbar zu Erschließung historischer Dynamik (und auch der dichterischen Phantasie) erscheinen lässt.1172 Besonders die krypto-platonische Hypostasierung der begrifflichen Gehalte, die auch bei Hume dem Strom des Geschehens enthoben sind, lassen in dieser Hinsicht kaum Spielraum. Die Konzeptualisierung des Wahrnehmungsvorgangs als eines Aktualisierungsvorganges eines Qualitätentyps (Blauschattierung dieser Art etwa oder ein Ton dieser Klangfarbe), bei dem den einzelnen Instanziierungen keinerlei Einfluss auf den Gehalt oder Bestand dieses »type« zukommt, sie gewissermaßen spurlos erfolgen, widerstreitet Diltheys zentralen philosophischen Überzeugungen.1173 Denn auch hier werde mit rein begrifflichen Mitteln ein zeitenthobenes Explanans im Rücken des Erlebens selbst konstruiert, in diesem Fall eine real-ideelle Qualitätenpalette, die unberührt von allen Instanziierungen (oder auch Nicht-Instanziierungen) völlig selbstidentisch und qualitativ bestimmt in sich ruht. Dieser »toten Reproduktion der Bilder« wird von Dilthey eine lebendige, also eine vom Standpunkt des Lebens aus entworfene, Alternative entgegengestellt, die davon ausgeht »daß dasselbe Erinnerungsbild in der Seele so wenig unter neuen Umständen zurückkehrt als dasselbe Blatt in einem neuen Jahre am Baum«.1174 Die Pointe ist offenkundig: statt dass der Erlebnisstrom auf die Permutationen und Rekombinationen einer Menge selbstidentischer und konstanter Qualitäten (und damit eben auf etwas Außerzeitliches) zurückgeführt wird, wird der Ausgang vom Erleben des Wahrnehmungsvorganges her genommen, was unmittelbar zweierlei zur Folge hat: die Sphäre des Allgemeinen wird in den Zeitstrom integriert und die Erlebnisse geraten zunächst (und
1172 Vgl. GS XXVI, 116–121. 1173 Siehe Abschnitt 3.3.2 zu Diltheys Problematisierung einer »reinen Idealität«. 1174 GS V, 177.
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Das historische Bewusstsein
überhaupt) in ihrer Individualität und Einzigartigkeit in den Blick und nicht von vornherein als Instanziierungen eines selbstidentischen »types«. »Sowenig als der neue Frühling die alten Blätter auf den Bäumen nur wieder sichtbar macht, werden die Vorstellungen des gestrigen Tages am heutigen, nur etwa dunkler, wiedererweckt; vielmehr baut sich die erneuerte Vorstellung von einem bestimmten inneren Gesichtspunkte aus auf, wie die Wahrnehmung von einem äußeren.«1175
Sowohl um die Möglichkeit historischer Dynamik im Großen als auch die Möglichkeit künstlerischer Kreativität im Kleinen verständlich zu machen, schlägt Dilthey vor, den seelischen Normalfall umzudefinieren. Nicht die »tote Reproduktion« sei der Standard und die Kreativität und Veränderung das zu Erklärende, sondern der Rückschlag auf den »type« durch dessen Realisierung und zwar aufgrund der Nichtidealität der Wirklichkeit.1176 Zu erklären ist vielmehr, jedenfalls von der Philosophie des Lebens her gedacht, wie die relative Stabilität von Gehalten möglich ist.1177 »In Wirklichkeit ist zumeist, ich sage nicht immer, ein Vorgang in der Seele ein Bildungsprozess.«1178
Über diese grundlegende Idee der Umkehrung der Erklärungsrichtung hinaus, hat Dilthey seine Wahrnehmungstheorie kaum ausgeführt. An dieser Stelle sollte die knappe Skizze lediglich aufzeigen, wie basal Dilthey den dynamischen Charakter seelischer Verhältnisse ansetzt und wie konsequent er die Implikationen seiner Auffassung von der Unmöglichkeit einer »reinen Idealität« verfolgt.1179 Weiterhin ist ein entscheidendes Stichwort gefallen, das das historische Bewusstsein in aufschlussreiche Beziehung setzt zu einem weiteren thematischen Feld. Ein seelisches Ereignis, das nicht durch die eingegrabenen Kanäle rauscht, ohne dabei eine Spur zu hinterlassen,1180 sondern zu Veränderungen im seelischen Gefüge selbst führt, bezeichnet Dilthey als einen Bildungsprozess. 1175 GS I, 377f. 1176 GS XXVI, 118 (»Kurz: wie es keine Einbildungskraft gibt, die nicht auf Gedächtnis beruhte, so gibt es kein Gedächtnis, das nicht schon eine Seite der Einbildungskraft in sich enthielte. Wiedererinnerung ist zugleich Metamorphose.«). 1177 In der Etablierung diachroner Identität eines types oder begrifflichen Gehalts sieht Dilthey den Sinn vom (psychologisch gedeuteten) Satz der Identität, der die Stabilisierung eines identischen Gehalts durch einen Akt der Gleichsetzung numerisch verschiedener Instanziierungen zugleich aussagt und exemplifiziert (A=A); vgl. GS VII, 129f; GS XX, 192– 195. Die Stabilisierung von Gehalten ist zudem wesentlich an den Vorgang der Versprachlichung gebunden, denn das Äußern und Verstehen von sprachlichen Zeichen ist wohl als die grundlegendste gesellschaftliche Praxis zur Etablierung der type/tokenStruktur anzusehen. 1178 GS VI, 142. 1179 Vgl. GS XVIII, 198f. 1180 Vgl. Wittgenstein 1994: 140 (§§96–99): »Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten,
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Was für die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit der Wirkungszusammenhang ist, ist für die Einzelseele der »erworbene Zusammenhang des Seelenlebens«, also das »umfassende Verhältnis […], nach welchem jeder einzelne Bewußtseinsakt in seinem Auftreten und seinem Charakter von diesem ganzen erworbenen seelischen Zusammenhang bedingt ist.«1181 Dieser Zusammenhang kann als diejenige Form verstanden werden, in der nach Dilthey Individualisierungsprozesse auf der Ebene von Einzelpersonen ablaufen. »Erworben« ist er in zwei verschiedenen Hinsichten: gewissermaßen »an sich« und »für sich«. »An sich« erworben insofern, als er das Resultat aller strukturverändernden Erlebnisse eines Lebensverlaufes bis zu einem bestimmten Zeitpunkt bezeichnet. Damit umfasst er mehr als etwa der Begriff der Erinnerung, denn zum einen fällt auch Vergessenes und Verdrängtes unter ihn, zum anderen erstreckt er sich nicht allein auf Inhalte, sondern eben auch auf die Spuren, die von entscheidenden Erlebnissen im Seelenhaushalt verblieben sind. Strukturverändernd ist ein Erlebnis dann, wenn es hinreichend bedeutsam ist bzw. bedeutsam ist ein Erlebnis dann, wenn es strukturverändernd wirkt, wenn es Spuren hinterlässt. Diesem erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens schreibt Dilthey nun einen erheblichen Einfluss auf das aktuale Erleben einer Person zu, er reichert es an, färbt es, richtet es aus, strukturiert es, sorgt mithin dafür, dass sich auch das menschliche Erleben zunehmend individualisiert. Dieser »an sich« bestehende Zusammenhang stellt zugleich eine lebenslange Herausforderung dar, diese vielfältige biographische Bedingtheit aufzuarbeiten, ihre möglicherweise sehr disparaten Momente zu integrieren, herauszuheben oder zurückzudrängen, und ihn damit gewissermaßen ein zweites Mal zu erwerben. Dieser Prozess geht einher mit dem was man geläufig Ausbildung eines Charakters nennt, einer ausgewogenen und stabilen seelischen Struktur in ihrer emotionalen, volitiven und kognitiven Dimension, sodass schließlich vom »entwickelten Seelenleben eines vollkräftigen Menschen« gesprochen werden kann.1182 Vor dem Hintergrund, dass sich die Geschichtlichkeit des Seelenlebens wesentlich in individuellen Bildungsprozessen vollzieht, stellt sich eine bereits berührte Frage erneut: welche Aussicht besteht dafür, dass das historische Bewusstsein (im Sinne eines Wissens von Vergangenem) auf Vorgänge dieser Art entscheidenden Einfluss entfaltet? Kurz: was ist der Bildungswert des historischen Bewusstseins? Lässt sich darüber unter Absehung von individuellen Neigungen und Gegebenheiten überhaupt etwas ausmachen? flüssigen Erfahrungssätze funktionieren; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden.«. 1181 GS V, 177 (s. o.). 1182 GS V, 181, 217f.
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Besonders misslich für einen Philosophen des Lebens mit gleichzeitiger Neigung zur geschichtlichen Welt ist nun, dass es an energischen Verurteilungen von als »historische Bildung« bemäntelten Erfahrungen aus zweiter Hand und angelesenem Bücherwissen um willen des eigenen und unmittelbaren Erlebens gerade unter Lebensphilosophen nicht eben mangelt. »Ich beklage mich, ich habe gewisse Jahre von meinem Menschlichen Leben verlohren […]. Ich hätte meine Jahre geniessen, gründliche, reelle Wißenschaft kennen, und Alles anwenden gelernt, was ich lernte. Ich wäre nicht ein Tintenfaß von gelehrter Schriftstellerei, nicht ein Wörterbuch von Künsten und Wißenschaften geworden, die ich nicht gesehen habe und nicht verstehe: ich wäre nicht ein Repositorium voll Papiere und Bücher geworden, das nur in die Studierstube gehört. […] Welch ein andres Gebäude einer andren Seele! Zart, reich, Sachenvoll, nicht Wortgelehrt, Munter, lebend, wie ein Jüngling! einst ein glücklicher Mann! einst ein glücklicher Greis!«1183
Diese Klage führt ein junger Theologe, zu dessen prekärer Lage einiges zu sagen wäre. Doch ist der allgemeinere Befund nicht von der Hand zu weisen, dass die Parteinahme für das »Leben« und das »Erleben« mit größter Regelmäßigkeit mit einer Abkehr von der Büchergelehrsamkeit,1184 von welcher Form man das historische Bewusstsein kaum wird befreien können, einhergeht.1185 Bezeichnenderweise übernimmt Dilthey dieses lebensphilosophische Motiv nicht, an keiner Stelle spielt er »Studierstube« und »Leben« gegeneinander aus. Für sein Ausscheren finden sich bei Dilthey allerdings auch rechtfertigende Überlegungen, was nahelegt, dass er an dieser Stelle durchaus ein Problem gesehen hat. Zum einen gelingt es ihm aber, den lebensphilosophietypischen Affekt 1183 HD IV, 346f (Hervorhebung im Original und hinzugefügt). 1184 Der Lebensphilosoph Georg Simmel war da offensichtlich anders disponiert. Nach einer von Erich Schramm kolportierten Anekdote reagierte er jedenfalls auf Diltheys stolze Präsentation seiner Privatbibliothek mit der Bemerkung »Wozu brauchen Sie die vielen Bücher? Wenn ich schreibe, schüttele ich das aus dem Ärmel!«, was diesen schwer empörte (Schramm 1955: 357). Dass »Leben« und »Buch« mitunter in einen Gegensatz geraten, zeigt auf das Bestürzendste die Kriegsrede Georg Mischs, die dieser wenige Wochen nach dem deutschen Überfall auf Löwen, der (abgesehen vom hohen Blutzoll der Zivilbevölkerung) zur Zerstörung der dortigen Universitätsbibliothek führte, in Marburg hielt: »Gegenwärtig, wo nach Englands Plan nicht bloß die materiellen Güter der Nation zerstört werden sollen, sondern auch unsere Kulturarbeit in den Kolonien und unser guter Name im Ausland, erscheint die Gefahr eines unersetzlichen Kunstwerkes oder der Brand einer Bibliothek als der Hauptanlaß, der den Tumult der antideutschen Kulturvertreter immer neu auslöst. Gestern war es Löwen, heute ist es Reims. […] Aber das Siegel der Sieghaftigkeit drückt die Geschichte nicht dem Verwalter unerschöpflicher Schätze, sondern dem Träger unerschöpften Lebens auf die Stirn.« (Misch 1914: 11, 13). 1185 Vgl. Nohl 1970a: 92–94, 98–102. Nohl verweist neben Herder u. a. auf Lessing, Rousseau, Goethes Faust, Schillers Karl Moor, Winckelmann, Jean Paul, Nietzsche, Tolstoi und hebt den entsprechenden Einfluss des Pietismus hervor. Ergänzen ließe sich noch Descartes’ Discours de la methode I (»Et me résolvant de ne chercher plus d’autre science que celle qui se pourrait trouver en moi-même, ou bien dans le grand livre du monde […]«, OD VI, 9).
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gegen die scholastisch-humanistische Bücherwelt geradezu vollständig in seine Metaphysikkritik umzuleiten. Zum anderen, und für diesen Zusammenhang von größerem Belang, entwickelt er den Gedanken bzw. artikuliert er die Erfahrung von genuinen Erinnerungs-/ bzw. Lektüreerlebnissen. »Wenn Erlebnisse erinnert werden, ist die Art, wie darin ein Fortwirken auf die Gegenwart enthalten ist, (dynamisch) unterschieden von den Erlebnissen, die ganz vergangen sind. Im ersten Fall ist das Gefühl als solches wiederauftretend, im anderen Fall ist es Vorstellung von Gefühlen usw., und es besteht nur von der Gegenwart als ein Gefühl über diese Vorstellungen von Gefühlen.«1186
Das Erinnern von durchlebten Situationen (und auch, so wird sich zeigen, der Nachvollzug einer Schilderung von Vergangenem) führt also laut Dilthey, sofern die Begebenheiten weit genug zurückliegen, nicht mehr zu einem Wiederauftreten der die ursprüngliche Situation begleitenden Gefühle, wie man es etwa im Fall des Wiederaufflammens des Zorns durch den Gedanken an die gestrige Auseinandersetzung beschreiben würde. Stattdessen werden ab einem gewissen Abstand die vergangenen, vollständig abgeklungenen Emotionen vorstellungsförmig mitrepräsentiert als Teil der erinnerten Situation. Diese Überführung in die Vorstellungsform bedeutet aber nicht, dass der Vorgang der Erinnerung als emotional neutralisiert erlebt werden würde. An dieser Stelle führt Dilthey nun eine Gefühlsreaktion zweiter Stufe ein, die induziert wird durch die vorstellungsförmige Repräsentation des ursprünglichen emotionalen Profils der erinnerten Situation. Das Interessante an diesen höherstufigen Gefühlen ist nun, dass sie selbst keine vorgestellten oder erinnerten Gefühle sind, keine Nachbilder echten Erlebens, sondern genuine emotionale Erlebnisse darstellen. Diesen psychischen Vorgang verallgemeinert Dilthey nun dahingehend, dass er nicht mehr allein auf emotionale Reaktionen beschränkt ist, sondern alle Erlebnisdimensionen umfasst, und sich auch die Erinnerung nicht ausschließlich auf Selbsterlebtes richten muss.1187 So kann er formulieren: »Indem wir ein Vergangenes miterleben, durch die Kunst geschichtlicher Vergegenwärtigung, werden wir belehrt, wie durch das Schauspiel des Lebens selber; ja unser Wesen erweitert sich, und psychische Kräfte, die mächtiger sind als unsere eigenen, steigern unser Dasein.«1188
Die Auffassung, zu der Dilthey kommt, lautet also, dass (vor allem narrative) Geschichtsdarstellungen nicht allein vergangene Situationen und Begebenheiten repräsentieren, sondern deren Nachvollzug in einer Form ermöglichen, dass 1186 GS VII, 231 (Hervorhebung hinzugefügt). 1187 Vgl. GS XIX, 293 (»Geschichte bezeichnet den Inbegriff von Erinnerungen, welche gewisse Menschen von dem, was nicht in ihr Erlebnis fällt, haben.«). 1188 GS I, 91.
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Das historische Bewusstsein
durch ihn genuine aktuale Erlebnisse induziert werden, vollwertige Bildungserfahrungen in der Studierstube also.1189 Die spezifische Qualität von Geschichtsdarstellungen, Erfahrungen dieser Art zu ermöglichen und mit hervorzurufen, bezeichnet Dilthey als deren Lebendigkeit, die folglich mehr zum Ausdruck bringt als einen lediglich ästhetischen Vorzug und die hervorzurufen durch die niedrigen Durchschnittstemperaturen im »Beinhaus der Geschichte« nicht eben befördert wird. »Mir erscheinen die großen geschichtlichen Begebenheiten der Vergangenheit immer als gefrorene Katarakte: in der Kälte des entflohenen Lebens erstarrte Bilder, die uns in Distanz halten. […] Wir frieren im Anschauen der Größe – gefallener Reiche, untergegangener Kulturen, ausgebrannter Leidenschaften, toter Gehirne. Wir können uns ihnen nicht nähern. Je genauer wir hinblicken, desto fremder werden sie uns. Es ist etwas Unheimliches um den Abstand der Zeiten. Der räumliche Abstand kann überbrückt werden, der zeitliche nie. Wir mögen mit Scharfsinn und Vorstellungskraft die erstarrten Mechanismen alter Behörden wieder funktionieren sehen – sie bleiben lautlos für uns; wir mögen mit höchster literarischer Kunst ein Antlitz wieder lebendig machen – der Mund bleibt stumm, das Lachen kehrt nicht wieder, der Schrei ist erstorben. Wenn wir das ernst nehmen, kann es uns durchfahren, daß wir Historiker ein sonderbares Geschäft treiben: wir hausen in den Totenstädten, umfangen die Schatten, zensieren die Abgeschiedenen.«1190
Vor dieser Ausgangslage erscheint lebendige Geschichtsdarstellung als etwas hochgradig Unwahrscheinliches, fast schon als nekromantische Übung. Doch wenn »das Endergebnis der Entwicklung der Menschheit nur im Erlebnis besessen werden kann, nicht in müßiger Betrachtung«1191, und wenn die »Lebendigkeit« der Geschichtsdarstellung das wesentliche Mittel ist, Erlebnisse dieser Art zu veranlassen, liegt es nahe, dass es der »Geschichtsschreiber« als seine eigenste Aufgabe ansieht, »Gestalten [der Vergangenheit] zu pulsierendem
1189 Für den Historiker und die Historikerin spielen überwiegend nicht (wie für den Laien) Geschichtsdarstellungen diese Rolle, sondern die Arbeit an und mit den Quellen selbst. Das Ziel, genuine geschichtsbezogene Erfahrungen außerhalb der Studierstube zu induzieren, verfolgen hingegen sogenannte »reenactment«-Ansätze. Insofern darunter lediglich das kostümierte Nachspielen historischer Ereignisse zu verstehen ist (»Battle of Hastings« u.v.a.), ist nicht ersichtlich, wie auf diesem Wege die Limitationen der Erlebnismöglichkeiten der jeweiligen Gegenwart überwunden werden könnten (s. u.). Für die Technikgeschichte ist dem Ansatz hingegen ein gewisser heuristischer Wert nicht abzusprechen. Der Versuch, allein mit den einfachen Möglichkeiten einer vergangenen Epoche deren technische Leistungen zu wiederholen (Bau der Pyramiden, Überquerung gewisser Meeresabschnitte mithilfe bestimmter Bootstypen, etc.), mag tatsächlich ein gewisses Erkenntnispotenzial freisetzen. 1190 Wittram 1963: 15f; vgl. GS VII, 279 (»dies Totenreich des Gedächtnisses«), XIX, 276. 1191 GS I, 104.
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Leben [zu] erwecken.«1192 Ein Rezept dafür lässt sich nicht angeben, allerdings weist Dilthey darauf hin, dass eine Darstellung, deren Kategorien aus dem Leben selbst entwickelt sind, tendenziell lebendiger ausfällt als eine, die ihre Zusammenhänge nach von außen herangetragenen Gesichtspunkten konstruiert.1193 Entscheidend ist aber wohl vor allem das je ne sais quoi persönlicher Befähigung, die erreichte Energie des eigenen geschichtlichen Sehens in ein Sehen-lassen zu überführen. Relevant für die Einschätzung des Bildungswerts des historischen Bewusstseins ist weiter, dass die durch historische Darstellungen induzierten Erlebnisse keine bloße Verlängerung des alltäglichen Erlebens darstellen, sondern das Potenzial zu einer deutlichen Erweiterung und qualitativen Bereicherung des zu einem Zeitpunkt zugänglichen Erlebnisraumes mit sich bringen. »Und in diesem Nacherleben liegt nun ein bedeutender Teil des Erwerbs geistiger Dinge, den wir dem Geschichtsschreiber und dem Dichter verdanken. Der Lebensverlauf vollzieht an jedem Menschen eine beständige Determination, in welcher die in ihm liegenden Möglichkeiten eingeschränkt werden. […] Das Verstehen öffnet ihm nun ein weites Reich von Möglichkeiten, die in der Determination seines wirklichen Lebens nicht vorhanden sind. Die Möglichkeit, in meiner eigenen Existenz religiöse Zustände zu erleben, ist für mich wie für die meisten heutigen Menschen eng begrenzt. Aber indem ich die Briefe und Schriften Luthers, die Berichte seiner Zeitgenossen, die Akten der Religionsgespräche und Konzilien wie seines amtlichen Verkehrs durchlaufe, erlebe ich einen religiösen Vorgang von einer solchen eruptiven Gewalt, von einer solchen Energie, in der es um Leben und Tod geht, daß er jenseits jeder Erlebnismöglichkeit für einen Menschen unserer Tage liegt.«1194 1192 GS I, 32; vgl. GS VII, 201 (»Die Macht und Breite des eigenen Lebens, die Energie der Besinnung über dasselbe ist die Grundlage des geschichtlichen Sehens. Sie allein ermöglicht, den blutlosen Schatten des Vergangenen ein zweites Leben zu geben.«), 279 (»Und der Geschichtschreiber steht inmitten dieses Trümmerfeldes von Resten vergangener Dinge, der Äußerungen von Seelen in Taten, Worten, Tönen, Bildern – Seelen, die längst nicht mehr sind. Wie soll er sie beschwören? All seine Arbeit, sie zurückzurufen, ist Auslegung der Reste, die zurückgeblieben sind.«). Auch Ranke spricht von dem Ziel der Historie, »das verschwundene Leben wieder zu reproduciren« (Kessel 1954: 291). Bei Raymond Aron heißt es: »L’histoire est la reconstitution, par et pour les vivants, de la vie des morts.« (Aron 2011: 34). Andersherum gewendet: »Der Historiker ist wie der Arzt dem Tod vertraut und befindet sich auf Ausschau nach Leben als Diagnostiker der Vergänglichkeit.« (Wagner 1965: 121); vgl. Litt 1948: 103. 1193 Vgl. GS I, 34 (»Und nur der Historiker, der sozusagen von diesen Lebenseinheiten aus die Geschichte aufbaut, der durch den Begriff von Typus und Repräsentation sich der Auffassung von Ständen, von gesellschaftlichen Verbänden überhaupt, von Zeitaltern zu nähern sucht, der durch den Begriff von Generationen Lebensläufe aneinanderkettet, wird die Wirklichkeit eines geschichtlichen Ganzen erfassen, im Gegensatz zu den toten Abstraktionen, die zumeist aus den Archiven entnommen werden.«). 1194 GS VII, 215f (Hervorhebung hinzugefügt). Ähnlich eröffnen auch die griechischen Tragödien Erlebnisräume, die ansonsten nicht mehr zugänglich sind. Zu den dabei auftretenden Grenzen der Verständlichkeit vgl. Williams 2008: 131f.
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Diese Bildungserlebnisse ermöglichen gerade durch die Differenz zu den aktuellen Gegebenheiten und bestehenden Erlebnismöglichkeiten eine intensive Wahrnehmung der historischen Provinzialität der eigenen Verhältnisse, deren Bann man sich selbst durch ausgedehnte Reisen immer weniger entziehen kann. Alteritätserfahrungen dieser Art schützen so davor, den eigenen »Winkel für die Welt [zu halten]«.1195 Die Möglichkeiten, die im Rahmen eines einzelnen menschlichen Lebens und zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt realisiert werden können, bilden, selbst wenn man von den gegebenen Limitationen durch Begabung, Charakterstruktur und notwendige Übung und Ausbildung absieht, lediglich einen Bruchteil des Menschenmöglichen.1196 »[…] der durch die Realität des Lebens gebundene Mensch wird nicht nur durch die Kunst – was öfter entwickelt ist –, sondern auch durch das Verstehen des Geschichtlichen in Freiheit versetzt.«1197
Allein durch seine hermeneutische Lebensform, durch das Nachvollziehen fremder Lebensverläufe und ihm selbst entzogener Lebensmöglichkeiten, ist es ihm trotz der Limitationen durch die Umstände und der Determination durch seinen Lebenslauf möglich, sich bis zu einem gewissen Grad von seiner notwendigen Provinzialität gegenüber »dem Leben« und dem unabsehbaren Feld des Menschenmöglichen freizumachen.1198 Doch selbst der Nachvollzug fremder Perspektiven ermöglicht nicht, die sich in den verschiedenen Perspektiven erschließenden Aspekte »des Lebens« auf einen identischen Gegenstand zu verrechnen und so näherungsweise einen perspektivlosen Gegenstand (»das Leben«) zu konstituieren. Dieser die Rede von »verschiedenen Perspektiven auf dasselbe« unmittelbar trivialisierende Schritt steht hier nicht zur Verfügung. Zwar tauchen wiedererkennbare Muster auf, die das Leben strukturieren, doch
1195 GS VIII, 198; vgl. Landgrebe 1928: 345 (»Nur Geschehenes, das wir in uns nacherleben können, können wir in seinem Gehalt objektiv erfassen, so wie es eigentlich gewesen ist, es in seinem Eigensein begreifen – das dann immer ein Anderssein ist als das unseres gegenwärtigen Erlebens.«), 355 (»sein Ziel […]: ein Sichselbstgegenständlichwerden und Durchsichtigwerden des gegenwärtigen Erlebens«). Dilthey wirft Nietzsche auf dieser Linie vor, einen historisch partikularen Menschentypus (den »Machtmenschen der Renaissance«) anthropologisch generalisiert zu haben (GS VIII, 226). 1196 Diese Ausschnitthaftigkeit führt auf den Gedanken einer konstitutiven Multiperspektivität auf »das Leben«, auf dem etwa die ungewöhnliche Erzählperspektive von Virginia Woolfs »The waves« (1931) beruht. Auch das von Seneca angeführte Dichterwort (»exigua pars est vitae qua vivimus«/»Nur einen kleinen Teil des Lebens leben wir.« (Seneca, De brevitate vitae II, 2, tr. F.P.Waiblinger) erhält in diesem Kontext neben der quantitativen Bedeutung (des Verhältnisses genutzter zu verschwendeter Lebenszeit) auch eine qualitative (der bruchstückhaften Realisierung des Menschenmöglichen), die allerdings nicht behebbar ist. 1197 GS VII, 216. 1198 »Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt.« (GW V, 553).
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ebenso unvereinbare Widersprüche.1199 So bleibt es (wie bereits im Verhältnis der Weltanschauungstypen zueinander) auch von dieser Seite dabei: »das Denken kann hinter das Leben nicht zurückgehen«, es gewinnt keinen gegenständlichen Bezug zu ihm. In der Ausbildung des historischen Bewusstseins erschließen sich für Dilthey geradezu unermessliche Räume: »Das hierauf [sc. auf dem zur Objektivität erhobenen Nachverständnis des Singulären] gebaute historische Bewußtsein ermöglicht dem modernen Menschen, die ganze Vergangenheit der Menschheit in sich gegenwärtig zu haben: über alle Schranken der eignen Zeit blickt er hinaus in die vergangenen Kulturen; deren Kraft nimmt er in sich auf und genießt ihren Zauber nach: ein großer Zuwachs von Glück entspringt ihm hieraus.«1200
Insofern Bildungsprozesse wesentlich in einer sozialen Umgebung und einer Sphäre der Gemeinsamkeit ablaufen, liegt Dilthey der Übergang von der individualpsychologischen zur gesellschaftlichen Betrachtung ausgesprochen nahe. So heißt es mit Blick auf das theoretische Vermögen: »Die Intelligenz ist nicht eine Entwicklung in dem einzelnen Individuum und aus ihm begreiflich, sondern sie ist ein Vorgang in der Entwicklung des Menschengeschlechts, und dieses selber ist das Subjekt, in welchem der Wille der Erkenntnis ist.«1201
Damit ist eine Dimension der Intelligenz (und naheliegend verallgemeinert: individualpsychologischer Fähigkeiten überhaupt) angesprochen, die notorisch schwierig zu erfassen ist. Seit man zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit begonnen hat, Intelligenz operationalistisch als dasjenige zu definieren, was durch einen Intelligenztest gemessen wird, hat sich auch die Gewohnheit verfestigt, Intelligenz als eine individuelle Eigenschaft aufzufassen, die sich kategorial nicht von der Schuh- oder Körpergröße unterscheidet. Vor dem Hintergrund von 1199 »The world appears to us again and again in a ›new light‹ [GS VIII, 81], writes Dilthey, but we must not interpret such talk in a perspectivistic sense, as though we could get at the whole truth by adding up all partial truths. The ›truth-content‹ (Wahrheitsgehalt) of each metaphysical system is to be understood not as a perspective on reality but rather as an experiential possibility.« (Plantinga 1980: 142, Hervorhebung entfernt). Wittgenstein 2006: 83 (»Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen«, Tractatus, 6.43). 1200 GS V, 317 (Hervorhebung hinzugefügt); dieses Potenzial zur »Lebenssteigerung« durch »mitleben und nachleben« betont auch Nohl materialreich (vgl. Nohl 1970a: 103f). Die entsprechende Deprivation durch Verlust der historischen Dimension beschreibt Dilthey ebenfalls (vgl. GS VII, 279f). Der Akt des Nachvollzugs wäre nach Edward S. Casey als Fall von »imagining-how« zu charakterisieren, das er im Unterschied vom bloßen Vergegenwärtigen von Objekten und Ereignissen (»imaging«) oder von komplexeren Sachverhalten und Vorgängen (»imagining-that«) folgendermaßen bestimmt (vgl. Casey 2000: 40–48): »To imagine-how is to project not merely a state of affairs simpliciter […] but a state of affairs into which the imaginer has also projected himself (or a surrogate) as an active being who is experiencing how it is to do, feel think, move, etc. in a certain manner.« (Casey 2000: 45, Hervorhebungen im Original). 1201 GS VIII, 172.
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Das historische Bewusstsein
Diltheys Sozialphilosophie, nach der sich das Individuum wesentlich in einer Sphäre der Gemeinsamkeit ausbildet und als Knoten, in dem sich verschiedene Kultursysteme kreuzen und Kräfte des Wirkungszusammenhangs umsetzen, in ihr auch fortbesteht und nur durch begriffliche Abstraktion aus dieser Einbettung herausgelöst werden kann, ist auch das vermeintlich individuelle Seelenleben unmittelbar verwoben in den sozialen Zusammenhang. Insofern liegt es nahe zu schließen, dass wenn, obgleich von individuellen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen betrieben, das eigentliche Subjekt der Wissenschaft die Menschheit ist, Analoges auch für das historische Bewusstsein gelten muss. Primär ist dieses demnach als eine soziale und politische Leistung und Struktur anzusehen, die einen charakteristischen durchschnittlichen Niederschlag auf der individualpsychologischen Ebene findet. Anhand von Gemeinschaften, die ihr kulturelles Gedächtnis allein durch verbale Narration weitergeben, ist das gut nachzuvollziehen. Die individuellen Mitglieder, die in diesen Tradierungsvorgang der »oral history« eingespannt sind, erbringen Gedächtnisleistungen, die in ihrem Umfang, ihrer Akkuratheit und erstaunlichen Dauer nur durch den Außenhalt einer Einbettung in eine spezifische kulturelle Umgebung möglich sind, etwa durch die systematische Produktion von Redundanzen, durch die Verbindung zu Festen und Ritualen und auch zu Malereien und Gegenständen. Daraus erhellt, dass der Aufbau der geschichtlichen Welt einerseits kein bloß individualpsychologischer Prozess sein kann (und auch keine Addition von solchen), aber auch nicht ohne eine Einprägung in individuelle Seelenstrukturen ablaufen könnte.1202 Begreift man mit Huizinga Geschichte als »die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt«, lassen sich unter den vielfältigen Formen, in denen das konkret geschieht, doch zwei institutionelle Brennpunkte ausmachen.1203 Neben all den anderen kulturpolitischen Anstrengungen, die in dieser Sache unternommen werden (dem Betreiben von Archiven und Bibliotheken, dem Angebot altsprachlichen Schulunterrichts, der Benennung und Umbenennung von Straßen und Plätzen, dem Aufstellen, Kommentieren und Abreißen von Denkmälern, dem Begehen von Jubiläen durch Paraden, Briefmarken und Neuausgaben), ist die intensivste Form einer Kultur, sich über ihre Vergangenheit Rechenschaft abzulegen, die professionalisierte und relativ autonome Forschungsarbeit der Geschichtswissenschaft und die extensivste der schulische Geschichtsunterricht.
1202 Dilthey unterscheidet ausdrücklich zwischen dem »geschichtlichen Menschen« und dem »Einzelmenschen« (GS VII, 291). 1203 Huizinga 1943b: 104. Huizinga äußert in diesem Zusammenhang die Zuversicht, dass wenn die Geschichte und das historische Bewusstsein als Leistungen einer Kultur gesehen werden, damit auch die Funktionen der Geschichtsforschung und -darstellung wieder in einen engeren Zusammenhang treten (vgl. Huizinga 1943b: 105).
Bildungsgeschehen und -produkt
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Auch wenn Dilthey die pädagogische Arbeit überaus hoch geschätzt hat,1204 finden sich keine Stellen, an denen er Konsequenzen aus seiner Auffassung des historischen Bewusstseins für die Geschichtsdidaktik gezogen hätte. Seine Überlegungen verbleiben auf der Ebene einer allgemeinen Pädagogik, die es schließlich auch allererst zu begründen galt. Um die in seinem Begriff des historischen Bewusstseins dennoch deutlich angelegte Tendenz, auch die Arbeit in den Klassenzimmern zu bedenken und sachgemäß zu gestalten, zumindest anzudeuten, sei hingewiesen auf einige besonders anschlussfähige geschichtsdidaktische Ansätze. Nach Karl-Ernst Jeismanns Auffassung ist der schulische Geschichtsunterricht derjenige Ort, an dem sich das historische Bewusstsein in seiner vorwissenschaftlichen, gesamt-gesellschaftlichen Durchschnittlichkeit am besten fassen lässt und so schlägt er vor »den Geschichtsunterricht als Funktion und Faktor des übergreifenden gesellschaftlichen Prozesses [zu] sehen, in dem sich Vorstellungen über Vergangenheit unter den Bedingungen der jeweiligen Gegenwart immer neu- und umbilden« und greift damit Diltheys systemische, an Funktionen und Zirkulationsprozessen orientierte Perspektive auf das Erziehungssystem auf.1205 Das allgemeinbildende Klassenzimmer bietet der Idee nach die Gelegenheit zwischen den Generationen und vor aller beruflichen Spezialisierung das Haben von Vergangenheit gesellschaftlich einzuüben und zu aktualisieren. Weitgehend ungenutzt bleibe diese einmalige Gelegenheit, wenn der Lernerfolg des Geschichtsunterrichts einzig an der Vermittlung der Kenntnis atomisierter historischer Sachverhalte bemessen wird. Wenn er stattdessen seiner gesellschaftlichen Funktion gerecht zu werden versucht, dann indem er sichtbar macht, dass er »selbst dem Auf- und Umbau von Geschichtsbewusstsein [folgt oder unterliegt]«, und damit »Teil des umgreifenden Selbstvergewisserungsprozesses [ist], der in der Rekonstruktion von Geschichte in der Gesellschaft vor sich geht«.1206 Dieser letzte Gedanke deutet auf eine Umorientierung von der Vermittlung eines Wissenskorpus an historischen Fakten zu einer Einführung in den kontinuierlichen Aufbauprozess der geschichtlichen Welt selbst hin. Diese Umstellung verfolgt auch Sam Wineburg, der großen Wert darauf legt, dass Schüler und Schülerinnen Einsicht in den Prozess gewinnen, in dem aus konkreten Quellen historische Narrative werden.1207 Ziel ist, die natürliche Einstellung des »presentism« durch »historical thinking« zu überwinden.1208 Auch 1204 Vgl. GS IX, 7. 1205 Jeismann 1985b: 45; siehe Abschnitt 3.3.3. 1206 Jeismann 1985b: 49; vgl. GS VII, 284 (»Jede Generation vergißt die Erfahrungen der früheren.«). 1207 Vgl. Wineburg 2001: 37–52. 1208 Vgl. Wineburg 2001: 90 (»Presentism, the act of viewing the past through the lens of the present, is a psychological default state that must be overcome before one achieves mature
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Das historische Bewusstsein
Tom Morton und Peter Seixas setzen bei der Kompetenz »historisch zu denken« an und artikulieren sie anhand von sechs Grundbegriffen, die direkt aus Diltheys Aufstellungen historischer Kategorien entnommen sein könnten: »historical significance, evidence, continuity and change, cause and consequence, historical perspectives, the ethical dimension«.1209 Wenn die Entfaltung des historischen Bewusstseins mitsamt der Fähigkeit historisch zu sehen mit Sam Wineburg als »unnatural acts« aufzufassen sind, in dem Sinne, dass sie die Überwindung der präsentistischen psychologischen »default«-Einstellung gegenüber der Vergangenheit voraussetzen, sie zugleich aber den Zugang zur geschichtlichen Welt und dem Reichtum an dokumentiertem Menschenmöglichem bedeuten, wird deutlich, wie essentiell für das historische Bewusstsein neben dem Bezug zur geschichtswissenschaftlichen Forschung die Verbindung zu einer Theorie der Bildung ist.1210 »Diese Aufgabe selber aber gehört zu den höchsten der Philosophie; denn ganz allgemein angesehen: Blüte und Ziel aller wahren Philosophie ist Pädagogik im weitesten Verstande, Bildungslehre des Menschen.«1211
Auch dieser Brückenschlag ergibt sich auch aus Diltheys Überzeugung von der Notwendigkeit, Denken in Handeln umzusetzen: »das letzte Wort des Philosophen auf dem modernen kritischen Standpunkt ist die Pädagogie [sic]; denn alles Spekulieren ist um des Handelns willen.«1212
5.5
Historisches Bewusstsein und Aufklärung
In den vorangehenden Beobachtungen und Rekonstruktionen von Diltheys theoretischen Manövern ist ausreichend Material angefallen, um genauer angeben zu können, wie sein Ansatz, »historische Forschung in philosophischer Absicht« zu betreiben, im Einzelnen zu verstehen ist, und was »Philosophie aus
1209 1210 1211 1212
historical understanding.«). Mit einem prägnanten Wort von Kurt von Raumer lässt sich die Einstellung des »presentism« als Tendenz, »die Vergangenheit als die Pappelallee zu begreifen, die auf [einen selbst] zuläuft«, beschreiben (zitiert nach: Wittram 1963: 15). Vgl. Morton/Seixas 2012. Vgl. Ulmer 1972: 37–44, 446–469; Tenbruck 1962: 386–395; Groothoff 1981: 101–112. GS IX, 7; hier wäre ein eingehender Vergleich mit Rortys Alternativkonzeption zur systematischen Philosophie (»edification«) und mit Stanley Cavells Philosophieauffassung lohnend (»education of grownups«), vgl. Rorty 2018: 357–394; Cavell 1999: 125. GS IX, 204. Dieser Orientierung sind die Dilthey-Schüler nahezu ausnahmslos gefolgt. Fast alle haben einen ausgeprägten Schwerpunkt in der pädagogischen Theorie aufzuweisen oder sogar die Philosophie in diese Richtung verlassen. Bollnow weist darauf hin, dass zumindest für Herman Nohl auch die Erfahrung des 1. Weltkriegs für diese Orientierung ausschlaggebend gewesen sei (vgl. Nohl 1979: 131).
Historisches Bewusstsein und Aufklärung
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und mit historischem Bewusstsein« heißen könnte. Das Reizvolle dieses Ansatzes, so hat sich bereits verschiedentlich und so wird sich im Anhang noch genauer zeigen, liegt darin, dass die systematische und die historische Perspektive nicht in eins fallen, sondern dass zwischen beiden eine produktive Differenz aufrechterhalten wird. Bernhard Huschke-Rhein spricht von einer »elliptischen Struktur«, die sich an verschiedenen Theorieelementen Diltheys aufweisen lasse.1213 Auch das bei ihm zu beobachtende Verhältnis von systematischer Philosophie und historischer Perspektive lässt sich als »elliptisch« bezeichnen, insofern es sich bei ihnen um zwei nicht-identische Brennpunkte handelt. Besser noch trifft vielleicht das Phänomen der Stereoskopie das vorliegende Verhältnis, da hier aus der Überlagerung differenter Aspekte mit der räumlichen Tiefe eine neue Wahrnehmungsqualität entsteht. Ob Ellipse oder Stereoskopie: Voraussetzung ist, dass sowohl der systematische als auch der historische Standpunkt als distinktes Element bestehen bleibt. Damit sie in einem Verhältnis produktiver Differenz zueinander stehen, darf weder die systematische Dimension aufgegeben werden (wie Habermas und von Kempski unterstellen), noch darf es zu einer unklaren Vermischung beider Aspekte kommen.1214 Gern thematisiert Dilthey das Verhältnis von systematischer (ahistorischer) Philosophie und historischem Entwicklungsdenken anhand einer Gegenüberstellung des 18. und des 19. Jahrhunderts. »Das philosophische Jahrhundert wollte das Leben aus einer allgemeingültigen, abstrakten Theorie von der Menschennatur umgestalten. Diese Theorie hat sich in Reform und Revolution zugleich als siegreich, gültig und als unzulänglich, ja in ihren Anmaßungen zerstörend erwiesen. Unser Jahrhundert hat in der historischen Schule die Geschichtlichkeit des Menschen und aller gesellschaftlichen Ordnungen erkannt. Aber es steht vor der Aufgabe, die großen Anschauungen der geschichtlichen Entwicklungslehre in klare, durch die Wahrheiten des 18. Jahrhunderts eingeschränkte und für das Leben fruchtbare Begriffe fortzubilden.«1215
1213 Huschke-Rhein 1979: 168. 1214 Daher ist auch ein »versöhnendes« Zusammenfallen beider Dimensionen, wie es Ranke als Idealzustand formuliert, für Dilthey kein sinnvolles Ziel: »Wäre die Philosophie das, was sie seyn soll; wäre die Historie so vollkommen klar und vollendet, so würden beyde völlig übereinstimmen.« (Kessel 1954: 302). 1215 GS V, 11 (Hervorhebung hinzugefügt). Auch in der Vorrede zur Einleitung betont Dilthey, dass es ihm darum gehe den »Streit zwischen [der] historischen Schule und den abstrakten Theorien zu schlichten« (GS I, xvii; vgl. GS XIX, 391f). Zu den bleibenden Errungenschaften des 18. Jahrhunderts äußert sich Dilthey folgendermaßen: »In diesem Sinne bezeichnete sich das 18. Jahrhundert selbst mit Recht als das philosophische: kraft der in ihm sich durchsetzenden Herrschaft der Vernunft über das Dunkle, Instinktive, unbewußt Schaffende in uns und die Zurückführung jedes geschichtlichen Gebildes auf seinen Ursprung und sein Recht.« (GS V, 413, Hervorhebung hinzugefügt).
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Das historische Bewusstsein
Eine absolute und unbeschränkte Geschichtlichkeit des Menschen behauptet Dilthey mithin keineswegs.1216 Auch wenn Dilthey ontologisch von einer radikalen Individualität ( jedes Seelenzustandes und aufgrund der holistischen Struktur des Seelenlebens auch jedes seiner isolierbaren Momente) ausgeht, ist es durch die Sprache und abstrahierendes Denken in einem gewissen Rahmen dennoch möglich, ideale Strukturen zu etablieren und semantische Gehalte zu stabilisieren. Diese Ebene einer robusten Idealität ist mit der ersten Klasse der Lebensäußerungen (Begriffe, Urteile, Theorien; s. Abschnitt 3.2.6) erreicht, die Dilthey eindeutig als übertragbar kennzeichnet. Auch mit Blick auf die Formalkategorien ist von einem historischen Wandel keine Rede. Demnach bedeutet das historische Bewusstsein und die durch es erschlossene Geschichtlichkeit des Menschen auch nicht eine Infragestellung der Gültigkeit deduktiver Argumentationen oder logischer Gesetzmäßigkeiten. Der Vorgang der Analyse eines gesetzten Begriffs (etwa des Wissensbegriffs) wird an keiner Stelle von ihm angefochten und führt auch zu Ergebnissen (etwa zur Struktur des Lügnerparadoxes), die für jeden verbindlich sind, der den Begriff teilt. Dilthey nimmt ausdrücklich keine Relativierung der Wahrheit theoretischer Sätze auf den Zeitpunkt der Äußerung oder die Person des Sprechers vor.1217 Nicht bei der internen Geltung systematischer Argumentationen setzen Diltheys Überlegungen zum historischen Bewusstsein und zum Charakter der Philosophie als einer Wirklichkeitswissenschaft an, sondern bei ihrem Wirklichkeitsbezug. Im besten Fall liefern rein systematische Überlegungen schlüssige Argumentationsketten. Die Wahrheit respektive der Wirklichkeitsbezug der Konklusionen ist dann ein hypothetischer, insofern er von der Wahrheit bzw. dem Wirklichkeitsbezug der Prämissen abhängt. Daher ist es von erheblicher Relevanz, dass die Allgemeinbegriffe, die Eingang in die Prämissen finden, auf geeignete Weise gebildet worden sind, da ansonsten der Wirklichkeitsbezug des gesamten Arguments letztlich dem Zufall überlassen wird. Außerdem ist es nötig, im Lauf der Zeit die Adäquatheit der begrifflichen Rekonstruktionen der Lebenskategorien zu überprüfen, da diese der historischen Dynamik unterworfen sind und diese nicht auf begrifflichen Gleisen verläuft.
1216 In dieser Frage scheint sein Briefpartner Yorck von Wartenburg zu einer radikaleren Position geneigt zu haben (vgl. Ermarth 1978: 356; B 71f), wobei er jedoch die Triftigkeit der platonischen Heraklitkritik (vermutlich Theaitetos, 179d–187b), die offenbar Dilthey gegen ihn angeführt hat, anerkennt. 1217 »Das Urteil sagt die Gültigkeit eines Denkinhalts unabhängig vom Wechsel seines Auftretens, der Verschiedenheit von Zeiten oder Personen aus.« (GS VII, 205). Im strengen Sinn gilt das nur für Sätze ohne indexikalische Ausdrücke. Um zu beantworten, wie es in dieser Hinsicht bei Dilthey mit moralischen Werten steht, wäre eine eigene Untersuchung erforderlich. Vgl. Stegmaier 1992: 266–276.
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Dazu schlägt Dilthey für Begriffe, die sich auf die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit beziehen, ein Verfahren hermeneutischer Begriffsbildung vor.1218 Unter der Bedingung partieller Inkommensurabilität von Denk- und Seinsstrukturen, die aus der Perspektive endlicher Erkenntnissubjekte nicht ausgeschlossen werden kann, ist damit immerhin ein methodisches Näherungsverfahren zur theoretischen Erfassung wirklicher Strukturen gegeben, das dem Ratevorgang durch Begriffsstipulation deutlich überlegen ist. An Diltheys Phänomenologie der Metaphysik ließ sich zudem beispielhaft nachvollziehen, wie in der historischen Perspektive auf langfristige Debattenlagen oder auch auf sich wiederholende dialektische Situationen systematisch relevante Theoriephänomene allererst sichtbar werden, die sich dem Horizont der tagesaktuellen systematischen Auseinandersetzung entziehen. Die Zuordnung von systematischer Argumentation und historischer Forschung, die Dilthey programmatisch entwirft und in seinen Arbeiten selbst verfolgt, behandelt also beide Aspekte als selbstständige und irreduzible Brennpunkte der philosophischen Arbeit.1219 Es gilt in beide Richtungen: »Der wahre Historiker ist ein Mitarbeitender«1220
und »Der Philosoph muß die Operationen des Historikers am Rohstoff der geschichtlichen Überreste selber machen. Er muß zugleich Historiker sein.«1221
Das historische Bewusstsein stellt dabei sicher, dass die systematische Argumentationsmaschine den Wirklichkeitskontakt nicht verliert und mit relevanten Fragestellungen und substantiellen Begriffen gefüttert wird. Wenn auf diese Weise bereits bei der Entwicklung der systematischen Fragestellung und der Bildung der Allgemeinbegriffe der Wirklichkeitskontakt methodisch konsequent Berücksichtigung findet, sollte auch die Wahrscheinlichkeit dafür steigen, dass die Resultate philosophischer Arbeit auch außerhalb philosophischer Seminare als relevant und bedeutsam wahrgenommen werden, womit ein wichtiger Schritt in Richtung von Diltheys Normzustand einer gesamtgesellschaftlichen Zirkulation getan wäre.
1218 Siehe Anhang. Für Dilthey fallen darunter nicht allein die Begriffe der Soziologie und Geschichtswissenschaft, sondern zentral auch die der Anthropologie und Psychologie, womit erhebliche Revisionen etwa gegenüber der üblichen philosophischen Psychologie verbunden sein dürften, auch wenn man die Fallstricke des Psychologismus meidet. 1219 Weder macht sich Dilthey also das resignative Motto des 19. Jahrhunderts [»Es gibt keine Philosophie, sondern nur eine Geschichte der Philosophie« (Windelband 1909: 87)] zu eigen, noch leidet er am »morbus hermeneuticus« (Schnädelbach 1981). 1220 J 186. Und zwar an der Sache, also ein in systematischer Hinsicht Mitarbeitender. 1221 GS V, 36.
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Das historische Bewusstsein
»Die Philosophie hat zu ihrer ersten Aufgabe und zu ihrem vorbereitenden Teile die Erhebung der philosophischen Anlage und des philosophischen Bedürfnisses, das in den Subjekten vorhanden ist, durch die Stufen der Geschichte hindurch zu dem heutigen geschichtlich erfüllten Bewußtsein. Diese Geschichte ist die unentbehrliche Propädeutik der systematischen Philosophie. Denn das erfüllte Selbstbewusstsein, von welchem kein Denken abstrahieren kann, das es vielmehr nur analysieren kann, ist geschichtlich.«1222
Nach dieser Auffassung stellt das historische Bewusstsein eine propädeutische Bildungsvoraussetzung des systematisch arbeitenden Philosophen dar,1223 die für eine Art Synchronisierung zwischen dessen persönlichem Lernprozess und dem historisch-systematischen Stand der Disziplin sorgt. Dadurch können einerseits redundante Forschungsprojekte vermieden werden und die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass etwaige »philosophische Intuitionen« durch philosophiehistorisches »fine tuning« tatsächlich auch sachhaltig sind. Auch wenn der Entwicklungsgedanke der Historischen Schule von Dilthey als Gegengewicht zur und als Korrektur der Vernunftphilosophie des 18. Jahrhunderts beschrieben wird, wäre es doch unzutreffend, sein Verständnis der Rolle des historischen Bewusstseins als gegenaufklärerisch zu beschreiben.1224 »Die Historie ist das mächtigste Hilfsmittel, dem eigenen Innern Sprache zu geben und es zum Reden und zur Explikation zu bringen. […] Die Geschichte ist der Bundesgenosse der Selbstbesinnung, ja sie sind eines nur mit [dem] andern.«1225 »Das historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes, von der Relativität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen. Mit ihm erreicht der Mensch die Souveränität, jedem Erlebnis seinen Gehalt abzugewinnen, sich ihm ganz hinzu1222 GS VIII, 187; vgl. B 220. 1223 Heinrich Ritter führt in seinen verwandten Überlegungen »Über die Bildung des Philosophen durch die Geschichte der Philosophie« die bedenkenswerten weiteren Aspekte an, dass durch eine solche der Philosoph in die Lage versetzt werde, die eigene Schule in der Philosophiegeschichte zu verorten, sie damit als partikulare zu erkennen und nicht mit der Philosophie selbst zu verwechseln (vgl. Ritter 1817: 118–120). Zudem leiste Vertrautheit mit der Philosophiegeschichte durch Kenntnis möglichst vieler Ausdrucksformen und Terminologien einen wertvollen Beitrag zur »Bildung zur philosophischen Sprache« (Ritter 1817: 114). 1224 Vgl. Schnädelbach 1979 (»Wer sich mit der Geschichte der Aufklärung beschäftigt, erfährt, wie schwierig es ist, eindeutige Grenzen zwischen der Aufklärung über die Aufklärung und der Gegenaufklärung zu ziehen.«, S. 19 (Hervorhebungen im Original)). 1225 GS XIX, 276f. Auch Landgrebe sieht hier einen engen Zusammenhang: »Eigentliche Geschichtlichkeit des Lebens ist eine Steigerungsform, die erst in der Selbstbesinnung erwächst.« (Landgrebe 1928: 265). Nach Ermarth stellt das historische Bewusstsein die siebte und höchste Sufe der Selbstbesinnung dar (vgl. Ermarth 1978: 130–132 (1. »the simple ›having‹ of experience (Erleben)«; 2. »the primitive awareness of experience (Innewerden)«; 3. »inner perception«; 4. »inner observation«; 5. »memory«; 6. »methodical self-reflection«; 7. »historical-philosophical reflection«; siehe Abschnitt 3.2.5).
Historisches Bewusstsein und Aufklärung
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geben, unbefangen, als wäre kein System von Philosophie oder Glauben, das Menschen binden könnte.«1226
Sowohl bei der Aufklärungsphilosophie als auch bei der Entfaltung des historischen Bewusstseins steht ein ausgeprägtes emanzipatorisches Interesse im Hintergrund.1227 Beide führen zu einer fortschreitenden Auflösung der traditionalen normativen Substanz und beide vertiefen die menschliche Selbstbesinnung maßgeblich. Während die Aufklärungsphilosophie Autoritätsargumenten nicht mehr als einen heuristischen Wert zuerkennt und stattdessen einen allgemein nachvollziehbaren Nachweis von Behauptungen an der jeweiligen Sache selbst einfordert, erlaubt die historisch-kritische Arbeit an den Quellen, historische Fälschungen (wie etwa die Konstantinische Schenkung) als solche zu durchschauen oder die Aussicht auf Historizität von Konstruktionen wie der Apostolischen Sukzession einzuschätzen (sowohl als Norm als auch als Faktum). Zugleich deckt das historische Bewusstsein aber auch Momente der Unfreiheit und Gewalt auf, die von einem blinden universalistischen Vernunftglauben, den »Spinneweben dogmatischen Denkens« und den »Kasernenbauten radikaler Doktrinen« gegenüber der Vielfalt menschlicher Lebensformen und -möglichkeiten (insbesondere gegenüber kolonisierten und marginalisierten), Wertehierarchien und Institutionen ausgehen, denen begriffliche Idealkonstruktion kaum je gerecht geworden sind.1228 Eine Sensibilität, die selbst maßgeblich auf eine historische Erfahrung zurückgeht: auf das Scheitern des Versuchs, nach der Französischen Revolution politische Stabilität allein auf der Grundlage von Vernunftprinzipien herzustellen.1229 Beide Bewegungen zielen ferner auf Universalität. Die Aufklärungsphilosophie gewissermaßen auf kürzestem Wege, indem sie ausgehend von der allgemeinen Vernunftnatur des Menschen begriffliche Idealkonstruktion von unbeschränkter Geltung entwickelt. Der Weg des historischen Bewusstseins verläuft stattdessen über die extensive hermeneutisch-nachvollziehende Aneignung vorliegender Lebensäußerungen und dokumentierter Lebens- und Erlebnisformen und fällt so deutlich länger aus. Genau genommen ist er nicht abschließend bewältigbar. Gleichwohl zielt auch diese Bewegung auf eine Form der »Univer1226 GS VII, 290f. 1227 »Die geschichtliche Weltanschauung ist die Befreierin des menschlichen Geistes von der letzten Kette, die Naturwissenschaft und Philosophie noch nicht zerrissen haben – aber wo sind die Mittel die Anarchie der Überzeugungen, die hereinzubrechen droht, zu überwinden?« (GS V, 9). 1228 GS VII, 291; GS IX, 180. Für eine Konfrontation der Praxis der Sklaverei mit dem Diskurs der Aufklärung vgl. Trouillot 2015: 70–107. 1229 Vgl. GS I, xv–xvi, 4. Eine Auffassung, die J. S. Mill und Auguste Comte teilen (s. o.) und die auch bei Hegel aufscheint (vgl. Hegel 1988: 385–394 (»Die absolute Freiheit und der Schrecken«)).
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Das historische Bewusstsein
salität« und zwar auf eine, »die immer und überall an das geschichtliche Denken gebunden ist«.1230 Auch auf diesem »bottom up«-Pfad sind verbindliche Stellungnahmen gegenüber den historischen Wertrealisierungen nicht ausgeschlossen; der Hermeneut kann im Zweifelsfall zwar nicht alles verstehen, doch braucht er auch nicht alles zu verzeihen. Es liegt natürlich nahe, in diesen Versicherungen Diltheys, dass das historische Bewusstsein nicht als ein Zurückdrehen, sondern als eine Vollendung der Aufklärung aufzufassen ist, nicht viel mehr als das Selbstverständnis eines Kopfes der Reaktion zu sehen, der sich und das eigene Werk naturgemäß nicht als Hemmschuh der geschichtlichen Entwicklung betrachtet wissen will. Anstatt diesem Verdacht unmittelbar nachzugeben und auch anstatt Diltheys Version einfach zu akzeptieren, wäre es erforderlich die konkreten historisch-systematischen Arbeiten Diltheys unter diesem Aspekt nachzuvollziehen. In jedem Fall ist sein Vorschlag, in den Haupttendenzen des 18. und 19. Jahrhunderts nicht eine Pendelbewegung zwischen Revolution und Restauration zu sehen, sondern beide in produktiver Weise in einen fortschreitenden Aufklärungsvorgang einzuspannen, nicht ohne einen gewissen Reiz.
5.6
Fazit
Das historische Bewusstsein in den Schriften Diltheys hat sich als eine ausgesprochen vielseitige Größe erwiesen.1231 Auch die beiden eingangs investierten Bedeutungsaspekte haben sich in verschiedenen Konstellationen wiedergefunden. (a) Historisches Bewusstsein als Kenntnis historischer Begebenheiten und Ereignisse, historisches Faktenwissen. Dieser Aspekt hat sich auch bei Dilthey als grundlegend herausgestellt. Historisches Bewusstsein ist für ihn nicht unabhängig vom avanciertesten Stand der geschichtswissenschaftlichen Forschung denkbar, den er zu seiner Zeit durch die Arbeiten der Historischen Schule re1230 GS V, 338. Hier handelt es sich um Befreiung von der eigenen historischen Provinzialität. Dilthey nennt sie den »Lebenshorizont« einer Epoche und versteht darunter genauer »die Begrenzung, in welcher die Menschen einer Zeit in bezug auf ihr Denken, Fühlen und Wollen leben. Es besteht in ihr ein Verhältnis von Leben, Lebensbezügen, Lebenserfahrung und Gedankenbildung, welche die Einzelnen in einem bestimmten Kreis von Modifikationen der Auffassung, Wertbildung und Zwecksetzung festhält und bindet.« (GS VII, 177f; vgl. GS VII, 252; Nohl 1979: 110). Rothacker hingegen betont, dass »das historische Bewußtsein die tiefe Verflochtenheit aller individuellen Lebensäußerungen in die großen in weltgeschichtlichen Kämpfen zu ihrem Sein gelangten Kulturtotalitäten [lehre]« (Rothacker 1931: 477). Bei diesen partikularen Totalitäten stehenzubleiben, erscheint gegenüber dem Zug ins Universale willkürlich. 1231 Vgl. Nohl 1979: 107–110.
Fazit
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präsentiert sah. Durch den Wahrheitsanspruch geschichtswissenschaftlicher Aussagen wird auch für das unsichere Terrain des Umgangs mit Nicht-mehrWirklichem und daher auch Nicht-mehr-Erlebbarem ein möglichst stabiler Wirklichkeitsbezug angestrebt und ein Rückfall in ein mythisches Verhältnis zur Vergangenheit vermieden, das keinen Unterschied zwischen fiktiven und »wahren«, d.i. historischen Narrationen kennt. (b) Historisches Bewusstsein als Erkenntnis der Variabilität und Kontingenz der menschlichen Verhältnisse. In gewisser Weise lässt sich diese Form bereits bei Herodot und seinen Schilderungen der verschiedenen Sitten und Gebräuche und erstaunlichsten Wechselfälle menschlicher Schicksale finden. Entscheidend verschärft wird sie jedoch erst in der Neuzeit und zwar sobald dieser komparative »ethnologische Blick« zunehmend rückhaltlos auch auf die eigene Kultur, Religion und Institutionen gerichtet wird. Nach Diltheys Auffassung trägt dieser Vorgang, zusammen mit der kritischen Evaluation der dem Menschen verfügbaren epistemischen Ressourcen durch die philosophische Erkenntnistheorie, entscheidend dazu bei, die Vorstellung von einem »natürlichen System der Geisteswissenschaften« (Naturrecht, natürliche Religion usf.) nachhaltig zu implausibilisieren.1232 Auf der Ebene der Weltanschauungen, also menschlicher Letztorientierungssysteme, die zum Teil in Form von metaphysischen Theorien Wissenschaftscharakter beanspruchen, führen beide Aspekte Dilthey dazu, die Unmöglichkeit einer wissenschaftlich ausweisbaren Weltanschauung zu behaupten.1233 Stattdessen insistiert er auf dem konstitutiven Rätselcharakter des Lebens, das sich dem Menschen ausschließlich in letztlich unvereinbaren Partikular- und Innenperspektiven darstellt.1234 (c) Das historische Bewusstsein als Repositorium menschlicher Lebens- und Erlebensformen. Durch die Fähigkeit des Nacherlebens, also des Zurückversetzens von Lebensobjektivationen in den situativen und seelischen Kontext, in dem sie als Ausdruck einer konkreten psychophysischen Lebenseinheit entstanden sind, erschließen sich nach Dilthey dem Menschen Erlebnismöglichkeiten, die ihm oder ihr unter den gegenwärtigen Bedingungen in unmittelbarer Form nicht mehr zugänglich sind. Dieser Nachvollzug von fremden Formen der Weltauffassung, Wertmaßstäben, Verhaltens- und Empfindungsweisen stellt eine als ausgesprochen wertvoll erfahrene Bereicherung des jeweils eigenen Seelenlebens 1232 Vgl. GS II, 90ff. 1233 »Keine Weltanschauung kann durch Metaphysik zu allgemeingültiger Wissenschaft erhoben werden.« (GS VIII, 218). »Zwischen dem geschichtlichen Bewußtsein der Gegenwart und jeder Art von Metaphysik als wissenschaftlicher Weltanschauung besteht ein Widerstreit.« (GS VIII, 3). 1234 Bei David Hume findet sich eine ganz ähnliche Konstellation aus Metaphysikkritik, deflationärem Theorieanspruch und historischem Bewusstsein: »The whole is a riddle, an ænigma, an inexplicable mystery.« (Hume 2008: 185).
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Das historische Bewusstsein
und Weltverhaltens dar und sensibilisiert für den Umstand, dass sich in einem Einzelleben und unter den Bedingungen einer konkreten Kulturlage jeweils nur ein sehr begrenzter Ausschnitt des Menschenmöglichen realisieren lässt. Damit kann das historische Bewusstsein dazu beitragen, die tendenziell immer provinzielle eigene Sicht einer Kultur oder Epoche auf den Menschen und das Leben als partikular und kontingent zu Bewusstsein zu bringen. Ein Beitrag dessen Bedeutung in dem Maß wachsen dürfte, als fortschreitende kulturelle Homogenisierungstendenzen die Möglichkeit zu Alteritätserfahrungen anderer Art immer seltener werden lassen. (d) Das historische Bewusstsein als Erkenntnismittel von Entwicklungsprozessen und Bedingtheiten. Durch den geschärften Blick für historische Zusammenhänge, wie sie etwa durch narrative Geschichtsdarstellungen hervorgehoben werden, liegt es nahe, auch die Gegenwart und die eigene kulturelle Umgebung mittels dieser Kategorien zu analysieren und zu strukturieren. Insbesondere die Form von Entwicklungs- und Individualisierungsprozessen, also die kumulative, pfadabhängige Anreicherung und Artikulation psychischer oder gesellschaftlicher (aber auch ökologischer) Strukturen, allerorten wiederzuerkennen, ist das historische Bewusstsein in besonderem Maße geschult. Auf diesem Weg lässt sich etwa aus Einzelereignissen ein Muster oder ein Trend herauslesen und bisher nur diffus wahrgenommene Tendenzen und vorfindbare sozio-kulturelle Gegebenheiten können mitunter durch ihre historische Einbettung differenzierter behandelt und größeren Zusammenhängen zugeordnet werden. Damit sind sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene Potenziale eines reflektierteren und differenzierteren Selbstverhältnisses gegeben. Das historische Bewusstsein geht über in das politische und erlaubt entsprechend auch auf diesem Feld präzisere Stellungnahmen.1235 (e) Historisches Bewusstsein als Grundlage neuer Verbindlichkeiten. Durch die Kenntnis der historischen Tiefendimension der gegenwärtigen sozio-kulturellen Verhältnisse eröffnet sich die Möglichkeit, exemplarische Leistungen der Vergangenheit oder auch mit überkommenen Institutionen verknüpfte Verhaltenserwartungen (»Rollen«) als maßgeblich anzuerkennen und sich damit dem normativen Anspruch eines Traditionszusammenhangs auszusetzen. An die Stelle der in der Neuzeit rapide dahinschmelzenden rein traditionalen (d.i. meist unartikulierten, unbegründeten und nur aufgrund äußerlicher Merkmale zugeschriebenen) Verbindlichkeiten braucht kein normatives Vakuum zu treten (und was die Verhältnisse reziproker sozialer Anerkennung betrifft, geschieht 1235 »Notre conscience politique est et ne peut pas ne pas être une conscience historique.« (Aron 2011: 53). »Das Spektakel, als gegenwärtige gesellschaftliche Organisation der Lähmung von Geschichte und Gedächtnis, des Verzichts auf die Geschichte, der auf der Grundlage der geschichtlichen Zeit fußt, ist das falsche Bewußtsein der Zeit.« (Debord 2013: 139 (§158), Hervorhebung entfernt).
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das faktisch auch nicht). Die Kenntnis der geschichtlichen Welt und damit divergenter diachroner Institutionsausgestaltungen und Wertehierarchien führt auch nicht zwangsläufig zur Planierung von Wertgefällen, zur Vergleichgültigung sämtlicher Wertansprüche, wie es bereits der Begriff des Klassischen deutlich macht.1236 So ist es keineswegs unplausibel anzunehmen, dass durch das historische Bewusstsein präsent gehaltene Leistungen oder Einrichtungen als exemplarische Wertrealisierungen durch Akte der Selbstverpflichtung in der Gegenwart eine relevante normative und in der Folge auch gestalterische Kraft entfalten. Dafür ist weder das Ansetzen eines absoluten Wertmaßstabs notwendig (also der Nachweis, dass bestimmte Einrichtungen oder Leistungen deswegen vorbildlich wären, weil sie die »wahren Werte« realisierten), noch eine Einsicht in »den Sinn der Geschichte«, wie sie Geschichtsphilosophien marxistischer, kapitalistischer, religiöser oder sonstiger Provenienz zu explizieren versprechen (also eine Wertzuschreibung aufgrund einer geeigneten Beziehung zur aktuellen Phase des Klassenkampfs oder der Heilsgeschichte, etc.). Dass Dilthey und seine Zeitgenossen die Entfaltung des historischen Bewusstseins überwiegend als einen destruktiven Prozess erlebten, ist selbst ein Umstand, dessen Gewicht durch historische Kontextualisierung genauer taxierbar wird. Denn sie fällt für weite Teile des Bildungsbürgertums des 19. Jahrhundert zusammen mit einem Prozess persönlicher und gesellschaftlicher Säkularisierung, der einerseits durch massive Verschiebungen innerhalb der Sozialstruktur vorangetrieben wird (Urbanisierung, Industrialisierung), aber nicht minder durch die kritische Arbeit der Dogmen- und Kirchengeschichte (etwa der Tübinger Schule). Auf diesem Feld erwies sich die historisch-kritische geisteswissenschaftliche Forschung tatsächlich über weite Strecken als ein Zersetzungsprozess der orthodoxen Frömmigkeit und des kirchlichen Selbstverständnisses.1237 Die Beleuchtung der Genese von Überzeugungsbeständen oder -systemen oder anderer kultureller Hervorbringungen stellt aber nicht bereits als solche deren Geltung oder Wertanspruch in Frage. Dieser Effekt tritt nur bei einer gewissen Klasse von Überzeugungen oder Leistungen ein und ist somit nicht uneingeschränkt dem historischen Bewusstsein anzulasten.1238
1236 Über die Extension dieses Begriffs herrscht in ausdifferenzierten Gesellschaften offensichtlich kaum Konsens, doch scheint keine Subkultur darauf verzichten zu können, gewisse Kulturleistungen als für sie »klassisch« zu kanonisieren. Vgl. Gadamer 2010: 290–295. 1237 Für Dilthey vgl. dessen »Rechnungsabschluss«: GS XIV/2, 589–593; vgl. Rothacker 1931: 470–473. 1238 »A central consideration is that a correct understanding of how, for instance, true factual beliefs are formed has no tendency to undermine them, while the opposite is typically true of ideological beliefs, for example. This is a truth – admittedly far from clear – at the heart of the Enlightenment enterprise.« (Williams 2008: 216n52).
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Das historische Bewusstsein
Das durch das historische Bewusstsein gesteigerte Kontingenzbewusstsein gegenüber sozio-kulturellen Begebenheiten stellt mithin nur eine seiner Dimensionen dar (= b), fraglos mit desorientierenden und relativierenden Konsequenzen. Man sieht sich mit wachsendem historischen Überblick konfrontiert mit einer chaotischen Mannigfaltigkeit, überschaut ein »unermeßliches Trümmerfeld [nicht nur] religiöser Traditionen«.1239 Die von Dilthey angestoßene Reflexion des methodischen Aufbauprozesses der geschichtlichen Welt mittels der Lebenskategorien erlaubt, in dieser Mannigfaltigkeit zunehmend komplexe Strukturen und Muster zu erkennen, die letztlich zu einer Auffassung von ihr als einem kontinuierlichen und vielfältig verflochtenem Bedeutungs- und Wirkungszusammenhang führen. Die wirkenden Kräfte der Vergangenheit beeinflussen orientierend und motivierend, wissentlich oder unbewusst die Handlungen der Gegenwart und setzen sich so auch in die Zukunft fort. »Der Relativität gegenüber macht sich die Kontinuität der schaffenden Kraft als die kernhafte historische Tatsache geltend.«1240 »Das mitfühlende Verstehen alles Vergangenen muß zu einer Kraft werden, das Künftige zu gestalten.«1241
Interessanter als diese positiven und produktiven Dimensionen des historischen Bewusstseins selbst, die weitgehend zum Standardrepertoire der Verteidiger eines humanistischen Bildungsideals1242 gehören dürften, ist ihr stimmiger Bezug zu Diltheys Metaphysikkritik und seiner Philosophie des Lebens, die ihn davor bewahrt, den offenen, vielgestaltigen und riskanten Geschichtsprozess auf einen bestimmten Sinn und ein Ziel festzulegen.1243 Der ökologisch verstandene Lebensbegriff lässt ihn den Geschichtsprozess vom Menschen her verstehen, einer in ihren Trieben und Zielen und Vorstellungen selbst historisch hochgradig 1239 1240 1241 1242
GS VIII, 76. GS VII, 291 (Hervorhebung hinzugefügt). GS VIII, 204. »Alle Apologien der Geisteswissenschaft führen zwar zu einer Selbstverklärung des Gelehrtenstandes, aber nicht zu neuen Formen der sozialen Ordnung. Dies zu verkennen, war der entscheidende Fehler Diltheys.« (Gehlen 2016: 480). 1243 Maria Amaral unterschlägt zunächst den Bezug zur Metaphysikkritik und entwickelt dann auf der Basis eines romantizistischen Lebensbegriffs eine Lesart des historischen Bewusstseins, nach der dieses den Relativismus sogar zu überkompensieren droht, indem es zu einer »absoluten Kategorie« erhoben werde und letztlich selbst auf ein »metaphysisches Vorgehen« zurückgreife (Amaral 1989: 290). Auch Dietrich Bischoff liest das historische Bewusstsein in triumphalistischer Manier, als eine »Hereinnahme des Unbedingten in das geschichtliche Leben« und als »Fähigkeit zur unbedingten Hingabe an das Neue«: »So hat Dilthey für den deutschen Geist den Weg frei gemacht zu dem, was die stolze Erfüllung unserer Tage ist.« (Bischoff 1935: 39, 38). Auch hier fehlt jeder Hinweis auf die mit dem historischen Bewusstsein bei Dilthey einhergehenden Züge von Endlichkeit und Ambivalenz und vor allem der Zug zur Universalität.
Fazit
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plastischen Lebenseinheit, die Stellung bezieht zu ihrem Milieu, das in einer nahezu vollständig kulturell geformten und damit ebenso variablen Umgebung besteht, und wechselwirkend mit ihr und anderen Lebenseinheiten zugleich zur eigenen biographischen Entwicklung und zur allgemeinen Kulturdynamik beiträgt. Nur weil das sich in diesem Prozess ergebende Gewebe charakteristische Muster aufweist, lassen sich Zentren und Strukturen relativer Stabilität ausmachen, Diltheys Kategorien des Lebens. Auf ihrer Grundlage ist nicht nur möglich, dass Lebenseinheiten ein differenziertes und reflektiertes Selbstverständnis ausbilden, sie öffnen zugleich die Tür zur geschichtlichen Welt, die Dilthey als Resultat eines methodischen Aufbauprozesses der verstehenden Erschließung aus den Resten der Vergangenheit begreift und vor allem als solchen sichtbar und nachvollziehbar macht. Da Dilthey selbst einräumt, dass sich nicht alle historischen Kategorien aus den Lebenskategorien entwickeln lassen und er zudem eine prinzipielle Skepsis gegenüber normativen Wissenschaftstheorien pflegt, sollte man aus seinem »Aufbau der geschichtlichen Welt« keine Delegitimation von geschichtswissenschaftlichen Methoden und Forschungsansätzen ableiten, die dem »handelnden Menschen« keine besonders herausgehobene Stellung einräumen und deren Geschichtsdarstellungen weitgehend ohne narrative Strukturen auskommen. Gleichwohl macht er mit seiner Theorie der geschichtlichen Welt ein Theorieangebot, das es erlaubt, den Zusammenhang von »Geschichte als Erinnerung« und »Geschichte als Forschung« besser zu verstehen und womöglich nicht völlig abreißen zu lassen. Ausgehend von Diltheys Philosophie des Lebens ergeben sich auch für die heutige philosophische Arbeit eine ganze Reihe von Konsequenzen. Selbst wenn man seinen Gedanken von der partiellen Inkommensurabilität von Denk- und Seinsstrukturen als wesentlichem Charakteristikum einer endlichen Erkenntnisperspektive nicht akzeptieren mag, erscheinen vor seiner Konzeption der Philosophie als einer Wirklichkeitswissenschaft gewisse Verwendungen von Gedanken»experimenten«, Beanspruchungen von Intuitionen und »möglichen Welten« (ihrer inzwischen eingeschliffenen Verwendung in philosophischen Seminaren und Journals zum Trotz) als nicht unproblematisch. Aus Diltheys Infragestellung des Status der Philosophie als selbstgenügsamer begrifflicher Grundlagenwissenschaft werden unmittelbar Fragen der systemischen Wissenszirkulation virulent. Auf der Eingangsseite: was macht eine philosophische Fragestellung zu einer relevanten? Auf der Ausgangsseite: kann es der Disziplin gleichgültig sein, wenn ihre »Resultate« außerhalb der engsten Kreise des Fachs keine Aufnahme finden und auf keinerlei gesellschaftliche und kulturelle Resonanz stoßen? Bündige Antworten bietet Dilthey auch hier nicht (vor allem keine philosophische Produktion nach feuilletonistischem Bedarf), aber doch eine aktuell wertvolle Stimulation der metaphilosophischen Reflexion.
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Das historische Bewusstsein
In dieser Arbeit haben wir Dilthey in erster Linie als Beobachter des Aufbaus der geschichtlichen Welt thematisiert. Dass seinen Ausführungen zu den produktiven und konstruktiven Dimensionen des historischen Bewusstseins in einem gewissen Ausmaß der Charakter von trockenen Versicherungen anhaftete, hat nicht unwesentlich mit dieser Blickrichtung zu tun. Eine jenseits des Rahmens dieser Arbeit liegende, aber der Sache nach notwendige Ergänzung unserer bisherigen Rekonstruktionen läge daher in der möglichst umfassenden Heranziehung von Diltheys Arbeiten der ersten Ordnung, in denen er den Aufbau der geschichtlichen Welt nicht reflektierend nachvollzieht, sondern selbst vollbringt.1244 Im durchschnittlichen Bewusstsein und Erleben begegnet die geschichtliche Welt als eine immer schon »aufgebaute«, vielfältig aufgeteilte, verwaltete, bearbeitete und vollständig eingerichtete, wodurch der erstaunliche Umstand, dass Gruppen von »Eintagsmenschen« ihr Leben vor dem Hintergrund von Zeiträumen führen, gegenüber denen ihre eigene Lebenszeit einen verschwindend kurzen Moment bedeutet, in seiner biologischen Bizarrheit und kulturellen Unwahrscheinlichkeit gar nicht wahrnehmbar ist. Möglicherweise ist er auch zu unwahrscheinlich: »Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen anhalten wollte.«1245
Doch, eben das; sogar sehr präzise die Struktur von der Unhintergehbarkeit des Lebens für das historische Bewusstsein aufgreifend: sich »inmitten der Geschichte an ihr orientieren«.
1244 Die Arbeiten zweiter Ordnung thematisieren die (Resultate, Methoden, Entwicklungen, usw. der) Geisteswissenschaften, die Arbeiten der ersten Ordnung hingegen das historische Material selbst, die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit. Zu den Arbeiten der ersten Ordnung gehören vor allem: GS II, IV, XIII, XIV, XXVI. Vgl. Ermarth 1978: 267–271. 1245 Löwith 1969: 163.
Anhang: Philosophie der Philosophie, eine historische Induktion »Er hätte Philosoph sein können, aber er war zu ehrlich, zu tief ergriffen vom Dasein, zu reich, um es ganz sein zu können.1246
Verschiedentlich wurde im Vorangehenden bereits auf Diltheys funktionalen Philosophiebegriff, auf die sozio-kulturelle Einbettung der Philosophie und auf ihre spezifische Funktion der »Selbstbesinnung« Bezug genommen. Um diese bereits beanspruchten metaphilosophischen Aspekte des Lebensbegriffs nachträglich zu validieren, bietet es sich an, sie mit Diltheys expliziten Ausführungen zur Metaphilosophie abzugleichen und so weiter anzureichern. Sein Philosophieverständnis entwickelt Dilthey ausführlich und zusammenhängend in der Abhandlung über »Das Wesen der Philosophie«; ein relativ später Text, der 1907 erstmalig erschien.1247 Dieser Text bildet zugleich Diltheys ausführlichste Exemplifikation des Prozesses geisteswissenschaftlich-hermeneutischer Begriffsbildung, von dessen Eigentümlichkeiten ebenfalls mehrfach die Rede war, und ist daher auch dazu angetan, Diltheys Arbeitsweise am historischen Material zu verdeutlichen.1248 Wenn das Wesen der Philosophie eigens thematisiert und problematisiert wird, ist dem zu entnehmen, dass an dieser Stelle Selbstverständlichkeiten weggefallen (oder noch nicht etabliert) sind oder zumindest nicht mehr ohne Weiteres überzeugen. Insofern ist »Philosophie« nicht ein beliebiger Gegenstand unter anderen, nach denen die Philosophie so fragt. Abhandlungen dieser Art haben immer auch den Charakter der Selbstvergewisserung und entsprechend häufen sie sich in Zeiten, in denen der Bedarf nach dieser besonders deutlich empfunden wird. Ausgangspunkt für Dilthey ist die überlieferte und auf durchschnittliche Weise vertraute Sammelbezeichnung »Philosophie«.
1246 Eduard Spranger über Dilthey (Spranger 1911a). 1247 Ausdruck und Begriff einer »Philosophie der Philosophie« finden sich bereits in frühen Tagebuchaufzeichnungen: »[…] in der eben berührten Weise verstanden, würde eine Philosophie der Philosophie Kants Unternehmen würdig fortsetzen.« (J 80, 1859); vgl. GS VIII, 206–219, 234; Diwald 1963: 20. 1248 Zur besonderen Problematik »geschichtlicher Begriffe« vgl. GS VII, 279–281; zum exemplarischen Charakter der Philosophie-Abhandlung vgl. GS V, 340–345.
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Anhang: Philosophie der Philosophie, eine historische Induktion
»Wir sind gewohnt, gewisse geistige Erzeugnisse, die im Verlauf der Geschichte bei den verschiedenen Nationen in großer Zahl entstanden sind, unter der Allgemeinvorstellung Philosophie zusammenzufassen.«1249
Ob es etwas Verbindendes hinter oder zwischen den Elementen dieser historisch dokumentierten Mannigfaltigkeit gibt, ein »Bildungsgesetz«, einen »gemeinsamen Sachverhalt«, oder ob die Extension der Allgemeinvorstellung »Philosophie« lediglich als mehr oder weniger kontingente Kollektion anzusehen ist, die sich vielleicht für bibliothekarische Zwecke hinreichend bewährt hat, sich aber nicht überzeugend begrifflich bestimmen lässt, ist zunächst eine offene Frage. »Der Name Philosophie oder philosophisch hat so viele nach Zeit und Ort verschiedene Bedeutungen, und so verschiedenartig sind die geistigen Gebilde, die von ihren Urhebern mit diesem Namen bezeichnet worden sind, daß es scheinen könnte, die verschiedenen Zeiten hätten an immer andere geistige Gebilde das schöne von den Griechen geprägte Wort Philosophie geheftet.«1250
Der historische Befund ist auf den ersten Blick dermaßen heterogen, dass das Wesen der Sache weder der Geschichte des Ausdrucks noch der Geschichte des Begriffs schlicht abgelesen werden könnte. Die Rede vom »Wesen« einer Sache impliziert das Vorliegen eines objektiven Sachverhaltes, so dass die gängigen Allgemeinvorstellungen und der übliche Sprachgebrauch diesem mehr oder weniger entsprechen können, ihn mehr oder weniger treffen. Ob die in den Allgemeinvorstellungen enthaltene »Analysis der empirisch gegebenen komplexen Wirklichkeit« »richtig vollzogen« ist, entscheidet sich daran, inwiefern »die so entstehenden allgemeinen Subjekte von Aussagen [sc. Philosophie, Kunst, Religion, Recht, Wirtschaft] Träger für einen in sich geschlossenen Kreis von fruchtbaren Wahrheiten sein [können]«.1251 Das Kriterium ist also (wiederum) »Fruchtbarkeit«, im Sinne von wissenschaftlicher Anschlussfähigkeit, sachlicher Erschließungskraft und allgemeiner Brauchbarkeit. Die Evaluation der gängigen Allgemeinvorstellungen erfolgt demnach immanent und nicht etwa durch einen Abgleich mit einer apriorisch entworfenen Kulturphilosophie. Eine Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Philosophie durch Ableitung aus »allgemeineren Wahrheiten«, also auf rein begrifflichem Wege, hätte 1249 GS V, 339. 1250 GS V, 339f. 1251 GS V, 342f. Zu denken ist in diesem Zusammenhang wiederum an Platons »κατ᾽ εἴδη διατέμνειν κατ᾽ ἄρθρα πέφυκεν« (Platon, Phaidros 265e). Auf die Verwendung der Fruchtbarkeit als eines differentiellen Kriteriums in hermeneutischen Kontexten kommt überraschenderweise auch ein Autor wie Popper zu sprechen: »they [sc. the historicists] do not see that there is necessarily a plurality of interpretations which are fundamentaly on the same level of both suggestiveness and arbitrariness (even though some may be distinguished by their fertility – a point of some importance).« (Popper 2002: 140, Hervorhebung im Original).
Anhang: Philosophie der Philosophie, eine historische Induktion
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nach Dilthey nun wenig Aussicht auf »allgemeine Anerkennung«.1252 Ergebnis eines solchen Vorgehens wären bloße Begriffskonstruktionen ohne Bezug zur »geschichtlichen Welt«, die ohne gemeinsamen Bezugspunkt zudem höchstwahrscheinlich partikular und divergent ausfallen würden und dann, da sie sich jeweils nur auf die eigene »Intuition« berufen könnten, über keinerlei Ressourcen verfügten, die eine Verständigung in der Sache herbeiführen könnten. Der einzige Weg, diese Frage nicht stipulativ und mit zumindest einiger Aussicht auf allgemeine Anerkennung zu entscheiden, ist für Dilthey der Weg über die (geschichtliche) Erfahrung: das heißt per inductionem, ausgehend vom »geschichtlichen Tatbestand der Philosophie selbst«.1253 Damit setzt Dilthey zu einer Untersuchung an, die ein prominenter Kollege bereits 25 Jahre zuvor angestellt hatte und deren Ergebnis dahingehend lautete: »daß es in alle Wege unmöglich ist, durch historische Induktion einen allgemeinen Begriff der Philosophie zu finden, der alle geschichtlichen Erscheinungen, die Philosophie genannt werden, und auch nicht mehr unter sich umfaßte.«1254 Zu vermuten ist, dass Wilhelm Windelbands Abhandlung »Was ist Philosophie?« Dilthey nicht unbekannt war, immerhin stellt sie den ersten Beitrag seiner Präludien (1884) dar. Doch selbst wenn dem nicht so sein sollte und Diltheys Abhandlung nicht mit polemischem Seitenblick auf die Arbeit von Windelband verfasst ist (dessen Namen Dilthey in ihrem Rahmen nicht nennt): allein die vollständig übereinstimmende Aufgabenstellung beider Autoren, auf dem Weg einer historischen Untersuchung Aufschluss über den Philosophiebegriff zu erlangen, zusammen mit dem völlig entgegengesetzten Ergebnis, zu dem sie jeweils gelangen, lädt dazu ein, beide Arbeiten nebeneinander zu lesen. Ein Versuchsaufbau, der größtmögliche Kontraste bei der Beleuchtung der jeweiligen Vorgehensweisen verspricht.
1252 GS V, 343. 1253 GS V, 340. Das methodische Vorgehen, das Dilthey in dieser Abhandlung an den Tag legt, deckt sich weitgehend mit dem von William James in The varieties of religious experience (1902). 1254 Windelband 1915a: 10 (Hervorhebung im Original). Katherina Kinzel vergleicht beide Autoren hinsichtlich ihres Umgangs mit dem historischen Relativismus und kommt zu dem Ergebnis, dass sich Diltheys und Windelbands Strategien strukturell kaum unterscheiden (vgl. Kinzel 2019: 38). In unserer Rekonstruktion der Philosophie-Abhandlung wird deutlich, dass hier die Weltanschauungslehre keineswegs in der von Kinzel beschriebenen Weise zu einer Enthistorisierung der Philosophie führt (»By making philosophy into something ahistorical, Dilthey has thus removed the historical element of relativism.«, S. 37). Diltheys Typenlehre deckt nur einen formalen Aspekt der historischkonkreten Weltanschauungen ab (den Zusammenhang zur seelischen Struktur) und bleibt zudem letztlich induktiv von diesen abhängig (s. o. Abschnitt 3.2.2).
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A.1
Anhang: Philosophie der Philosophie, eine historische Induktion
Windelbands Versuch einer Definition
Der anfängliche Befund ist zwischen Windelband und Dilthey noch unstrittig. Schon ein kurzer Blick in die Philosophiegeschichte zeige eine große, kaum überschaubare Uneinheitlichkeit in der Verwendung des Ausdrucks »Philosophie«. Windelband versucht dem historischen Material eine Philosophiedefinition abzugewinnen, indem er sich am Standardvorgehen zur Aufstellung von Definitionen orientiert: »Angabe des nächst höheren Gattungsbegriffs und des artbildenden Merkmals«.1255 Als Gattungsbegriff dient ihm »derjenige der Wissenschaft«. Zwei der Einwände, die sich gegen diese Subsumtion der Philosophie unter den Oberbegriff Wissenschaft vorbringen lassen, hält Windelband für unproblematisch. In der Zeit der Vorsokratiker und bis zu Aristoteles – so der erste Einwand – ließen sich Wissenschaft und Philosophie überhaupt noch nicht unterscheiden, wären noch nicht gegeneinander profiliert oder voneinander abgehoben, somit könnte man für diesen Zeitraum auch noch nicht von einem Über- oder Unterordnungsverhältnis beider sprechen. Da aber die zeitweilige Identität von Wissenschaft und Philosophie dem Wissenschaftscharakter der Philosophie keinen Abbruch tue (denn im Grunde falle dann bloß der artbildende Unterschied aus), wäre diese Konstellation von Wissenschaft und Philosophie im Sinne eines unproblematischen Grenzwertes akzeptabel. Der zweite Einwand weist auf unwissenschaftliche Elemente in verschiedenen philosophischen Lehren hin. Dem entgegnet Windelband, diese seien als vorwissenschaftliche Restbestände anzusehen, die bei einem fortgeschritteneren Entwicklungsstand der Philosophie eine angemessene Behandlung finden werden oder schlicht aufgegeben werden würden. Zwei weitere Einwände wertet er hingegen als schlagend. »Bedenklich schon würde jene Unterordnung, wenn sich zeigen ließe – und es läßt sich zeigen und ist gezeigt worden –, daß die Aufgaben, welche die Philosophen nicht nur gelegentlich sich gestellt, sondern als ihr eigentliches Ziel bezeichnet haben, auf dem Wege wissenschaftlicher Erkenntnis nun [nie?, MJT] und nimmer zu lösen sind.«1256
Windelband denkt hier an den »zunächst von Kant erbrachte[n] und seitdem in vielen Variationen wiederholte[n] Beweis von der Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Begründung der Metaphysik«.1257 Neben diese durchaus problematische objektive Unwissenschaftlichkeit trete nun zudem eine subjektive, denn selbst das Ziel, dass Philosophie zur Wissenschaft erhoben werden solle, werde nicht allgemein geteilt. Sei es, weil das theoretische Interesse anderen Belangen untergeordnet (religiösen, politischen, technischen, eudämonisti1255 Windelband 1915a: 2. 1256 Windelband 1915a: 3. 1257 Ebd.
Windelbands Versuch einer Definition
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schen, moralischen, etc.) oder weil zu letztlich unüberprüfbaren Erkenntnisquellen Rückzug genommen werde (geniale Auffassung, ursprüngliche Intuition, göttliche Offenbarung, Stimme des Gewissens).1258 Damit hält Windelband den Versuch, auf historischem Weg Wissenschaft als Oberbegriff der Philosophie zu etablieren, für gescheitert.1259 (Zu einem Versuch mit einem anderen Oberbegriff kommt es nicht.) Die Bemühung, der Geschichte eine überzeugende differentia specifica zu entnehmen, wird nicht erfolgreicher sein. Nach gängiger Vorstellung lassen sich Wissenschaften hinsichtlich ihrer Methode und ihres Gegenstandes klassifizieren. Für diesen stellt Windelband ernüchtert fest: »Die Geschichte zeigt vielmehr, daß im Umkreise dessen, worauf sich die Erkenntnis richten kann, nichts ist, was nicht schon irgend einmal in die Philosophie hineingezogen, und ebenso nichts, was nicht schon irgend einmal von ihr ausgeschlossen worden wäre.«1260
Und auch der Versuch, die Philosophie anhand ihrer Methode von anderen Wissenschaften zu unterscheiden, scheitert, »aus dem einfachen Grunde, weil selbst unter denjenigen Philosophen, welche für ihre Wissenschaft eine besondere Methode in Anspruch nehmen (und das sind bei weitem nicht alle) nicht die geringste Übereinstimmung hinsichtlich dieser ›philosophischen Methode‹ obwaltet.«1261
Ein einziges Gegenbeispiel ist für Windelband im Übrigen ausreichend, um einen Definitionsversuch scheitern zu lassen. Er verlangt für eine Philosophiedefinition strenge logische Allgemeinheit.1262 Aufgrund der hoffnungslosen Uneinheitlichkeit bei der Abgrenzung eines genuin philosophischen Gegenstandbereiches und der Auszeichnung einer genuin philosophischen Methode und wegen des Widerstands gegenüber dem Versuch, Philosophie dem Oberbegriff »Wissenschaft« zu subsumieren, steht für Windelband schnell fest, dass für die Gewinnung eines allgemeinen Philosophiebegriffs aus der Geschichte keinerlei Aufschluss zu gewinnen ist. Windelbands Vorgehen bis hierher lässt sich folgendermaßen charakterisieren:
1258 Vgl. Windelband 1915a: 4. 1259 Vgl. Windelband 1915a: 6. 1260 Windelband 1915a: 9.Vorausgesetzt natürlich man investiert nicht bereits ein Philosophieverständnis, das auf einen bestimmten Gegenstand festgelegt ist, und schließt dann alle Formen von Philosophie, die dieser Vorgabe nicht entsprechen, von vornherein aus der Betrachtung aus (vgl. Windelband 1915a: 7–9). Auf diese besonders den Philosophiehistoriker betreffende Schwierigkeit weist ganz ähnlich auch Dilthey hin (vgl. GS V, 340). 1261 Windelband 1915a: 9. 1262 Vgl. Windelband 1916b: 10 (»[…] bei der logischen Bedeutung, welche einer negativen Instanz beiwohnt, auch wenn sie nur geringsten Umfanges ist […]«).
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– sein Desiderat (Begriff der Philosophie) begreift er als das Aufstellen einer Begriffsdefinition gemäß einer dihairetischen Struktur; – von einer Definition wird Allgemeingültigkeit im strengsten logischen Sinn verlangt; – der einzige Kandidat eines Oberbegriffs, den er diskutiert, ist »Wissenschaft«; – Wissenschaft als Oberbegriff entspricht einem gängigen Vorverständnis von Philosophie, das nicht eigens reflektiert wird; – zwei Dimensionen, innerhalb derer eine differentia specifica zu finden sein könnte, sind gesetzt: Methode und Gegenstand; – zu besonderen methodologischen Reflexionen besteht für Windelband offenbar kein Anlass.
Auf diesem methodologischen Gerüst ruht Windelbands Suche nach einer Philosophiedefinition, die angemessen und hinreichend trennscharf ist. (»Angemessen« und »trennscharf« hier zu verstehen als: in Bezug auf die zu beobachtende Verwendung des Ausdrucks »Philosophie«.) Man könnte sagen, Windelband konstruiert im »armchair« verschiedene Graphen und prüft, ob die historischen Befunde »auf der Linie« liegen, wobei er sich auf die Variation von zwei Variablen beschränkt. An just ein solches Verfahren scheint Dilthey gedacht zu haben, wenn es bei ihm heißt: »Die methodische Frage wäre freilich sofort gelöst, wenn diese Begriffe [sc. Allgemeinbegriffe in den Geisteswissenschaften] aus allgemeineren Wahrheiten abgeleitet werden könnten: dann würden die Schlüsse aus den einzelnen Tatbeständen nur als Ergänzungen zu dienen haben.«1263
A.2
Geisteswissenschaftliche Begriffsbildung
Wie geht dagegen nun Dilthey vor? Wie gesehen, hält er den Versuch für abwegig, sich dem Wesen der Philosophie – vom Philosophiebegriff ist bei ihm zunächst nicht die Rede – derart zu nähern, dass man einen übergeordneten Gattungsbegriff in geeigneter Weise spezifiziert. Dilthey kennzeichnet das vorliegende Problem, wie »aus dem historischen Tatbestande das Wesen der Philosophie zu bestimmen sei«, gleich zu Beginn seiner Abhandlung als exemplarisch für »ein allgemeineres methodisches Problem der Geisteswissenschaften«.1264 An einem zentralen Fall (hier eben am Beispiel der Philosophie) soll also die Struktur geisteswissenschaftlicher Begriffsbildung überhaupt demonstriert werden. Eine erste Orientierung in der Sache lautet: »In der geisteswissenschaftlichen Methode liegt die beständige Wechselwirkung des Erlebnisses und des Begriffs. […] Kein Begriff soll in diesem [sc. geisteswissenschaft1263 GS V, 343. 1264 GS V, 340.
Geisteswissenschaftliche Begriffsbildung
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lichen] Bewusstsein sein, der sich nicht geformt hat an der ganzen Fülle des historischen Nacherlebens, kein Allgemeines soll in ihm sein, das nicht Wesensausdruck einer historischen Realität ist.«1265
Ein erstes Allgemeines liege bereits in der Frage nach dem Wesen der Philosophie. Denn durch sie werde, so Dilthey, die »komplexe Wirklichkeit« mittels einer »Allgemeinvorstellung« aufgeteilt in Philosophie und Nicht-Philosophie. »Das wissenschaftliche Denken hat nun den in diesen Allgemeinvorstellungen bereits enthaltenen Schematismus zu seiner Grundlage. Es muß aber seine Richtigkeit erst der Prüfung unterwerfen. Denn es ist gefährlich für die Geisteswissenschaften, diese Allgemeinvorstellungen hinzunehmen, da das Auffinden von Gleichförmigkeiten und Gliederung davon abhängig ist, ob auch wirklich ein einheitlicher Sachverhalt in ihnen zum Ausdruck kommt. Sonach ist das Ziel der Begriffsbildung auf diesem Gebiete, das Wesen der Sache zu finden, das schon in der Allgemeinvorstellung und Namengebung bestimmend war, und von ihm aus die unbestimmte, ja vielleicht fehlerhafte Allgemeinvorstellung zu berichtigen und zu eindeutiger Bestimmtheit zu erheben.«1266
Ausgangs- und Ansatzpunkt der wissenschaftlichen Untersuchung ist demnach die Allgemeinvorstellung »Philosophie«; allgemein zum einen, da sie verschiedene wiederkehrende »Züge« der komplexen Wirklichkeit hervorhebt, und zum anderen, da sie allgemein geteilt ist und damit als Grundlage gelingender Kommunikation fungieren kann. Dilthey scheint also unter einer »Allgemeinvorstellung« so etwas wie ein geteiltes Vorverständnis einer Sache zu verstehen, das zunächst als vorwissenschaftlich, da noch ungeprüft, einzustufen ist. Im Zuge einer (geistes)wissenschaftlichen Untersuchung finde dann die Prüfung und gegebenenfalls die Korrektur einer solchen vorläufigen Allgemeinvorstellung statt. Eine vorsichtige Präsumtion gehe aber von vornherein dahin, dass mit ihr ein »einheitlicher Sachverhalt« herausgegriffen werde; das werde bereits durch ihr Vorliegen und ihre Verbreitung nahegelegt. (Da diese Allgemeinvorstellung sprachlichen Niederschlag und allgemeine Verwendung gefunden hat und weiter findet, ist davon auszugehen, dass sie einen Unterschied markiert, der aus Gründen seiner Relevanz, Informativität, Orientierungsleistung für bemerkenswert erachtet wird.)1267 Davon auszugehen, dass sie sich als Name einer zufälligen Kollektion herausstellen könnte, gibt es zunächst keinen guten Grund. Bemerkenswerterweise kommt Windelband hingegen zu genau diesem Schluss. »Es geht, scheint es, den Philosophen so, wie etwa allen den menschlichen Individuen, welche den Namen Paul tragen, und bei denen auch niemand ein gemeinsames Merkmal aufweisen könnte, um dessenwillen sie alle diesen gemeinsamen Namen 1265 GS V, 341. Die entscheidenden Stichwörter sind inzwischen bekannt: Wechselwirkung, Erlebnis, Nacherleben, historische Realität (s. o.). 1266 GS V, 343. 1267 »[…] a difference which makes a difference […]« (Bateson 2000: 459).
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tragen. Alle Namengebung beruht auf historischer Willkürlichkeit und kann sich deshalb von dem Wesen des zu Benennenden mehr oder minder unabhängig und fern halten, und so scheint, wenn man den ganzen Verlauf der Zeiten in Betracht zieht, auch für den Namen »Philosophie« zu gelten, daß der Gemeinsamkeit des Wortes keine Einheitlichkeit des begrifflich zu bestimmenden Wesens entspricht.«1268
Auch wenn Windelband bei dieser Position nicht bleiben wird (darauf deutet hier bereits die wiederholte Betonung der Scheinbarkeit), ist es doch sehr bezeichnend, dass er den Ausdruck »Philosophie« zunächst wie einen Eigennamen behandelt, der im Laufe der Geschichte von verschiedensten Sprachbenutzern gleichsam ad hoc und punktuell beliebigen Phänomenen verliehen wird. Demgegenüber entsteht in Diltheys Diskussion der Allgemeinvorstellung ein völlig anderes Bild: auch wenn man dem Ausdruck »Philosophie« zur Zeit seiner Prägung möglicherweise den Charakter eines Eigennamens zuschreiben kann, so verliert er ihn doch in dem Moment weitgehend, in dem eine Tradition der Ausdrucksverwendung entsteht, und zwar in dem Sinne, dass die zurückliegenden Verwendungen des Ausdrucks maßgeblich für die folgenden Verwendungen werden. (Vielleicht ist es nicht unplausibel, selbst für die Benennung von Kindern eine ähnliche Dynamik anzunehmen.) Es ist somit seine Verwendungstradition, die dem Ausdruck »Philosophie« nach und nach immer mehr Gehalt verleiht. Diesem wesentlichen Aspekt kann Windelbands Analogie zur Verwendung von Eigennamen nicht Rechnung tragen, da Eigennamen (im Unterschied zu Allgemeinvorstellungen) keine Intension besitzen. Somit lässt sich als ein Element von Diltheys Auffassung der spezifisch geisteswissenschaftlichen Begriffsbildung festhalten: vermittelt über Allgemeinvorstellungen sind geisteswissenschaftliche Begriffe Teil einer Verwendungstradition und gewinnen in ihrem Verlauf einen eigenen Gehalt (anders als Eigennamen und auch anders als naturwissenschaftliche Ausdrücke).1269 »Im Begriff der Philosophie liegt nicht nur ein allgemeiner Sachverhalt[,] sondern auch ein Zusammenhang derselben – ein historischer Zusammenhang. […] jede lebendige[!] philosophische Arbeit entsteht in dieser Kontinuität, und die Vergangenheit der Philosophie wirkt in jedem einzelnen Denker, so daß er, auch wo er an der Lösung des großen Rätsels verzweifelt, durch diese Vergangenheit zu seiner neuen Position bestimmt ist. So bilden alle Stellungen des philosophischen Bewußtseins, alle Begriffs-
1268 Windelband 1915a: 11. 1269 Die Nähe zu Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung liegt auf der Hand. Auch Windelband rechnet damit, dass sich »auf kürzere Zeiträume oder auf einzelne Kulturkreise« ein »konstanter Sinn« des Namens »Philosophie« stabilisieren wird, reflektiert diesen Umstand aber nicht weiter und räumt ihm auch für seine Fragestellung keine besondere Bedeutung ein (vgl. Windelband 1915a: 11).
Der Zirkelcharakter der Untersuchung und der Ort der Philosophie
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bestimmungen der Philosophie, in denen diese Stellungen zum Ausdruck gelangen, einen historischen Zusammenhang.«1270
Während Windelband, gestützt auf einen übergeordneten Begriff, ein enges Schema denkbarer Philosophiedefinitionen konstruiert und diese dann mit dem historischen Material abgleicht, setzt Dilthey beim gängigen Vorverständnis von »Philosophie« an, weil dieses offenkundig die Ausgangsfrage überhaupt erst motiviert und vor allem weil sich in ihm der Einfluss einer Tradition der Ausdrucksverwendung auf den jeweils aktuellen Sprachgebrauch manifestiert. Diese Tradition, zu der wesentlich auch philosophische Definitionsversuche aus dem Ohrensessel gehören, betrachtet er als relevanten und maßgeblichen Bestandteil der Ausdrucksbedeutung.
A.3
Der Zirkelcharakter der Untersuchung und der Ort der Philosophie
Von der im Rahmen seiner methodologischen Vorbesinnung thematisierten Rolle der Allgemeinvorstellungen wird Dilthey auf den womöglich problematischen Zirkelcharakter seines Vorgehens geführt. (Eine ähnliche Thematisierung der Rolle von Vorverständnissen findet sich bei Windelband nicht. Für ihn scheint das Problem unerheblich, solange der Historiker seinen »offenen Blick« wahrt.)1271 »Die Begriffsbildung scheint einem Zirkel zu verfallen. Der Begriff der Philosophie kann ganz so wie der der Kunst oder der Religiosität oder des Rechts nur gefunden werden, indem aus den Tatbeständen, welche sie bilden, die Beziehungen der Merkmale abgeleitet werden, welche den Begriff konstituieren. Hierbei wird schon eine Entscheidung darüber vorausgesetzt, welche psychischen Tatbestände als Philosophie zu bezeichnen sind. Diese Entscheidung konnte aber von dem Denken doch nur vollzogen werden, wenn es bereits im Besitz von Merkmalen war, die zureichen, um an den Tatbeständen den Charakter der Philosophie festzustellen. So scheint man schon wissen zu müssen, was Philosophie sei, wenn man mit der Bildung dieses Begriffes aus Tatsachen anfängt.«1272
Diesem Gedankengang Diltheys lässt sich entnehmen, dass er die Sache, die der Ausdruck »Philosophie« letztlich meint, (ebenso wie im Fall von »Kunst«, »Re-
1270 GS V, 346. Dieser »historische Zusammenhang« ist offenbar Teil des »Wirkungszusammenhangs« (vgl. GS VII, 156f). 1271 Windelband 1915a: 6. 1272 GS V, 343 (Hervorhebung hinzugefügt).
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ligiosität«, »Recht«) zur geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit zählt.1273 Nach seinem Verständnis ist Philosophie etwas, das wir dahingehend auffassen sollten, dass es sich auf dem Boden der empirischen Realität konstituiert, im historischen Verlauf entfaltet und im Zuge dessen dann auch Theorien und Selbstverständnisse freisetzt, die in ganz robustem Sinne einen Wahrheitsanspruch erheben. Mithin ist Philosophie primär als soziale Praxis aufzufassen, »als eine lebendige Funktion im Individuum und der Gesellschaft«.1274 Erst im Rahmen dieser sozialen Praxis finden dann philosophische Systeme ihren Ort, werden aus ihr heraus verständlich. Nun ist zu beobachten, dass an einigen wenigen dieser philosophischen Theorien sich Generation für Generation die Allgemeinvorstellung »Philosophie« bildet. »Es gibt philosophische Systeme, die sich vor allen anderen dem Bewußtsein der Menschheit eingeprägt haben, und an denen man sich ständig über das orientiert hat, was Philosophie sei. Demokrit, Platon, Aristoteles, Descartes, Spinoza, Leibniz, Locke, Hume, Kant, Fichte, Hegel, Comte haben Systeme dieser Art geschaffen.«1275
Der Ausdruck »Philosophie« wird also in der Regel über ausgezeichnete Exemplifikationen eingeführt, d.i. vermittelt und gelernt, anhand einer überschaubaren Menge konkreter Philosophien, über deren genaue Zusammensetzung sich natürlich streiten lässt, deren Kern aber im Wesentlichen aus besonders klaren Fällen von »Philosophie« besteht. »Dieselben tragen gemeinsame Züge, und an diesen gewinnt das Denken einen Maßstab dafür, wiefern auch andere Systeme dem Gebiete der Philosophie eingeordnet werden können.«1276
Es erinnert frappierend an Wittgenstein: der Ausdruck »Philosophie« wird vermittelt nicht über eine Definition, sondern anhand einer kleinen Kollektion besonders klarer Fälle, den Klassikern1277 eben, deren »gemeinsame Züge« nach und nach ins Bewusstsein treten. An diesen eminenten Exemplaren orientiert sich dann auch die weitere Sprachverwendung: weitere klare Fälle werden in die Menge der Philosophien aufgenommen, während an der Peripherie zunehmend unklare Grenzfälle auftreten. (Auch von dieser Sicht auf den Erwerb des Aus1273 Die irritierende Rede von »psychischen Tatbeständen« dürfte im Sinne von »geistigen« zu verstehen sein und bezieht sich dann auf Lebensobjektivationen, also auf den objektiven Geist. 1274 GS V, 345. 1275 Ebd. 1276 Ebd. 1277 Vgl. GS V, 346; Gadamer 2010: 290–295: »Das Klassische ist gerade dadurch eine wahrhaft geschichtliche Kategorie, daß es mehr ist als ein Epochenbegriff oder ein historischer Stilbegriff und daß es dennoch nicht ein übergeschichtlicher Wertgedanke sein will.« (S. 292).
Design eines hermeneutischen Verfahrens
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drucks und des Begriffs her, ist es von vornherein unplausibel anzunehmen, dass »Philosophie« analog zu »Paul« verwendet werden könnte.) Die wissenschaftliche Frage nach dem Wesen der Philosophie gestaltet sich bei Dilthey also zunächst als methodische Rekapitulation des Spracherwerbs.
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Design eines hermeneutischen Verfahrens
Was sind nun aber die gemeinsamen Züge der eminenten philosophischen Systeme? Dilthey erwähnt zunächst gewisse »Züge formaler Natur«. Anders als die einzelwissenschaftlichen Theorien zielen sie nicht auf einen bestimmten Gegenstandsbereich, sondern nehmen typischerweise das Ganze in den Blick. »Sie tragen den Charakter der Universalität«; interessieren sich für Zusammenhänge, auch über die Grenzen der Einzelwissenschaften hinaus.1278 Ferner legen sie besonderen Nachdruck auf die Begründung von Überzeugungen und zwar »bis der letzte Punkt […] erreicht ist«.1279 Es handelt sich also um Theorien des Ganzen mit maximalem Begründungsanspruch. Daneben meint Dilthey aber auch, inhaltliche Gemeinsamkeiten aufweisen zu können, und nennt: »Kampf mit dem Rätsel des Lebens und der Welt«, »Richtung auf die Festigung und Gestaltung der Persönlichkeit, auf das Durchsetzen der Souveränität des Geistes«, auf Bewusstmachung des Unbewussten.1280 Mit anderen Worten: generalisierende Letztorientierungen, Orientierung an Gewissheit und Emanzipation, Explikation von Voraussetzungen. Damit ist auch das anfänglich zu investierende Vorverständnis vorläufig expliziert. Wie läuft das Verfahren weiter? Wie kommt es zu einer Einordnung derjenigen Fälle, die nicht zur das Wesen exemplifizierenden Menge gehören? »Diese Unsicherheit [sc. in bezug auf die Grenzen, innerhalb deren [sic] Systemen der Name Philosophie, Arbeiten die Bezeichnung philosophisch beigelegt wird] kann nur überwunden werden, wenn man zunächst sichere, wenn auch unzureichende Bestimmungen der Philosophie feststellt und von diesen aus durch neue Verfahrungsweisen zu weiteren Feststellungen gelangt, welche allmählich den Gehalt des Begriffs der Philosophie ausschöpfen. Die Methode kann also nur sein, durch einzelne Verfahrungsweisen, deren jede für sich eine allgemeingültige und vollständige Auflösung der Aufgabe noch nicht gewährleistet, doch schrittweise die Wesenszüge der Philosophie genauer abzugrenzen und den Umfang der unter sie fallenden Tatbestände fester zu umschreiben und schließlich aus der Lebendigkeit der Philosophie abzuleiten, warum Grenzgebiete übrigbleiben, die eine reinliche Umfangsbestimmung nicht gestatten.«1281 1278 1279 1280 1281
GS V, 345. GS V, 346. Ebd. GS V, 344f.
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Diltheys Rede von »neuen Verfahrungsweisen« ist hier irreführend. Was er im Sinn hat, wie es sich zumindest aus dem Fortgang entnehmen lässt, sind gerade keine neuen im Sinne von: anderen, zusätzlichen Verfahren, sondern: Wiederholungen desselben Verfahrens.
Schema 4; eigene Darstellung
Die Ausgangsextension (die Menge der eindeutigen Klassiker) bildet die Grundlage. Ihnen werden verbindende Züge abgelesen, die dann die Allgemeinvorstellung, im Sinne einer ersten Begriffsintension bilden. Anhand dieser vorläufigen Bedeutung von »Philosophie« werden die Elemente von geeigneten Gegenstandsbereichen (Texte, Theorien, Lehren, Lehrer, Schulen, Texturheber, usf.) klassifiziert nach »Philosophie« und »Nicht-Philosophie«. Dann wird das Verfahren im nächsten Schritt auf sich selbst zurückgebogen: die gegenüber der Ausgangsextension angereicherte Menge (Extension »Philosophie«) wird als neue Extension Ausgangspunkt des nächsten Durchgangs, an ihr bildet sich eine zweite Allgemeinvorstellung. Diltheys Verfahren ist damit wesentlich auf Iteration angelegt: Ziel ist »das [ jeweilige] Resultat zu erproben und durch eine tiefer reichende Einsicht zu ergänzen«. In jedem Umlauf reichert sich so die Begriffsintension weiter an und verdeutlichen sich auch (bis zu einem gewissen Grad) die Grenzen der Extension. Beabsichtigt ist demnach nicht, den Zirkelcharakter der Unternehmung zu vermeiden, sondern ihn hochzustilisieren zu einem methodisch kontrollierten Verfahren.1282 1282 Vgl. Aron 1969: 89–91. Auch wenn in den einzelnen Schritten des Verfahrens weiterhin »Urteilskraft« erforderlich ist, liegt doch in der Offenlegung und Explikation des hermeneutischen Vorgehens (gegenüber einer zum Snobismus neigenden, scheinbar vollständig intuitiven Urteilsfindung (vgl. Hampe 2016: 122–128)) ein egalitärer Zug und ein Schritt in Richtung intersubjektiver Nachvollziehbarkeit. Thomas Seebohm unterscheidet hilfreich zwischen Diltheys allgemeiner Theorie des Verstehens (die dieser nie »Hermeneutik« nenne (S. 335)) und seinem Beitrag zur methodischen Hermeneutik, also zu konkreten Verfahren und Prinzipien der Textauslegung (vgl. Seebohm 1984: 335–344).
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Wie wird aber nun sichergestellt, dass dieses Verfahren auf der Spur bleibt und nicht etwa ausbricht und ein ganz anderes »Wesen« als das beabsichtigte abbildet? Zunächst wohnt bereits dem Verfahren selbst ein Hang zur Selbstkorrektur inne. Der Fall, dass nach einem Durchgang die Extension zu vorsichtig erweitert wurde, scheint unproblematisch, da er – insofern die Startextension nur »sichere« Kandidaten umfasst und bei der Auswahl der Ergänzungen ebenfalls die relativ klarsten Fälle bevorzugt werden – schlimmstenfalls das Verfahren verlangsamt, das heißt: mehr Durchgänge erforderlich macht. Sollten hingegen in einem Durchgang zu viele neue Fälle in die Extension aufgenommen werden, ist ab einem gewissen Punkt ein Rückschlag auf der Ebene der Intension zu erwarten. Ist die Extension zu inklusiv gewählt und daher möglicherweise zu heterogen, wird sich die Begriffsintension nicht weiter anreichern lassen, womit eine gewisse Grenze erreicht wäre. Zieht man allerdings in Betracht, dass Dilthey die Begriffsintension als recht offene Liste von disjunktiv verbundenen »gemeinsamen Zügen« versteht, erfordert die eben beschriebene Anreicherung der Intension doch eine zusätzliche Qualifizierung. Denn sobald die einzelnen Elemente der Intension nicht (wie bei Windelband) den Status notwendiger Eigenschaften haben, ist es ja prinzipiell immer möglich, auch auf eine zu großzügige Erweiterung der Extension durch die Aufnahme eines neuen Zugs in die bisherige Intension zu reagieren. Daher muss durchaus irgendwie sichergestellt werden, dass die Erweiterungen der Intension nicht beliebig erfolgen. »Damit [sc. dem Vorgang der Erprobung und Ergänzung] ist dann die Grundlage gegeben, die Stellung der so gewonnenen Wesenszüge der Philosophie zu dem Strukturzusammenhang des Individuums und der Gesellschaft zu untersuchen, Philosophie als eine lebendige Funktion im Individuum und der Gesellschaft zu erfassen und so die Züge zu einem Wesensbegriff zu verbinden, von welchem aus das Verhältnis der einzelnen Systeme zur Funktion der Philosophie verstanden, die systematischen Begriffe von der Philosophie an ihren Ort eingestellt und die fließende Grenze ihres Umfangs deutlicher gemacht werden kann.«1283
Es gilt also, die sich aus dem Iterationsverfahren ergebenden Wesenszüge zu integrieren und zwar mit Blick auf eine plausible gesellschaftliche und individualpsychologische funktionale Einbettung der sozialen Praxis »Philosophie«, in der sich dann auch die philosophischen Texte und Theorien verorten lassen. Einen Hinweis, welche Funktionen hier als plausibel gelten können und welche nicht, gibt Dilthey an dieser Stelle nicht. Damit entsteht das Problem, dass die Beliebigkeit, die im ersten Iterationsverfahren gerade eingedämmt werden sollte, schlicht in die Funktionsbestimmung der Philosophie verschoben wird. Damit wäre zwar immer noch ein Gewinn an Verfahrensrationalität gegeben, aber eine 1283 GS V, 345.
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vollends befriedigende Lösung sähe anders aus. Um eine petitio principii zu vermeiden, ist natürlich ausgeschlossen, an dieser Stelle auf die Funktionszuschreibung, die am Ende der Abhandlung erfolgen wird, vorzugreifen. Den Textbestand extrapolierend, liegt folgender Vorschlag nahe: neben dem Iterationsverfahren zur Textsortierung könnte ein gleichstrukturiertes Verfahren zur Bestimmung der individualpsychologischen und gesellschaftlichen Funktionen der Philosophie etabliert werden. Damit wäre ein Korrekturmoment für beide Verfahren gewonnen (sprich: Beliebigkeit vermieden), insofern als nun darauf zu achten wäre, dass die sich in beiden Verfahren anreichernden Befunde anschlussfähig für einander bleiben. Damit ist die Darstellung der konkreten Ausgestaltung einer historischen Induktion für beide Autoren abgeschlossen. Bevor ein abschließender Vergleich zwischen ihnen angestellt werden kann, ist es nötig, auch die jeweils erreichten Ergebnisse darzustellen und einzuordnen.
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Windelbands Blick auf die Philosophiegeschichte
Zunächst zu Windelband. Sein oben bereits angeführtes negatives Resultat bleibt bestehen (kein allgemeingültiger Begriff der Philosophie auf dem Weg historischer Induktion), allerdings, und auch darauf wurde bereits hingewiesen, ist das nicht sein letztes Wort. Nicht zuletzt dem Philosophiehistoriker Windelband ist nicht recht wohl bei dem Gedanken, es dabei zu belassen. »denn bliebe es [sc. das Resultat der historischen Betrachtung] ohne Ergänzung, so würde dadurch eine allgemeine Geschichte der Philosophie sinnlos werden. Sie hätte dann gerade so viel Wert, wie etwa wenn es jemandem einfallen wollte […], eine Geschichte aller Menschen zu schreiben, welche Paul geheißen haben.«1284
Die Geschichte gewähre zwar keinen Aufschluss über einen allgemeinen Philosophiebegriff, gleichwohl aber lasse sich ihr Wertvolles in Bezug auf die Verwendung des Namens »Philosophie« entnehmen. »Wenn trotz aller Wunderlichkeit individueller Digressionen die Geschichte des Namens ›Philosophie‹ der Ausdruck einer in dem Zusammenhange des Kulturlebens der europäischen Menschheit tief bedeutsamen Entwicklung ist, so behält die Geschichte dieses Namens und der darunter begriffenen besonderen Erscheinungen nicht allein trotz, sondern gerade wegen dieses Wechsels der Bedeutung einen selbständigen und wertvollen Sinn. Nicht anders aber verhält es sich damit in der Tat: und nur, wenn man sich diese Geschichte des Namens Philosophie klar gemacht hat, wird man auch be-
1284 Windelband 1915a: 11.
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stimmen können, was in Zukunft mit dem Anspruch auf mehr als individuelle Gültigkeit berechtigt sein soll, diesen Namen zu tragen.«1285
Es wirkt ein wenig, als würde sich Windelband mit seinem Übergang zur Geschichte der Verwendung des Ausdrucks »Philosophie« der Position Diltheys annähern. Dafür spricht etwa, dass nun ähnlich wie bei diesem vom »Zusammenhange des Kulturlebens« die Rede ist und zudem soll auch nach Windelbands Auffassung die Geschichte der Namensverwendung einem künftigen legitimen Sprachgebrauch als Maßstab dienen. Wenn diese Geschichte im »[Wechsel] der Bedeutung einen selbständigen und wertvollen Sinn« behalten soll, scheint das allerdings nur im Zusammenhang mit einem sachlichen Gehalt möglich zu sein. Windelbands Übergang vom Begriff zum Namen hat offensichtlich den Charakter einer Ermäßigung hinsichtlich der theoretischen Ansprüche. In Bezug auf die Geschichte des Namens ist das Ziel offenbar keine Definition mehr und die einzelnen Gehalte, die mit dieser Geschichte in Verbindung stehen, haben auch nicht mehr den Charakter notwendiger Eigenschaften: auch damit ist ein Schritt in Richtung der »Wesenszüge« bei Dilthey getan. Geprägt wurde der Ausdruck »φιλοσοφία«, so setzt Windelbands Durchgang durch die Geschichte des Namens ein, »um die Zeit Platons« und er sei zunächst bedeutungsgleich mit dem deutschen Ausdruck »Wissenschaft« gewesen. Damit sei erstmalig aus dem undifferenzierten Komplex von Weisheits- und Sittenlehren, Maximen der Lebensklugheit, praktisch-technischem Wissen ein Bereich herausgelöst worden, der allein der Neugierde unterstellt war, »um ohne jeden praktischen Zweck, ohne jedes Hinblicken auf religiöse Erbauung oder sittliche Veredelung das Wissen nur um seiner selbst willen zu haben«.1286 Nachdem Windelband auf dieser Spur die Idee eines rein theoretischen Erkenntnisinteresses durch die europäische Kulturgeschichte verfolgt hat, ergibt sich ihm folgendes Muster: »Die Geschichte des Namens der Philosophie ist die Geschichte der Kulturbedeutung der Wissenschaft. […] Die Philosophie einer Zeit ist der Gradmesser für den Wert, welchen diese der Wissenschaft beilegt«.1287
Vom Auftritt Kants an, den er als »die wichtigste Wandlung, welche die Philosophie erfahren hat« bezeichnet, lässt Windelband die historische Darstellung fließend übergehen in die Explikation seines eigenen Philosophiebegriffs.1288 Das
1285 1286 1287 1288
Windelband 1915a: 12. Windelband 1915a: 13 (Hervorhebung im Original). Windelband 1915a: 20f (Hervorhebung im Original). Windelband 1915a: 22.
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liegt insofern nahe, als er davon ausgeht, dass seine Auffassung »nichts weiter ist, als die allseitige Ausführung des kantischen Grundgedankens«.1289 Dafür setzt Windelband bei der Logik an und führt eine Unterscheidung zwischen Urteilen und Beurteilungen ein. »In den ersteren wird die Zusammengehörigkeit zweier Vorstellungsinhalte, in den letzteren wird ein Verhältnis des beurteilenden Bewußtseins zu dem vorgestellten Gegenstande ausgesprochen. Es ist ein fundamentaler Unterschied zwischen den beiden Sätzen: ›dieses Ding ist weiß‹ und ›dieses Ding ist gut‹, obwohl die grammatische Form dieser beiden Sätze ganz dieselbe ist.«1290
Anders als das Urteil ist die Beurteilung prinzipiell nicht erkenntniserweiternd, zudem setze sie »als Maß ihrer selbst einen bestimmten Zweck voraus«.1291 »Der Unterschied zwischen Urteil und Beurteilung ist aber deshalb von höchster Wichtigkeit, weil auf ihm die einzig übrig bleibende Möglichkeit beruht, die Philosophie als eine besondere, schon durch den Gegenstand scharf von den übrigen sich abgrenzende Wissenschaft zu bestimmen. Alle übrigen Wissenschaften nämlich haben theoretische Urteile aufzustellen: das Objekt der Philosophie bilden die Beurteilungen.«1292
Diese Beurteilungen erfolgen nun anhand eines Maßstabs, der nicht etwa einem subjektiven Empfinden oder einer partikularen Zwecksetzung entnommen wird, auf solch einem ephemeren Grund ließe sich auch keine geschlossene und lohnende Wissenschaft aufbauen, sondern der nichts weniger ist als absolut, das heißt so viel wie: in seiner Geltung unabhängig von faktischer Anerkennung.1293 Solche Beurteilungen mit absolutem Geltungsanspruch kennen wir, laut Windelband, in drei Formen und zwar hinsichtlich der Dimensionen von: wahr/ falsch, gut/böse, schön/hässlich. (Die Hedonik, also die Beurteilung nach Lust und Unlust falle als Kandidatin aus, da lediglich subjektiv.) »Es gibt deshalb nur diese drei im eigentlichen Sinne philosophischen Grundwissenschaften: Logik, Ethik und Ästhetik.«1294
Die Aufgabe der Philosophie bestehe nun darin, »die Prinzipien der logischen, ethischen und ästhetischen Beurteilung [festzusetzen]«.1295 Als Ergebnis dieser Unternehmung wäre die Einsicht durchaus denkbar, dass der absolute Gel1289 1290 1291 1292 1293
Windelband 1915a: 29. Windelband 1915a: 29. Windelband 1915a: 31. Windelband 1915a: 32f. Vgl. Windelband 1915a: 36f (»Beurteilungen […], welche absolut gelten, auch wenn sie gar nicht oder nicht allgemein tatsächlich zur Anerkennung gelangen«, S. 37 (Hervorhebung entfernt)); zu diesem Aspekt der Wertlehre Windelbands und Rickerts vgl. GS XXIV, 267– 302 (besonders 301f). 1294 Windelband 1915a: 40. 1295 Windelband 1915a: 43.
Windelbands Blick auf die Philosophiegeschichte
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tungsanspruch auf einem (oder mehreren) dieser Gebiete nicht eingelöst werden könne. Geltungsgrund der Beurteilungen können, wie gesagt, nicht faktisch bestehende Fälle von oder Tendenzen zu ihrer Anerkennung sein, daher führt Windelband einen weiteren zentralen Begriff seiner Philosophiekonzeption ein: »Überall sonach, wo das empirische Bewußtsein diese ideale Notwendigkeit dessen, was allgemein gelten soll, in sich entdeckt, stößt es auf ein normales Bewußtsein, dessen Wesen für uns darin besteht, daß wir überzeugt sind, es solle wirklich sein, ohne jede Rücksicht darauf, ob es in der naturnotwendigen Entfaltung des empirischen Bewußtseins wirklich ist.«1296
Dieses »Normalbewußsein« bezeichnet Windelband selbst als terminologisches Äquivalent zu Kants »Bewusstsein überhaupt«. Es bildet den innersten Kern seiner Vorstellung vom Wesen der Philosophie. »Nichts anderes nun ist die Philosophie als die Besinnung auf das Normalbewußtsein.«1297
Damit nun ist die Philosophie als »die kritische Wissenschaft von den allgemeingiltigen Werten« schließlich zur ordentlichen Wissenschaft erhoben.1298 Sie hat einen eigenen Gegenstand vorzuweisen (die logischen/ethischen/ästhetischen Beurteilungen) und ebenso eine eigene Methode (und zwar die »kritische«, d.i. die Prüfung dieser Geltungsansprüche an einem absoluten Maßstab). Windelbands philosophische Position und seine Konzeption von Philosophie als Wissenschaft der Werte, die sich aus ihr ergibt, er selbst bezeichnet sie als »Kritizismus«, ist damit hinreichend deutlich skizziert.1299 Inwiefern kann Windelband aber seinen Anspruch auf mehr als individuelle Gültigkeit seines Philosophiebegriffs begründen? Zunächst leitet Windelband aus der Ergebnislosigkeit der historischen Untersuchung hinsichtlich des Philosophiebegriffs für jedermann das Recht ab, dasjenige »Philosophie zu benennen, was ihm beliebt«.1300 Eben dieses für sich in Anspruch nehmend, trägt er seinen eigenen systematischen Philosophiebegriff vor und ist sich dabei darüber im Klaren und auch nicht erkennbar beunruhigt, dass auch sein Vorschlag kaum Aussicht auf allgemeine Anerkennung haben dürfte. »Die Philosophie als Wissenschaft vom Normalbewußtsein ist nun selbst ein Idealbegriff, der nicht realisiert ist und dessen Realisierung überhaupt […] immer nur in gewissen Grenzen möglich ist […]«1301
1296 1297 1298 1299 1300 1301
Windelband 1915a: 44 (Hervorhebungen im Original). Windelband 1915a: 45. Windelband 1915a: 29 (Hervorhebung entfernt). Windelband 1915: iv. Windelband 1915a: 28. Windelband 1915a: 47.
412
A.6
Anhang: Philosophie der Philosophie, eine historische Induktion
Überzeugungsaussichten in einem metaphilosophischen Dissens
Die Klassifizierung des Philosophiebegriffs als eines Idealbegriffs beinhaltet nun nicht weniger als eine vollständige Immunisierung gegenüber fehlender faktischer Anerkennung, ganz analog zur absoluten Geltung, wie sie die von der Philosophie untersuchten Beurteilungen beanspruchen. Der Schritt bedeutet aber auch, dass im Lauf der »Philosophie«geschichte der Menschheit der wirkliche Begriff der Philosophie erst mit Kant zu dämmern begonnen habe. Kontrafaktisch müsste man dann sagen: wäre Kant nicht gewesen, wüssten wir heute womöglich immer noch nicht, was Philosophie eigentlich ist.1302 Trotz dieser ideal abgesicherten Unbekümmertheit deutet Windelband doch drei Überlegungen an, die seinen Anspruch auf überindividuelle Geltung seines Philosophiebegriffs stützen sollen. (a) Auf ihn hin lasse sich eine plausible teleologische Interpretation der Philosophiegeschichte entwickeln bzw. von ihm her werde diese verständlich als eine Abfolge von Durchbrüchen, Verdunkelungen usw. jeweils mit Blick auf die Realisierung der Idee der Wissenschaftlichkeit.1303 (b) Er stelle die einzige »heute« verbliebene Möglichkeit dar, Philosophie als Wissenschaft zu begreifen und zu betreiben, denn das Feld der Urteile ist restlos unter den Einzelwissenschaften aufgeteilt.1304 (c) Er erweist sich bereits (und wird sich in zunehmendem Maße erweisen) als Grundlage für Einsichten höchster Relevanz und absoluter Geltung.1305 Besonders große Überzeugungskraft entfaltet Windelbands Position dann, wenn man diese drei Überlegungen in folgendes Verhältnis zu einander setzt: (a) = historischer Aufweis und Legitimation der engen Verknüpfung des Ausdrucks »Philosophie« und des Begriffs »Wissenschaftlichkeit«; (b) = Aufweis der Notwendigkeit, Philosophie als kritische Wert-Wissenschaft zu konzipieren, unter der Bedingung, dass Philosophie eine selbstständige Einzelwissenschaft zu sein hat; (c) = unabhängig von (a) und (b) empfiehlt sich vorliegender Philosophiebegriff durch seine enorme Fruchtbarkeit. Auf diese Weise könnte Windelband sogar zwei voneinander unabhängige Argumente für seinen Philosophiebegriff führen: (a) und (b) bildeten zusammen einen modus ponens und (c) ein selbstständiges Argument. 1302 1303 1304 1305
Vgl. Windelband 1915a: 47–53. Vgl. Windelband 1915a: 28f, 47–49, 53. Vgl. Windelband 1915a: 32, 34. Vgl. Windelband 1915a: 53.
Überzeugungsaussichten in einem metaphilosophischen Dissens
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[P.1] Wenn »Wissenschaftlichkeit« einziges Wesensmerkmal der Philosophie ist, dann ist Windelbands Philosophiebegriff allen andern vorzuziehen, denn nur er ermöglicht die Realisierung dieses Wertes (b). [P.2] Ein Blick in die Philosophiegeschichte zeige, dass Philosophie tatsächlich so aufzufassen ist (a). Ergo … Tritt dazu noch das unabhängige Argument, dass der Kritizismus gegenüber anderen philosophischen Forschungsprogrammen auf eine konkurrenzlose Produktivität verweisen könne, ließe sich (die Gültigkeit der Prämissen vorausgesetzt) Windelbands Position in der Tat eine gewisse und wahrscheinlich sogar recht erhebliche Überzeugungskraft nicht absprechen. Bei einem genaueren Blick lässt sich diese Lesart allerdings nicht halten. Die Engführung von Philosophie und Wissenschaftlichkeit ergibt sich nämlich keineswegs aus der schlichten historischen Betrachtung, und zwar weder als Faktum, noch als Norm. Auch wenn Windelband diese Verknüpfung zunächst tatsächlich als Resultat historischer Untersuchung inszeniert1306, kommen seine späteren Ausführungen der Sache fraglos näher: aus der Idee der Wissenschaftlichkeit als Norm und Auswahlprinzip ergebe sich allererst eine bündige Darstellung der Philosophiegeschichte.1307 Damit erhält aber auch (a) eine konditionale Struktur. Man müsste genauer formulieren: unter Voraussetzung der Idee der Wissenschaftlichkeit als ausschließlichem Wesenskern der Philosophie lässt sich eine überzeugende, plausible, reichhaltige, einheitliche Geschichte der Philosophie erzählen. Wer also auf eine Philosophiegeschichte dieser Art großen Wert legt, lässt sich also möglicherweise auch von (a) für die Idee der Wissenschaftlichkeit als ausschließlichem Wesensmerkmal der Philosophie einnehmen und zusammen mit (b) dann vielleicht sogar für Windelbands Philosophiekonzeption. Doch in dieser Form ist (a) erkennbar zu schwach. Um wirklich Aussicht auf Proselytenmacherei entfalten zu können, müsste mit (a) gezeigt werden, dass nur unter der Voraussetzung der Idee der Wissenschaftlichkeit als Wesenskern der Philosophie sich eine solche Philosophiegeschichte erstellen ließe (oder zumindest die im Vergleich mit anderen überzeugendste/plausibelste/reichhaltigste/einheitlichste/ etc.). Aber das zu zeigen, sind im Text Windelbands nicht einmal Ansätze er-
1306 Vgl. Windelband 1915a: 19f. 1307 Vgl. Windelband 1915a: 48f. Nur Aufgrund dieser Vorentscheidung kann Windelband die Betrachtung alternativer Philosophieauffassungen und ihrer Traditionen ausklammern. Als solche alternative Konzeptionen führt er an: »Unterordnung des Wissens unter das Leben« (Stoa), S. 16; »Dienerin des Glaubens«, »Versuch wissenschaftlicher Entwicklung und Begründung von religiösen Überzeugungen« (Mittelalter), S.17; »Gesamtwissenschaft vom Weltall« (Metaphysik, rationalistische Systeme der Neuzeit), S. 17; »Theorie der Wissenschaft« (Erkenntnistheorie, Wissenschaftslehre), S. 19.
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Anhang: Philosophie der Philosophie, eine historische Induktion
kennbar (und auch der Sache nach dürfte der Versuch dazu nicht sonderlich aussichtsreich sein). Damit verliert (a) jede eigene Überzeugungskraft (da eben nicht auszuschließen ist, dass sich unter Voraussetzung anderer Ideen ebenfalls überzeugende Philosophiegeschichten erzählen lassen) und die Überzeugungskraft von (b) hinge ab von der Bedingung, dass die Idee der Wissenschaftlichkeit als Wesenskern der Philosophie bereits akzeptiert worden ist. Wie steht es um (c)? Besitzt dieser Gesichtspunkt das Potential, einen Opponenten unabhängig von dessen anfänglicher Philosophiekonzeption für Windelbands Konzeption einzunehmen? Das wird davon abhängen, ob die konkreten Resultate, an die Windelband an dieser Stelle denkt (und die er leider nicht weiter spezifiziert), auch für Vertreter anderer Philosophieauffassungen nicht nur Plausibilität, sondern eben auch herausragende Relevanz und absolute Geltung besitzen. Anzunehmen ist, dass die absolute Gültigkeit, die Windelband als ihr Charakteristikum hervorhebt, wohl nur für solche Gesprächspartner interessant sein dürfte, die von vornherein einer Philosophiekonzeption robusten und substantiell-apriorischen Zuschnitts nahestehen und darüber hinaus Windelbands Normalbewusstsein als befriedigende Erläuterung der epistemischen Zugänglichkeit dieser absoluten Werte anzusehen bereit sind. Daher besitzt auch (c) nur eine bedingte Geltung: auch die von ihm gepriesene Attraktivität der schon erreichten und noch in Aussicht stehenden Resultate hat eine gewisse Affinität der anfänglichen Philosophiekonzeption zur Voraussetzung. Hinzu kommt wie im Fall von (a), dass zusätzlich gezeigt werden müsste, dass Konkurrenzangebote tatsächlich nichts Vergleichbares leisten. So bleibt im Grunde als Träger eines Überzeugungspotenzials nur Aspekt (b). Und da die Aussicht der Voraussetzung von (b), also auf allgemeine Anerkennung der Idee der Wissenschaftlichkeit als ausschließlichem Wesensmerkmal der Philosophie, nicht überwältigend sein dürfte, Windelband selbst beobachtet ja das regelmäßige Aufblühen alternativer Überzeugungen in dieser Frage,1308 fallen auch die Aussichten für Windelbands Position, mögliche Gesprächspartner zu überzeugen, insgesamt eher dürftig aus. Als Ergebnis dieser ausführlichen Prüfung ist festzuhalten, dass Windelbands Anspruch auf überindividuelle Gültigkeit (verstanden im rhetorischen Sinne als Potenzial, Andersdenkende zu überzeugen) argumentativ nicht gedeckt ist. Im Dialog und in Konkurrenz mit anderen Philosophiekonzeptionen verhält er sich demnach im Wesentlichen stipulativ. (Die absolute Gültigkeit seines idealen Philosophiebegriffs ficht das natürlich nicht an.)
1308 Vgl. Windelband 1915a: 21f.
Diltheys Blick auf die Philosophiegeschichte
A.7
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Diltheys Blick auf die Philosophiegeschichte
Zu welchen Ergebnissen wird nun Dilthey von seiner Methode geführt und wie ist deren Nachvollziehbarkeit für einen denkbaren Opponenten einzuschätzen? Auch Dilthey führt einen Durchgang durch die Philosophiegeschichte vor und wie Windelband lässt er ihn mit Platon und Aristoteles beginnen. Besonders die Rolle des ersteren hebt er dabei deutlich hervor, denn dieser habe zuerst »das Wesen des Philosophierens zum Bewußtsein erhoben« und damit auch den weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte maßgeblich beeinflusst.1309 Nach der platonischen Auffassung sei Philosophie »die Besonnenheit, welche alles menschliche Tun zum Bewußtsein, und zwar zu allgemeingültigem Wissen erhebt«.1310 Damit finden sich schon bei Platon jene beiden formalen Wesenszüge, die Dilthey für das übliche Vorverständnis von »Philosophie« als Orientierungspunkte angeführt hatte. Die Auffassung von Philosophie als im Kern reine und wissenschaftsförmige Theorie, die für Windelband von erstrangiger Bedeutung war und die er pauschal »den Griechen« (bis zur Zeit des Hellenismus) attestierte, behandelt Dilthey differenzierter. Er sieht sie erst bei Aristoteles klar gefasst und das zudem in Absetzung zur Position Platons. Damit gehört der Bezug zur (Einzel-)Wissenschaftlichkeit (im Sinne der Abzirkelung eines Gegenstandbereichs und einer Methode) für ihn auch nicht zur Grundausstattung dieser neuen sozialen Praxis, sondern er sieht ihn erst nach einer ersten begrifflichen Verschiebung aufkommen. So heißt es von Aristoteles: »Philosophie ist ihm nicht mehr höchste Steigerung der Persönlichkeit und der menschlichen Gesellschaft durch das Wissen [sc. wie bei Platon]: sie sucht das Wissen um seiner selbst willen: das philosophische Verhalten ist ihm charakterisiert durch die theoretische Bewußtseinsstellung.«1311
Bevor Aristoteles die Philosophie in einen theoretischen, poietischen und praktischen Zweig ausdifferenzierte, war sie bei Platon, so Diltheys Darstellung, gerade durch die Integration aller drei Momente in das individuelle Leben des Einzelnen wie auch in das soziale Geflecht der Polis eingebunden. Entsprechend fragt und forscht Sokrates in den Dialogen Platons auch vorrangig nach Gegenständen »von Interesse«: nach dem guten Leben, nach der richtigen Erziehung, nach der besten Regierung, nach einem weisen Umgang mit dem Tod. Tatsächlich sind rein theoretische Themen in den platonischen Dialogen recht selten. Erst bei Aristoteles sei die Philosophie in ihrem Kernbereich (d.i. als erste Philosophie) aus diesem Lebenszusammenhang herausgelöst worden. Ein Schritt, der auf Dilthey durchaus ambivalent wirkt: zum einen bedeutet er die 1309 GS V, 347. 1310 GS V, 348. 1311 GS V, 349.
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Anhang: Philosophie der Philosophie, eine historische Induktion
Freisetzung der theoretischen Neugier durch Entlastung von äußerlicher Indienstnahme, zum anderen droht aber durch das Kappen der Verbindungen zur allgemeinen Erfahrungswelt und ihren korrigierenden Zirkulationsvorgängen das menschliche Maß verloren zu gehen: Metaphysik und damit auch der Skeptizismus werden erst auf diesem Boden möglich. Nach Platon und Aristoteles kommt auch Dilthey auf die Stoa und ihre spezifische Philosophieauffassung zu sprechen, die er als »Lebensphilosophie« charakterisiert. »Noch wurde das Problem der großen Systeme in seinem ganzen Umfang festgehalten. Doch die Forderung seiner allgemeingültigen Lösung wurde immer läßlicher gehandhabt. […] Die Philosophie ist in dieser von Cicero vertretenen Wendung ›Lehrerin des Lebens, Erfinderin der Gesetze, Anleiterin zu jeder Tugend‹, und Seneca definiert sie als die Theorie und Kunst der richtigen Lebensführung. Es ist damit gegeben, daß sie eine Lebensverfassung ist, nicht bloße Theorie, und so gebraucht man gern den Ausdruck Weisheit für sie.«1312
Damit zeichnet Dilthey ein Bild der Entwicklung der Philosophie in der Antike, nach dem die soziale Praxis »Philosophie« durch Platon zunächst zu einem anfänglichen Bewusstsein ihrer selbst gebracht und dann im weiteren Verlauf von Aristoteles und der Stoa in zwei deutlich unterschiedene Richtungen weitergeführt wurde. Dabei ist für Diltheys Auffassung sehr zentral, dass weder von Aristoteles noch innerhalb der Stoa der Boden der platonischen Konzeption verlassen wird. Vielmehr hätten sich beide Schulen auf einzelne ihrer Aspekte unter tendenzieller Vernachlässigung der anderen konzentriert. Beide wären demnach als einseitige Fortführungen des platonischen Programms zu verstehen. Der Unterschied zu Windelbands Auffassung ist markant. So macht dieser in seiner Bewertung der Stoa und des Mittelalters keinen Unterschied. Für ihn sind beides Phasen der Fremdherrschaft. Im einen Fall wird die reine Theorie dem Leben, im anderen der Religion untergeordnet. Während Dilthey mit dieser Diagnose im Blick auf das Mittelalter völlig übereinstimmt,1313 würde er es deutlich zurückweisen, die »Unterordnung des Wissens unter das Leben«, die fraglos mit der Stoa gegeben ist, als Form der Fremdherrschaft zu bezeichnen. Denn diese spezifische Unterordnung, oder besser: diese Einordnung des Wissens in den Lebenszusammenhang ist ihr nach seiner Auffassung bereits von Platon her eigentümlich.1314
1312 GS V, 351f; zur »römisch-griechischen Lebensphilosophie« vgl. Groethuysen 1969: 47–69. 1313 Vgl. GS V, 352. 1314 In anderen Hinsichten konstatiert allerdings auch Dilthey dekadente Züge an der geistesgeschichtlichen Periode des Hellenismus (vgl. GS V, 351f).
Diltheys Blick auf die Philosophiegeschichte
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Auch der Blick auf die Entwicklung seit der Neuzeit lässt bezeichnende Übereinstimmungen und Differenzen deutlich werden. Hier unterscheidet Dilthey zunächst zwei entgegengesetzte Formen der Philosophie: (i) den konstruktiv orientierten Rationalismus, der Philosophie in der Form eines metaphysischen Systems als Fundament und Gipfel der Wissenschaften auffasst; und demgegenüber (ii) die überwiegend kritisch arbeitende Erkenntnistheorie auf in der Regel empiristischer Grundlage. Der Kampf zwischen konstruktiven und kritischen Kräften spitzt sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts massiv zu und endet mit dem »Alleszermalmer« Kant, der jeder Hoffnung auf ein Gelingen konstruktiv-metaphysischer Systembauten ein für alle Mal den Boden entzogen habe. Bis zu diesem Punkt ist vermutlich auch mit der Zustimmung Windelbands zu rechnen. An der Einordnung der philosophiehistorischen und systematischen Bedeutung der Philosophie Kants trennen sich dann allerdings beider Darstellungen. Zunächst Windelband: »Gerade der nun sich wiederholende und verschärfende Gegensatz der metaphysischen Systeme erzeugt die Frage, ob überhaupt Metaphysik möglich sei, – d. h. ob die Philosophie ein eigenes Objekt, ob sie neben den Spezialwissenschaften ein Existenzrecht habe. Und diese Frage wird verneint! Dasselbe Jahrhundert, das im höchsten Wissensstolze die Geschichte durch seine Philosophie zu meistern dachte – das achtzehnte – es erkennt und bekennt, daß die Wissenskraft des Menschen nicht ausreicht, das Weltall zu umspannen und in die letzten Gründe der Dinge zu dringen. Es gibt keine Metaphysik – die Philosophie hat sich selbst zerstört.«1315
Diese Drohkulisse wird allerdings sofort wieder abgebaut, denn »wo die Not am höchsten, ist die Hilfe am nächsten«.1316 Kant habe zwar die Unmöglichkeit einer »Metaphysik der Dinge« unumstößlich erwiesen, zugleich aber habe er durch die Formulierung seiner transzendentalen Methode der Philosophie als Wissenschaft eine Tür geöffnet: sie konstituiert sich mit Kant als »Metaphysik des Wissens«.1317 Auf dieser Grundlage sieht Windelband sich selbst stehen. Sie allererst ermögliche die Bestimmung der wahren Methode und des eigentlichen Gegenstands der Philosophie. Derart als »die kritische Wissenschaft von den allgemeingiltigen Werten« endlich zu sich selbst erwacht, ist die Zeit ihrer problematischen Existenz vorbei und seither arbeite und forsche die Philosophie Seit an Seit einzelwissenschaftlich mit den Einzelwissenschaften.1318 1315 1316 1317 1318
Windelband 1915a: 18. Windelband 1915a: 19. Windelband 1915a: 19. Windelband 1915a: 29. Irritierend für diese triumphalistische Haltung wirkt möglicherweise Windelbands Bemerkung: »wenn Kant für die Philosophie die ›kritische‹ Methode festgestellt zu haben glaubte, so sind die Historiker noch heute nicht einmal darüber einig, was er damit gemeint hat« (Windelband 1915a: 10). An dieser Stelle ist davon auszugehen,
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Anhang: Philosophie der Philosophie, eine historische Induktion
Diltheys Beschreibung der Situation scheint sich auf den ersten Blick nicht wesentlich von der Windelbands zu unterscheiden: »Und so ist auch dieser letzte und großartigste Versuch des menschlichen Geistes mißlungen, im Unterschied von dem Verfahren der Erfahrungswissenschaften eine philosophische Methode zu finden, auf welche eine Metaphysik gegründet werden könnte. Es ist nicht möglich, die in der Erfahrung gegebene Welt, deren Erkenntnis die Arbeit der Einzelwissenschaften ist, durch eine von ihrem Verfahren unterschiedene metaphysische Methode zu tieferem Verständnis zu bringen.«1319
Allein Dilthey spricht an dieser Stelle explizit auch von Kants transzendentaler Methode. Nach seiner Einschätzung ist die kantische Transzendentalphilosophie in ihren konstruktiven Aspirationen ebenso gescheitert, wie alle metaphysischen Systeme vor ihr, mit denen sie selbst aufgeräumt hatte. Daher bietet auch sie keineswegs die Grundlage einer weiterhin offenstehenden systematischen Position. In welchem Sinne ist hier Diltheys Rede von Möglichkeit und Unmöglichkeit zu verstehen? Seine Bemerkung fällt im Rahmen der Untersuchung, also auf dem Boden historischer Induktion. Dementsprechend ist sie zunächst auch als vom historischen und nicht vom systematischen Standpunkt aus gesprochen aufzufassen. Eine klärende und interpretierende Paraphrase wäre dann: im beobachtbaren Verlauf der europäischen Kulturgeschichte ist es trotz zahlreicher Versuche scharfsinniger Denker und Denkerinnen nicht gelungen, eine philosophische Normalwissenschaft [d.i. eine Einzelwissenschaft mit definierter Methode und eigenem Gegenstand] zu etablieren; die zu beobachtenden Versuche weisen zwar eine wachsende Komplexität und Raffiniertheit auf, konnten allerdings durchweg nicht allgemein überzeugen; aussichtsreiche Kandidaten für weitere Versuche einer Vereinzelwissenschaftlichung der Philosophie sind derzeit nicht erkennbar. Liest man Diltheys Bemerkung in diesem Sinne als Zusammenschau einer historischen Erfahrung in all ihrer Vorläufigkeit, ist sie allerdings nicht stark genug, um aus ihr relevante systematische Folgerungen abzuleiten. Wie Windelband auf diese Einschätzung reagieren würde, ist daher leicht abzusehen: hier dass Windelband nicht mit eigener Stimme spricht, bzw. nur insofern, als eben vom Historiker naturgemäß kein Aufschluss über die transzendentale Methode zu erwarten ist. Hier gilt also, wie auch sonst: nur der Systematiker sieht klar (vgl. Windelband 1915b: 120– 122). 1319 GS V, 356. Der zweite Satz dieses Zitats ist deshalb von Bedeutung, weil er ausschließt, Diltheys und Windelbands Position dahingehend zu vermitteln, dass man sagt, Windelband ist es zwar gelungen eine der Philosophie eigene Methode zu etablieren, da sie nur Beurteilungen keine Urteile liefert, erweitert sie allerdings unser Wissen über die Welt tatsächlich nicht. Indem Dilthey von einem »tieferen Verständnis« spricht, fällt darunter fraglos auch der Kritizismus Windelbands. Wie Damböck nach diesem abschließendem Resumé Diltheys der Auffassung sein kann, dass für Dilthey auch die Metaphysik »als Möglichkeit verfügbar [bleibe]«, erschließt sich nicht (Damböck 2018: 203).
Diltheys Blick auf die Philosophiegeschichte
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äußere sich eben der Historiker Dilthey, der beobachtet, wie auch nach Kants Durchbruch der notorische Streit der Philosophen nicht einem wissenschaftlichen Grundkonsens gewichen sei. Daraus folge systematisch allerdings gar nichts. Zu zeigen wäre und zwar rein systematisch, dass und weshalb die Transzendentalphilosophie nicht zu verteidigen sein sollte. Eine glatte Zurückweisung Diltheys gelingt Windelband damit allerdings auch nicht. Er selbst erkennt an: »Die Voraussetzung der kritischen Methode ist also der Glaube an die allgemeingiltigen Zwecke [sc. das Gute/Wahre/Schöne] und an ihre Fähigkeit, im empirischen Bewußtsein erkannt zu werden.«1320
Diese fundamentale Voraussetzung des Glaubens könne selbst nicht bewiesen werden, da sie die Grundlage jeder Argumentation abgebe. Wie kommt man aber zu diesem Glauben? Das hält Windelband für relativ unproblematisch, »denn von der Natur haben wir jene Überzeugung alle«.1321 Wenn dem aber so wäre, müsste sich die kritische Methode dann nicht ohne größere Schwierigkeiten restlos durchgesetzt haben? »Die Täuschbarkeit der subjektiven Evidenz ist die allbekannte Tatsache, an der dies Verfahren unvermeidlich scheitern müßte. Bei der einfachen und unmittelbaren Evidenz allein darf sich somit die philosophische Besinnung nicht beruhigen, sondern die kritische Methode verlangt durchaus eine durch bestimmte systematische Maßregeln vermittelte, dadurch in sich berichtigte und eben damit allein berechtigte Evidenz.«1322
Eine kuriose Konstruktion: eigentlich müsste der Kritizismus jedem unmittelbar einleuchten. Doch scheint die epistemische Natur allgemein verderbt: die bloße Evidenz zeitigt nicht verlässlich auch das richtige Ergebnis. Daher gilt es, die unmittelbare Evidenz systematisch zu maßregeln. Der Streit der Philosophen wäre mithin sofort beendet, wenn bloß alle Disputanten ihre subjektiven Evidenzen entsprechend der kritischen Methode maßregeln ließen, d.i. wenn alle zur kritischen Methode überwechseln würden. Falsch ist das nicht. Die Notwendigkeit einer systematischen Argumentation zur Stützung seiner starken Formulierungen (»nachdem die allgemeingültige Wissenschaft der Metaphysik für immer zerstört ist«) sieht Dilthey deutlich.1323 Wie bereits dargestellt, hat er entsprechend verschiedene metaphysikkritische Argumentationen aufzustellen versucht, die die Durchführbarkeit auch des transzendentalphilosophischen Programms im Sinne der Immanenz bestreiten, und auch in der 1320 Windelband 1915b: 122f. 1321 Windelband 1915b: 123. 1322 Windelband 1915b: 124f. Wie mag es zu diesen Maßregeln gekommen sein? Ist Kant etwa als ein epistemischer Mose zu verstehen? Und wie stellt man sicher, dass man sich korrekt an die Maßregeln gehalten hat, wo doch der unmittelbaren Evidenz nicht zu trauen ist? 1323 GS V, 371.
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Anhang: Philosophie der Philosophie, eine historische Induktion
vorliegenden Abhandlung skizziert er seinen Argumentationsgang nochmal in aller Kürze.1324 Diltheys Textkomposition wird allerdings nur dann nachvollziehbar, wenn man davon ausgeht, dass er bereits dem historischen Durchgang durch die auftretenden und scheiternden Entwürfe philosophischer Systeme und Methoden eine mehr als rein psychologische Bedeutung für die Einschätzung der systematischen Aussichten der Metaphysik als »allgemeingültiger Wissenschaft« zuerkennt. Ansonsten wäre nämlich unverständlich, warum die Andeutungen seiner systematischen Argumentation gegen die Möglichkeit der Metaphysik erst am Ende der Abhandlung gebracht werden und dazu ohne erkennbaren Zusammenhang zu den substantiellen Generalisierungen, von denen bereits die Rede war.
A.8
Geltung und Gelten
Man kann Windelbands und Diltheys Blick auf die Philosophiegeschichte in dieser Frage gut anhand ihres Verständnisses von dem, was »Allgemeingültigkeit« bedeutet, kontrastieren. Für Windelband gehören Fragen der Geltung ausschließlich dem Reich der Werte im Unterschied zum Reich des Seins an, faktische Anerkennung ist in Geltungsfragen absolut unerheblich. »Die Masse oder gar die Majorität ist nicht das Tribunal, vor dem der absolute Wert entschieden wird, und der Nachweis der Ursachen ihres Verhaltens ist keine Begründung ihrer Berechtigung.«1325
Mit dieser Hintergrundüberzeugung ist es für Windelband offenbar eine plausible Position, an der absoluten Gültigkeit seines philosophischen Programms festzuhalten, auch wenn es sich nicht mit durchschlagendem Erfolg ausbreiten oder auch nur im Sinne einer Schulbildung verstetigen sollte. Auch wenn er sich systematisch dem Problem stellt, auf welche Weise empirische Bewusstseine kognitiven Zugang zu dieser Dimension absoluter Geltung erlangen können sollen, und aus diesem Grund das Konzept eines »Normalbewusstseins« einführt, bleibt das Feld der historischen Realität im Blick auf Geltungsfragen weitgehend neutral.1326
1324 Vgl. GS V, 404–406 (»3. Die Unlösbarkeit der Aufgabe. Abnahme der Macht der Metaphysik.«). 1325 Windelband 1915a: 43. 1326 Ganz sauber gelingt die Neutralisierung der empirisch-historischen Realität offenbar nicht: »Wer sie [sc. die kritische Methode] handhabt, muß voraussetzen, daß sowohl er selbst, als auch derjenige, an welchen er sich mit seiner Untersuchung wendet, das normale Bewußtsein wenigstens in einem gewissen Umfange besitze.« (Windelband 1915b: 123).
Geltung und Gelten
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Für Diltheys Perspektive ist hingegen wesentlich, dass Tatsachen- und Geltungsfragen uns in der Geschichte vermengt und ineinander verwoben entgegentreten.1327 Natürlich würde er nicht bestreiten, dass sich beide Aspekte durch analytische Arbeit relativ weitgehend und sauber voneinander trennen lassen. Aber zunächst sei unser historisches Leben von der Verquickung beider Bereiche bestimmt. Das komme etwa darin zum Ausdruck, dass große Teile der Geistesgeschichte und insbesondere die Philosophiegeschichte als rein ursächlich bedingte Vorgänge überhaupt nicht als zusammenhängend erkennbar, geschweige denn verständlich, würden – als rein begrifflich-systematische Zusammenhänge freilich ebenso wenig –, sondern nur als Niederschlag menschlichen Handelns, das als solches sowohl ursächlich als auch durch Gründe bedingt ist. Windelbands dem widerstreitende Behauptung, der »geschichtliche Entwicklungsgang« verlaufe der »Idee gegenüber [zufällig]«, impliziert, dass sich frühere Zeiten um das Wahre/Gute/Schöne entweder gar nicht oder zumindest nicht erfolgreich bemüht hätten;1328 »es wäre ja ebenso gut möglich, daß […] diese gesamte Entwicklung [sc. des menschlichen Gattungslebens] zu lauter Täuschungen und Torheiten geführt hätte, die wir nur eben deshalb jetzt für Wahrheit hielten, weil wir darin unentfliehbar eingeschlossen sind.«1329
Einzelne Beispiele von hartnäckigen Illusionen, wie des Augenscheins der untergehenden Sonne, lassen sich zwar leicht finden (auch wenn sie Unentfliehbarkeit gerade nicht illustrieren können), solche Einzelfälle allerdings zu einer globalen Irrtumstheorie zu verallgemeinern und dieses Szenario dann für »ebenso gut möglich« zu halten, wie dasjenige, dass sich die Kulturgeschichte in Teilen (erfolgreich) am Wahren/Guten/Schönen orientiert habe, wirkt kaum überzeugend. Zumal stellte sich dann das Problem der Möglichkeit von Aufklärung (d.i. der Herbeiführung des erfreulichen Umstandes, dass wir heute wissen, wie sich die Dinge wirklich verhalten) auf besonders scharfe Weise, wie es also möglich sein konnte, diesen Zustand zu durchschauen und zu überwinden. Eine historische und auch systematische Orientierung wäre aus der Sicht Diltheys in der Philosophie und ihrer Geschichte überhaupt nicht möglich, wenn 1327 Offenkundig wiederholt sich in Windelbands und Diltheys Positionen in dieser Frage auf dem Feld der Philosophiegeschichte der Streit zwischen Kant und Hegel bezüglich des »reinen Sollens«. Zu diesem Hintergrund und der Problematik der Hegelschen Position vgl. Marquard 1982: 37–51. Dort auch (S. 37) folgendes bündiges Hegelzitat: »Was allgemein gültig ist, ist auch allgemein geltend; was sein soll, ist in der Tat auch, und was nur sein soll, ohne zu sein, hat keine Wahrheit.« (Hegel 1988: 170, Hervorhebung im Original). Eben diese Verflechtung kritisiert Windelband an anderer Stelle bei Hegel (vgl. Windelband 1915b: 133). 1328 Windelband 1915b: 133. 1329 Windelband 1915b: 121 (Hervorhebungen hinzugefügt).
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Anhang: Philosophie der Philosophie, eine historische Induktion
man nicht zu der vorläufigen Unterstellung griffe, dass ein historisch gegebener Stand faktisch stattfindender Diskussionen zumindest grosso modo auch einem Stand in der Sache entspricht,1330 soll heißen: es scheint unvermeidbar anzunehmen, dass sich ein empirisch nachweisbarer Trend in der Behandlung einer philosophischen Frage in der Regel auch als sachlich gut begründet rekonstruieren lässt, ohne dass diese Begründung im Einzelnen auch tatsächlich vollzogen würde. Ohne diese Unterstellung ließen sich historisch-systematische Generalisierungen überhaupt nicht vertreten, die andererseits wiederum zur Orientierung in der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt unerlässlich sind. Aus diesem Fundus weitgehend ungeprüfter Annahmen speist sich ganz wesentlich, was von einer Zeit als selbstverständlich vorausgesetzt wird, was von ihr als plausible Prämisse empfunden wird und was nicht.1331 Eine Generalisierung dieser Art, die für Dilthey, aber eben auch für Windelband (und mit ihnen vermutlich für die meisten deutschsprachigen Philosophen des 19. Jahrhunderts), den »Stand der Dinge« in bündiger Weise auf den Punkt bringt, ohne dass sie restlos bewiesen würde oder werden könnte, ist nun die bereits angesprochene Überzeugung von der Unmöglichkeit der Metaphysik.1332 Wenn Windelband also davon spricht, dass im 18. Jahrhundert »die Philosophie […] sich selbst zerstört [habe]«: »Es gibt keine Metaphysik«, dann bewegt auch er sich in genau jener primären historischen Welt, in der Seins- und Geltungsfragen zunächst ungetrennt ineinander liegen.1333 Dem würde Windelband sicher entgegenhalten, das sei lediglich eine fasson de parler, eigentlich könnte man (und müsste man) dasselbe rein systematisch (»unabhängig von der historischen Entwicklung, ohne die Formeln der kantischen Lehre«1334) aussprechen und nachweisen. Das wiederum wäre ihm auch sofort zugestehen, allerdings dürfte die Vorstellung, dass sich diese historischsystematischen Orientierungs-Generalisierungen restlos in rein systematische Argumentationen ummünzen ließen, illusorisch sein (von der historischen Bedingtheit natürlicher Sprachen, in denen systematische Argumentationen geführt werden, einmal abgesehen). Was Windelband auf Rückfrage wahrscheinlich liefern würde, wäre eine Rekonstruktion zentraler kantischer Argumente, 1330 In Einzelfällen ist gelegentlich zu beobachten, dass faktische Anerkennung und »tatsächliche Gültigkeit« (sprich: spätere Anerkennung) über weite Zeiträume weit auseinanderklaffen können. Die hier entwickelte These beinhaltet lediglich, dass wenn dieses Auseinanderklaffen eine gewisse Häufigkeits- und Relevanzschwelle überschreiten sollte, historische und auch systematische Orientierung in keinem substantiellen Sinn mehr möglich sein dürfte. 1331 Zu den in einer gegebenen historisch-kulturellen Situation lebendigen und toten Optionen siehe unten. 1332 Beide verstehen darunter, wie gezeigt, nicht dasselbe. 1333 Windelband 1915a: 18. 1334 Windelband 1915a: 29.
Geltung und Gelten
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formuliert in eigener Terminologie. Da Kant selbst nur konkrete, historisch vorliegende Formen von Metaphysik (Chr. Wolff, Schulmetaphysik) im Blick haben konnte, deren Möglichkeit er widerlegte, ist auch die Gültigkeit seiner systematischen Argumentation auf die Struktur dieser metaphysischen Systeme und Theorien beschränkt, soll heißen: es ist weder Kant noch Windelband möglich, sämtliche Theoriestrukturen (oder auch Revisionen in der zugrundeliegenden Erkenntnistheorie), die sich chronologisch erst nach ihnen ergeben werden, zu antizipieren. Zudem ist bei einer komplexen Argumentation wie derjenigen Kants nicht auszuschließen, dass im Laufe der Zeit Probleme und Lücken entdeckt werden, die zunächst nicht auffielen. Anders als die rein systematische Fassung der Überzeugung von der Unmöglichkeit der Metaphysik, beinhaltet die historisch-systematische Generalisierung (»Kant widerlegte die Ding-Metaphysik.«) als wesentliches Moment einen unlimitierten prognostischen Anspruch, auf dem ihre Orientierungsfunktion1335 wesentlich beruht. Die erste Fassung erlaubt natürlich zu sagen (und auch darin liegt eine gewisse Orientierungsleistung): (m1) Jede vorliegende oder noch auftretende metaphysische Theorie, die den Paradigmen der Wolffschen Schulmetaphysik strukturanalog ist, ist – vorausgesetzt dass weiterhin keine wesentlichen Fehler in der Kantischen Argumentation entdeckt werden – auf dem Boden der Kantischen Erkenntnistheorie seinen (vernichtenden) Einwänden ausgesetzt.
Die zweite Fassung beinhaltet schlicht: (m2) »mit Ding-Metaphysik ist nicht mehr zu rechnen«;
also streng genommen eine systematisch weitgehend ungedeckte Prognose. Auch wenn reflektierte Personen (wie sicherlich ein Wilhelm Windelband) natürlich theoretisch um die eingeschränkte prognostische Leistungsfähigkeit ihrer rein systematischen Argumentationen wissen und jeden darüber hinaus gehenden Anspruch als nicht seriös zurückweisen würden, kommen sie anhand der offenen Zukunft, vor der sie als menschliche Wesen stehen, nicht umhin, sich faktisch auch an die letztlich ungedeckten Prognosen historisch-systematischer Generalisierungen zu halten, um davon beispielsweise die Wahl von zu verfolgenden Forschungsprojekten und andere folgenschwere Karriereentscheidungen abhängig zu machen.1336 1335 »Orientierung« im Unterschied zu »Übersicht« (vgl. Mannheim 2015: 152f). 1336 Die Unumgänglichkeit, sich an solchen (ungedeckten) historisch-systematischen Generalisierungen zu orientieren, entspricht demjenigen, was Gadamer als das Charakteristische am Stehen in einer Situation bezeichnet: »Der Begriff der Situation ist ja dadurch charakterisiert, daß man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann. Man steht in ihr, findet sich immer schon in einer Situation vor, deren Erhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist.« (Gadamer 2010:
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Die eben entwickelten Überlegungen über das Verhältnis von faktischer Anerkennung und systematischer Geltung und über die Notwendigkeit, sich in der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu orientieren, machen zwei Aspekte von Diltheys Position vielleicht besser nachvollziehbar: weshalb (i) Dilthey bereits der historischen Darstellung der (aporetischen) Metaphysikgeschichte eine selbstständige (negative) Überzeugungswirkung zuschreibt (bezüglich der Aussichten für eine wissenschaftliche Metaphysik) und warum es (ii) für Diltheys historischen Standpunkt eine plausible Ausgangseinstellung ist, idealen Philosophiebegriffen (wie dem Windelbands), die keine allgemeine faktische Anerkennung genießen, auch keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken (beides aus demselben Grund: weil die Philosophiegeschichte nicht neutral im Blick auf Geltungsfragen ist).1337
A.9
Historischer und systematischer Standpunkt
Anders als Dilthey bietet Windelband keine methodologischen Reflexionen, auf welchem Wege man die Frage nach dem Wesen der Philosophie sinnvoll angehen könnte, daher lässt er auch nicht erkennen, wie er selbst zu seiner Philosophieauffassung gekommen ist. Das mögliche Überzeugungspotenzial einer historischen Untersuchung in dieser Sache lässt er ungenutzt (vom Standpunkt idealer Geltung aus muss man sogar sagen: er verschmäht es) und auch das mit ihr verbundene Erkenntnispotenzial; ganz als wolle er zeigen: man kann mit der Philosophiegeschichte nur sinnvoll arbeiten, wenn man zunächst die richtigen Begriffe an sie heranträgt. Daher tendiert die historische Darstellung in seinen Händen auch folgerichtig dazu, zur reinen Illustration eines im Voraus gefassten systematischen Standpunkts zu werden; eigentliche Belehrung durch die Auseinandersetzung mit dem historischen Material ist nicht zu erkennen.1338 Man könnte auch sagen, Windelband verlässt die Position des Systematikers an keiner Stelle, während Dilthey bewusst und methodisch die Perspektive des Historikers einnimmt.
307) Die in einer Situation offenstehende Sicht ist wesentlich bestimmt durch ihren Horizont (s. o.). 1337 Diese »Nicht-Neutralität« ist gegenüber der Auffassung, dass die Geschichte letzte Instanz in dieser Frage wäre, eine viel schwächere These. 1338 Hierin liegt eine wesentliche Stärke des Diltheyschen Vorgehens gegenüber dem Windelbands: sein iteratives Verfahren eröffnet Raum für einen Lernprozess (vgl. GS V, 344f (»allmählich den Gehalt des Begriffs der Philosophie ausschöpfen […] schrittweise die Wesenszüge der Philosophie genauer abzugrenzen […] das Resultat zu erproben und durch eine tiefer reichende Einsicht zu ergänzen«); Krausser 1968: 80, 190–192).
Historischer und systematischer Standpunkt
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»Der Gesichtspunkt, aus welchem die dargestellten Begriffsbestimmungen der Philosophie entworfen worden sind, war sonach der des systematischen Philosophen, welcher aus dem Zusammenhang seines Systems in einer Definition auszusprechen sucht, was ihm als wertvolle und lösbare Aufgabe erscheint. Er ist damit unzweifelhaft in seinem Recht; er definiert dann seine eigene Philosophie; er leugnet nicht, daß die Philosophie im Laufe der Geschichte sich auch andere Aufgaben gestellt hat, er erklärt aber ihre Auflösung für unmöglich oder für wertlos, und so erscheint ihm die Arbeit der Philosophie an ihnen als eine lang anhaltende Illusion. […] Die Aufgabe einer Wesensbestimmung der Philosophie, welche die Namengebung von ihr und die Begriffe der einzelnen Philosophen über sie deutlich macht, führt notwendig von dem systematischen zu dem historischen Standpunkt. Es ist zu bestimmen, nicht was jetzt oder hier als Philosophie gilt, sondern was immer und überall ihren Sachverhalt ausmacht.«1339
Ob Dilthey bei dieser Formulierung nun Windelbands Text im Sinn hatte oder nicht, klar ist, dass sein Hinweis auf die partikuläre Beschränktheit eines rein systematischen Ansatzes in dieser Frage auf dessen Vorgehen sehr präzise zutrifft. Windelbands Geschichte des Namens »Philosophie« als der Geschichte der Idee der rein theoretischen Einstellung setzt an jeder Stelle den eigenen Philosophiebegriff voraus, sonst könnte er nicht wertend historische Phasen unterscheiden in solche, in denen sich diese Idee verdunkelt, und in solche, in denen sie wiedergewonnen wird, und er könnte nicht alle Elemente der Philosophiegeschichte, die nicht in dieser Idee aufgehen, als unwesentlich einstufen und ausblenden.1340 Gegenüber anderen Auffassungen der Philosophie und ihrer Geschichte verhält sich Windelband damit, wie nachverfolgt, stipulierend. Dilthey hingegen motiviert seine Einnahme des historischen Standpunkts gerade mit dem zu beobachtenden Patt des metaphilosophischen Dissenses zwischen den (im historischen Gespräch) beteiligten systematischen Standpunkten und ihren jeweiligen Stipulationen. »Jede derselben [sc. Begriffsbestimmungen] bestimmt einen besonderen Kreis von Erscheinungen als Philosophie und schließt aus diesem die anderen mit dem Namen Philosophie bezeichneten Erscheinungen aus. Die großen Gegensätze der Standpunkte, wie sie nun mit gleicher Kraft gegeneinander wirken, gelangen in Definitionen der Philosophie zum Ausdruck. Sie behaupten sich gleichberechtigt einander gegenüber. Und der Streit kann nur geschlichtet werden, wenn ein Standpunkt über den Parteien auffindbar ist.«1341
Eine ganze Reihe von Gesichtspunkten führt Dilthey hier als Resultat seiner historischen Untersuchung zusammen. Im (metaphilosophischen) Streit der Philosophen stehe Definition gegen Definition, einen geteilten Boden und auch 1339 GS V, 363f (Hervorhebung hinzugefügt). 1340 Das formuliert Windelband selbst an anderer Stelle ganz klar (vgl. Windelband 1915b: 118– 120). 1341 GS V, 363.
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allgemein anerkannte Argumente zur Entscheidung des Disputs scheint es zwischen den Parteien nicht zu geben. Was die Philosophie ist, ist eben selbst bereits eine philosophische Frage, und damit genauso umstritten, wie es philosophische Fragen üblicherweise sind. Damit macht Dilthey zugleich auf den Machtanspruch und den Exklusionsgestus aufmerksam, der eine nicht unwesentliche Funktion von Philosophiedefinitionen zu sein scheint. Dass die verschiedenen Positionen einander »mit gleicher Kraft« gegenüberstehen, ist dahingehend zu verstehen, dass der Konflikt ein stabiler ist, es den Parteien also gleichmäßig gelingt, neue Vertreter und Vertreterinnen für ihre Sache zu gewinnen. Verbleibt man nun auf einem »systematischen Standpunkt« besteht nach Diltheys Auffassung keine Aussicht auf eine Beilegung des Streites: die eigene Parteinahme behält in den Augen des Gegenübers letztlich einen dezisionistischen Charakter und der Konflikt wird zunehmend über Machtausübungen und als Kampf um Ressourcen und Lehrstühle ausgetragen. Einen Ausweg aus dieser argumentativen Sackgasse sieht Dilthey nun in der Einnahme des historischen Standpunktes. Diesen versteht er offenbar als einen überparteilichen Standpunkt, der es ermöglichen soll, ein Votum in der Sache abzugeben, das kein partikulares ist und daher (zumindest prinzipiell) von allen Konfliktparteien anerkannt werden kann. Diese vermittelnde Funktion des historischen Standpunktes kann von einer Philosophiegeschichte, wie sie Windelband offenbar versteht und betreibt, klarerweise nicht erfüllt werden. Nach ihr ist, wie gezeigt, Philosophiegeschichte nur von einem systematischen Standpunkt aus möglich, wodurch sie letztlich genauso partikulär ausfällt, wie es der eingangs investierte Standpunkt bereits war. Demnach würde Philosophiegeschichte immer pro domo erfolgen. Doch der Blick des Historikers fasst von den »absoluten Beurteilungen« Windelbands lediglich deren beobachtbare Seite, ihren Anspruch, die Geltungsfrage aber suspendiert er. »Aber die geschichtliche Erfahrung kennt nur die ihr so wichtigen Vorgänge dieser Setzungen: von sich aus aber weiß sie nichts von deren Allgemeingültigkeit. Indem sie dem Verlauf der Ausbildung solcher unbedingten Werte, Güter oder Normen nachgeht, bemerkt sie von verschiedenen unter ihnen, wie das Leben sie hervorbrachte, die unbedingte Setzung selbst aber nur durch die Einschränkung des Horizontes der Zeit möglich wurde. […] Sie bemerkt den ungeschlichteten Streit dieser unbedingten Setzungen untereinander.«1342
1342 GS VII, 173. Ganz im Sinne Rankes: »sie [sc. die Historie] will Ergebnisse der Philosophie nicht als Unbedingtes, nur als Erscheinung in der Zeit betrachten […] sie spricht ihr dergestalt alle absolute Gültigkeit ab und begreift sie unter der andren Erscheinung.« (Kessel 1954: 295). »Was der Dogmatiker ›bekennt‹, erzählt der Historiker.« (Rothacker 1954: 259, Hervorhebung im Original).
Metaphilosophische Optionen der Neuzeit
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Andererseits ist Windelbands Position zuzugestehen, dass Philosophiegeschichtsschreibung ohne jegliche systematische Festlegung bzw. Vorentscheidung, quasi im Modus reiner Rezeptivität, tatsächlich nicht vorstellbar ist, sie wäre blind.1343 Daraus folgt aber nicht bereits, dass die systematischen Voraussetzungen der Philosophiegeschichte auch genauso substantiell und weitreichend sein müssten wie die eigene systematische Position. Mit anderen Worten scheint es plausibel, einen Spielraum anzunehmen zwischen den systematischen Minimalfestlegungen, die die Philosophiegeschichtsschreibung als Philosophiegeschichtsschreibung von vornherein zu investieren hat, und der Massivität eines voll artikulierten systematischen Standpunkts. (Die Rede von »historischen Tatsachen« würde sich dann nicht auf uninterpretierte »brute facts« beziehen; als Tatsachen wären vielmehr diejenigen Umstände anzusprechen, die eine gewisse Aussicht darauf hätten, von zwei unvereinbaren systematischen Standpunkten aus akzeptiert zu werden.1344) Je dichter sich nun die Philosophiegeschichtsschreibung an ein Minimum von Festlegungen und Vorentscheidungen hält, d.i. je inklusiver sie verfährt, desto größer dürfte ihre Aussicht ausfallen, für verschiedene Konfliktparteien akzeptabel zu sein, (desto größer natürlich auch die Gefahr, nichtssagend zu werden). Die Orientierung an dieser Maxime maximaler Inklusivität ist Diltheys Abhandlung vom Wesen der Philosophie gut abzulesen. Deutlich wird an dieser Stelle wiederum die Bedeutung der Differenz von systematischem und historischem Standpunkt für Diltheys Anliegen, einen überparteilichen Boden zu gewinnen. Wäre sie nicht gegeben, wäre jede historische Perspektive eo ipso auch eine systematische und damit immer schon als Partei im Streit der Philosophen engagiert.
A.10 Metaphilosophische Optionen der Neuzeit Zurück zu Diltheys Strukturierung der neuzeitlichen Philosophiegeschichte. Sie klassifiziert die auftretenden Philosophiebegriffe primär in metaphysische und in unmetaphysische, je nachdem ob sie eine spezifisch philosophische Methode
1343 Auf die systematischen Annahmen, die Diltheys historische Induktion leiten, verweist Nenon 1989: 124–129. 1344 Die Konjunktur gewisser philosophischer Themen oder Disziplinen zu bestimmten Zeiten und ihr Brachliegen zu anderen, wie es sich in Publikationen und Vorlesungsverzeichnissen niederschlägt, oder auch die faktische Einrichtung und Besetzung von Lehrstühlen stellen gewisse (wenn auch selbst nicht unmittelbar philosophische) Rahmendaten dar, die mit manchen Philosophiegeschichten besser zu vereinbaren sein dürften als mit anderen, ohne dass über sie ein hartnäckiger Streit geführt werden könnte.
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in Anschlag bringen oder nicht.1345 Da sich die Bemühungen um die Etablierung einer eigenen philosophischen Methode nach Diltheys Auffassung im Laufe des 19. Jahrhunderts ergebnislos erschöpft haben, gilt seine besondere Aufmerksamkeit den unmetaphysischen Philosophiekonzeptionen als den verbleibenden »lebendigen« Optionen und unterscheidet unter ihnen drei Formen.1346 (i)
Erkenntnistheorie/Wissenschaftstheorie (für Dilthey eine z. T. empirische Disziplin: Helmholtz, neukantische Schule mit »ausgezeichneten Arbeiten«); (ii) Enzyklopädie der Wissenschaften (Positivismus: D’Alembert, Comte), mit der Tendenz zur Weltanschauung des Naturalismus; (iii) Philosophie als »Wissenschaft der inneren Erfahrung oder als Geisteswissenschaft« (ausgehend von Hume, Beneke, Lipps).
Bei allen drei Formen handelt es sich um Erfahrungs-Philosophien, die (mit Ausnahme der Neukantianer) ohne apriorische Begriffskonstruktionen auskommen. Ferner ist für alle drei Formen ein inhaltlicher Zusammenhang mit der metaphysischen Tradition der Philosophie erkennbar, die sie daher legitimerweise (umformend) beerben: (i)
Prüfung von Begründungsansprüchen, »Kritik der Intention einer objektiven Erkenntnis von Weltzusammenhang und Weltgrund, höchstem Wert und letztem Zweck« (S. 358);
1345 Diesen von Dilthey deutlich hervorgehobenen und auch inhaltlich entscheidenden Unterschied verschleift Damböck, indem er Metaphysik als vierte, den drei unmetaphysischen Philosophiekonzeptionen nebengeordnete Option darstellt (vgl. Damböck 2018: 202f). 1346 Vgl. GS V, 356ff. Im Rahmen von Diltheys historischer Philosophie des Lebens ist William James’ Unterscheidung von lebendigen und toten Optionen unmittelbar anschlussfähig (vgl. James 2000: 199f). »Lebendige Optionen« wären dann solche, die unter den Bedingungen einer konkreten (geistes-)geschichtlichen Situation zumindest ein Mindestmaß von materialer Plausibilität für sich beanspruchen können, wofür bloße Widerspruchsfreiheit nicht ausreicht. Dilthey würde wohl sagen, gewisse Optionen liegen im »Horizont« der jeweiligen Zeit (vgl. GS VII, 154f, 177f). Auch die anderen beiden Unterscheidungen, die James an dieser Stelle einführt, finden in Diltheys Begrifflichkeit problemlos Äquivalente: »momentous or trivial« lässt sich fassen als eine Differenzierung nach dem Gesichtspunkt der Bedeutsamkeit; »forced or avoidable« sind solche Optionen, die entweder vom Leben selbst (von der Praxis) erzwungen werden oder eben ein lediglich theoretisches Interesse für sich beanspruchen können. In diesem letzten Sinn wären für Dilthey viele Theorieentscheidungen der Kathederphilosophen »reine Metaphysik«, d.i. hier: problemlos vermeidbar. Die Affinität von William James und Dilthey in vielen Einzelheiten und Grundorientierungen geht über die gemeinsame Verwendung lebensphilosophischer (Wert-)Ausdrücke hinaus, die offenbar gegen Ende des 19. Jahrhunderts ohnehin in der Luft gelegen zu haben scheinen, und lässt sich auch kaum durch ihr kurzes Aufeinandertreffen erklären (vgl. James 1926: 109–111 (17. 10. 1867); Ermarth 1978: 5 (Dilthey: »the German William James«)). Eine Rezeption der im Rahmen der »Deutschen Bewegung« (Nohl) entstandenen lebensphilosophischen Position (etwa über die Linie Goethe-CarlyleEmerson-James) scheint nicht unplausibel, wäre aber im Einzelnen aufzuweisen.
Diltheys funktionalistisches Philosophieverständnis
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(ii) »Richtung auf ein universales, allgemeingültiges Weltbegreifen« (S. 360); (iii) »Streben nach Erfassung der Realität« (S. 361).
A.11 Diltheys funktionalistisches Philosophieverständnis Wie sieht das inklusive und überparteiliche Angebot, das Dilthey als Vermittlungsversuch von seinem historischen Standpunkt aus an die zerstrittenen systematischen Philosophen richtet, nun inhaltlich aus? Nach Diltheys Auffassung lässt sich auf empirischem, d.i. historischem Wege nachweisen, dass trotz der unübersichtlichen und vielgestaltigen Mannigfaltigkeit der intellektuellen Unternehmungen, die mit dem Namen »Philosophie« bezeichnet wurden und werden, sich aufseiten des gleich Bezeichneten dennoch auch verbindende Züge ergeben, die es ermöglichen von einem »einheitlichen Sachverhalt« zu sprechen. »Immer aber sahen wir in ihr dieselbe Tendenz zur Universalität, zur Begründung, dieselbe Richtung des Geistes auf das Ganze der gegebenen Welt wirken. Und stets ringt in ihr der metaphysische Zug, in den Kern dieses Ganzen einzudringen, mit der positivistischen Forderung der Allgemeingültigkeit ihres Wissens.«1347 »Denn das ist nun das Hauptergebnis aus dem erörterten historischen Tatbestande: ein folgerichtiger, in sich geschlossener geschichtlicher Zusammenhang führt von der metaphysischen Welterkenntnis der Griechen, welche das große Rätsel der Welt und des Lebens allgemeingültig aufzulösen unternahm, bis zu dem radikalsten Positivisten oder Skeptiker der Gegenwart; alles was in der Philosophie geschieht, ist irgendwie durch diesen Ausgangspunkt, durch ihr Grundproblem bestimmt; alle Möglichkeiten werden durchlaufen, wie der menschliche Geist sich zu dem Rätsel der Welt und des Lebens verhalten kann. In diesem historischen Zusammenhang ist die Leistung jeder einzelnen philosophischen Position die Verwirklichung einer Möglichkeit unter den gegebenen Bedingungen; jede brachte einen Wesenszug der Philosophie zum Ausdruck, und sie wies zugleich durch ihre Begrenzung auf den teleologischen Zusammenhang, in dem sie bedingt ist – als Teil eines Ganzen, in welchem allein die ganze Wahrheit ist.«1348
Auch wenn sich die Identität der Philosophie nicht im Sinne einer wissenschaftlichen Disziplin explizieren lasse, bildet sie doch im Kern einen rekonstruierbaren geschlossenen Zusammenhang. Die ganze Philosophiegeschichte lässt sich nach Dilthey begreifen als ein sich Abarbeiten an einem Grundproblem:
1347 GS V, 365. 1348 GS V, 365 (Hervorhebungen hinzugefügt). Der Verweis auf Hegel ist deutlich: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.« (Hegel 1988: 15).
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»dem Rätsel der Welt und des Lebens«.1349 Diltheys Verweis auf dieses Problem ist aber offenkundig keine Bestimmung des Gegenstands der Philosophie im einzelwissenschaftlichen Sinn. So lässt es beispielsweise offen, wie eine befriedigende Lösung des Problems aussehen könnte, während im Rahmen eines einzelwissenschaftlichen Forschungsprogramms die Form möglicher Lösungen immer schon antizipiert ist. Anders als eine beliebige wissenschaftliche Fragestellung drängt sich das Problem, das Dilthey der Philosophie zugrunde legt, dem Menschen als Menschen, d.i. als endlichem und vernunftbegabtem Lebewesen geradezu auf und fordert eine Stellungnahme. Faktisch beziehen der Mensch und menschliche Gesellschaften auch immer auf die eine oder andere Weise Stellung zu diesen Rätseln, sei es thematisch oder unthematisch, sei es besonnen oder instinktiv. »Philosophie ist in der Struktur des Menschen angelegt, jeder, an welcher Stelle er stehe, ist in irgendeiner Annäherung an sie begriffen, und jede menschliche Leistung tendiert, zur philosophischen Besinnung zu gelangen.«1350
Aus den verschiedensten Richtungen und mit den verschiedensten Mitteln haben sich Menschen und Kulturen im Lauf der Zeiten zu diesem Problem verhalten. Begriffliche Reflexion war dabei nur eine Strategie, Verwissenschaftlichung nur eine ihrer Formen. Das Wesen der Philosophie, so ein zentraler Befund Diltheys, ist daher auch nicht an die Form einer akademischen Disziplin gebunden, diese Erscheinungsform erweist sich im historischen Überblick sogar als eher ephemer.1351 Als einheitlicher Tatbestand wird sie nur erkennbar, wenn man sie nicht in der Form einer Einzelwissenschaft, sondern als charakteristische intellektuelle Praxis versteht, mit den sich aus der conditio humana ergebenden Problemen der Endlichkeit und der Kontingenz umzugehen, und zwar historisch-konkret als »eine Funktion im Zweckzusammenhang der Gesellschaft […], welche durch die der Philosophie eigne Leistung bestimmt ist. Wie sie in ihren einzelnen Positionen diese Funktion erfüllt, ist bedingt von deren Verhältnis zum Ganzen und zugleich von der Kulturlage nach Zeit, Ort, Lebensverhältnissen, Persönlichkeit. Daher duldet sie keine
1349 Hier bestehen gewisse Affinitäten zu Tugendhats Plädoyer, Philosophie von einer zentralen und letztlich anthropologisch fundierten »Grundfrage« her zu verstehen (und zu betreiben); vgl. Tugendhat 2010: 40 (»Man möchte aber die Frage, was man als Grundfrage der Philosophie ansehen soll, nicht nur relativ zu dem verstehen, was man bisher als »erste Philosophie« verstanden hat, sondern der Begriff von Philosophie steht hier selbst auf dem Spiel, und man möchte von einer Frage ausgehen, die man ihrerseits als die menschliche Grundfrage ansehen kann.«, Hervorhebung im Original). 1350 GS V, 375. 1351 Vgl. Hampe 2016: 51.
Diltheys funktionalistisches Philosophieverständnis
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starren Abgrenzungen durch einen bestimmten Gegenstand oder eine bestimmte Methode.«1352
Um diese Funktion näher zu bestimmen und in den »Haushalt des geistigen Lebens« einzuordnen, verlässt Dilthey den historischen Standpunkt und wählt für den zweiten Teil seiner Abhandlung ein »neue[s] Verfahren«.1353 Dazu greift er zurück auf Ideen seiner deskriptiven Psychologie, denn »[a]lle menschlichen Erzeugnisse entspringen aus dem Seelenleben und dessen Beziehungen zur äußeren Welt.«1354 Die Einnahme eines gleichsam anthropologischen Blicks auf die Philosophie als einer spezifischen und abgrenzbaren Klasse menschlichen Verhaltens und »geistiger bzw. menschlicher Erzeugnisse« schlägt einen Bogen zurück zum Anfang der Abhandlung.1355 Nachdem zunächst die Fülle der einschlägigen Erzeugnisse auf historischem Wege gesichtet und sortiert wurde, geht Dilthey im zweiten Teil der Abhandlung dazu über, ausgehend von der empirischen Disziplin der deskriptiven Psychologie die Funktion der Philosophie im Zusammenhang des Seelenlebens zu verorten und zugleich ihren Ort im Lebensund Kulturzusammenhang zu bestimmen. Das Wesen einer Sache nicht von quasi-objektiven Eigenschaften her zu bestimmen (wie im Fall der Philosophie durch Gegenstand, Methode, Problembestände), sondern ausgehend von ihrer Funktion im menschlichen Leben, d.i. von ihrer Verortung in einem »teleologischen Zusammenhang«, ist dem Ansatz Wittgensteins nicht unähnlich1356 und ist ein Verfahren, das in alltäglichen Kontexten, etwa bei der Bestimmung dessen, was ein »Haus« oder ein »Werkzeug« ist, fast selbstverständlich zur Anwendung kommt. In allen diesen Fällen geht es eben nicht darum, eine »natürliche Art« von Gegenständen, besondere Weltmuster oder ähnliches zu detektieren, sondern um eine funktionale Bestimmung eines Gegenstands durch seine Einbettung in den Kontext einer menschlichen Praxis (des Philosophierens, der Werkzeug- oder Zeichenver1352 GS V, 365f; am Ende der Abhandlung spricht Dilthey hingegen von einem »Inbegriff sehr verschiedener Funktionen«, die allerdings zum »Wesen der Philosophie« in einer »gesetzmäßige[n] Verbindung stehen« (GS V, 413). 1353 GS V, 372, 371. 1354 GS V, 372. 1355 Vgl. GS V, 339; GS I, 383 (»Jede Schrift, jede Reihe von Handlungen ist für uns in der Peripherie eines Menschen gelegen, und wir suchen zum Zentrum zu dringen.«). 1356 Vgl. Wittgenstein 1984: 54 (»Ich möchte sagen: Nur dynamisch ist etwas ein Zeichen, nicht statisch.«), 65, 68 (»Wir sagten: wir verstünden mit dem Gebrauche noch nicht den Zweck des Wortes ›vielleicht‹. Mit Zweck aber meinen wir hier die Rolle, die es im menschlichen Leben spielt. (Und diese Rolle könnte man die ›Bedeutung‹ des Wortes nennen, in dem Sinn, in welchem man von der ›Bedeutung eines Ereignisses für unser Leben spricht.)«, Hervorhebung im Original). Für Wittgenstein hat Gunter Gebauer detailliert ein analoges anthropologisch fundiertes Philosophieverständnis nachgewiesen, das sich gleichermaßen von seiner Funktion im Lebenszusammenhang her aufbaut (vgl. Gebauer 2009: 25ff, 101ff).
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wendung).1357 Wie er es schon 1883 in der Einleitung in die Geisteswissenschaften als Verfahren ersonnen hatte, leitet, ergänzt, flankiert und korrigiert Dilthey seine historische Untersuchung im zweiten Teil der Abhandlung mittels der geisteswissenschaftlichen Grundwissenschaften deskriptive Psychologie und Anthropologie.1358 Als rein deskriptive Disziplin, die sich aller Hypothesen und Konstruktionen möglichst enthält, kommt auch der deskriptiven Psychologie, wie bereits der historischen Perspektive, gegenüber den miteinander streitenden philosophischen Positionen der Charakter eines weitgehend neutralen Bodens zu. Auch gegenüber der überwältigenden Fülle historisch greifbarer Erzeugnisse soll sie einen gemeinsamen Nenner bezeichnen; im Fluss der auftretenden, sich umformenden und wieder verschwindenden Gestalten kommt der Anthropologie und Psychologie die Funktion einer formalen Invarianzenlehre zu, als Theorie relativ stabiler seelischer und gesellschaftlicher Funktionen. In diesem Sinne auch greift Dilthey im zweiten Teil der vorliegenden Abhandlung auf sie zurück.1359 Damit seine historische Induktion nicht eine beliebige Liste disjunktiver Eigenschaften von »Philosophie« generiert, geht er, wie angekündigt, dazu über, ihre Befunde im Hinblick auf ihren Bezug zu den Dimensionen des Seelenlebens und ihrer sozio-kulturellen Einbettung in einen funktionalen Zusammenhang zu bringen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass sich die Philosophie bei wechselnder Gestalt und in unterschiedlichen Institutionalisierungsformen doch primär unter dem Aspekt einer Steigerung des Vermögens zur Selbstbesinnung,
1357 »Denn die Begriffe, unter welche der von der Philosophie gehört, [sc. die geisteswissenschaftlichen Begriffe] haben zu ihrem Inhalt die innere Beziehung der Merkmale, welche auf Grund von Innehaben des Erlebten und von Nachverstehen anderer einen realen Zusammenhang darstellen; wogegen die theoretische Naturwissenschaft nur an in den Sinnen gegebenen Phänomenen Gemeinsamkeiten feststellt.« (GS V, 372, Hervorhebung hinzugefügt). Durch einen funktionalen Zugriff auf den Philosophiebegriff werde so eine »falsche Gegenständlichkeit« vermieden (GS VIII, 212). 1358 Vgl. GS I, 29, 32, 46. 1359 In diesem Sinne hatte Dilthey sie bereits 1883 konzipiert: »Denn jedes [sc. Kultursystem] ist das Erzeugnis eines Bestandteils der menschlichen Natur, einer in ihm angelegten, durch den Zweckzusammenhang des gesellschaftlichen Lebens näher bestimmten Tätigkeit. Es ist in dieser der Gesellschaft aller Zeiten gemeinsamen Grundlage angelegt, wenn es auch erst auf einer höheren Kulturstufe zu abgesonderter und innerlich reicher Entfaltung gelangt.« (GS I, 52). Peter Krausser hebt den formalen und damit in seinen Augen modernen Charakter der Diltheyschen Anthropologie hervor (vgl. Krausser 1968: 19n4). Vor dem hier dargestellten Hintergrund wird deutlich, wie sich dieser formale Charakter, d. h. der Verzicht auf »inhaltliche Menschenbilder«, aus der wissenschaftstheoretischen Konstellation bei Dilthey als systematisches Erfordernis ergibt, denn anders wäre eine Verbindung zur historischen Formenmannigfaltigkeit nicht zu gewährleisten.
Diltheys funktionalistisches Philosophieverständnis
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sei es im individuell-seelischen oder gesamtgesellschaftlichen System, begreifen lässt.1360 »Die Grundeigenschaft in allen Funktionen der Philosophie ist sonach der Zug des Geistes, der über die Bindung an das bestimmte, endliche, eingeschränkte Interesse hinausschreitet und jede aus einem eingeschränkten Bedürfnis entstandene Theorie einer abschließenden Idee einzuordnen strebt.«1361
Anhand der Philosophieabhandlung lässt sich Diltheys Verfahren einer historisch-systematischen Doppelperspektive mithin ausführlich nachvollziehen. Die historische Dimension sichert den Kontakt zur geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit und schützt zudem vor der Enge eines partikularen Standpunkts. Das systematische begriffliche Instrumentarium der Anthropologie und Psychologie erlaubt andererseits, in der historischen Mannigfaltigkeit durch Bezugnahme auf die stabilen Strukturen des Seelenlebens und der gesellschaftlichen Funktionen inhaltliche Zusammenhänge auszuzeichnen. Damit führt Dilthey zum einen vor, wie ein lernfähiger Umgang mit dem disparaten historischen Material aussehen könnte, zum anderen aber auch, wie plastisch sich die Philosophie den sich wandelnden sozio-kulturellen Gegebenheiten jeweils anpasst.1362 Das Wesen der Philosophie stellt sich Diltheys stereoskopischem Blick als »Inbegriff sehr verschiedener Funktionen dar, die durch die Einsicht in ihre gesetzmäßige Verbindung […] zusammengeschlossen werden«.1363 Sehen lässt er einen in seinem Verlauf und seiner konkreten Ausgestaltung nicht antizipierbaren und schon gar nicht auf Vereinzelwissenschaftlichung festgelegten Prozess von Philosophie als »Selbstbesinnung des Menschen« oder, mit den Worten seines Marburger Kollegen, als »ein beständig prüfendes und berichtigendes soziales Selbstbewußtsein«.1364
1360 Andere Funktionsbeschreibungen lauten: eine »Anschauung dessen was ist, als eines Ganzen allgemeingültig [zu entwickeln]«, »die Rechtsgründe für diese aber bis in die ersten Prämissen [zurückzuführen]«, »Anweisung zu jeder Art von Handeln, als Ideal und Lebensweisheit« (GS VIII, 212; vgl. V, 406–416). Sie lassen sich alle als inhaltliche Explikationen der ganz formalen Bestimmung von Besinnung und Selbstbesinnung als einer Bereitstellung von Reflexionskapazität verstehen; vgl. Pfafferott 1985: 354–367. 1361 GS V, 415. 1362 Vgl. GS V, 413–416. 1363 GS V, 413. 1364 GS XIX, 304f (»Die Aufgabe der Philosophie der Gegenwart ist Selbstbesinnung des Menschen, Besinnung der Gesellschaft über sich selbst […]«); Natorp 1964: 27; vgl. Katsube 1931: 177–180; Cavell 1999: 125 (»In philosophizing, I have to bring my own language and life into imagination. What I require is a convening of my culture’s criteria, in order to confront them with my words and life as I pursue them and as I may imagine them; and at the same time to confront my words and life as I pursue them with the life my culture’s words may imagine for me: to confront the culture with itself, along the lines in which it meets in me.«, Hervorhebung hinzugefügt).
Verwendete Siglen
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Sachregister
Adäquanz, anthropologische 195–202 »affordances« 185, 188–190, 281f. Anarchie 107, 111, 131, 133, 256, 334, 387 Anpassung 183f., 189, 192f., 274 Anthropologie 16, 26, 71, 104, 115f., 161f., 164, 195–201, 253f., 278, 318, 332, 355, 368, 378, 385, 430–433 Antimetaphysik 85–88, 90, 121f., 134, 178f., 200, 203 Antinomie 130f., 133, 146, 148, 151, 204f., 207f., 259, 280, 327 Antizipation 258 Apparat, intellektueller 187, 198, 200, 206f. Apriori, relatives A., historisches A. 33, 36, 38, 43, 46f., 52, 68, 72, 79, 110, 141, 150, 152, 158–160, 173, 204f., 254, 259, 274f., 281–283, 318, 396, 414, 428 Archiv 108, 291, 356, 359, 377, 380 Artikulation 191f., 207, 217, 231, 263, 271, 274, 277f., 303, 305, 320, 340, 354, 356, 359, 370, 390 Atmung 186 »Aufbau der geschichtlichen Welt« 230, 278, 283, 291, 309, 353, 377, 380f., 392– 394 Aufklärung 110, 131, 133, 197, 246, 258f., 334, 340, 342f., 348, 353, 364, 366, 382, 386–388, 421 Ausdruck 39–41, 65, 96, 139, 165, 225–231, 236, 305, 315, 355, 389, 401, 408, 425, 429 Auslegung 229f., 345, 364, 377, 406
Außenwelt 72, 74, 118f., 141f., 157, 181, 185, 189, 193f., 196–200, 224, 264, 311, 314, 345 Autobiographie 354–357 Bedeutsamkeit, Satz der 112, 174, 246, 248, 272f., 296, 307f., 311, 313f., 360, 428 Bedeutung 49, 52, 65f., 72, 81, 153, 169, 212f., 226, 231f., 235f., 256, 272f., 283, 288f., 295, 310, 314, 354–358, 362–366, 392, 431 Bedeutungskern 299 Begriffe zweiter Ordnung 115f., 180, 182 Bewusstsein, historisches 22, 24, 31, 331f., 340, 343, 347, 353, 364–366, 369, 372– 374, 380–382, 384–392, 394 Bewusstsein, phänomenales 203, 205 Bewusstseinsphilosophie 194, 232 Bildung, Bildungsprozesse 23, 35, 45, 114, 133, 168, 222, 333, 365, 369, 372–374, 376–379, 382, 386 Biographie 76, 180, 193, 305, 309, 350, 355, 358 biologischer Standpunkt 181, 188, 194, 196, 233, 237f., 266 Biologismus 195, 321 »Bühne des Lebens« 235f., 266, 359 »causa aequat effectum« 313 Cartesianismus 17, 50, 193, 237–239 »idealer Chronist« 360 Chronophobie 16–19, 21f. cogito-Argument 236f.
456 Denken, schweigendes/diskursives 219, 221f. »omnis determinatio est negatio« 256–258 Dichtung 18, 162, 233, 244, 253, 297, 320, 361f., 368 differentielle Sicht 193f., 199, 266, 329, 383, 396, 427 Dogmatismus 31, 88, 108, 114, 121, 127, 134, 136, 200, 212, 279, 320, 334, 387 Drama 235, 337, 346 Dreistadiengesetz 90, 93–96, 101f., 104, 114, 125, 234 Dualismus 46f., 50, 52, 57, 72, 109, 152, 163, 193, 221, 242, 272, 370 Durchsichtigkeit 150f., 268f., 274f., 279, 327, 368, 378 Einbettung 74f., 132, 134, 196, 213f., 240– 248, 264, 281, 299, 337, 355, 360, 380, 390, 395, 407, 431f. »Eintagsmenschen« 260, 394 Einzelwissenschaften 15, 21, 35, 54, 97f., 108, 121, 135f., 144, 162, 240–245, 252, 318, 353, 405, 412, 417f., 430, 433 Emanzipation 23, 161, 244, 334, 339, 387, 405 Empirie 87, 120–123, 143, 215, 251, 319, 364 Endlichkeit 79, 160, 216, 239, 259, 283, 325, 327f., 334, 386, 392, 430 Entrelativierung, progressive 226, 318 Entwicklung 22, 42, 49, 86, 90, 93–95, 151, 191, 273f., 277, 311, 354, 370, 383, 386, 390, 421, 429 enzyklopädisches Gesetz 81, 113–116, 125 »transzendentale Erfahrung« 211, 310 Erkenntnistheorie 38, 42, 54, 76f., 110, 115, 145, 147, 186f., 196f., 215, 242f., 253, 262, 278, 417, 423, 428 Erleben, Erlebnis 51, 153, 176f., 201–203, 210, 216–218, 225, 231, 284–286, 297– 304, 307–311, 313, 316, 355, 373, 375– 378, 389 Erlebnissatz 238, 310f. Erziehung 44, 133, 264f., 369, 381f., 415 »esse est percipi« 52, 219f.
Sachregister
Evidenz 152, 158, 174, 233, 236f., 239, 419 Fallibilität/Infallibilität 52, 82, 217, 220 Fiktion, fiktiv 56, 66, 90, 116, 134, 206, 254, 299, 352f., 360, 363, 367f., 389 Form/Inhalt-Dichotomie 42f., 272, 370 Formalkategorien 269f., 279, 301, 303, 384 Fortschritt 25, 37, 57, 65, 69f., 93–96, 112, 160, 164, 290f., 339, 358 Fluktuanz 281 »Fortgezogenwerden« 300f., 303 Freiheit 49, 56, 65, 96, 98, 130, 145, 154f., 159, 163f., 190, 192, 272, 292, 343, 378 Fruchtbarkeit 82, 246, 248, 273, 282, 307, 315, 396, 412 Funktion, funktional 21, 108, 132, 160, 162, 187–191, 197, 202, 240–242, 245– 247, 253, 263–266, 275, 323, 381, 395, 404, 407f., 429–433 Gedankenexperimente 259 Gefühl 51, 104, 120, 153f., 164, 183, 186– 189, 198, 201f., 214, 219, 236, 299–304, 344–346, 352, 375 das Gegebene 48, 105, 120, 123, 135f., 141, 219, 234, 249, 252, 258, 260, 300, 310f., 328 Geist 180f. absoluter Geist 162, 327f. objektiver Geist 29, 180–182, 195, 213, 224, 231f., 264, 288, 311–314, 328, 369, 404 subjektiver Geist 180f., 195, 231f., 288 Geisteswissenschaften 23, 33, 35, 44–49, 52f., 55, 63, 68, 72–74, 78–82, 95, 102f., 109, 115–117, 131, 141–145, 191, 196, 220, 235, 242, 248, 250, 261, 288, 300, 309, 311, 331, 354f., 389, 394, 400f. »Sphäre von Gemeinsamkeit« 232, 313, 318, 369, 379f. Generation 39, 86, 125, 161, 261, 265, 289– 296, 369, 381 Genese/Geltung 153, 198f., 203, 391, 410f., 420 Geschichtsschreibung 18, 21, 30, 37, 101f., 253f., 288, 306, 358–362, 427
Sachregister
Geschichtsdarstellung/Geschichtsforschung 101, 160, 337–339, 350, 353, 356–368, 375f., 380, 390, 393 Geschichtsphilosophie 19, 54, 90, 95–102, 123, 261, 391 Geschichtsunterricht 380f. »großes Gesetz der ganzen organischen Natur« 183, 192 Gewissheit 19, 106, 112, 120, 133, 158, 163, 166, 191, 210, 214, 219f., 236–239, 292, 300, 366, 405 Grunde, Satz vom 137–142, 147, 157–159, 210 Grundfähigkeiten 206 Handlung, Handlungsverstehen 48, 79, 91, 184, 186, 189f., 192, 199, 201f., 206f., 225–229, 235, 264, 277, 315, 347f. Hermeneutik 29f., 33, 45, 78, 175f., 224, 229–233, 254, 263, 277, 306, 332, 345, 378, 385, 387, 405f. Philosophische H. 27, 29f., 175 Historische Schule 21, 35, 41f., 54, 101f., 115, 131f., 171, 383, 386, 388 Historismus 22f., 30, 45, 208, 255, 334, 337 Hochstilisierung 205, 211, 213, 226, 229, 332 Horizont 205, 210, 212, 226, 258, 278, 388, 424, 426, 428 horizontale Strategie/Lesart 183, 195 Hypothese, hypothetisch 51, 73, 80, 108, 117f., 120, 157–159, 197, 200, 202, 210, 221, 223, 234, 320, 365, 384, 432 Idealismus 37–39, 41f., 50, 163f., 168, 208, 238f., 277, 325f. Idealität 225f., 256, 371f., 384 Idealität, transzendentale 17, 209f. Identität, Satz der 144, 372 Immanenz 92, 122, 188, 195, 202, 222, 233– 235, 238, 263, 272, 278, 282, 289, 299– 301, 312, 326, 366, 396, 419 Individualität, Individuation, Individualisierung 78f., 116, 180, 203, 232f., 256f., 265, 273, 285, 297, 327, 341, 344, 372f., 379, 384, 390
457 Induktion 54, 80, 100, 125, 146, 274, 395, 397, 408, 418, 427, 432 Informativität 67f., 290, 401 Inkommensurabilität 154, 159, 202–204, 208, 258, 268, 281, 309, 320, 323, 325f., 385, 393 Innewerden 51, 118, 217–220, 236, 269, 300, 386 Innenwelt 118–120, 190f., 193f., 199, 217 Institutionen 68, 165, 195, 231, 266, 292, 312, 318, 334, 347f., 351, 380, 390 Intellektualismus 186f., 192, 194, 196f., 200 Intellektualität der inneren/äußeren Wahrnehmung 219f., 222, 269 Introspektion 74, 118, 223, 225, 228, 231, 253, 262, 264 Intuition 65, 124, 254, 289, 386, 393, 397, 399, 406 Irrationalität, Irrationalismus 27, 140, 166, 204, 208, 259, 317f., 320–322, 324– 326, 328f. Irreversibilität 312 Kategorienlehre 31, 267f., 272, 280, 282, 309, 368 formale, reale, historische K. 151, 268– 272, 274f., 279, 286f., 301, 303, 309, 353, 382, 384, 393 Kathederphilosophie 244f., 247, 250, 428 Kausalität, Kausalnexus 91, 120, 138, 147– 152, 158f., 187, 202, 206, 279f., 309, 312– 314, 367 Kern, kernhaftig 194, 198, 204, 236, 259, 268, 327, 341, 362, 367, 392 das Klassische, Klassizität 312, 333, 391, 404 Körper, Körperlichkeit, Verkörperung 47, 50f., 67, 91, 181, 183, 185–187, 194, 202, 206, 264, 278, 281, 344 Kommunikation 206, 218, 225f., 256, 319, 401 Komplexität 96, 99f., 191, 260–263, 320, 370, 418 Konstitution 47f., 75, 168, 196, 234, 275, 278, 282, 309f.
458 Kontemplation 111, 168, 189, 205, 336, 340, 349 Kontinuität 39, 86, 174, 183, 189, 273, 291– 293, 296, 355, 362, 392, 402 Korrelation 57, 61, 65f., 160, 303f. Korrespondenz 140, 185, 187, 204, 359 Kraft, Kraftübertragung 55, 91, 109, 112, 167f., 247, 273, 277, 283, 295, 299, 310– 317, 335, 340f., 347, 352f., 356f., 359, 366, 369, 375, 378–380, 392, 425 Kulturschwelle 230, 345, 347 Kunstwerke 167, 228, 231f., 244, 374 Kybernetik 187f., 190, 192, 261–266, 274 Lebendigkeit 245, 272, 327, 376, 405 Lebensäußerung 180, 191, 225–229, 232, 236, 256, 298, 384, 387f. Lebenseinheit, psychophysische 153, 164, 170, 183f., 186, 188–190, 193–197, 201, 207, 213, 222, 225f., 231, 233, 236, 246, 262f., 265, 272, 274, 277, 281, 283f., 291, 294, 299, 309, 313, 315f., 318, 328, 353, 354, 377, 389, 393 Lebensform 23, 59, 183, 191f., 213, 229– 231, 287, 289, 292, 316, 332, 335, 378, 387, 389 Lebenskategorie 169, 209, 212, 259, 267, 271–285, 295f., 302, 304, 309–311, 316, 320, 353f., 357, 368, 370, 384, 392f. Lebensphasen, Lebensalter 93, 289, 293– 296, 320 Lebensprozess, -vorgang 150, 184, 186, 191, 193, 209, 213f., 226, 231f., 236, 239, 246f., 252, 260, 264, 269, 273, 280f., 284, 294, 320, 331, 357 Lebenswelt 148, 199, 205f., 209, 279, 338, 348 Lernfähigkeit, Lernprozess 133, 265, 274, 318, 386, 424, 433 Logismus 186, 197, 218, 226, 272 Materialität 314 Mensch, ganzer 77, 187, 196f., 200f., 206f. Metaphilosophie, metaphilosophisch 21, 23, 31, 87, 108f., 160, 170, 183, 239–241, 245, 319, 393, 395, 412, 425, 427
Sachregister
Metaphysik, induktive 274 Metaphysik, praktische 155, 166 Metaphysikkritik 29, 31, 85, 87f., 99, 110, 122, 144, 147, 150, 158, 161, 165, 172f., 175, 239f., 375, 389, 392 »metaphysische Stellung zur Wirklichkeit« 86, 131, 134, 138, 144f., 200 das Meta-Physische 104, 162, 165f. Methodologie 33, 38, 41, 46f., 52–54, 72f., 78, 100, 126, 131, 144, 160, 168, 170, 177, 180, 197, 202, 207, 224, 229, 278, 285, 331, 358, 400 Milieu 181, 183f., 187, 190f., 193, 195–197, 201, 213, 231, 236, 246, 263, 265, 269, 277, 284, 299, 309f., 393 Modell, anthropologisches 91, 116, 196, 200, 371 Möglichkeit 124, 159–161, 180, 250, 254f., 258–260, 274, 283, 291, 315, 368, 377f., 418, 429 Mythos, mythisch 95, 104, 130, 164, 224, 287f., 307, 313, 325, 353, 389 Narration 133, 236, 297, 337, 354–362, 365, 368, 375, 380f., 389f., 393 »narrative sentences« 306 »natürliches System der Geisteswissenschaften« 102f., 131, 143, 174, 245, 389 natura naturans/natura naturata 182 Naturalismus, Naturalist 31, 33, 40, 54, 58, 70, 78, 142, 157, 163, 205, 215, 224, 243, 321, 428 Naturphilosophie 69, 100, 104, 121, 173, 182 Naturwissenschaften 37, 41–48, 51–55, 57, 60–62, 64, 67f., 70, 73, 77, 79–82, 88, 97, 108, 112, 115f., 118, 120, 130, 132, 136, 141, 144, 191, 194, 205, 216, 220, 235f., 248, 256, 268, 273, 284–286, 312, 323, 338f., 362, 387, 402, 432 Neugier, theoretische 55, 106, 112, 134, 242, 246, 409, 416 Neukantianismus 38f., 41–44, 72, 89, 242, 251, 268, 326, 428 Nominalismus 130, 133, 156, 169, 270 Normalbewusstsein 411, 414, 420
459
Sachregister
Normativität, interne 79, 264 notiones universales 98f., 101, 234 Notwendigkeit 49, 65, 88, 92, 117, 135f., 153, 158f., 250, 253, 255, 260, 411 Objektivierbarkeit, Objektivierung 211, 231, 323 Ökologie 24, 181, 183f., 186–188, 192–196, 202, 230–233, 237, 239, 264–266, 281, 291, 294, 357, 390, 392 »elementare logische Operationen« 80f., 300f., 303 Operationalisierung 62, 66, 70, 109, 283, 318, 379 Organisation, äußere 99, 117, 131, 233 Orientierung 110, 127, 131f., 163, 281f., 306, 323, 334, 336, 341, 343, 350, 352, 362, 368, 389, 401, 405, 421–423 Partikularismus 207, 233, 388–390, 433 Pantheismus 85, 157, 175–177 Phänomenalismus 60, 117, 119f., 216 Phänomenalität, Satz der Ph. 50, 117, 119f., 194, 238f., 284, 310, 326 Phänomenologie 123, 128, 131–133, 142, 145f., 148, 155, 157, 160, 165, 203, 278, 293, 299–301, 323, 385 Phantasie 156, 365, 371 philosophia perennis 174 philosophia prima 18, 126, 135f., 241f., 244, 247, 415, 430 Philosophiedefinition, -verständnis, -begriff 21f., 126, 240f., 243f., 247, 249, 331, 395, 397–400, 403, 408f., 411–414, 424–427, 429, 431f Philosophiegeschichte 18, 24, 26, 28, 30, 34, 37f., 125, 129, 131f., 144, 147, 157, 160, 174, 242, 251f., 281, 386, 398f., 408, 412–415, 417, 420f., 424–427, 429 Physiologie 55, 59f., 62, 65f., 68, 71, 113, 120f., 186, 191f., 206, 215, 265, 282, 368 Positivismus 39, 46, 61, 87–90, 94, 100f., 105, 109f., 112, 119, 122–124, 134, 163, 172, 175, 208, 233, 239, 249, 256, 260, 275, 364, 428f. »Positivität der Welt« 256–259
Präsenz 279, 297, 316 Pragmatismus 189 Praxis 35, 38, 77, 110, 112, 121, 165, 187, 211f., 226, 229, 242, 252, 256, 291, 320, 333, 336, 354, 360, 372, 387, 404, 407, 415f., 428, 430f. Praxiswissenschaften 109, 242 »presentism« 381f. Psychologie 17, 29, 44, 47, 51, 53f., 65, 73– 77, 108, 115–117, 123, 143, 177, 181, 194f., 197, 201, 217, 222–224, 244, 263, 288, 313, 323, 349, 355, 385, 431–433 Psychologismus 29, 243, 283 Qualitätenkreise 59, 61–64 Quasianalyse 278 Rätsel 55, 64, 70f., 162, 232, 263, 389, 402, 405, 429f. Reaktion 55, 131, 184, 188–191, 193f., 375, 388 Realdialektik 280 Realismus, Antirealismus 59f., 62–64, 109, 116, 124, 175, 216, 309, 361, 365 Reduktion 55, 67–72, 114, 193, 209 Reflexion 54f., 67, 69, 75f., 98f., 126, 145, 160, 168, 208, 214, 222, 229, 247, 252, 276, 286–288, 316, 318, 340, 343, 357, 369, 390, 392f., 400, 430, 433 Reformation 165, 289, 309, 317 Regelkreis 183, 187f., 192, 264, 266 Rekonstruktionen, metaphysische 279, 286f., 384 Relationalität 63, 118–120, 239, 270 Relativismus 31, 118f., 148, 226, 283, 317f., 321, 334–336, 342, 392, 397 Relevanz 37, 67, 97, 125, 158, 174, 201, 229, 242, 246, 248, 265, 273, 292f., 295f., 302, 307f., 333, 354, 385, 401, 412, 414, 422 Religion 40, 76, 87, 99, 102, 104, 108, 111, 117, 130, 139, 156, 160, 162f., 164f., 171, 178, 203, 210, 212, 223, 229, 243, 245, 279, 287f., 317, 328, 333–336, 342, 348, 377, 389, 391f., 396, 398, 403, 409, 413, 416 Resignation 92, 106, 109, 111, 117, 208, 215, 234, 260, 271, 385
460 Revolution, Französische 87, 102, 107, 110f., 131, 293, 309, 387f. Schrift 34, 142, 192, 195, 212, 230, 232, 256, 354f., 431 Sehen, geschichtliches 15, 261, 267, 356, 363, 376f., 382 Selbstbesinnung 77, 87, 97, 180, 187f., 214, 222, 225, 253, 264, 287, 301, 305, 318, 332, 354–356, 358, 363, 365, 386f., 395, 432f. Selbstverpflichtung 349–352, 391 Sinnenwelt 142, 225, 231 Situation 34, 107, 117, 190, 192, 194, 206, 236, 264, 278, 287, 297, 299f., 302, 317, 339, 345, 375, 422–424, 428 Skeptizismus 31, 121, 130f., 133, 148, 157, 197f., 200, 237, 335, 348, 416 Solipsismus 50, 199, 238 Sorge 103, 244, 300–302, 305 Soziologie 44, 53–55, 87, 90, 97f., 108, 111, 113f., 170, 195, 241, 243, 246, 248f., 364, 385 Spekulation 38f., 42, 86, 88, 94f., 100–102, 105, 121, 124, 155, 163, 172f., 175, 179, 182, 208, 214, 234, 249 Sprache 21, 56, 76, 105, 143, 157, 162, 188, 196, 206, 224, 226f., 229–232, 314, 325, 384, 386, 405, 422 Standpunkt, erkenntnistheoretischer/kritischer 50, 60, 75, 119, 382 Standpunkt, historischer/systematischer 21, 40, 383, 418, 424–427, 429, 431, 433 »Standpunkt der Erfahrung« 123 »Standpunkt des Lebens« 170, 188, 196, 237f., 266, 283, 371 »Standpunkt der Metaphysik« 103 Stellungnahme 193, 299, 350, 388, 390, 430 Stereoskopie 40, 383, 433 Stipulation 93, 124, 222, 385, 397, 414, 425 seelische Struktur, Strukturpsychologie 42, 49, 64, 76, 80, 113, 117, 153f., 162– 164, 169, 188–190, 195, 201f., 207, 216, 263, 265, 272f., 284, 288, 293, 296, 300– 304, 312, 316, 349, 370, 380, 384, 390, 397, 407, 430, 433
Sachregister
Strukturzusammenhang 188f., 195, 201, 222f., 300, 304, 316, 328, 407 Subjekt/Objekt-Relation 47, 184–187, 230–232, 272, 305 substantiale Formen 126, 142–145, 173, 234 Substanz 71, 130, 147–152, 155f., 158f., 174, 182, 193, 196, 202, 266, 270, 276f., 279–281, 309 Substanzdualismus 46, 50, 57, 193 substratloses Tun 266, 276f. Substratneutralität 266 Substruktur 226, 235f. Sympathie 341–346, 349, 352f. »System von Gleichförmigkeiten« 59, 61– 64, 67 Systeme der Kultur 68, 108, 117, 180, 229, 241, 245–247, 264, 380, 432 Systemeigenschaft 188, 197 Systemtheorie 99, 261, 263–265 Szientismus 45, 162, 205, 211 Technik 60f., 81f., 91, 192, 213, 229, 235, 242, 301, 339, 342, 350, 376, 398, 409 Teil/Ganzes-Relation 304f., 307 Teleologie, teleologischer Zusammenhang/ Struktur 164, 175, 187–189, 195, 202, 263, 312, 412, 429, 431 Teleonomie 188, 265 Theorie 34f., 40f., 61, 79, 96, 104, 106, 125, 132, 152, 155, 158f., 174, 189, 199, 206f., 212–214, 226f., 229, 242, 247, 249, 258f., 280–282, 383f., 406f., 416 Totalität, seelische 42, 120, 132, 154, 165, 168f., 176, 194f., 197, 201f., 207, 223, 228, 237, 265, 269, 274, 297, 301, 325, 328, 349 Tradition 18f., 87, 103, 110, 127, 130f., 155f., 175, 230, 240, 243, 292, 342, 350– 352, 366, 387, 390, 392f., 402f., 413, 428 Tragik, Tragödie 230, 260, 306, 316, 360, 377 Transzendentalphilosophie 16f., 42f., 66, 75, 86, 119, 121, 123, 146, 151f., 186, 193, 204, 209–211, 215f., 234, 254, 268, 275f., 278, 286, 309f., 319, 326, 357, 417–419
461
Sachregister
Trias, psychologische 153, 169, 201f., 207, 231, 304 Triebe 40, 161f., 165, 183, 188–190, 201, 233, 263, 328, 342, 344, 347, 349f., 392 type/token 226, 256, 371f. Typus 76, 79, 116, 162–164, 196, 291, 295, 331, 369f., 362, 371, 377–379, 397 Umgangssprache 105, 168, 206, 226, 308 Umsetzung 189f., 260, 264, 284, 315, 352 Umweg 119, 224f., 254, 264, 347 Unergründlichkeit 59, 269, 271, 327 Unerschöpflichkeit 204, 230, 249, 295, 327, 374 Unhintergehbarkeit 208, 211f., 214f., 223f., 226, 394 Universalgeschichte 97f., 100f. Universalismus, Universalität 36, 39, 42, 131, 136, 139, 154, 156, 163, 214, 233, 334, 387f., 392, 405, 429 Unmittelbarkeit 39, 48, 51f., 198, 206f., 216–222, 224f., 239, 249, 300, 316, 323, 340, 345, 353, 365–367, 374, 419 Urteil, Beurteilung 70, 73, 79, 112, 121, 151, 218, 221, 225f., 256, 262, 312, 325, 346, 365, 384, 410– 412, 418, 426 Verbindbarkeit 82, 100, 110 Vergangenheit 25, 30, 42, 209, 230, 233, 273, 280, 282, 286, 288, 292, 296, 299, 305, 307, 310f., 315f., 332f., 336–341, 352– 354, 359f., 364–367, 369, 376, 379–382, 389f., 392f., 402 Verstehen, elementare/höhere Formen des V. 31, 40, 46f., 50, 74, 78, 80, 86, 101, 213, 216, 221f., 225, 227–229, 231–233, 238, 264, 296–299, 308f., 313, 315, 320, 336, 341, 345f., 354, 358, 369, 372, 377f., 392f., 406, 432 vertikale Strategie/Lesart 182 Vico-Prinzip 357 Vollzugsperspektive, -gewissheit 166, 203, 206, 209–214, 236, 264, 289, 305, 357 Voraussetzungslosigkeit 214f., 218, 243, 262
Vorgeschichte
182, 230
Wahrnehmung, innere/äußere 51f., 60, 72–75, 191, 217–221, 224f., 276 Wechselwirkung 68, 98, 117, 169f., 177, 180f., 183, 207, 213, 236, 246, 263, 265, 269, 277, 291, 393, 400f. Weltanschauung, Weltanschauungstypen 30f., 33, 37, 85, 91, 132, 161–165, 172f., 243, 276, 287, 335, 362, 379, 387, 389, 397, 428 Weltkontakt, Wirklichkeitskontakt 108, 119f., 124, 154, 159, 185, 200, 203, 205, 207f., 215f., 220, 239, 247, 260, 262, 267, 270f., 277, 281, 326f., 359, 364–367, 384f., 389, 433 Werte, Wertanspruch, Wertrealisierung 43, 79, 91, 153, 156, 164, 169, 183, 189, 195, 206, 213, 241, 253, 264, 272f., 305, 312–317, 328, 341f., 350, 352, 387–389, 391, 404, 410–414, 417, 420, 426 »wollend fühlend vorstellendes Wesen« 186, 196f., 200, 205, 263 Widerspruch, Satz vom 137, 140, 144, 158, 203, 254, 259 Widerspruchsfreiheit 29, 64, 106, 137, 140, 148, 150f., 158, 179, 202, 204, 207, 259, 280f., 322, 351, 365, 379, 428 Widerstand 119f., 198f., 204, 209, 217, 230, 236, 271, 327f., 366 Wille 51, 56, 64–67, 117, 119f., 130, 140, 153–156, 164–166, 169, 183f., 187, 189, 197f., 201f., 204, 217, 223, 236, 300, 304, 328, 341, 343f., 349, 362, 366f., 379 Wirklichkeit (Modalität) 119f., 123f., 134, 137, 142, 249–251, 254f., 257–260, 311, 368 Wirklichkeit, geschichtlich-gesellschaftliche 46, 49, 55, 78, 97, 99, 102, 117, 129, 132, 180, 191, 245, 261, 267, 287, 289, 313, 315, 320, 342, 355, 367, 373, 385, 394, 404, 422, 424, 433 Wirklichkeitswissenschaft 112, 249f., 254, 259f., 310, 353, 364, 384, 393
462 Wirkungszusammenhang 209, 293, 307– 315, 317, 340, 352–354, 356–359, 362– 364, 367, 369, 373, 380, 392, 403 Wissenschaftlichkeit 19, 37f., 42, 45f., 53f., 92, 94, 241f., 358, 362, 398, 412–415 Wissenschaftstheorie 38, 54f., 60, 63, 78– 80, 82, 97f., 102, 113, 120, 135, 155, 216, 246, 358, 364, 393, 428, 432 Zeichen 48, 60, 225, 236, 256, 298, 372, 431f. Zeitlichkeit 16–18, 209, 212, 224, 273, 284, 287–289, 294, 296, 376 Weltzeit/Lebenszeit 285–288, 293f., 316, 378, 394
Sachregister
Zeitmauer 24 Zirkel 116, 126, 218, 263, 357, 403, 406 Zirkulation 195, 232, 242f., 264, 281, 315, 317, 339, 352, 381, 385, 393, 416 Zukunft 24, 56f., 209, 224, 273, 286, 288, 296, 299, 302, 305–307, 311, 340, 352, 360, 392, 409, 423 »erworbener Zusammenhang des Seelenlebens« 180, 189, 195, 222, 263, 352, 373, 431 Zwecke 56, 91, 97, 112, 117, 127, 131, 147, 153, 156, 169, 188, 202, 206, 226, 229, 244, 263, 272, 276, 282, 298, 305, 309, 312f., 343, 347, 351, 388, 409f., 419, 428, 430– 432
Personenregister
Abel, Theodore 47, 78 Albert, Hans 78 D’Alberto, Francesca 291 D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 88, 335, 428 Amaral, Maria Nazaré C. P. 392 »Anders, Günther« (G. Stern) 213, 332f. Ankersmit, Frank R. 363, 365 Antoni, Carlo 26, 107, 164, 335 Apel, Karl-Otto 27 Archimedes von Syrakus 138 Ariès, Philippe 295 Aristoteles 16, 18, 54, 106, 126f., 130, 133, 135–138, 155, 173, 175, 204, 234, 240f., 253f., 269, 344, 360, 398, 404, 415f. Arndt, Hans Werner 181, 203 Aron, Raymond 26, 95f., 184, 191, 244, 260, 266, 300, 305, 309, 329, 335f., 377, 390, 406 Ashby, W. Ross 262–265 Augustinus von Hippo 76f., 130, 156, 236f., 311 Aurel, Marc 76, 139 Austin, John Langshaw 34 Avenarius, Richard 87, 163, 250 Bachelard, Gaston 33 Bacon, Francis 105 von Baer, Karl Ernst 289 Bahnsen, Julius 280 Barthes, Roland 366 Bateson, Gregory 247, 265, 308, 401 Baumgartner, Hans Michael 85, 175, 291f., 295
Bayertz, Kurt 69 Beiser, Frederick C. 22, 359 Beneke, Friedrich Eduard 38, 428 Benn, Gottfried 216 Bergson, Henri 19, 171, 179, 321, 323 Berkeley, George 219 Bernoulli, Christoph 173 Berto, Francesco 158 Biemel, Walter 146f. Bigelow, Julian 187 de Biran, Maine 163, 197 Bischoff, Dietrich 211, 315, 392 Blumenberg, Hans 242, 285, 289, 294, 299, 307 Böckh, August 41, 54 Bollnow, Otto Friedrich 22, 26, 43, 49, 178f., 237f., 253, 295, 310, 382 Brandom, Robert 308 Brentano, Franz 108 Breysig, Kurt 101, 178 Buckle, Henry Thomas 52, 88f. Buhr, Manfred 321 Burckhardt, Jacob 19 Carlyle, Thomas 163, 428 Carnap, Rudolf 41, 278 Carr, David 305, 354 Carroll, Lewis 218 Casey, Edward S. 379 Cassirer, Ernst 285–287 Cavell, Stanley 127, 192, 200, 260, 279, 382, 433 Chakravartty, Anjan 60 Chalmers, David 58, 79
464 Chomsky, Noam 57, 70f., 79 Cicero, Marcus Tullius 163, 333, 416 Clam, Jean 194, 266, 308 Clark, Christopher 364 Clarke, Samuel 137 Cohen, Hermann 39, 41f., 123 Comte, Auguste 54, 60, 65, 81, 87–98, 100– 115, 117–120, 122–125, 128, 132, 134f., 162–165, 200, 233–235, 387, 404, 428 Marquis de Condorcet (Marie Jean Antoine Nicolas Caritat) 93 Croce, Benedetto 179 Cüppers, Clemens 219 Cuvier, Georges 113 Dahms, Hans-Joachim 27 Damböck, Christian 123, 144, 246, 260, 278, 418, 428 Danto, Arthur C. 19, 95f., 206, 306, 308, 360, 362 Darwin, Charles 22, 37, 42, 179 Davidson, Donald 43 Debord, Guy 390 Degener, Alfons 172–175 Demokrit von Abdera 163, 404 Dennett, Daniel C. 65 Derbolav, Josef 22, 331, 336 Descartes, René 19, 46, 50, 59, 121, 174, 193f., 214, 236–239, 266, 292, 374, 404 Detel, Wolfgang 78 Dewey, John 192 Díaz de Cerio Ruíz, Franco 27 Diderot, Denis 116 Diemer, Alwin 45 Dierse, Ulrich 25, 90, 111, 251 Dilthey, Karl 108 Dilthey, Wilhelm 15, 17–36, 39–69, 72–90, 93, 95–105, 107–112, 115–120, 122–129, 131–184, 186–202, 204–212, 214–254, 256–328, 331f., 334–336, 338, 340–350, 352–360, 362–386, 388f., 391–395, 397– 403, 405–407, 409, 415–422, 424–433 Dingler, Hugo 27, 206, 211, 223, 251 Ps.-Dionysius Areopagita 155 Diwald, Hellmut 20, 29, 50, 87, 89, 122, 142, 175, 182, 194, 201, 238f., 248, 395
Personenregister
Droysen, Johann Gustav 49, 59f., 89, 224, 229f., 253, 317, 332f., 337, 359, 364, 369f. Du Bois-Reymond, Emil 36, 55–64, 66f., 69, 71 Ebbinghaus, Hermann 74, 178 Einstein, Albert 152 Emerson, Ralph Waldo 428 Engels, Friedrich 89, 96, 242 Epikur 163 Epiktet 199 Ermarth, Michael 23, 28–30, 32, 43, 74, 121, 163, 217, 242, 248, 261f., 274f., 280f., 316, 325, 384, 386, 394, 428 Euripides 260 Faber, Karl-Georg 295 Fagniez, Guillaume 23, 175, 289, 295, 336 Fellmann, Ferdinand 189 Fichte, Johann Gottlieb 19f., 38, 76, 154f., 163, 171, 174, 179, 247, 255, 262, 266, 276f., 293, 324, 404 Fischer, Kuno 38, 280 Flach, Werner 355 Förster, Eckart 207 Forster, E. M. 310 Fortlage, Karl 277 Foucault, Michel 288 van Fraassen, Bas C. 144, 215 Frege, Gottlob 221, 296, 308 Freud, Sigmund 179, 288 Freyer, Hans 249 Friedrich II. (Preußen) 367 Fries, Jakob Friedrich 293 Frischeisen-Köhler, Max 88, 128, 159, 233, 325f. Fuhrmann, Manfred 18, 253f. Fukuyama, Francis 24, 100 Gadamer, Hans-Georg 27, 30, 45f., 90, 175f., 178, 229, 268, 306, 320, 350, 391, 404, 423 Gander, Hans-Helmuth 45, 85, 94, 107, 135 Gebauer, Gunter 166, 226f., 283, 351, 431 Geertz, Clifford 216
465
Personenregister
Gehlen, Arnold 166, 190, 195, 244, 313, 341–353, 392 Gens, Jean-Claude 235 Gethmann, Carl Friedrich 27 Gettier, Edmund L. 279 Gibson, James Jerome 187, 190, 232, 281f., 296, 357 Ginzburg, Carlo 350, 358 Glock, Carl Theodor 29, 173 Göhring, Carl 88 Goethe, Johann Wolfgang 22, 37, 39f., 67, 76, 86, 109, 163f., 171, 193, 214, 232f., 248, 269, 293, 297f., 311, 320, 333, 346, 367, 374, 428 Goodman, Nelson 227 Gorgias 106 Grimm, Jakob 41, 54 Groeben, Margarete von der 38f., 301, 323 Groethuysen, Bernhard 89, 123, 208, 237, 253, 291, 416 Groothoff, Hans-Hermann 25, 28, 167, 242, 382 Gunermann, H. 248 Habermas, Jürgen 27, 30, 46, 78, 318–320, 357, 383 Haeckel, Ernst 37, 57, 64, 181 Hahn, Alois 264 Hamann, Johann Georg 197 Hamid, Nabeel 80 Hampe, Michael 243, 247, 265, 333, 406, 430 Hartmann, Nicolai 132 Hassenstein, Bernhard 188 Haym, Rudolf 36f., 280 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 21, 27, 29, 36–39, 41f., 54, 65, 70, 86, 96, 98, 101, 125, 128, 132f., 136, 139, 162f., 171, 174, 179f., 203f., 214, 251f., 256, 258, 262, 276f., 280, 282, 292f., 314, 319, 324, 327f., 387, 404, 421, 429 Heidegger, Martin 19, 23, 26f., 30, 174f., 229, 240, 243f., 285f., 289, 302, 307 Heisenberg, Werner 59, 63f., 152, 280f. von Helmholtz, Hermann 37, 60, 86, 121, 192, 428
Hennig, Johannes 119, 172, 278, 282 Heraklit von Ephesos 19, 384 Herbart, Johann Friedrich 150, 252, 268, 273, 277, 280, 313 Herder, Johann Gottfried 22, 41, 54, 95f., 124, 172, 197, 267, 315, 374 Herodot 289, 306, 363, 389 Hesiod 104 Heuss, Alfred 285, 332, 337–339, 353, 356, 358f., 365 Heussi, Karl 23 His, Wilhelm 191f. Hobbes, Thomas 116, 163 Höffe, Otfried 152 Hölderlin, Friedrich 293 Homann, Arne 21 Homer 104, 230, 353 Horn, Christoph 237 Horwicz, Adolf 192 Hufeland, Friedrich 173 Huizinga, Johan 19, 332, 337, 380 von Humboldt, Alexander 293 von Humboldt, Wilhelm 172, 282 Hume, David 22, 44, 77, 92, 119, 121f., 145, 150, 153, 158, 187, 195, 200, 274, 370f., 389, 404, 428 Huschke-Rhein, Bernhard 34, 328, 383 Husserl, Edmund 29, 146f., 178, 224, 273, 296, 303f. Iggers, George G. 22, 175, 259, 334 Ineichen, Hans 28, 194, 196 Jacobi, Friedrich Heinrich 197, 252f., 276 Jamblich von Chalkis 155 James, William 397, 428 Jaspers, Karl 107 Jeismann, Karl-Ernst 24, 366, 381 Jesus von Nazareth 315 Joël, Karl 173f., 179 Johach, Helmut 28, 45, 47, 117, 249, 295, 336, 355 Johannes (Evangelist) 139, 203, 216 Jünger, Ernst 24 Jung, Matthias 189, 191–193, 266
466 Kamlah, Wilhelm 19, 27, 48, 211, 226, 243 Kant, Immanuel 15–18, 36, 38–40, 42f., 48, 50–52, 60f., 65f., 70, 77, 79, 85f., 88, 90, 96, 99, 110, 119–121, 124, 127, 135–137, 141, 145f., 150–152, 154f., 163, 174, 185, 187, 194–196, 198, 200, 204f., 207, 209– 211, 214–216, 218, 221, 233f., 237, 242, 250f., 254, 267–269, 271f., 274–277, 280, 282, 284, 286f., 309f., 319, 324, 326, 395, 398, 404, 409–412, 416–419, 421–423 Katsube, Kenzo 26, 240, 295, 316, 433 von Kempski, Jürgen 30, 45, 53, 94, 105, 114, 134, 175, 383 Kern, Hans 173 Kessel, Eberhard 101, 124, 172, 255, 258f., 356, 365, 369, 377, 383, 426 Kierkegaard, Søren 212, 351 Kinzel, Katherina 397 von Kirchmann, Julius Hermann 88 Klages, Ludwig 173, 179, 322, 328 Klaus, Georg 321 Kobusch, Theo 155f., 166, 292 Köhnke, Klaus Christian 38f., 214 Konfuzius 138 Kopernikus, Nikolaus 314 Korzybski, Alfred 204 Kraft, Viktor 122 Krakauer, Hugo 26, 211, 310 Krausser, Peter 28, 30, 80, 185, 187, 215, 261, 263f., 266, 274f., 281, 318, 424, 432 Kroisos 306 Kusch, Martin 243, 246 Landgrebe, Ludwig 21, 26, 302, 313, 315, 378, 386 Laplace, Pierre-Simon 56–58, 66, 69f. Larkin, Philip 340 Lazarus, Moritz 88, 177 Leibniz, Gottfried Wilhelm 22, 137f., 140, 144, 163, 204, 404 Lehmann, Gerhard 37f., 42, 52, 90, 121, 273 Lersch, Philipp 237 Lessing, Gotthold Ephraim 22, 133, 366, 374 Lessing, Hans-Ulrich 43, 60, 88–90
Personenregister
Lessing, Theodor 322, 362f. Lieber, Hans-Joachim 27, 195 Liebmann, Otto 38 von Linné, Carl 113 Lipps, Theodor 428 Litt, Theodor 16, 26, 254, 261, 275, 282f., 292, 313, 329, 359, 366, 377 Locke, John 72, 74–77, 187, 195, 404 Löwith, Karl 15, 23, 96, 394 Lorenz, Heinz 110 Lorenzen, Paul 27, 48, 211, 226 Loretto, Franz 18, 248 Lotze, Hermann 64f. Luhmann, Niklas 100, 246, 294, 308, 315 Lukács, Georg 27, 321, 324f., 336 Lukrez 163 Luther, Martin 287, 308, 316, 346, 367, 377 Mach, Ernst 87, 301 Maier, Heinrich 251 de Maistre, Joseph 93 Makkreel, Rudolf A. 262 Malinowski, Stephan 364 Mannheim, Karl 43, 118, 189, 243, 245, 248, 289, 329, 370, 423 Mantzavinos, Chrysostomos 33, 47, 52, 78, 80 Marquard, Odo 288, 421 Marquardt, Marion 30 Marx, Karl 24, 30, 89, 96, 179, 213, 242, 391 Masur, Gerhard 20, 110, 119, 125, 179, 332 Maudsley, Henry 192 Mayer, Robert 313 McDowell, John 43, 52, 221, 326f. McTaggart, J. M. E. 19, 285f. Mead, George Herbert 192 Meinecke, Friedrich 22f., 232, 334 Melissos von Samos 138 Mendelssohn, Moses 88 Mercier, Hugo 189 Meyer, Johann Heinrich 298 Mezzanzanica, Massimo 28 Mill, John Stuart 44f., 52f., 87–89, 102, 108, 123, 387 Millikan, Ruth G. 66 Misch, Clara 258
Personenregister
Misch, Georg 20, 26f., 36, 60, 83, 179, 207, 235, 240f., 256, 258, 266, 268, 273, 282, 327, 354, 370, 374 von Mises, Richard 47, 77, 82, 100, 110 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 92 Mommsen, Theodor 337, 359 Montesquieu; Charles des Secondat, Baron de 22, 342 Morton, Tom 382 Mose 419 Müller, Johannes 59f., 121, 192 Müller, Wolfgang Hermann 324 Mul, Jos de 28, 187, 259, 356 Musil, Robert 334 Nabokov, Vladimir 16, 19, 284, 301, 303 Nagel, Ernest 55 Nagel, Thomas 58 Natorp, Paul 18, 36–39, 41, 433 Nelson, Eric Sean 327 Nenon, Thomas 146, 159, 161, 427 Newton, Isaac 42, 64, 69, 71, 152, 268, 315 Niebuhr, Barthold Georg 41, 54 Nietzsche, Friedrich 15, 19, 22f., 103, 171, 179, 216, 323, 333–335, 374, 378 Nohl, Herman 22, 27, 37, 40, 124, 192f., 197, 252f., 259, 266, 277f., 280, 293, 309, 359, 369, 374, 379, 382, 388, 428 »Novalis« (G. Ph. F. v. Hardenberg) 76, 173, 293 Oken, Lorenz 173 Olschki, Leonardo 243 Origenes 155f Otto, Stephan 357 Owensby, Jacob 43, 310, 315, 354, 358, 364 Parmenides von Elea 16, 19, 136, 139, 155, 240 Pascal, Blaise 93, 335 Patzig, Günther 278 Pauen, Michael 58, 69 »Jean Paul« (J. P. F. Richter) 374 Paulus von Tarsus 292 Perikles 346 Peschken, Bernd 109, 233, 291
467 Petrarca, Francesco 76, 299 Pfafferott, Gerhard 433 Pittendrigh, C. S. 188 Plantinga, Theodore 214, 229, 379 Platon 16, 106, 130, 139, 142–144, 153, 155, 163, 175, 179, 214, 230, 273, 282, 322, 371, 384, 396, 404, 409, 415f. Plessner, Helmuth 26, 30, 43, 178f., 194, 247, 254, 261, 268, 281f., 284, 289, 295 Polanyi, Michael 206 Popper, Karl 80, 94, 396 Portmann, Adolf 235 Priest, Graham 158 Proklos 155 Proust, Marcel 301 Pyrrhon von Elis 121 Pythagoras von Samos 226f Quine, Willard Van Orman 43, 118, 215, 243 Quintilianus, Marcus Fabius 18 von Ranke, Leopold 101, 124, 172, 255f., 258f., 337, 346, 356, 358f., 365, 369, 377, 383, 426 von Raumer, Kurt 382 Rauthe, R. 248 Richey, Homer G. 26, 318 Rickert, Heinrich 43, 90, 171f., 410 Rickman, H. Peter 28f., 77, 83, 196f. Riedel, Manfred 15, 33, 47, 75, 85, 103, 128, 137, 172, 251 Rigolage, Jules-Émile (»Jules Rig«) 88 Ritter, Heinrich 386 Ritter, Joachim 37, 155 Robinson, Howard 148 Rodi, Frithjof 30, 78, 229, 295 Rorty, Richard 17, 38, 70, 126, 199, 210, 243, 248, 382 Rosenblueth, Arturo 187, 265 Rothacker, Erich 26f., 41, 45, 88f., 101, 112, 124, 171, 192f., 212, 248, 253, 255, 307, 342, 388, 391, 426 Rousseau, Jean-Jacques 102, 174, 374 Rümelin, Gustav 289 Russell, Bertrand 160, 281
468 Ryle, Gilbert
Personenregister
197, 249
de Saint-Simon, Henri 93, 105 Santayana, George 332 de Saussure, Ferdinand 298 von Savigny, Friedrich Carl 41, 54 Scanlon, John 262 Schäffle, Albert 195 Scheler, Max 182, 323, 328, 344–346, 349 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 38, 105, 125, 163, 173f., 179, 251, 293, 324f., 328 Schieder, Theodor 230, 359 Schiel, Jacob 44f. Schiller, Friedrich 40, 280, 374 Schlegel, Friedrich 197, 203, 215, 293 Schlegel, August Wilhelm 197, 293 Schleiermacher, Friedrich 37–39, 54, 76, 78, 86, 96, 98, 104, 163, 165f., 168, 171, 176, 193, 214, 239, 275, 288, 291, 293, 315 Schlosser, Friedrich Christoph 101 Schmidt, Julian 88 Schnädelbach, Herbert 37f., 173, 208, 321– 324, 385f. Schneider, Georg Heinrich 88, 90, 234 Schoeps, Hans-Joachim 253 Scholz, Oliver R. 308 Schopenhauer, Arthur 140, 216, 244, 324 Schorr, Karl Eberhard 315 Schramm, Erich 374 von Schubert, Gotthilf Heinrich 173 von der Schulenburg, Sigrid 26 Sebrecht, Friedrich 106, 114 Seebohm, Thomas M. 184, 315, 406 Seidel, Alfred 322 Seixas, Peter 382 Seneca, Lucius Annaeus 248, 313, 351, 378, 416 3rd Earl of Shaftesbury, Anthony AshleyCooper 163, 214 Simmel, Georg 246, 249, 374 Simon, Josef 170, 184–186, 193 Simon, W. M. 39, 90 Solon 306 Sommerfeld, Hans 75, 88–90, 122f. Sophokles 260, 351
Spencer, Herbert 89, 195 Spengler, Oswald 23, 100, 179, 195 Sperber, Dan 189 de Spinoza, Baruch 98f., 101, 139, 163, 204, 212, 234, 257f., 404 Spranger, Eduard 22, 27, 90, 95, 233, 282, 395 Steenblock, Volker 44f. Stegmaier, Werner 28, 178, 279, 281, 384 Stein, Arthur 26 Steinmann, Kurt 260 Steinthal, Heymann 177 Strauss, Leo 24 Stumpf, Carl 121 Suter, Jean-François 39, 90 Teichmüller, Gustav 21 Tenbruck, Friedrich H. 382 Tetens, Holm 206 Thales von Milet 290 Theophrastos von Eresos 295 Theunissen, Michael 16f. Thimme, Wilhelm 311 Thompson, Evan 187 Thukydides 346 Tieck, Johann Ludwig 293 Todorov, Christo 137, 241, 252 Tönnies, Ferdinand 246 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 374 Topitsch, Ernst 91, 132 Toulmin, Stephen Edelston 212, 320 Toynbee, Arnold Joseph 100 Trendelenburg, Friedrich Adolf 39, 151, 214, 250, 260, 268f., 273 Troeltsch, Ernst 23, 334 Trouillot, Michel-Rolph 339, 387 Troxler, Ignatius Paul Vital 173 Tugendhat, Ernst 226, 318, 430 Turgot, Anne Robert Jacques 93 Tuttle, Howard Nelson 163, 295 Twesten, Karl 88 von Uexküll, Jakob Johann 121, 187, 195, 289 Ulmer, Karl 25, 28, 78, 168, 180f., 245, 334, 336, 382
469
Personenregister
Usener, Hermann
89
Varela, Francisco 187 Vico, Giambattista 123, 357 Vogt, Joseph 230 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 293 Wagner, Fritz 100, 377 Waiblinger, F. P. 378 Waitz, Theodor 75 Weber, Max 179, 249f., 316, 342 Weber, Zach 158 Wells, Herbert George 85 Whewell, William 52 White, Hayden 101f., 336, 360–362 Whitehead, Alfred North 19, 148 Wiener, Norbert 187 Wilder, Thornton 167 Williams, Bernard 59, 61, 124, 312, 351, 377, 391 Winckelmann, Johann Joachim 41, 346, 374
Windelband, Wilhelm 15, 21f., 36f., 43, 72–75, 77–79, 88, 197, 249, 253, 269, 276f., 385, 397–403, 407– 427 Wineburg, Sam 381f. Wittgenstein, Ludwig 21, 122, 127, 191f., 198, 226, 248, 260, 279, 372, 379, 402, 404, 431 Wittram, Reinhard 293, 336, 358f., 362, 376, 382 Wolff, Christian 75, 86, 137f., 140f., 143f., 200, 423 Woolf, Virginia 378 von Wright, Georg Henrik 206 Wundt, Wilhelm 59, 121 Wunsch, Matthias 323 Wust, Peter 173, 197 Yorck von Wartenburg, Paul 26, 43, 111, 123, 175, 193, 315, 335, 384 Zeller, Eduard 38 Zöckler, Christofer 25, 28f., 109, 242, 291