Funktionen des Bewusstseins 9783110210064, 9783110191073

Everybody who thinks or speaks possesses consciousness – but nobody is capable of defining exactly what consciousness is

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German Pages 301 [304] Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Bewusstsein als funktionales Element der natürlichen Welt
Funktion und Bewusstsein
Phänomenales Bewusstsein und Subjekte von Erfahrung
Subjekte sind Artefakte. Aber das macht nichts.
Bewusstsein, Selbstbewusstsein und humane Lebensform
Mitteilung als Funktion des Bewusstseins. Eine experimentelle Überlegung
Bewusstsein als Korrektiv
Bewusstsein und Gedächtnis: Die Bedeutung der Kohärenz und Konsistenz von Erinnerungen
Die funktionale Rolle des Bewusstseins: Integration, Isomorphie und Emergenz
Bewusstsein und Freiheit
Funktionen des Bewusstseins in sozialen Systemen
Affektprogramme und Gefühle
Die Funktion des religiösen Bewusstseins in der Frage des Menschen nach sich selbst
Fallstricke evolutionärer (Selbst-) Bewusstseinsmodelle
Bewusstsein – Reichweite und Grenzen naturwissenschaftlicher Erklärung
Backmatter
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Funktionen des Bewusstseins
 9783110210064, 9783110191073

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Funktionen des Bewusstseins



HUMANPROJ EKT Interdisziplinäre Anthropologie Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von

Detlev Ganten, Volker Gerhardt und Julian Nida-Rümelin unter Mitarbeit von

Jan-Christoph Heilinger

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Funktionen des Bewusstseins Herausgegeben von

Detlev Ganten, Volker Gerhardt und Julian Nida-Rümelin

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Diese Publikation erscheint mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg.

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019107-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Martin Zech, Bremen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Vorwort Die gegenwärtigen Fortschritte der Wissenschaften nötigen, die Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen zu stellen. Vielfältige neue Einsichten fordern beständig dazu auf, das Menschen- und Weltbild zu überdenken und nach der Einbindung des Menschen in den Zusammenhang der Natur zu fragen. Dieser Aufforderung kommt die interdisziplinäre Schriftenreihe Humanprojekt – Zur Stellung des Menschen in der Natur nach. Es wird eine Plattform für Diskussionsbeiträge geschaffen, die auf eine den Bedingungen der Gegenwart angemessene Anthropologie hinarbeiten. Dabei werden verschiedene Wissenschaften zu Wort kommen, um die Frage nach dem Menschen in der größtmöglichen Breite zu bearbeiten. Es geht somit um Beiträge zur Verständigung des Menschen über sich selbst und damit um eine letztlich unabschließbare Aufgabe: ein Humanprojekt. Dieser zweite Band der Reihe enthält ausgewählte Beiträge, die im Rahmen der Arbeitsgruppe Humanprojekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften diskutiert wurden. Die hier abgedruckten Aufsätze stellen überarbeitete und erweiterte Fassungen der mündlichen Vorträge dar. Für die Bearbeitung der Manuskripte danken wir Elke Witt, Nicole Wloka und Jan-Christoph Heilinger. Berlin, im Juli 2008

Die Herausgeber

Inhalt

I. Grundlagen einer Analyse der Funktionen von Bewusstsein Katja Crone/Jan-Christoph Heilinger Bewusstsein als funktionales Element der natürlichen Welt . . .

3

Peter McLaughlin Funktion und Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martine Nida-Rmelin Phänomenales Bewusstsein und Subjekte von Erfahrung . . . . .

39

Wolfgang Prinz Subjekte sind Artefakte. Aber das macht nichts. . . . . . . . . . . . .

63

Dieter Sturma Bewusstsein, Selbstbewusstsein und humane Lebensform . . . . .

83

II. Funktionen des Bewusstseins Volker Gerhardt Mitteilung als Funktion des Bewusstseins. Eine experimentelle Überlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

Alexandra M. Freund/Klaus Oberauer Bewusstsein als Korrektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

Martina Piefke/Hans J. Markowitsch Bewusstsein und Gedächtnis: Die Bedeutung der Kohärenz und Konsistenz von Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

Michael A. Stadler Die funktionale Rolle des Bewusstseins: Integration, Isomorphie und Emergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

VIII

Inhalt

Julian Nida-Rmelin Bewusstsein und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

III. Bewusstsein in Kultur und Gesellschaft Rudolf Stichweh Funktionen des Bewusstseins in sozialen Systemen . . . . . . . . . .

199

Achim Stephan Affektprogramme und Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213

Wilhelm Grb Die Funktion des religiösen Bewusstseins in der Frage des Menschen nach sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229

Andreas Heinz/Fatima Napo Fallstricke evolutionärer (Selbst-) Bewusstseinsmodelle . . . . . . .

245

Alfred Gierer Bewusstsein – Reichweite und Grenzen naturwissenschaftlicher Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

283

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Grundlagen einer Analyse der Funktionen von Bewusstsein

Bewusstsein als funktionales Element der natürlichen Welt Katja Crone/Jan-Christoph Heilinger Das Thema „Bewusstsein“ zieht in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen Aufmerksamkeit auf sich.1 Zentrale Fragen in diesem Forschungszusammenhang lauten: Was genau ist Bewusstsein – was macht einige mentale Zustände bewusst, andere nicht? Gibt es „neuronale Korrelate“ von Bewusstsein? Wie können wir erklären, dass belebte Materie eine bewusst erlebte Innenperspektive entstehen lassen kann und dass jeder von uns aus einem bestimmten persönlichen Blickwinkel die Welt erlebt? Hat dieses „subjektive Erleben“ kausale Eigenschaften, übt es einen Einfluss auf andere Abläufe innerhalb eines kausal strukturierten kognitiven Systems aus, oder ist es lediglich dessen „Begleiterscheinung“? Kann man sagen, dass das subjektive oder phänomenale Erleben eine Funktion für den menschlichen Organismus hat, und worin könnte eine solche Funktion bestehen? Die Hirnforschung und die Neurowissenschaften tragen bereits seit einiger Zeit mit empirischen Studien und Befunden zu einer Diskussion bei, die lange vor allem von Philosophen geführt wurde. Die aktuelle interdisziplinäre Bewusstseinsforschung, als ein Zusammenspiel von empirischen Neurowissenschaften, Philosophie und anderen Disziplinen, bietet für die genannten Fragen viel versprechende Anknüpfungspunkte. Im Folgenden werden wir (1) einen einführenden Überblick über einige Grundfragen der weit verzweigten interdisziplinären Debatten über das Bewusstsein geben: Was genau ist das Phänomen, das untersucht werden soll, und welche Probleme stellen sich dabei? Diese Probleme werden vor allem mit Blick auf das sogenannte phänomenale Bewusstsein (oder: qualitative Erleben) sichtbar, das in Philosophie und Neurowissenschaften – bisweilen unter dem Stichwort „Qualia“ – kontrovers diskutiert wird. In einem nächsten Schritt (2) werden wir 1

Vgl. das breite Spektrum der in diesem Band zur Frage nach den „Funktionen des Bewusstseins“ versammelten Disziplinen.

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uns der Frage zuwenden, welchen Anforderungen eine mit der empirischen Forschung kompatible Theorie des Bewusstseins genügen muss, wenn auch phänomenale Erlebniszustände darin berücksichtigt werden sollen. Wir schließen den Beitrag (3) mit einigen programmatischen Überlegungen zur Formulierung einer Konzeption des phänomenalen Erlebens, die viele Anknüpfungspunkte für interdisziplinäre Auseinandersetzungen bietet. Unser Vorschlag betont die funktionale Rolle des phänomenalen Erlebens im Kontext von menschlichen Handlungen. Dass damit nicht alle Rätsel abschließend gelöst werden, versteht sich von selbst.

1. Worüber genau wird in den Debatten über „Bewusstsein“ gesprochen? Bewusstsein hat jeder, der denkt oder spricht – aber kaum einer vermag genau zu sagen, was es ist. Der Begriff „Bewusstsein“ ist mehrdeutig und unscharf. Zwar lässt er sich zumindest grob einem semantischen Feld zuordnen – so wird keiner bestreiten, dass Bewusstsein irgendwie mit unserem eigenen Erleben sowie mit mentalen und neuronalen Prozessen und Zuständen zu tun hat; häufig bleibt allerdings unklar, worauf der Begriff eigentlich genau verweist. Das gilt zum einen für den alltäglichen Sprachgebrauch, in dem so unterschiedliche Verwendungsweisen vorkommen wie „Nach zweistündiger Narkose war ich wieder bei Bewusstsein“ oder „Dieser Schwierigkeit war ich mir lange Zeit nicht bewusst“.2 Auffällig sind zum anderen aber auch die uneinheitlichen Verwendungsweisen in philosophischen, neurowissenschaftlichen und interdisziplinären Debatten: Hier wird je nach Kontext unter „Bewusstsein“ eine bestimmte Eigenschaft mentaler Zustände gefasst, wie z. B. „Aufmerksamkeit“ (attention), „Gewahrsein“ (awareness) oder phänomenales Erleben, also „wie es für jemanden ist“, in einem bestimmten Zustand zu sein; in anderen Fällen meint man damit lediglich den Zustand des „Wachseins“, bezogen auf den Gesamtzustand eines Organismus (creature consciousness).3 Für diese Mehrdeutigkeit können viele Gründe genannt werden: Hinsichtlich unserer Alltagserfahrung könnte sie z. B. damit zusammenhängen, dass das Phänomen „Bewusstsein“ uns derart vertraut ist, 2 3

Siehe dazu auch Bieri (2005). Vgl. den Übersichtsartikel von Van Gulick (2004).

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dass wir kaum in der Lage sind, eine ausreichende reflexive Distanz zu ihm aufzubauen: Es fällt schwer, sich vom wohlbekannten Zustand des eigenen Erlebens zu lösen, um aus einer künstlichen Entfernung heraus dessen spezifische Eigenschaften zu betrachten.4 Eine solche Distanz zum unmittelbaren Erleben ist für eine präzise Phänomenbeschreibung aber notwendig. In naturwissenschaftlichen Kontexten könnte die fehlende begriffliche Klarheit dagegen mit experimentellen Erfordernissen zusammenhängen. Naturwissenschaftliche Hypothesen erfordern eine Beschreibung und damit begriffliche Fixierung des Phänomens, welches mit wissenschaftlichen Methoden erfasst und erklärt werden soll. Eine solche begriffliche Fixierung ist aber von der Untersuchung selbst insofern nicht unabhängig, als empirische Studien auf „operationalisierbare“ Begriffe angewiesen sind. Operationalisierbar sind Begriffe dann, wenn sie zwar hinreichend exakt sind, aber nicht zu detaillierte Differenzierungen beinhalten, die sich auf die empirische Untersuchung entsprechend einschränkend auswirken. Die Abhängigkeit von Alltagssprache, Forschungskontexten und -interessen macht deutlich, warum die Semantik von „Bewusstsein“ – aus pragmatischen Gründen – variieren kann. „Bewusstsein“ kann somit zurecht als ein „mongrel concept“ (Block 1995) oder als ein „umbrella term“ (Van Gulick 2008) bezeichnet werden, weil er auf eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene angewandt werden kann. So besteht eine erste Aufgabe jeder Auseinandersetzung mit „dem Bewusstsein“ darin, möglichst genau anzugeben, was unter dem Begriff zu verstehen ist. Eine Auflistung derjenigen Phänomene, die darunter gefasst werden können, ist umfangreich. Hier soll zunächst eine Übersicht über einige wichtige Differenzierungen gegeben werden, die sich in der aktuellen Diskussion etabliert haben.

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Zum Problem der Selbstreferentialität, das sich im Zusammenhang der kognitiven Neurowissenschaften als spezifisches komplexes „Gefüge von Selbstund Fremdzuschreibungen“ stellt, vgl. exemplarisch Köchy (2007).

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1.1 Phänomenales Erleben als besonderes Problem einer Bewusstseinstheorie? David Chalmers hat 1995 in einem einflussreichen Aufsatz zwischen zwei Klassen von Problemen differenziert, die seines Erachtens mit dem Phänomen „Bewusstsein“ verbunden sind. Zunächst fasst Chalmers diejenigen Forschungsprobleme zusammen, die von der Hirnforschung und den Kognitiven Neurowissenschaften thematisiert und untersucht werden. Er bezeichnet diese – in einem Gestus augenzwinkernder Geringschätzung – als „easy problems“. Um leichte Probleme handelt es sich dabei nach Chalmers, weil der Fortschritt in den Wissenschaften allmählich eine Lösung der spezifischen Fragen hervorbringen kann, da sie aus der objektiven Perspektive der dritten Person zugänglich sind. Damit ist gemeint, dass eine naturwissenschaftliche Untersuchung möglich ist, die auf Beobachtung und nicht notwendig auf Berichte über das Erleben der betreffenden Person angewiesen ist. Dazu zählt Chalmers (1995) beispielsweise Fähigkeiten, Umweltreize zu unterscheiden, zu kategorisieren und auf sie zu reagieren, außerdem die Fähigkeit eines kognitiven Systems, Information zu integrieren, das heißt Informationen innerhalb des Systems zur weiteren Verarbeitung zur Verfügung zu stellen. Auch die Fähigkeit des (verbalen) Berichts über bestimmte mentale Zustände zählt Chalmers zu den „easy problems“, ebenso wie Aufmerksamkeitsfokussierung, Verhaltenskontrolle und die Unterscheidbarkeit zwischen Wach- und Schlafzuständen. All diese Phänomene lassen sich aus der externen Perspektive der dritten Person wissenschaftlich untersuchen. Dazu schreibt er: „To explain third-person data, we need to explain the objective functioning of a system. […] To explain an objective function […], we specify a mechanism that performs the function.“ (Chalmers 2004, 1112). Gegenüber dem Erkennen bestimmter funktionaler Mechanismen formuliert Chalmers jedoch ein anderes, das von ihm sogenannte „harte“ Problem, welches kategorial von den zahlreichen „leichten“ Problemen unterschieden ist.5 Damit meint er die jedem menschlichen Individuum aus der Innenperspektive unmittelbar vertraute Erlebnis5

Diese grundlegende Unterscheidung zwischen einem „hard“ und einem „easy“ Problem ist von Chalmers als eine selbstverständliche, elementare Grundunterscheidung gemeint, die Ordnung in die vielen Probleme des Bewusstseins bringen soll. Er selbst verbindet damit nicht den Anspruch, einen originellen Beitrag geleistet zu haben. Vgl. dazu Blackmore (2007, 62 f).

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dimension, deren Vorhandensein nicht direkt und nicht vollständig durch eine Untersuchung der objektiv zugänglichen, physikalisch beschreibbaren Prozesse erklärt werden kann.6 An diesen „first-person data“ scheitert das objektive Erklärungsmodell. Den Grund dafür benennt Chalmers: The reason is that first-person data – the data of subjective experience – are not data about objective functioning. One way to see this is to note that even if one has a complete account of all the objective functions in the vicinity of consciousness […] there may still remain a further question: Why is all this functioning associated with subjective experience? […] Merely explaining the objective functions does not answer this question. (Chalmers 2004, 1112).

Das Vorliegen der unmittelbar erlebten subjektiven Innenperspektive wirft demnach ein besonderes Problem auf, dem gegenüber die Methoden der Naturwissenschaften offenkundig zu kurz greifen. Alle Erklärungen der Mechanismen und Prozesse, die im Gehirn ablaufen, geben noch keine Antwort auf die Frage, warum diese von subjektivem Erleben begleitet werden. Und sie vermögen auch nicht zu zeigen, ob dieses subjektive Erleben in irgendeiner Weise selbst eine kausale oder funktionale Rolle innerhalb des kognitiven Systems übernimmt. Eine ähnliche Auffassung vertritt Joseph Levine mit seinem Argument der sogenannten „Erklärungslücke“ (explanatory gap), wonach phänomenales Erleben deswegen nicht naturwissenschaftlich erklärt werden kann, da es sich Kausalerklärungen generell entzieht.7 Diese Diagnose sowie die klassische Formulierung des Phänomens, welches mit dem „hard problem of consciousness“ verknüpft ist, findet sich bereits in Thomas Nagels viel diskutiertem Aufsatz „What Is It Like to Be a Bat?“ aus dem Jahr 1974. Nagel definiert darin den subjektiven Charakter des Erlebens folgendermaßen: „an organism has conscious mental states if and only if there is something that it is like to be that organism – something for the organism“ (436). Damit wird das subjektive, bewusste Erleben einem Bereich des Mentalen zugeordnet, der 6

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Ob es sich dabei um ein für den Menschen spezifisches Phänomen handelt, soll hier nicht näher erörtert werden. Es sprechen jedenfalls viele gute Gründe dafür, dass nicht nur Menschen über bewusste Zustände verfügen; s. Perler/ Wild (2005). Zum Problem der „Erklärungslücke“ siehe Levine (1983; 2001); eine viel diskutierte Gegenposition vertritt Papineau (1998); Pauen (2000) weist nach, dass das Argument mit den Grundannahmen des Eigenschaftsdualismus nicht vereinbar ist.

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vom Funktionalismus, dem Behaviourismus und unter Berufung auf intentionale und computationale Zustände und Prozesse allein nicht hinreichend beschrieben werden kann.8 Eine vergleichbare Differenzierung nimmt Ned Block (1995) vor, die ebenfalls darauf abzielt, das bewusste Erleben von den computationalen und intentionalen Zuständen abzugrenzen. In seinem Beitrag „On a Confusion about a Function of Consciousness“ unterscheidet er innerhalb des menschlichen Bewusstseins das „Zugriffsbewusstsein“ (access consciousness) vom „phänomenalen Bewusstsein“ (phenomenal consciousness). Diese in der Folge kontrovers diskutierte Unterscheidung soll nun kurz vorgestellt werden. Zwar lässt sich eine Differenzierung zweier „Arten“ von Bewusstsein nicht immer so trennscharf durchführen, wie Block es nahe legt; die Unterscheidung von verschiedenen „Aspekten“ mentaler Zustände und Prozesse hat aber heuristischen Wert, vor allem dann, wenn die Möglichkeit einer funktionalen Analyse untersucht werden soll. Als phänomenales Bewusstsein bezeichnet Block das subjektive Erleben, das mit mentalen Zuständen einhergehen kann. Nagel hat dieses Phänomen, wie erwähnt, als „What is it like-ness“ bezeichnet. Hiervon unterscheidet Block das Zugriffsbewusstsein, das die nichtphänomenalen Aspekte von kognitiven Vorgängen umfasst. Damit sind bestimmte intra-mentale Relationen gemeint: Es geht um Bewusstseinsinhalte, die miteinander interagieren können – z. B. intentionale Zustände, deren Inhalt sprachlich artikuliert und einer kognitiven Weiterverarbeitung zugeführt werden kann und auf diese Weise etwa der rationalen Handlungskontrolle zur Verfügung steht. In Auseinandersetzung mit sog. Blindsight-Experimenten9 diagnostiziert Block eine weit verbreitete Verwirrung über eine Funktion des Bewusstseins, die auch in unserem Kontext beachtet werden muss. Blindsight-Patienten haben Läsionen im primären visuellen Kortex, die in ihrem Sehfeld zu „blinden“ Flecken führen. Wenn ihnen innerhalb des betreffenden Sehfeldes etwas gezeigt wird, können die Patienten darüber auf Nachfrage keinerlei Auskunft geben. „Zwingt“ man sie 8

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Man muss daran erinnern, dass Nagel mit seinem Fledermaus-Argument vor allem beabsichtigt, die Unvollständigkeit einer objektiv-physikalistischen Erklärung des Bewusstseins zu belegen, welche die Betrachtung aus der subjektiven Perspektive der ersten Person definitionsgemäß ausblendet. Weniger geht es ihm darum, das phänomenale Erleben einer Fledermaus aufzuklären. Die Pionierarbeit dazu stammt von Weiskrantz et al. (1974).

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jedoch zu einer Entscheidung – etwa indem man sie drängt zu raten, was sie gesehen haben – geben die Patienten erstaunlich oft10 die richtigen Antworten bzw. führen die adäquaten Aktionen aus. Blocks Interpretation derartiger Experimente11 führt ihn zu der These, dass die Zuschreibung einer Funktion des Bewusstseins unter Berufung auf diese Experimente allenfalls für das Zugriffsbewusstsein gerechtfertigt werden könne. Wenn diese Funktionszuschreibung aber für das phänomenale Bewusstsein beansprucht werde, handele es sich um einen Fehlschluss: Die (vermeintlich) fehlende Erlebnisdimension bei Blindsight-Patienten sei tatsächlich – wenn nicht nur, so doch zumindest immer auch – ein Fehlen der „Zugriffsmöglichkeit“ von Bewusstsein. Da diese beiden Dimensionen nicht hinreichend deutlich auseinander gehalten werden, könne das Fehlen von phänomenalem Bewusstsein bei gleichzeitigem Vorliegen von gestörter Verhaltenskontrolle den Fehlschluss begünstigen, phänomenales Erleben (und nicht Zugriffsbewusstsein) habe die Funktion der integrierten Verhaltenssteuerung.12 Dies ist ein Einwand, der bei der Frage nach einer möglichen Funktion des phänomenalen Bewusstseins berücksichtigt werden muss. Allerdings legt Block nahe, dass auch das phänomenale Bewusstsein Funktionen haben könne. Sein Argument entlarvt ja in erster Linie eine Fehlidentifikation, die dadurch zustande kommt, dass eine bestimmte Funktion fälschlicherweise dem phänomenalen Bewusstsein zugeschrieben wird, womit aber nicht behauptet wird, dass dem phänomenalen Bewusstsein prinzipiell keine Funktion zukommt. Im Gegenteil, nach Block würde es helfen, möglichen Funktionen des phänomenalen Bewusstseins weiter nachzugehen, um in der Lage zu sein, es überhaupt zu verstehen. 13 Wir sind der Auffassung, dass Block mit 10 Deutlich über der Häufigkeit von Zufallsbefunden – aber natürlich immer noch deutlich unter der Leistung von Gesunden, die in fast 100 % die Aufgaben fehlerfrei bewältigen. 11 Außerdem stützt er seine Argumentation auf eine Interpretation von Fällen, in denen Patienten während eines komplex-fokalen epileptischen Anfalls in der Lage sind, bestimmte automatisierte Handlungsprozesse – wie Autofahren oder Klavierspielen – weiterzuführen. Allerdings liege auch hier keine kontrollierte Handlungssteuerung vor, die Flexibilität und Kreativität umfasse. Diese Beispiele diskutiert etwa – mit einer von Block abweichenden Interpretation – Searle (1992). 12 Auf die epistemischen Schwierigkeiten, genau zu bestimmen, wann welche Form von Bewusstsein vorliegt, können wir hier nicht weiter eingehen. 13 „Learning something about the function of P-consiousness may help us in finding out what it is.“ (245).

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dieser Grundannahme Recht hat und knüpfen unsere eigenen Überlegungen in Abschnitt 3 daran an.

1.2 Die materialistische Position, die kein „Problem“ des phänomenalen Bewusstseins kennt Die Positionen von Chalmers, Nagel und Block erkennen im subjektiven Erleben eine eigenständige Problemklasse, der mithilfe naturwissenschaftlicher Vorgehensweisen allein nicht begegnet werden kann. Doch es gibt auch alternative Sichtweisen. Daniel Dennett (1991) etwa vertritt die Ansicht, dass Versuche, Bewusstseinsprozesse genau zu verstehen und zu erklären, gar nicht vor schwer wiegende oder gar unlösbare Probleme gestellt sind; im Gegenteil. Nach Dennett ist eine Erklärung von bewussten mentalen Prozessen ohne Weiteres möglich. Explananda sind ihm zufolge solche mentalen Phänomene, die empirisch zugänglich sind, die sich also auf personaler Ebene z. B. in Form von Verhalten und auf subpersonaler Ebene in Form von messbaren neurophysiologischen und biochemischen Veränderungen manifestieren. Untersuchungsgegenstand ist, was in dieser Weise empirisch „vorliegt“. Das, was einige Philosophen (laut Dennett) unter „qualitativem Erleben“ oder „Qualia“ verstehen, „liegt“ jedoch nicht in dieser Weise empirisch „vor“: Zustände, die intrinsisch, unanalysierbar, nicht vergleichbar, essenziell privat und unausdrücklich sind (Dennett 1988). Wäre dies eine zutreffende Beschreibung von qualitativen Erlebniszuständen, dann wäre ein Zugang aus der Perspektive der dritten Person von vornherein ausgeschlossen. Nach Dennett ist diese Definition aber u. a. deswegen nicht kohärent, weil sich mit gutem Grund bestreiten lässt, dass qualitative Erlebniszustände rein subjektiv und privat sind. Die provozierende Schlussfolgerung, die Dennett hieraus zieht, lautet, Qualia – im Sinne von rein privaten, subjektiven, intrinsischen Zuständen – als Explananda gänzlich fallen zu lassen, da ihnen nichts in der Realität entspricht und sie daher auch nicht erklärt werden müssen. Qualia sind kein „hard problem“, wie Chalmers behauptet – weil es sie schlicht nicht gibt. Und das charakteristische „sich Anfühlen“ eines Erlebniszustandes ist deswegen kein „hard problem“, weil es einen nachweisbaren Effekt z. B. auf das Verhalten hat und damit prinzipiell erklärt und funktionalistisch analysiert werden kann. Eine nicht weniger radikale Position vertritt, wer zwar das Vorliegen phänomenaler Eigenschaften nicht leugnet, aber glaubt, diese durch

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eine Reduktion auf die neuronalen Prozesse vollständig erklären zu können. So versucht z. B. Paul Churchland (1985) zu zeigen, dass subjektive Erlebniszustände in Wirklichkeit Hirnzustände sind, wir es aber gewohnt sind, mit mentalistischen Beschreibungen auf sie Bezug zu nehmen. Solche von der Alltagspsychologie beeinflussten Beschreibungen sind nach Churchland – verglichen mit neurophysiologischen Beschreibungen – unpräzise. Seine Strategie besteht im Wesentlichen darin zu zeigen, dass zentrale Argumente, die typischerweise gegen die Möglichkeit einer reduktiven Erklärung von phänomenalen Zuständen vorgebracht werden – darunter Nagels Argument der Perspektivabhängigkeit (1974) und Jacksons Knowledge-Argument (1982) –, nicht haltbar sind. Ein „hard problem of consciousness“ in Chalmers’ Formulierung stellt sich also auch für den eliminativen Materialismus nicht. Zwischen diesen extremen Positionen – der prinzipiellen Skepsis gegenüber naturwissenschaftlichen Erklärungen auf der einen Seite und der Leugnung des Problems auf der anderen Seite – besteht offenkundig ein weit reichender und kaum lösbarer Dissens. Welche Konsequenzen lassen sich daraus ziehen? Im Ergebnis scheinen beide Wege unbefriedigend zu sein: Schließt man sich der einen Position an, dann muss man sich offenbar damit arrangieren, dass eine objektive, naturwissenschaftliche Erklärung des subjektiven Erlebens niemals möglich sein wird; schlägt man sich dagegen auf die andere Seite, dann scheint man bereit sein zu müssen, subjektives Erleben als „besondere“ und erklärungswürdige Eigenschaft mentaler Zustände zu verabschieden. Will man das aber ernsthaft vertreten? Dass beide Möglichkeiten Unbehagen auslösen, zeigt an, dass das Thema eine Bedeutung hat, die über den wissenschaftlichen Diskussionskontext hinausweist.14 14 Diese Diagnose würde im Detail eine eigene Abhandlung benötigen. Dazu nur einige kursorische Überlegungen: Das Thema spricht offenbar etwas an unserem Subjektsein an, das wir als wesentlich empfinden. Insofern hängt von der Frage nach dem Bewusstsein, seiner Erklärung und seinen Funktionen einiges ab. Es geht darum herauszufinden, wie sich ein subjektiv aus der Innenperspektive vertrautes Phänomen in ein naturwissenschaftliches Weltbild integrieren lässt. Das Problem wird dadurch verstärkt, dass naturwissenschaftlichen Erklärungen gegenwärtig eine große Erklärungsmacht zugesprochen wird. Eine besondere Bedeutung hat dabei offensichtlich das Bewusstsein der Urheberschaft eigener Handlungen, das durch naturwissenschaftliche Behauptungen infrage gestellt werden könnte, sollte gezeigt werden können, dass eine naturwissenschaftlich vollständige Erklärung menschlicher Handlungen ohne den Anteil der bewussten Deliberation und Handlungsentscheidung auskommen kann. Zu diesen Fragen siehe z. B. Bieri (2005, 71), der darauf hinweist, dass

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2. Was eine Theorie des Bewusstseins leisten muss Angesichts dieser Ausgangssituation gilt es, einen Theorierahmen zu wählen, der sowohl den angemessenen Ansprüchen naturwissenschaftlicher Erklärungen als auch der subjektiv vertrauten Erlebnisperspektive Rechnung tragen kann.15 Während also zum einen objektiv nachvollziehbare Erklärungen für das Zustandekommen von Bewusstsein und seine Funktionsweise im lebendigen Organismus gefragt sind, muss zum anderen versucht werden, gerade die qualitative Erlebnisdimension in die umfassende Erklärung zu integrieren. Eine solche Integration setzt unserer Meinung nach allerdings voraus, dass der Aspekt des subjektiven Erlebens nicht nur angemessen beschrieben, sondern auch funktional analysiert wird: Zu zeigen wäre, dass die subjektive Erlebnisdimension nicht bloß eine Begleiterscheinung eines (ansonsten) funktional beschreibbaren kognitiven Systems darstellt, sondern dass dem subjektiven Erleben selbst eine funktionale Rolle innerhalb eines komplexen kognitiven Systems zugeschrieben werden kann. Vor diesem Hintergrund besteht das Ziel darin, eine naturalistische Konzeption von Bewusstsein zu entwickeln. Naturalistisch deshalb, weil sie an den Erklärungsmethoden der Naturwissenschaften orientiert sein soll und auf der Annahme beruht, dass bewusste Prozesse natürliche Prozesse sind, die in das kausale Naturgeschehen eingebettet sind. Diese methodische Orientierung bedeutet allerdings nicht, dass man sich damit zugleich darauf festlegt, Bewusstsein ontologisch auf physikalische Ereignisse zu reduzieren. Den besonderen Eigenschaften des Bewusstseins mit seiner subjektiven Erlebnisdimension muss eigens Rechnung getragen werden, insofern sich Aussagen über subjektives Erleben nicht ohne Bedeutungsverlust in Aussagen über physikalische Ereignisse übersetzen lassen. Wir gehen davon aus, dass das in der Philosophie des Geistes und den Kognitionswissenschaften herrschende Paradigma des Funktionalismus hierfür grundsätzlich einen geeigneten Anknüpfungspunkt bietet. In seiner einfachsten und allgemeinen Beschreibung geht der Funktionalismus davon aus, dass mentale Zustände und Prozesse durch Funktiouns an der Frage nach dem Bewusstsein „mehr liegt, als an den allermeisten anderen Dingen“. Zur Frage, ob deliberations- und handlungsleitende Gründe naturalisiert werden können, vgl. auch Nida-Rümelin (2007). 15 Siehe dazu auch Crone (i. Ersch.).

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nen definiert werden, die sie innerhalb eines kognitiven Systems ausüben. Allerdings müssen dabei wichtige theoretische Grundannahmen geklärt werden: Will man versuchen, qualitative Erlebniszustände funktionalistisch zu analysieren, muss man sich zunächst allgemein darüber verständigen, was es heißt, dass ein mentaler Zustand eine Funktion ausübt, kurz: was unter „Funktion“ eigentlich zu verstehen ist. Hier gibt es unterschiedliche Auffassungen.16 Nach gängiger Auffassung handelt es sich bei den fraglichen Funktionen um kausale Rollen, deren Wirkungen sich am Zustand des Systems „ablesen“ lassen. Die klassische Variante des Funktionalismus, die auf Hilary Putnam (1960; 1967) zurückgeht, impliziert eine sehr enge Vorstellung von „Funktion“. Nach Putnam ist diese rein mathematisch zu verstehen, und zwar im Sinne eines Schemas, wonach das Verhältnis eines Inputs (eines Stimulus) zu seinem Output (z. B. einem Verhalten) berechnet werden kann. Funktionale Relationen werden nach Putnam nur solchen psychischen Zuständen zugeschrieben, die nach dem Modell der Turingmaschine berechnet und beschrieben werden können. Da es sich bei den betreffenden psychischen Zuständen nur um wenige basale Fähigkeiten des Menschen handelt, die in Putnams „machine functionalism“ computational simuliert werden, können qualitative Erlebniszustände darin nicht erfasst werden. Dies scheint zunächst die prinzipielle Skepsis gegenüber einer funktionalistischen Erklärung qualitativer Erlebniszustände von etwa Chalmers und Levine zu bestätigen. Aber es gibt auch Spielarten des Funktionalismus, die einen weiteren Begriff der Funktion verwenden und beispielsweise auch teleologische Aspekte mit einbeziehen (Van Gulick 2007, 383 ff.). Dieser Typus funktionaler Erklärungen umfasst auch Ziele und Zwecke als funktionskonstitutive Komponenten. Hier herrscht eine große Nähe zu solchen biologischen Erklärungsansätzen, die von der Annahme einer zweckmäßigen Organisation einzelner Organe im Zusammenhang eines Organismus ausgehen. Die Zweckmäßigkeit kann beispielsweise darin bestehen, die Existenz des Organismus zu sichern, dessen Wohlbefinden oder die Fortpflanzung zu gewährleisten. Solch eine teleologische Erklärung unterscheidet sich von der kausalen dadurch, dass nicht nur die einzelnen Glieder einer Kausalkette benannt werden, sondern dass 16 Siehe hierzu und zum Folgenden den Überblicksartikel von Van Gulick (2007). Außerdem den Beitrag von McLaughlin (in diesem Band).

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darüber hinaus die kausale Folge als Zweck und die kausale Ursache als Mittel zu diesem Zweck beschrieben werden. Damit wird – zumindest implizit – eine Form der Absicht ins Spiel gebracht: Ein bestimmter kausaler Ablauf im System findet statt, ,weil es so sein soll’. Ein solcher um teleogische Aspekte erweiterte Funktionalismus scheint jedenfalls geeignet zu sein, ein breiteres Spektrum an Bewusstseinsformen einer funktionalistischen Erklärung zugänglich zu machen. Es versteht sich von selbst, dass solche Erklärungsansätze unter einem epistemischen Vorbehalt stehen. Kausalität und Funktionen können nicht „an sich“ in der Welt erkannt werden, sondern setzen immer ein erkennendes Subjekt voraus, das die betreffende Relation in der Welt aus seiner spezifischen Perspektive erfasst, die darauf beruht, dass man sich selbst als kausal wirksames Wesen versteht – als ein Wesen, das sein Handeln an Zielen und Zwecken ausrichtet. „Funktionen sind Wirkungen, die aus einer bestimmten Perspektive betrachtet werden.“ (McLaughlin in diesem Band, 25) Bei der Betrachtung von Vorgängen im Bereich des Lebendigen nehmen wir eine Einstellung ein, die das Zuschreiben von Intentionalität und Zweckmäßigkeit erlaubt – und ihrer sogar bedarf, wenn sie den geforderten Erklärungsansprüchen genügen will.17 Dies berücksichtigend, lässt sich nun das Explanandum genauer explizieren, bevor anschließend ein integrativer Vorschlag gemacht wird, wie phänomenales Bewusstsein funktional verstanden werden kann. Aufgrund des qualitativen oder phänomenalen Aspektes, so ist bereits an mehreren Stellen betont worden, fühlt es sich für das Erfahrungssubjekt auf charakteristische Weise an, in einem mentalen Zustand zu sein. Diese Eigenschaft bezieht sich damit in erster Linie auf das innenperspektivische Erleben, für das charakteristisch ist, privat und aus der Außenperspektive unzugänglich zu sein. Reduziert man qualitative Erlebniszustände auf diese Eigenschaft, dann wird man nicht umhinkönnen, denjenigen Vertretern Recht zu geben, die eine wissenschaftliche Erklärung solcher Zustände für unmöglich halten (Levine, Jackson, Chalmers); wenn qualitatives Erleben tatsächlich nur ein subjektives Sich-Anfühlen bedeutet und sonst nichts, dann wäre der Versuch, aus der drittpersonalen, wissenschaftlichen Perspektive etwas über 17 Siehe dazu auch Gerhardt (1999, 157). – Vgl. die klassische Formulierung dieses Problems bei Kant (1790) in der Kritik der Urteilskraft (2. Teil) und die aktuellen Debatten zum Funktionsbegriff innerhalb der Biologie etwa in Ariew/Cummins/Perlmann (2002).

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solche Zustände zu erfahren, von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Dieser eingeschränkten Betrachtung lässt sich allerdings entgegenhalten, dass sie das Phänomen, um das es geht, nicht angemessen beschreibt. Man kann mit guten Gründen bestreiten, dass qualitatives Erleben ausschließlich durch ein privates Sich-Anfühlen charakterisiert ist; vielmehr ist es plausibel, das qualitative oder phänomenale Erleben als einen komplexen Aspekt mentaler Zustände und Prozesse zu betrachten, der von den jeweiligen Prozessen nicht vollständig getrennt werden kann. In diese Richtung weist ein Vorschlag von Owen Flanagan (1995), dem wir uns grundsätzlich anschließen. Im Unterschied zu einer in der Qualia-Debatte verbreiteten Auffassung (z. B. Tye 1986), wonach phänomenale Eigenschaften nur bestimmten Typen mentaler Zustände zugeschrieben werden können, vor allem perzeptiven Zuständen (z. B. Farbwahrnehmungen und Geruchsempfindungen) und emotionalen Zuständen, geht Flanagan davon aus, dass sämtliche bewussten mentalen Zustände phänomenal erlebbar sind: Demnach haben z. B. auch Gedanken, Überzeugungen und Gründe einen charakteristischen phänomenalen Aspekt. Erweitert man den Begriff des qualitativen Erlebens auf diese Weise, dann wird zunächst deutlich, dass es ein breites Spektrum an heterogenen Erlebniszuständen gibt. Das qualitative Erleben einer Blauwahrnehmung unterscheidet sich in markanter Weise vom Geschmack von Zahnpasta und mehr noch von der Durchführung eines logischen Kalküls; eine Überzeugung fühlt sich anders an als eine Meinung. Nach Flanagan sind qualitative Zustände notwendig, um verschiedene Typen mentaler Zustände wie Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen identifizieren zu können (Flanagan 1995, 69). Aufgrund des jeweiligen qualitativen Erlebens lässt sich unterscheiden, in welchen Zustand man sich befindet. Damit wird der qualitativen Dimension eine epistemische Funktion zugeschrieben, die über das bloße subjektive „Sich-Anfühlen“ hinausgeht. An diese argumentative Basis lassen sich nun abschließend weitergehende Überlegungen anschließen, die zusätzliche (mögliche) Funktionen des phänomenalen Erlebens in den Blick nehmen.

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3. Ein Vorschlag für ein funktionales Verständnis des phänomenalen Bewusstseins Das von Flanagan ins Spiel gebrachte weitere Verständnis qualitativer Zustände fokussiert, wie sich gezeigt hat, in erster Linie eine epistemische Funktion solcher Zustände. Da Menschen aber lebendige Organismen sind, die mit der Umwelt interagieren und die vor allem praktisch handeln, erscheint es unplausibel, Funktionen des qualitativen Erlebens auf epistemische Eigenschaften zu beschränken. Vieles spricht für die Annahme, dass eine zentrale Funktion in der Steuerung von Handlungen besteht, wofür die komplexe Verarbeitung von epistemischen und praktischen Daten erforderlich ist:18 Phänomenale Erlebniszustände haben eine praktische Relevanz, insofern sie wesentlich zur Strukturierung von Handlungen beitragen. Diese Annahme basiert auf folgenden Thesen: – Wahrnehmungsqualitäten sichern unsere Raumorientierung und liefern uns Informationen über den Spielraum der Optionen unter gegebenen Umständen. Sie lassen den handelnden Menschen Umweltbedingungen und Körperzustände direkt erfahren, die nicht in Form isolierter Qualia, sondern als Ganzheiten gegeben und unmittelbar zugänglich sind. Diese These wird auch im Rahmen von Christof Kochs neurowissenschaftlichem Modell des Bewusstseins diskutiert.19 – In der Phänomenalität wird nicht allein rezeptiv erlebt, sondern es findet eine Verbindung der rezeptiven mit der aktiven Dimension der Erfahrung statt: Dazu zählt, dass dem Organismus nicht nur phänomenal repräsentiert wird, was tatsächlich da ist. Darüber hinaus wird besonders dasjenige erlebt, was für den handelnden Organismus be18 An dieser Stelle sind wir der AG Funktionen des Bewusstseins der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu Dank verpflichtet: Die hier vorgestellten Thesen für ein funktionales Verständnis des phänomenalen Bewusstseins basieren auf der gemeinsamen Arbeit in der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Arbeitsgruppe. 19 Für Koch liegt es nahe, die Funktion des qualitativen Erlebens darin zu sehen, dass sie dem Handlungssubjekt eine „executive summary“ aller handlungsrelevanten Informationen liefert: „Natural selection pursued a strategy that amounts to summarizing most of the pertinent facts about the outside world compactly and sending the description to the planning stages to consider the organism’s optimal course of action.“ Koch (2004, 233 – 235).

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deutsam ist und in die Handlungssteuerung funktional integriert werden kann. – Intentionale Gefühle mit phänomenalem Aspekt motivieren uns zum Handeln.20 Emotionale somatische Marker „bewerten“ unsere Handlungsoptionen, etwa indem ein vorgestellter Zustand mit bestimmten phänomenalen Erlebniszuständen assoziiert ist. Diese These wird von empirischen Studien von z. B. Antonio Damasio (2003) unterstützt. – Phänomenalität erlaubt und unterstützt die Planung und Koordination einzelner Handlungssequenzen, indem aufgrund von erlebten Repräsentationen – etwa des eigenen Körpers – die Wirkungen von Handlungen antizipiert und korrigiert werden können. – Insgesamt wird durch die genannten Aspekte des phänomenalen Erlebens das Selbstgefühl eines Subjekts stabilisiert. Das Bewusstsein der Identität seiner selbst als zu Handlungen fähiger Person ist somit auch als eine Wirkung des phänomenalen Erlebens zu verstehen. Diese Integration phnomenal erlebter kognitiver, emotionaler und sensomotorischer Prozesse hat Konsequenzen: Sie ermöglicht schließlich die spezifisch menschliche Handlungsplanung und -steuerung. Hierin besteht unseres Erachtens eine entscheidende Funktion des phänomenalen Bewusstseins. Das Modell knüpft eng an die subjektive Erfahrungsdimension handelnder Menschen an, bleibt aber zugleich anschlussfähig für naturalistische Erklärungen. Für ein umfassendes Verständnis von Bewusstsein bedarf es allerdings noch weiterer Anstrengungen mithilfe unterschiedlicher Disziplinen. In vorliegendem Band wird eine Reihe von Vorschlägen diskutiert, die weitere Dimensionen von Bewusstsein und phänomenalem Erleben erforschen und so zu dem Ansatz einer funktionalen Erläuterung des phänomenalen Erlebens beitragen. So lässt sich etwa – um nur einige Beispiele aus vorliegendem Band zu nennen – aus Sicht der Psychologie Bewusstsein als Korrektiv verstehen, das auftritt, sobald sich unvorhergesehene Schwierigkeiten außerhalb automatisierter Prozesse ergeben (Freund/Oberauer). Weitere Funktionen, die diskutiert werden, sind die Ermöglichung interindividueller Kommunikation (Gerhardt), oder die Genese bestimmter kultureller und sozialer Praktiken (Gräb; Stichweh). Diese erhellen insgesamt den Zusammenhang zwischen bewusster Erfahrung und der 20 Instruktiv zur Rolle der Gefühle im menschlichen Erkennen und Handeln: Slaby (2008).

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menschlichen Freiheit ( J. Nida-Rümelin). Voraussetzung dafür ist nicht zuletzt eine Klärung der Rolle von Emotionen (Stephan) sowie – grundsätzlich – eine Analyse des Begriffs „Funktion“ selbst (McLaughlin). Die vorangegangenen Überlegungen über die Möglichkeit einer funktionalen Analyse des phänomenalen Erlebens sind als Grundlage und Anregung für weitere theoretische Bemühungen zu verstehen. Wir sind der Auffassung, dass Anschlussmöglichkeiten vor allem dann gegeben sind, wenn die menschliche Handlungsfähigkeit in den Blick genommen wird. Damit wird gleichzeitig ein Beitrag zu einem langfristig angelegten Projekt geleistet: der Entwicklung eines naturalistisch verankerten Verständnisses bewusster mentaler Zustände und Prozesse, das ohne reduktiv-eliminativistisch zu verfahren dem Erleben von Menschen einen funktionalen Platz innerhalb der natürlichen Welt zuweist. Damit wärd das Bewusstsein insgesamt nicht in den Bereich der unlösbaren und unverständlichen Welträtsel verabschiedet.21 Durch die Betonung des Interaktionszusammenhangs von Organismus und Umwelt bleibt die Verbindung zwischen Wissenschaft und Lebenswelt erhalten.

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Funktion und Bewusstsein Peter McLaughlin Einleitung Wenn wir nach dem Zusammenhang von Funktion und Bewusstsein fragen, so liegt die Frage nahe, ob das Bewusstsein eine Funktion habe und welche denn diese sein könnte. Eine solche Frage hat im Prinzip dasselbe Spektrum an möglichen Antworten, wie die Frage nach der Funktion des Herzens, des Polterabends, des Vogelgesangs und des Schraubenziehers. Wenn erst einmal geklärt ist, was man damit meint, ist es eine empirische Frage der betreffenden Wissenschaft. Wir müssten zuerst klären, was wir mit Funktion und Bewusstsein meinen; dann könnten wir uns darüber streiten, ob das Bewusstsein eine Funktion hat und wie diese zu erklären ist. Es gibt aber noch einen anderen möglichen Zusammenhang von Bewusstsein und Funktion, der in der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie und Philosophie des Geistes sehr intensiv diskutiert wird, in dem es um die Relevanz der Existenz von organischen Funktionen als solcher für die Möglichkeit von Bewusstsein überhaupt geht. In der gegenwärtigen Philosophie des Geistes versucht die so genannte „Teleosemantik“ Intentionalität auf biologische Funktionen zurückzuführen, d. h. semantische und psychologische Fragen auf biologische Fragen zurückzuführen. Insofern spielen Funktionen eine konstitutive Rolle in einem heute viel diskutierten Projekt der Naturalisierung des Bewusstseins bzw. der Naturgeschichte des Geistes. Die Teleosemantik ist, wie der Name sagt, eine semantische Theorie, die das Telos oder die Funktion von Repräsentationen zu benutzen sucht, um den Weg zu einer Erklärung des semantischen Gehalts von mentalen Zuständen anzubahnen. Sie stellt einen strikt naturalistischen Versuch dar, die semantische Dimension des Bewusstseins auf biologische Funktion zurückzuführen (vgl. Detel 2001; Macdonald/Papineau 2006). In der etwas flapsigen Formulierung einer der prominentesten Vertreter dieser Richtung, Ruth Millikan: „an appeal to teleology, to function, is what is needed to fly a naturalist theory of

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content“ (1989, 283). Im Zentrum der Argumentation steht die Erklärung der Normativität der Unterscheidung von Repräsentation und Missrepräsentation, ein Problem, das unabhängig von der Zustimmung zu diesem bestimmten Ansatz interessant ist. Ein wesentliches Charakteristikum der Repräsentation liegt darin, dass sie fehlschlagen kann. Der Repräsentant soll das Repräsentierte repräsentieren, auch wenn er dies in einem bestimmten Fall schlecht oder gar nicht tut. Wie schwach auch immer dieses Sollen ist und wie rudimentär auch immer seine normative Kraft, es stellt etwas dar, das erklärungsbedürftig ist. Die Teleosemantik versucht Repräsentation und Missrepräsentation auf Funktion und Fehlfunktion zurückzuführen. Biologische Funktion und die Erklärung von Fehlfunktion geben uns – so die Hoffnung dieses Ansatzes – den ersten Schritt zu einer naturalistischen Reduktion der Intentionalität und des Bewusstseins. Wie ein Organ, Merkmal oder Verhaltensmuster eine Fehlfunktion erleiden kann und so das nicht tun kann was es/er tun soll, so kann auch eine mentale Repräsentation etwas missrepräsentieren und das nicht leisten, was sie leisten soll. Das Projekt der Naturalisierung des Bewusstseins hat zu verstärkten Bemühungen zur Erläuterung des Begriffs der Funktion und zur Analyse funktionaler Erklärungen geführt und dabei einen Ansatz bestärkt, der die kausale Geschichte der Funktionen ins Zentrum seiner Überlegungen rückt. Es geht hier aber nicht darum, die Entwicklung des teleosemantischen Ansatzes zu beschreiben, sondern darum, einen Aspekt der Naturalisierung des Bewusstseins aufzugreifen, der – vielleicht eher als Nebenprodukt – durch die Verfolgung dieses Ansatzes zutage getreten ist. Auch unabhängig vom Erfolg oder Misserfolg der Teleosemantik kann die Betrachtung von Funktionen durchaus einen Beitrag zum Verständnis des Bewusstseins leisten. Es gibt sogar gute Gründe anzunehmen, dass Funktionen in einer ganz anderen Weise für die Erklärung von Bewusstsein relevant sind; denn die Betrachtung von biologischen Funktionen weist auf einen Aspekt des Bewusstseins, der in populären Diskussionen – aber auch im Funktionalismus der Philosophie des Geistes – immer wieder vernachlässigt wird: die Rolle von Interessen. Wie wir sehen werden, schreiben wir, wenn wir Organen bzw. Merkmalen Funktionen zuschreiben, auch Organismen Interessen zu. Sollte es sich – mit oder ohne Teleosemantik – erweisen, dass Funktionen wirklich Voraussetzungen von Bewusstsein sind, dann muss das System, dessen Teile Funktionen haben, Interessen haben, bevor es seiner selbst bewusst werden kann. Wir konzeptualisieren dann den

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Organismus als etwas, das ein Wohl hat, das gedeihen kann oder dem geschadet werden kann. Der Bezug von Bewusstsein zu Wohlfahrt oder Zuträglichkeit lässt sich am Besten mit einem anschaulichen Beispiel erläutern: Es gibt eine bekannte Filmszene, die deutlich die populäre, kognitivistische Vorstellung vom Bewusstsein zum Ausdruck bringt. Im zweiten Terminator Film wird der in der Zeit zurückgeschickte KillerRoboter gefragt, wie es dazu kam, dass die Rechenmaschinen so mächtig wurden und sich gegen die Menschheit wendeten. Er erzählt die Geschichte des Supercomputers, Skynet genannt, der die Steuerung der Raketenabwehrsysteme übernehmen sollte. Nach dem Einsatz hat der Rechner exponentiell gelernt; er hat seine kognitive Leistungen so sehr potenziert, dass er eines Tages schließlich selbstbewusst wurde. Der Terminator erzählt: The Skynet funding bill is passed. The system goes on-line August 4th, 1997. Human decisions are removed from strategic defense. Skynet begins to learn, at a geometric rate. It becomes self-aware at 2:14 a.m. eastern time, August 29. In a panic, they try to pull the plug. (Cameron 1983)

Als die Menschen versuchen, den Stecker zu ziehen, schlägt der Computer zurück, rettet sich und beginnt einen Krieg gegen die Menschheit. Hier geht es um die künstlerisch widergespiegelte Populärvorstellung, dass Bewusstsein das Produkt der reinen Rechenleistung eines Systems ist. Bei einem bestimmten kognitiven Leistungsniveau des Rechners – so diese Vorstellung – kommt Bewusstsein hinzu; Bewusstsein entsteht aus rein kognitiven Leistungen. Problematisch ist hier nicht so sehr, dass Rechnen nicht unbedingt gleich Denken ist; es ließen sich vielleicht Argumente finden, die den Übergang von Rechnen zu Denken plausibel machen. Das eigentlich Abstruse an diesem Szenario liegt darin, dass es die Maschine überhaupt interessiert, ob sie ausgeschaltet wird oder nicht – als wäre das Ausschalten so etwas wie ihr Tod. Der Rechner kann nur dann zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner selbst gewahr werden, wenn er ein Selbst ist oder wenn er durch diesen Rückbezug auf sich selbst als Subjekt oder als Objekt sich als Selbst konstituiert. Nehmen wir an, dass ab einer bestimmten Rechenleistung der Rechner weiß, dass und was er rechnet. Gehen wir sogar einen Schritt weiter und nehmen an, dass der Rechner Sätze über seine rechnerischen Handlungen bildet und darüber reflektiert, dass es immer derselbe ist, der diese Sätze äußert, und er es immer ist, der diese Sätze

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über die Handlungen bildet. Nehmen wir auch an, er sei in der Lage, solche Sätze in der ersten Person singulär zu formulieren, und sogar fähig, mit Kant zu entdecken, dass das „ich denke“ alle seine Sätze begleiten können muss. Auch das transzendentale Ich Kants könnte man rein kognitiv verstehen. Wenn dies aber schon Bewusstsein ist, gibt es keinen Grund, warum ein selbstbewusster Computer eine Gefahr darstellen sollte – oder verärgert über seine drohende Abschaltung reagieren sollte. Die Maschine muss bereits so etwas wie Interessen haben, wenn es sie überhaupt etwas angehen soll, ob sie angeschaltet bleibt oder nicht. Wie durch die reine, potenzierte Rechenleistung ein Wille bzw. ein Subjekt mit Interessen entstehen soll, bleibt völlig unverständlich. In der Filmszene wird unterstellt, dass Rechenleistung allein ausreicht, Bewusstsein zu konstituieren, und dass Bewusstsein notwendig mit einem Selbst verbunden ist. Aber im Film hat der Roboter, der dies erzählt und auch veranschaulicht, einen menschlich aussehenden Körper. Jedes bewusste System, das wir aus empirischer Erfahrung kennen, ist auch ein Lebewesen und hat so viele Interessen und soviel an Subjekthaftigkeit, wie wir gewöhnlich Lebewesen zuschreiben. Trotzdem spielen wir – mindestens in der Kunst – immer wieder mit fiktiven, körperlosen Geistern und auch leblosen aber bewussten Maschinen. Der Film arbeitet mit einer alltagsnaturalistischen bzw. alltagsanimistischen Vorstellung (die jeder empirischen Grundlage entbehrt): eine Maschine (oder ein Geist) könne ein Selbst sein und Interessen haben – ohne im biologischen Sinne zu leben. Unabhängig von den Motiven der Philosophen, die den teleosemantischen Ansatz entwickelt haben, kann die Analyse von Funktionen und ihre Beziehung zum Bewusstsein, die aus diesem Ansatz hervorgegangen ist, uns zu verstehen helfen, was es bedeutet, Interessen zu haben. Im Folgenden soll es darum gehen, die beiden neueren grundlegenden philosophischen Positionen über Funktion und funktionale Erklärung vorzustellen und zu zeigen, wie Funktion und Interessen zusammengehen.

Die Analyse funktionaler Erklärung Jeder Teil eines materiellen Systems, der eine kausale Wirkung im System hat, kann als Mittel zu dieser Wirkung betrachtet werden, wenn die Wirkung ihrerseits als Zweck betrachtet wird. Jedes Glied einer

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Kausalkette kann als Mittel zum nächsten Glied betrachtet werden; jedes Teil oder Merkmal eines komplexen Systems, das zu einer Leistung des Systems etwas beiträgt, kann als Mittel zu dieser Leistung betrachtet werden. Wenn wir Dinge als Mittel zu einem Zweck betrachten, schreiben wir ihnen Funktionen zu. In diesem Sinne sind Funktionen nichts anderes als Wirkungen, die aus einer bestimmten Perspektive betrachtet werden. Bei Artefakten, Kunstgegenständen ist dies deutlich und unproblematisch: Ein Dosenöffner ist ein Mittel zum Dosen-Öffnen; dies ist sein Zweck bzw. seine Funktion. Der Regler einer Dampfmaschine hat die Funktion, den Druck zu regeln; deshalb haben wir ihn hergestellt und ihn dort hingetan, wo er ist. Solche Funktionen sind Wirkungen eines Gegenstandes, die durch einen intelligenten Agenten intendiert sind. Diese intendierten Wirkungen erklären, warum das Ding existiert, oder mindestens, warum es dort ist, wo es ist. Ähnliche Zweck-Mittel-Beziehungen sehen wir manchmal in der Natur. Auch natürlichen Dingen werden manchmal Funktionen zugeschrieben. Wir sprechen von den Funktionen von verschiedenen Organen, Merkmalen, Verhaltensweisen. Im Rahmen einer so genannten Funktionsanalyse können wir ein System auseinander nehmen und uns fragen, was dieser oder jener Teil des Systems zur Gesamtleistung des Systems beiträgt. Wir analysieren die kausale Rolle eines Dings in einem System oder Prozess. Wenn wir sagen, dass die Funktion der Arterien- oder Venenklappen die ist, das Blut nur in einer Richtung fließen zu lassen, meinen wir vielleicht lediglich: dies sei ihr Beitrag zur Blutzirkulation – und dadurch zum Stoffwechsel und vielleicht zum Überleben des Organismus. Aber wir könnten auch meinen: dies sei dasjenige, was sie tun (sollen), was auch (phylogenetisch oder ontogenetisch) erklärt, warum sie überhaupt da sind. Die Zuschreibung einer Funktion zu einem Merkmal (Organ, Verhalten) kann einerseits lediglich eine Beschreibung seines Beitrags zu den üblichen Leistungen des Organismus sein; andererseits kann sie als Erklärung seiner Entstehung oder Verbreitung aufgefasst werden. Somit kann eine Funktionszuschreibung entweder erklären, was der Funktionsträger tut, oder sie kann darüber hinaus auch erklären, warum der Funktionsträger da ist – nämlich um das zu tun, was er tut. Nur in diesem zweiten Fall führen funktionale Erklärungen zu besonderen philosophischen Schwierigkeiten. Funktionale Erklärungen werden in verschiedenen Wissenschaften wie Biologie, Soziologie und Kulturanthropologie gebraucht. Aber sie

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sind – mindestens von einer naturalistischen Perspektive – problematisch, weil sie anscheinend Teleologie bzw. Intentionalität in die Wissenschaft einführen. Es besteht in der philosophischen Diskussion heute keine Übereinstimmung in der Analyse von Funktionen und funktionalen Erklärungen: ob es nicht-intentionale Funktionen überhaupt gibt, ob Erklärungen, die sich auf Funktionen berufen, überhaupt legitim sind. Auch in den einzelnen Lagern ist kein Einvernehmen erzielt worden. Im naturalistischen Lager beispielsweise nehmen manche Forscher Funktionen als selbstverständlichen Teil der Wissenschaft an, andere schließen sie kategorisch aus: „Furthermore, biology standardly treats function as a central explanatory concept“, sagen Bigelow und Pargetter (1987). „Except for those parts of nature that are conscious, nature knows nothing of functions“ erwidert Searle (1995, 14). Die Uneinigkeit besteht schon in den Vorstellungen was eine funktionale Erklärung ist. In der wissenschaftstheoretischen Diskussion gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze zur Analyse von funktionalen Erklärungen, und es überrascht nicht, dass sie jeweils auf einen der großen Schulmeister des Logischen Empirismus zurückgehen: Ernest Nagel und Carl Gustav Hempel. Nagel (1961, Kap. 12) hat eine funktionale Erklärung als die Bestimmung der Wirkung verstanden, die ein Teil eines komplexen Systems im System und für die charakteristische Tätigkeit des Systems hat: die Rolle eines Glieds in einer Kausalkette oder eines Teilsystems in einem komplexeren System. Damit ist eine Funktion einfach die Fähigkeit (Disposition, Propensität), etwas im System zu tun; die Funktion ist die kausale Rolle eines Teils im Ganzen. Die Angabe einer Funktion erklärt das, was ein Systemteil im System tut. Bei seiner Analyse setzt Nagel allerdings voraus, dass das System, dessen Teilen Funktionen zugeschrieben werden, in einem vernünftigen Sinne zielgerichtet organisiert ist – bei Organismen ist das Ziel entweder das Überleben oder die Fortpflanzung. Nagel betrachtet solche Erklärungen als ebenso unproblematisch wie andere kausale Erklärungen. Hempel dagegen hat funktionale Erklärungen als illegitim betrachtet. Nach seiner Analyse beinhalten funktionale Erklärungen nicht nur, dass der Funktionsträger bestimmte Wirkungen hat, sondern darüber hinaus, dass diese Wirkungen erklären sollen, warum der Funktionsträger überhaupt da ist. Wenn wir sagen, „Die Funktion des Herzens ist es, Blut zu pumpen“, meint Hempel, dass wir erklären wollen, warum

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wir ein Herz haben, warum das Herz da ist – nicht nur was das Herz im Körper tut. Die unterschiedlichen Vorstellungen von Hempel und Nagel wurden durch die damals übliche positivistische Darstellungsweise eher verdeckt als erhellt. Wenn man die beiden Positionen in das deduktivnomologische Schema hineinzwingt, so liegt der Unterschied einfach in der Wahl der zweiten Prämisse des Arguments, das die Erklärung bildet. Nach dem „covering-law“ Schema ist es die Funktion des Herzens, Blut zu zirkulieren, gdw. das folgende Argument gilt: 1) Blutzirkulation ist notwendig für einen normal funktionierenden Säuger. 2a) Das Herz ist hinreichend für die Blutzirkulation (Hempel). oder 2b) Das Herz ist notwendig für die Blutzirkulation (Nagel). 3) Hempel ist ein normal funktionierender Säuger. Also hat Hempel ein Herz. In der Hempelschen Deutung ist das Argument formal ungültig und deshalb abzulehnen. In der Nagelschen Deutung ist das Argument gültig, wenngleich die Wahrheit der zweiten Prämisse (2b) umstritten sein dürfte. Weil diese Darstellung der Differenz – ob man den Besitz eines Herzens als hinreichende oder notwendige Bedingung betrachtet – heute zu sehr an den Positivismus der 1960er Jahre erinnert, werden die Alternativen normalerweise in der Form dargestellt, die sie später im Laufe der 1970er Jahren angenommen hat und die auf dieses Schema verzichtet. Hempels Behauptung, dass ein Argument dieser Form die Entstehung des Funktionsträgers nicht überzeugend erklären kann, dürfte allerdings kaum überraschen, denn in keiner der Prämissen wird die Produktion des Funktionsträgers überhaupt erwähnt. Bevor die Funktion erklären kann, warum der Funktionsträger da ist, muss noch eine Aussage über die möglichen Auswirkungen der Erfüllung der Funktion auf die Produktion des Funktionsträgers hinzugefügt werden. Aber nach Nagel sollen Funktionszuschreibungen gerade nicht erklären, warum der Funktionsträger da ist. Nach Hempel wollen sie das zwar erklären, können aber prinzipiell nicht erfolgreich sein. Zwei Prinzipien sind beiden Analysen gemeinsam: 1. Disposition: Der Funktionsträger trägt etwas zur Leistung des Systems bei. Er ist ein Mittel zu dieser Leistung.

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2. Wohlfahrt oder Zutrglichkeit: Die Ausübung der Funktion ist zuträglich für das System oder für die spezifische Leistung des Systems. Während Nagel nur festlegt, dass das System in irgendeinem Sinne zielgerichtet ist, spricht Hempel von bestimmten Zielen: „normal functioning“ bzw. „self-maintenance“. Für beide beinhaltet also eine Funktionsbeziehung zwei Zweck-Mittel-Beziehungen: Der Funktionsträger X ist ein Mittel zu einem Zweck Y, der selbst offensichtlich nur relativ zu einem anderen Zweck Z ist. Das Herz ist ein Mittel zur Blutzirkulation, die wiederum ein Mittel (etwa durch seinen Beitrag zum Stoffwechsel) zum Überleben des Organismus ist. Dabei ist der entferntere Zweck Z entweder Selbstzweck oder mindestens das Ende eines endlichen Regressus von Mitteln und Zwecken. Wie unter ausgeführt wird, kann die relative Zweckmäßigkeit beliebig iteriert werden; sie hört nur dann auf, wenn eine andere Art Zweckmäßigkeit eingeführt wird. Nagels Ansatz wird heute in der Regel in der Formulierung von Robert Cummins (1975) diskutiert: Jedem beliebigen Teil eines Systems kann eine Funktion zugeschrieben werden, wenn er zu einer bestimmten Leistung des Systems beiträgt, die uns interessiert. Es gibt also Funktionen nicht in einem absoluten oder „natürlichen“ Sinne, sondern nur in Bezug auf bestimmte Systemleistungen, die wir auswählen. To ascribe a function to something is to ascribe a capacity to it which is singled out by its role in an analysis of some capacity of a containing system. When a capacity of a containing system is appropriately explained by analyzing it (…), the analyzing capacities emerge as functions. (Cummins 1975, 765)

Die Funktion eines Merkmals oder Systemteils ist einfach sein Beitrag zu einer bestimmten Leistung des Systems, die durch unsere Perspektive bei der Funktionsanalyse des Systems ausgezeichnet wird. Interessieren wir uns für die Zirkulation des Bluts im Körper, so ist Blutpumpen die Funktion des Herzens. Interessieren wir uns für die Tauglichkeit, durch bestimmte (akustische) diagnostische Techniken untersucht zu werden, so ist es die Funktion des Herzens, Geräusche zu machen. Diese Analyse hat den großen Vorteil, dass sie funktionale Erklärungen so rekonstruiert, dass sie naturalistisch völlig legitim sein können, und auch deutlich unterscheidet, welche Verwendungen vom Funktionszuschreibungen zulässig sind und welche nicht. In einem hierarchischen System oder in einer Kette von Ereignissen heißen diejenigen Ursachen „Funktionen“,

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die zu einer Wirkung beitragen, die uns interessiert. Eine Funktionszuschreibung soll nicht erklären, warum der Funktionsträger existiert oder dort hingekommen ist, wo er ist. Diese Analyse ist zweifellos völlig richtig, soweit sie geht. Die einzige wirkliche Schwäche der Analyse liegt darin, dass sie viele der philosophisch interessantesten Verwendungen von Funktionszuschreibungen einfach ausschließt oder verbietet. Aus diesem Grund neigen viele Forscher zu einer Umwandlung und Fortentwicklung der Analyse Hempels, die die philosophisch anspruchsvolleren und problematischeren Formen von funktionalen Erklärungen legitimieren können soll. Dieser „ätiologisch“ genannte Ansatz wurde am eingängigsten von Larry Wright formuliert. Nach Wright (1976, 81) hat eine funktionale Erklärung zwei Elemente: 1. die (kausale) Disposition des Funktionsträgers, die Funktion auszuführen, und 2. die (kausale) Verantwortung dieser Disposition für das Dasein und Sosein des Funktionsträgers. In Wrights Formulierung: Die Funktion von (Merkmal) M ist F genau dann wenn: i. F eine Konsequenz der Anwesenheit von M ist [auf Grund einer Disposition, nicht als bloßes Nebenprodukt], ii. M da ist, weil es F tut [weil es die Disposition hat, F zu tun]. Damit will Wright behaupten, es sei die kausale Disposition eines Merkmals, die erklärt, warum das Merkmal dort hingekommen ist, wo es ist. Nach dieser Deutung ist die Funktion eines Organs dasjenige, was es tut, das auch erklärt, warum es da ist. Dieser Ansatz ist besonders in der Philosophie des Geistes populär geworden, wo er wesentlichen Anteil am teleosemantischen Projekt der Naturalisierung des Bewusstseins hat: Intentionalität wird auf Funktion zurückgeführt und Funktion durch einen Rückwirkungsmechanismus – in diesem Fall die natürliche Auslese – erklärt. Vertreter der ätiologischen Deutung hoffen, dass natürliche Auslese den ersten Schritt zur Normativität bereitstellen kann, die ihre Deutung funktionaler Erklärungen braucht. Wrights zweite Prämisse (ii) wird so verstanden: Ein bestimmtes Merkmal m2 vom Typus M ist da, weil ein (anderes) Merkmal m1 vom Typus M (in einer früheren Generation) F getan hat (und so einen Selektionsvorteil für den Organismus bewirkt hat). Man rekurriert implizit oder explizit auf biologische Fitness. Eine funktionale Erklärung ist implizit eine kausale, naturhistorische Erklärung der Entstehung des Funktionsträgers. Wright und die Vertreter der Teleosemantik geben mit der Einführung der

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natürlichen Selektion als Rückwirkungsmechanismus das Wohlfahrtsoder Zuträglichkeitspostulat von Hempel und Nagel explizit auf – auch wenn es möglicherweise durch den Begriff der Fitness durch die Hintertür wieder eingeführt wird. Einige Beispiele können diese Überlegung illustrieren: „If an organ has been naturally differentially selected-for by virtue of something it does, we can say that the reason the organ is there is that it does that something.“ (Wright 1973, 159) „The function of X is what X is designed to do, and what X is designed to do is that for which X was selected.“ (Kitcher 1993, 383) „The function of a trait is to do whatever it was selected for.“ (Neander 1991, 173)

Der Grundgedanke dieser Form der ätiologischen Deutung von Funktionszuschreibungen ist, dass etwas das tun soll, wozu es selektiert wurde, und wenn es das nicht kann, dann funktioniert es nicht richtig. Obgleich das Herz nicht nur Blut pumpt, sondern auch Geräusche macht, wurde es durch Selektion favorisiert, weil es Blut pumpt, nicht weil es Geräusche macht. Es soll pumpen, Pumpen ist seine Funktion; und wenn es nicht pumpen kann, dann handelt es sich um eine Fehlfunktion. Eine erste grundsätzliche Schwierigkeit des ätiologischen Ansatzes liegt allerdings darin, dass als einziger Rückwirkungsmechanismus die natürliche Auslese eingesetzt wird. Die Rückwirkung der Ausübung der Funktion auf einen Funktionsträger, die erklären soll, warum er da ist, geschieht erst in der nächsten Generation – in einem anderen Individuum. Mit einem solchen Mechanismus kann man zwar erklären, warum die (vorteilhaften) Auswirkungen eines Merkmals dazu führen, dass andere Exemplare des Merkmals vorkommen – aber nicht, warum das ursprüngliche Merkmal vorkam. In der Formulierung von Cummins: The problem is rather that to ‘explain’ the presence of the heart in vertebrates by appeal to what the heart does is to ‘explain’ its presence by appeal to factors that are causally irrelevant to its presence. (Cummins 1975, 748)

Das, was ein individuelles Organ tut, erklärt (durch natürliche Selektion) nicht, warum es selbst da ist, sondern nur, warum ein Nachfolger da ist. Gegen diesen schlichten Einwand hat die ätiologische Deutung bisher keine Antwort gefunden. Es gibt darüber hinaus einen zweiten Einwand.

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Der funktionale Regressus Eine zweite grundsätzliche Schwierigkeit des ätiologischen oder teleosemantischen Ansatzes kann darin gesehen werden, dass er den Funktionsträger als Mittel zur Funktion betrachtet und diese Betrachtung zu einem Regressus der Mittel und Zwecke führt (Cummins 1975, McLaughlin 2001). Hempel und Nagel betrachteten die Funktion eines Systemteils als relativ zum normalen Funktionieren des Systems selbst. Sie erklärten allerdings nicht, worin dieses normale Funktionieren bestehen soll. Auch die ätiologische Deutung verschweigt beharrlich den Status dieses Systems. Durch Ausübung seiner Funktion ist der Funktionsträger ein Mittel zu einer Systemleistung und diese Leistung ist entweder wiederum eine Funktion des Systems relativ zu einem anderen System oder sie stellt eine andere Art Zweckmäßigkeit dar, die nicht nur relativ ist. Analysieren wir diese beiden Arten von Zweckmäßigkeit bzw. funktionaler Beziehung. Man kann fragen: Wozu ist eine Hammer gut? Um Nägel in die Wand zu schlagen. Wozu sind Nägel in der Wand gut? Zum Bilderaufhängen. Wozu ist Bilderaufhängen gut? – Man könnte im Prinzip diesen instrumentellen oder funktionalen Regressus immer weiter führen, aber normalerweise hört man mit den Fragen irgendwo auf. Man sagt dann: Ich mag lieber ein Zimmer mit Bildern als eines ohne Bilder. Die Bilder sind gut für mich. Wozu bin ich gut? Für mich. – Es geht nicht weiter; oder man wechselt einfach das Thema. Das letzte Glied der Kette benennt nicht mehr eine Tätigkeit, wozu etwas instrumentell gut ist, sondern benennt jemanden, für den etwas gut ist. Es scheint drei Möglichkeiten zu geben, einen solchen funktionalen Regressus zu beenden. Wenn der Regressus so formuliert wird: „A ist gut für B, und B ist gut für C…“, dann können wir den Fortgang in der Reihe in drei verschiedenen Weisen beenden: 1. „… und C ist etwas, was mich halt interessiert.“ Denkende Subjekte können Zwecke setzen; d. h. die Zweckmäßigkeit von System- oder Prozessteilen ist immer relativ zu den von solchen Subjekten gesetzten Zwecken. Der Regressus der Mittel wird willkürlich abgebrochen. 2. „… und C ist etwas, was mich aus guten Gründen interessieren soll oder muss.“ Es gibt höhere (begründete) Zwecke, die gelten und an

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denen die freien Subjekte sich orientieren sollen. Der Regressus der Mittel wird aus gutem Grund abgebrochen. 3. „… und C ist etwas, was in der Natur der Sache (oder des Menschen) liegt.“ Der Regressus der Mittel hat ein natürliches Ende. Es ist diese letzte Beziehung, die uns hier besonders interessieren soll, denn die beiden ersten setzen schon Bewusstsein voraus und taugen deshalb für eine naturalistische Erklärung des Bewusstseins bzw. der Intentionalität nicht. Eine rein instrumentelle Beziehung, die im Prinzip beliebig iteriert werden kann, ist leicht zu illustrieren, weil sie ein Standarderzählmittel von Kinderbüchern ist: Der alte Bauer Pettersson braucht eine Leiter, um die Angel aus dem Dachboden zu holen; er braucht die Angel, um den Schlüssel aus dem Brunnen zu holen, und den Schlüssel braucht er, um in den Schuppen zu kommen, um Werkzeug zu holen, um das Fahrrad zu reparieren, um ins Dorf zu fahren, um Mehl zu kaufen, um eine Geburtstagstorte zu backen – für seinen Kater Findus. Man kann eine solche Zweck-Mittel-Beziehungen anscheinend beliebig oft iterieren. Immanuel Kant nennt ein solches Verhältnis die relative Zweckmßigkeit. Die Ursache einer Wirkung kann man als Mittel zum Zweck betrachten, und insofern die Wirkung gewollt ist, wird in der Regel ein dazu taugliches Mittel auch gewollt werden, d. h. auch Zweck sein – aber nur relativ zum eigentlichen Zweck – aber diesen Zweck muss es doch geben. Jedes Glied der Kette mag gut sein zum Herbeiführen des nächsten, aber dieser Regressus der Zweckmäßigkeit muss irgendwo aufhören. Im Kinderbuch ist das Mehl gut zum Tortenbacken, aber die Torte ist gut für das Geburtstagskind. In der Kritik der Urteilskraft benutzt Kant als Beispiel den Rückzug des Meeres an der Ostsee, der für die Bildung sandigen Bodens zweckmäßig war; dieser Boden war aber gut für die Fichten, die dort wachsen. Die Kette der instrumentellen Zweckmäßigkeit hört irgendwo auf – mit etwas, das nicht mehr bloß relativ zweckmäßig sein soll. Die relative Zweckmäßigkeit, sagt Kant, gibt „hypothetisch (…) Anzeige“ auf eine andere Zweckmäßigkeit (Kant 1790, B 283). Diese andere Art Zweckmäßigkeit, die Kant als innere oder absolute Zweckmäßigkeit bezeichnet, ist nicht iterierbar; sie bezeichnet eine Beziehung zu etwas – sagen wir – Subjekthaftem. Dem Kater geht es besser mit der Geburtstagstorte; die Fichten gedeihen im sandigen Boden. Das, was den funktionalen Regressus beenden kann, hat In-

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teressen; es hat ein Wohl. Wenn „A ist gut für B“ eine zweistellige Relation ist, so sind „B ist gut“ oder „B hat ein Wohl“ einstellige Prädikationen. Das heiß allerdings nicht, dass etwas, was ein Wohl hat, nicht auch instrumentell betrachtet werden kann; aber das ist eine andere Betrachtungsweise: Heu ist gut für das Pferd unabhängig davon, ob das Pferd auch zum Reiten gut ist. Insofern Funktionszuschreibungen Mittel-Zweck-Beziehungen voraussetzen, setzen sie auch voraus, dass es Systeme gibt, die ein Wohl haben. Und insofern Bewusstsein Funktionen voraussetzt, setzt es auch voraus, dass die bewussten Systeme ein Wohl haben.

Gut Sein – Wohlhaben Wir haben gesehen, dass die ätiologische Deutung von Funktionszuschreibungen, die von der Teleosemantik vertreten wird, zwei grundlegende Schwächen aufwies: 1. Bei ihrem Rückwirkungsmechanismus, der natürlichen Auslese, erklärt die Ausübung der Funktion nicht, warum der Funktionsträger selbst da ist. 2. Die Analyse unterstellt stillschweigend, dass es ein System gibt, das ein Wohl hat und deshalb den Mittel-Zweck Regressus beenden kann. Der aus verschiedenen Gründen sehr interessante teleosemantische Ansatz kann nur gerettet werden, wenn beide Probleme gelöst werden. Eine Möglichkeit wäre, einen anderen Rückwirkungsmechanismus zu finden, der beides leistet: dass der Funktionsträger durch Ausübung der Funktion sich selbst produziert (und nicht nur ein anderes „token“ des Typus), und dass der Mechanismus auch erklärt, warum das System, dessen Teil der Funktionsträger ist, ein Wohl zugeschrieben werden kann. Ein solcher Mechanismus kann – mit etwas Hilfe von Aristoteles – skizziert werden. Eine maßgebliche Untersuchung über die Vorstellung des Gutseins oder Wohlhabens in der gegenwärtigen Philosophie befindet sich in einem Buch von Georg Henryk von Wright, The Varieties of Goodness. In einer Analyse des so genannten „utilitarian goodness“ greift von Wright die aristotelische Unterscheidung zwischen dem instrumentellem Gutsein und dem Eigenwohl eines Dings auf und versucht zu erklären, warum nur bestimmte Dinge ein Wohl haben. A being, of whose good it is meaningful to talk, is one who can meaningfully be said to be well or ill, to thrive, to flourish, be happy or miserable. These things, no doubt, are sometimes said of artefacts and inanimate

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objects too – particularly when we feel a strong attachment to them (…). But this is clearly a metaphorical way of speaking. The attributes which go along with meaningful use of the phrase ‘the good of X’, may be called biological in a broad sense. (…) What I mean by calling the terms ‘biological’ is that they are used as attributes of beings, of whom it is meaningful to say they have a life. The question ‘What kinds or species of things have a good?’ is therefore broadly identical to the question ‘What kinds or species of being have a life?’ (von Wright 1963, 50 – 51)

Von Wrights Position lässt sich in eine Definition und zwei Behauptungen zusammenfassen:1 Def.: Ein Wohl hat der, der gedeihen kann, der glücklich oder elend sein kann. 1. Es ist zwar gängig, so zu reden, als ob etwas für eine Maschine gut sein kann, aber das Wohl einer Maschine besteht nur in ihrer instrumentellen Nützlichkeit für uns. Wenn wir so über unbelebte Dinge reden, meinen wir es nur metaphorisch. 2. Ein Wohl haben Dinge, die biologische Eigenschaften haben. Nur wer lebt hat ein Wohl. Auch wenn die Phänomenologie von Wrights durchaus plausibel ist und die Auflistung der Kandidaten, die für eine Zuschreibung von Wohlfahrt in Frage kommen, akzeptiert werden kann, ist die Analyse selbst etwas thetisch und unbefriedigend. Von Wright behauptet einfach: (1) Kein Artefakt hat ein Wohl bzw. Interessen, und (2) Alle Organismen haben ein Wohl bzw. Interessen. Nun reden wir sicher oft von Organismen als hätten sie ein Wohl, aber es ist nicht sofort evident, dass der Grund dafür in der Tatsache liegt, dass sie leben. Von Wright geht davon aus, dass alles, was lebt, ein Wohl hat, weil es lebt. Diese beiden Behauptungen von Wrights können angezweifelt werden und sind auch angezweifelt worden. Es gibt Philosophen, die leugnen, dass alle Organismen ein Wohl haben (Leonard Nelson, Richard Hare, Joel Feinberg). Auch gibt es Philosophen, die ernsthaft behaupten, dass manche Artefakte Interessen haben – jedenfalls dass sie dieselbe Art Interessen oder Wohl haben können, wie Pflanzen, niedrige Tiere oder Tiere überhaupt (Tom Regan, Judith Jarvis Thomson, Raymond Frey; vgl. McLaughlin 2001, 2002). Aber noch wichtiger: Die Position von Wrights läuft auf eine Tautologie hinaus: Nur dasjenige kann ein gutes 1

Von Wright fügt eine dritte Behauptung dazu, weil er auch die Frage diskutiert, ob Gesellschaften ein Wohl haben. Dies muss uns in diesem Kontext nicht interessieren.

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Leben führen, das auch lebt. Weil der Terminator nicht lebt, hat er kein Wohl, keine Interessen. Es muss also geklärt werden, ob es gute Gründe gibt, Organismen ein Wohl zuzuschreiben, und ob diese Gründe auch für andere Dinge zutreffen. Die Frage ist also, welchen Dingen man sinnvollerweise bzw. verstndlicherweise Interessen oder ein Wohl zuschreiben kann – und warum. Aristoteles selbst ist berühmt-berüchtigt für ein Argument, das vielleicht doch die Mängel der Analyse von Wrights beheben kann. In der Nikomachischen Ethik erläutert Aristoteles im so genannten ErgonArgument (NE 1097b29 – 1098a3), was gut für einen Menschen (aber auch für andere Lebewesen) ist. Diese Überlegungen haben die Kommentatoren sehr beschäftigt, denn sie scheinen ein Musterbeispiel vom pars-pro-toto-Fehlschluss darzustellen. Es wäre leicht zu bestimmen, was ein guter Mensch ist, sagt Aristoteles, wenn man nur wüsste, was seine Aufgabe oder spezifische Leistung sei. Er bemerkt, dass ein guter Tischler seine Aufgabe gut erfüllt und ein gutes Auge seine Aufgabe gut erfüllt; dann fragt er, ob nicht der Mensch als solcher eine Aufgabe habe. Müssten wir angesichts der Tatsache, dass bestimmte Arten von Menschen (Tischler, Schuhmacher) eine Aufgabe haben und bestimmte Teile vom Menschen (Augen und Hände) eine Aufgabe haben, nicht annehmen, dass der Mensch selbst eine Aufgabe hat? Dann bestimmt er die Aufgabe bzw. die Funktion des Menschen: Kann es sein, dass Tischler und Schuster Funktionen und Tätigkeiten haben und der Mensch keine hat, sondern faul geboren ist? So wie das Auge, die Hand, der Fuß und im Allgemeinen jedes Teil eine Funktion (ergon) zu haben scheint, könnte man annehmen, dass der Mensch auch eine Funktion neben allen diesen hat. Aber was wäre das? Denn das Leben scheint auch den Pflanzen gemeinsam zu sein, aber das Eigentümliche wird gesucht. Man muss also das ernährende und wachsende Leben beiseite tun. Es könnte ein wahrnehmendes Leben sein, aber dies scheint auch dem Pferd, dem Rind und jedem Tier gemeinsam. Es bleibt das tätige Leben dessen, der Vernunft hat. (NE 1097b29 ff)

Zu seiner Entlastung soll angemerkt werden, dass Aristoteles seine eigene eher rhetorische Frage gar nicht beantwortet, sondern eine ganz andere Frage. (Genau genommen rettet er sich vor dem pars-pro-totoFehlschluß durch eine Äquivokation.) Er hatte gefragt, ob nicht der Mensch eine instrumentelle Funktion hat wie ein Handwerker oder ein Organ. Die Frage galt also, wozu oder wofür der Mensch gut sei. Die Antwort aber betrifft die Frage, was das Wohl des Menschen von dem

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Wohl der anderen Lebewesen unterscheidet. Die Ausführung der Funktion des Tischlers ist gut für andere – die Gemeinschaft; und die Ausführung der Funktion des Auges ist gut für ein anderes – den Menschen. Aber die Ausführung des ergon des Organismus (ob Mensch, Tier oder Pflanze) ist gut für den Organismus selbst. Aristoteles rekurriert wie selbstverständlich auf das Leben als das Bestimmende bei dieser Frage. Insofern stimmt er völlig mit von Wright überein; aber er weist auch auf den Grund hin, warum alles Lebendige ein Wohl hat: das ergon, das alles Lebendige mit den Pflanzen gemein hat ist Ernährung – oder anachronistisch: Stoffwechsel. Der aristotelische Begriff des ergon zielt auf das, was ein Ding tut, das es zu dem macht, was es ist. Platons Rebschere und Aristoteles’ Flötenspieler tun etwas, was sie zu dem macht, was sie sind. Durch Wachstum und Ernährung machen Pflanzen (aber alle anderen Lebewesen auch) sich zu dem, was sie sind – aber in einem ganz anderen Sinne. Das, was sie tun, gibt ihnen nicht nur einen Namen, wie Rebschere oder Flötenspieler, sondern macht sie buchstäblich und materiell zu dem was sie sind. Sie produzieren sich; und diese grundlegende organische Tätigkeit wird auch bei den höheren Formen Tier und Mensch vorausgesetzt. Aristoteles selber realisierte keine dieser für uns sichtbaren Möglichkeiten, die in seinem Begriff des ergon steckten, da er den Begriff fest mit dem der Seele verbunden hatte. Aber in seiner Vorstellung von Ernährung und Wachstum ist eine genuin materielle Tätigkeit, die etwas zu dem machen kann, was es ist. Gerade diese Vorstellung einer selbst-produzierenden Tätigkeit wurde mit John Locke zur Grundlage moderner Organismustheorien in der Biologie (vgl. McLaughlin 2001). Die charakteristische Tätigkeit eines Lebewesens ist gut für es selbst; die Ausführung der Funktion führt zur Erhaltung und Wiederherstellung des Funktionsträgers in seinem System; die Selbsterhaltung oder Selbstproduktion des Organismus ist seine charakteristische Tätigkeit. Gut für den Organismus und gut für die Tätigkeit der Erhaltung des Organismus sind fast dasselbe. Durch Stoffwechsel und Regeneration produziert ein Organismus seine eigenen Teile wieder. Der Beitrag eines Teils (seine Funktion) zu dieser Leistung des Systems führt zur Wiederherstellung aller Zellen, aus denen der Teil besteht – und kann so erklären, warum der Teil da ist und warum das System ein Wohl hat. Dies ist natürlich noch lange keine ausgearbeitete Theorie der Wohlfahrt, keine erfolgreiche Naturalisierung des Wohls. Es bringt uns aber einen Schritt weiter als die Position von Wrights. Wir können jetzt

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sagen, unter welchen Bedingungen er Recht hatte, allen Organismen ein Wohl zuzuschreiben und allen Artefakten (auch dem Terminator) ein Wohl abzusprechen. Wer ein Wohl hat, dessen charakteristische Tätigkeit ist die Selbsterhaltung bzw. Selbstproduktion. Dies weist auch die Richtung auf, in die wir gehen müssen, wenn wir die beiden grundlegenden Probleme des ätiologischen Ansatzes lösen wollen und erklären wollen, ob Bewusstsein Funktion voraussetzt.

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Phänomenales Bewusstsein und Subjekte von Erfahrung Martine Nida-Rmelin Vorbemerkung Das Problem phänomenalen Bewusstseins wird in der zeitgenössischen Debatte als ein Problem besonderer qualitativer Merkmale von Erlebnissen, die man als Gehirnprozesse deutet, interpretiert. Diese von den Kontrahenten geteilte und nicht hinterfragte Auffassung ist nach meiner Überzeugung irregeleitet und führt dazu, dass der Kern des Problems des Bewusstseins, der die Existenz erlebender Subjekte betrifft, verkannt wird. Diese Diagnose wird hier dargestellt. Der Aufsatz wendet sich (wie schon der ihm zugrunde liegende Vortrag) an Forscher unterschiedlicher Bereiche der Philosophie und der empirischen Wissenschaften und soll deshalb keine Spezialkenntnisse der gegenwärtig in der ,analytischen‘ Philosophie geführten Debatte um Bewusstsein voraussetzen. Die ersten Abschnitte geben daher eine knappe Skizze der Diskussionslage. Für Spezialisten beginnt der substantielle Teil mit Abschnitt 4.

1. Das Problem phänomenalen Bewusstseins. Bemerkungen zum Stand der Diskussion Unter dem Begriff „Phänomenales Bewusstsein“ werden in der gegenwärtigen Debatte jene geistig-seelischen Ereignisse und Zustände zusammengefasst, die erlebt werden und die somit einen subjektiven Charakter haben. Für jeden phänomenalen Zustand gilt: Es ist irgendwie, in diesem Zustand zu sein.1 Unstrittige Beispiele phänome1

Diese suggestive Redeweise („it is somthing like to be in that state“/„it is something like to be that organism“) hat Thomas Nagel eingeführt (vgl. Nagel 1974).

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nalen Bewusstseins sind Farb- und Geruchsempfindungen, Hörerlebnisse und aktuell erlebte emotionale Episoden. Manche Autoren scheinen geneigt, phänomenales Bewusstsein auf Sinnesempfindungen, Körperempfindungen, emotionale Episoden und Vorstellungen der zugehörigen Art einzuschränken. Aber das ist sicher ein Fehler. Auch geistig-seelische Vorgänge ganz anderer Art werden von dem betroffenen Subjekt in bestimmter Weise erlebt. So argumentiert Siewert (2003) überzeugend, dass das Nachdenken über eine theoretische Frage oder das Verstehen eines Textes phänomenalen Charakter haben. Nach Siewerts These hat das Denken eines Gedankens bestimmten Inhalts eine spezifische, für diesen Inhalt charakteristische subjektive Qualität. Aus dem Bereich des Aktivseins und des Handelns stammen weitere Beispiele phänomenalen Bewusstseins, die zeigen, dass die genannte Einengung verfehlt ist. Wir erleben uns in unseren Tätigkeiten als aktiv und in unseren Handlungen als Urheber dessen, was geschieht. Auch dies sind Beispiele von Erleben mit phänomenalem Charakter.2 In der lebhaft geführten Debatte um den ontologischen Status von Bewusstsein besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass phänomenales Bewusstsein nicht auf einfache Weise in ein physikalistisches Weltbild passt. Philosophische Positionen, die das Rätsel des phänomenalen Bewusstseins erst gar nicht ernst zu nehmen scheinen, wie sie etwa der logische Behaviourismus, der analytische Funktionalismus oder der Eliminativismus vorgeschlagen haben, gelten heute für die meisten als obsolet.3 Dagegen ist die in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts populäre Identitätstheorie, nach welcher geistig-seelische Vorgänge mit Gehirnprozessen zu identifizieren sind, die für einige Jahrzehnte mehrheitlich für gescheitert gehalten wurde, in neuem Gewand zu2

3

Horgan et al. (2003) untersuchen in erhellender Weise den Gehalt unseres Erlebens, wenn wir uns im eigenen Handeln als Verursacher unserer Tätigkeit erleben; zum Erleben des Aktivseins in Tätigkeiten, die keine Handlungen sind, vgl. M. Nida-Rümelin (2007b). Logische Behaviouristen glaubten, dass Aussagen über Mentales ohne Verlust im sachlichen Gehalt in Aussagen über rein physikalisch beschreibbare Verhaltenstendenzen übersetzbar seien. Analytische Funktionalisten vertreten eine ähnliche, wenn auch verbesserte These. Sie definieren mentale Zustände über die kausale Rolle des betreffenden Zustandes, wobei ,inputs‘, ,outputs‘ und auch interne Zustände berücksichtigt werden. Eliminativisten dagegen argumentieren, dass mentale Begriffe, da sie einer radikal falschen ,Theorie‘ entstammen, keinerlei Bezug haben. Für eine hilfreiche Einführung, die diese und andere zeitgenössische Thesen zum ontologischen Status von Bewusstsein systematisch darstellt und diskutiert, vgl. Ansgar Beckermann (1999).

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rückgekehrt.4 Weit verbreitet ist es unter heutigen Philosophen, den Materialismus als These der Identität von Bewusstseinszuständen und Gehirnzuständen zu akzeptieren, zugleich aber zuzugestehen, dass es tief verwurzelte Intuitionen gibt, die gegen den Materialismus sprechen und dass intuitiv attraktive Argumente ihn als falsch zu erweisen scheinen. Materialisten dieser Art versuchen, die intuitiven Widerstände gegen den Materialismus als Produkt einer kognitiven Illusion zu entlarven, indem sie eine materialistische Beschreibung unserer begrifflichen Ausstattung liefern, die verständlich macht, dass uns der Materialismus falsch erscheinen muss.

2. Unvollständigkeit physikalistischer Beschreibungen und die Erklärungslücke In diesem Zusammenhang diskutiert werden vor allem die These der unvermeidbaren Unvollständigkeit physikalischer Beschreibungen und die These der Erklärungslücke. Die erste dieser Thesen besagt, dass eine in physikalischer Terminologie gehaltene Beschreibung der Welt unvollständig bleiben muss, weil sie den phänomenalen Charakter der Erlebnisse empfindender Wesen nicht erwähnt. Daran wird sich nach dieser These auch dann nichts ändern, wenn man zukünftige Erweiterungen, Revisionen oder Verfeinerungen der Terminologie der Physik (und anderer relevanter Naturwissenschaften) berücksichtigt, solange keine genuin phänomenalen Begriffe in die Wissenschaftssprache aufgenommen werden.5 Diese These hat Thomas Nagel (1974) 4

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Eine der die Debatte auslösenden Arbeiten der ersten Blüte der zeitgenössischen Identitätstheorie war Smart (1959). Heutige Verteidigungen einer neuen Ausarbeitung finden sich z. B. in John Perry (2001), David Papineau (2002) und Brian Loar (1997). Phänomenale Begriffe beziehen sich auf Arten von Erlebnissen, welche nach ihrem phänomenalen Charakter (nach der subjektiven Qualität) klassifiziert sind. Sie können sozusagen introspektiv auf eigene Erlebnisse angewendet werden, aber auch auf die Erlebnisse anderer, wenn man sich darüber Gedanken macht, wie ein anderes Wesen etwas erlebt. Phänomenale Begriffe werden auf der Grundlage des eigenen Erlebens gebildet. Es ist für ein Wesen, das eine gegebene Erlebnisweise nicht aus eigener Erfahrung kennt, im Allgemeinen unmöglich, einen phänomenalen Begriff dieser Erlebnisweise zu bilden. So hat zum Beispiel ein von Geburt an Blinder keinen phänomenalen Begriff des visuellen Erlebens von reinem Blau, weil er nicht weiß, wie es ist, etwas als blau zu sehen. Viele Philosophen nehmen an, dass phänomenale

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durch sein berühmtes Beispiel der Fledermäuse gestützt. Wir wissen, dass Fledermäuse Erlebnisse haben, und wir haben gute Gründe anzunehmen, dass ihre Echolotwahrnehmungen mit Erleben einhergehen. Aber da wir Echoloterlebnisse nicht aus eigener Erfahrung kennen, sind wir nicht in der Lage, phänomenale Begriffe der Erlebnisqualitäten von Fledermäusen beim Echoloten zu bilden. Wir sind deshalb begrifflich nicht dazu ausgestattet, Wissen über den qualitativen Charakter der Echolotwahrnehmungen von Fledermäusen zu erlangen. Diese Beschränkung ist nicht dadurch zu beheben, dass wir den Wahrnehmungsapparat von Fledermäusen in seiner Funktionsweise erforschen und immer besser verstehen. Auch wenn uns im Detail bekannt wäre, wie Fledermäuse Schallwelleninformationen weiterverarbeiten und wie diese Verarbeitung in ihrem Gehirn realisiert ist, würde uns das nicht zu einer Antwort auf die Frage verhelfen, wie es für eine Fledermaus ist, einen Mückenschwarm zu ,echoloten‘. Demnach gibt es Wissen über das Erleben von Fledermäusen, das auch eine vollständige physikalische Beschreibung eines Fledermausorganismus nicht vermitteln könnte. Es liegt nahe, den Schluss zu ziehen, der allerdings weiterer Prämissen bedarf: Es gibt das Erleben eines Wesens betreffende Tatsachen, die eine vollständige physikalische Beschreibung des betreffenden Organismus nicht enthält.6 Für dieses Resultat argumentierte auch Frank Jackson (1982) mithilfe seines bis heute viel diskutierten Mary-Beispiels. Mary ist eine Neurowissenschaftlerin der Zukunft, die über die Funktionsweise des menschlichen Farbwahrnehmungsapparates und deren Realisierung im menschlichen Gehirn vollständig informiert ist. Sie lebt jedoch eingesperrt in schwarz-weißer Umgebung und hat nie Farben

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Begriffe von physikalischen Begriffen kognitiv unabhängig seien insofern zwischen physikalischen und phänomenalen Begriffen keine logisch-begrifflichen Verbindungen bestünden. Materialisten stimmen der ersten Formulierung (die auf Wissen Bezug nimmt) häufig zu, lehnen die zweite aber (in der von Tatsachen die Rede ist) ab. Hinter dieser Unterscheidung verbirgt sich die Annahme, dass man dieselbe Tatsache auf unterschiedliche Weise (mittels unterschiedlicher Begriffe konzeptualisiert) wissen kann. Wenn eine Beschreibung ein bestimmtes Wissen nicht vermittelt, so folgt daher nicht unmittelbar, dass sie eine Tatsache auslässt. Die fragliche Tatsache könnte – in anderen Begriffen konzeptualisiert – in der Beschreibung enthalten sein. Der Materialist argumentiert eventuell, dass physikalische Tatsachen zwar kein Wissen vermitteln können, das in phänomenalen Begriffen konzeptualisiert ist, dass aber alle Tatsachen, die in phänomenalen Begriffen konzeptualisierbar sind, in einer vollständigen physikalischen Beschreibung in anderer (etwa neurophysiologischer) Beschreibung vorkommen.

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gesehen. Trotz ihres umfassenden physikalischen Wissens weiß Mary nicht, wie es ist, den blauen Himmel zu betrachten. Man kann auch sagen: In einem gewissen Sinne weiß sie nicht, dass der Himmel Normalsichtigen blau erscheint.7 Verwandt mit dieser These der notwendigen Unvollständigkeit physikalischer Beschreibungen aber von ihr zu unterscheiden ist die These der Erklärungslücke, die besagt: Es ist prinzipiell unmöglich zu verstehen, wie und weshalb es dazu kommt, dass auf der Grundlage physikalischer Vorgänge in komplexen biologischen Systemen Bewusstsein entsteht. Vertreter dieser These bezweifeln nicht, dass die neurologischen Grundlagen bewussten Erlebens aufgeklärt werden können. Sie bezweifeln aber, dass eine eventuelle künftige Aufklärung der materiellen Basis von Bewusstsein verständlich machen wird (a) weshalb unter bestimmten Umständen Erlebnisse einer bestimmten qualitativen Art auftreten und (b) weshalb unter bestimmten Umständen überhaupt ein Erleben entsteht.8

3. Der Kern der Debatte zwischen Materialismus und Eigenschaftsdualismus Die Hauptthese des Materialisten besagt, dass alle realen konkreten Entitäten physikalischer Natur sind. Die Realität besteht nach dieser These aus materiellen Dingen, es gibt nur physikalische Individuen, physikalische Eigenschaften, physikalische Ereignisse und physikalische

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Es gibt einen Sinn, in welchem sie dieses Wissen nicht hat, obwohl sie eventuell sagt, dass der Himmel blau aussieht, obwohl sie weiß, welche anderen Gegenstände ebenfalls in dieser Farbe gesehen werden, und obwohl sie die physikalischen Ursachen (Reflektion gewisser Wellenlängenmischungen) von Blauwahrnehmungen kennt. Vgl zu dieser Thematik M. Nida-Rümelin (1996) in der Sammlung Ludlow et al. (2002), welche ausschließlich Aufsätze zum Mary-Beispiel enthält (auch die frühen Aufsätze von Frank Jackson und erste Kritiken). Vgl. zu dieser These Joseph Levine (1999; 2001; 2006). Levine hat die These unter dieser Bezeichnung („Explanatory Gap“) in die Debatte eingeführt und arbeitet weiter daran, ein tiefer gehendes Verständnis ihres Inhalts zu entwickeln und zu zeigen, dass das Auftreten der Erklärungslücke keine einfache materialistische Erklärung hat. Vgl. zum letzten Punkt insbesondere Levine (2006).

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Sachverhalte.9 Der Eigenschaftsdualist dagegen erkennt phänomenale Eigenschaften als besondere ontologische Kategorie von Eigenschaften an, die weder begrifflich noch ontologisch auf physikalische Eigenschaften reduzierbar sind. Auf die oben genannten Thesen der Unvollständigkeit physikalistischer Beschreibungen und der Unmöglichkeit einer zufriedenstellenden physikalistischen Erklärung phänomenalen Bewusstseins reagieren der Materialist und der Eigenschaftsdualist auf unterschiedliche Weise. Nach Auffassung des Eigenschaftsdualismus liegt es an der Natur subjektiver Tatsachen selbst, dass eine physikalische Beschreibung eines erlebenden Individuums diese Tatsachen nicht erfassen kann. Ebenso liegt es nach Meinung des Eigenschaftsdualisten an der Natur phänomenalen Bewusstseins, dass unbegreiflich bleibt, weshalb Erleben auftritt und weshalb es jeweils von spezifischer subjektiver Qualität ist. Der heutige Identitätstheoretiker akzeptiert die These der Erklärungslücke oft in der ein oder anderen Version, weist aber in jedem Fall die These der notwendigen Unvollständigkeit physikalischer Beschreibungen erlebnisfähiger Organismen zurück. Beide Thesen werden dennoch von Philosophen dieser Ausrichtung als wichtige Herausforderung anerkannt. Sie versuchen für die These der Erklärungslücke nachzuweisen, dass sie nicht in einer prinzipiellen Unerklärbarkeit gründet, die in der Natur der Sache läge, sondern vielmehr an dem besonderen Status der Begriffe liegt, die wir von Bewusstsein haben. 9

Die Frage, wie „physikalisch“ in diesem Zusammenhang zu definieren ist, hat keine einfache und keine allgemein akzeptierte Antwort. Gelegentlich wird behauptet, dass die These des Materialismus selbst nicht hinreichend klar ist, solange dies nicht beantwortet ist. Diese Einschätzung teile ich nicht. Im Kontext der Kontroverse um den Materialismus in Bezug auf Bewusstsein ist auch ohne präzise Definition von „physikalisch“ hinreichend klar, welche Art von Entitäten eingeschlossen und welche ausgeschlossen sein sollen. Der Materialismus lässt die Existenz von Subjekten von Erfahrung nur zu, sofern es sich um ausgedehnte, aus Materie zusammengesetzte Individuen handelt; diese These ist hinreichend klar, auch wenn keine präzise Definition von ,Materie‘ vorliegt. Der Materialismus lässt geistig-seelische Eigenschaften nur zu, sofern es sich (a) um Eigenschaften von materiellen Objekten handelt und das Haben jeder dieser Eigenschaften (b) darin besteht, dass Bedingungen erfüllt sind, die im Prinzip in einer physikalischen Sprache (,physikalisch‘ im zuvor angedeuteten weiten Sinne) beschrieben werden können. – Eine Komplikation dieser Charakterisierung entsteht allerdings dadurch, dass manche Materialisten physikalische Sachverhalte zulassen wollen, die in physikalischer Sprache prinzipiell nicht charakterisierbar sind. Vgl. dazu die Diskussion des Typ-F-Monismus in Chalmers (1996).

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Diese Begriffe, so die Grundidee, beziehen sich zwar auf Materielles, doch sind sie in der Struktur unseres Denkens in eigenartiger Weise isoliert. Es fehlen die begrifflichen Zusammenhänge zu physikalischen Begriffen, die es uns möglich machen könnten zu verstehen, weshalb Bewusstsein auf materieller Basis auftritt. Eine Schwierigkeit für diesen Ansatz besteht darin, eine überzeugende Erklärung der Erklärungslücke zu entwickeln, die nichts voraussetzt, das sich letztlich einer materialistischen Erklärung widersetzt.10 In Bezug auf die von ihm abgelehnte These der Unvollständigkeit physikalischer Beschreibungen verfolgt der heutige Vertreter der Identitätstheorie eine ähnliche Strategie. Die Grundidee ist hier, dass ein und dieselbe Tatsache von einem denkenden Wesen in unterschiedlicher Weise begrifflich gefasst werden kann. Sie kann sowohl in phänomenalem Vokabular ausgedrückt werden (z. B. durch „Hans hat ein Blau-Erlebnis“) als auch durch eine physiologische Beschreibung („Das visuelle System im Gehirn von Hans befindet sich im neurologischen Zustand N“). Den unterschiedlichen sprachlichen Beschreibungen ein und derselben Tatsache entsprechen unterschiedliche Weisen, diese Tatsache in Begriffen zu denken. Das Fehlen begrifflicher Verbindungen zwischen diesen beiden Konzeptualisierungen soll nach der These heutiger Identitätstheoretiker erklären, dass wir unter dem irrigen Eindruck stehen, es müsse sich bei den so formulierten Sachverhalten um fundamental verschiedene Sachverhalte handeln. Dieser Eindruck und damit die Neigung zu nicht-materialistischen Theorien des Bewusstseins ist demnach eine kognitive Illusion, die auf der besonderen Rolle phänomenaler Begriffe in unserem Denken beruht.11

4. Bemerkungen zu einigen Voraussetzungen, die von beiden Seiten akzeptiert sind Ich werde hier keine Stellungnahme zu dieser Kontroverse versuchen. Vielmehr geht es im Folgenden um gemeinsame Voraussetzungen der Kontrahenten in dieser Debatte. Auf beiden Seiten werden ohne wei10 Levine (2006) argumentiert für die Vermutung, dass diese Schwierigkeit unüberwindlich ist. 11 Vertreter der hier beschriebenen Position sind Perry (2001), Papineau (2002), Papineau (2006), Levine (2006) und Balog (2006). In M. Nida-Rümelin (2006b) wird ein Argument gegen die Identitätsthese entwickelt.

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tere Erörterung und oft ohne explizite Erwähnung einige Annahmen als selbstverständlich vorausgesetzt. So setzen beide Seiten in der Formulierung ihrer Thesen in der Regel voraus, dass phänomenale Eigenschaften Eigenschaften von Gehirnprozessen seien. Nach dieser Auffassung ist z. B. ein Schmerz ein Ereignis, das im Feuern gewisser Neuronen besteht. Die Art und Weise, wie es sich anfühlt, den Schmerz zu haben, die Schmerzhaftigkeit des Schmerzes sozusagen, ist nach dieser Auffassung eine Eigenschaft des Schmerzes, also eine Eigenschaft des Feuerns von Neuronen. Die in der Debatte geteilte Voraussetzung besagt allgemein formuliert, dass mentale Vorgänge neuronale Vorgänge sind, von denen manche phänomenale Eigenschaften haben. Der Streit um den Status phänomenalen Bewusstseins wird so zu einem Streit um den besonderen Status von Eigenschaften gewisser Gehirnprozesse. Diese gemeinsame Grundannahme sei durch ein weiteres Beispiel illustriert. Beim Anblick von blauen Gegenständen stellt sich bei der betrachtenden Person eine Farbempfindung ein. Diese Empfindung ist – nach der geteilten Voraussetzung – ein Gehirnprozess mit der merkwürdigen Eigenschaft sich so und so anzufühlen. Diese Eigenschaft ist es, die den Gehirnprozess zu einer Blauempfindung macht. Das Beispiel illustriert, wie man phänomenale Eigenschaften von Gehirnvorgängen genauer charakterisieren kann. Es handelt sich um jene Eigenschaften neuronaler Prozesse, die für die Zugehörigkeit solcher Prozesse zu einer bestimmten phänomenalen Art verantwortlich sind. Es gehört weiter zu den gemeinsamen Voraussetzungen in der Debatte um den Status phänomenalen Bewusstseins, dass das erlebende Subjekt mit dem biologischen Organismus, um den es geht, zu identifizieren sei. Man gelangt so zu folgendem Bild: Das Rätsel des phänomenalen Bewusstseins besteht darin, dass in den Gehirnen mancher lebender Organismen Gehirnprozesse mit besonderen (nämlich qualitativen, ,phänomenalen‘) Eigenschaften auftreten. Eine Lösung des Problems des phänomenalen Bewusstseins muss demnach verständlich machen, dass und wie Gehirnvorgänge Eigenschaften dieser besonderen Art instantiieren können.

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5. Phänomenale Eigenschaften von Subjekten und g-phänomenale Eigenschaften von Gehirnprozessen Der Grundfehler in der eben skizzierten Standardauffassung besteht nach meiner Sicht gerade in der Annahme, dass die Eigenschaften, deren besonderer Status zu klären ist, Eigenschaften von Gehirnprozessen seien. Die Eigenschaften, die im Zusammenhang mit der Frage nach dem ontologischen Status von Bewusstsein in Wahrheit zu betrachten sind, sind aber Eigenschaften erlebender Subjekte: die Eigenschaft, über eine Frage nachzudenken, die Eigenschaft, eine Landschaft zu betrachten, die Eigenschaft, einen Traum zu haben etc. Diese eigentlich interessierenden Eigenschaften sind keine Eigenschaften neuronaler Vorgänge, es sind Eigenschaften von Personen oder allgemein von Subjekten von Erfahrung. Man wird kaum erwarten können, dass man die Natur dieser Eigenschaften theoretisch verstehen kann, wenn man sich nicht zugleich Gedanken über die besondere Natur jener Individuen macht, denen sie zukommen: über die Natur erlebender Subjekte. Diese besonderen Individuen werden in der Standardauffassung nicht explizit erwähnt und sind nicht Gegenstand der Reflektion. Dieses Ausklammern des erlebenden Subjekts scheint mir ein grundlegender Fehler zu sein, der eine Reihe weiterer Irrtümer und Missverständnisse nach sich zieht. Bevor ich diese Diagnose näher begründe, möchte ich etwas genauer erklären, wie der Begriff des Subjekts von Erfahrung hier verstanden sein soll. Subjekte von Erfahrung sind jene Individuen, denen geistig-seelische Eigenschaften zukommen. (Bei der Einführung des Begriffs sei offen gelassen, ob es sich dabei um materielle Individuen handeln kann, etwa menschliche Körper, tierische Organismen oder Gehirne, oder ob solche Individuen einer besonderen ontologischen Kategorie angehören.) Alle erlebenden Wesen, auch Delphine, Elefanten und vielleicht Käfer sind erlebende Subjekte.12 Personen sind nur ein Spezialfall erlebender Subjekte. Wenn eine Person mittels „ich“ Bezug nimmt, so ist das, worauf sie Bezug nimmt, das erlebende Subjekt: die sprechende Person selbst. Im Fall von Personen gibt es keinen 12 Wenn erlebende Subjekte nicht mit biologischen Organismen identifizierbar sind, so muss man hier die gewöhnliche Sprache präzisieren, vielleicht sogar korrigieren: Der Elefant, von dem die Rede ist, wenn wir in einem konkreten Fall sagen, dass ein Elefant verärgert ist, ist das Subjekt, welches einen gewaltigen Körper hat, und nicht die riesige Ansammlung von Molekülen selbst.

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Unterschied zwischen Person und Subjekt. Die Person ist das erlebende Individuum. Die Rede von einem „Selbst“ oder „Ich“, das gewissermaßen als ,Kern‘ der Person gedacht wird, führt in die Irre. Was kann es nun heißen, dass ein Gehirnprozess eine phänomenale Eigenschaft, z. B. die der Schmerzhaftigkeit aufweist? Es scheint nur eine Antwort möglich: Dasjenige Subjekt, welches den Körper hat, in dem der neurophysiologische Zustand oder Prozess auftritt, empfindet etwas als schmerzhaft. Der gewöhnliche Begriff der Schmerzhaftigkeit drückt keine Eigenschaft von Gehirnprozessen aus. Um den philosophisch-technischen Begriff von diesem gewöhnlichen Begriff zu unterscheiden, ist im Folgenden von ,g-Schmerzhaftigkeit‘ und ,gschmerzhaft‘ die Rede. Ein Gehirnprozess ist g-schmerzhaft nur dann, wenn die betroffene Person Schmerz empfindet. Zu jedem Zeitpunkt findet aber in einem menschlichen Gehirn eine Unmenge von Gehirnprozessen statt. Es muss also gesagt werden, welcher dieser Gehirnprozesse g-schmerzhaft ist, wenn die Person Schmerz empfindet. Gemeint ist offenbar jener Gehirnvorgang, der dem Schmerz der Person ,zugrunde liegt‘, der also dafür verantwortlich ist, dass die Person den Schmerz empfindet (es muss hier offen bleiben, was dies genau heißt). Die Eigenschaft der g-Schmerzhaftigkeit erweist sich damit als eine recht komplexe Eigenschaft. Der systematische Zusammenhang zwischen der g-Schmerzhaftigkeit von Gehirnzuständen und der Eigenschaft von Subjekten, Schmerz zu erleben, ist so zu formulieren: Zusammenhang Z (formuliert fr Schmerzen) Ein Gehirnprozess P ist genau dann g-schmerzhaft wenn gilt: Dasjenige erlebende Subjekt, das den Körper hat, in dem P stattfindet, empfindet Schmerzen und der Gehirnprozess P ist die neuronale Grundlage dafür, dass das Subjekt Schmerzen hat.

Es wird nützlich sein, eine weitere Bezeichnung einzuführen. Reservieren wir im Folgenden den Begriff der phänomenalen Eigenschaften für Eigenschaften erlebender Wesen und bezeichnen wir diejenigen Eigenschaften von Gehirnprozessen, die in der Gegenwartsdebatte als phänomenale Eigenschaften bezeichnet werden, als g-phänomenale Eigenschaften. Wir können dann den Zusammenhang Z allgemein wie folgt formulieren: Zusammenhang Z (allgemein formuliert) Für jede g-phänomenale Eigenschaft g-E von Gehirnzuständen gibt es eine zugehörige phänomenale Eigenschaft E erlebender Subjekte, sodass gilt: Ein Gehirnzustand G hat die Eigenschaft g-E bedeutet: G ist die neuronale

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Grundlage dafür, dass das Subjekt, das den Körper hat, in dem G stattfindet, die phänomenale Eigenschaft E hat.

6. Intrinsische, qualitative Eigenschaften In der Debatte um phänomenale Eigenschaften geht es u. a. darum, ob phänomenale Eigenschaften intrinsische Eigenschaften sind.13 Es wird dabei vorausgesetzt, dass phänomenale Eigenschaften ,qualitativ‘ sind, sie werden als ,Qualia‘ bezeichnet. Als Beispiele von Qualia führt man häufig an: Schmerzhaftigkeit, Rötlichkeit, Klänge und Gerüche. Es liegt aber auf der Hand, dass keines dieser Beispiele geeignet ist, gphänomenale Eigenschaften zu illustrieren. Klänge und Gerüche sind diejenigen außenweltlichen Phänomene, die dem erlebenden Subjekt in seinen Geruchs- und Klangerlebnissen subjektiv gegeben sind. Wie auch immer man die schwierige Frage danach, welche Art von Objekten Klänge und Gerüche sind, beantworten mag, eines scheint klar: Klänge und Gerüche sind keine Eigenschaften von Gehirnprozessen allein schon deshalb, weil sie keine Eigenschaften sind. Rötlichkeit und Schmerzhaftigkeit sind zwar Eigenschaften, aber gewiss keine Eigenschaften neuronaler Prozesse. Eine Verletzung ist schmerzhaft, die Farbe einer Blume ist rötlich. Gehirnprozesse dagegen sind offenbar weder rötlich noch schmerzhaft noch haben sie andere qualitative Merkmale, die der Rötlichkeit oder der Schmerzhaftigkeit vergleichbar wären. Es ist ja nicht so, dass wir nach Innen blickten, dort im Inneren Gehirnprozesse ausmachten, die uns als Gegenstand einer inneren Wahrnehmung gegeben wären und als schmerzhaft oder rötlich erschienen. Auch gibt es keine anderen qualitativen Merkmale, die Gehirnzustände in unserem Erleben zu haben scheinen. Wenn es etwas gibt, das uns als schmerzhaft erscheint, so ist es ein lokalisierter Vorgang am verletzten Teil des Körpers und wenn es etwas gibt, das uns rötlich erscheint, so ist es die Farbe eines wahrgenommenen Gegenstandes oder der wahrgenommene Gegenstand selbst. Es gibt dagegen keine inneren Prozesse, die qualitative Merkmale zu haben scheinen, die uns im Erleben ge13 Intrinsische Merkmale eines Individuums sind solche, die ihm unabhängig von seinen Relationen zu anderen Objekten zukommen. Wie dieser Begriff präzise zu fassen ist, ist umstritten. In der Philosophie des Geistes wird er in einem intuitiven Sinne verwendet, ohne Voraussetzung einer theoretisch zufriedenstellenden Definition.

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geben wären wie die Farbe einer Blume. Betrachtet man weitere potentielle Kandidaten, so wird schnell deutlich: Es gibt keine Eigenschaften, die wir in unserem natürlichen Denken voraussetzen und mit denen wir aus dem gewöhnlichen Leben vertraut wären, die zur Illustration von g-phänomenalen Eigenschaften geeignet wären. G-phänomenale Eigenschaften sind ein philosophisches Konstrukt, das nicht der Ausgangspunkt der Analyse sein kann. Die Existenz g-phänomenaler Eigenschaften wird in der Debatte als gemeinsame Basis, die der gesunde Menschenverstand nahelegt oder gar erzwingt, angenommen. Aber es gibt keine einfachen qualitativen Merkmale von Gehirnzuständen, die als Ausgangsdatum akzeptiert und als Explanandum in der Debatte um den Status phänomenalen Bewusstseins betrachtet werden könnten. Wir wissen, dass wir selbst phänomenale Eigenschaften haben, dass wir Schmerzen empfinden, den Anblick einer Landschaft genießen, uns über Ungerechtigkeiten ärgern, dass wir uns selbst als in unserem Handeln aktiv erleben, dass wir glücklich, traurig und verängstigt sein können. Phänomenale Eigenschaften von uns selbst, phänomenale Eigenschaften erlebender Subjekte, sind uns aus eigener Erfahrung bekannt. G-phänomenale Eigenschaften dagegen sind nichts, womit wir aufgrund unseres Erlebens vertraut wären. Sieht man sich den Zusammenhang zwischen g-phänomenalen Eigenschaften und gewöhnlichen phänomenalen Eigenschaften empfindender Wesen an, so ist völlig klar, dass g-phänomenale Eigenschaften nicht in der Erfahrung gegeben sein können. Die Instantiierung einer g-phänomenalen Eigenschaft besteht darin, dass der betreffende neuronale Vorgang Grundlage dafür ist, dass das Wesen, welches den Körper hat, in dem der Prozess stattfindet, sich in dem zugehörigen phänomenalen Zustand befindet. Der phänomenale Zustand selbst, in dem sich das Wesen befindet, ist ihm im Erleben unmittelbar gegeben, aber gewiss nicht die Eigenschaft eines Gehirnzustandes, neuronale Grundlage dieses Erlebens zu sein. G-phänomenale Eigenschaften haben nicht das passende ,Format‘, um unmittelbar erlebbar zu sein. Sind g-phänomenale Eigenschaften qualitativ und intrinsisch? Hat man sich einmal von der begrifflichen Vermengung phänomenaler Eigenschaften von Subjekten mit g-phänomenalen Eigenschaften von Gehirnvorgängen befreit, so ist die Antwort ziemlich offensichtlich. Phänomenale Eigenschaften sind plausible Kandidaten dafür, intrinsisch und qualitativ zu sein. G-phänomenale Eigenschaften dagegen sind nicht intrinsisch: Ein Gehirnzustand hat eine solche Eigenschaft, wenn er Grundlage des Erlebens eines Subjekts ist. Die fragliche Eigenschaft

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des Gehirnvorganges ist also relational und nicht intrinsisch: Er muss in der richtigen Art von Beziehung zu dem Wesen stehen, in dessen Körper er stattfindet.

7. Konsequenzen der beschriebenen begrifflichen Vermengung Nach der in den voranstehenden Abschnitten formulierten Diagnose liegt in der zeitgenössischen Debatte eine Vermengung von zwei Arten von Eigenschaften vor, die grundverschieden sind: von g-phänomenalen Eigenschaften von Gehirnvorgängen einerseits und phänomenalen Eigenschaften von Personen oder Subjekten andererseits. Diese beiden Arten von Eigenschaften sind so grundlegend verschieden, dass der Fehler gravierend erscheint und zudem offensichtlich. Dagegen wird der Fehler in der Debatte allgemein nicht als solcher gesehen oder aber für harmlos gehalten. Gelegentlich wird die Meinung geäußert, dass die Rede von phänomenalen Eigenschaften von Subjekten oder die Rede von phänomenalen Eigenschaften von neurologischen Prozessen nur terminologische Varianten seien und dass es nicht darauf ankomme, ob man sich so oder so ausdrücke.14 Diese Verharmlosung des Fehlers übersieht die weitreichenden Konsequenzen, die sich aus der fraglichen Vermengung für die Art und Weise ergeben, wie man über das Problem des phänomenalen Bewusstseins denkt. Eine besonders schwerwiegende Konsequenz ist in meinen Augen diese: Die Vermengung g-phänomenaler Eigenschaften mit phänomenalen Eigenschaften verstellt den Blick auf die Tatsache, dass in der Zuschreibung jener Eigenschaften, deren Status zur Debatte steht, ein erlebendes Subjekt begrifflich und ontologisch vorausgesetzt ist. In der Zuschreibung phänomenaler Eigenschaften setzen wir immer implizit voraus, dass da jemand ist, der überhaupt erleben kann. Es ist daher unmöglich, ein theoretisch befriedigendes Verständnis der Natur phänomenaler Eigenschaften zu entwickeln ohne zugleich ein theoretisches Verständnis der Natur jener besonderen Individuen zu entwickeln, denen diese Eigenschaften zukommen.15 Dieses Desideratum kann fast nur übersehen werden von Theoretikern, die g-phänomenale Eigen14 Dies war beispielsweise die Reaktion von Joseph Levine in seinem eingeladenen Kommentar zu meinem Vortrag in Pasadena im März 2008 (Kongress der American Philosophical Association, Pacific Division). 15 Vgl. zu dieser Thematik M. Nida-Rümelin (1997).

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schaften für einfache qualitative Merkmale halten und mit echten phänomenalen Merkmalen vermengen. Sie denken in einem begrifflichen Rahmen, in dem für Subjekte von Erfahrung kein Platz ist. Es ergibt sich daraus ein verzerrtes Bild dessen, worin das Problem phänomenalen Bewusstseins besteht (vgl. Abschnitt 8). Eine weitere Konsequenz besteht in der Gefahr, falsche Metaphern zu verwenden, wenn es um das Reflektieren über eigene phänomenale Zustände geht. Wer sich über den subjektiven Charakter des eigenen Erlebens Gedanken macht, der blickt hierbei keineswegs nach Innen. Wer etwa überlegt, ob die Farbe, in welcher er den Himmel sieht, einen leichten Stich ins Grüne hat, der reflektiert über den phänomenalen Charakter seines Farberlebens. Seine Aufmerksamkeit ist bei dieser phänomenologischen Reflektion auf die Farbe des Himmels gerichtet und doch geht es um den subjektiven Charakter des eigenen Erlebens. Reflektion auf den subjektiven Charakter des eigenen Erlebens erfordert kein ,Nach-Innen-Blicken‘ (der Ausdruck „Introspektion“ ist irreführend) und sie erfordert es nicht, den Objekten der Außenwelt die Aufmerksamkeit zu entziehen. Es gibt keine nach Innen gerichtete Quasi-Wahrnehmung, in welcher uns Erlebnisse als Einzelvorkommnisse gegeben wären. Wer aber g-phänomenale Eigenschaften mit phänomenalen Eigenschaften vermengt, der wird eventuell Mühe haben, sich von solchen falschen Metaphern gänzlich zu befreien. Nach seiner Sicht wird man sich einer qualitativen Eigenschaft eines eigenen Gehirnzustands bewusst, wenn man sich des subjektiven Charakters des eigenen Erlebens bewusst wird. Wenn dies die richtige Sicht wäre, so sollten wir über einen direkten Zugang zu jenen vermeintlichen qualitativen Merkmalen von Gehirnprozessen verfügen und dies ist ein Gedanke, der die Verwendung der erwähnten schlechten Metaphorik beinahe erzwingt.

8. Wie sich das Problem des phänomenalen Bewusstseins darstellt, wenn man die Vermengung vermeidet Geht man von der unhaltbaren Voraussetzung aus, dass g-phänomenale Eigenschaften qualitative, intrinsische Merkmale neuronaler Prozesse sind, so ergibt sich daraus eine spezifische Auffassung dessen, worin das philosophische Problem des phänomenalen Bewusstseins besteht. Die These, dass in physikalischer Terminologie gehaltene Beschreibungen eines Organismus insofern unvollständig seien, als sie die Merkmale des

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phänomenalen Bewusstseins des betreffenden Wesens nicht einmal erwähnen, wird zu der These, dass besondere Merkmale von Gehirnzuständen in diesen Beschreibungen nicht genannt sind. Dem Anti-Materialisten, der die These der Unvollständigkeit physikalischer Beschreibungen vertritt, wird damit unterstellt, er postuliere, dass Gehirnprozesse neben ihren gewöhnlichen physiologischen Eigenschaften auch solche Eigenschaften haben, die sich nicht in physiologischer oder allgemein in physikalischer Terminologie beschreiben lassen. Der AntiMaterialist erscheint damit in schwacher Position. Es leuchtet ein, dass Gehirnprozesse ihrer Natur nach keine anderen als physikalisch beschreibbaren Eigenschaften haben können. Wenn man g-phänomenale Eigenschaften mit phänomenalen Eigenschaften verwechselt, so scheint der Anti-Materialist die höchst merkwürdige These zu vertreten, dass physikalischen Vorgängen nicht-physikalische Merkmale zukommen. Die These der Unvollständigkeit physikalischer Beschreibungen bewusstseinsfähiger Wesen erhält einen ganz anderen Inhalt, wenn man die fragliche Vermengung zurückweist. Es geht nun nicht mehr darum, dass Gehirnprozesse mysteriöserweise Merkmale hätten, die in physikalischer Sprache nicht beschreibbar sind. Vielmehr wird die These vertreten, dass in physikalischen Beschreibungen der Körper bewusstseinsfähiger Wesen nicht davon die Rede ist, dass da jemand ist, der diesen Körper hat, und der sich und die Welt so und so erlebt. Wer den Körper einer Ratte in seinem Aufbau und seiner Funktionsweise im Detail beschreibt, wer dabei angibt, wie die Zellen, aus denen der Rattenkörper besteht, miteinander interagieren und wie inputs auf die Rezeptoren im Nervensystem weitergeleitet und verarbeitet werden, und wer dabei alles angibt, was im Prinzip für einen Physiologen, Chemiker und Physiker über Aufbau und Funktionsweise des Rattenkörpers gewusst werden kann, der hat sich noch immer nicht dazu geäußert – so lautet nun die These der Unvollständigkeit physikalischer Beschreibungen – ob da ,jemand‘ ist, der den Rattenkçrper hat. Auch hat er sich nicht dazu geäußert, ob dieses erlebende Subjekt (dessen Existenz wir im Fall der Ratte mit guten Gründen annehmen), fähig ist, Liebe für ihre Kinder zu empfinden und Trauer beim Verlust ihres Partners. Er hat sich nicht dazu geäußert, in welchen Farben die Ratte sieht und ob ihrer Fähigkeit, über die Rezeptoren der Nase Gegebenheiten in ihrer Umgebung zu erkennen, Geruchserlebnisse entsprechen, die den Unseren ähnlich sind. Auch der Inhalt der These der Erklärungslücke wird deutlicher, verständlicher und plausibler, wenn man die fragliche Vermengung

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erkennt und vermeidet. Solange man die Vermengung übersieht, wird man meinen, dass das Auftreten g-phänomenaler Merkmale von Gehirnprozessen das angeblich problematische Explanandum sei. Die These der Erklärungslücke scheint dann zu besagen, dass Gehirnprozesse rätselhafte, intrinsische, qualitative Merkmale hätten, deren Auftreten nicht verständlich gemacht werden kann. Diese These erscheint zurecht verdächtig und zweifelhaft. Unterscheidet man dagegen phänomenale und g-phänomenale Eigenschaft und macht man sich deren Zusammenhang bewusst (vgl. das Prinzip Z weiter oben), so wird klar, dass es in der These der Erklärungslücke nicht um rätselhafte, intrinsische Merkmale von Gehirnprozessen gehen kann. Es geht vielmehr um die Frage, ob und wie (a) die Entstehung erlebnisfähiger Subjekte auf der Grundlage der physikalischen Merkmale ihrer Körper erklärt werden kann und darum (b) ob und wie auf der Grundlage der physikalischen Vorgänge in lebendigen Körpern erklärt werden kann, dass diese Subjekte, wenn sie denn einmal existieren, Erlebnisse eines ganz bestimmten qualitativen Charakters haben.

9. Konsequenzen der Reformulierung für eine geläufige materialistische Argumentationsstrategie Materialisten haben in den letzten Jahrzehnten eine neue Strategie entwickelt, um die These der Identität von phänomenalen Merkmalen mit neurophysiologischen Merkmalen gegen dualistische Einwände zu verteidigen und positiv zu begründen: die Strategie der phänomenalen Begriffe.16 Dabei spielt die Vermengung phänomenaler Merkmale mit g-phänomenalen Merkmalen eine zentrale Rolle. Die Grundidee ist schnell erklärt. G-phänomenale Merkmale sind solche Merkmale, die wir mittels sogenannter phänomenaler Begriffe konzeptualisieren. Dabei sind phänomenale Begriffe Begriffe von Eigenschaften von Erlebnissen, die wir aufgrund des Habens der Erlebnisse ,introspektiv‘ lernen (vgl. Fußnote 5). Phänomenale Begriffe kann man erwerben, ohne jemals etwas von Neurophysiologie, Chemie oder Physik gehört zu haben, phänomenale Begriffe stehen nicht in logisch-begrifflichen Zusammenhängen mit physikalischen Begriffen (aus einer physikalischen Beschreibung eines Organismus kann keine phänomenale Beschreibung 16 Zu dieser Strategie (,phenomenal concept strategy‘) vgl. Levine (2006), Loar (1997), Papineau (2002) und Perry (2001).

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logisch-begrifflich hergeleitet werden). Dennoch beziehen sich phänomenale Begriffe nach der These des hier betrachteten Materialisten auf physiologische Merkmale. Phänomenale Begriffe ,greifen‘ neurophysiologische Merkmale von Gehirnprozessen ,heraus‘, obwohl sie diese Merkmale ganz anders konzeptualisieren. Dass sich phänomenale Begriffe auf neurophysiologische Eigenschaften beziehen, wird dabei meist durch eine kausale Theorie der Bezugnahme gestützt. Grob gesagt bezieht sich ein phänomenaler Begriff nach der kausalen Theorie in einem gegebenen ,System‘ gerade auf jene neurophysiologische Eigenschaft, welche in diesem ,System‘ die Anwendung dieses Begriffs regelmäßig hervorruft. In der hier gebotenen Kürze ist es nicht möglich, eine ernstliche Kritik der Strategie der phänomenalen Begriffe zu versuchen. Klar ist aber, dass diese Argumentation an Überzeugungskraft einbüßt, wenn man die Vermengung g-phänomenaler Eigenschaften als solche erkennt. Die Strategie der phänomenalen Begriffe geht von der Annahme aus, dass phänomenale Begriffe sich auf besondere Eigenschaften von Gehirnprozessen beziehen, die uns in der Erfahrung gewissermaßen direkt gegeben sind (so wie uns Bläulichkeit und Schmerzhaftigkeit direkt in der Erfahrung gegeben sind). Aber diese Annahme ist unhaltbar. Es gibt keine qualitativen Eigenschaften von Gehirnprozessen, die im Erleben unmittelbar gegeben wären. Ferner unterstellt die Strategie phänomenaler Begriffe: Es geht bei dem Problem des phänomenalen Bewusstsein allein darum, die Natur besonderer Merkmale von Gehirnprozessen zu verstehen und ihr Auftreten zu erklären. Aber auch diese Annahme ist zumindest irreführend. Aufgrund des oben formulierten Zusammenhangs Z ist klar: (a) eine theoretisch zufriedenstellende Theorie des Wesens g-phänomenaler Eigenschaften muss sich explizit mit der Frage des ontologischen Status von Subjekten von Erfahrung befassen und (b) eine Erklärung des Auftretens g-phänomenaler Eigenschaften muss eine Erklärung der Tatsache enthalten, dass unter gewissen Umständen erlebnisfähige Subjekte entstehen. Es ist nicht zu sehen, wie diese tiefer liegenden Fragen im Rahmen der Strategie phänomenaler Begriffe angegangen werden könnten. Hat man sie deutlich vor Augen, so erscheint die Strategie phänomenaler Begriffe als grundlegend verfehlter Ansatz, der auf falschen Voraussetzungen beruht.

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10. Ein grundlegender Strategiefehler Wer g-phänomenale Eigenschaften ins Zentrum der Überlegung rückt und sie dabei als intrinsische, qualitative Eigenschaften von Gehirnzuständen aufzufassen versucht, wird meinen, dass die Frage nach dem Subjekt von Erfahrung sich am Ende der Entwicklung einer philosophischen Theorie phänomenaler Eigenschaften gewissermaßen wie von alleine ergibt. Subjekte von Erfahrung – so die Idee – sind jene Wesen, die Gehirne mit g-phänomenalen Eigenschaften haben können. Gphänomenale Eigenschaften sind dadurch charakterisiert, dass wir mittels phänomenaler Begriffe – gewissermaßen intern – auf sie Bezug nehmen können. Hat man g-phänomenale Eigenschaften einmal so über unseren Zugang zu ihnen charakterisiert und erlebende Wesen als jene, deren Gehirne g-phänomenale Eigenschaften instantiieren, so scheint die Frage nach dem ontologischen Status von Subjekten beantwortet zu sein. Der Materialist hätte seine Aufgabe des Vorschlags einer materialistischen Theorie des Bewusstseins demnach dann abgeschlossen, wenn er in der Lage ist, eine materialistisch akzeptable Beschreibung des besonderen Status phänomenaler Begriffe zu geben. Wer dieses Bild vor Augen hat, wird es als Tugend seines Ansatzes betrachten, dass sich die scheinbar schwierige Frage nach dem ontologischen Status von Subjekten erst garnicht ernstlich stellt. Der Eigenschaftsdualist schließt sich dieser Sicht weitgehend an. Auch er rückt die Verwunderung über die Existenz erlebender Subjekte nicht ins Zentrum seines Interesses. Er fragt nicht: Wie kann es sein, dass die biologische Evolution bewusstseinsfähige Wesen hervorbringt? Vielmehr fragt er (gerade so wie sein materialistischer Kontrahent): Wie kann es sein, dass neuronale Ereignisse mit qualitativen Merkmalen auftreten? Auch der Eigenschaftsdualist setzt stillschweigend voraus, dass die Frage nach dem Subjekt von Erfahrung sekundär ist und am Ende eine triviale Antwort hat. Auch nach seiner Auffassung sind Subjekte von Erfahrung Organismen, deren Gehirnprozesse intrinsische, qualitative Merkmale besonderer Art instantiieren. Nach dem hier skizzierten Ansatz befinden sich beide Kontrahenten auf der falschen Fährte. Es gibt keine intrinsischen, qualitativen Merkmale neuronaler Prozesse. Was Subjekte von Erfahrung auszeichnet kann also nicht über die Instantiierung solcher Eigenschaften in ihrem Gehirn erklärt werden. Auch ist es nicht möglich, Subjekte von Erfahrung über die Instantiierung g-phänomenaler Eigenschaften zu charakterisieren. Jeder Versuch dieser Art wäre zirkulär: Die Instanti-

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ierung einer g-phänomenalen Eigenschaft setzt ontologisch die Existenz eines Subjekts schon voraus (vgl. den Zusammenhang Z) und Begriffe g-phänomenaler Eigenschaften setzen den Begriff des Subjekts voraus (vgl. wiederum Z). Materialisten und Eigenschafts-Dualisten teilen somit eine trügerische philosophische Hoffnung.

11. Das Rätsel des Bewusstseins Das Auftreten von Bewusstsein in einem gewissen Stadium der biologischen Evolution und der Entstehung einzelner Tiere und Menschen ist höchst erstaunlich und rätselhaft. Wer sich nicht von theoretischen Vorurteilen leiten lässt, wird diese Einschätzung teilen. Doch was ist es genauer, das hier unsere Verwunderung verdient? Mit der Formulierung, dass es ,das Auftreten von Bewusstsein‘ sei, ist noch nichts Präzises gesagt. Nach der skizzierten Diagnose teilen Materialisten und Eigenschaftsdualisten die Tendenz, die philosophischen Fragen zum phänomenalen Bewusstsein in einer Weise zu stellen, die den Blick auf den Kern des Rätsels verstellt. Indem sie angebliche Merkmale von Gehirnprozessen in den Mittelpunkt rücken, entsteht der Eindruck, als beträfe die berechtigte Verwunderung die Instantiierung von Eigenschaften einer jeweils spezifischen qualitativen Art. Worüber hätten wir demnach zu staunen, wenn wir erführen, dass an einem bestimmten Punkt der Evolution des Lebens auf der Erde Meerestiere entstanden, die als erste Tiere etwas empfanden, nämlich ein unangenehmes Gefühl der Kälte und ein angenehmes Gefühl der Wärme beim Wechsel zwischen Wassern unterschiedlicher Temperatur? Stellen wir hier nicht die Frage, wie ein solches Ergebnis wissenschaftlicher Forschung begründet werden könnte. Fragen wir nur dies: Was ist an diesem Moment des ersten Auftretens von Bewusstsein in der Evolution des Lebens erstaunlich? Aus der Perspektive derer, die phänomenale Eigenschaften mit g-phänomenalen Eigenschaften vermengen, muss die Antwort, so scheint es, lauten: Wenn hier überhaupt etwas erstaunlich ist, so ist es die Tatsache, dass zum ersten Mal gewisse ,qualitative‘ neuronale Eigenschaften instantiiert wurden.17 Es gibt aber keine qualitativen neu-

17 Für viele Materialisten ist das Staunen über die Entstehung von Bewusstsein Produkt einer kognitiven Illusion (vgl. Papineau 2002). Hier wird dagegen

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ronalen Merkmale, die Gegenstand der Verwunderung sein könnten. Will man die Verwunderung als Staunen über die Instantiierung neuronaler Eigenschaften interpretieren, so kommt als Gegenstand der Verwunderung nur die Instantiierung g-phänomenaler Eigenschaften in Frage. Das aber heißt: Wir sind zurecht verwundert darüber, dass zu diesem Punkt der biologischen Evolution Subjekte entstanden, die (auf der Grundlage neuronaler Prozesse) Wärme und Kälte empfanden. An diesem Punkt angelangt wird man schnell einsehen: Erstaunlich ist hier weniger, dass die entstandenen Subjekte gerade diese ,Qualitäten‘ (Wärme und Kälte) empfanden (anstatt etwa Lust und Schmerz), als vielmehr ihre bloße Entstehung. Der bloße Umstand, dass da – auf der Grundlage von Vorgängen in biologischen Systemen – auf einmal ,jemand‘ ist, ein Subjekt, das etwas erlebt, ist es, der uns verwundern sollte. Der Kern berechtigten Staunens über Bewusstsein ist ein Staunen über die Existenz erlebender Subjekte.

12. Elemente eines emergentistischen Dualismus Nach dem eben Gesagten besteht der Kern des Rätsels des Bewusstseins darin, dass unter gewissen physikalischen Bedingungen Subjekte von Erfahrung entstehen. Die Rede von der Entstehung von Subjekten lässt zwei Deutungen offen. (a) Nach der ersten Deutung entsteht ein neues (ein bewusstseinsfähiges) Individuum mit dem Beginn von Erleben. Subjekte von Erfahrung entstehen als Resultat spezifischer physikalischer Konstellationen und bilden eine eigene ontologische Kategorie. Subjekte von Erfahrung sind nach dieser Deutung nicht mit dem biologischen Organismus identisch, der ihr Körper ist. (b) Die Rede von der Entstehung von Subjekten ist nach der zweiten Deutung mit der Sicht verträglich, dass erlebende Subjekte biologische Organismen sind. Nach dieser Auffassung entsteht ein Subjekt, wenn sich der Organismus mit dem Auftreten der ersten Empfindung in ein Subjekt von Erfahrung verwandelt. Für die erste Deutung, die für Subjekte von Erfahrung eine eigene ontologische Kategorie anerkennt, sprechen eine Reihe konvergierender Gründe. Eine Version dieser Deutung, die ich als Subjekt-KörperDualismus bezeichnen möchte, soll hier nicht argumentativ gestützt, vertreten, dass die Entstehung von Bewusstsein Verwunderung verdient. Die kognitive Emotion des Staunens ist demnach der Sache nach angemessen.

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aber doch knapp erläutert werden. Der Zweck der knappen Skizze ist aufzuzeigen, dass ein starker Dualismus, der neben nicht-materiellen Eigenschaften auch nicht-materielle Individuen anerkennt, eine Reihe fragwürdiger Thesen, die man traditionell dem Substanzdualismus zuschreibt, vermeiden kann. Der Substanzdualismus wird häufig durch die These charakterisiert, dass erlebende Subjekte (,das Selbst‘, die ,Seele‘, der ,Geist‘, ich komme gleich auf diese Alternativen zurück) auch ohne Körper existieren können oder sogar existieren. Wer eine eigene Kategorie erlebender Subjekte anerkennt, ist aber nicht auf diese These der körperlosen Existenz verpflichtet. Er kann die nomologische und auch die metaphysische Möglichkeit körperloser Existenz zurückweisen. Alle uns bekannten Subjekte von Erfahrung existieren auf der Grundlage eines informationsverarbeitenden Systems, das durch biologische Evolution entstanden ist. Es ist anzunehmen, dass Informationsverarbeitung eine notwendige Bedingung bewussten Erlebens ist. Wir haben keine klare Vorstellung davon, wie Informationsverarbeitung ohne materielle Grundlage realisiert sein könnte und nichts spricht dafür, dass dies möglich ist. Diese Überlegung spricht gegen die nomologische und vielleicht auch gegen die metaphysische Möglichkeit der Existenz von Subjekten ohne Körper. Der Subjekt-Körper-Dualist kann diesem Argument zustimmen und die Möglichkeit körperloser Existenz (in einer oder beiden Deutungen von Möglichkeit) zurückweisen. Aber auch die Gegenthese ist mit seiner Position verträglich; ebenso kann er sich des Urteils enthalten und die Frage offen lassen. Subjekte von Erfahrung können dadurch charakterisiert werden, dass sie geistig-seelische Eigenschaften haben können. Mit geistig-seelischen Eigenschaften sind hier ausschließlich Merkmale gemeint, die Erlebnisfähigkeit voraussetzen. Dazu gehören nicht nur die klassischen Beispiele phänomenaler Eigenschaften (wie das Erleben von Farben, Klängen und Gerüchen), sondern alle Eigenschaften, die darin bestehen oder notwendig damit einhergehen, dass ein Subjekt in bestimmter Weise erlebt. Die Wahrnehmung der Lage des eigenen Körpers durch Propriozeption, die wechselnden phänomenalen Eigenschaften, die das Nachdenken nicht nur begleiten, sondern wesentlich zum Nachdenken dazu gehören, das Erleben des eigenen Tuns als selbst hervorgebracht. Das Subjekt von Erfahrung ist jenes Individuum, dem im konkreten Fall all diese Eigenschaften zukommen. Das Subjekt von Erfahrung ist im Fall von Menschen in der Regel eine Person. Subjekte sind, wie sie hier verstanden werden, die Bezugsobjekte von Personennamen. Wenn eine

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Person mittels „ich“ oder „du“ Bezug nimmt, so ist das Bezugsobjekt ein Subjekt von Erfahrung. Es ist ein Fehler, zwischen der Person und einem ,Kern der Person‘, dem sogenannten Selbst, zu unterscheiden. Subjekte von Erfahrung sollten nicht mit dem gleichgesetzt werden, was traditionell unter ,Seele‘ verstanden wird. Mit dem Begriff einer Seele ist vieles assoziiert, was der Subjekt-Körper-Dualist zurückweist. Seelen werden als ,Teil‘ von Personen gedacht. Von Seelen wird angenommen, dass sie den Körper verlassen und ewig leben. Eine von religiösen Vorstellungen befreite dualistische Theorie wird diese Thesen zurückweisen. Subjekte von Erfahrung haben einen Körper und sind nur insofern lokalisiert als ihr Körper lokalisiert ist (sie sind nicht im Körper und können ihn daher nicht im wörtlichen Sinne verlassen). Sie sind keine nicht-materiellen Dinge, die ,wie ein Geist‘ im Raum schweben können. Subjekte von Erfahrung sind nicht als zusammengesetzt zu denken, auch gibt es keinen nicht-materiellen Stoff, aus dem sie aufgebaut wären. Man darf vermuten, dass Subjekte von Erfahrung nicht fortexistieren, wenn ihr Körper zugrundegeht. Was Subjekte von Erfahrung ihrer Natur nach sind kann man zu beschreiben versuchen, indem man auf dreierlei hinweist: erstens auf ihre Erlebnisfähigkeit, zweitens auf die Fähigkeit aktiv zu sein und drittens auf Besonderheiten ihrer Identität über die Zeit hinweg.18 Es bestehen grundlegende Verbindungen zwischen diesen drei Charakteristika. Rein passives Erleben, ohne wenigstens die Fähigkeit, aktiv die Aufmerksamkeit zu lenken, ist vielleicht unmöglich. Bewusstes Wahrnehmen ist vielleicht notwendig eine Aktivität des Subjekts. Aktivsein, ohne die Fähigkeit sich als aktiv zu erleben, kommt wohl nur (wenn überhaupt) auf frühen Entwicklungsstufen vor. Beide, die Fähigkeit zu erleben und die Fähigkeit, aktiv zu sein, setzen voraus, dass das Subjekt über eine gewisse Zeitspanne hinweg als mit sich identisch fortexistiert. Die hier angedeutete Sichtweise behauptet echte Aktivität von Subjekten in allen Tätigkeiten, auch in solchen, die keine Handlung sind.19 Aktivsein wird dabei als kausaler Einfluss des Subjekts auf körperliche Geschehnisse verstanden. Diese These impliziert, dass die Entstehung von Subjekten für die Funktionsweise ihres Körpers einen kausalen 18 Diese Besonderheit besteht nach meiner Auffassung darin, dass auf kriterienfreie Weise erfasst werden kann, worin die Tatsache der Identität eines früher existierenden erlebenden Wesens mit einem später existierenden erlebenden Wesen besteht (vgl. M. Nida-Rümelin 2006a und 2008). 19 Vgl. M. Nida-Rümelin (2007b).

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Unterschied macht und die physikalische Welt somit nicht kausal abgeschlossen ist. Der hier skizzierte Dualismus hat keine antiwissenschaftlichen oder wissenschaftsskeptischen Züge. Subjekte von Erfahrung werden als Produkt der Natur betrachtet. Die Frage, unter welchen Bedingungen sie entstehen, wird als empirisch erforschbar angenommen. Es wäre nach der hier vertretenen Auffassung eine wichtige Aufgabe der Neurobiologie, empirisch fundiert darüber zu spekulieren, unter welchen physikalischen Bedingungen Subjekte von Erfahrung entstehen. Diese Frage kann nur dann klar und unmissverständlich gestellt werden, wenn die verwendete Sprache dies erlaubt. Ein philosophisch geklärter Begriff von Subjekten von Erfahrung wäre deshalb in die Wissenschaftssprache der zukünftigen Neurowissenschaften zu integrieren.

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Subjekte sind Artefakte. Aber das macht nichts.1 Wolfgang Prinz I. Kleine Tatsachen-Ontologie Angelsächsischer Begriffsimport hat seit einiger Zeit dazu geführt, dass wir das ehrwürdige Wort Ontologie auch im Deutschen mit unbestimmtem Artikel und sogar im Plural gebrauchen können. Wir reden in aller Unschuld über eine Ontologie oder sogar über Ontologien – ganz frei von dem ehrfürchtigen Schauder, der den Namen der Ontologie noch vor wenigen Jahrzehnten zu begleiten pflegte. Derartige Ontologien sind nämlich nichts weiter als Vorschläge zur Einteilung der Welt. Ontologien, sofern sie im Plural daherkommen, sagen uns, was für Arten von Dingen bzw. Eigenschaften von Dingen es gibt und wie man sie einteilen kann. Im Grunde genommen sind sie pragmatische Instrumente, die den Anspruch, den ihr Name suggeriert, kaum erfüllen können. Denn sie wissen natürlich nichts von dem, was in der Welt an und fr sich der Fall ist. Wissen können sie nur, was aus einer bestimmten Beobachterperspektive der Fall ist. Menschengemachte Ontologien sind notwendigerweise anthropozentrisch, und die Lehre vom Sein kann immer nur eine Lehre von dem sein, was Menschen erkennen können. Es gibt natürlich viele derartige anthropozentrische Ontologien, aber hier soll nur von einer einzigen ontologischen Fundamentalopposition die Rede sein: der Unterscheidung zwischen Naturtatsachen und Artefakten. Diese Unterscheidung hat in der Philosophie eine lange Tradition. Besonders scharf wurde sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts durch den neapolitanischen Barockphilosophen Giambattista Vico auf

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Ursprünglich erschienen unter dem Titel „Subjekte sind Artefakte“ in: Kannetzky, Frank/Tegtmeyer, Henning (Hg.) (2007): Personalitt. Studien zu einem Schlsselbegriff der Philosophie. Leipzig: Universitätsverlag, 19 – 35. Der dort erschienene Beitrag war Ansgar Beckermann zum 60. Geburtstag gewidmet. Der gegenwärtige Text ist gegenüber der Ursprungsfassung geringfügig modifiziert.

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den Begriff gebracht (Vico 1710/1730) 2. Vico lehrte, dass wir, wenn es um das Erkennen der Wahrheit geht, unterscheiden müssen zwischen Naturtatsachen und Artefakten – Tatsachen also, die von Menschen geschaffen sind. Naturtatsachen finden wir vor; Artefakte stellen wir her. Und da nach Vico wahre Erkenntnis der Dinge nur im Akt ihrer Herstellung möglich ist, können Menschen zwar die Artefakte, die sie herstellen, erkennen und verstehen, nicht aber die Naturtatsachen, die sie vorfinden und denen sie ausgeliefert sind. Die Naturtatsachen vermag nur Gott zu verstehen – der, der sie geschaffen hat. Aus diesem Prinzip – dem verum-factum-Prinzip – folgt also, dass der Mensch in gleicher Weise Schöpfer seiner Artefakte ist wie Gott Schöpfer der Natur ist. Zu den Artefakten rechnete Vico neben den technischen Artefakten, die Menschen durch instrumentelles Handeln herstellen, insbesondere auch die kulturellen und historischen Tatsachen, die sie durch kommunikatives Handeln hervorbringen. Da diesen kulturellen und historischen Artefakten sein besonderes Interesse galt, gilt er heute als Pionier der modernen Kulturphilosophie. Vico war in der Tat der bemerkenswerten Meinung, dass die Menschen die Kultur und Geschichte, die sie hervorbringen, besser verstehen als die Natur, der sie ausgeliefert sind. Natürlich kann man auf beiden Seiten dieser bescheidenen Ontologie beliebige Verfeinerungen vornehmen (Guttenplan 1994; Kusch 1997; Kusch 1999, 245 ff.). So wird z. B. auf Seiten der Naturtatsachen oft zwischen der unbelebten und der belebten Welt unterschieden – und innerhalb beider Kategorien sind natürlich beliebige weitere Unterscheidungen möglich. Darauf kommt es hier aber nicht an. Worauf es ankommt ist vielmehr, was Naturtatsachen gemeinsam ist, und was sie von Artefakten unterscheidet: Sie bestehen unabhängig von menschlicher Tätigkeit. Der Mond ist, wie er ist, egal was wir mit ihm tun oder über ihn denken. Das Zebra ist, wie es ist, unabhängig von menschlicher Tätigkeit. Auf der Seite der Artefakte können wir – Vico folgend – zwischen technischen und sozialen Artefakten unterscheiden. Technische Arte2

Vicos erkenntnistheoretische und kulturtheoretische Ideen sind in seinem Werk „Scienza Nuova“ zusammengefasst, dessen erste und zweite Auflage 1725 bzw. 1730 erschienen. Erste Vorüberlegungen zum verum-factum-Prinzip sind bereits in der Schrift „De antiquissima Italorum sapientia“ entwickelt, die 1710 erschien.

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Abb. 1: Kleine Tatsachen-Ontologie

fakte – ob Faustkeile, Pyramiden, Autos oder Atomkraftwerke – entstehen durch (individuelles oder kollektives) instrumentelles Handeln. Sie sind das, was sie sind, weil die Menschen, die sie hervorgebracht haben, sie als das hergestellt haben, was sie sind. Soziale Artefakte entstehen dagegen durch kommunikatives Handeln. Sie sind das, was sie sind, weil die Menschen, die sie hervorgebracht haben, sie für das halten, was sie sind. Geld ist Geld, weil wir es dafür halten. Recht ist Recht, weil wir es als verbindlich ansehen. Und Joseph Ratzinger ist Papst, weil wir ihn alle dafür halten (und er selbst sich auch). Natürlich wirft der Vorschlag, Naturtatsachen und Artefakte als verschiedene Sorten von Tatsachen anzusehen, die Frage auf, was Tatsachen überhaupt sind. Eine starke (i. e.S. ontologische) Interpretation würde sie als Seinstatsachen ausweisen wollen. Allerdings muss diese Lesart plausibel machen, worin überhaupt die Gemeinsamkeit zwischen Naturtatsachen (Zebras haben Streifen) und sozialen Artefakten (Ratzinger ist Papst) bestehen soll, die es rechtfertigt, beide als Seinstatsachen aufzufassen. Eine schwächere Interpretation begnügt sich damit, sie als Erkenntnis- und Handlungstatsachen auszuweisen.3 Bei dieser 3

Die gewiss etwas unklare Rede von einer Tatsachen-Ontologie lässt offen, ob das, was sie einteilt, Gegenstnde sind oder Eigenschaften von Gegenständen. Für nahezu alle menschengemachten Artefakte gilt, dass sie auch zahlreiche na-

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Interpretation sind die Gemeinsamkeiten offensichtlich, weil aus der Perspektive erkennender und handelnder Personen die Streifen des Zebras und das Kirchenamt des Joseph Ratzinger in einem ganz schlichten Sinn kommensurabel sind: Beide gehören zu ihrem Wissen über die Welt, und beide bestimmen gleichermaßen den Erkenntnisund Handlungshorizont, der ihnen offen steht. Deshalb ist die Ontologie, von der hier die Rede ist, keine reine Ontologie, sondern – falls es das überhaupt geben kann – eine epistemische und pragmatische Ontologie. Sie teilt die Tatsachen der Welt und die Eigenschaften der Dinge nicht an und für sich ein, sondern für uns als Beobachter und Akteure.4 Vor dem Hintergrund dieser bescheidenen Ontologie will ich im Folgenden die Frage diskutieren, wie menschliche Subjektivität zu verstehen ist. Wie sollen wir die Bewusstseinstatsachen verstehen, die menschliche Subjektivität ausmachen? Als Tatsachen, die wir in der Natur des Menschen vorfinden – und deren Beschaffenheit wir deshalb mit den begrifflichen Mitteln der Kognitionswissenschaften nur begrenzt explizieren können? Oder als sozial verfertigte Artefakte, die wir durch eigene Tätigkeit hervorbringen – und deren Entstehung und Beschaffenheit insofern durchaus in den Erklärungshorizont dieser Disziplinen rückt?

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turgegebene Eigenschaften aufweisen. Umgekehrt besteht Grund zu der Annahme, dass es zahlreiche Naturtatsachen gibt, die das, was sie sind, zwar von Natur aus sind, dass aber dennoch einige ihrer Eigenschaften auch durch (intentionales oder nicht-intentionales) menschliches Handeln beeinflusst werden. So ist zum Beispiel „die Natur“, die wir bisweilen in romantischer Verklärung in Wald und Flur vorzufinden meinen, in Wahrheit natürlich weit von derjenigen Unberührtheit entfernt, die wir ihr unterstellen. Es wird also zweckmäßig sein, die Unterscheidung zwischen Naturtatsachen und Artefakten als eine Klassifikation von Eigenschaften von Dingen aufzufassen – und nicht als eine Klassifikation der Dinge selbst. Dem entspricht übrigens, dass zahlreiche klinische und experimentelle Befunde darauf hindeuten, dass die Unterscheidung zwischen natürlichen Objekten (z. B. Tieren) und Artefakten (z. B. Werkzeugen) Niederschlag in der funktionellen Organisation des semantischen Gedächtnisses findet. Bei Patienten mit Hirnschädigungen kann beispielsweise sprachliches und bildhaftes Wissen über Werkzeuge selektiv beeinträchtigt sein, d. h. ohne dass gleichzeitig entsprechendes Wissen über Tiere beeinträchtigt ist. Ferner haben experimentelle Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren gezeigt, dass werkzeugbezogenes Wissen zum Teil durch andere Hirnareale unterstützt wird als Wissen über Tiere (Warrington und McCarthy 1987; Perani et al. 1999; Martin und Chao 2001; Kiefer und Spitzer 2001; Perani, et al. 1995).

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Im Ergebnis werde ich die verbreitete naturalistische Sicht auf Subjektivität in Frage stellen und der konstruktivistischen Lesart das Wort reden. Zugleich werde ich die Erklärungsverpflichtungen charakterisieren, die sich daraus für die Kognitionswissenschaften ergeben, und die Konturen eines Forschungsprogramms skizzieren, das erforderlich ist, um diese Verpflichtungen einzulösen.

II. Menschen als Artefakte Jorge Luis Borges In der phantastischen Geschichte „Die kreisförmigen Ruinen“, die Borges 1941 verfasst hat, begibt sich ein Mann in die Einsamkeit einer abgelegenen Tempel-Ruine, um dort ein Projekt ganz besonderer Art zu verfolgen: Er will im Traum einen Menschen erschaffen, und zwar in der Absicht, den so Erschaffenen anschließend, wie es heißt, „der Wirklichkeit aufzuzwingen“. Das Projekt schlägt zunächst fehl, aber nach einiger Zeit gelingt es schließlich doch. Es gelingt dadurch, dass der Träumer am Ende einen Pakt mit dem Feuergott schließt, dem der Tempel geweiht ist. Der Pakt sieht vor, dass der Träumer in nächtelangen Träumen den Leib des Geträumten erträumt und der Feuergott ihm schließlich Leben einhaucht. Einmal geschaffen, wird der Geträumte sodann in die Wirklichkeit entlassen, und er zieht hinaus in die Welt. Niemand – am wenigsten er selbst – weiß aber, dass er nur ein geträumtes Phantasma ist. Nur der Träumer, der ihn geträumt hat, und das Feuer, das ihm Leben eingehaucht hat, wissen darum. Indessen gibt es eine Merkwürdigkeit, die den Geträumten auszeichnet: Da er nämlich sein Leben dem Feuer verdankt, kann Feuer ihm nichts anhaben. Kein Wunder, dass er sich bald einen Ruf als zaubermächtiger Mann erwirbt, der durch Feuerwände zu schreiten vermag, ohne selbst den geringsten Schaden zu nehmen. So gehen die Jahre dahin. Am Ende wendet sich die Geschichte wieder dem Träumer zu, der inzwischen ein alter Mann geworden ist. Sie wendet sich ihm zu, als er sich bereit macht, dem Tod entgegenzugehen – einem Tod, der aber dann zu seinem abgrundtiefen Entsetzen gar nicht stattfinden kann.

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Es geschieht nämlich, dass die Tempelruine, in der er immer noch lebt, von einer Feuersbrunst umschlossen wird, die alles zu vernichten droht: An einem Morgen ohne Vögel sah der Magier die konzentrische Feuersbrunst sich um die Mauern schließen. Einen Augenblick dachte er daran, sich ins Wasser zu flüchten, dann aber begriff er, dass der Tod kam, sein Alter zu krönen und ihn seiner Mühsal zu entheben. Er schritt auf die Feuerfetzen zu. Diese bissen nicht in sein Fleisch, diese liebkosten und überfluteten ihn ohne Hitze und Brand. Erleichtert, erniedrigt, entsetzt, erkannte er, dass auch er nur ein Scheinbild war, dass ein anderer ihn träumte. (Borges 1941, 61)

In Borges’ Geschichte ist der Träumer Schöpfer eines anderen und zugleich Geschöpf eines wiederum anderen – Kreator und doch Kreatur zugleich. Stolz erfüllt ihn über sein Schöpfertum, aber tiefes Entsetzen befällt ihn angesichts seines Geschöpftums.

Vladimir Rencˇin Die gleiche Asymmetrie der Wertschätzung ist in einem Cartoon des Karikaturisten Vladimir Rencˇin ausgedrückt. Sie handelt nicht vom Schöpfen und Geschöpftwerden, sondern vom Steuern und Gesteuertwerden, aber wie man sieht, ist die Botschaft dennoch die gleiche.

Abb. 2: Karikatur Marionettenspieler

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Rencˇin geht allerdings mit seinem Marionettenspieler gnädiger um als Borges mit seinem Träumer: Borges’ Träumer muss zu seinem Entsetzen erkennen, wie es um ihn bestellt ist. Rencˇins Marionettenspieler ist dagegen fröhlicher Dinge, weil ihm der Apparat, der ihn steuert, verborgen bleibt. So unterschiedlich die Szenarien auch sein mögen, die Borges und Rencˇin ins Auge fassen – sie eint die Idee, dass Personen Artefakte sind – Artefakte anderer, die sie hervorbringen. Und die Erkenntnis, eines Anderen Geschöpf zu sein, ist, wie Borges zeigt, so entsetzlich, dass man sie, wie Rencˇin zeigt, am besten vermeidet – jedenfalls wenn man gut drauf bleiben will.

III. Subjektivität als Artefakt Natürlich wird man die ästhetischen Metaphern nicht allzu wörtlich nehmen dürfen. In Borges’ Geschichte findet der Schöpfungsakt zwar in der splendid isolation individuellen Träumens in einer einsamen Tempelruine statt. Aber im Grunde greift die Schöpfung über den individuellen Schöpfer hinaus, weil der Traum des Träumers unweigerlich von den Norm- und Wunschvorstellungen regiert wird, die der Träumer von den Menschen übernommen hat, mit denen er zusammenlebte, bevor er sich in die Abgelegenheit des Tempels zurückzog. Auch wenn die ästhetischen Metaphern uns individuelle Schöpfungsakte vorführen, sollten wir also für die weitere Verfolgung der Frage, in welchem Sinne und in welchem Maße menschliche Personen Artefakte sind, nicht weiter auf das Paradigma der Schöpfung durch isolierte Individuen zurückgreifen. Wenn die Rede von Subjekten als Artefakten überhaupt einen Sinn haben soll, wird man sie nur verstehen können als Rede von einer kollektiven Verfertigung von Subjektivität. Zunächst aber: Was heißt überhaupt Subjektivität? Subjektivität gilt gemeinhin als ein Rätsel – als ein Menschheitsrätsel sogar. Wir verstehen nicht, wie Subjektivität in die Welt kommt und was sie in einem im Übrigen subjektlosen Universum eigentlich verloren hat. Wenn wir über Sterne, Steine und Flüsse reden, und wenn es um Viren, Algen oder Pilze geht, glauben wir, dass alles, was darüber überhaupt zu sagen ist, mit den Mitteln von Physik, Chemie und Biologie gesagt werden kann. Das Gleiche mag noch für Quallen, Würmer und Schwämme gelten, aber dann wird es irgendwo kritisch – vielleicht bei den Wirbeltieren, gewiss bei den Säugern, besonders bei den Primaten und erst

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recht natürlich bei Homo Sapiens. Von diesen Tieren glauben wir nämlich, dass mit den Mitteln dieser Wissenschaften nicht alles gesagt werden kann, was über sie zu sagen ist. Wir schreiben ihnen ein darüber hinausgehendes Innenleben zu, abgestuft vielleicht, aber im Prinzip ähnlich und verwandt mit unserem eigenen bewussten Erleben.

Subjektivität beschreiben Wie können wir diese sonderbare Qualität näher charakterisieren? Für die Verfolgung dieser Frage ist ein begrifflicher Tausch notwendig, der Philosophen schmerzen mag, für Psychologen aber unumgänglich ist, weil in dieser Disziplin der Begriff der Subjektivität keine wirkliche Heimat hat. Ich tausche Subjektivität gegen Bewusstsein aus – ohne näher zu untersuchen, was ich mir damit einhandle. Gewiss sind beide Begriffe nicht identisch, aber ebenso gewiss ist, dass die Qualität des Bewusstseins konstitutiv ist für die Kategorie der Subjektivität. Was heißt also bewusst? Die Psychologie kennt mindestens zwei unterschiedliche Bewusstseinsbegriffe. Zum einen verwenden wir diesen Bewusstseinsbegriff zur Bezeichnung eines Zustandes, in dem Personen sich befinden können. Personen können bei Bewusstsein sein oder nicht (Gegenteil: bewusstlos). Zum anderen bezeichnen wir mit diesem Begriff eine Eigenschaft, die mentale Inhalte annehmen können: Mentale Inhalte können bewusst sein oder nicht (Gegenteil: unbewusst). Natürlich hängen diese beiden Begriffe zusammen: Nur dann, wenn Personen bei Bewusstsein sind, können sie bewusste mentale Inhalte ausbilden. Wie aber sind bewusste mentale Inhalte möglich, worin besteht genau ihr bewusster Charakter? Für die Beantwortung dieser Frage will ich mich an Franz Brentanos Konzept des psychischen Aktes orientieren, dessen Wurzeln in der mittelalterlichen Intentionalitätsphilosophie verankert sind. Brentano erörtert die Natur psychischer Akte an einem denkbar einfachen Beispiel: Was geschieht eigentlich, wenn wir einen Ton hören? Was ist es, das den bewussten Charakter dieses Ereignisses ausmacht? Nach Brentano sind in jedem psychischen Akt zwei Inhalte miteinander verwoben: der Ton, den wir hören, und die Tatsache, dass wir ihn hçren. Allerdings sind diese beiden mentalen Inhalte nicht in gleicher Weise repräsentiert. Der Ton ist das primäre Objekt des Hörens. Das Hören ist dagegen das sekundäre Objekt des psychischen Aktes. Von ihm sagt Brentano, dass es im psychischen Akt nicht be-

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obachtet werden kann, dennoch aber in einer anderen, indirekten Form zu Bewusstsein gelangt: Die Töne, die wir hören, können wir beobachten, das Hören der Töne können wir nicht beobachten; denn nur im Hören der Töne wird das Hören selbst mit erfasst. (Brentano 1874, 180)

Soweit Brentano. Will man die Struktur psychischer Akte allerdings erschöpfend charakterisieren, muss man noch einen Schritt weiter gehen. Wenn nämlich zutrifft, dass im Hören des Tons nicht nur der Ton selbst, sondern implizit auch sein Hören enthalten ist, dann muss das Subjekt, das da hört, in abermaliger Verschachtelung auch in dem Akt enthalten sein. Denn ebenso wenig wie ein Ton vorstellbar ist ohne ein Hören, das auf ihn gerichtet ist, ist ein Hören vorstellbar ohne ein mentales Ich oder Subjekt, das da hört. Bewusste mentale Akte sind also dadurch charakterisiert, dass in ihnen das mentale Ich implizit gegenwärtig ist. Diese Idee hat Immanuel Kant in seiner Lehre von der ursprünglichen Einheit der Apperzeption wie folgt formuliert: Das: Ich denke muss alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich oder wenigstens für mich nichts sein. (Kant 1787, B131 f.)

In dieser Bezugnahme der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen auf das mentale Ich sah Kant das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist. (Kant 1787, B135)

Damit kommen wir zu einer überzeugenden deskriptiven Charakterisierung dessen, was den bewussten Charakter mentaler Inhalte ausmacht: Bewusste mentale Inhalte zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen das Subjekt des Aktes implizit gegenwärtig ist. Die psychischen Akte einer Person unterscheiden sich nach ihren sekundären Objekten (sie sieht, denkt, glaubt, hofft, befürchtet, fühlt, dass etwas der Fall ist) und natürlich auch nach ihren primären Objekten (sie hört einen Ton, ein Geräusch, eine Stimme) – aber sie gleichen sich darin, dass in allen Akten das gleiche Subjekt im Hintergrund anwesend ist. Wenn ich einen Ton höre, ist das Hören mein Hören, wenn ich über etwas nachdenke, sind es meine Gedanken, und wenn ich etwas tun will, ist es mein Wollen, dessen ich gewahr werde. Mit anderen Worten – und jetzt losgelöst von

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Brentanos psychischen Akten und Kants transzendentaler Apperzeption: Für den bewussten Charakter mentaler Inhalte ist die implizite Anwesenheit des mentalen Ich konstituierend und fundierend. Das mentale Ich bildet die gemeinsame Klammer, die die im Übrigen völlig unterschiedlichen Bewusstseinserscheinungen zusammenbindet.

Subjektivität erklären Wie aber ist Subjektivität möglich? Wie können wir den bewussten Charakter mentaler Inhalte erklren? Wenn die deskriptive Charakterisierung, die wir soeben entwickelt haben, zutreffend ist, müssen wir nicht mehr und nicht weniger erklären, als was es mit dem mentalen Ich oder Selbst auf sich hat. Wie wollen wir das Selbst verstehen? Und was für eine Wirklichkeit wollen wir uns hinter dem implizit wahrgenommenen Selbst vorstellen? Das sind natürlich gewaltige Fragen, die ich hier nur streifen kann. Dazu will ich grob zwischen zwei Typen von Antworten unterscheiden. Die eine ist in Philosophie und Kognitionswissenschaften verbreitet, die andere dagegen in den Sozialwissenschaften. Individueller Naturalismus: Zur ersten Antwort rechne ich solche Konzeptualisierungen von Subjektivität, die das Selbst als ein natürliches Organ des Geistes betrachten. Dieses Organ ist Träger von Subjektivität, Personalität und auch Individualität. Und ähnlich wie die Organe des Körpers gehört es zur naturgegebenen Grundausstattung des Geistes, die sich vor und unabhängig von Erfahrung ausbildet. Erfahrung bewirkt nicht die Ausbildung des Organs, sondern bestimmt lediglich seine Ausgestaltung. Die zentrale Intuition, die dieser Vorstellung zugrunde liegt, kann man als Selbst-Naturalismus bezeichnen: Des Selbst ist das naturgegebene Zentralorgan, das die Tätigkeit anderer seelischer und geistiger Funktionen koordiniert und steuert. Dadurch ist es im gesamten Seelenleben allgegenwärtig: im Denken, Fühlen und Wollen und was es sonst noch für Funktionen geben mag. Solche selbst-naturalistischen Intuitionen spielen nicht nur in unserer Alltagspsychologie, sondern auch in der Wissenschaft eine prominente Rolle – in psychologischen Theorien ebenso wie in philosophischen Systemen. Kollektiver Konstruktivismus: Zu dem anderen Typus von Subjektivitätskonzeptualisierungen rechne ich dagegen solche Positionen, die

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die Grundlage des mentalen Selbst nicht in einem natürlichen Organ der Seele sehen, sondern in einer besonderen Wissensstruktur, die kollektiv erzeugt wird. Nach dieser Vorstellung ist das Selbst ein mentaler Inhalt wie viele andere mentale Inhalte auch – ein Inhalt, der erfahrungsabhängig entsteht. Die zentrale Intuition, die dieser Vorstellung zugrunde liegt, kann man als Selbst-Konstruktivismus bezeichnen. Denn dem Selbst liegt hier eine spezifische Wissensstruktur zugrunde, die nicht durch einen vorgegebenen Bauplan festgelegt ist, sondern in kollektiven Lernprozessen entsteht. Nach dieser Lesart sind Struktur und Funktion des mentalen Selbst nicht primär gegeben, sondern sekundär erzeugt. Das mentale Ich wird damit zum Gegenstand psychohistorischer oder auch entwicklungspsychologischer Re- bzw. Dekonstruktion. Naturalistische Konzeptionen von Subjektivität sind in Disziplinen verbreitet, die in Theorie und Methode individualistisch orientiert sind, während konstruktivistische Konzeptionen in Wissenschaftsfeldern mit kollektivistischer Orientierung verbreitet sind. Für die individualistische Tradition der Kognitionswissenschaften und der Philosophie des Geistes gilt es als selbstverständlich, dass geistige Leistungen von Individuen erbracht werden und deshalb auch auf dieser Ebene erklärt werden müssen. Für die kollektivistischen Traditionen der Sozialwissenschaften sind geistige Leistungen dagegen stets Produkte sozialer Praktiken und Diskurse, die sich in Individuen zwar entfalten, auf dieser Ebene allein aber nicht erklärt werden können.

Die kollektive Verfertigung von Subjektivität: Konturen eines Projekts Die Frage, die ich im Folgenden diskutieren will, lautet wie folgt: Wie lässt sich die in den Sozial- und Kulturwissenschaften verbreitete Idee, dass Subjektivität ein kollektiv verfertigtes Artefakt ist, mit den Erkenntnisinstrumenten der individualistischen Kognitionswissenschaften ausbuchstabieren? Hierzu begebe ich mich im Folgenden auf die für die Psychologie charakteristische Analyse-Ebene – die Ebene repräsentationaler Strukturen und Prozesse in Individuen – und stelle die Frage, wie diese individuellen Mechanismen beschaffen sein müssten, wenn sie die kollektive Verfertigung von Subjektivität gewährleisten sollten. Es ist kein Zufall, dass ich diese Frage zunächst im Konjunktiv formuliere. Denn was ich hierzu zusammentrage, sind keine Antworten, sondern Bausteine für ein Projekt, das solche Antworten liefern kann.

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Die inhaltlichen und methodischen Konturen eines solchen Projekts beginnen sich gerade erst zu formen. Denn die experimentellen Kognitionswissenschaften – von der Psychologie bis zur Hirnforschung – haben erst in allerletzter Zeit damit begonnen, den methodischen und theoretischen Individualismus, dem sie bislang wie selbstverständlich gehuldigt haben, in Frage zu stellen und die Idee der Konstitution kognitiver Funktionen durch soziale Interaktion als ernstzunehmende theoretische Option ins Auge zu fassen. Noch einmal also: Wie können wir die soziale Verfertigung von Subjektivität mit den Mitteln kognitionspsychologisch rekonstruieren? Wenn zutrifft, dass die implizite Anwesenheit des mentalen Ich und die Bezogenheit mentaler Inhalte auf dieses Ich die entscheidenden konstituierenden Bedingungen für die Ausbildung bewusster Inhalte – und damit von Subjektivität – darstellen, besteht das Erklärungsproblem, das wir angehen müssen, in der Frage nach den repräsentationalen Grundlagen des mentalen Ich und seiner impliziten Mitwirkung in psychischen Akten. Kognitionspsychologische Theorien von Subjektivität müssen also die Rolle des mentalen Ich aufklären. Nur wenn wir diese Rolle verstehen, können wir die Funktionsgrundlagen von Subjektivität verstehen. Theorien, die dies leisten, lassen sich auf zweierlei Weise entwickeln: Anhand von Steinzeitszenarien und psychohistorischen Spekulationen darüber, wie es zur kollektiven Verfertigung von Subjektivität gekommen sein mag, und anhand von Alltagsszenarien und entwicklungspsychologischen Hypothesen darüber, wie es zur individuellen Entfaltung von Subjektivität kommt.

Steinzeit-Szenarien: Wie Subjektivität in die Welt gekommen ist Wozu ist das mentale Ich gut? Zu welchem Zweck hat die Evolution (oder vielleicht die Menschheitsgeschichte) es erfunden? Schon die Frage macht klar, dass Antworten nur spekulativ sein können, und eigentlich haben wir gelernt, dass man sich solche Fragen lieber abgewöhnen sollte. Dass wir es trotzdem nicht lassen können, hängt wohl damit zusammen, dass wir furchtbar gern wissen möchten, wann das mentale Ich erfunden wurde. Schon bei den Insekten, den Reptilien oder den Vögeln? Erst bei den Säugetieren, den Primaten oder den Hominiden? Oder am Ende gar erst zwischen Ilias und Odyssee, wie Julian Jaynes uns glauben machen will ( Jaynes 1976)? Das würden wir

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gerne wissen, weil davon unser Verständnis unserer selbst und der Welt abhängt – und nicht zuletzt auch unser Verhältnis zu den übrigen Tieren, die sie bevölkern. Theorien, die Antworten auf diese Fragen anbieten, haben typischerweise die Form suprapersonaler Geschichten – Geschichten, die erklären, wie es dazu kam, dass das mentale Ich erfunden wurde und welche Vorteile damit verbunden waren. Mit anderen Worten: Es werden in diesen Theorien hypothetische Szenarien konstruiert, die es plausibel machen, dass bestimmte (Gruppen von) Lebewesen, die zunächst nicht über ein mentales Ich verfügen, gewisse Fitness-Vorteile gewinnen, wenn sie eine derartige Instanz ausbilden – mit der Folge, dass sie aus einer ichlosen in eine ichförmige Verfassung übergehen.5 Wenn auch hier nicht der Ort ist, diese Geschichten im Einzelnen zu diskutieren, mag es doch interessant sein, einige Fluchtpunkte zu nennen, auf die sie – bei allen Unterschieden – konvergieren. Erstens glauben sie, dass der Übergang zwischen Ichlosigkeit und Ichförmigkeit erst im Laufe der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat, und nicht früher – sei es in dunkler, anonymer Vorzeit, sei es gleichsam erst kürzlich zwischen Ilias und Odyssee. Zweitens betonen sie verschiedenartige kognitive und dynamische Vorteile, die mit der Ausbildung eines „Selbstmodells“ einhergehen, wie z. B. die Leistung des mentalen Ich als Zentrum von Kognitionen und/oder Quelle von Handlungen. Drittens diskutieren sie den Übergang zur Ichförmigkeit nicht zuletzt im Hinblick auf seinen Beitrag zur sozialen Steuerung und Sanktionierung von Handlungen sowie – damit zusammenhängend – auf die gesellschaftlichen und politischen Bedingen, die den psychohistorischen Prozess der Konstitution von Ichförmigkeit befördert oder behindert haben. Es ist gewiss kein Zufall, dass Recht und Moral einen engen Zusammenhang zwischen Bewusstsein, Verantwortlichkeit und Straffähigkeit konstruieren.

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Geschichten dieser Art sind in neuerer Zeit mehrfach erzählt worden, z. B. von Dennett (1990; 1992), Donald (2001), Jaynes (1976), Metzinger (1993), Mithen (1996), Prinz (1996). Diese Geschichten beschäftigen sich mit den Leistungen des mentalen Ich, einige auch mit den repräsentationalen Mechanismen, die diese Leistungen realisieren.

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Alltags-Szenarien: Wie Subjektivität in die Köpfe kommt Wer behauptet, dass das mentale Ich sich nicht naturwüchsig entfaltet, sondern nur in sozialer Interaktion entstehen kann, hat die Beweislast auf seiner Seite. Er muss nämlich im Einzelnen erklären, wie es vor sich gehen soll, dass das mentale Ich, wenn es denn nicht als natürliches Organ angelegt ist, in sozialen Lernprozessen verfertigt wird. Diese Frage führt uns zu kollektiven Diskursen und Praktiken im Dienste der Konstitution von Subjektivität. Darunter verstehe ich zum einen kulturell genormte Diskurse ber Subjektivität und Bewusstsein, welche die Sozialisation von Individuen steuern und ihnen eine mentale Struktur zuschreiben, in deren Zentrum ein autonom gedachtes mentales Ich oder Selbst steht. Zum anderen verstehe ich darunter Praktiken der wechselseitigen Spiegelung von Handlungen und Emotionen, die zum Aufbau des mentalen Ich beitragen. Attributionsdiskurse setzen natürlich Sprache voraus, Spiegelpraktiken dagegen nicht.

Attributionsdiskurse Diskurse ber Subjektivität und Bewusstsein sind in unserem Alltagsleben ubiquitär. An vorderster Stelle steht der Diskurs des psychologischen common sense. Er umfasst das Arsenal von Konstrukten, die Kulturen verwenden, um das Handeln menschlicher Akteure zu beschreiben, zu erklären und nicht zuletzt auch zu regulieren. So operiert unsere Alltagspsychologie ganz unbekümmert mit der Vorstellung, dass Personen über ein mentales Ich verfügen – ein kognitives und dynamisches Zentrum, das auf der einen Seite alles registriert, was ihnen widerfährt, und das auf der anderen Seite alle Aktivitäten initiiert und steuert, mit denen sie in den Gang der Ereignisse eingreifen. Noch klarer artikuliert sind diese Vorstellungen in den Diskursen von Moral und Recht, die in den Common Sense–Intuitionen der Alltagspsychologie verankert sind. Hier erscheint das mentale Selbst vor allem als autonomer Autor von Handlungsentscheidungen, der für die Folgen seiner Handlung Verantwortung trägt. Getragen und unterfüttert werden diese Diskurse, die unsere Lebenspraxis durchziehen und regieren, durch narrative Diskurse verschiedenster Art. Die fiktionalen Geschichten, die wir in Büchern und Filmen vorfinden, sind vollgestopft mit Bewusstseins-Jargon und Subjektivitäts-Diskursen. Solche Geschichten sind es auch, die wir Kindern

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erzählen, um ihnen zu erklären, was Personen eigentlich sind, wie sie funktionieren und wie ihr Tun mit ihrem Denken zusammenhängt. Was wir ihnen mit solchen Geschichten anbieten, ist zweierlei: zum einen die explizite Semantik der Kultur, in der sie leben – ihre Sitten und Gebräuche, ihre Werte und Normvorstellungen, ihre Mythen und Legenden; zum anderen aber auch die implizite Semantik ihrer Alltagspsychologie, die erklärt, wie Personen denken und handeln und wie sie im Himmel und auf Erden für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden. Dass es diese Diskurse gibt und dass sie einen großen Teil unseres Lebens ausfüllen, steht gewiss außer Zweifel. Allerdings kann man sie auf zweierlei Weise lesen: als reproduktive Diskurse, die vorgefundene Naturtatsachen lediglich abbilden, oder als produktive Diskurse, die neue Tatsachen in die Welt setzen. Folgt man der zweiten – produktiven – Lesart, muss man allerdings erklären, wie die Konstitution von Subjektivität durch Attributionsdiskurse vor sich gehen soll. Die Antwort auf diese Frage liegt im dialektischen Wechselspiel von Zuschreibung und Aneignung: Wenn Akteure in Attributionsdiskursen bei allen Koakteuren ein mentales Selbst voraussetzen, trifft im Ergebnis jeder Akteur – auch jeder neu hinzutretende – auf eine Diskurssituation, die auch für ihn eine selbstförmige Rolle bereithält. Jeder Akteur ist dann der Dialektik von Fremdzuschreibung und Selbstzuschreibung ausgesetzt: Die Wahrnehmung der auf ihn gerichteten Fremdzuschreibung erzeugt Selbstzuschreibung, und schließlich wird er sich die ihm zugeschriebenen Eigenschaften tatsächlich zueigen machen. Er nimmt sich wahr, wie die anderen ihn wahrnehmen, und eignet sich an, was andere ihm zuschreiben. Wenn das stimmt, sind Subjekte Artefakte. Subjektivität ist von Menschen für Menschen gemacht. Sie entsteht im Wechselspiel von Zuschreibung und Aneignung, und sie entfaltet ihre Wirksamkeit dadurch, dass alle am Diskurs beteiligten Individuen sich selbst und alle anderen für Subjekte halten. Subjekte sind diese Individuen dann in genau dem gleichen Sinne, in dem Joseph Ratzinger Papst ist: kraft ihrer Anerkennung durch andere. Der schottische Philosoph Adam Smith war einer der ersten, der diesen Zusammenhang durchschaut hat. In seiner Theory of moral sentiments hat er den Gedanken ausgearbeitet, dass Individuen zu reflektierten Subjekten dadurch werden, dass sie den Blick der anderen auf sie selbst gleichsam verinnerlichen:

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We can never survey our own sentiments and motives […] unless we remove ourselves […] from our own natural station and endeavor to view them as at a certain distance from us. But we can do this in no other way than by endeavoring to view them with the eyes of other people… (Smith 1759, 110)

Spiegelpraktiken Attributionsdiskurse sind an das Vehikel der Sprache gebunden. Sprachliche Kommunikation ber Subjektivität ist es hier, die Subjektivität in die Köpfe der Individuen einpflanzt. Solche Diskurse mögen der Königsweg zur Subjektivität sein, aber der einzige Weg sind sie gewiss nicht. Daneben gibt es nicht-sprachgebundene soziale Praktiken, von denen wir vermuten können, dass sie gleichfalls zur Entstehung von Subjektivität beitragen. Solche Praktiken bezeichne ich als Spiegelpraktiken. Auch die Spiegelmetapher findet sich bereits bei Adam Smith. Er diskutiert ein hypothetisches Kaspar-Hauser-Szenario, in dem ein Individuum völlig isoliert aufwächst. Dieses Individuum, so glaubt er, weiß zwar einiges über die Welt, aber über sich selbst kann es nichts wissen. Seinen eigenen Geist kennt es ebenso wenig wie sein eigenes Gesicht: All these are objects which he cannot easily see, which naturally he does not look at, and with regard to which he is not provided with [a] mirror. [That mirror] is placed in the countenance and behaviour of those he lives with […]; and it is here that he first views the propriety and impropriety of his own passions, the beauty and deformity of his own mind. (Smith 1759, 110).

Der Spiegel, der hier auftaucht, mag zunächst nichts weiter als eine geglückte Metapher sein: Andere spiegeln mir durch das, was sie tun, wider, was ich tue, und dank dieser Spiegelung kann ich an anderen erkennen und beurteilen, was ich selbst tue. Inzwischen haben wir gute Gründe für die Vermutung, dass das Konzept der sozialen Spiegelung mehr als eine bloß schöne literarische Metapher ist. Psychologische Forschung und Hirnforschung haben in den letzten Jahren zeigen können, dass Menschen über einen besonderen Typus von repräsentationalen Strukturen verfügen, die Praktiken der sozialen Spiegelung unterstützen. Bisweilen werden diese Strukturen sogar als Spiegelsysteme bezeichnet. Dabei handelt es sich um Repräsentationsstrukturen für Handlungen und Emotionen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie

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an der Produktion eigener Handlungen und Emotionen ebenso beteiligt sind wie an der Wahrnehmung fremder Handlungen und Emotionen. Von diesen Spiegelsystemen wissen wir, dass sie z. B. durch die Beobachtung einer bestimmten Handlung, die eine andere Person ausführt, genauso aktiviert werden wie durch die Planung und Ausführung dieser Handlung durch den Akteur selbst.6 Ein einfaches Gedankenexperiment macht deutlich, wie diese Systeme soziale Praktiken unterstützen, die das eigene im fremden Selbst spiegeln. Betrachten wir zwei Individuen in Interaktion, die mit Spiegelsystemen ausgestattet sind. Nehmen wir an, dass Individuum 1 eine Handlung ausführt, die Individuum 2 wahrnimmt. Nehmen wir ferner an, dass die Wahrnehmung dieser Handlung in Individuum 2 die Ausführung einer entsprechenden Handlung begünstigt, d. h. dass Individuum 2 die wahrgenommene Handlung auch selbst ausführt. Diese Spiegelhandlung wird wiederum von Individuum 1 wahrgenommen, und da auch dieses Individuum mit einem Spiegelsystem ausgestattet ist, kann sie von ihm als Wiederholung der zuvor selbst ausgefhrten Handlung erkannt werden. Für Individuum 1 wirkt also Individuum 2 wie ein Spiegel: Es verhilft ihm dazu, sich selbst so zu sehen, wie es andere Individuen sieht und wie andere Individuen es selbst sehen. Beides, die Nachahmung von Handlungen (durch Individuum 2) und die Wahrnehmung der Nachahmung (durch Individuum 1), sind Leistungen, die Spiegelsysteme erbringen. Spiegelpraktiken dieser Art sind vor allem im Umgang zwischen Erwachsenen und Säuglingen weit verbreitet. Stellt man sich z. B. vor, dass Individuum 1 ein Baby ist und Individuum 2 seine Mutter, die mit ihm interagiert, sieht man sofort, worin das Potential dieser Mechanismen und der auf ihnen aufbauenden Kommunikationspraxis besteht: Spiegelpraktiken sind es, die Kindern bereits im vorsprachlichen Alter ihre eigene Handlungsautorenschaft vor Augen führen. Sie bereiten damit auf implizitem Wege vor, was Attributionsdiskurse später explizit elaborieren und vollenden: die Verfertigung von Subjekten in Interaktion und Kommunikation. 6

Natürlich können symbolische Repräsentationssysteme, die semantisches Wissen kodieren, auch die Funktion der gemeinsamen Repräsentation eigener und fremder Handlungen übernehmen. Solche symbolischen Repräsentationssysteme sind hier aber nicht gemeint. Gemeint sind subsymbolische Repräsentationsstrukturen, die vor und unabhängig von sprachgebundener Begrifflichkeit nutzbar und wirksam sind (vgl. Prinz 2005).

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IV. Wahrnehmung und Wirklichkeit Wenn dies alles stimmt, dann ist Subjektivität ein Artefakt. Sie ist keine Naturtatsache, sondern wird im sozialen Austausch konstituiert. Aber noch ist das Gedankengebäude, das diese Idee plausibel machen soll, noch nicht vollständig und nicht stabil. Es fehlt ihm noch ein entscheidender Schlussstein. Der Schlussstein betrifft die Beziehung zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit oder genauer: zwischen kognitiver Repräsentation und funktionaler Realität. Denn wenn man genauer hinsieht, erklären Attributionsdiskurse und Spiegelpraktiken eigentlich nur, wie es kommt, dass Individuen sich als Subjekte wahrnehmen und verstehen, d. h. wie sie eine kognitive Reprsentation ihrer Subjektivitt aufbauen. Kognitive Repräsentation ist aber nicht dasselbe wie ihre funktionale Realität. Könnte es also sein, dass Subjektivität nichts weiter als ein schöner Schein ist – eine kollektiv verfertigte personale Illusion, die mit der funktionalen Realität der subpersonalen Kognitions- und Volitionsmaschinerie überhaupt nichts zu tun hat? Könnte es sein, dass wir uns zwar kraft kollektiver Konstruktion für Subjekte halten, dies in Wahrheit aber gar nicht sind? Zwei Argumente sind es, die diese Besorgnis gegenstandslos machen – ein allgemeines und ein spezielles. Das allgemeine Argument lautet: Im Reich der sozialen Artefakte, die durch kommunikatives Handeln erzeugt werden, wird Realität stets nur durch Repräsentation konstituiert. Der Wert des Geldscheins ist real, weil wir ihn für wertvoll halten. Die Amtsbefugnisse des Papstes sind real, weil wir sie der Person Joseph Ratzinger zuschreiben. Und in der gleichen Weise sind Subjekte real und wirksam, weil wir sie dafür halten. Wie jede andere soziale Institution ist das mentale Ich keineswegs fiktiv, sondern real – real als Artefakt (Kusch 1997). Hinzu kommt – und das ist das spezielle Argument – dass Subjekte Auto-Artefakte sind, Systeme also, die Repräsentationen ihrer selbst entwickeln. Schon bei Luhmann können wir nachlesen, dass in solchen Fällen das Prinzip gilt, dass Selbstbeobachtung operativ wird (Luhmann 1984). Das bedeutet, dass die Repräsentationen, die Systeme über ihre eigene Tätigkeit ausbilden, auf diese Tätigkeit selbst zurückwirken. Im vorliegenden Fall wird dieses abstrakte Prinzip durch die konkrete Tatsache eingelöst, dass die kognitive Repräsentation von Subjektivität ihrerseits wiederum in subpersonalen Prozessen und Mechanismen verankert ist – in Prozessen also, die aus dem gleichen Holz geschnitzt

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sind wie alle übrigen subpersonalen Prozesse. Deshalb ist das mentale Ich, auch wenn es als soziales Artefakt verfertigt wird, ebenso real und wirksam wie alle übrigen Natur- und Kulturtatsachen, die die Tätigkeit der kognitiven Maschinerie beeinflussen. Dass Subjekte sozial konstituierte Artefakte sind, bedeutet also keineswegs, dass wir ihnen den doppelbödigen Charakter von Fiktionen oder gar Illusionen zuschreiben müssen. Soziale Konstitution bringt reale Tatsachen hervor – Geld, das wirklich etwas wert ist, Päpste, die wirklich Päpste sind und Subjekte, die wirklich Subjekte sind. Deshalb können wir die provokante These, dass Subjekte Artefakte sind, zu guter Letzt um die rhetorische Figur einer Wowereit’schen Tröstung ergänzen: Subjekte sind Artefakte. Aber das macht nichts.

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Bewusstsein, Selbstbewusstsein und humane Lebensform Dieter Sturma 1. Das schwierige Problem der Philosophie des Geistes In unserer Alltagserfahrung gehen wir selbstvertraut mit unseren mentalen Einstellungen um und setzen auf selbstverständliche Weise unsere Erlebnisse zu dem in Beziehung, was wir von der Welt wissen. In alltäglichen Bewusstseinsvollzügen bleibt zumeist unentdeckt, dass unsere Selbstverhältnisse und unsere epistemische Bezugnahme auf die Welt nicht unmittelbar aufeinander abgebildet werden können. Diese Gegenläufigkeit von Selbst- und Weltverhältnissen tritt erst in systematischen Bewusstseinsanalysen deutlich zu Tage. Personen erleben in Sozial- und Naturverhältnissen ihr Bewusstsein und Selbstbewusstsein als etwas Eigenes, nicht als etwas, das mit anderen Zuständen oder Ereignissen in Raum und Zeit ohne Weiteres zusammenfiele. Ihre Einstellungen und Verhaltensweisen werden davon bestimmt, wie sie sich selbst gegenwärtig sind, was vor allem auch die Erfahrung eines reflektierten Abstands zu den Vorgängen ihrer Umwelt einschließt. Die Selbstverständlichkeit und Unhintergehbarkeit dieses subjektiven Erlebens zeigt sich auch daran, dass Personen nicht bewusst von ihm absehen können: Sie können sich zu allen Objekten und Ereignissen in ein kontingentes Verhältnis setzen – nur nicht zum Faktum der eigenen Erlebnisperspektive. Die Alltagserfahrung wird aber nicht vom subjektiven Erleben allein geprägt. Personen nehmen auch die äußere Welt der Gegenstände und Ereignisse als etwas Gegebenes wahr, das über eigene Existenzformen verfügt, und unterstellen durchgängig die kausale Geschlossenheit ihrer Lebenswelt. Sie rechnen nicht damit, dass die Gesetzmäßigkeiten der Welt der Gegebenheiten plötzlich nicht mehr gelten oder auch nur temporär außer Kraft gesetzt werden. Auch in dem Fall religiös motivierten Glaubens an Wunder und Offenbarungen setzen diese Personen

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in ihren alltäglichen Handlungsvollzügen gemeinhin auf die Regularität ihrer Weltverhältnisse. Erlebnisse, Gegebenheiten und externe kausale Abhängigkeiten gehören gleichermaßen zum festen Bestand menschlicher Erfahrung. Für den unbefangenen Standpunkt stehen diese Bestimmungen daher zunächst nicht in einem Spannungsverhältnis: Personen gehen gemeinhin davon aus, dass sie als selbstbewusste, überlegende, entscheidende und handelnde Akteure auf Ereignisse Einfluss nehmen. In ihrer Welt ist nicht nur Platz für Erlebnisse und Handlungen wie für Gegebenheiten und kausale Abhängigkeiten, vielmehr können sie sich aus der Perspektive ihrer Lebensform heraus die Welt anders auch gar nicht vorstellen. Ungeachtet der alltäglichen Selbstverständlichkeit ihres Auftretens erweist sich die Kopräsenz von Selbstbewusstsein, Erlebnissen, Gegebenheiten und externen kausalen Abhängigkeiten in philosophischer wie in naturwissenschaftlicher Hinsicht als rätselhaft. Es ist die zumindest vordergründige Unvereinbarkeit von Selbstvertrautheit des Bewusstseins einerseits und naturalistischen Kausalitätsvorstellungen andererseits, die das schwierige Bewusstseinsproblem ausmacht.1 In wissenschaftlicher Perspektive drängen sich die grundsätzlichen Fragestellungen auf, wie in einer von physischen Gesetzmäßigkeiten durchgängig beherrschten Welt Selbstbewusstsein und intentionale Einstellungen überhaupt vorliegen können und wie zu verstehen ist, dass ein personaler Standpunkt – eine selbstbewusste Erlebnisperspektive – imstande ist, in der Welt der Ereignisse kausale Wirksamkeit zu entfalten. Seit ihren systematischen Anfängen bemüht sich die Philosophie des Geistes darum, den besonderen epistemologischen Stellenwert menschlichen Bewusstseins herauszuarbeiten. Will sie sich aber nicht gegen gut etablierte wissenschaftliche Annahmen stellen, muss sie die ontologische und epistemische Eigenheit menschlichen Bewusstseins innerhalb der Welt der Ereignisse bestimmen. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe wird sie nicht umhin können, Vorgaben des wissenschaftlichen Realismus zu akzeptieren, ohne den die kausale Wirksamkeit mensch1

David Chalmers bezeichnet die Erklärung des Sachverhalts, dass es in der Welt der Gegenstände und Ereignisse subjektive Perspektiven gibt, als hard problem – im Unterschied zum easy problem, das für ihn in der neurowissenschaftlichen Aufklärung der spezifischen Funktionen des Gehirns besteht; vgl. Chalmers (1996, xii f.).

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lichen Bewusstseins ohnehin nicht verständlich zu machen wäre.2 Dieses Zugeständnis sollte der Philosophie des Geistes aber deswegen nicht schwer fallen, weil der wissenschaftliche Realismus nicht zwangsläufig auf einen szientifischen Eliminativismus hinausläuft. Bei der Beantwortung der Frage, was es gibt, haben wissenschaftliche und insbesondere naturwissenschaftliche Methoden vorrangige Autorität. Daraus kann aber eben noch nicht abgeleitet werden, dass es nur das gibt, was in den jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen gerade thematisiert und untersucht wird.3 Die Unausweichlichkeit eines naturalistischen Ausgangspunktes im Sinne des wissenschaftlichen Realismus konfrontiert die Philosophie des Geistes gleichwohl mit der misslichen Situation, die Annahme der phänomenalen und epistemischen Sonderstellung menschlichen Bewusstseins aufgeben zu müssen, um an der Wirksamkeit von handelnden Personen in der Welt der Ereignisse festhalten zu können, oder von der Unterstellung einer kausalen Rolle von Personen in der Welt der Ereignisse abrücken zu müssen, um die phänomenale Besonderheit menschlicher Erlebnisperspektiven nicht in Frage zu stellen. Es hat also den Anschein, als könnten weder vom Standpunkt der Philosophie des Geistes noch von dem der Naturwissenschaften Erlebnisse und Ereignisse zur Deckung gebracht werden. Die Unterscheidung zwischen Erlebnissen und Ereignissen ist keineswegs nur eine Sache begrifflicher Setzungen, sondern drückt sich auch in der deskriptiven Erfassung der entsprechenden Phänomene aus. Bei Identifikationen und Beschreibungen von Elementen menschlichen Bewusstseins sehen wir uns geradezu mit einer Kluft konfrontiert: Entweder bewegen wir uns im hermeneutisch beziehungsweise phänomenologisch zugänglichen Evidenzbereich unserer Alltagserfahrung, oder wir verbleiben im Bereich identifizierbarer neuronaler Vorgänge. Es gelingt uns aber nicht, Übergänge zwischen beiden Beschreibungsperspektiven auszumachen.4 2

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Jaegwon Kim deutet das schwierige Bewusstseinsproblem als Herausforderung „to find an account of mentality that respects consciousness as a genuine phenomenon that gives us and other sentient beings a special place in the world and that also makes consciousness a causally efficacious factor in the workings of the natural world. The challenge, then, is to find out what kind of beings we are and what our place is in the world of nature.“ (Kim 1996, 237) Vgl. Sturma (2007; 2008). Die Beschreibungslücke zwischen Erlebnissen und Ereignissen ist zum ersten Mal von Gottfried Wilhelm Leibniz systematisch interpretiert worden. Er

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Hinter der Beschreibungslücke zwischen Erlebnissen und Ereignissen verbirgt sich das psychophysische Problem, das seinen systematischen Ausdruck in dem spannungsreichen Verhältnis von drei plausiblen Thesen findet: der Differenzthese, nach der Erlebnisse nicht bloße Ereignisse sind, der Wechselwirkungsthese, nach der Erlebnisse im Bereich der Ereignisse und Ereignisse im Bereich der Erlebnisse wirksam sind, sowie der Geschlossenheitsthese, nach welcher der Bereich der Ereignisse nach Maßgabe von naturwissenschaftlich zugänglichen Gesetzmäßigkeiten kausal geschlossen ist. In der analytischen Philosophie des Geistes wird gemeinhin unterstellt, dass die drei Thesen zusammen inkompatibel seien und zumindest eine These aufgegeben werden müsse.5 Diese Unterstellung wird aber nur unter der Voraussetzung einer sehr engen Auslegung der jeweiligen Thesen nahegelegt. Im Rahmen von erweiterten Ausdeutungen ergeben sich durchaus Möglichkeiten, an allen drei Thesen festzuhalten.6 Der entscheidende Zug in Vereinbarkeitsszenarien ist die Präzisierung der Differenzthese. Ihre epistemologische und ontologische Konkretisierung ist so zu gestalten, dass der Unterschied zwischen Erlebnissen und Ereignissen nicht in jeder Hinsicht gilt. Auf diese Weise kann dem Sachverhalt entsprochen werden, dass wir in einer raumzeitlichen Welt leben, in der es eben auch Personen gibt.7

2. Naturalisierung des Bewusstseins? Auf das psychophysische Problem ist bekanntlich mit einer Vielzahl von Naturalisierungsstrategien reagiert worden, die sich allesamt am Primat der Geschlossenheitsthese orientieren. Diese Ansätze haben rezeptionsgeschichtlich das breite thematische und begriffliche Spektrum der traditionellen Philosophie des Geistes mittlerweile vollständig verdeckt.

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kommt zu dem Ergebnis, dass das Verhältnis zwischen Erlebnissen und Ereignissen als wechselseitige Abgeschlossenheit aufzufassen ist. Man kann in diesem Zusammenhang geradezu von dem Leibniz-Problem sprechen, da seine Philosophie des Geistes letztlich eine metaphysisch aufwändige Reaktion auf die von ihm entdeckte Beschreibungslücke ist; siehe Sturma (2005a, 21 f.). Siehe Bieri (1981, 9 ff.). Siehe Sturma (1997, 73 ff.; 2005a, 18 ff.; 2008). Vgl. Wiggins (1967, 58): „There is room in the world for both persons and bodies, (…) and enough matter for both. Since their matter must be the same there is no question of competition or displacement between them. Lebensraum is an ecological problem which ontology cannot aggravate.“

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Das gilt auch für die philosophische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Selbstbewusstseins. In den üblichen Unterscheidungen und Klassifikationen menschlichen Bewusstseins wird Selbstbewusstsein nur selten explizit aufgeführt und dann nur in der unterbestimmten Form von Selbsterkenntnis abgehandelt. Im Unterschied zu Selbstbewusstsein weisen Fälle von Selbsterkenntnis jedoch nicht die Eigenschaften der unmittelbaren Selbstvertrautheit, Infallibilität und NichtKorrigierbarkeit auf und nehmen sich im Wesentlichen wie jeder andere Fall kognitiven Bewusstseins aus. Mit den semantischen Elementen des Begriffs der Selbsterkenntnis lässt sich somit kein Zugang zu den besonderen Qualitäten des Phänomens des Selbstbewusstseins gewinnen. Die konzeptionelle Ausrichtung an der Geschlossenheitsthese hat eliminative Naturalisierungsprojekte zur Folge, die einen Standpunkt beziehen, der vom Ansatz her den Naturbegriff verengt. Anders als bei naturalistischen Positionen der klassischen Philosophie, die – wie etwa Aristoteles, die Stoa, Spinoza oder Schelling – von einem umfassenden Verständnis des Naturbegriffs ausgehen und Ausdrucksformen von Bewusstsein und Geist vom Ansatz her mit einbeziehen, orientieren sich die eliminativen Naturalisierungsprogramme an ausgewählten Wirklichkeitsauffassungen aus den modernen Naturwissenschaften, denen sie vor allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen allein die Kompetenz bei der Beantwortung der Frage nach dem, was es gibt, zuweisen. Diese Strategie zeigt sich exemplarisch im Rahmen der Kontroversen zum Für und Wider der menschlichen Willensfreiheit. In den gegenwärtigen Willensfreiheitsdebatten werden Naturalisierungsstrategien verfolgt, die naturwissenschaftliche Wirklichkeitsmodelle – unter Ausklammerung von wissenschafts-, erkenntnis- und sprachtheoretischen Vorklärungen der jeweiligen ontologischen Zuordnungen – direkt auf die Lebenswelt von Personen beziehen. Derartige Vorgehensweisen unterstellen umstandslos einfache Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Theorie und Tatsache. Dabei wird übersehen, dass Tatsachen und Theorien grundsätzlich im Verhältnis wechselseitiger Unterbestimmung zueinander stehen.8 Wissenschaftliche Erklärungen wenden sich aber immer nur bestimmten Aspekten der Wirklichkeit zu und lassen aus methodischen Gründen andere Aspekte unberücksichtigt. Dieser Sachverhalt entzieht vereinfachenden Natu8

Vgl. Rescher (1984, 232 ff.; 2000).

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ralisierungsstrategien die epistemologische und wissenschaftstheoretische Grundlage. Wissenschaftliche Erklärungen haben ihren Ausgangspunkt nicht in unmittelbaren Gegebenheiten. Eigenschaften von Ereignissen werden nicht einfach vorgefunden. Vielmehr sind die empirischen Daten, die in die wissenschaftlichen Erklärungen eingehen, bereits durch spezifische methodische Zugangsweisen vermittelt. Um Daten identifizieren zu können, muss es auf dem Wege von Annahmen und Experimenten zu einer praktischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit kommen. Infolgedessen ist ein Ereignis niemals als Ganzes zu erfassen. Naturwissenschaftliche Methoden sind in ihrer ontologischen Reichweite begrenzt und nicht so verfasst, dass sie ihre Erträge jenseits ihres jeweiligen theoretischen Rahmens interpretieren könnten. Für die eliminativistischen Naturalisierungsprojekte sind Formeln von der Art x ist nichts anderes als y kennzeichnend. In den Auseinandersetzungen um die Willensfreiheit werden mit dieser Formel Zurückführungen von mentalen Zuständen auf ihre neuronale Basis eingeleitet. Derartige Transformationen beruhen auf einem atomistischen Fehlschluss, der unterstellt, dass das Resultat von wissenschaftlichen Reduktionen in kleinsten Elementen bestehe, aus denen sich die ganze Welt systematisch aufbauen ließe – was im Übrigen auch die Theorie selbst mit einschließen müsste. An den eliminativen Naturalisierungsprojekten ist insgesamt zu kritisieren, dass sie in methodisch unvermeidbaren Reduktionen ontologische Kürzungen sehen und zudem die Verwendungsweise des Ausdrucks „determiniert“ auf Vorgänge beschränken, die mit naturwissenschaftlichen Methoden in kleinste Einheiten zerlegt werden können. Eine Besonderheit der neueren neurophilosophischen Debatten ist das verbreitete Auftreten des referenziellen Fehlschlusses. Er beruht auf der Identifikation von Anzeichen eines Phänomens mit seiner Bedeutung. Dadurch werden beispielsweise neuronale Vorgänge, die Angst oder Schmerz begleiten, mit den Erlebnissen selbst verwechselt. Der referenzielle Fehlschluss liegt auch der bei neurophilosophischen Ansätzen weit verbreiteten These zugrunde, dass für mentale Akte und Zustände von Personen in absehbarer Zeit eine naturwissenschaftliche Erklärung bereitgestellt werden könne. Diese Erwartungshaltung wird im Wesentlichen von der Annahme bestimmt, dass der Gehalt menschlichen Bewusstseins sich unmittelbar in der naturwissenschaftlichen Darstellung entsprechender neuronaler Ereignisse zeige.

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Die Sätze „X befindet sich in dem Angstzustand F“ und „Im Gehirn von X finden die neuronalen Ereignisse Nf statt“ sind keineswegs bedeutungsgleich.9 Sie beziehen sich vielmehr auf miteinander verbundene, aber gleichwohl unterschiedliche Aspekte eines Sachverhalts. Ihr gemeinsames Auftreten verleitet eliminativistische Ansätze dazu, die Manifestation entsprechender neuronaler Vorgänge für Zugangsweisen zum phänomenalen Gehalt menschlichen Bewusstseins zu halten. Die enge Verbindung zwischen Erlebnis und neuronalem Vorgang kann aber zunächst nur als Koreferenz gedeutet werden, in der die besondere Form des Welt- und Selbstverhältnisses von Personen seinen Ausdruck findet.10 Systeme des Raums der Gründe wie Logik, Arithmetik, ästhetische oder normative Ordnungen sind als solche keine Elemente neuronaler Vorgänge, ohne dass von ihnen andererseits gesagt werden könnte, dass sie gleichsam „über den Köpfen schwebten“. Wenn neurophilosophische Eliminativisten unterstellen, dass Bestimmungen des Raums der Gründe vollständig auf neuronale Vorgänge zurückführbar seien, übersehen sie, dass Phänomenen wie Selbstbewusstsein, Intentionalität oder Qualia keineswegs die Entsprechung in der Wirklichkeit fehlt.11 Mit ihnen erschließen sich Personen ihre epistemischen und praktischen Weltverhältnisse, zu denen auch der wissenschaftliche Umgang mit der Wirklichkeit gehört. Das grundsätzliche Problem der Auseinandersetzung mit dem menschlichen Bewusstsein resultiert aus dem Selbstreferenzialitätssyndrom, dass Personen sowohl Subjekt als auch Objekt von Identifikations- und Reflexionsprozessen sind. Dieser Sachverhalt wirkt sich dahingehend aus, dass die Erlebnisperspektive der Alltagserfahrung und die von den Neurowissenschaften untersuchten neuronalen Vorgänge 9 Herbert Feigl hebt nachdrücklich hervor, dass der Versuch der Identifizierung von Erlebnissen mit dem Bild einer Gehirnmasse, das sich bei Öffnung des Schädels bieten würde, abwegig sei; siehe Feigl (1967, 87): „[E]ven sophisticated analytic philosophers tend to confuse the meaning of physical concepts with the perceived or imaged appearance of physical things. No wonder then that we are told that the identity of certain neurophysiological states (or features thereof) with raw feels is a logical blunder. If the denotatum of ‘brain process (of a specified sort)’ is thus confused with the appearance of the gray mass of the brain as one perceives it when looking into an opened skull, then it is indeed logically impossible to identify this appearance with the raw feels, e. g., of greenness or of anxiety.“ 10 Siehe Feigl (1967, 110 f.). 11 Siehe u. Abschnitte 3 und 4.

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nicht ohne Weiteres aufeinander abgebildet werden können. Die vorschnellen Identifizierungen von Anzeichen und Bedeutung in referenziellen Fehlschlüssen sind letztlich nur übereilte Reaktionen auf diese Schwierigkeit. Die berechtigte Kritik an den vereinfachten Wirklichkeitsmodellen des eliminativistischen Reduktionismus darf gleichwohl nicht zu einer falschen Emphase des Nichtreduktionismus verleiten. Aus der Kritik ist lediglich zu entnehmen, dass die naturwissenschaftlichen Modellbildungen nicht unmittelbar in ontologische Klassifikationen transformierbar sind. Es muss vor allem beachtet werden, dass im Rahmen wissenschaftlicher Aneignungen der Wirklichkeit Reduktion ein unverzichtbares methodisches Element ist. Entsprechend kann es kein Kriterium für die Bewertung von Theoriemodellen sein, dass sie alle Aspekte des untersuchten Sachverhalts erklären beziehungsweise bis ins Kleinste bestimmen können. Ihre Lösungsvorschläge können nur für eingeschränkte Problemfelder Geltung beanspruchen. Für die Beantwortung weitergehender Fragen sind ihre Ansätze nicht ausgelegt.12 Neurophilosophische Eliminativisten und emphatische Nichtreduktionisten übersehen gleichermaßen die zentrale Rolle von semantischen Innovationen und Revisionen bei der wissenschaftlichen Aneignung der Wirklichkeit. Die Gegenstände wissenschaftlicher Erklärungen werden nicht einfach als schlechthin Gegebenes abgebildet, sondern in ihren Elementen und Eigenschaften begrifflich erfasst. Die Entwicklung entsprechender Vokabulare und Modelle ist denn auch die notwendige Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Tätigkeit. Die Philosophie des Geistes kann bei Analysen menschlichen Bewusstseins die Extreme von Eliminativismus und emphatischem Nichtreduktionismus vermeiden, wenn sie sich auf die Konsequenzen kritischer Vorklärungen einlässt. Das bedeutet vor allem, dass sie sich nach dem öffentlich beobachtbaren und rekonstruierbaren Sprachverhalten von Personen im sozialen Raum richtet. Auf diese Weise kann sie die inhaltlichen Verengungen vorherrschender neurophilosophischer Bewusstseinsmodelle vermeiden, ohne auf fragwürdige introspektive Spekulationen zu nicht kommunizierbaren Intuitionen zurückgreifen zu müssen. Der Gewinn dieser methodischen Zugangsweise zeigt sich vor allem bei der Untersuchung des internen Zusammenhangs von menschlichem Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Anders als gemeinhin angenommen wird, ist Selbstbewusstsein keineswegs ein bloß pri12 Siehe Rescher (1984, 5 ff.).

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vates Erlebnis, zu dem nur die jeweils betroffene Person einen privilegierten Zugang der ersten Person Singular hat. Vielmehr erschließt es sich zumindest mittelbar sowohl in epistemologischer Hinsicht als auch in der Perspektive beobachtbaren Sprachverhaltens.

3. Bewusstsein als mögliches Selbstbewusstsein Es ist Immanuel Kant gewesen, der die konstitutive Bedeutung von Selbstreferenz für menschliches Bewusstsein insgesamt herausgearbeitet hat. Er führt vor, dass sich am Phänomen des Selbstbewusstseins grundlegende Strukturen menschlichen Bewusstseins und menschlicher Erfahrungsprozesse ablesen lassen. Sein innovativer Ansatz besteht darin, zwischen Bewusstseinsphänomenen und Funktionen der Bewusstseinskonstitution zu differenzieren, wodurch es ihm nicht zuletzt auch gelingt, Probleme der Bewusstseinstheorie bei der Bestimmung der Rolle von nicht-bewussten mentalen Akten in Erfahrungsprozessen zu lösen. Im Rahmen seiner Erkenntniskritik deckt Kant auf, dass Selbstreferenz in einem grundlegenden formierenden Sinne konstitutiv für jeden epistemischen Zustand ist. Er spricht in diesem Zusammenhang von dem „ich denke, das alle meine Vorstellungen begleiten kçnnen muss“,13 das den phänomenalen Bestand menschlichen Bewusstseins in der Gestalt der formalen Selbstreferenz des Denkens insgesamt konstituiert.14 Nur aufgrund der konstitutiven Funktion von Selbstreferenz ist es Personen möglich, in der Vielzahl ihrer mentalen Akte und Vorstellungen kohärente und konsistente Erfahrungen anzustellen. Die Fähigkeit von Personen, sich in der Mannigfaltigkeit ihrer mentalen Zustände selbst zu thematisieren, formiert Kant zufolge ihr Bewusstsein insgesamt. Daher wäre es auch falsch, Selbstbewusstsein lediglich als höherstufiges Bewusstsein zu bestimmen – wie das in Teilen der analytischen Philosophie des Geistes mittlerweile üblich ist. Vielmehr ist es die Funktion menschlichen Bewusstseins, alle seine Akte und Zustände auf mögliches Selbstbewusstsein hin zu formieren. Die philosophische Formel „ich denke“ bezieht sich nicht auf eine isolierte Episode epistemischen Bewusstseins, sondern auf Funktionen 13 Siehe Kant (1787, B 132 ff.). Vgl. Sellars (1974). 14 Zur Funktion des Begriffs der formalen Selbstreferenz des Denkens siehe Sturma (1985, 30 ff.).

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der Bewusstseinskonstitution insgesamt. Diese Funktionen stehen immer in einem direkten Zusammenhang mit dem jeweils in der Anschauung Gegebenen. Menschliche Erfahrung kommt demnach durch synthetische Leistungen zustande, in denen sich Gegebenes und Gedachtes miteinander verbinden. Aufgrund der Abhängigkeit der synthetischen Leistungen des Bewusstseins von der äußeren Reflexion sind die menschlichen Selbstverhältnisse immer schon in Bezugnahmen auf raumzeitliches Gegebenes eingebettet. Selbstreferenz und Referenz erweisen sich insofern als wechselseitig voneinander abhängig. In Kants konzeptioneller Integration von Synthesis, Selbstreferenz und Referenz zeigt sich ein differenziertes Modell menschlichen Bewusstseins, das simplifizierende Ableitungen von Subjekt-Objekt-Modellen genauso hinter sich lässt wie bewusstseinstheoretische Eliminationsszenarien.15 Selbstreferenz ist ein konstitutives Element aller Bewusstseinszustände von Personen als Personen und ist aufgrund dieser Funktion phänomenologisch nicht identifizierbar. Auch lässt sich die Formel „ich denke“ nicht weiter in egologische Bestimmungen wie „Ich“ oder „Selbst“ zerlegen. Die Selbstreferenz, welche die Formel „ich denke“ anspricht, ist in allen Fällen kognitiven Bewusstseins bereits enthalten, deshalb würde man sich bei dem Versuch, ein „Ich“ jenseits der konstitutiven Funktion des „ich denke“ aufzuspüren, in vitiöse Zirkel verstricken. Das Subjekt des Denkens kann insofern von sich abgesondert niemals den mindesten Begriff haben.16 Daher darf – anders als es in der neueren Psychologie und Neurophilosophie noch üblich ist – der Ausdruck „Ich“ allenfalls metaphorisch verwandt werden. Die formale Selbstreferenz des Denkens ist von Episoden ausdrücklich reflektierten Bewusstseins zu unterscheiden. Die Bewusstseinszustände von Personen vollziehen sich zwar immer unter den Bedingungen möglichen Selbstbewusstseins, sie liegen aber keineswegs immer schon in der Form reflektierter mentaler Akte vor. Selbstreferenz erfüllt Konstitutionsfunktionen für alle Fälle von Bewusstsein und tritt nicht ausdrücklich in prädikativen Selbstzuschreibungen auf. Selbstzuschreibungen und Formen von Selbsterkenntnis sind dem Bereich von epistemischen Zuständen und propositionalen Einstellun15 Die Philosophie des 18. Jahrhunderts kennt materialistische und empiristische Eliminationsszenarien. Insbesondere die bewusstseinstheoretischen Ansätze des Französischen Materialismus weisen Gemeinsamkeiten mit gegenwärtigen neurophilosophischen Eliminationsszenarien auf; vgl. Sturma (1985, 23 ff.). 16 Siehe Kant (1787, B 404); vgl. Sturma (1985, 62 ff.).

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gen zuzurechnen und beziehen sich, im Unterschied zur formalen Selbstreferenz des Denkens, auf Eigenschaften und Daseinszustände der reflektierenden Person. Dieser Sachverhalt wirkt sich mittelbar auch auf Fälle von Selbstbewusstsein im engeren Sinne aus, die zwar nicht wie Selbstzuschreibungen von der kategorialen Synthesis eines in der Anschauung Gegebenen abhängig sind, denen aber ein phänomenaler Gehalt als Anwendungsbedingung vorausgesetzt ist. Selbstbewusstsein verbindet sich insofern immer schon mit propositionalen Einstellungen. Der interne Zusammenhang von Selbstreferenzialität und Propositionalität macht nicht zuletzt kenntlich, dass sich im personalen Leben Selbst- und Weltverhältnisse wechselseitig bedingen. Dieses wechselseitige Bedingungsverhältnis äußert sich praktisch in Übergängen zwischen mentalen und physischen Zuständen.17 In Selbstreferenz, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis kommen grundlegende Aspekte personalen Lebens zum Ausdruck. Sie erschließen sich in subjektiver Perspektive als Einheit von Selbstbewusstsein und Existenz.18 Für den internen Zusammenhang von Existenz, Selbstbewusstsein und Identität hat Kant die Formel „ich existiere denkend“19 geprägt. Mit ihr sollen die besonderen Eigenschaften des Selbstbewusstseins – wie Unmittelbarkeit, Selbstvertrautheit, NichtKorrigierbarkeit und privilegierter Zugang – zu den empirischen Kontexten von prädikativen Selbstzuschreibungen intern in Beziehung gesetzt werden. Aus der epistemologischen Analyse des Phänomens des Selbstbewusstseins ist zu entnehmen, dass den Bewusstseinszuständen von Personen die Mçglichkeit des Selbstbewusstseins bereits eingeschrieben ist. Während die Möglichkeit des Selbstbewusstseins Bewusstsein präformiert, öffnet sich Selbstbewusstsein immer schon den faktischen Bestimmungen personalen Lebens. Weil Personen prinzipiell in der Lage sind, sich in allen ihren Bewusstseinszuständen selbst zu thematisieren, hat Selbstbewusstsein unmittelbar praktische Konsequenzen. In selbstthematisierenden Fällen von Bewusstsein beziehen Personen die jeweiligen natürlichen und sozialen Kontexte ihres Daseins auf sich selbst. Dabei erfüllt Selbstbewusstsein die Funktion einer Erlebnisperspektive in der Welt. Eine selbstbewusste Person thematisiert sich 17 Vgl. Evans (1982, 561 f.). 18 Dieser Sachverhalt findet seinen sprachphilosophischen Ausdruck in dem Implikationsverhältnis der Sätze „ich existiere“ und „ich denke“. 19 Siehe Kant (1787, B 420).

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unter den Bedingungen eines raumzeitlich eindeutig bestimmten Orts. Ihr ist bewusst, dass sie von spezifischen Zuständen in der Welt der Ereignisse betroffen ist und sich zu ihnen konkret verhalten muss – was sowohl in der Form des Tuns als auch in der des Unterlassens geschehen kann. Selbstbewusstsein ist insofern nicht einfach Daseinskontemplation, sondern eine verhaltensverändernde Einstellung, aus der unmittelbar praktische Weltverhältnisse hervorgehen. Ein entscheidendes Element des Verhaltens von Personen ist ihre Fähigkeit, aus Gründen zu differenzieren und zu handeln. Diese Fähigkeit ruft – trotz der vielen epistemischen Unsicherheiten hinsichtlich der tatsächlichen Handlungsmotive – Veränderungen in der Welt der Ereignisse hervor. Aus Selbstbewusstsein und Gründen geht eine Praxis hervor, die als Kausalität durch Freiheit angesprochen werden kann.20 Aufgrund dieser Praxis des Selbstbewusstseins sind Personen als Personen kausal wirksame Bestandteile einer Welt, in der auch die Naturgesetze gelten. Die Aufdeckung der für die Belange personalen Lebens unhintergehbaren Praxis des Selbstbewusstseins ist ein wichtiger Beitrag für die Rekonstruktion der kausalen Rolle des Bewusstseins in der von den Naturwissenschaften beschriebenen Welt. Neurophilosophische Weltmodelle, welche die Praxis des Selbstbewusstseins unberücksichtigt lassen, können nicht als phänomengerecht gelten. Zwar sind Zweifel angebracht, ob jemand aus den von ihm angenommenen Gründen tatsächlich gehandelt hat, gleichwohl sind reflektierte Einstellungen als solche bereits Veränderungen in der Welt der Ereignisse. Das gilt selbst für den Fall, dass aus der Reflexion keine äußerlich beobachtbare Handlung hervorgeht. Eine in Bewegungslosigkeit verharrende Person bleibt ein integraler Bestandteil der Welt und verhält sich grundsätzlich anders zu Ereignissen als Wesen, die nicht über Selbstbewusstsein und Gründe verfügen.

20 Vgl. Kant (1787, B 472 ff. und B 577 ff.). Kants Konzeption der Kausalität aus Freiheit ist zwar mit etlichen dualistischen Argumentationsstücken belastet, sie lässt sich gleichwohl in einer Weise rekonstruieren, die mit Gewinn auf die gegenwärtigen freiheitstheoretischen Problemstellungen bezogen werden kann; siehe Sturma (2004, 270 ff.).

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4. Bewusstsein, Sprache und Lebensform Aufgrund ihres Selbstbewusstseins und ihres Verfügens über Gründe bilden Personen in ihren Bewusstseinsvollzügen die Welt nicht einfach ab, sondern eignen sich ihre Wirklichkeit produktiv an. Dieses Phänomen tritt konturiert in der Bewusstseinsentwicklung des modernen Menschen hervor, an der eine zunehmende Differenzierung der syntaktischen und semantischen Mittel humaner Ausdrucksformen ablesbar ist. Dieser Sachverhalt muss bei Bewusstseinsanalysen eine angemessene Berücksichtigung finden. Gerade im Fall menschlichen Bewusstseins zeigt sich, dass sich semantische Innovationen sowohl in der Alltagserfahrung als auch in der wissenschaftlichen Praxis auswirken. Sie präformieren terminologisch die jeweiligen Begriffsbildungen und Klassifizierungen, wodurch über die jeweilige Zugangsweise zu den mentalen Akten und Zuständen von Personen entschieden wird. In den sprachlichen Entwicklungen finden Eigenschaften und Fähigkeiten von Personen ihren Ausdruck. Das gilt auch für ihre Selbstverhältnisse, die, anders als gemeinhin angenommen wird, auch aus dem öffentlich beobachtbaren Sprachverhalten rekonstruierbar sind. Dabei muss weder auf Introspektion noch auf semantische Reifizierungen – wie etwa „Ich“ oder „Selbst“ – zurückgegriffen werden. Derartige Rückgriffe gelten zu Recht in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes nicht mehr als rechtfertigungsfähig.21 Seit dem linguistic turn stehen der Philosophie des Geistes methodisch gesichertere Untersuchungsperspektiven zur Verfügung. Insbesondere von Ludwig Wittgenstein ist herausgearbeitet worden, dass öffentlich beobachtbare Sprache auf der einen sowie personale Einstellungen und Verhaltensweisen auf der anderen Seite keineswegs beziehungslos einander gegenüberstehen.22 Der unmittelbare Zusammenhang von Bewusstsein und Sprachverhalten ist exemplarisch in Gilbert Ryles’ Konzeption der dichten Beschreibung (thick description) herausgearbeitet worden,23 die analytisch den Bereich der Sprache und des Verhaltens von Personen nicht verlässt. Ryle setzt die dichte Beschreibung von einer dünnen Beschreibung (thin description) ab. Beide Beschreibungsarten erfolgen aus der Perspektive des äußeren Beobachters. Während aber die dünne Be21 Siehe Sturma (2005b). 22 Vgl. Wittgenstein (1984a; 1984b). 23 Siehe Ryle (1971a; 1971b).

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schreibung lediglich empirische Daten oberflächlicher Zustandsveränderungen erfasst, rekonstruiert die dichte Beschreibung den internen Zusammenhang von Einstellung, Ausdruck und Sprachverhalten. Im Rahmen der dichten Beschreibung ist es möglich, zumindest mittelbar spezifische Formen humaner Expressivität – wie etwa Selbstverhältnisse – auf öffentlich beobachtbares Sprachverhalten zurückzuführen. Dünne Beschreibungen verzeichnen Veränderungen von Zuständen oder Ereignissen und treffen noch keine Unterscheidung, ob beispielsweise nur das Augenlid einer Person unwillkürlich zuckt oder einer anderen Person etwas mitgeteilt werden soll.24 In einer dichten Beschreibung werden dagegen die spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten einer Person von vornherein berücksichtigt. Die Leistungsfähigkeit der dichten Beschreibung führt Ryle im Zuge der Beantwortung der hypothetischen Frage „What is ‘le penseur’ doing?“25 vor. Während in einer dünnen Beschreibung nur von einer bewegungslos kauernden Gestalt die Rede sein kann, die möglicherweise leise Töne von sich gibt, eröffnet die dichte Beschreibung einen begrenzten Spielraum von Deutungsmöglichkeiten, zu denen etwa Nachdenken, Selbstgespräche oder das Einüben eines Vortrags gehören – also Handlungen, die nicht in einem unmittelbaren Sinn situationsabhängig sind. Die „stillen“ Handlungen des Denkers sind gleichwohl nicht grundsätzlich von anderen Formen des Sprachverhaltens im sozialen Raum verschieden. Sie sind vor allem syntaktisch und semantisch regelgeleitet und können insofern nur von einem personalen Standpunkt aus vollzogen werden. Es wird zwar in der Regel nicht möglich sein, von außen genau zu sagen, was der Denker tut oder woran er gerade denkt, ihm können gleichwohl verlässlich Selbst- und Reflexionsverhältnisse zugeschrieben werden.26 Mit der dichten Beschreibung werden also Phänomene be24 Vgl. Ryle (1971b, 480): „Two boys fairly swiftly contract the eyelids of their right eyes. In the first boy this is only an involuntary twitch; but the other is winking conspiratorially to an accomplice. At the lowest or the thinnest level of description the two contractions of the eyelids may be exactly alike. From a cinematograph-film of the two faces there might be no telling which contraction, if either, was a wink, or which, if either, was a mere twitch. Yet there remains the immense but unphotographable difference between a twitch and a wink. For to wink is to try to signal to someone in particular, without the cognisance of others, a definite message according to an already understood code.“ 25 Ryle bezieht sich auf Rodins Skulptur Le penseur. 26 Vgl. Ryle (1971b, 484 f.): „There are, of course, alternative possible thick descriptions of what the utterer of the noises might have been trying to do. (…)

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ziehungsweise Zustände kenntlich gemacht, die – wie Selbstverhältnisse oder Nachdenken – dem öffentlich nicht direkt identifizierbaren Bereich des Mentalen angehören. Mit der dichten Beschreibung gelingt es, solche Phänomene in einen unmittelbaren Zusammenhang mit beobachtbarem Sprachverhalten zu bringen. Die dichte Beschreibung thematisiert das, was dem äußeren Beobachter nicht unmittelbar vor Augen steht. Sie macht Entdeckungen im Bereich des gleichsam unsichtbaren Mentalen, der sich im Sprachverhalten immerhin mittelbar ausdrückt. Was sich im Bereich des Mentalen abspielt, lässt sich nicht zuletzt auch an Hand von Dingen ablesen, welche diesem gerade nicht zuzurechnen sind. Dieser Sachverhalt lässt sich an Albrecht Dürers berühmtem Kupferstich Melencolia I ablesen. In ihm wird eine geflügelte Gestalt dargestellt, die sitzend den Kopf auf die Hand stützt27 und sich offenbar in einem Zustand tiefer Nachdenklichkeit befindet – darin gleicht sie Rodins penseur. Die Gestalt ist von einer Vielzahl von Gerätschaften umgeben, die allesamt dem Bereich wissenschaftlicher und handwerklicher Tätigkeiten entstammen.28 Sie geben Hinweise auf die Gedanken, welche die Gestalt haben könnte. Die besondere Anordnung und Natur der Dinge legen nahe, dass sie eine wie auch immer geartete Form des Scheiterns erlebt. Sie hat den Prozess der handwerklichen und wissenschaftlichen Tätigkeiten abgebrochen, weil sie die ursprünglich verfolgten Ziele der epistemischen und praktischen Durchdringung der Welt offenbar nicht erreichen kann. Ihre Haltung in dem Durcheinander der Dinge und Gerätschaften ruft das Bild eines intellektuell vermittelten Zustands der Melancholie hervor. Dürers Darstellung ist für seine Zeit in hohem Maße innovativ, denn sie verleiht dem Zustand der Melancholie, die bis dahin gemeinhin als negative Charaktereigenschaft mit einem Hang zum Wahnsinn aufgefasst worden ist, einen ästhetischen, intellektuellen und existenziellen Sinn. Im Zuge der Verfeinerung des Verständnisses „unsichtbarer“ Innenwelten durch die künstlerische Neubeschreibung Under none of these alternative thick descriptions is what he is doing just voicing some syllables; yet nor is it doing some things do-able separately from that syllable-voicing. The handy umbrella-word ‘saying’ covers a wide variety of different things; the saying may be on any accomplishment-level above the merely phonetic one.“ 27 Diese Haltung ist in der Antike ein typischer Ausdruck von Trauer. 28 Zu den dargestellten Objekten gehören Zirkel, Buch, Waagschale, Sanduhr, Glocke, Schleifstein, Hobel, Säge, Richtscheit, Nägel, Streichmaß, Hammer, Schmelztiegel, Zange, Tintenfass, Holzkugel sowie ein Steinrhomboeder und ein magisches Quadrat.

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menschlichen Verhaltens werden neue Bestimmungen von Reflexion und Nachdenken aufgedeckt.29 Für das Verständnis des Ausdrucks der humanen Lebensform ist Dürers Melencolia I aus dem Grund überaus bedeutungsvoll, weil der Kupferstich mit ästhetischen Mitteln einen Zusammenhang zwischen Haltung und Erlebnisperspektive herstellt. Aus der Anordnung von Dingen ergeben sich Rückschlüsse auf mögliche Bewusstseinszustände der dargestellten Gestalt. In dieser Hinsicht ist Dürers Kupferstich ein Beitrag zur Konstruktion beziehungsweise Rekonstruktion der Innenwelt von Personen. Plausible Interpretationen zum penseur oder zur Melencolia I bewegen sich daher immer schon im Bereich einer dichten Beschreibung von Ausdrucksformen der humanen Lebensform. Mit dem Übergang von der dünnen zur dichten Beschreibung werden der Sache nach die eliminativistischen Theorieszenarien in Richtung auf eine phänomengerechte Erfassung menschlichen Bewusstseins überschritten. Bewusstseinsanalysen, die in der Perspektive der dichten Beschreibung der humanen Lebensform durchgeführt werden, kommen ohne die in traditionellen Ansätzen immer wieder zu findenden Verfahrensweisen der begrifflichen Spekulation und Introspektion aus. Sie verlassen – ungeachtet der Zurückweisung von Eliminationsszenarien – nicht den Bereich beobachtbaren Sprachverhaltens. Ausdrücke für mentale Akte und Zustände erfüllen im Rahmen der dichten Beschreibung Erklärungsfunktionen und treffen noch keine ontologischen Vorentscheidungen. Gleichwohl gestalten die verfeinerten Vokabulare für die Innenwelten von Personen immer schon die humane Lebensform. Der personale Standpunkt ist insofern bei der sukzessiven Veränderung und Weiterentwicklung der Dimension des Mentalen beteiligt. Dieser Sachverhalt kann für die Belange der naturwissenschaftlichen Erfassung menschlichen Bewusstseins nicht folgenlos bleiben. Sie muss nämlich von vornherein als eine Form der produktiven Aneignung der Wirklichkeit – nicht etwa bloß als Aufdeckung gegebener Abhängigkeiten – aufgefasst werden. Wilfrid Sellars hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es – unabhängig von der Zuständigkeit der Naturwissenschaften für ontologische Problemstellungen – nicht darum gehen könne, den personalen Standpunkt dem naturwissenschaftlichen Weltbild anzugleichen. Vielmehr müsse der naturwissenschaftliche Theorierahmen so erweitert werden, dass der personale Standpunkt phänomengerecht in ihn ein29 Siehe Panofsky (1977, 177 ff.); vgl. Schuster (1991).

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gepasst werden kann.30 Die dichte Beschreibung der Selbstverhältnisse und Innenwelten von Personen ist ein Beitrag zu diesem integrativen Projekt, mit dem sich nicht zuletzt auch Lösungswege für das psychophysische Problem verbinden. Die Praxis der Selbstverhältnisse und des Nachdenkens gehört in den Handlungsspielraum von Personen. Sie läuft nach den Regeln des Sprachverhaltens ab und manifestiert sich in der Form von Eingriffen in Ereignisabläufe. Personen können aufgrund der formalen Selbstreferenz des Denkens sich zu ihren mentalen Akten und Zuständen verhalten. Zu diesen Verhaltensmöglichkeiten gehören auch die situationsunabhängigen Prozesse des Nachdenkens. Sie erscheinen vom Blickwinkel einer dünnen Beschreibung der menschlichen Lebensform aus betrachtet zwar oft als Untätigkeit, gleichwohl manifestiert sich mit ihnen die besondere Präsenz des personalen Standpunkts in der Wirklichkeit, mit der sich immer auch ein Spielraum von Handlungsmöglichkeiten im Raum der Ursachen eröffnet. Er ist der ontologische Ort praktischer Übergänge zwischen Bewusstsein, Handlungen und Ereignissen, die für das Leben von Personen, den Akteuren der humanen Lebensform, kennzeichnend sind.

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II. Funktionen des Bewusstseins

Mitteilung als Funktion des Bewusstseins Eine experimentelle Überlegung Volker Gerhardt 1. Alle lebendige Organisation beruht auf der Kooperation ihrer Teile. In einem Organismus sind seine Teile auf natürliche Weise in der dominierenden Funktion temporärer Selbstorganisation im Kontext der Erhaltung und Entfaltung einer Gattung verbunden. Die in der Organisation verbundenen Teile stehen in einem physico-chemischen, sagen wir: in einem biologischen Kooperationszusammenhang. Zur Veranschaulichung dieser physiologischen Wechselwirkung kann man von einem Miteinander der Teile sprechen, von einer Mitteilung im dinglich-realen Zusammenhang. Sie besteht in der kausalen Interdependenz im räumlichen Nebeneinander physisch wirksamer Gegenstände. Sie ist die faktische Grundlage für den Vollzug des Lebens, für den Ablauf des Stoffwechsels und für die materiale Arbeitsteilung. Ohne sie wäre schon die Teilung nicht möglich, geschweige denn die Einheit im lebendigen Effekt der Organisation. Mit-teilung in diesem physischen Sinn ist das Merkmal des belebten Körpers als eines realen Gegenstands. 2. Jeder lebensfähige Organismus, selbst wenn er nur aus einer einzelnen, in sich arbeitsteilig gegliederten Zelle besteht, ist eine Einheit aus unterscheidbaren Teilen, die durch Kooperation verbunden sind. Die Kooperation ist ein Zusammenwirken der Teile, die ihre Leistung in den Lebensprozess des ganzen Organismus einbringen. Man kann den Wirkungszusammenhang als wechselseitige Teilnahme, als Partizipation aller einzelnen Glieder bezeichnen. 3. Partizipation ist der Elementarvorgang des Lebendigen, der erst in Verbindung mit einer erklärtermaßen wechselseitigen Vorstellung eines Ganzen, in das man sich mit seinem eigenen Handeln bewusst integriert, auf ihre höchste Entwicklungsstufe gelangt. So gesehen ist es kein Widerspruch, in der Partizipation einen Grundvorgang alles Lebendigen zu erkennen und darin zugleich das tragende Prinzip der Politik aus-

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zuweisen. Der Unterschied zwischen dem Lebensvorgang und der politischen Tätigkeit kommt durch die Anteilnahme des Bewusstseins und durch den erklärten Einsatz der Individuen im Rahmen eines ausdrücklich vorgestellten Ganzen zustande. Es gehört durchaus zum Thema, wenn ich bemerke, dass die Politik eine Leistung des Bewusstseins ist, durch welche Lebensprozesse auf ein von Menschen zielstrebig organisiertes Niveau gehoben werden. Das Bewusstsein nimmt nicht nur Impulse des Lebens auf, sondern bewegt sich sowohl in seiner eigenen Funktion als auch in seiner Organisation im Rahmen der Strukturvorgaben des Lebens. So wie das Gehirn als Organ des Körpers verstanden werden muss, kann das Bewusstsein als dessen psycho-soziales Organ begriffen werden, das wesentliche Leistungen in der Vermittlung zwischen körperlicher und gesellschaftlicher Organisation erbringt. Diese Leistung besteht, wie im Folgenden gezeigt werden soll, in der Mitteilung. 4. Im Vorgang gegenseitiger Teilnahme liegt Mitteilung (ohne Bindestrich, also im üblichen Verständnis) vor, wenn es spezielle Leistungen gibt, die den Wirkungszusammenhang der einzelnen Teile gewährleisten. Bloße Berührung, die Wechselwirkung von Kräften oder der Austausch von Stoffen müssen als Bedingungen dieser spezifischen Leistung angesehen werden. Die Leistung selbst liegt in der Steuerung der Lebensprozesse eines betroffenen Teils in Abstimmung mit den Lebensvollzügen anderer Teile des Ganzen. Es gibt Mit-teilung in der Form des realen Zusammenwirkens von Kräften und die unter den Bedingungen des Lebens daraus erwachsene Mitteilung, die den Einsatz dieser Kräfte organisiert. Erst eine Leistungen koordinierende Mitteilung erfüllt den begrifflichen Sinn von Mitteilung im üblichen Sinn. Aber es ist von Bedeutung, dass sie auf der organischen Mit-teilung, auf der realen Wechselwirkung physischer Körper basiert. Dadurch wird ein Naturzusammenhang sichtbar, in dem die physikalischen, chemischen und biologischen Prozesse die Basis komplexer gestalteter Zusammenhänge darstellen. Was immer wir als psychische und soziale, als semantische und kognitive Leistung verstehen, muss auf ihnen beruhen. Ob damit kategoriale Differenzen zwischen mechanischen, organischen, psychischen, sozialen und intelligiblen Prozessen verbunden sind, mag offen bleiben. Wichtiger als die Betonung möglicher Differenzen ist die Beschreibung faktischer Übergänge. Die Begründung für diese methodologische Maxime liegt in der Einsicht in den umfassenden

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Zusammenhang der Natur, der auch Gesellschaft und Kultur zugehören. 5. Spätestens dann, wenn sich die Mitteilung als spezifische Leistung für die mögliche Organisation von Kräften selbst in bestimmten, eigens dafür eingesetzten Einheiten erfassen lässt, kann man von Informationen sprechen. Sie steuern die Kooperation der einzelnen Teile im Kontext der Gesamtorganisation und brauchen nicht auf interne Aufgaben beschränkt zu sein. Sie können auch externe Kooperationszusammenhänge zwischen verschiedenen Organismen beeinflussen. Entscheidend ist, dass sie nicht erst in der äußeren Kommunikation zwischen getrennt existierenden Lebewesen zum Einsatz gelangen, sondern bereits in der Regulierung der Lebensprozesse im einzelnen Organismus wirksam werden. 6. In ihrer elementaren Form ist Mitteilung ein internes Geschehen im Binnenbereich eines Organismus. Allerdings ist gleich hinzuzufügen, dass sich jeder Organismus unter den externen Bedingungen seiner Umwelt zu behaupten hat. Mit ihr steht er in einem ihn durchdringenden Kontakt, so wie er unablässig damit beschäftigt ist, auf seine Umgebung einzuwirken. Bereits in der Entstehung eines Organismus gibt es einen Austausch nicht nur von Stoffen, sondern auch von Informationen zwischen dem Organismus der einen Generation und dem aus ihm entstehenden Organismus der nchsten Generation. Die den einzelnen Organismus überschreitende Reproduktion von Materialien und Strukturen wird über Leistungen gesteuert, die sich kaum anders denn als Informationen verstehen lassen. Somit ist die Trennung zwischen innen und außen bereits in der Reproduktion der Gattung überwunden. 7. Ist der intergenerative Zusammenhang zwischen Lebewesen der gleichen Art nicht auf den Akt der Reproduktion beschränkt, kommt es bereits beim Schutz der Brut und vermehrt in Pflege und Aufzucht der Nachkommen zu einer externen Kommunikation zwischen den Angehörigen derselben Art. Ihr geht in der Regel der ebenfalls von Informationen gesteuerte Austausch von Zellen zum Zweck der Vermehrung voraus. In der geschlechtlichen Vermehrung, die mit einer aufwändigen Partnersuche verbunden sein kann, tritt die spezielle Leistung der kommunikativen Steuerung durch Informationen anschaulich hervor. Ihre Bedeutung, das heißt ihre reale Steuerungsleistung wächst mit

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der Komplexität der sozialen Organisation, in der sich die Individuen einer Art befinden. Wo immer man von wechselseitiger Verhaltenssteuerung sprechen kann, beruht die soziale Organisation lebendiger Wesen auf Mitteilung im spezifischen Sinn des Austausches von Informationen. 8. Nimmt man nicht nur die Steuerung interner Prozesse durch Regulierung der beteiligten Organe, sondern auch die Verhaltenssteuerung des ganzen Organismus in den Blick, wird offenkundig, wie hoch der Aufwand interner Mitteilung im Organismus sein muss, damit eine einheitliche Bewegung einzelner Organe und – dies vor allem – des ganzen Organismus zustande kommt. Die Richtungsimpulse haben ihren Ursprung im Organismus, der auch die Kriterien für die Steuerung des Verhaltens vorgibt. Doch er kann mit und in seinem Verhalten nur überleben, wenn er darin und damit auf die externen Bedingungen seiner Umgebung bezogen ist. Er muss den äußeren Bedingungen ebenso genügen wie den Richtwerten seiner eigenen Organisation. Die Abstimmung zwischen Innen und Außen beruht zwar, wie alles in der Natur, auf der Wechselwirkung von Kräften, und, wie alles im Leben, auf dem Austausch von Stoffen. Sie erfolgt im Ganzen wie in seinen Teilen aber über den Austausch von Information. 9. Mitteilung, so lässt sich resümieren, ist die spezifische Bedingung der Einheit lebendiger Vollzge sowohl im Inneren eines Organismus als auch im gattungsspezifischen Außenverhältnis der Individuen. Dass in Wahrnehmung und Ausdruck die Gattungsgrenzen berschritten werden, so dass auch Individuen anderer Spezies in den Informationsfluss einbezogen werden, wird im Verhalten nicht nur von Tieren, sondern auch von Pflanzen offenkundig. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Einsicht, dass die Beziehung des Organismus zu seiner Umwelt sich nicht allein über die Wechselwirkung von Kräften, über den Austausch von Stoffen und die Aufnahme von Informationen reguliert, sondern dass es auch einen wechselseitigen Informationsfluss gibt, der Gattungsgrenzen überschreitet. Mitteilung ist das Medium, in welchem sich die artspezifische Verbindung zum Milieu herstellt. Am Ende ist es die Mitteilung, die eine individuelle Beziehung zwischen Organismus und Umwelt ermöglicht. 10. Die eigenständige Leistung der Information tritt mit der Ausbildung sensorischer Organe anschaulich hervor. Schon die unspezialisierte Haut

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hat eine Empfindlichkeit, die in der Lage ist, die physische Beschaffenheit eines direkten Kontakts an den ganzen Organismus weiter zu geben. In den seltensten Fällen sind Reiz und Reaktion auf die unmittelbar berührte Stelle beschränkt. Gaumen, Nase, Auge und Ohr sind Organe hochspezialisierter Reizbarkeit, die ihre Informationen aus speziellen Medien der Umwelt beziehen. Die das ganze Organ und den ganzen Organismus einbeziehende Wirkung lässt sich aber nicht allein als Folge einer direkten Übertragung der einwirkenden Kräfte erklären. Der Organismus schafft sich ein eigenes System der Übertragung von Kräften, deren Einheiten er ebenso produziert wie deren Übermittlungsinstanzen. Es gibt körpereigene Botenstoffe und – mit höherstufiger Organisation – artspezifische Leitungssysteme, über welche die Information des ganzen Körpers über Ereignisse an bestimmten gereizten Körperstellen weiter gegeben wird. Die körperinterne Mitteilung erfolgt durch Arbeitsteilung, dadurch dass besondere Stoffe als Indikatoren für Veränderungen zum Einsatz kommen. Mit dem Nervensystem baut der Organismus eigene Organe nur für den Zweck der Mitteilung auf. 11. Zur Mitteilung gehört schon auf der elementaren Ebene der Physiologie die Rückwirkung auf den Ausgangspunkt der Einflussnahme. So setzt schon die einfache sinnliche Empfindung einen Reiz in eine Mitteilung für den ganzen Organismus um. Sinnesorgane wie Nase, Gaumen, Auge oder Ohr lassen sich als Informationsgeneratoren begreifen, die dem Organismus eine ihn als Ganzen betreffende Verhaltenssteuerung erlauben. In ihr wirken innere und äußere Konditionen zusammen, um einen internen Selbstbezug der Organe eines Organismus mit äußeren Veränderungen zu koordinieren. 12. In der Leistung von Informationen kommt es zu einer offenkundigen Differenz zwischen den die Informationen tragenden stofflichen Elementen und den durch sie bewirkten Leistungen. Es ist dies eine Differenz, die strukturell bereits im realen Zusammenwirken der Teile in einem Organismus hervortritt. Denn im Ganzen der lebendigen Organisation kommt ein berschuss zum Tragen, der in dem (bereits in der Tatsache der Lebendigkeit offenbar werdenden) Erfolg zu Tage tritt. Da dieser im Ganzen liegende Bewegungs-, Handlungs- und Bedeutungsüberschuss immer wieder unter Ideologieverdacht gestellt wird, mag es genügen, die funktionale Differenzierung von materialen Dingen und ihrem in faktischen Steuerungsleistungen erbrachten Sinn am

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unverdächtigen Beispiel der Information kenntlich zu machen. Was immer eine Information auch sein oder besagen mag: Ihre Mitteilungsleistung ist mehr als das materielle Substrat, das sie trägt. Hier haben wir in der einfachsten Form den Unterschied, der traditionell als Differenz zwischen Körper und Seele oder zwischen stofflichem Geschehen und Bewusstsein angesehen wird. Die Mitteilung im strikten Sinn erbringt eine andere funktionelle Leistung als die Mit-teilung im realen physischen Zusammenhang. Ihre Wirkung ist auf die organischen, sozialen und – schließlich auch auf die – semantischen Einheiten bezogen, die der Leistungs- und Verhaltenssteuerung bedürfen, um überhaupt in ihren jeweiligen Bezügen überleben zu können. Die physische Mit-teilung bringt kausale Folgen hervor, die biologische Mitteilung reguliert Lebensprozesse in ihrer Einheit und hat von daher ihr – stets auf ein Ganzes (und damit auf einen Kontext) bezogenes – semantisches Potential. 13. Die Pointe des hier gewählten Beschreibungszugangs liegt darin, die Eigenart des Bewusstseins nicht erst dort zu suchen, wo es schon als entwickelte und entfaltete Wachheit und Aufmerksamkeit, somit als Selbstbewusstsein, auftritt. Die mit und im Bewusstsein artikulierte Differenz zwischen geistigen und materiellen Vorgängen gibt es längst vor dem natur- und kulturgeschichtlichen Auftritt des menschlichen Selbstbewusstseins. In der Form der so genannten Botenstoffe haben bereits die niederen Organismen, ja, bereits die auf Arbeitsteilung basierenden Leistungen der einzelnen Zelle, spezialisierte Mechanismen der Mitteilung. Trotz gegebener Entfernung realisieren die funktional verbundenen Elemente einen Kontakt, der koordinierte Effekte ermöglicht; sie erlauben gleichzeitige oder gleichgerichtete Reaktionen selbst unter der Bedingung eines größeren räumlichen Abstands. Mitteilung macht es möglich, dass die Einheit eines Lebensvorgangs auch bei räumlicher Distanz der Organe gewahrt werden kann. 14. Der wichtigste Schritt zur Erhellung der Funktion des Bewusstseins könnte schon in der Aufklärung der Tatsache liegen, dass es innerhalb des Organismus spezialisierte Organe für die internen Leitungs- und Steuerungsaufgaben gibt. Wenn ich mit Blick auf die Freiheit behaupte, dass der Vollzug des Lebens das größere Problem darstellt, kann ich mit Blick auf die Funktionen des Bewusstseins feststellen, dass uns die Existenz des Nervensystems – und damit auch die Tatsache unseres Gehirns – Fragen von grundlegenderer Bedeutung aufgibt.

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Diese Fragen lauten: Was macht die Kommunikation in einem Organismus nötig? Was macht sie möglich? Was macht sie derart dringlich, dass der Organismus eigene Organe ausbildet, um Mitteilung in seiner internen Organisation zu ermöglichen? Wenn wir genauer sagen könnten, wozu das Gehirn gebraucht wird, hätten wir eine Basis für die Klärung der Lebensleistung des Bewusstseins. 15. Die bis zu diesem Punkt skizzierte experimentelle Antwort kann man wie folgt zusammenfassen: Die biologische Organisation schafft Einheiten und Einheiten von Einheiten, die in sich und unter einander koordiniert werden müssen. Dazu reicht der physische Mechanismus nicht aus. Doch aus dem Prozess der organischen Selbststeuerung steht ein darüber hinaus gehender Mechanismus autopoietischer Antizipation und Rückkoppelung zur Verfügung, der die erforderlichen Koordinations- und Kooperationseffekte erzielt. Ihn können wir in Anlehnung an den Vorgang semantischer Kommunikation mit besonderem Recht als Mitteilung bezeichnen. Seine Eigenart besteht aber nicht in einem semantischen Status, nicht in einer vorab festliegenden methodologischen Qualität, sondern allein in den durch ihn erzielten Effekten. In ihrer funktionalen Organisation geht die Mitteilung nicht über den Prozess der Selbstorganisation, aus dem der Lebensprozess besteht, hinaus. Auch der Geist ist ein Fall von Selbstorganisation, die sich freilich nicht auf die Physiologie des einzelnen Körpers und auch nicht auf die Soziobiologie einer Gattung beschränkt. Er bezieht die von ihm konstituierte Sphre sachhaltiger Weltbezge mit ein. Durch den Geist, so könnte man sagen, weitet sich die Selbstorganisation des Lebendigen in die Sphäre der ffentlichkeit. Die Intellektualität oder Spiritualität der bewussten Mitteilungen liegt somit nicht in der kategorialen Besonderheit der nur ihr eigenen Prozesse, sondern sie folgt vielmehr aus der Art der Einheiten, in denen sie sich vollzieht und auf die sie sich bezieht. Es ist allein die in spezifischen Kontexten erbrachte Leistung, aus der sich die Qualifikation dieser Art von Mitteilung ergibt. 16. Alles hängt daran, die Mechanik und Organik von Ganzheiten zu verstehen, aus denen heraus wir leben. Es sind die Ganzheiten, die wir sind und die wir vorfinden. Nach ihrer Logik gehen wir über uns hinaus. Im Bezug auf sie, sind wir in der Lage, etwas zu verstehen. Damit verstehen wir das, was den Vollzügen unserer eigenen, auf anderes vor Anderen ausgreifenden Organisation entspricht.

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Gesetzt wir fänden eine Antwort auf die Frage, warum ein Organismus Botenstoffe, Nervenbahnen oder ein Gehirn benötigt, brauchten wir eigentlich nur zu sagen, was auf der Ebene der bewussten Kommunikation eigenständiger Individuen jener Einheit des Organismus entspricht, die eine bewusste Mitteilung erforderlich macht – und schon hätten wir zumindest eine Hypothese über die Funktion des Bewusstseins. Es ist das individuelle Organ für die sach- und welthaltigen Mitteilungen, die eine auf dem Einsatz eigenständiger Techniken basierende Gesellschaft benötigt, um sich erhalten und entfalten zu können. Zur Erläuterung können wir von der intraorganischen Mitteilung sagen, dass sie ein koordiniertes Gesamtverhalten des Organismus möglich macht, obgleich er aus unzähligen einzelnen Zellen und einer Vielzahl von Organen besteht, die jeweils spezifische Aufgaben nach durchaus eigenem Rhythmus erledigen. Solange ein Organismus nicht unter extremem Zeitdruck steht und keine auf Flucht oder Angriff ausgerichteten Ortbewegungen vollführen muss, kann er es in der Selbstorganisation seiner Prozesse bei der Ausschüttung von Hormonen belassen. Sind aber nicht nur schnelle Reaktionen in einem beweglichen Umfeld vonnöten, sondern gibt es eine Vielzahl beteiligter interner Bewegungsvollzüge in einer hochgradig differenzierten physiologischen Organisation, die ebenso strukturierten Artgenossen korrespondiert, ist, wie es scheint, eine spezifische Reiz-Reaktionsleitung von Vorteil. Über sie verständigt sich der Organismus mit allen seinen Teilen unter der Prämisse des Erhalts seiner eigenen Organisation. 17. Mitteilung im sozialen Feld ist offenbar nicht nur an die Einheitsbedingung des Organismus geknüpft. Sie scheint ein funktionales Gebot artspezifischer Einheiten zu realisieren. Das maßgebliche soziale Ganze ist im Allgemeinen die Gattung und im Besonderen die aktuell verhaltensaktive Population, nicht selten wohl auch nur eine durch Nähe und wechselseitigen Schutz gekennzeichnete Gruppe. Mitteilung ist dann mit den artspezifischen Mitteln des Geruchs, der Gebärde, des Lauts oder des Gesichts vornehmlich auf die Verständigung im Stamm, in der Familie, im Schwarm oder im Rudel bezogen. In der sozialen Gruppe hat man statt der kommunizierenden Organe in einem (biologisch geschlossenen) Organismus mit sich selbst organisierenden Individuen zu rechnen, die in der ihnen eigenen relativen Selbständigkeit mit ihresgleichen in Verbindung stehen und in dieser Verbindung offenbar ebenfalls vor Mitteilungsproblemen stehen, die sie

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nicht allein durch direkten körperlichen Kontakt bewältigen können. Die biologische Einheit der sozialen Körperschaft besteht hier in der Gegenwart von Individuen derselben Gattung, deren Erhaltung und Entfaltung gefördert werden kann, wenn die Individuen aktuell derart in Verbindung stehen, dass ein koordiniertes Verhalten möglich wird. Es geht auch hier um den Effekt der Steuerung, in dem die Mitteilung ihr Spezifikum findet. Der soziale Zusammenhang der Individuen ist durch den Konnex der Gattung vorgegeben, wird aber durch ihn nicht hinreichend bestimmt, weil aktuelle Gegebenheiten wie die Prsenz der in Reichweite lebenden Individuen und der niemals bloß physisch gegebene Komplex und Effekt von Verhaltensweisen hinzukommen. Die Einheit liegt im Effekt der Sicherung einer Lebensform durch die beteiligten Individuen einer Gattung. Diese Leistung verlangt die Bewältigung vielfältiger aktueller Einzelprobleme, die sich im Vollzug der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung stellen. 18. Eine neue Dimension tut sich erst mit der sozial koordinierten Integration eigens ausgewählter Gegenstände in den Prozess kollektiver Lebensbewältigung auf. Wenn es gilt, die vorgefundenen Steine, Stöcke, Knochen, Muschelschalen oder Felle nicht nur angelegentlich zu nutzen, sondern sie nach Erkundung ihrer Beschaffenheit sachgemäß und wiederholt in Gebrauch zu nehmen, wenn der Einsatz derartiger Gegenstände eine ihre Besonderheit berücksichtigende Verhaltenskoordination erfordert, wenn Lernprozesse für den sachgemäßen Umgang nötig sind usw. usf., dann ist eine Verstndigung nötig, die nicht nur auf den Austausch von Ausdruck und Eindruck beschränkt bleiben kann, sondern Aufmerksamkeit auf exakt die gleichen sachlichen Gegebenheiten erfordert. Das gilt vor allem dann, wenn die Lernprozesse Generationen übergreifende, kollektive Aktivitäten nötig machen und wenn die in Gebrauch befindlichen Gegenstände mit der Zeit zu größerer Leistungsfähigkeit entwickelt werden. Es ist die Technik, die auf diese Weise Einzug in den Lebenszusammenhang der menschlichen Gattung findet. Bei keiner anderen Spezies spielt die Technik eine so große Rolle wie beim Menschen. Man kann sie als eine Auslagerung der Techniken des Lebens verstehen, derer sich der Organismus in allen seinen Vollzügen ohnehin bedient. Durch die Auslagerung stehen sie dem instrumentellen Zugriff vieler Individuen zur Verfügung. Ihre Werkzeuge und Erzeugnisse werden zu geschaffenen Teilen der Umwelt, durch die sich die sie

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einsetzenden Individuen unter verstrkte Anpassungsforderungen stellen. Die haben allein dadurch eine neue Qualität, weil sie Angleichung an etwas verlangen, was der Mensch selbst hervorgebracht hat und weil sie eine erstmals im Leben direkt erfahrbare Verbesserung eigener Lebensleistungen ermöglichen. Es ist die Chance zur erkennbaren sachlichen Auszeichnung einzelner Leistungen, die den Menschen unter den von ihm selbst erzeugten technischen Konditionen paradoxerweise unter einen erhçhten Gleichheitsanspruch stellt. Kurz: Es ist die Technik, mit der sich der Mensch herausfordert, qualitativ über die Sphäre der gegebenen Lebensprozesse hinauszugehen. Er nötigt sich selbst, sich der von ihm (wie beim Feuer) ausdrücklich gesicherten oder (wie bei den Waffen) zielstrebig hergestellten Gegenstandssphäre zu stellen. Dabei gleicht er sich den sich gleich bleibenden Objekten an und richtet sich im Gebrauch seiner Techniken nicht nur in einer präziseren Weise nach der Natur, sondern er passt sich auch selbst dem gleichförmigen Gebrauch seiner Instrumente an. So richtet er nicht nur die Naturgegenstände auf die Ziele einer konformen Verwendung zu, sondern macht sich seinen eigenen gleich gemachten Produkten gleich. Damit wird die Mitteilung fähig, sich auf Sachverhalte zu beziehen, an deren Zustandekommen der Mensch durch bewusste Einübung in immer die gleichen Verrichtungen mitgewirkt hat. Auf diese im Objekt und in ihm selbst liegenden Gleichheitskonditionen hat er sich durch sachkonforme Normierung seiner Kommunikation einzustellen. Diese Mitteilung vollzieht sich in der Sphre der Objektivitt. 19. Der im Rahmen der Bewusstseinstheorien vorherrschende Terminus für die nicht mehr bloß physiologisch und auch nicht mehr bloß soziobiologisch wirksame, den Menschen durch Eigenleistungen umspannende Einheit, ist der der Kultur. Er erscheint in manchen Texten wie ein Schibboleth, das alle offenen Fragen der Sprach- und Bewusstseinstheorien wie von selbst zu klären verspricht, weil die Kultur die im Medium des Verstehens vom Menschen selbst geschaffene Sphäre ist. Doch der Begriff der Kultur ist nicht weniger erklärungsbedürftig als der der Natur oder der des Lebens. Man hat auch beim Begriff der Kultur nur wenig gewonnen, wenn man es bei seiner Abgrenzung von einem vermeintlichen Gegenbegriff belässt. Wenn man aber versucht, den Kulturbegriff primär auf das Verstndnis zu gründen, wie das mit dem Bezug auf die Sprache oder den Symbolgebrauch geschieht, hat man zu

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bedenken, dass dabei ein Vorverständnis unserer eigenen Natur unabdingbar ist. Ein Erkenntnisgewinn ist mit dem Begriff der Kultur erst dann zu verzeichnen, wenn man das technische Fundament menschlicher Kulturleistungen exponiert. Sprache und Symbole lassen sich in ihren Leistungen nur erfassen, wenn man sie selbst als Techniken versteht, über die der Mensch zunehmend verfügt und in deren Gebrauch sich seine Entwicklung vollzieht. Beide setzen eine Gegenstandswelt voraus, deren Bedingungen sich wohl nur dann auch durch Sprache und andere symbolische Leistungen erhellen lassen, wenn man sie in die Konstitution dieser Welt durch Gert, sachlich koordinierte Leistung und methodisches Lernen einbindet. – Das wird in den nachfolgenden Punkten noch ein wenig anschaulicher gemacht. 20. Es ist wesentlich die von unmittelbarem Arbeitsaufwand entlastende, ihm zugleich aber ein unendlich weites Feld neuer Arbeiten eröffnende Leistung der Technik, die den Menschen von der Unmittelbarkeit der Naturbezüge freisetzt. Sie erlaubt ihm die Distanz der Beobachtung, ermöglicht einen nach Kriterien der Angemessenheit und des Ertrags geregelten Gebrauch und befähigt ihn zum eigenständigen Nachvollzug der die lebendige Natur beherrschende Prozession von Mitteln zu Zwecken – die selbst immer wieder zu Mitteln werden. Der bewusste Einsatz von Mitteln zu erkannten Zwecken macht es möglich, sogar funktionale Abhngigkeiten von Dingen und Personen herzustellen. Erst dadurch werden kulturelle Rume eröffnet, in denen Dinge, Verhaltensweisen, Einrichtungen und nach Rollen bewertete Personen ihren nach Zwecken geordneten Platz einnehmen können. In der Technik liegt die Nötigung, die nach einheitlichen Regeln geschaffenen Werkzeuge auf einheitliche Weise zu gebrauchen; bei der Jagd, in der Viehzucht oder beim Hausbau, bei der Zubereitung der Nahrung, der Herstellung von Kleidung oder von Waffen setzen sie Regeln für ein durchschnittlich gleichförmiges Verhalten. Das wiederum erhöht den Lernaufwand der Individuen beträchtlich und macht Arbeitsteilung nötig, die den Einzelnen zum Organ gesellschaftlicher Arbeit macht. 21. Dass sich der Mensch in der Kultur in seinem eigenen Leistungsraum bewegt, kann nicht bestritten werden. Aber die Antwort auf die Frage, woher die in ihm mögliche Verbindlichkeit stammt, die der Logik der Gattung folgt und die der Einheit des Organismus entsprechen können

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sollte, liegt nicht auf der Hand. Nach meinem Urteil lässt sie sich nur fassen, wenn man die technischen Leistungen des Menschen ernster nimmt. Denn in ihnen expandiert die physische Organisation des menschlichen Individuums über seine gegebenen körperlichen Grenzen hinaus. Dabei strukturiert sie den mit seinesgleichen geteilten sozialen Raum, in dem sie unabhängig von der Verfügung durch einen einzigen individuellen Träger wird. Im Zuge der technischen Selbsteinbindung des Menschen in die von ihm zunehmend als Gegenstandsfeld oder mit Dingen gefüllten Raum begriffene Welt werden auch die sozialen Beziehungen technikanalogen Bestimmungen unterworfen. Es ist die Arbeitsteilung – also ein durch und durch technisch kalkuliertes Instrument –, die zur Gliederung der zwischenmenschlichen Beziehungen ausgebildet und später auch zunehmend bewusst eingesetzt wird. Arbeitsteilung beherrscht nicht nur die Dienstleistungsstruktur im engeren Sinn. Sie hat dominierenden Einfluss auf die Rollenverteilung der Geschlechter und der Generationen. Sie ist auch in der Unterscheidung der Großbereiche von Religion, Kunst, Politik und Wissenschaft wirksam. In der Politik werden Arbeits- und Gewaltenteilung zur institutionell geprägten Form gesamtgesellschaftlicher Organisation. 22. Die von der Natur durch die Differenzierung der Geschlechter oder durch den Unterschied in Alter und Arbeitskraft sowie durch individualisierende Bindung an Raum und Zeit begünstigte Rollenverteilung, die sich im Kontext sozialer Gruppen bereits institutionell verfestigen kann, gelangt unter dem Einfluss der Technik zu einer schier unendlichen Vielfalt. Sie erhöht den Bedarf an Mitteilungen über die bestehenden Unterschiede hinweg, setzt aber eben dabei eine basale Einheit in den Erwartungen und Bedürfnissen der beteiligten Individuen voraus. Die Einheit liegt in der trotz aller Unterschiede gewollten kulturellen Lebensform, die selbst auf Techniken beruht, aber von natürlichen Kräften und von Naturbedürfnissen getragen ist. Der die Lebensform tragende Akteur ist das seiner selbst bewusste Individuum. Deshalb ist Bewusstsein auch immer Selbstbewusstsein. 23. Technik ist selbst in ihren sublimen Formen einer Artikulations-, Mnemo- oder Forschungstechnik an die physico-chemischen Konditionen des menschlichen Körpers gebunden, schafft zugleich aber eine Verbindlichkeit des interindividuellen Gebrauchs, der uns noch am ehesten kenntlich macht, woraus die verselbständigten Zwänge des sozialen

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Umgangs entstehen und was unter deren möglicher Einheit zu verstehen ist: Es ist, wie beim Organismus, die Einheit einer in ihren Effekten hervortretenden Organisation, die durch einheitsstiftende, koordinierende Impulse gesteuert werden muss. Wie bei der Mitteilung innerhalb des Organismus geht es bei der sozialen Kommunikation um Verhaltensregulierung. Der Prozess der Lebenssteuerung ist das Ziel aller Organisation. Ihm dient auch die Mitteilung innerhalb und außerhalb des Organismus. Steuerung aber ist nur möglich, wo Einheiten auf Einheiten Einfluss nehmen. In allen Fällen müssen sich Ganzheiten ursprünglich aus sich heraus bewegen. Es gibt Anlass zu der Vermutung, dass dies in aller Kommunikation so bleibt, denn letztlich können die steuernden Instrumente nur als Organe einer umfassenden Einheit verstanden werden. Die theoretische Übermacht holistischer Annahmen spricht für diese Annahme. Auch wenn einzelne Individuen über andere Individuen verfügen, gelingt ihnen dies nur im Rückgriff auf eine Ganzheit, die sich in den Instrumenten der Verfügung spiegelt. Jedes einzelne Mittel ist nur wirksam, wenn es den Zweckzusammenhang des Ganzen reprsentiert. Partizipation ist auch hier der alles durchwirkende Vorgang. Das gilt nicht nur für den physiologischen, sondern auch für den sozialen Zusammenhang, der darin seine eminente Bindung an das Leben zu erkennen gibt. 24. Tatsächlich ist es die soziale Organisation, die (wie zwischen den Organen eines Organismus) Mitteilung nçtig macht, wenn das komplexe Ganze, unter dessen Bedingungen die Individuen nach Selbsterhaltung streben, sich aus eigener Kraft erhalten können soll. Die Erhaltung des Ganzen sichert, wie es im Organismus mit seinen Organen geschieht, dass die einzelnen Individuen auf dem Niveau ihrer Lebensform nicht verfallen oder versagen müssen. In ihr werden die möglichen Leistungen des Einzelnen mit den realen oder vorgestellten Ansprüchen eines Ganzen vermittelt, was erklärt, dass – unter den Bedingungen menschlicher Kommunikation, deren Organe letztlich immer eigenständige Individuen sind, obgleich die Kommunikation ein Organ des Ganzen ist – alles Bewusstsein notwendig auf Sachverhalte bezogenes Selbstbewusstsein ist. Denn in der Mitteilung ist ein sich seiner Möglichkeiten irgendwie gewisses Individuum ursprünglich auf seinesgleichen gerichtet, dem es sich mitteilt. Wenn dies eine Mitteilung unter faktischen oder virtuellen Distanzbedingungen ist, muss sie sich auf etwas beziehen, worin das sich

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mitteilende Selbst mit seinesgleichen so verbunden ist, dass sich alle, die in die Mitteilung eingebunden sind, gemeinsam auf das wirkliche oder das mögliche Ganze beziehen, dem sie zugehören. Eben das ist in jedem Sachverhalt gegeben, der qua Sachverhalt stets ein Teil einer Ordnung ist, dem auch die kommunizierenden Individuen zugehören müssen, wenn er (als Sachverhalt) sie überhaupt etwas angehen soll. 25. Im Ansatz ist damit eine zwar auf physischen und biotischen Prozessen basierende, aber in ihrer Logik eigenständige Form der Mitteilung beschrieben, die im Interesse von Individuen liegt, die sich als Teile in einem kulturellen Ganzen begreifen. Die Schwierigkeit der weiteren Beschreibung liegt darin, dass bereits dieses Begreifen als eine Form der Mitteilung begriffen werden muss. Denn es gehört zur Logik einer über Sachverhalte vermittelten und auf seinesgleichen bezogenen Mitteilung, dass sie auch dem sich mitteilenden Selbst gegenwärtig sein muss. Man kann daher die von eigenständigen Individuen unter soziotechnischen Bedingungen geleistete Mitteilung als die einsichtige Form der Mitteilung begreifen. Es spricht nichts dagegen, sie als mentalen Akt zu verstehen, sobald in ihr ein Lebensimpuls wirksam ist und als Absicht zu Bewusstsein kommt. Zu den Mitteilungen gehören übrigens auch die Gefhle, die im Binnen- wie im Außenverhältnis von Personen wesentliche epistemische Funktionen erfüllen. Auch hier greift die Vermutung, dass, wie beim Selbstbewusstsein, die nach außen gerichtete soziale Signalfunktion der inneren Wahrnehmungsleistung vorausgeht. Mitteilung ist nicht nur der gesprochene Satz, der gedruckte Buchstabe, das eingeritzte Zeichen oder das gemalte Bild. Mitteilung liegt auch im Lächeln oder in der aufsteigenden Röte im Gesicht. Der Unterschied liegt allein im „Subjekt“, das hier jeweils spricht. Die Gesamtbefindlichkeit eines Körpers kann unabhängig vom Bewusstsein zum Ausdruck kommen und gleichwohl einen eminenten Mitteilungswert haben. Die ausdrückliche Mitteilung durch (instrumentell gesetzte) Zeichen hat nur den Vorteil, den ausdrücklich technisch vermittelten Umweg über Sachverhalte zu machen. In diesem impliziten Weltbezug spricht ein selbstbewusstes Subjekt immer auch als Teil der Welt, in der es sich erkennt und in der es sich zu bewähren hat. Im sich bewusst mitteilenden Individuum kommt somit nicht nur dieses selbst, sondern auch seine Welt zur Sprache.

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26. Es ist noch viel zu tun, um auch das Einsehen, Denken, Begreifen und Verstehen als Formen der Mitteilung kennzeichnen zu können. Vielleicht aber reicht die Skizze aus, um wenigstens erahnen zu lassen, was ich meine, wenn ich sage, Bewusstsein selbst ist wesentlich die individuell erlebte Gegenwart der Mitteilung, eine Prsenz, ohne die keine Mitteilung der gemeinten Art möglich wäre. In einer bewussten Verfassung zu sein heißt also, im Status der Mitteilung zu sein. Wer etwas im Bewusstsein hat, der teilt es sich damit in einer Weise mit, die prinzipiell auch anderen, mit denen er in einem Sach- oder Weltzusammenhang lebt, verständlich ist. Bereits im Selbstbewusstsein ist der Mensch außer sich. Indem er bewusst bei sich selber ist, ist er immer schon bei seinesgleichen, von denen er nur wissen kann, sofern er sich mit ihnen den Bezug auf Dinge und Ereignisse teilt. Die Gegenwart dieser Teilung ist Bewusstsein, das damit immer schon Mitteilung ist. Eine Mitteilung, die der Sache nach immer auch die der Welt ist, in der das Individuum sich versteht.

Bewusstsein als Korrektiv Alexandra M. Freund/Klaus Oberauer Die zentrale These dieses Beitrages ist, dass eine Funktion von Bewusstsein darin besteht, als Korrektiv von automatischen Kognitionen und Verhaltensweisen zu wirken, wenn diese gestört werden oder nicht angemessen sind. Meist werden uns diejenigen internen oder externen Aspekte der Welt bewusst, die automatische Prozesse stören, verhindern oder dysfunktional machen. Bewusstsein setzt also ein, wenn es einen Konflikt gibt zwischen den automatisch ablaufenden Verhaltensabfolgen und den situativen Gegebenheiten oder den jeweiligen Zielen einer Person. Mit Korrektiv ist gemeint, dass die mit dem Bewusstsein einhergehende Kontrollierbarkeit von Verhalten es Personen ermöglicht, ihr Verhalten an die situativen Gegebenheiten und ihre Ziele anzupassen. Die Alternativ-These besteht darin, dass Bewusstsein lediglich ein Epiphänomen von korrektiven Kontrollprozessen darstellt, selbst jedoch keinerlei Funktion besitzt. Um zwischen diesen beiden Modellen auf einer empirisch-psychologischen Ebene entscheiden zu können, wird in der Psychologie experimentell getestet, ob sich Verhalten in Abhängigkeit davon unterscheidet, ob sich eine Personen eines bestimmten Stimulus und/oder Verhaltens bewusst ist. Hierzu werden beispielhaft ausgewählte empirische Studien referiert, die als indirekter Beleg für die These von Bewusstsein als Korrektiv angesehen werden können.

Erforschung von Bewusstsein in der Psychologie Wie kann in der Psychologie Bewusstsein erforscht werden? Eine nahe liegende Herangehensweise ist, Personen um eine Mitteilung darüber zu bitten, ob sie etwas bewusst erleben. Diese Herangehensweise ist für die Untersuchung der Inhalte des Geistes (z. B. Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle) durchaus üblich und sinnvoll. Wir können eine Person fragen, welches Wort sie auf einem Computerbildschirm gesehen hat, und wenn sie das Wort richtig angeben kann, können wir schließen, dass sie das Wort tatsächlich wahrgenommen hat – anders

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wäre ihr Verhalten kaum zu erklären. Was eine Person uns mitteilt, gibt uns also einen empirischen Zugang zu den Inhalten ihrer Kognition, aber können wir in gleicher Weise auch Auskunft darüber bekommen, ob eine Wahrnehmung, ein Gedanke, ein Gefühl bewusst ist? Der Begriff des Bewusstseins impliziert eine bestimmte subjektive Erlebensqualitt, die mit einer Wahrnehmung, einem Gefühl oder einem Gedanken einhergeht. Diese Erlebensqualität ist von außen prinzipiell nicht beobachtbar. Wenn eine Person sagt, sie habe das Wort „Philosophie“ bewusst gesehen, können wir daraus schließen, dass sie eine Repräsentation des Wortes hatte (und auch, dass sie eine Repräsentation der Aussage: „Ich habe dieses Wort bewusst gesehen“ hatte), aber nicht, dass diese Repräsentation tatsächlich von der subjektiven Qualität des Bewusstseins begleitet war. Dieselbe Repräsentation ohne Bewusstsein hätte dasselbe Verhalten, dieselbe Mitteilung hervorgebracht, und daher eröffnet das beobachtbare Verhalten keinen empirischen Zugang zu der subjektiven Qualität mentaler Zustände. In der Philosophie des Bewusstseins wird häufig unterschieden zwischen phänomenalem Bewusstsein einerseits und Zugriffsbewusstsein (Block 1995) oder psychologischem Bewusstsein (Chalmers 1996) andererseits. Phänomenales Bewusstsein bezieht sich auf die subjektive Erlebensqualität mentaler Zustände (z. B. Wahrnehmungen, Gefühle oder Gedanken). Zugriffs- oder psychologisches Bewusstsein ist definiert durch die kausale Rolle, die ein bewusster Zustand für mentale Prozesse und Verhalten hat. Das oben angesprochene Problem der fehlenden empirischen Indikatoren für Bewusstsein betrifft das phänomenale Bewusstsein. Die empirische Psychologie des Bewusstseins ignoriert dieses Problem weitgehend. In der Forschungspraxis wird Bewusstsein in der Regel durch Mitteilbarkeit operationalisiert. Ein Gedanke oder Gefühl gilt dann als bewusst, wenn eine Person darüber Auskunft geben kann. Dies kann verbal oder non-verbal sein (z. B. Knopfdruck beim Erkennen eines bestimmten Stimulus). Eine Mitteilung kann von außen beobachtet werden und ist damit der intersubjektiven Überprüfbarkeit zugänglich. Diese Operationalisierung bezieht sich (oft implizit) auf das Zugriffs- oder psychologische Bewusstsein, weil ein mentaler Zustand dann und nur dann mitteilbar ist, wenn er kausal Einfluss auf das Verhalten hat, das wir als Mitteilung interpretieren. Die Psychologie beschränkt sich notwendigerweise auf die Erforschung dieser Art des Bewusstseins, da das phänomenale Bewusstsein grundsätzlich einer intersubjektiven, empirischen Untersuchung nicht zugänglich ist.

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Ein Problem des Mitteilbarkeitskriteriums besteht darin, dass die Mitteilung von Bewusstseinsinhalten der subjektiven Einschätzung von „Bewusstheit“ unterliegt. Man weiß nicht, welche Kriterien eine Person anlegt, um Bewusstheit bei sich festzustellen. Subjektive Berichte von Bewusstheit reflektieren daher neben dem mentalen Zustand, über den berichtet wird, auch die naiven Theorien von Bewusstheit und welche Phänomene hierfür indikativ seien. Zum Beispiel kann man ein Wort nur wenige Millisekunden darbieten (gefolgt von einer visuellen Maske, die das so genannte Nachbild löscht) und die Person dann fragen, ob sie das Wort bewusst wahrgenommen hat. Manche würden vielleicht den vagen Eindruck von Buchstabenfragmenten als bewusste Wahrnehmung des Wortes auffassen, während für andere dies nicht ausreichend wäre. Als eine Lösung dieses Problems wurde vorgeschlagen, Personen zwischen Situationen diskriminieren zu lassen, in denen ein Stimulus dargeboten wurde, und solchen, in denen kein Stimulus gezeigt wurde (z. B. nur die visuelle Maske ohne vorangehendes Wort). Verhaltenskriterium für Bewusstsein ist dann eine Diskriminationsleistung, die über der Ratewahrscheinlichkeit liegt. Allerdings hat man hier letztendlich dasselbe Problem, nämlich dass Personen unterschiedliche Kriterien anlegen, um zu bestimmen, ob sie etwas wahrgenommen haben oder nicht. Daher ist der Königsweg nach Merikle und Daneman (1998) zu zeigen, dass Stimuli, von denen eine Person in Wort oder Tat angibt, sie nicht bewusst wahrgenommen zu haben, eine andere psychologische Wirkung haben als solche, die bewusst wahrgenommen wurden. Dies wird in der Psychologie als Dissoziation bezeichnet. Hierauf gehen wir später noch genauer ein. Ein weiteres Problem bei dem Kriterium der Mitteilbarkeit ist, dass es, gemessen an unserem intuitiven Verständnis von Bewusstsein, zu inklusiv ist. Bei einem als Mitteilung interpretierten Verhalten kann es sich um ein rein reflexhaftes oder programmiertes Verhalten handeln. So würde man beispielsweise einem Lichtsensor, der so programmiert ist, dass beim Lichteinfall ein Sprachsynthesizer mit dem Wort „Licht“ reagiert, kein Bewusstsein zuschreiben (vgl. Block 1981, für eine ausführliche Diskussion in Bezug auf das Bestehen des Turing-Testes und die Zuschreibung von Intelligenz). Ein auf Menschen bezogenes Beispiel ist, dass eine Person, die per klassischer Konditionierung darauf trainiert wurde, auf einen Glockenschlag mit Lidschlag zu reagieren, den Glockenschlag nicht bewusst wahrzunehmen braucht, um mit einem Lidschlag zu reagieren. Zwar handelt es sich dabei ganz eindeutig um eine Reaktion auf den Glockenschlag, die man als Mitteilung über

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die Wahrnehmung des Glockentons interpretieren kann. Dennoch würde dies kaum jemanden davon überzeugen, dass die Person den Glockenton bewusst wahrnimmt. Wenn die Person jedoch wahlweise auf den Ton auch mit Handheben oder der Äußerung des Wortes „Glocke“ reagieren kann, so wäre dies ein stärkeres Argument für die Zuschreibung vom Bewusstsein des Glockentons. Wir schlagen daher als in der Psychologie gebräuchliche Arbeitsdefinition von Bewusstsein vor, dass ein Organismus Freiheitsgrade in seiner Reaktion auf bestimmte (innere oder äußere) Reize hat, die er beispielsweise dazu nutzen kann, einen Reiz in verschiedener Weise mitzuteilen. Was heißt es, Freiheitsgrade in der Reaktion auf Reize zu haben? In Übereinstimmung mit Bieri (2001) fassen wir Freiheitsgrade nicht als das Freisein von kausaler Determination auf, sondern so, dass die Reaktion auf einen Reiz durch außerhalb der Repräsentation des Reizes liegende, andere Repräsentationen moderiert wird (z. B. das Ziel, die Wahrnehmung des Stimulus „Glockenschlag“ mit dem Lidschlag, dem Heben einer Hand oder der Äußerung des Wortes „Glocke“ mitzuteilen). Wir meinen also nicht Freiheitsgrade im Sinne der Unbestimmtheit, sondern der multiplen Bestimmtheit, die (mehr oder weniger) flexible Antworten erlaubt. Eine bewusste Repräsentation ist dieser Auffassung zufolge also eine, bei der Deliberation möglich ist. Deliberation bedeutet, dass die Repräsentation des Stimulus mit einer Vielzahl anderer Repräsentationen in Beziehung gesetzt werden kann. Aus einer starren Reiz-Reaktions-Verknüpfung wird damit ein flexibleres Reaktionsrepertoire, das unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten auf denselben Reiz erlaubt. Diese begriffliche Rekonstruktion der in der Psychologie üblichen Arbeitsdefinition von Bewusstsein führt uns daher zu einer ersten Antwort auf die Frage nach der Funktion des Bewusstseins. Eine Funktion von Bewusstsein ist dieser Perspektive zufolge, ein flexibleres Reaktionsrepertoire zu schaffen. Das Verhalten wird dann nicht notwendigerweise von einem auslösenden Stimulus gesteuert, sondern von einer neuen Verbindung zwischen dem Stimulus und einer oder mehreren anderen Repräsentationen. Solche Repräsentationen können beispielsweise die Erinnerung an frühere oder die Antizipation künftiger Ereignisse oder Ziele sein. Die Einbeziehung von Zielen ist besonders wichtig, da die Flexibilisierung des Verhaltens kein Selbstzweck ist, sondern der Optimierung der Passung zwischen Umweltgegebenheit und den Zielen des Organismus dient.

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Ziele werden in der Psychologie definiert als kognitive Repräsentationen von erwünschten (oder unerwünschten) Zuständen, die ein Organismus anstrebt (oder vermeidet; z. B. Kruglanski 1996). Wird ein Stimulus mit Zielen in Beziehung gesetzt, können Personen auf flexible Weise gemäß ihren Zielen handeln, statt mit einem stereotypen Verhalten zu reagieren. Dies bedeutet nicht, dass eine Person immer gemäß ihren Zielen handelt, sondern dass sie dies prinzipiell kann. Es bedeutet weiterhin nicht, dass Ziele bewusst (im Sinne des psychologischen oder Zugriffsbewusstseins) sein müssen, um verhaltensrelevant zu sein. Wie wir im Folgenden zeigen werden, können Ziele durchaus nicht-bewusst sein. Wir postulieren jedoch, dass bewusste Ziele zu einem Gewinn an Flexibilität führen, der eine Korrektur von automatischem Verhalten auf einen gegebenen Reiz erlaubt.

Vorschlag eines hierarchischen Handlungsmodells In diesem Abschnitt schlagen wir ein hierarchisches Handlungsmodell vor, nach dem Verhalten auf drei Weisen reguliert werden kann: (1) durch direkte Reiz-Reaktionsverbindungen (das Verhalten wird reflexartig durch einen Reiz ausgelöst), (2) durch situative Reize, die automatisch Ziele und damit verbundene Verhaltensabläufe aktivieren, und (3) durch bewusste Ziele, die die Auswahl von zielbezogenen Handlungen leiten. Die Funktion von Bewusstsein lässt sich am besten durch die Gegenüberstellung der beiden letzteren zeigen. In beiden Fällen werden Ziele als vermittelnde Prozesse der Handlungssteuerung berücksichtigt. Der einzige Unterschied besteht darin, ob diese bewusst sind. Unsere These ist, dass der bewusste Regulationsmodus (3) nur dann in Kraft tritt, wenn die automatischen Modi (1 und 2) aufgrund von Störungen oder Konflikten nicht reibungslos ablaufen. Das hierarchische Handlungsmodell basiert auf den in der Psychologie gegenwärtig sehr verbreiteten, so genannten Zwei-Prozess-Modellen, die in leicht unterschiedlicher Form alle dieselbe Aussage machen, nämlich dass man zwei Arten der Informationsverarbeitung und des Verhaltens voneinander unterscheiden kann: (1) Nicht-bewusste Prozesse und (2) bewusste Prozesse. Diese beiden Arten der Informationsverarbeitung sind in Tabelle 1 hinsichtlich ihrer zentralen Charakteristika zusammenfassend gegenüber gestellt (vgl. Chaiken und Trope 1999).

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Tab. 1: Gegenüberstellung von bewussten und nicht-bewussten Informationsverarbeitungsprozessen nach Zwei-Prozess-Modellen (Chaiken und Trope 1999). Nicht-bewusste Prozesse

Bewusste Prozesse

Assoziativ („spreading activation“)

Anwendung von (propositionalem) Wissen Intentional Kontrolliert Langsam Flexibel Hohe kognitive Kapazitätsanforderungen

Nicht intentional Automatisch (nicht kontrolliert) Schnell Unflexibel Geringe kognitive Kapazitätsanforderungen

Aufbauend auf den Zwei-Prozess-Modellen, gehen wir davon aus, dass Verhalten per Voreinstellung (und falls möglich) über die ressourcensparenden automatischen Prozesse reguliert wird. Diese können entweder in (reflexhaften) Reiz-Reaktionsverbindungen bestehen oder in der automatischen Aktivierung einer Verbindung zwischen Reiz und Ziel, das dann wiederum automatisch das Verhalten steuert. Der Begriff der automatisierten Ziele wurde von Bargh (1990) eingeführt. Bargh geht davon aus, dass Ziele genauso wie andere Reize qua klassischer Konditionierung – durch wiederholte gemeinsame Aktivierung – an bestimmte auslösende Reize gebunden werden können. Auf diese Weise kann ein bestimmter Reiz ein Ziel automatisch aktivieren, d. h. ohne dass deliberativ eine Verbindung der Repräsentation des Reizes mit einer Zielrepräsentation herbeigeführt werden muss. Das solchermaßen automatisch aktivierte Ziel kann nun seinerseits wiederum automatisch Verhalten aktivieren. Der Prozess ist hierbei derselbe: Durch wiederholte, gleichzeitige Aktivierung eines Zieles (Reiz) und eines nachfolgenden Verhaltens (Reaktion), entsteht eine so enge Kopplung zwischen Ziel und Reaktion, dass sie automatisch wird. Nach diesem Modell können also Ziele automatisch durch Umweltreize aktiviert werden, die dann ihrerseits automatisch bestimmtes Verhalten nach sich ziehen. Eine Reihe empirischer Untersuchungen stützen dieses Modell. Hier soll nur ein Beispiel kurz umrissen werden. So zeigen Fitzsimmons und Bargh (2003) in einer Serie von Studien, dass die Beantwortung von Fragen, die sich auf einen Freund beziehen, in höherem Maße das Ziel „Hilfsbereitschaft“ aktivieren als die Beantwortung derselben Fragen in Bezug auf einen Arbeitskollegen. In einer zweiten Studie mit

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Abb. 1: Automatische Prozesse der Ziel- und Verhaltensaktivierung.

anderen Versuchsteilnehmenden zeigte sich, dass Personen, die zuvor Fragen in Bezug auf einen Freund beantworteten, einem Fremden gegenüber signifikant mehr Hilfsbereitschaft zeigten als Personen, die zuvor dieselben Fragen in Bezug auf einen Arbeitskollegen beantwortetet hatten. Der Inhalt der Fragen hatte nichts mit dem Thema Hilfsbereitschaft zu tun, und keiner der Teilnehmenden berichtete, dass die Verbindung zwischen dem Ausfüllen des Fragebogens und der Hilfsbereitschaft bewusst war. Die Aktivierung des Konzeptes „Freundschaft“ (durch das Ausfüllen des entsprechenden Fragebogens) schien zu der automatischen Aktivierung des Ziels „Hilfsbereitschaft“ geführt zu haben, das wiederum automatisch hilfsbereites Verhalten aktivierte. Abbildung 1 verdeutlicht diesen Ablauf. Solange solche automatischen Aktivierungs- und Verhaltensabläufe eine reibungslose Interaktion mit der Umwelt ermöglichen, sollten diese Prozesse aufgrund ihrer besonderen Effizienz – sie laufen schnell ab und stellen nur sehr geringe Anforderungen an die kognitive Kapazität – gewissermaßen als Voreinstellung dienen. Dieses Prinzip bezeichnen wir als das Primat der automatischen Prozesse. Nur wenn automatische Prozesse zu Problemen der Passung eines Organismus und den Anforderungen der Umwelt führen, sollte der bewusste Verarbeitungsmodus in Kraft treten. Probleme kann es zum einen geben, wenn ein Reiz ambig ist (d. h. nicht eindeutig mit einem bestimmten Ziel verknüpft ist). Dann ist der direkte Pfad vom Stimulus zum Ziel nicht mehr gegeben. Dies führt dazu, dass deliberative Prozesse der Zielauswahl stattfinden. Zum anderen kann der automatische Prozess dann gestört sein, wenn ein Ziel nicht eindeutig mit einem Verhalten assoziiert ist (z. B. weil die Kopplung von Ziel und Verhalten noch nicht stark genug ist, um zu einer automatischen Verhaltensaktivierung zu führen). In diesem Fall werden deliberative Prozesse der Handlungsauswahl stattfinden, um eine Passung zwischen Ziel und Verhalten herzustellen. Schließlich kann eine Störung der automatischen Verknüpfung von Ziel und Verhalten auch dann auftreten, wenn die Realisierung eines Verhaltens nicht möglich ist, da hierzu die Fertigkeiten nicht vorhanden sind oder dies die Situation nicht erlaubt. Auch in diesem Fall erfolgt eine deliberative Auswahl einer zielbezogenen Handlung.

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Abb. 2: Deliberative Prozesse der Zielauswahl aufgrund eines uneindeutigen Stimulus.

Abb. 3: Deliberative Prozesse der Handlungsauswahl aufgrund eines uneindeutigen Zieles.

Abb. 4: Deliberative Prozesse der Handlungsauswahl aufgrund von geblockten Verhaltensabläufen.

Die Unterbrechung einer automatischen Kette von Stimulus, Ziel und Verhalten wird uns meist als eine Entscheidungsmöglichkeit bewusst, in der wir unser propositionales Wissen anwenden können und damit Flexibilität durch das Setzen eines neuen Ziels oder durch eine Handlungsauswahl erlangen.

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Ein möglicher Einwand gegen diese (wie auch jede andere) These zur Funktion von Bewusstsein ist, dass die Frage nach der Funktion von Bewusstsein falsch gestellt ist, da sie davon ausgeht, dass Bewusstsein zu etwas gut sei und nicht schlicht ein emergentes Phänomen, das entsteht, wenn sich der Organismus in einem bestimmten Zustand befindet. Wie kann man nun zwischen diesen beiden Hypothesen entscheiden? Eine Möglichkeit besteht darin, dass man testet, ob sich Verhalten in Abhängigkeit davon unterscheidet, ob sich Personen eines bestimmten Stimulus und/oder Verhaltens bewusst sind (Mayr 2004). Nur wenn sich zeigen lässt, dass eine solche Dissoziation zwischen bewussten und nicht-bewussten Prozessen besteht, kann darauf geschlossen werden, dass das Bewusstsein kein reines Epiphänomen darstellt. Im Folgenden werden hierzu beispielhaft einige sozialpsychologische Studien referiert, die die These stützen, dass Bewusstsein als Korrektiv für unangemessene oder gestörte Verhaltensabläufe fungiert. Zunächst soll jedoch kurz geklärt werden, was mit Korrektiv gemeint ist. Wie von einer Reihe von Autoren (z. B. Posner und DiGirolamo 1998) gefunden wurde, werden uns meist diejenigen internen oder externen Aspekte der Welt bewusst, die Routine-Prozesse stören, verhindern oder dysfunktional machen. Bewusstsein tritt also dann auf den Plan, wenn es einen Konflikt zwischen automatisch ablaufenden Handlungsabfolgen und den situativen Anforderungen oder den Zielen der Person gibt. Mit Korrektiv ist also gemeint, dass die mit dem Bewusstsein einhergehende Kontrollierbarkeit von Verhalten dazu führt, dass Personen ihre Ziele und Verhalten im Sinne ihrer übergeordneten Ziele an die situativen Gegebenheiten anpassen kçnnen. Ob dies immer zu den für die Person besten Ergebnissen führt, ist für dieses Argument nebensächlich (wie Dijksterhuis und Nordgren (2006) in einem Übersichtsartikel auf der Grundlage empirischer Evidenz argumentieren, können diese Korrekturversuche aufgrund unserer limitierten kognitiven Kapazität durchaus zu schlechteren Ergebnissen führen als nicht-bewusste Vorgänge).

Empirische Beispiele Im Folgenden soll beispielhaft über einige empirische Studien berichtet werden, die die These vom Bewusstsein als Korrektiv stützen. Diese Untersuchungen dienen mehr illustrierenden Zwecken, da sie nicht zum Test der Hypothese vom Bewusstseins als Korrektiv durchgeführt

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wurden. Diese Studien liefern aus unserer Sicht jedoch zumindest indirekte Evidenz für diese These.

Beispiel 1: Assoziative und propositionale Verarbeitung von Negationen Deutsch, Gawronski und Strack (2007) untersuchten in einer Serie von Experimenten die Dissoziation zwischen automatischer, assoziativer (nicht-bewusster) und kontrollierter, propositionaler (bewusster) Verarbeitung von Negationen. Die diese Studie leitende Hypothese bestand darin, dass in einem nicht-bewussten, assoziativen (und damit schnellen) Verarbeitungsmodus eine Negation eines Begriffes nicht verarbeitet wird, sondern stattdessen die semantischen Verbindungen des Begriffes selbst aktiviert werden und dessen subjektive Valenz als positiv oder negativ bestimmen. In einem kontrollierten, propositionalen (und damit langsameren) Verarbeitungsmodus dagegen sollten Negationen sehr wohl als solche verarbeitet werden und damit die Valenz des nichtnegierten Begriffes umdrehen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Die Negation von Krieg („kein Krieg“) wird nach Deutsch et al. auf einer assoziativen, automatischen Ebene vornehmlich als „Krieg“ verarbeitet und mit solchen Begriffen wie „grausam“, „Verletzte „, „Tote“ oder „Bombe“ verknüpft. Die subjektive Valenz ist demnach negativ. Erst auf einer kontrollierten, propositionalen Verarbeitungsebene wird auch die Negation verarbeitet, was zu einer Umkehrung der Valenz führt (Krieg = negative Valenz; kein Krieg = keine negative Valenz = positive Valenz). Durch die kontrollierte Verarbeitung kann dieser Hypothese zufolge also eine Korrektur an der automatischen, assoziativen Valenz eines negierten Ausdrucks vorgenommen werden. Um diese Hypothese zu testen, verwendeten die Autoren das Paradigma des evaluativen Primings. Dies besteht darin, dass die Beurteilung eines Ziel-Wortes (z. B. „Liebe“) hinsichtlich seiner positiven oder negativen Valenz dann schneller ist, wenn die Valenz des kurz zuvor präsentierten Begriffes (so genannte Primes) gleichgerichtet (kongruent) ist, und langsamer, wenn die Valenz inkongruent ist. Wenn der Prime – beispielsweise „kein Krieg“ auf einer assoziativen, automatischen Ebene als „Krieg“ (also negativ valent) verarbeitet wird, dann sollte dies zu einer Verlangsamung der Beurteilung des Ziel-Wortes „Liebe“ als positiv führen. Da die Beurteilung des Ziel-Wortes unmittelbar nach der Darbietung des Primes vorgenommen werden muss,

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Abb. 5: Reaktionszeiten in der Evaluation von positiv und negativ valenten Zielwörtern nach Darbietung von positiv und negativ valenten nicht-negierten oder negierten Primes (Deutsch, Gawronski und Strack 2006).

kann in diesem Paradigma nur eine assoziative (schnelle) Verarbeitung stattfinden. Abbildung 5 zeigt die Reaktionszeiten auf die Bewertung des Zielwortes. In der linken Hälfte der Abbildung werden die Bewertungen von Zielwörtern nach Darbietung eines nicht-negierten Primes dargestellt. Hier zeigt sich der allgemein bekannte evaluative Priming-Effekt, der darin besteht, dass ein positives Zielwort (z. B. „Liebe“) schneller beurteilt wird, wenn es auf einen positiven Prime (z. B. „Kuchen“) als auf einen negativen Prime (z. B. „Krieg“) folgt. Auf der rechten Seite von Abbildung 5 zeigt sich nun, wie vorhergesagt, dass die Negation des Primes keinerlei Effekt auf das Muster der Reaktionszeiten zeigt. Folgt beispielsweise das positiv valente Zielwort „Liebe“ auf den propositional ebenfalls positiv valenten Prime „kein Krieg“, so ist die Reaktionsgeschwindigkeit genauso verlangsamt, als wäre der negativ valente Prime „Krieg“ dargeboten worden. Die Negation scheint also bei einer schnellen, automatischen Verarbeitung keinerlei Rolle für die Valenz eines Reizes zu haben. Um zu testen, ob bei einer propositionalen, kontrollierten Verarbeitung diese falsche automatische Evaluation einer Negation („kein Krieg“ wird ja fälschlicherweise negativ bewertet) korrigiert wird, wurde eine weitere Vergleichsbedingung eingeführt. Diese bestand in einer einfachen Beurteilung des Primes ohne nachfolgende Darbietung eines weiteren Zielwortes. Da die Verarbeitung des Primes hier nicht von

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einem weiteren Stimulus unterbrochen wird, kann eine propositionale Verarbeitung stattfinden. In dieser Bedingung sollte die Negation eines negativ valenten Begriffs auch tatsächlich als positiv beurteilt werden („kein Krieg“ = positiv). Um die propositionalen Urteile mit den assoziativen Bewertungen der Primes direkt vergleichen zu können, haben die Autoren aus den Reaktionszeitdaten einen Index für den Grad der positiven Bewertung (Positivitäts-Index) berechnet. Der Positivitäts-Index wird für jeden Prime berechnet als die Differenz von Reaktionszeiten auf negative Zielwörter minus den Reaktionszeiten auf positive Zielwörter, die jeweils diesem Prime folgten. Wenn zum Beispiel auf den Prime „kein Krieg“ die Beurteilung positiver Zielwörter als positiv 600 ms gedauert hat, die Beurteilung negativer Wörter als negativ aber nur 550 ms, dann bekommt der Prime „kein Krieg“ einen Positivitäts-Index von –50 ms. Der negative Positivitäts-Index bedeutet hier, dass der Prime negative Urteile gegenüber positiven Urteilen beschleunigt hat, was dafür spricht, dass er selbst automatisch als negativ eingeschätzt wurde. Abbildung 6 zeigt nun die Positivitäts-Indices für die vier Arten von Primes auf der linken Seite und die evaluativen Urteile für dieselben Primes auf der rechten Seite. Wie erwartet zeigt sich hier eine Dissoziation in der Bewertung. Vergleicht man die Ergebnisse für die Valenzbewertung von Negationen (siehe Hervorhebung in Abbildung 6), so zeigt sich eine Umkehrung zwischen den assoziativen und den evaluativen Urteilen. In der propositionalen Verarbeitung wird die Negation eines positiven Begriffs richtigerweise auch negativ bewertet (z. B. „kein Kuchen“ = negativ) und die Negation eines negativen Begriffs positiv (z. B. „kein Krieg“ = positiv). Es kann also insofern von einem Korrektiv gesprochen werden, als bei einer automatischen Verarbeitung (bei assoziativen Urteilen) die Negation keinen Einfluss auf die subjektive Valenz nimmt, während dies bei bewussten, evaluativen Urteilen einer Negation sehr wohl der Fall ist. Bezogen auf unser Modell kann die Verknüpfung von (negierten und nicht-negierten) Aussagen und Bewertungen als eine Komponente der Verknüpfung von Stimuli und Zielen interpretiert werden – Bewertungen sind keine Ziele, aber sie sind doch eng mit Zielen verbunden: Positive Bewertungen legen ein Annäherungsziel, negative Bewertungen ein Vermeidensziel nahe. Bisher wurden zu der Dissoziation von automatischen, assoziativen im Vergleich zu kontrollierten Reaktionen auf Negationen unseres Wissens nach noch keine weitergehenden

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Abb. 6: Aus Priming-Effekten berechnete assoziative Positivität der Primes (linker Teil der Abbildung) und deliberative Beurteilung der Primes (rechter Teil der Abbildung). Während die Negation des Primes keinen Einfluss auf die Wirkung der Primes in der assoziativen Beurteilungsaufgabe hat, wirkt sich diese auf die Bewertung in einer propositionalen Verarbeitung deutlich aus (Deutsch, Gawronski und Strack 2006).

Verhaltensstudien durchgeführt, so dass wir über die weiteren Schritte – von Bewertungen über (möglicherweise automatisch aktivierte) Ziele zu Verhaltensweisen – noch nichts wissen. Es liegt aber auf der Hand, dass die Korrektur einer falschen Valenzeinschätzung für eine adäquate Handlungsauswahl essenziell sein kann.

Beispiel 2: Der „false fame“-Effekt Ein weiteres empirisches Beispiel, das als Evidenz für die These vom Bewusstsein als Korrektiv herangezogen werden kann, ist eine in der Psychologie inzwischen klassische Studie zum so genannten „false fame“-Effekt ( Jacoby, Kelley, Brown und Jasechko 1989). Im ersten Teil dieser Untersuchung lasen Versuchsteilnehmer eine Liste von Namen. Im zweiten Teil, der 24 Stunden später stattfand, bekamen sie eine weitere Namensliste, auf der berühmte und unbekannte Personen aufgelistet waren. Ohne dass dies den Versuchsteilnehmenden kenntlich gemacht wurde, waren unter den unbekannten Personen teilweise Namen der Liste des Vortags wieder aufgenommen worden. Die Aufgaben bestand nun darin, berühmte Personen auf dieser Liste zu identifizieren. Interessanterweise wurden Namen von vollkommen unbekannten Personen, die am Vortrag bereits einmal gelesen worden

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waren, überzufällig häufig als „berühmt“ eingeschätzt. Dieser „false fame“-Effekt wird darauf zurückgeführt, dass es ein vages Gefühl der Vertrautheit eines eigentlich unbekannten Namens gibt, wenn man ihn bereits am Vortag schon einmal gesehen hat. Dieses Gefühl der Vertrautheit wird dann, da Personen sich deren Quelle nicht bewusst sind, als ein Indikator dafür herangezogen, dass es sich um eine berühmte Person handeln müsse. Es handelt sich also um eine Fehlinterpretation der Ursache für das Gefühl der Vertrautheit. Gestützt wird diese Interpretation des „false fame“-Effektes dadurch – und dies ist im vorliegenden Kontext der eigentlich interessierende Befund dieser Studie –, dass die flschliche Zuschreibung von Berühmtheit dadurch korrigiert werden kann, dass den Versuchsteilnehmern mitgeteilt wird, dass sie vielleicht manche der Namen schon einmal auf der Liste des Vortages gelesen haben. Tatsächlich verschwindet der „false fame“-Effekt vollkommen, wenn die Vortagsliste als Quelle des Vertrautheitsgefühls eines Namens auf diese Weise kognitiv verfügbar gemacht wird. Dadurch wird es Personen möglich, die automatische Reaktion auf den internen Reiz „Vertrautheit“ mit dem Urteil der Berühmtheit durch die Herstellung einer neuen Verbindung zu der Quelle der Vertrautheit zu korrigieren.

Beispiel 3: Die Wirkung des Wetters auf die Einschätzung der Lebenszufriedenheit Die Korrektur eines subjektiven Urteils durch die Bewusstmachung möglicher Einflussgrößen wurde auch in Bezug auf die Einschätzung der eigenen Lebenszufriedenheit in einem sehr einfachen Versuch von Schwarz und Clore (1983) empirisch gezeigt. Leitend für diese Untersuchung war die Frage, wie Personen vorgehen, wenn man ihnen so komplexe Fragen stellt, wie glücklich oder zufrieden sie mit ihrem Leben insgesamt sind. Da die kognitiven Kapazitäten von Menschen nicht ausreichend sind, um alle vergangenen und gegenwärtigen Aspekte ihres Lebens nach ihrer Bedeutsamkeit gewichtet in ein Gesamturteil zu verrechnen, gingen Schwarz und Clore davon aus, dass Menschen ihre Lebenszufriedenheit mit Hilfe von einfachen Heuristiken bestimmen. Eine solche Heuristik ist es, die momentane Stimmung als einen Indikator für die allgemeine Lebenszufriedenheit heranzuziehen. Die momentane Stimmung ist jedoch nicht nur von der allgemeinen Lebenszufriedenheit, sondern auch von einer Vielzahl an si-

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tuativen Faktoren wie dem Wetter abhängig. Tatsächlich zeigte sich, dass bei einer Telefon-Umfrage, die bei schlechtem Wetter durchgeführt wurde, die Lebenszufriedenheit im Durchschnitt niedriger eingeschätzt wurde als bei gutem Wetter. Der Einfluss des schlechten Wetters auf die Einschätzung der allgemeinen Lebenszufriedenheit konnte jedoch dann rückgängig gemacht werden, wenn Personen das schlechte Wetter vor der Frage nach der Lebenszufriedenheit bewusst gemacht wurde (z. B. mit der Frage „Übrigens, wie ist denn das Wetter heute so in xyz?“). Auch in diesem Fall nehmen Personen eine Korrektur einer direkten Verknüpfung (hier: Wetter – Befindlichkeit), die als Voreinstellung für eine bestimmte Reaktion (hier: Einschätzung der Lebenszufriedenheit) dient, vor, wenn ihnen diese Verknüpfung bewusst wird. Auch für die Untersuchung der Korrektur von (Fehl-)Urteilen gilt, dass weiterreichendere Studien, die den Zusammenhang von Urteilen mit Zielen und Handlungen untersuchen, noch nicht vorliegen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bleibt festzuhalten, dass Fehlurteile beispielsweise im Sinne einer falschen Interpretation eines Gefühls von Vertrautheit (man denke beispielsweise an mögliche Konsequenzen für Zeugenaussagen vor Gericht) oder der Fehleinschätzung der eigenen Lebenszufriedenheit aufgrund zufälliger und transienter Einflüsse durchaus weiterführende Handlungskonsequenzen nach sich ziehen können. Eine Korrektur dieser Fehlurteile ist für eine angemessene Handlungsauswahl wahrscheinlich von großer Bedeutung. Diese drei Beispiele psychologischer Studien sind, wie eingangs erwähnt, keine strengen empirischen Belege der in diesem Beitrag aufgestellten These, dass eine Funktion von Bewusstsein darin besteht, als Korrektiv zu fungieren. Auch in Bezug auf das von uns vorgeschlagene hierarchische Handlungsmodell können diese Studien nur als Illustrationen für einige der postulierten Pfade gelten. Eine systematische empirische Untersuchung des Modells steht gegenwärtig noch aus. Ziel dieses Beitrages war es jedoch nicht, ein geschlossenes und empirisch abgesichertes Forschungsprogramm zusammenzufassen. Vielmehr ging es uns darum, eine Möglichkeit zur Konzeptualisierung der Funktion des Bewusstseins aus psychologischer Sicht aufzuzeigen und empirische Forschung hierzu anzuregen. Die experimentellen Methoden, die erfolgreich verwendet wurden, um Dissoziationen zwischen bewussten und unbewussten Prozessen bei der Urteilsbildung aufzuzeigen, sollten sich auch zur Untersuchung analoger Dissoziationen bei der Ziel- und Handlungsauswahl fruchtbar einsetzen lassen.

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Bewusstsein und Gedächtnis: Die Bedeutung der Kohärenz und Konsistenz von Erinnerungen Martina Piefke/Hans J. Markowitsch Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene unseres Bewusstseins zu einem Ganzen, und wie unser Leib in unzählige Atome zerstieben müsste, wenn nicht die Attraktion der Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die blinde Macht des Gedächtnisses unser Bewusstsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt. Ewald Hering, 1870

Einleitung: Episodisch-autobiographisches Gedächtnis und autonoetisches Bewusstsein Das episodisch-autobiographische Gedächtnis erlaubt uns das Erinnern und kognitiv-emotionale Wiedererleben persönlicher Erlebnisse. Es ist eng verknüpft mit unserem Eindruck, ein kohärentes und konsistentes „Selbst“ über die gesamte Lebensspanne hinweg zu besitzen. Unser autobiographisches Gedächtnis arbeitet rekonstruktiv: Es ermöglicht uns die Rekonstruktion einer eigenen persönlichen Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart. Insofern ist es auch eng verbunden mit unserer Fähigkeit der Zeitwahrnehmung. Wir sind in der Lage, eine mentale Zeitreise zurück in unsere eigene Vergangenheit zu unternehmen und sowohl persönliche Kontinuität als auch Veränderung zu identifizieren (Piefke et al. 2003; Markowitsch 2003; Tulving 1995; 2005). Nach Tulving (1995) ist das Erinnern persönlicher Erlebnisse mit einer bestimmten Form des Bewusstseins verknüpft, dem so genannten „autonoetischen“ Bewusstsein, das der Autor den „noetischen“ und „anoetischen“ Bewusstseinformen gegenüberstellt. Das Konzept multipler Gedächtnissysteme (Tulving 1972; 1995; Markowitsch 2007)

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unterteilt das menschliche Langzeitgedächtnis in fünf Gedächtnissysteme. Zwei dieser Systeme, das prozedurale Gedchtnis und das Priming System, operieren auf der Ebene der unbewussten Informationsverarbeitung (implizites Gedächtnis) und sind von der anoetischen Bewusstseinsform begleitet. Das perzeptuelle und das semantische Gedchtnissystem können sowohl an der bewussten (explizites Gedächtnis) als auch der unbewussten Informationsverarbeitung beteiligt sein. Sie sind jedoch zu einem größeren Anteil in das explizite Gedächtnis involviert. Das perzeptuelle Gedächtnis arbeitet auf der prä-semantischen Stufe (d. h. auf der Basis der Vertrautheit wahrgenommener Hinweisreize). Das semantische Gedächtnis leistet dagegen die grundlegende semantische Informationsverarbeitung. Das episodische Gedächtnis operiert auf der Ebene des bewussten Erinnerns von Ereignissen und Episoden. Es ist mit der autonoetischen Bewusstseinsform assoziiert. Abbildung 1 charakterisiert die fünf Hauptsysteme des menschlichen Langzeitgedächtnisses anhand der unterschiedlichen Informationsarten, die jedes der Systeme verarbeitet. Das autonoetische Bewusstsein beinhaltet ein Gefühl der Selbst-Erfahrung und des „persçnlichen Eigentums“ einer Erinnerung. In nichtpathologischen Fällen sind wir daher sicher, uns an Erlebnisse unserer „eigenen“ Vergangenheit zu erinnern. Bei Individuen mit bestimmten psychiatrischen Erkrankungen wie Schizophrenie und dissoziativen Persönlichkeitsstörungen ist das autonoetische Bewusstsein gestört. Sie können daher in bestimmten Phasen der Erkrankung eigene Erinnerungen als die einer fremden Person erleben. Nach dem philosophischen Konzept von Gallagher (2000) umfasst das autonoetische Bewusstsein sowohl das Gefühl des „persönlichen Eigentums“ (self-ownership; das Gefühl, dass ich selbst es bin, der/die eine Erfahrung macht) als auch das des persönlichen Handelns“ (self-agency; das Gefühl, dass ich selbst es bin, der/die die Quelle oder Initiator[in] einer Handlung ist). Es stellt gegenwärtig vermutlich die evolutionär höchste Entwicklungsstufe des Bewusstseins dar. Den Begriff des „noetischen“ Bewusstseins grenzt Tulving (1995) gegenüber der autonotischen Bewusstseinsform durch die unterschiedlichen Kontextbezüge der beiden Bewusstseinsformen ab. Das noetische Bewusstsein geht einher mit dem prä-semantischen perzeptuellen Gedächtnis und dem Abruf von Faktenwissen aus dem semantischen Gedächtnis (z. B. das Erinnern des Namens einer Landeshauptstadt, eines berühmten Dichters, oder eines Buchtitels). Es erlaubt keinen Zugang zu dem zeit-räumlichen Kontext des Ereignisses, während dessen eine

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bestimmte Information gelernt wurde, und lässt daher auch das Wiedererleben vergangener Ereignisse nicht zu. Der Begriff des „anoetischen“ Bewusstseins charakterisiert den unbewussten Abruf motorischer und perzeptueller Fähigkeiten. Das anoetische Bewusstsein ist insofern eine Bewusstseinsform, die es uns ermöglicht, etwas aus dem Gedächtnis abzurufen, ohne dass wir uns bewusst sind, etwas zu erinnern (Tulving 1995). Abbildung 2 veranschaulicht eine hypothetische evolutionäre Entwicklung des Bewusstseins und der Differenzierung von Bewusstseinsarten.

Autonoetisches Bewusstsein und lebensgeschichtliche Rekonstruktion Wie bereits oben erwähnt arbeitet das autobiographische Gedächtnis rekonstruktiv. Dies zeigt sich insbesondere auf der Ebene der kognitiven und emotionalen Bewertung persönlicher Lebenserfahrungen. Die rekonstruktiven Mechanismen bilden die Grundlage für die fortwährende Re-Interpretation vergangener persönlicher Erlebnisse aus der Perspektive der sich stetig wandelnden aktuellen Lebenssituation. Durch das mit ihm verknüpfte autonoetische Bewusstsein ist das autobiographische Gedächtnis an eine selbstreferentielle Perspektive gebunden: Es ist per se eine selbstreferentielle Gedächtnisform. Entsprechend spielt es eine Schlüsselrolle für die Prozesse der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung (z. B. Habermas und Bluck 2000; Pasupathi 2001) sowie für die synchrone Selbstwahrnehmung der Kontinuität und des Wandels von Persönlichkeits- und Identitätsmerkmalen. Erinnerungen an persönliche Erlebnisse bilden die Erfahrungsgrundlage für die Entstehung und das Verschwinden unterschiedlicher Selbstkonzepte im Zeitverlauf des Lebens eines Menschen. Umgekehrt beeinflussen aktuelle Selbstkonzepte die Prozesse der Re-Interpretation autobiographischer Ereignisse und verändern so die persönlichen Erinnerungen daran (Libby und Eibach 2002). Das Alltagsleben reflektiert solche Prozesse in Situationen der zwischenmenschlichen Konversation über persönliche Veränderungen (z. B. gegenwärtige und frühere Sichtweisen der eigenen Person), bedeutsame andere Menschen und die „Welt“. Nicht selten geben Menschen im Kontext solcher Konversationen an, dass ihnen ihre alten, vergangen „Ichs“ wie unterschiedliche und/oder fremde Personen erscheinen. In psychologischen Experi-

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menten konnten Belege für dieses Phänomen gezeigt werden. Libby und Eibach (2002) berichteten über die Tendenz gesunder Versuchspersonen, eine Beobachterperspektive („third person perspective“) einzunehmen, wenn sie Erinnerungen an Handlungen visualisieren sollten, die mit den aktuellen Sichtweisen ihres Selbst im Konflikt standen. Dieser Befund lässt vermuten, dass die subjektive Bewertung einer Handlung hinsichtlich ihrer Kompatibilität mit dem aktuellen Selbstkonzept die Perspektive substantiell beeinflussen kann, die jemand bei der Visualisierung dieser Handlung einnimmt. Pasupathi (2001) stellte die Hypothese auf, dass die soziale Konversation über persönliche Lebenserfahrungen die Grundlage für einen Mechanismus bildet, der es den Menschen erlaubt, sich selbst als Individuum im Kontext unserer Welt(en) zu rekonstruieren. „Ko-Konstruktion“ und „Konsistenz“ sind nach diesem Ansatz die beiden grundlegenden Prinzipien, die das gemeinsame konversationale Erinnern leiten. Der Begriff der Ko-Konstruktion bezieht sich auf Einflüsse, die Handelnde (d. h. an dem Gespräch Beteiligte) und soziale Kontexte (z. B. zu Hause oder am „Stammtisch“) gemeinsam auf die konversationale Rekonstruktion persönlicher Erfahrungen ausüben. Der Aspekt der Konsistenz betrifft dagegen die Einflüsse der konversationalen Rekonstruktion eines Ereignisses auf spätere Erinnerungen daran. Nach Pasupathi (2001) ist das Modell einer Interaktion dieser beiden Prinzipien auch geeignet, um die Einflüsse zu erklären, die die konversationale Rekonstruktion einer persönlichen Vergangenheit auf die Entwicklung der Identitt eines erwachsenen Menschen ausübt. Im Normalfall erreicht die Ausformung der personalen Identität eines Menschen im frühen Erwachsenenalter ein relativ stabiles Muster von Persönlichkeitsmerkmalen. Entwicklungsstudien über das autobiographische Gedächtnis haben übereinstimmend gezeigt, dass enge Verknüpfungen zwischen der Entstehung des autobiographischen Gedächtnisses und den Prozessen der Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung existieren (z. B. Cycowicz 2000; Perner und Ruffman 1995). Das autobiographische Gedächtnis erfährt erst in der späten Adoleszenz seine vollständige Ausreifung. Habermas und Bluck (2000) vertreten entsprechend die Auffassung, dass die persönliche „Lebensgeschichte“ sich im Verlauf der Adoleszenz entwickelt. Nach ihrem Ansatz erfordert eine kohärente Geschichte der persönlichen Vergangenheit sowohl das autobiographische Gedächtnis als auch eine Form des „Sich-Selbst-Verstehens“. Die persönliche Lebensgeschichte ist begrenzt durch die Anforderungen einer temporalen, kausalen, thematischen und biographi-

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schen Kohärenz. In ihrem Überblicksartikel über Untersuchungen zur Identitätsentwicklung und der Ausformung des autobiographischen Gedächtnisses zeigen Habermas und Bluck (2000), dass sowohl die kognitiven Fähigkeiten zur Konstruktion von Kohärenz in der eigenen Lebensgeschichte als auch die soziale Motivation zur Konstruktion einer persönlichen Vergangenheit erst während der Adoleszenz entstehen. Studien über persönliche Erinnerungen von Kindern unterstützen diese Auffassung. Sie haben gezeigt, dass Kinder nicht über ein autobiographisches Gedächtnis für Ereignisse verfügen, wie es bei Erwachsenen anzutreffen ist (Cycowicz 2000; Perner und Ruffman 1995; eine Überblicksarbeit gibt Gathercole 1998). Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses und der personalen Identität wird auch durch kulturelle Faktoren beeinflusst. Wang (2001) untersuchte die frühesten Kindheitserinnerungen und Selbstbeschreibungen von chinesischen und amerikanischen Studenten. Die Studie zeigte, dass die Kindheitsereignisse, die die Amerikaner als früheste Erinnerungen berichteten, sich durchschnittlich etwa sechs Monate früher zugetragen hatten als die der Chinesen. Darüber hinaus waren die Beschreibungen der frühesten Erinnerungen, die die amerikanischen Studenten gaben, emotional ausgearbeitet, spezifisch, ausführlich und hatten einen klaren Selbstbezug. Die chinesischen Studenten lieferten dagegen kurze Skizzen wenig emotionaler Kindheitsereignisse, in deren Zentrum gemeinsame Aktivitäten und Alltagsroutinen standen. In den Selbstbeschreibungen der Chinesen waren viele soziale Regeln enthalten. Unabhängig von der Nationalität berichteten jedoch diejenigen Personen über eine größere Anzahl selbstbezogener und spezifischer Erinnerungen, die ihre eigene Person und deren positive Seiten in das Zentrum ihrer Selbstbeschreibungen stellten. Diese Befunde sprechen für komplexe Interaktionen zwischen der Verarbeitung persönlicher episodisch-autobiographischer Erinnerungen und der kulturell überformten Selbst-Konstruktion. Die bislang vorliegenden Daten weisen insgesamt auf enge Beziehungen zwischen dem episodisch-autobiographischen Gedächtnis, der persönlichen (kulturell überformten) Identität, und dem Selbst-Bezug hin. Als die zentrale Dimension, die diese drei Aspekte verbindet, könnte das autonoetische Bewusstsein operieren.

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Neuronale Mechanismen der Rekonstruktion vergangener Lebenswelten Neuronale Plastizität Sowohl erfahrungsbedingte Umwelteinflüsse (extrinsische Faktoren; z. B. soziale Erfahrungen, Umwelteinwirkungen, Verletzungen) als auch genetische und biologische Determinanten (intrinsische Faktoren; z. B. genetische Disposition, physiologische Vorgänge) formen und verändern die Vernetzung der Nervenzellen. Diese neuronale Plastizitt ist eine Eigenschaft unseres Gehirns, die in frühen Lebensstadien besonders stark ausgeprägt ist (Singer 2003; Piefke 2007). Das Gehirn behält diese Eigenschaft jedoch (wenn auch im Verlauf der Zeit abnehmend) über die gesamte Lebensspanne eines Individuums hinweg. Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, dass Maguire et al. (2000) mittels anatomischer magnetresonanztomographischer Untersuchungen bei Taxifahrern typische Veränderungen des Hippocampus (erfahrungsabhängige Vergrößerung einer Teilstruktur) zeigten, die mit großer Wahrscheinlichkeit durch die beruflich bedingten hohen Anforderungen an die räumliche Orientierung auftreten. Der Hippocampus ist eine Gehirnstruktur, die für das episodische Langzeitgedächtnis sowie die räumliche Vorstellung und Navigation von zentraler Bedeutung ist (Squire 1992; Brandt et al. 2005). Die neuronale Plastizität hat zur Folge, dass jede neue Erfahrung sich in das Gehirn „einschreibt“ und so unser bewusstes Gedächtnis für vergangene Erlebnisse und deren Interpretation verändert. Umwelteinflüsse können unser Gedächtnis und unser Verhalten verändern. Die neurobiologische Grundlage dieser Veränderungen ist jedoch die erfahrungsabhängige Modulation der neuroanatomischen und -funktionellen Vernetzung von Strukturen unseres Gehirns. Der Befund, dass jede Umwelteinwirkung Konsequenzen für den Aufbau und die Funktion des Nervensystems hat, ist auch von zentraler Bedeutung für die Wirksamkeit psychotherapeutischer Intervention. Neuere Studien über die Neurobiologie emotionaler Entwicklungsstörungen und anderer psychiatrischer Erkrankungen belegen, dass die Mechanismen der Pathogenese von psychiatrischen Erkrankungen auch die Grundlage fr die Vernderung der Persçnlichkeit und des Verhaltens durch psychotherapeutische Intervention bilden (z. B. Braun und Bogerts 2000; 2001; Piefke 2007). Insofern ermöglicht die neuronale Plastizität unseres Gehirns die er-

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fahrungsbedingte initiale Entstehung der Konnektivität zwischen Gehirnstrukturen als neuronale Basis des Lernens und der kognitiv-emotionalen Entwicklung, die Entstehung klinischer Symptome (z. B. Angststörungen, psychogene Amnesien, Psychosen) durch umweltbedingte und/oder physiologische pathologische Einflüsse und die Wirksamkeit psychotherapeutischer Intervention (Markowitsch und Piefke 2004; Piefke 2007; Reddemann et al. 2002).

Gedächtnisrelevante Gehirnstrukturen und neurofunktionelle Mechanismen Untersuchungen über die Lokalisation von Gehirnverletzungen und neuropsychologische Leistungen bei amnestischen Patienten sowie neurofunktionelle Bildgebungsstudien an gesunden Versuchspersonen belegen übereinstimmend, dass der Hippocampus und angrenzende Strukturen im medialen Temporallappen, sowie präfrontale, posteriore cinguläre und retrospleniale Kortexareale die neuronalen Grundlagen des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses bilden (z. B. Aggleton et al. 2000; Markowitsch 2003; Mayes und Downes 1997; Nyberg et al. 2002; Piefke et al. 2003; Kellermann und Piefke 2006; Piefke 2008). Der präfrontale Kortex Nach den Annahmen, die dem „Hemispheric-Encoding-RetrievalAsymmetry“ (HERA)-Modell (Tulving et al. 1994; Habib et al. 2003) zugrunde liegen, ist der linke präfrontale Kortex hauptsächlich an der Enkodierung und der rechte vorwiegend am Abruf episodischer Information beteiligt. Bildgebungsdaten über episodische Gedächtnisfunktionen legen jedoch nahe, dass die Lateralisierung präfrontaler neuronaler Aktivität zusätzlich stark von der Qualität und Komplexität des Stimulusmaterials und der abgerufenen Information sowie den Anforderungen spezifischer Gedächtnisaufgaben abhängig ist (Nolde et al. 1998a, b; Ranganath et al. 2000; Piefke et al. 2003; Überblicksarbeiten geben Lee et al. 2003; Piefke 2008). Regionen des präfrontalen Kortex spielen mit großer Wahrscheinlichkeit auch eine ausschlaggebende Rolle für die Entstehung des autonoetischen Bewusstseins im Kontext des Erinnerns an vergangene persönliche Erlebnisse (Keenan et al. 2001; Markowitsch 2003; 2005).

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Der Hippocampus Der Hippocampus spielt sowohl beim Menschen als auch bei Tieren eine Schlüsselrolle für episodische Gedächtnisfunktionen (z. B. Markowitsch 2003; Squire 1992; Squire und Knowlton 2000). Unklar ist bislang jedoch, ob der Hippocampus nur in einem bestimmten Zeitfenster nach der Enkodierung einer Episode oder zeitunabhängig immer in den bewussten Abruf episodischer Information involviert ist. Nach der Konsolidierungstheorie (Squire 1992) sind die Gedächtnisfunktionen des Hippocampus zeitbegrenzt auf die Konsoliderungsphase episodischer Information. Ältere, bereits konsolidierte Erinnerungen, die bereits zu neokortikalen Speicherplätzen transferiert wurden, können nach dieser Theorie unabhängig vom Hippocampus abgerufen werden. Die „Multiple Trace Theory“ (MTT; Nadel und Moscovitch 1997) nimmt demgegenüber an, dass der Abruf episodischer Erinnerungen ohne Zeitbegrenzung immer von Hippocampusfunktionen abhängig ist. Es ist gegenwärtig noch immer unklar, welches der beiden Modelle hippocampaler Gedächtnisfunktionen die empirischen Daten aus der Grundlagenforschung und aus klinischen Studien besser erklären kann. Unterschiedliche Lokalisierungen und Ausmaße hippocampaler Läsionen sind vermutlich entscheidende Faktoren für die verschiedenen Zeitfenster von Amnesien bei Patienten mit Gedächtnisstörungen (z. B. Rempel-Clower et al. 1996). Ebenso ist die große Variabilität der in empirischen Studien verwendeten episodischen Gedächtnisaufgaben vermutlich ein wichtiger Aspekt für die Interpretation der unterschiedlichen Befunde (z. B. Barr et al. 1990; Scoville und Milner 1957). Abbildung 3 veranschaulicht die Annahmen der Konsolidierungstheorie und der MTT. Mittels neurofunktioneller bildgebender Verfahren wurden ebenfalls unterschiedliche Befunde hinsichtlich der Gedächtnisfunktionen des Hippocampus berichtet. Für den Bereich des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses demonstrierten einige Bildgebungsexperimente spezifische Hippocampusaktivierungen während des Abrufs rezenter episodischer Information (im Vergleich zu älteren Erinnerungen; z. B. Addis et al. 2004; Niki und Luo 2002; Piefke et al. 2003). Sie sprechen insofern für die Annahmen der Konsolidierungstheorie. Andere Bildgebungsstudien berichten flache oder keine Zeitgradienten der Hippocampusaktivität im Zusammenhang mit dem Abruf autobiographischer Episoden und unterstützten insofern eher die MTT (z. B. Ryan et al. 2001; Viard et al. 2007; Cabeza und St. Jacques 2007). Abbildung 4

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zeigt die differentiellen Aktivierungen des Hippocampus während des Abrufs rezenter emotionaler autobiographischer Episoden (relativ zu emotionalen Erinnerungen an Kindheitsepisoden), die Piefke et al. (2003) berichteten. Der posteriore cinguläre und der retrospleniale Kortex Der retrospleniale Kortex liegt angrenzend an den retrocommissuralen Hippocampus, einen dünnen Gewebestreifen, der sich um das posteriore Ende der Corpus callosum herumzieht. Er ist anatomisch und funktionell eng verknüpft mit dem (entorhinalen und perirhinalen) parahippocampalen Gyrus und interagiert daher vielfältig mit dem Hippocampus und anderen medialen temporalen Gehirnstrukturen, die in die Gedächtnis- und Emotionsverarbeitung involviert sind (Insausti et al. 1987). Der retrospleniale Kortex könnte mit seinen zahlreichen anatomischen Verbindungen eine wichtige neurofunktionelle Schaltstelle für das Zusammenspiel zwischen Bewusstsein und gedächtnisbezogener Kognition und Emotion sein, das typisch ist für das Erinnern emotionaler autobiographischer Episoden. Klinische Studien berichteten schwere andauernde Amnesien für episodisches Informationsmaterial nach einer selektiven Schädigung des retrosplenialen Kortexes (z. B. Bowers et al. 1988; Gainotti et al. 1998; Heilman et al. 1990). Funktionelle Bildgebungsstudien stimmen gut mit diesen Befunden überein, indem sie eine zentrale Funktion des retrosplenialen Kortexes für das emotionale episodische (autobiographische und experimentelle) Gedächtnis belegen (Fink et al. 1996; Shah et al. 2001; Markowitsch et al. 2003; Piefke et al. 2003; Sugiura et al. 2005). Die spezifische Rolle dieser Gehirnstruktur bei der Verarbeitung episodischer Information legt einen wichtigen retrosplenialen Beitrag an der Entstehung des autonoetischen Bewusstseins nahe. Es ist anzunehmen, dass der retrospleniale Kortex und unterschiedliche präfrontale Regionen durch eine komplexe Interaktion die neuroantomischen und –funktionellen Grundlagen dieser Bewusstseinsform bilden (Keenan et al. 2001; Markowitsch 2005). Abbildung 5 zeigt neuronale Aktivierungen im retrosplenialen Kortex während des Abrufs episodisch-autobiographischen Materials, die übereinstimmend von Studien mittels funktioneller Magnetresonanztomographie berichtet wurden (Shah et al. 2001; Piefke et al. 2003; Sugiura et al. 2005).

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Die Authentizität autobiographischer Erinnerungen Auch wenn wir uns selbst sicher sind, uns korrekt und im Detail an ein vergangenes Ereignis zu erinnern, können Aspekte unserer Erinnerungen falsch sein. Dies ist zu einem großen Anteil bedingt durch die Rekonstruktivität unseres autobiographischen Gedächtnisses. Augenzeugenberichte enthalten oft nicht-intentionale falsche Erinnerungen (Ihlebæk et al. 2003; Lindsay et al. 2004). Dies ist besonders im Zusammenhang gerichtspsychologischer Fragen ein problematischer Aspekt. Wir rekonstruieren die Vergangenheit jeweils so wie sie uns aus der Perspektive einer bestimmten gegenwärtigen Situation erscheint. Damit verändern sich die Erinnerungen im Verlauf unseres Lebens notwendigerweise, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Das mit dem autobiographischen Gedächtnis verbundene autonoetische Bewusstsein ist ein selbstbezogenes Bewusstsein, dem die Fehlerhaftigkeit persönlicher Erinnerungen nicht zugänglich ist. Die Dominanz der Prinzipien der Kohärenz und Konsistenz verändert und/oder verhindert das Erinnern von Ereignisaspekten, die der Selbst-Konstruktion einer kontinuierlichen, subjektiv verstehbaren und erklärbaren Persönlichkeit entgegen stehen. Dieser Aspekt des autobiographischen Gedächtnisses unterstützt eine der wichtigsten Funktionen des menschlichen Bewusstseins: die Fähigkeit zu flexiblen und adaptiven Verhaltensweisen. Indem wir unsere Vergangenheit stets entsprechend unserer aktuellen Lebenssituation remodellieren, adaptieren wir sie unseren gegenwärtigen Bedürfnissen und machen sie so flexibel nutzbar für die wechselnden Anforderungen aufeinanderfolgender Lebensphasen. Das autonoetische Bewusstsein bildet insofern eine entscheidende evolutionäre Dimension der menschlichen Überlebensfähigkeit. Es existieren allerdings inzwischen Hinweise darauf, dass auch nichtmenschliche Primaten sowie Raben- und Papageienvögel eine Vorform des episodischen Gedächtnisses (episodic-like) und entsprechend möglicherweise Rudimente eines autonoetischen Bewusstseins besitzen können (Mulcahy und Call 2006; Güntürkün et al. 2005; Clayton et al. 2003). Neben dem Aspekt der Rekonstruktivität des autobiographischen Gedächtnisses sorgen auch Effekte pro- und retroaktiver Interferenz für das Auftreten falscher Erinnerungen. Pro- und retroaktive Interferenzeffekte sind nicht spezifisch für das autobiographische Gedächtnis, sondern können in einfachen Gedächtnisexperimenten im Labor gezeigt werden (Kato 1985; Kelley und Sahakyan 2003; Rhodes und Kelley 2005; Ihlebæk et al. 2003; Lindsay et al. 2004). Sie können beispiels-

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weise durch phonologische Ähnlichkeiten von Wörtern und fehlleitende semantische Assoziationen hervorgerufen werden. Häufig anzutreffen ist auch der interferenzbedingte Transfer bestimmter Informationsaspekte in einen falschen Kontext (falsches Quellengedächtnis). Durch Interferenzeffekte hervorgerufene falsche Erinnerungen können gelegentlich (eher zufällig) ebenfalls zu einer flexiblen Adaptation an eine gegebene Situation beitragen. Häufiger sind hier jedoch dysfunktionale Interferenzeffekte, die zu Irritationen sowohl im sozialen Alltagsleben (z. B. Namensverwechselungen) als auch in Laborexperimenten führen (z. B. Verschlechterung der Gedächtnisleistung durch interferierende semantische Assoziationen). Solange Interferenzeffekte nicht zu Irritationen oder „Peinlichkeiten“ führen, sind sie dem menschlichen Bewusstsein nicht zugänglich. Die Dominanz der Prinzipien der Kohärenz und Konsistenz verhindert auch hier die Fehlerdetektion. Erst wenn ein Individuum beispielsweise einen „Fauxpas“ begangen hat, können ihm die Zusammenhänge und die entsprechenden interferierenden Informationen bewusst werden. Diese Bewusstwerdung muss jedoch nicht zwangsläufig eintreten. Insbesondere in Fällen von Unsicherheit kann jedoch auch die Befürchtung eines Fauxpas prospektiv zur Bewusstwerdung möglicher Interferenzeffekte führen. Das Individuum wird dadurch gewarnt, dass es unter Umständen in eine peinliche Situation kommen könnte, wenn es falsche Informationen über eine Person oder ein bestimmtes Ereignis und dessen spezifische Zusammenhänge liefert. Im Falle der prospektiven Bewusstwerdung möglicher Interferenzeffekte, können diese in vielen Fällen in ein unterstützendes Vehikel für adaptives Verhalten umgewandelt werden.

Pathologische Fehlleistungen des menschlichen Gedächtnisses Die bisherige psychologische und neurowissenschaftliche Forschung zeigt übereinstimmend, dass auch falsche Erinnerungen einen wichtigen Beitrag für das Funktionieren des Menschen in seinen Alltagswelten leisten können. Dies gilt meistens auch im Falle pathologischer Fehlleistungen des Gedächtnisses wie sie beispielsweise bei psychogenen Amnestikern zu beobachten sind. Der Begriff der psychogenen Amnesie bezeichnet Gedächtniseinbußen, denen keine neuroanatomischen Veränderungen zugrunde liegen, die mit den derzeit zur Verfügung stehenden Untersuchungsmethoden detektiert werden können. Perso-

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nen mit einer psychogenen Amnesie können sich an Teile oder gelegentlich sogar ihre gesamte vergangene Lebensgeschichte nicht erinnern. Ausschlaggebend für das Auftreten einer solchen Gedächtnisstörung ist häufig ein emotional belastendes Erlebnis. Im Folgenden werden einige Fallbeispiele für typische Defizite im Bereich des autobiographischen Gedächtnisses bei psychogenen Amnestikern aufgeführt. Der Fall A.M.N. Herr A.M.N. hatte als Vierjähriger zusehen müssen wie ein Mann im Auto verbrannte. Später im Erwachsenenalter erlebte er einen offenen Brand im eigenen Haus. In der Folge dieses zweiten Branderlebnisses trat bei ihm eine anhaltende psychogene Amnesie auf. Anatomische magnetresonanztomographische (MRT) Bilder zeigten keine morphologischen Schädigungen seines Gehirns (Abbildung 6a). Mittels 2-[18F]fluoro-2-deoxy-D-glucose (FDG) Positronen-Emissions-Tomographie (PET) konnte jedoch in gedächtnisrelevanten Strukturen seines Gehirns ein verminderter Glukosestoffwechsel nachgewiesen werden (Abbildung 6b). Zum Zeitpunkt dieser Untersuchung hatte A.M.N. keine bewussten Erinnerungen an alle biographischen Ereignisse seiner letzten sechs Lebensjahre (retrograde Amnesie) und konnte sich darüber hinaus keinerlei neue Information mehr einprägen (anterograde Amnesie). Auch zwölf Monate später war seine Gedächtnisstörung noch so schwerwiegend, dass er weiterhin unfähig war, seinem früheren Beruf nachzugehen. Eine PET-Folgeuntersuchung zeigte jedoch zu diesem späteren Zeitpunkt eine Wiederherstellung des normalen cerebralen Glukosemetabolismus (Abbildung 6c). Erste mittels neuropsychologischer Testverfahren messbare Verbesserungen seiner Gedächtnisleistungen traten nach ca. acht Monaten ein (Markowitsch et al. 2000). Der Fall N.N. Herr N.N. ist ein typisches Beispiel für eine Person mit einer psychogenen „Fugue“. Es handelt sich dabei um eine Amnesie, die von dem Drang begleitet ist, den Heimatort zu verlassen (Markowitsch et al. 1997). Die Fugue begann damit, dass N.N. anstatt Brötchen zu holen mit dem Fahrrad mehrere Tage den Rhein entlang fuhr. Er beschrieb später, dass er nicht wusste, wer er war, und dass sich ihm beim Blick in ein Schaufenster ein fremdes Gesicht gespiegelt habe. In einer Großstadt wurde er in eine psychiatrische Klinik aufgenommen. Er gab an, sein Gedächtnis verloren zu haben, kannte seinen Namen nicht und konnte

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über seine Herkunft keinerlei Angaben machen. N.N. behauptete, alle Ereignisse seines bisherigen Lebens vergessen zu haben: Er sei hinsichtlich seiner persönlichen Lebensumstände wie neugeboren, ihm fehlten „die Bilder“, die für uns „normale“ Menschen unsere Vergangenheit widerspiegeln. Das Leben begann für ihn neu – sogar sein früheres Asthma und seine früheren Allergien waren verschwunden. In der Klinik bekam er einen neuen Namen (N.N.). Über eine Vermisstenanzeige wurde er schließlich aufgefunden und nach Hause zurückgebracht. Dieses Zuhause war ihm fremd, er erkannte seine Frau und seine Kinder nicht. Irgendwann begann er das, was man ihm über seine Vergangenheit erzählte, zu akzeptieren. Er fügte sich in die neue Situation und erlernte „seine Vergangenheit“ neu: so, als lerne man „Schulwissen“. Er hatte eine leicht überdurchschnittliche Intelligenz und eignete sich problemlos in kurzer Zeit ein beträchtliches neues Wissensrepertoire an. N.N.s semantisches Gedächtnis (d. h. Faktenwissen; siehe oben), das er sich innerhalb von ca. acht Monaten nach seiner Fugue angeeignet hatte, war hervorragend. Der Zugang zu den davor liegenden Erlebnissen, d. h. zu Episoden seiner persönlichen Lebensgeschichte vor dem Auftreten der Fugue, blieb jedoch versperrt. Der Fall C.B. Der Informatikstudent C.B. war plötzlich nicht mehr in der Lage, sich Informationen bleibend anzueignen (Kessler et al. 1997). Sein Kurzzeitgedächtnis war intakt, er konnte für mehrere Minuten Informationen behalten und wiedergeben, jedoch nicht über dieses Zeitfenster hinaus. Aus dem retrograden Langzeitgedächtnis konnte er retrograd gespeichertes Material (d. h. Information, die er sich vor dem Auftreten seiner Gedächtnisstörung angeeignet hatte) nicht abrufen. Dieser Zustand blieb über Jahre erhalten und machte eine eigenständige Lebensführung unmöglich. Vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte von C.B. kann man vermuten, dass er wegen chronischer Stresszustände (z. B. Versagensängste etc.) eine Blockade für den bleibenden Erwerb neuer Information aufbaute und auf diese Weise jeglichem Leistungsstress zu entgehen versuchte. Damit steht seine Blockade des bewussten Gedchtnisses im Dienst der Adaption des Verhaltens an die aktuelle Lebenssituation. Aus dieser Perspektive ist sie insofern nicht dysfunktional. C.B. hatte keine mittels neuroanatomischer bildgebender Verfahren nachweisbaren Gehirnläsionen. Seine Gedächtnisstörung kann als eine psy-

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chogene Amnesie aufgefasst werden, die ihre Ursache in den Alltagsbelastungen des Informatikstudenten hatte. Der Fall C.D. Frau C.D. hatte in ihrer Kindheit emotional stark belastende Erfahrungen gemacht. Sie war insbesondere Selbstmorddrohungen und Missbrauch durch nahestehende Verwandte ausgesetzt (Markowitsch et al. 1997). Vermutlich als Konsequenz dieser Ereignisse konnte sie sich im Erwachsenenalter an die Zeit zwischen ihrem 10. und 16. Lebensjahr nicht erinnern. Sie malte im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung Bilder über diese Zeit. Diese zeigten für sie selbst teilweise entschlüsselbare Szenen, die sie meistens nicht konkret verbalisieren, jedoch emotional bewerten konnte. Das „Vergessen“ dieser Szenen hinterließ zwar eine „Lücke“ in der für C.D. rekonstruierbaren persönlichen Vergangenheit, half ihr dennoch in der Gegenwart in einem adaptiven Sinne ohne eine bewusste Erinnerung an die Schrecken der Kindheit zu leben. Neurofunktionelle Untersuchungen ihres Gehirns zeigten, dass die Erinnerungen unbewusst für C.D. existierten. Eine Positronenemissionstomographie (PET) belegte insbesondere, dass das Anschauen der in der Psychotherapie gemalten Bilder bei ihr eine starke Aktivierung von Gehirnregionen bewirkte, die Emotionen verarbeiten. Der Fall F.A. Herr F.A. zeigte nach längeren Aufenthalten in mehreren psychiatrischen Universitätskliniken und einer insgesamt mehr als zweijährigen Krankengeschichte eine vollständige Unfähigkeit zur Neugedächtnisbildung, ein stark eingeschränktes Kurzzeitgedächtnis, Altgedächtnisstörungen, eine Akalkulie und Wortfindungsstörungen. Mittels wiederholter neuroanatomischer und -funktioneller sowie elektroenzephalographischer Untersuchungen ließen sich jedoch keine neuropathologischen Veränderungen als Grundlage für diese schwerwiegenden kognitiven Defizite finden (Markowitsch et al. 1999a). F.A.s Lebensgeschichte ließ vermuten, dass es bei ihm durch belastende Lebenssituationen zu einer psychogenen mnestischen Blockade und assoziierten zusätzlichen neuropsychologischen Beeinträchtigungen gekommen war. Es war F.A. noch nicht einmal möglich, basale semantische Informationen wie sein Alter oder die Vornamen seiner Schwestern und seiner Frau aus dem Gedächtnis abzurufen. In Fällen mit so tiefgreifenden kognitiven Beeinträchtigungen wird es schwierig, die Sympto-

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matik im Sinne der Ermöglichung eines flexiblen und adaptiven Verhaltens an die sich wandelnden gegenwärtigen Lebenssituationen zu interpretieren. Dennoch muss man in Betracht ziehen, dass die neuropsychologischen Defizite F.A. die Möglichkeit gaben, aus den lebensgeschichtlichen Belastungen und stressreichen Anforderungen des Alltagslebens auszusteigen. Unter diesem Gesichtspunkt hat auch die tiefgreifende psychogene kognitive Störung von F.A. eine adaptive Funktion. Ob hier auch der Aspekt der Flexibilität erfüllt ist, ist allerdings zu bezweifeln. Vielmehr tritt hier die lähmende Dimension psychogener Pathologien (die letztendlich in unterschiedlichem Ausmaß jeder psychogenen Amnesie und allgemeiner jeder psychologischen Störung inhärent ist) stark in den Vordergrund. Der Fall T.X. Die 16-jährige Schülerin T.X. war beim Schlittschuhlaufen auf den Hinterkopf gefallen und hatte in der Folge eine vollständige retrograde Amnesie für autobiographische Episoden. Sie erkannte auch ihre Eltern nicht wieder. Faktenwissen war dagegen offensichtlich vollständig erhalten. Mittels neuroanatomischer und -funktioneller bildgebender Verfahren ließen sich bei T.X. keine Schädigungen ihres Gehirns nachweisen. Sie versuchte in der Zeit nach dem Sturz, ihre Vergangenheit wie neutrales und unpersönliches Wissen neu zu lernen. Der Fall T.A. Die 30-jährige T.A. war seit einem Unfall, bei dem sie ein Schleudertrauma erlitten hatte, bleibend amnestisch (Markowitsch et al. 1999b). Bildgebende Untersuchungen ihres Gehirns zeigten keinerlei Anhaltspunkte für cerebrale Schädigungen. T.A. war seit ihrem Unfall vollständig von ihrer Mutter abhängig. Sie war desorientiert hinsichtlich der Zeit, konnte sich an Ereignisse bis unmittelbar vor ihrem Unfall exzellent, nicht aber an Ereignisse danach erinnern. Die Intelligenz der früheren Studentin war überdurchschnittlich; ebenso ihre anterograden Gedächtnisleistungen über eine Zeitspanne von ein bis zwei Stunden. Nach zwei Stunden trat jedoch ein rapider Verfall ihrer Erinnerungsfähigkeit auf. Sie hatte an jedem Morgen eines neuen Tages keine Erinnerung an den vorangegangenen Tag. Bei T.A. ist zu vermuten, dass der Unfall als ein emotionales Schockereignis dauerhaft zu einer Blockade der Übertragung von Information ins Langzeitgedächtnis geführt hat. Die adaptive Funktionalität ihrer Gedächtnisstörung hat ihre Basis

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vermutlich in lebensgeschichtlichen Aspekten. Insbesondere die krankheitsbedingte Abhängigkeit von der Mutter belegt diese Interpretation. Wie bei F.A. stehen die dysfunktionalen und lähmenden Dimensionen bei T.A. jedoch so stark im Vordergrund, dass die Flexibilität des Verhaltens verhindert wird.

Schlussfolgerungen Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Forschung belegen übereinstimmend, dass die anatomische und funktionelle Vernetzung der Nervenzellen unseres Gehirns veränderbar ist. Diese neuronale Plastizität ermöglicht es einem menschlichen Individuum, seine persönliche Vergangenheit kohärent und konsistent von der sich stets wandelnden Gegenwart aus kontinuierlich neu zu rekonstruieren und bildet insofern die neurobiologische Grundlage für die Formbarkeit unserer Sichtweise vergangener und gegenwärtiger Situationen. Die so entstehende „Fehlerhaftigkeit“ unseres Gedächtnisses unterstützt eine grundlegende Funktion des menschlichen Bewusstseins: die Fähigkeit zu einem flexiblen und adaptiven Verhalten. Dies gilt sogar für pathologische Fehlleistungen des Gedächtnisses wie psychogene Amnesien. Das Vergessen der eigenen Vergangenheit kann eine adaptive Funktion haben, indem es einem Menschen erlaubt, ohne die bewusste Auseinandersetzung mit schwierigen früheren Erlebnissen und eigenen Verhaltensweisen in der Gegenwart zu leben. Nicht die Exaktheit unserer mentalen Gedächtnisfunktionen ist daher ausschlaggebend für das Funktionieren eines Individuums in seinen Lebenswelten, sondern vielmehr die „Selbst-Kompatibilität“ der subjektiven mentalen Konstruktion vergangener und gegenwärtiger Wirklichkeiten.

Zusammenfassung Das Bewusstsein und das Gedächtnis des Menschen sind hochkomplexe interagierende Systeme. Aufgrund ihrer Komplexität sind sie jedoch auch anfällig für Fehler. Unsere bewussten Erinnerungen an vergangene persönliche Erlebnisse sind häufig verzerrt und können falsche Aspekte enthalten. Dennoch sind wir in den meisten Fällen überzeugt, uns detailgetreu und korrekt an ein Ereignis zu erinnern. Die neuronale Plastizität unseres Gehirns erlaubt es, dass wir unsere persönliche Ver-

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gangenheit kohärent und konsistent von einer sich im dauernden Wandel befindlichen Gegenwart aus stets neu und subjektiv „richtig“ rekonstruieren. Die anatomische und funktionelle Vernetzung von Nervenzellen ist veränderbar. Diese Formbarkeit des Gehirns bildet die neurobiologische Grundlage für die Formbarkeit unserer Sichtweise vergangener und gegenwärtiger Situationen. Diese „Fehlerhaftigkeit“ unseres Gedächtnisses unterstützt eine der grundlegenden Funktionen des menschlichen Bewusstseins: die Fähigkeit zu einem flexiblen und adaptiven Verhalten. Dies gilt sogar für pathologische Fehlleistungen des Gedächtnisses wie psychogene Amnesien. Das Vergessen der eigenen Vergangenheit kann eine adaptive Funktion haben, indem es dem Individuum ermöglicht, ohne die bewusste Auseinandersetzung mit schwierigen früheren Erlebnissen und eigenen Verhaltensweisen in der Gegenwart zu leben. Daraus lässt sich schließen, dass nicht die Exaktheit unserer mentalen Funktionen ausschlaggebend für das Funktionieren eines Individuums in seinen Lebenswelten ist, sondern vielmehr die „Selbst-Kompatibilität“ der subjektiven mentalen Konstruktion vergangener und gegenwärtiger Wirklichkeiten. Der Artikel gibt einen Überblick über psychologische und neurowissenschaftliche Belege für diese Hypothese.

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Abb. 1: Nach dem Konzept multipler Gedächtnissysteme ist das Langzeitgedächtnis des Menschen in mindestens fünf verschiedene Gedächtnissysteme unterteilt: das prozedurale Gedächtnis, das Priming System, das perzeptuelle Gedächtnis, das semantische Gedächtnis und das episodische Gedächtnis. Die Abbildung charakterisiert jedes der Gedächtnissysteme durch die spezifischen Arten von Information, die es verarbeitet. Das episodische, semantische und perzeptuelle Gedächtnis verarbeiten bewusste (explizite) Erinnerungen. Unser unbewusstes (implizites) Langzeitgedächtnis ist durch das prozedurale Gedächtnis und das Priming System repräsentiert.

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Abbildungen

Abb. 2: Hypothetische evolutionäre Entwicklung des Bewusstseins und der Differenzierung von Bewusstseinsformen. Das autonoetische Bewusstsein stellt als eine spezifische Art des Selbstbewusstseins gegenwärtig vermutlich die höchstentwickelte Bewusstseinsform dar.

Abb. 3: Zeitbegrenzte Rolle des Hippocampus in der gedächtnisbezogenen Verarbeitung episodisch-autobiographischer Information? Annahmen der Konsolidierungstheorie und der Multiple Trace Theory (MTT) bezüglich des Zeitfensters von Hippocampusfunktionen beim Abruf von Information aus dem episodischen Gedächtnis. Das Konsolidierungsmodell (oberer Teil) postuliert eine zeitabhängige Rolle des Hippocampus beim Abruf rezenter episodischer Erinnerungen, die auf die Konsolidierungsphase begrenzt ist. Nach erfolgter Langzeitspeicherung der Information im Neokortex kann sie nach dieser Theorie unabhängig vom Hippocampus abgerufen werden. Im Gegensatz dazu geht die MTT (unterer Teil) davon aus, dass der Hippocampus immer und unabhngig von der Lnge der Zeitspanne, die nach der Enkodierung einer Episode vergangen ist, in den Abruf episodischer Information aus dem Gedächtnis involviert ist. Nach diesem Modell sind im Verlauf der Zeit flache Gradienten der Hippocampusbeteiligung am Informationsabruf zu erwarten, so dass der Zugang zu älterer Information weniger stark vom Hippocampus abhängig ist als der Zugang zu rezenten Erinnerungen. Die MTT erklärt die Beobachtung solcher flachen Gradienten durch die Annahme, dass Gedächtnisinformation im Zeitverlauf eine Stabilisierung durch assoziative Prozesse erfährt.

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Abb. 4: Bilaterale Hippocampusaktivierungen während des Abrufs rezenter emotionaler autobiographischer Episoden (im Vergleich zu emotionalen alten Kindheitserinnerungen), die Piefke et al. (2003) mittels funktioneller Magnetresonanztomographie zeigten. Die Histogramme veranschaulichen das Ausmaß (in %) der Veränderung des „blood-oxygen-level-dependent“ (BOLD)-Signals in den Hippocampi während des Abrufs rezenter Episoden als eine Funktion der entsprechenden experimentellen Bedingung. Der umgekehrte Vergleich (Erinnerungen an Kindheitsepisoden versus Erinnerungen an rezente autobiographische Episoden) zeigte weder im medialen Temporallappen noch in anderen Gehirnregionen neuronale Aktivität. R = rechts; L = links; A = anterior, P = posterior. CP = positive Kindheitserinnerungen, CN = negative Kindheitserinnerungen, RP = positive rezente Erinnerungen, RN = negative rezente Erinnerungen.

Abb. 5: Belege für retrospleniale Aktivierungen während des Abrufs von real life information aus funktionellen magnetresonanztomographischen Studien. (a) Piefke et al. (2003) demonstrierten einen Anstieg der neuronalen Aktivität im retrosplenialen Kortex während des Abrufs rezenter emotionaler episodisch-autobiographischer Erinnerungen (im Vergleich zu emotionalen Kindheitserinnerungen). Dieser Befund läßt vermuten, dass retrospleniale Areale eine spezifische Rolle beim Abruf vertrauter und emotional bedeutsamer autobiographischer Episoden spielen. (b) Shah et al. (2001) berichteten retrospleniale Aktivität während des Erinnerns an persçnlich vertraute Gesichter und Stimmen. (c) Sugiura et al. (2005) zeigten neuronale Aktivität im retrosplenialen Kortex assoziiert mit Erinnerungen an vertraute Landschaften und Orte. Die Ergebnisse der drei Studien stimmen gut überein, indem sie die gedächtnisbezogene Verarbeitung vertrauter episodisch-autobiographischer Informationen als eine Funktion des retrosplenialen Kortexes belegen.

Abb. 6: Anatomische MRT und FDG PET Aufnahmen des Gehirns von A.M.N. In der Folge eines als lebensbedrohlich erlebten Branderlebnisses trat bei Herrn A.M.N. eine anhaltende Amnesie auf. Anatomische magnetresonanztomographische Bilder zeigten kurz nach dem Einsetzen der Amnesie keine morphologischen Schädigungen seines Gehirns (a). Mittels FDG PET konnte aber insbesondere in gedächtnisrelevanten Regionen des Gehirns ein verminderter Glukosemetabolismus nachgewiesen werden (b). Ein Jahr später war A.M.N.s Gedächtnisstörung noch so schwerwiegend, dass er in seinem früheren Beruf nach wie vor nicht weiter arbeiten konnte. Eine zweite FDG PET Untersuchung, die zwölf Monate nach dem Auftreten der Amnesie durchgeführt wurde, zeigte jedoch zu diesem Zeitpunkt eine Wiederherstellung des normalen cerebralen Glukosemetabolismus (c). Auch waren erste Verbesserungen der kognitiven Leistungen A.M.N.s nach ca. acht Monaten erkennbar (Markowitsch et al. 2000).

Die funktionale Rolle des Bewusstseins: Integration, Isomorphie und Emergenz1 Michael A. Stadler 1. Problem Im Jahre 1872 hielt Emil Du Bois-Reymond, einer der bekanntesten Naturwissenschaftler seiner Zeit und Begründer der Elektrophysiologie, eine Rede mit dem Titel „Über die Grenzen der Naturerkenntnis“, die als „Ignorabimus-Rede“ bekannt wurde. In dieser Rede behauptete Du Bois-Reymond unter anderem, das Verhältnis von Materie und Bewusstsein sei für die Naturwissenschaften ein für alle Zeit unlösbares Rätsel. Er wiederholte diese Aussage acht Jahre später in seiner Rede „Die sieben Welträtsel“ und fügte die Bemerkung hinzu: „Besäßen wir astronomische (d. h. beliebig viele und genaue) Kenntnisse dessen, was innerhalb des Gehirns vorgeht, so wären wir in Bezug auf das Zustandekommen des Bewusstseins nicht um ein Haar breit gefördert.“ Diese beiden Reden hatten eine ungeheure Wirkung auf das naturwissenschaftlich-philosophische Publikum und waren Ausdruck der damals um sich greifenden Meinung, Naturwissenschaftler hätten grundsätzlich keine Mittel und auch kein Recht, die Phänomene des Geistes, des Bewusstseins, der Seele usw. zu ergründen; sie sollten sich vielmehr auf das Materielle, Greifbare, Messbare, Beobachtbare beschränken. Interessanterweise war für Du Bois-Reymond, wie für viele andere, ein derartiger agnostischer Standpunkt durchaus verträglich mit der Überzeugung, dass Geist und Bewusstsein aus dem materiellen Gehirn hervorgehen. Nur wie dies geschähe, werde ein ewiges Rätsel bleiben. Diesem apodiktischen Urteil folgte die damals im Entstehen begriffene Hirnforschung nur zu gern, weil man sich damit außerordentlich schwierige erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Probleme 1

Einzelne Abschnitte der hier vorgetragenen Überlegungen beruhen auf einem früheren Aufsatz von Haynes, Roth, Schwegler und Stadler (1998).

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vom Leibe hielt. Unterstützt wurde diese Abstinenz auch durch die „Gegenseite“, durch die in die disziplinäre Eigenständigkeit drängende Psychologie, die sich mit dem Aufkommen des Behaviorismus auf den Standpunkt stellte, dass mentale Vorgänge nur subjektiv erlebbar und nicht objektiv beobachtbar seien. Vor dem Hintergrund dieser Sichtweise sind mentale Vorgänge keine überprüfbaren Daten für die Analyse des Verhaltens. Das Bewusstsein wurde damit zum obsoleten Begriff und für Jahrzehnte aus der wissenschaftlichen Psychologie ausgeschlossen. Lediglich die sich als Gegenbewegung zum Behaviorismus verstehende Gestaltpsychologie beschäftigte sich weiterhin intensiv mit dem Leib-Seele-Problem und stellte übergreifende Hypothesen über den Zusammenhang zwischen Wahrnehmungsvorgängen und Gehirnprozessen auf. Der ungeheure Aufschwung der Hirnforschung der letzten Jahrzehnte schien an der historisch vorherrschenden Meinung, dass die Beziehung zwischen Gehirn und Geist wissenschaftlich nicht klärbar sei, bzw. sogar ein Scheinproblem darstelle, nichts geändert zu haben. Vor einiger Zeit (1981) stellte der Hirnforscher Otto Creutzfeld fest, das Geist-Gehirn-Problem werde zwar heftig wie nie diskutiert, die Neurophysiologie habe aber immer noch nichts zur Klärung des Bewusstseins anzubieten. Er betrachtete derartige Fragen im Bereich der Neurophysiologie geradezu als unzulässig und befand sich damit im Einklang mit einer Vielzahl von Philosophen, die das Zustandekommen bewussten Erlebens für prinzipiell anhand physikalischer und physiologischer Theorien nicht erklärbar halten und dies mit eindrucksvollen Gedankenexperimenten zu belegen versuchen. Dem stellte sich im Jahre 1994 der Aufruf des Biologie-Nobelpreisträgers Francis Crick entgegen, dem Rätsel des Bewusstseins endlich mit naturwissenschaftlichen Methoden auf den Grund zu gehen. Die empirisch arbeitende Bewusstseinsforschung steckt heute mehr denn je in einem Dilemma. Seit dem Aufsatz von Creutzfeld hat es einen immensen Erkenntnisfortschritt in Bezug auf die neuronalen Grundlagen kognitiver Leistungen gegeben, der insbesondere durch die Entwicklung neuer Techniken der Korrelationsforschung und durch neue Ansätze in der Modellbildung ermöglicht wurde. Damit einher geht die verstärkte Hoffnung, auch die neuronalen Grundlagen des bewussten Erlebens verstehen zu können. Man könnte sogar argumentieren, die Verantwortung des Wissenschaftlers gebiete es geradezu, in Anbetracht der Vielzahl neuropsychologischer Störungen, die eng mit Bewusstseinsprozessen zusammenhängen, die funktionale Rolle des Bewusstseins bei

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Abb. 1: Fechners Unterscheidung von äußerer und innerer Psychophysik.

der menschlichen Kognition zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Dem stehen von philosophischer Seite skeptische Argumente entgegen, bei denen immer wieder auf eine Kluft hingewiesen wird, die zwischen physikalisch-physiologischen Prozessen und Erlebensprozessen existiert und die als prinzipiell unüberwindlich angesehen wird. Keine noch so genaue Analyse der Funktionsweise des Gehirns könnte uns demnach Aufschluss über das Zustandekommen von subjektiven Erlebnisqualitäten, der so genannten „Qualia“, geben. Ich werde im Folgenden nicht versuchen, das Qualia-Problem zu lösen. Stattdessen soll hier eine Forschungsperspektive eingenommen werden, die eine wissenschaftliche Untersuchung des Bewusstseins ermöglicht, ohne vorab die Klärung ontologischer Detailfragen zu erfordern. Vieles kann über das Bewusstsein ausgesagt werden, auch ohne zu wissen, wie es ist, bestimmte Erlebnisse zu haben. Dazu ist es nötig, das Problem etwas anders zu formulieren: Anstatt nach der Natur werde ich nach der Funktion des Bewusstseins fragen, oder besser gesagt, nach der funktionalen Rolle der neuronalen Korrelate von Erlebnissen. Optimistische Auffassungen zur Lösung des Gehirn-Geist-Problems wurden auch zeitgleich mit Du Bois-Reymonds Pessimismus mit Beginn der wissenschaftlichen Psychologie formuliert. Gustav Theodor Fechner wurde zwar berühmt durch seine Methoden und Gesetze der äußeren Psychophysik, hatte aber vor allem den Zusammenhang zwischen Körper und Seele, die sogenannte innere Psychophysik als Erkenntnisziel im Auge (Abb. 1). Für ihn gab es dabei ein Leitmotiv: „Leib und Seele gehen miteinander; der Änderung im Einen korrespondiert eine Änderung im Anderen.“ (Fechner 1860, 5). Diesen Gedanken der Kovarianz, der zuvor bereits von Johannes Müller geäußert wurde, übernimmt G. E. Müller (1896) bei der Formulierung seiner psychophysischen Axiome:

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1) Jedem Zustand des Bewusstseins liegt ein materieller Vorgang, ein so genannter psychophysischer Prozess, zugrunde, an dessen Stattfinden das Vorhandensein des Bewusstseinszustandes geknüpft ist. 2) Einer Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit der Empfindungen entspricht eine Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit der Beschaffenheit der psychophysischen Prozesse und umgekehrt. 3) (…) ist eine Empfindung in n-facher Richtung variabel, so muss auch der zugrundeliegende psychophysische Prozess in n-facher Richtung variabel sein und umgekehrt. Diese Grundannahmen liegen auch dem gestaltpsychologischen Isomorphie-Prinzip zugrunde. Dabei hatte Wolfgang Köhler (1929) bereits darauf hingewiesen, dass das gesuchte physiologische Korrelat nicht im Sinne einer räumlich-geometrischen Ähnlichkeit misszuverstehen ist, sondern eher eine funktional bestimmte Ähnlichkeit aufweisen dürfte. Damit wird vermieden, dass die physiologischen Korrelate etwa eines „Dreieck-Erlebnisses“ im Gehirn tatsächlich dreieckige Strukturen sein müssten. Aus dem Grundsatz der Isomorphie als dem fruchtbarsten heuristischem Prinzip bezüglich des Leib-Seele-Zusammenhangs folgt nach Bischof (1966, 332): 1) Es gibt grundsätzlich keine psychologischen Gesetze, die nicht zugleich Gesetze der im ZNS geltenden Physik wären. 2) Für jemanden, der im Besitze einer vollständigen Zustandsbeschreibung eines lebendigen menschlichen Gehirns wäre und die Gesetze der inneren Psychophysik kennen würde, wäre es möglich, die Erlebniswelt des zugehörigen Subjekts bis in die letzte sprachlich beschreibbare Einzelheit hinein zu kennzeichnen. Damit war eine klare Gegenposition zu Du Bois-Reymonds Pessimismus formuliert („Besäßen wir astronomische Kenntnisse…“) und die Möglichkeit empirischer Zugänge zum Gehirn-Geist-Problem eröffnet. Auch David Chalmers (1996) versucht mit seiner Unterscheidung von vielen „einfachen Problemen“ und dem einen „schwierigen Problem“ auf die empirische Realisierbarkeit abzuzielen. Ohne Zweifel sind seine Argumente über die Bildung einer adäquaten Theorie und der Möglichkeit, diese experimentell zu überprüfen, von einem tiefen Optimismus getragen. Im Folgenden werde ich drei theoretische Ansätze beleuchten, die an der Schwelle zur Lösung des schwierigen Problems stehen.

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2. Die Integrationsfunktion des Bewusstseins Fragt man einen Psychologen, welche Funktion das Bewusstsein haben könnte, wird er ohne zu zögern antworten, dass das Bewusstsein die Vielfalt der neuronalen Vorgänge im Gehirn zu integrieren hat. Ein Neurobiologe wird hingegen darauf abheben zu sagen, das Bewusstsein habe keine erkennbare Funktion, da es nicht auf die Nerventätigkeit einwirken könne. Dies scheint deshalb nicht möglich, weil damit erstens Erhaltungssätze der Energie, zweitens deterministische Glaubenssätze und damit schließlich die Einheit der materiellen Welt verletzt würde. Wenn aber das Bewusstsein ohne Funktion ist, nicht in das materielle Geschehen eingreifen und erst nachträglich durch die materiellen neuronalen Vorgänge initiiert werden kann, dann kann es auch keine Integrationsfunktion besitzen sondern nur nachträglich wie ein Film über schon Geschehenes berichten. Eine solche epiphänomenalistische Auffassung birgt jedoch erhebliche Widersprüche. Man muss sich nämlich dann fragen, warum ein derartig luxurierendes Organ (Schurig 1976) wie das Bewusstsein sich in der Evolution überhaupt entwickeln konnte, wenn es epiphänomenal und somit ohne erkennbare Funktion war. Die übliche Antwort hierauf ist, dass das Bewusstsein für die Kontrolle eines Gehirns vonnöten war, das zu komplex geworden war, um sich selbst zu organisieren. Dies würde bedeuten, dass das Bewusstsein auf einer bestimmten Evolutionsstufe entstanden war, auf der dieser Komplexitätsgrad erreicht wurde. Dies wiederum aber widersprach einer Idee, die viele naturwissenschaftliche Psychologen und Philosophen bis heute bevorzugen. Es handelt sich bei dieser vom Mainstream abweichenden Meinung um die panpsychistische Weltsicht, wie sie beispielsweise von Bernhard Rensch (1977) sehr explizit vertreten wurde. Panpsychismus bedeutet, dass allen Erscheinungsformen der belebten und sogar der unbelebten Materie von vornherein Psychisches anhaftet und somit das eine niemals ohne das andere und das andere niemals ohne das eine im Weltenlauf auftritt. Die panpsychistische Auffassung wird daher folgerichtig auch als identistisch angesehen, da zwischen Materiellem und Ideellem, zwischen Geist und Gehirn, nicht unterschieden werden kann. Deutlich sichtbar gemacht werden kann die Integrationsfunktion des bewussten Erlebens durch die Gestaltpsychologie. An Gestaltqualitäten kennen wir die Kriterien der Übersummativität und der Transponierbarkeit, wie sie von Christian von Ehrenfels (1890) zuerst benannt wurden. Übersummativität bedeutet, dass das Ganze mehr ist als

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die Summe seiner Teile. Dies ist allerdings nicht im algebraischen Sinn gemeint sondern entsprechend der Formulierung von Laotse „die Summe der Teile ist nicht das Ganze“ (vgl. Herrmann 1957). In moderner Fassung kann man leicht den Gestaltbegriff durch den Systembegriff ersetzen. Metzger formulierte dementsprechend „jeder Reiz ist Systemreiz“, um damit auszudrücken, dass keine isolierte, partielle Reizung eines Organismus möglich, sondern immer das gesamte System betroffen ist (Metzger 2001). Die Übersummativität von Gestaltqualitäten lässt sich leicht bildlich demonstrieren (Abb. 2). Die quadratischen Elemente werden durch Verunschärfung (z. B. durch Blinzeln mit den Augen) zu einem Ganzen zusammengefügt, das mit der Form der Elemente nichts mehr zu tun hat. Keines der Elemente hat irgendeine Assoziation zu dem Ganzen, dem Gesicht, das wir wahrnehmen, wenn die einzelnen Elemente nur noch ihre Helligkeits- bzw. Farbwerte besitzen. Die Integrationsfunktion der Gestaltwahrnehmung wird hier besonders deutlich und offensichtlich. Sie zeigt sich genau an den Stellen, an denen die Struktur der Wahrnehmung von der Struktur der Reizmuster abweicht.

3. Die Isomorphie-Hypothese Das Konzept der psychophysischen Isomorphie von Wolfgang Köhler folgte den früheren Annahmen von G.E. Müller (1896) und Max Wertheimer (1912). Ohne schon den Begriff der Isomorphie zu verwenden, definierte Köhler (1920, 193) folgendermaßen: „Aktuelles Bewusstsein ist in jedem Falle zugehörigem psychophysischen Geschehen den (phänomenal und physisch) realen Struktureigenschaften nach verwandt, nicht sachlich sinnlos, nur zwangsläufig daran gebunden“. Auch Köhler bekennt sich zur prinzipiellen Auslesbarkeit der Gehirnvorgänge, wenn sie nur vollständig beschrieben werden: „Man pflegt zu sagen, selbst bei genauester physikalischer Beobachtung und Kenntnis der Hirnprozesse würde doch aus ihnen nichts über die entsprechenden Erlebnisse zu entnehmen sein. Dem muss ich also widersprechen“, so Köhler: „Es ist im Prinzip eine Hirnbeobachtung denkbar, welche in Gestalt und deshalb in wesentlichsten Eigenschaften Ähnliches physikalisch erkennen würde, wie der Untersuchte phänomenal erlebt.“ (ebd.). Das Isomorphie-Prinzip gehört bis heute zu den einzigen Hypothesen über den Gehirn-Geist-Zusammenhang, die prinzipiell in psychophysiologischen Experimenten geprüft werden

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Abb. 2: Quadrate unterschiedlicher Farbe und Helligkeit. Blinzelt man mit den Augen so erscheint ein bekanntes Gesicht. (Aus T. Ditzinger: Illusionen des Sehens. Abdruck mit freundlicher Erlaubnis des Autors.)

können (Scheerer 1994). Natürlich konnte eine derart provokante Hypothese nicht unkritisch hingenommen werden, zumal Köhler den Begriff der Isomorphie bzw. Strukturgleichheit auch auf qualitative Eigenschaften, die so genannten Qualia, angewandt wissen wollte. Eines der am weitesten verbreiteten Missverständnisse von Köhlers Isomorphismus bezieht sich auf die sogenannten „Bildchen im Kopf“-Interpretation der Gestalttheorie. Viele Autoren, darunter so differenzierte Wahrnehmungsforscher wie Gregory, Kaufmann und Shepard konnten sich nicht enthalten, Köhlers Idee dahingehend zu kritisieren, dass die Wahrnehmung eines grünen Hauses von einem Gehirnprozess begleitet sein sollte, der die Form eines Hauses in grünem Nervengewebe habe (Henle 1984). Köhler weist diese Ansicht mit der Klarstellung zurück, dass bestimmte Prozesse im menschlichen Gehirn das Korrelat phänomenaler Farben sein sollen, wobei nicht impliziert ist, dass in diesen Prozessen irgendetwas wie solche Farben selbst enthalten ist. Und Köhler fährt fort, „entsprechend unserer derzeitigen Ansicht gilt dies für alle Qualitäten ohne Ausnahme. Sie haben alle kortikale Korrelate, aber

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ihre eigene Existenz scheint auf die phänomenale Welt beschränkt zu sein. The cortical correlate of the color blue is not blue.“ (Köhler 1938, 195). Ein anderes wichtiges Argument gegen das Isomorphie-Prinzip mag der Anspruch sein, dass die Parallelität mentaler und physischer Prozesse darin besteht, dass beide den gleichen Gesetzen gehorchen, aber kein Mechanismus der Interaktion zwischen diesen beiden definiert ist. So bleibt der Einfluss physiologischer Prozesse auf mentale Zustände, oder noch umstrittener die Effekte mentaler Anstrengung auf neurophysiologische Vorgänge, unexpliziert (Levy 1988, 1991). Dementsprechend bleibt das Leibnizsche Paradigma zweier Uhren, die parallel laufen während sie den gleichen prästabilisierten Gesetzen gehorchen, immer noch gültig für den Isomorphismus. Schließlich gibt es ein wichtiges Argument gegen Köhlers Gehirntheorie, nämlich die Nichtbeachtung der Bedeutung elementarer neurophysiologischer Prozesse. Soweit wir heute wissen, besteht das menschliche Gehirn aus mehr als 1011 Neuronen, die wiederum jedes bis zu 104 Verbindungen zu anderen Neuronen haben. Die zugrunde liegenden Nervennetze wurden gerade zu Köhlers Zeiten mit großem Erfolg analysiert (Hubel und Wiesel 1959). Köhler hingegen bezeichnete das Gehirn als homogenen Leiter. Dabei muss er sich jedoch der Frage stellen, warum die Evolution ein derart komplexes Netz von 1015 neuronalen Verbindungen entwickelt haben könnte, welches am Ende nicht anders als ein Eimer voll Wasser arbeitet. Trotz all dieser, zum Teil berechtigten, Einwände gegen Köhlers Isomorphie-These, bleibt der große Vorteil einer empirischen Überprüfbarkeit bestehen. Köhler selbst hat 1949 und in den folgenden Jahren versucht, globale Hirnprozesse, nämlich Gleichströme im EEG, als isomorph zu bestimmten Wahrnehmungsvorgängen darzustellen. Diese ersten Versuche wurden zwar von Lashley et al. (1951) sowie Sperry et al. (1955) vernichtend kritisiert, weisen aber in eine Richtung, die durchaus als Vorläufer der Untersuchung kohärenter Oszillationen im 40 Hz-Band angesehen werden können. Der viel zu früh verstorbene Eckhard Scheerer hat als erster darauf hingewiesen, dass diese Untersuchungen von Singer (1989) und Eckhorn (1991) nichts anderes als empirische Realisierungen des Isomorphie-Prinzips sind: Einer kohärenten neuronalen Aktivität entspricht letztlich dann die Wahrnehmung eines kohärenten Gegenstandes (Abb. 3). Das Interessante ist dabei, dass die Oszillationen sogar in relativ weit voneinander entfernten Gehirnteilen auch interhemisphär synchron, d. h. frequenz- und, was

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Abb. 3: Legt man a in das Zufallsmuster von b, so verschwindet a. Die geringste Bewegung von a oder b erzeugt ein kohärentes Bild.

noch wichtiger ist, phasengleich ablaufen. Dies geschieht aber nur, solange ein einheitliches Reizmuster auf das entsprechende Sehfeld projiziert wird. Unzusammenhängende Reizmuster werden hingegen nicht durch kohärente Oszillationen repräsentiert. Die Maxima der CrossKorrelationen belaufen sich im ersten Fall auf r = 0.6 und im letzteren Fall auf r = 0.1. Die korrelative Tätigkeit der neuronalen Aktivität zeigt deutlich, dass einer phänomenal funktionalen Eigenschaft eine physiologische Eigenschaft, nämlich die kohärente neuronale Aktivierung, entspricht und damit die erstere mit letzterer isomorph ist. Man kann hier, wie schon von Carnap (1931) vorgeschlagen, Ansätze einer neutralen Sprache für den phänomenalen und den physiologischen Bereich entwickeln. Viele Begriffe der Systemtheorie könnten auf die Weise als isomorphe Begriffe realisierbar werden: Im beschriebenen Fall etwa Einheit vs. Mehrheit, aber auch Stabilität vs. Instabilität, Attraktor vs. Repeller, Synchronizität, Chaotizität, Kohärenz, Gleichzeitigkeit, die für die Gehirntätigkeit und die mentalen Prozesse in gleicher Weise anwendbar sind. Es muss noch hinzugefügt werden, dass Köhler, der selbst Physiker war, eine physikalistische Deutung der Isomorphie zugrunde legte, eine mentalistische Deutung hingegen ablehnte. Er argumentierte, dass physische Gehirnprozesse und mentale Vorgänge in einem völlig anderen Bereich stattfänden und dass mentale Vorgänge ihrerseits auf keinen Fall physische Prozesse beeinflussen könnten. Dies würde nämlich bedeuten, dass „kausaler Verkehr über die Grenzen der Natur hinweg“ stattfände, was wiederum der Erhaltung der Energie widerspräche (Köhler 1966). Trotz dieser Einschränkungen sah sich Köhler immer epistemologisch an der Identitätstheorie orientiert. Seine häufigen Diskussionen mit Herbert Feigl bestärkten ihn darin. Wenn aber Identität bedeutet, dass der psychophysische Grundsatz, dass nämlich

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jedem Erleben gleichzeitig Gehirnvorgänge zugrunde liegen und es kein Erleben ohne zeitlich korrelierte neuronale Prozesse gibt, so ist das Gleiche für die Umkehrung des Satzes zutreffend, dass nämlich zumindest auf der Großhirnrinde die neural correlates of consciousness (NCC) Gültigkeit haben. Jedem neuronalen Prozess entsprechen auch, zumindest auf der Großhirnrinde, phänomenale Vorgänge, die durch diesen beeinflusst werden können. Die „Kraft der Gedanken“ als empirisches Faktum kann in der Identitätstheorie nicht wegdiskutiert werden. In jüngerer Zeit wurden dementsprechend Forschungsansätze zum „Gedankenlesen“ und zur Steuerung von Handlungen durch Gedanken vorgelegt (Haynes und Curio 2007).

4. Die mikroskopische und die makroskopische Sichtweise Die Theorie, die das Verhältnis von mikroskopischen und makroskopischen Prozessen genauer beschreibt, ist die von Hermann Haken begründete Synergetik. Die Synergetik beschreibt Selbstorganisationsprozesse auf allen Ebenen der Natur und der Gesellschaft (Haken und Stadler 1990). Haken beschreibt den Prozess der Interaktion zwischen der mikroskopischen und der makroskopischen Ebene im Detail und benutzt dabei die gleichen Konzepte, mit denen er früher das Laserlicht erklärt hat (Abb. 4). Als Beispiel wird hier ein kognitives System verwendet: Stimuliert von einer kontinuierlichen Steigerung des Energiezuflusses von den Sinnesorganen (dem so genannten Kontrollparameter), beginnen die neuronalen Elemente des Gehirnsystems miteinander auf nichtlineare Weise zu interagieren, indem verschiedene Realisierungen von Ordnungsstrukturen miteinander in Konkurrenz treten. Unter der Bedingung weiterer Steigerung des Kontrollparameters rückt der kritische Entscheidungspunkt näher. Das System ist jetzt in einem Zustand hoher Instabilität und eine minimale Fluktuation würde ausreichen, einen Phasenübergang zu einem kollektiven, hochsynchronisiertem Systemverhalten zu verursachen. Dieses kollektive Verhalten wird in der Synergetik als Ordnungsparameter bezeichnet. Der Ordnungsparameter hat nun, einmal etabliert, eine Rückwirkung auf die Aktivität aller Elemente aus denen er entstanden ist. Diese Funktion wird in der Synergetik durch den Begriff der Versklavung gekennzeichnet. Haken definiert den makroskopischen Ordnungsparameter, der aus der Aktivität der mikroskopischen Elemente des neuronalen Netzes entsteht und auf eben dieses zurückwirkt, als Kreiskausalitt. Die

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Abb. 4: Das mikroskopische neuronale Netzwerk erzeugt einen makroskopischen Ordnungsparameter, der seinerseits auf das neuronale Netzwerk zurückwirkt (Kreiskausalität).

Ursache ist hier also nicht ein von außen auf das System treffendes Reizmuster, sondern Teil einer im System selbst erzeugten UrsacheWirkungs-Relation. Die Identifikation von Bewusstseinszuständen mit hochorganisierten makroskopischen Mustern der Gehirnaktivität hat einige theoretische Konsequenzen: Wenn es, wie Haken annimmt, eine Kreiskausalität gibt, die nur in einem Sektor mit subjektiver Erfahrung einhergeht, wird es evident, warum die Subjekte den Eindruck haben, ihr eigenes Verhalten zu kontrollieren, während sie zur gleichen Zeit durch ihre elementaren Gehirnprozesse kontrolliert werden. Unter diesen Bedingungen ist auch der „freie Wille“ nicht länger ein Rätsel, da er bei der makroskopischen Sichtweise subjektiv gegeben und bei der mikroskopischen Sichtweise durch die Gehirnaktivität verursacht wird. Der Determinismus und die Erhaltung der Energie werden hierbei nicht beeinträchtigt. Mikroskopische und makroskopische Prozesse bilden eine Einheit, Identität zwischen beiden ist gegeben (Stadler 2007). Die synergetische Theorie geht von einer Art aufsteigender Emergenz aus, da sich Atome, Moleküle, Nervenzellen und bewusstseinsbegabte kognitive Systeme in ähnlicher Weise verhalten, jedoch auf jeder Stufe spezifischen Eigengesetzlichkeiten gehorchen (Stadler und Kruse 1994). Im Folgenden soll dies an einem Beispiel erläutert werden. Hermann Haken gehört, wie eingangs erwähnt, zu den Begründern der Laser-Theorie. Die Erklärung des Lasers führte ihn auch zu grundlegenden Überlegungen über Selbstorganisation in der Natur. Haken veranschaulichte immer wieder die Wirkungsweise einer Lampe und eines Lasers durch unterschiedliche, auf die Lichtwellen einwirkende Kräfte (Abb. 5). Mit zunehmender Energiezufuhr werden diese nicht nur stärker sondern auch kohärenter. Nun sind Atome und Moleküle von den Eigengesetzlichkeiten unserer Erlebniswelt weit

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Abb. 5: Haken erklärt die Entstehung des Laserlichts aus kohärenten Schwingungen.

entfernt und man möchte fragen, was passieren würde, wenn Menschen sich an der Stelle von Atomen in solch einem selbstorganisierenden System befänden? Die Antwort ist: das Gleiche. Es ist davon auszugehen, dass viele schon einmal eine kohärente Welle, die sich durch das Oval eines Fußballstadions bewegt, gesehen haben. Das Entstehungsgesetz einer solchen „La Ola“ ist ganz einfach. Jeder verhält sich nach folgender Regel: „Wenn dein Nachbar zur Rechten aufsteht, stehe auf und lass dich sofort wieder nieder.“ Wenn sich jeder Zuschauer oder die Mehrzahl entsprechend der Regel verhält, entsteht eine sinusförmige Welle, die sich entgegen dem Uhrzeigersinn mit gleich bleibender Amplitude (durchschnittliche Differenz zwischen Sitzgröße und Stehgröße der Menschen) und gleich bleibender Frequenz durch das Stadion bewegt. Auch die Geschwindigkeit der Wellenbewegung ist immer gleich und richtet sich nach der durchschnittlichen Reaktionszeit der Menschen. Jeder macht ähnlich wie die Moleküle in einer Wasserwelle lediglich Auf- und Ab-Bewegungen, die in ihrer Übersummativität eine Welle erzeugen, bei der sich aber niemand wellenförmig fortbewegt. Die Tatsache, dass in dem beschriebenen emergenten System das eigene Verhalten bei vollem Bewusstsein jedes Teilnehmers und das Verhalten des gesamten Systems gleichzeitig beobachtet werden kann, zeigt die Interaktion der mikroskopischen und der makroskopischen Ebene. Die Entstehung der Welle und der Zeitpunkt ihres Auftretens lässt sich auch genau analysieren (Stadler 1996). Wir lassen es jedoch hierbei bewenden.

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5. Überlegungen zum „schwierigen Problem“ Wir haben gesehen, dass eine identistische Deutung des Gehirn-GeistProblems möglich ist, ohne auf das Prinzip der Emergenz zu verzichten. Emergenz hat darüber hinaus eine große Bedeutung, wenn es um die Zuweisung von Bedeutungen im kognitiven System geht, wenn also Attraktoren die Träger von Bedeutung werden (Skarda und Freeman 1987). Aus der mentalen Sicht des kreiskausalen Prozesses gewinnen die Subjekte den unabdingbaren Eindruck, ihre Handlungen steuern zu können, was in einer objektiven Betrachtungsweise bedeutet, dass sie ihre Gehirnprozesse beeinflussen können. Auf der anderen Seite steht die neuronale Sichtweise, die das Bewusstsein als Folge neuronaler Effekte wirken lässt. Beide Male kann die jeweilige Sichtweise nur ausschließlich, d. h. ohne die andere zustande kommen. Wir finden globale Ursachen in der Hirnaktivität, die lokale Wirkungen haben, wenn wir etwa nur einen Finger bewegen wollen oder lokale Ursachen, die globale Wirkungen haben, da jeder äußere Reiz auf das gesamte System wirkt. Was bedeutet dies für das „schwierige Problem“? Wie in der Doppel-Aspekt-Theorie von Feigl (1958) werden die Qualia je nach Sichtweise als eine Realisierungsmöglichkeit aufgefasst. Anders bei Köhler, der ja das Isomorphie-Prinzip auch für Qualia gültig erklärt hatte, allerdings dabei deutlich gemacht hatte, dass es sich um eine funktionale Übereinstimmung handelt. Wir erinnern an Köhlers Ausspruch: „Das kortikale Korrelat der Farbe Blau ist nicht blau.“ Betrachten wir im Anschluss an Köhler ein Beispiel aus der Farbenlehre, das schon indirekt auf Newton zurückgeht: Abb. 6 zeigt auf der Abzisse, das lineare Spektrum der elektromagnetischen Schwingungen von 400 – 700 Nanometer. Die elektromagnetischen Schwingungen werden in der Regel als Ursache der Farbempfindungen angesehen. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass die zu den elektromagnetischen Schwingungen gehörenden Farbempfindungen nichtlinear sind. Beim Übergang von einer zur nächsten Farbe finden deutliche Qualitätssprünge statt, die etwa Blau, Grün, Gelb und Rot voneinander trennen. Empirisch messbar sind diese Qualitätssprünge durch den Verlauf der Unterschiedsschwellen, die in Abb. 6 eingezeichnet sind. Die Minima der Unterschiedsschwellen befinden sich genau an der am tiefsten gesättigten Stelle der Heringschen vier Urfarben. Im Sinne von Köhler kann hier festgestellt werden, dass die Qualitätssprünge der Farben und die Minima der Unterschiedsschwellen in ihrer Nichtlinearität isomorph sind – ohne dabei die qualitativen

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Abb. 6: Das lineare Spektrum elektromagnetischer Schwingungen erzeugt ein nicht-lineares Farbspektrum. Die Unterschiedsschwellen zeigen ihre Maxima auf den vier Heringschen Urfarben und sind ebenfalls nicht-linear.

(Farben) und quantitativen (Unterschiedsschwellen) als Ursache des jeweils anderen Aspekts anzusehen. Es gibt gute Argumente dafür, dass das „schwierige Problem“ ein empirisch angehbares Problem ist. In einem ersten Schritt sollten isomorphe Nichtlinearitäten im kognitiven System aufgesucht werden. Diese finden sich bei allen Qualitätssystemen. Von besonderem Interesse können hier konstante bzw. linear variierende Reizmuster sein, die als nichtlineare Top-down-Prozesse etwa bei multistabilen Mustern auftreten (Strüber und Stadler 1999).

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Bewusstsein und Freiheit1 Julian Nida-Rmelin Mein Beitrag umfasst vier Teile. Zur Einführung gehe ich kurz auf die Formen von Bewusstsein ein. Der eigentlich systematische Teil beginnt mit dem zweiten Teil, der sich mit dem Verhältnis von Bewusstsein und Intentionalitt befasst, es folgt ein dritter Teil zum Verhältnis von Intentionalitt und Freiheit. Mein Beitrag schließt mit einem vierten Teil über Selbstbewusstsein und Freiheit.

I. Formen von Bewusstsein Nach einer weit verbreiteten Auffassung ist der Begriff „Bewusstsein“ vieldeutig, er werde in unterschiedlichen Kontexten mit ganz verschiedenen Bedeutungen gebraucht. „Bewusstsein“ könne etwa die Fähigkeit zu integriertem Verhalten, aber auch bestimmte kognitive Fähigkeiten bezeichnen. Ich glaube, es lohnt sich, einmal genau zu prüfen, ob das wirklich zutreffend ist – aber das wäre ein eigenes Thema. Ist nicht das meiste, was man in guter Absicht und in guter analytischer Tradition unterscheiden kann, nicht doch besser als ein unterschiedlicher Aspekt des Selben zu interpretieren? Wenn wir z. B. sagen „Der ist offenbar nicht bei vollem Bewusstsein“, weil er sich so merkwürdig verhält – wir vermuten, er kann seine konativen und epistemischen Einstellungen nicht hinreichend integrieren, d. h. nicht hinreichend kohärent machen, uns ist daher nicht klar, welche konativen und epistemischen Einstelllungen wir ihm zuschreiben sollen – dann sollten wir das als einen Hinweis darauf verstehen, dass Bewusstein ein holistisches und kein punktuelles Phänomen ist. Und deswegen reden wir zu Recht so: Eine Person ist nicht recht bei Bewusstsein, z. B. weil sie hochgradig betrunken ist. 1

Dieser Text ist die nur leicht redigierte Abschrift eines Vortrages im Rahmen der Arbeitsgruppe Humanprojekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im März 2008. Der mündliche Stil wurde belassen.

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Bewusstsein von etwas ist immer Teil eines komplexen Netzwerkes von Intentionalität. Wir werden später differenzieren, wie Intentionalität und Bewusstsein zusammen hängen. Jedenfalls müssen die sich im Verhalten und Urteilen äußernden Einstellungen in sich halbwegs stimmig sein, damit wir bestimmte Bewusstseinsformen überhaupt zuschreiben können. Bewusstsein jeder Form äußert sich in Ich-Kontrolle, in kohärenten Überzeugungen und Handlungen, wobei das immer gradualistisch zu verstehen ist. Die einzelnen Elemente eines epistemischen und konativen Systems fügen sich mehr oder weniger kohärent zu den anderen und ihre Individuierung ist isoliert gar nicht möglich, sondern lediglich im größeren Kontext anderer Elemente. Bewusstsein beinhaltet epistemische Zustände erster und zweiter Ordnung, also Wissen dass (und Wissen wie) und Wissen, dass ich weiß, dass (bzw. wie). Gibt es auch nicht-propositionales Wissen zweiter Ordnung? – ich denke ja. Das geht zunächst in die Richtung derjenigen, die sagen, Bewusstsein ist als eine Form von Wissen zu charakterisieren, allerdings mit einer wichtigen Abweichung von dieser „Schule“ der epistemischen Bestimmung von Bewusstsein: Die Zuschreibung von epistemischen Zuständen setzt nicht das Verfügen von Sprache im üblichen Sinne voraus. Das wäre ein Streitpunkt mit Donald Davidson, der genau die Gegenposition sehr scharf vertreten hat. Es spricht nichts dagegen, auch Tieren epistemische Zustände zuzuschreiben. Diese Zuschreibung ist die plausibelste Interpretation und Erklärung ihres Verhaltens. Welche Rolle dann die Sprache spielt und welche zusätzlichen epistemischen Differenzierungen erst möglich sind bei Lebewesen, die über Sprache verfügen, das ist wiederum ein eigenes schwieriges Thema. Hinsichtlich der zweiten Ordnung wird auch die empirische Basis, was Tiere angeht, etwas unsicher. Immerhin haben wir im Rahmen unserer Arbeitsgruppe mehrfach das Phänomen des reflexiven Wissens bei Tieren diskutiert (vgl. z. B. Fischer 2007). Von den empirischen Befunden, die dabei herangezogen werden, sind manche schon allgemein bekannt und vielleicht schon etwas abgenutzt, wie der berühmte Kreidefleck. Interessanter sind Phänomene des Täuschungsverhaltens und die Frage, ob Täuschungsabsichten überhaupt zugeschrieben werden können, ohne dass die Akteure den anderen Akteuren bestimmte Erwartungen und mentale Zustände zuschreiben. Wenn das der Fall ist, haben sie wohl auch reflexives Wissen, was ihre eigenen mentalen Zustände angeht. Dass sie nur fremde mentale Zustände hypothetisch annehmen und nicht selbstbezüglich eigene, ist hochgradig unplausibel.

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Meine These lautet also: Es ist – jedenfalls als heuristische Maxime – interessanter, nicht mit einer Aufzählung von verschiedenen Verwendungsweisen des Ausdrucks Bewusstsein zu beginnen, sondern erst einmal zu prüfen, wie weit man mit der Gegenthese kommt: dass es nämlich im Wesentlichen um ein- und dasselbe Phänomen geht, um unterschiedliche Indikatoren oder Aspekte dieses Phänomens, die in unterschiedlichen Kontexten eine Rolle spielen. Dies als Vorbemerkung.

II. Bewusstsein und Intentionalität Die Intentionalitäts-Debatte ist gerade im deutschsprachigen Raum vorbelastet durch einen Strang philosophischen Denkens, der vor allem auf Brentano zurückgeht, und ein ganz spezifisches Verständnis von Intentionalität begründet. Ich möchte hier von den Reminiszenzen an die verschiedenen klassischen Textkorpora absehen, systematisch argumentieren und zunächst feststellen, dass es zweifellos nicht-intentionales Bewusstsein gibt. Das scheint mir auf der Hand zu liegen, obwohl das einer weit verbreiteten Auffassung entgegensteht, die erstens besagt, Intentionalität hänge mit Intensionalität eng zusammen, die Berichte über intentionale Zustände seien intensional, d. h. es lassen sich die vorkommenden Prädikate und Individuennamen nicht extensionsgleich ersetzen; zweitens habe Bewusstsein immer diesen Charakter. Ich glaube, das ist offenkundig falsch. Es gibt eine Vielzahl von Bewusstseinsformen, die nicht intentional sind, wobei diejenigen, die intentional sind, dann wieder unterschieden werden müssten in solche mit propositionalem und solche ohne propositionalen Gehalt. Jedenfalls besteht für das nicht-intentionale Bewusstsein dieser Zusammenhang mit Intensionalität auf keinen Fall. Ich plädiere für eine realistische Interpretation von Intentionalität, d. h. dort, wo es sich um intentionale Bewusstseinszustände handelt, ist der Inhalt eine Entität, die sich von den Wahrnehmungseindrücken unterscheidet. Wenn ich z. B. ein Auto wahrnehme, nehme ich ein Auto wahr und habe nicht lediglich das Wahrnehmungsbild eines Autos. Zwar besteht das Problem von Halluzinationen und Sinnestäuschungen, doch das widerlegt diese Sichtweise nicht. Eine realistische Interpretation unserer Erfahrungen und eine holistische Konzeption von Bewusstsein stützen sich wechselweitig. Die plausibelste Interpretation der Gesamtheit unserer intentionalen Zustände ist, dass bestimmte

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Gegenstände (oder bestimmte Tatsachen) objektiv – als deren Erfüllungsbedingungen – existieren: im Falle von propositionalen intentionalen Zuständen eben solche Tatsachen, die man in dass-Sätzen (dass etwas der Fall ist) formulieren kann. Wenn man dem lingualistischen Programm folgt, was ich nicht tue (vgl. Nida-Rümelin 2006), dann würde man in Satzytypen, die bestimmte intentionale Bewusstseinszustände beschreiben, differenzieren und diesen Satztypen entsprechende Sachverhaltstypen zuzuordnen versuchen. Ich bin mir nicht sicher, ob sich das wirklich durchhalten lässt. Es ist sicher heuristisch sinnvoll, möglichst weit in diese Richtung zu gehen, aber ich glaube, es wird keine klaren grammatischen Regeln geben, die die Typeneinteilung charakterisieren. Wie steht es z. B. mit einem Phänomen wie dem Hass? Ist Hass ein intentionaler Bewusstseinszustand oder nicht? – Ich würde vermuten, unter Normalbedingungen ist Hass ein intentionaler Bewussteinszustand, der auf jemanden gerichtet ist („Ich hasse jemanden“) und damit ist er intentional. Er kann sogar einen propositionalen Gehalt haben, „Ich hasse es, dass (oder wenn) XY passiert“. In dem sehr schönen Aufsatz von Max Scheler zum Ressentiment schildert er in abstrakten Formulierungen eine Veränderung des Bewusstseins. Diese beginnt – das sind natürlich nicht Schelers Begriffe – mit propositionaler Intentionalität, dann intentionaler aber nicht-propositionaler Intentionalität und mündet schließlich, so würde ich es interpretieren, in einen nicht-intentionalen Zustand, nämlich Ressentiment. Das Ressentiment ist dann am Ende nur noch eine Art Krankheit der Seele. Dem muss man natürlich nicht folgen, es lässt sich auch sagen, Ressentiment ist immer intentional, es richtet sich bspw. gegen eine bestimmte Minderheit. Aber man kann unter Ressentiment auch eine Art Vergiftungsszustand der Seele verstehen – und das scheint mir der Befund dieses Aufsatzes von Scheler zu sein –, der sich gegen niemanden mehr richtet. So ergibt sich eine graduelle Veränderung von ursprünglich propositionalem intentionalem Gehalt zu einem intentionalen nicht-propositionalen und schließlich zu einem nicht-intentionalen Bewusstseinszustand, zu einer Emotion ohne intentionalen Gehalt. Jetzt möchte ich noch ausbuchstabieren, was ich an anderer Stelle „pragmatischen Holismus“ genannt habe. Ich taste mich gewissermaßen vor und beginne dort, wo der Konsens wahrscheinlich noch am größten ist, nämlich der Zuschreibungspraxis propositionaler Einstellungen. Es gibt ein sehr erfolgreiches reduktionistisches Programm der praktischen Philosophie, das sich folgendermaßen charakterisieren lässt: Man kann

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das Gesamt der praktisch relevanten Bewusstseinszustände oder mentalen Zustände auf zwei spezifische Typen propositionaler Einstellungen reduzieren oder zurückführen, nämlich belief auf der einen und desire auf der anderen Seite: belief – ich meine, glaube, vermute, erwarte usw., dass etwas der Fall ist – und desire – ich wünsche, präferiere, ich hoffe usw.2 Wenn diese Typologie durchginge, dann könnten wir die Praxis von Individuen und die Interaktionspraxis von Gruppen, Gemeinschaften, Sprachgemeinschaften, Kulturgemeinschaften usw. über diese Zuschreibungspraxis zweier Typen propositionaler Einstellungen rekonstruieren – belief und desire. Attraktiv an diesem Modell ist, dass es die hochentwickelte rationale Entscheidungstheorie und eventuell auch die Spieltheorie mit ihren Ablegern, collective choice-Theorie, in die Analyse mit einbeziehen kann. Der Holismus ist interessanterweise zumindest in den interessanteren Modellen der Entscheidungstheorie eingebaut. Das bekannteste ist das Modell von Richard Jeffrey in „Logic of Decision“ aus der Mitte der 60er Jahre, in der sehr schön schrittweise gezeigt wird, dass die Zuschreibung von belief und desire nur als simultane Zuschreibung gelingt. Die ursprüngliche Idee, die aus dem Positivismus hervorgegangen ist und die wesentlich für die Entstehung der Ökonomie als Wissenschaft um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde, war ja, auf alle metaphysischen Begriffe zu verzichten und zu fragen: Was hat man als Datum? Als Datum hat man eine bestimmte Entscheidung, oder genauer gesagt ein bestimmtes Verhalten angesichts gegebener Alternativen. Das ist das Datum und die empirische Basis. Nun schreitet man weiter, bleibt aber im empiristischen Rahmen: Alles, was jetzt an Interpretation kommt, darf sich nicht entfernen von diesem Datum. Das ist das revealed preference-Konzept der Entscheidungstheorie: Wir entfernen uns nicht von dem Datum. Doch dann wird es kompliziert, denn es gibt offenkundig eine Vielzahl von belief/desire-Paaren, die dieses Einzelne, den token (dass ich mich nämlich so und nicht anders entschieden habe) rational machen würden. D.h. es ist unterbestimmt, ich weiß nicht, welche beliefs oder welchen Komplex von beliefs und desires ich zuordnen soll. Aufgrund dieses Datums ist das unterbestimmt. Hier kommt der Holismus ins Spiel: Nicht die einzelne Entscheidung, 2

Dabei hat „hoffen, dass etwas der Fall ist“ eine merkwürdige Ambivalenz, denn „hoffen“ hat einen epistemisch-konativen Doppelcharakter. „Hoffen“ heißt epistemisch: „Ich habe eine Erwartung höher als…, dass es eintritt“, aber zugleich „Ich habe einen Wunsch, dass es eintritt“.

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sondern eine Folge von Entscheidungen ist bedeutsam. Da diese Folgen von Entscheidungen nicht gegeben sind, sind sie kontrafaktisch („Wie würde die Person wohl, wenn sie…“). Wir haben so eine ganze Folge von Daten in diesem Sinne, so dass ich jetzt zwei reellwertige, bis auf positiv-lineare Transformationen eindeutige Funktionen dieser Person zuschreibe, nämlich eine belief oder eine desire oder utility function, für die gilt, dass die Person sich genau dann so verhält, wie sie sich als empirisches Datum verhält, wenn sie diese beiden Funktionen, genauer gesagt: den Erwartungswert der utility function, maximiert. Das ist die These, die sich über einige Kohärenzbedingungen axiomatisieren lässt. Die Kohärenzbedingungen der Präferenzen einer Person sind im Wesentlichen vier: 1. Reflexivitt. Diese Bedingung ist trivial, dass ich nämlich dieselbe Alternative mindestens so gut finde wie diese Alternative. 2. Transitivitt. Wenn ich A gegenüber B und B gegenüber C vorziehe, muss ich auch A C gegenüber vorziehen. 3. Monotonie. Wenn ich wahrscheinliche Alternativen – eine Lotterie: eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für zwei mögliche Ergebnisse und eine zweite Wahrscheinlichkeitsverteilung über diese beiden gleichen möglichen Ergebnisse – habe, dann ziehe ich diejenige Lotterie oder diejenige Wahrscheinlichkeitsverteilung vor, die das von mir Gewünschtere wahrscheinlicher macht. 4. Die Stetigkeitsbedingung besagt, wenn ich drei Alternativen und eine (strikte) Präferenz für A gegenüber B und B gegenüber C habe, dann gibt es genau eine Wahrscheinlichkeitsverteilung über A und C, bei der ich gegenüber dieser Wahrscheinlichkeitsverteilung und B, dem Mittleren, indifferent bin. Das sind die vier Bedingungen. Es gibt verschiedene, z. T. kompliziertere Axiomatisierungen, aber das hier Vorgestellte ist der Kern. Merkwürdigerweise ist in einem Gutteil der ökonomischen Literatur dieser kohärentistische Charakter der modernen Nutzentheorie vergessen. Es wir immer konsequentialistisch interpretiert – die Leute wollen irgendetwas, streben nach irgendetwas und wählen ihre Handlungen als geeignete Mittel, das Erstrebte als kausale oder probabilistische Folge eigener Handlungen zu erreichen –, der theoretische Kern der modernen Ökonomie jedoch ist kohärentistisch, und zwar in einem sehr weit gehenden Sinne. Erstens deswegen, weil diese Postulate alle Kohärenzpostulate sind. Sie sagen gar nichts darüber aus, was mir inhaltlich wünschenswert erscheint, etwa ob ich meinen Eigennutzen

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maximiere (es wird immer noch die Gespensterdebatte in der Ökonomie geführt, ob man Eigennutzen maximierende Individuen zu Grunde legen kann oder nicht, was aber nicht die Annahme der modernen, sondern der alten Ökonomie des 19. Jahrhunderts ist). Spätestens seit von Neuman und Morgenstern ist der theoretische Kern der modernen Ökonomie strikt kohärentistisch. Zweitens ist er in dem Sinne kohärentistisch, dass er eine offene, beliebig viele Alternativen umfassende Alternativenmenge annimmt, gegenüber der sich die Person kohärent verhält. Also die rationale Person verhält sich kohärent gegenüber einer beliebig großen Menge von Alternativen, wobei unter diesen Alternativen auch solche sind, die Wahrscheinlichkeitsmischungen zwischen festen Alternativen darstellen. Entgegen dem manchmal in modernen ökonomischen Schriften Vertretenen ist der rationale Akteur im Sinne der modernen Ökonomie durch eine Zuschreibungspraxis zweier propositionaler Einstellungen charakterisiert – desire und belief. Diese Zuschreibungspraxis beruht auf Bedingungen der Kohärenz, der Kohärenz der Praxis. Das ist, würde ich sagen, im analytischen Feld der praktischen Philosophie die Standardherangehensweise. Es muss möglich sein, Rationalität in dieser Weise zu modellieren, was allerdings zu der Merkwürdigkeit führt, dass der ganze Kosmos unterschiedlicher mentaler Zustände, zumal Bewusstseinszustände intentionaler und nicht-intentionaler Art, sich reduzieren lassen müsste auf diese zwei Grundtypen propositionaler Einstellungen. Ich will eine sicherlich brutale Antwort geben: In einem bestimmten Sinne ist das mit Sicherheit falsch. Die Vielfalt von mentalen Zuständen, die relevant sind für unsere Praxis, für unsere Interaktionen, lässt sich nicht reduzieren auf diese zwei propositionalen Einstellungen. Dennoch kann es sinnvoll sein, dass im theoretischen Modell eine solche radikale Reduktion vorgenommen wird und man kann dieses theoretische Modell trotz der Nichtreduzierbarkeit dadurch retten, dass diese beiden Funktionen eben nicht konkrete Bewusstseinszustände der Person repräsentieren, sondern lediglich die Kohärenz, die diese Person in der Vielfalt von intentionalen und nichtintentionalen Zuständen herstellt. Anders formuliert: Wenn diese ganze Vielfalt kohärent ist, lässt sie sich so repräsentieren, als ob die Person diese zwei propositionalen Einstellungen hätte. D.h. es sind Kohärenzforderungen, die falls erfüllt, diese Darstellungsweise erlauben. Zur Verteidigung dieses theoretischen Kerns der modernen Ökonomie kann man in der Tat anführen, dass die vier genannten Postulate so harmlos sind, dass sie eigentlich erfüllbar sein sollten für beliebige

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Spektren von intentionalen Zuständen, die relevant sind für unsere Praxis. In dieser Sichtweise ist dies keine Interpretation intentionalen Bewusstseins insgesamt, sondern das sind Kohärenzbedingungen, also Postulate der Kohärenz, die dann dazu führen, dass diese Darstellungsform möglich ist. Aber man darf diese Darstellungsform nicht reduktionistisch missverstehen. Welche Rolle spielt dabei die Sprache? Ich glaube, es gibt zwei große Stränge in der Diskussion um diese Frage. Der eine Strang ist lingualistisch, der andere ist nicht-lingualistisch. Der eine behauptet, dass alles, was an mentalen Zuständen relevant ist, um menschliches Verhalten zu verstehen, sich auch sprachlich darstellen lassen muss. Man muss es beschreiben können und eine bestimmte Teilmenge von Bewusstseinszuständen lässt sich dann mit intensionalen Sätzen beschreiben. Alles was nicht darstellbar ist, ist auch für die Interpretation menschlichen Verhaltens nicht verwendbar. Man könnte sagen: Nichts trivialer als das. Wie denn sonst? Bleibt uns denn noch etwas außer Sprache? Die Sache ist allerdings vertrackter, denn Sprache hängt ja davon ab, dass es geteilte Bedeutungen gibt, d. h. dass die Äußerungen eine Bedeutung haben in einer Sprachgemeinschaft. Die behavioristische Form des Lingualismus sagt, wir verstehen Bedeutung als nichts anderes als die faktische Konformität der Sprachteilnehmer oder der Sprecher dieser Gemeinschaft mit bestimmten Verhaltensregeln (In bestimmten Situation äußert er dies und jenes. Wenn der eine das äußert, äußert der andere das usw.). Viele Behavioristen meinen, das hätte Wittgenstein behauptet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht der Fall ist, obwohl man sicherlich bestimmte Passagen so lesen kann. Die mir viel plausibler erscheinende Analysemethode ist die, dass sich im Sprachverhalten ein spezifischer Typ von Bewusstseinszuständen, nämlich derjenige intentionaler, propositionaler Bewusstseinszustände, die im Deutschen „Absichten“ heißen (ich habe den Intentionalitätsbegriff viel weiter als den Absichtenbegriff verwendet), verstehen lässt. Oder anders formuliert: Dass bedeutungsvolles Äußerungsverhalten, d. h. erfolgreiche Verständigung, die angesprochene Kohärenz der Beteiligten bezüglich ihrer intentionalen Zustände voraussetzt. Die bekannte Form, in der dieses Programm seit Ende der 50er Jahre diskutiert wird, ist die der Grice’schen3 Semantik (neben David Lewis (1969), war Jonathan Bennett einer der drei großen Vertreter der intentionalisti3

Vgl. H.P. Grice (1957; 1969) und zur Diskussion dieses Ansatzes: R. E. Grandy und R. Warner (1989).

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schen Semantik). Ich glaube, dass das im Kern der richtige Ansatz ist, natürlich mit der zu erwartenden Modifikation, dass das, was zu Grunde gelegt wird, nicht wie bei Grice das Einwirken auf den Anderen ist, sondern das Bereitstellen von Gründen, etwas zu glauben oder etwas zu tun (vgl. Nida-Rümelin 2001; 2009). Wesentlich ist, dass hier das Verhältnis gegenüber dem behavioristischen Programm gewissermaßen umgekehrt wird. Es ist die Zuschreibung von bestimmten Bewusstseinszuständen, und zwar ganz speziellen (nämlich Absichten oder Gründe geben), die bedeutungsvolles Äußerungsverhalten und sprachliche Verständigung erst möglich machen. Um plausibel zu sein, muss dieser Ansatz deswegen bei bedeutungsvollem Äußerungsverhalten in Fällen beginnen, in denen es keine konventionelle Bedeutung gibt. Wenn ich sage „Draußen scheint die Sonne“, dann hat der Satz eine konventionelle Bedeutung (Unter normalen Bedingungen kann niemand sagen „Draußen scheint die Sonne“ und meinen „Draußen regnet es“, aber es gibt Ausnahmen, wie etwa der ironische Sprachgebrauch, der erlaubt, dass man mit einer Äußerung das Gegenteil des konventionell Gesagten meint und die Äußerung dann auch so verstanden wird). Es ist in den meisten Fällen konventionell weitgehend festgelegt, welche Bedeutung, unsere Äußerungen haben, und Grice und seine Schule müssen daher ungewöhnliche Situationen erfinden, in denen es keine konventionelle Bedeutung bestimmter Zeichen gibt, die gebrauchten Zeichen aber dann dadurch eine Bedeutung bekommen, dass zwischen Sprecher und Adressat aufgrund des Zeichengebrauchs eine gemeinsame wechselseitige Zuschreibung von Intentionaliät erfolgt. Hier ist eine Bemerkung zum Problem Lingualismus erforderlich: Es ist sehr plausibel anzunehmen, dass wir große Teile unserer intentionalen Zustände nicht beschreiben können, weil das uns zur Verfügung stehende Vokabular zu dürftig ist. Da könnten Neurowissenschaftler und Psychologen viele Beispiele anführen. Z.B. ist die diskriminatorische Fähigkeit bezüglich Farbnuancen um ein Vielfaches höher als das, was sprachlich an Farbschattierungen angeboten wird. Erinnern Sie sich noch an die beliebte Legende, die Inuit hätten fünfzig unterschiedliche sprachliche Ausdrücke für „Weiß“ und die Hopi-Indianer hätten aufgrund Ihrer Sprache eine andere Physik entwickelt, als die, die uns vertraut ist (vgl. Lee Whorf 1956)? Das ist deswegen Unfug, weil die Alltagspraxis – z. B. im Umgang mit einer meist schnee- und eisbedeckten Umwelt – von den sprachlichen Möglichkeiten nur in engen Grenzen festgelegt ist. Wenn Menschen einer Gruppe etwas unterscheiden können, äußert sich das unter geeigneten Bedingungen

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auch in ihrer lebensweltlichen Praxis, unabhängig davon, ob ihre Sprache über Termini dieser Diskrimination verfügt. Deswegen ist es – entgegen der lingualistischen Doktrin – möglich, dass Äußerungen Bedeutungen haben, dass Verständigungen stattfinden, dass Kommunikation erfolgreich ist, dass wechselseitige Zuschreibung von Intentionen stattfindet, ohne dass sich die Beteiligten einer Sprache im üblichen Sinne bedienten. Sprachlose Kommunikation setzt ebenso wie sprachliche gemeinsames Wissen voraus. Ja, genau besehen, sogar in einem deutlich höheren Maße. Der Begriff „Kommunikation“ impliziert das Gelingen, sonst handelte es sich lediglich um einen Kommunikationsversuch. Die sprachlichen Regeln entlasten die Kunst der angemessenen und für Kommunikation konstitutiven Zuschreibung von Intentionen. Wer ein Versprechen unter Verwendung der üblichen sprachlichen Mittel gibt, offenbart damit dem Adressaten seine Intentionen und Erwartungen. Natürlich ist es möglich, dass jemand andere Intentionen hat, als die, die für den betreffenden Sprechakt konstitutiv sind, dann handelt es sich um einen problematischen Fall, wenn dies dem Adressaten verborgen bleibt (Austin (1962) spricht da von infelicity), der zu einem Fehlschlag wird (Austin nennt das fallacy), den Vollzug des Sprechaktes selbst also unmöglich macht, wenn sich das dem Adressaten offenbart. Die jeweilige Sprechakte begleitenden Intentionen sind konventionell in dem Sinne, dass wir sie als Mitglieder der Sprachgemeinschaft haben (sollten), wenn wir die Sprechakte vollziehen, diese uns wechselseitig zuschreiben und bezüglich dieser über ein gemeinsames Wissen verfügen. Das heißt, der Sprecher weiß, dass der Adressat annimmt, dass er diese Intentionen hat und der Adressat weiß, dass das der Sprecher weiß etc. – die Interationen sind lediglich pragmatisch begrenzt. Auch für sprachlose Kommunikationen spielt gemeinsames Wissen in diesem Sinne eine konstitutive Rolle, nur, dass die grammatischen Regeln seinen Inhalt nicht festlegen, dieser also nicht-konventionell ist. Sprachlose Kommunikation kann es daher nur vor dem Hintergrund geteilter Lebensformen und der für diese ausschlaggebenden Intentionen geben, unabhängig davon ob sich diese einer mehr oder weniger universalistisch verstandenen conditio humana verdanken oder den kulturellen, aber von den Kommunikationsbeteiligten geteilten Besonderheiten.

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III. Intentionalität und praktische Freiheit Ich führe nun die Fäden im Verhältnis von Intentionaliät und praktischer Freiheit zusammen. Handlungen haben eine äußere, öffentliche, man kann auch sagen physikalische Dimension und eine innere in Gestalt einer je spezifischen, den Handlungstyp individuierenden Intentionalität. Obwohl ziemlich künstlich scheint es mir sinnvoll, dabei drei Formen dieser spezifischen Intentionalität zu unterscheiden. Die erste Form sind motivierende Absichten. Das ist eine Form propositionaler Intentionaliät oder propositionaler intentionaler Bewusstseinszustände. Wenn ich also gefragt werde: „Warum hast du denn vorhin deinen Nachtisch nicht aufgegessen?“ und ich sage „Weil ich rechtzeitig mit dem Vortrag beginnen wollte“, dann ist das eine Erläuterung im Sinne motivierender Absicht. Es war mein Motiv, dies zu tun. Ich glaube, es gibt keine Handlung, die nicht wenigstens rudimentär von motivierenden Absichten geprägt ist. Dies wird umstritten sein. Zweitens gibt es keine Handlung, die nicht von vorausgehenden Absichten geleitet ist. Vorausgehende Absichten unterscheiden sich von motivierenden Absichten dadurch, dass ihre Erfüllungsbedingungen die Handlungen selbst sind. Wenn ich gehandelt habe, habe ich die vorausgehende Absicht erfüllt. An dieser Stelle gibt es das besondere Phänomen der Entscheidung. Was ist die Entscheidung in diesem Zusammenhang? Mir scheint, die Entscheidung ist eine besondere Form vorausgehender Absichten, die man etwa folgendermaßen charakterisieren kann. Erstens: Sie wird erfüllt durch die Handlung. Wenn ich mich entschieden habe um 16 Uhr den Raum zu verlassen, dann erfülle ich diese Absicht dadurch, dass ich diesen Raum um 16 Uhr verlasse, ganz egal, welche Motive ich dafür habe. Das Motiv ist vielleicht, die S-Bahn zu erreichen, und es erfüllt sich dadurch, dass ich die S-Bahn erreiche. Erfüllt wird die vorausgehende Absicht durch die Handlung des diesen Raum-Verlassens. Aber das besondere einer Entscheidung ist zweitens, dass sie einen Deliberationsprozess stoppt – das wäre jedenfalls mein Vorschlag –, d. h. auf Dispens setzt, etwa in dem Sinne: Ich (bzw. bei kollektiven Entscheidungen „wir“) werde(n) jetzt keine weiteren Abwägungen mehr vornehmen. Wenn nichts dazwischen kommt, wenn ich nicht noch mal Grund habe, neu anzusetzen, dann ist das jetzt meine endgültige vorausgehende Absicht, die durch meine Handlung erfüllt werden wird. Wenn das stimmt, handelt es sich um ein sehr interessantes Phänomen, denn dann wäre dieses kognitive Element der Abwägung von Gründen in den Handlungs- und

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Entscheidungsbegriff selbst eingebaut, die stoizistische Auffassung prohairesis krisis estin, wäre keine exotische philosophische These, sondern unaufgebbarer Teil unserer Praxis. Zu dieser Praxis gehörte das für Entscheidungen charakteristische Phänomen, Stellung zu nehmen und das heißt die Absicht zu haben, weitere Abwägungen zu unterlassen. „Schluss“ zu sagen, wertend Stellung zu nehmen, sich zu entscheiden wären gewissermaßen ein einziger Akt und die dann folgende Handlung nur noch das Resultat. Jede Handlung ist eine Stellungnahme, jede Präferenz ist eine Stellungnahme, d. h. das Ergebnis der Abwägung von Gründen – und sei sie noch so rudimentär. Das ist nicht so abwegig, wie es zunächst zu sein scheint. Nun kommt die dritte Form von Intentionalität, die vor allem in den 60er Jahren ganze Bibliotheken mit Beispielen und Gegenbeispielen gefüllt hat, ins Spiel, nämlich dass das, was meine vorausgehenden Absichten erfüllt, selbst wieder von Intentionalität begleitet sein muss. Ein Beipiel (vom Typ sind diese Beispiele immer gleich): Jemand will seinen Onkel ermorden, deswegen ist er aufgeregt und fährt zu schnell. Er überfährt deswegen einen Passanten, der sein Onkel ist. Jetzt kann man sagen: Er hat eine vorausgehende Absicht. Diese war kausal relevant für das, was passiert, nämlich, dass der Onkel zu Tode kommt. Doch irgendetwas stimmt hier nicht, deswegen muss noch das dritte Element hinzu, nämlich diese, sagen wir, verhaltensbegleitende Intentionalität. Nur wo diese drei Formen von Intentionalität eine Rolle spielen, können wir von Handlungen eines Typs sprechen, der durch die jeweiligen charakteristischen Bewusstseinszustände bestimmt ist. Damit ergibt sich eine Kritik der desire/belief-Theorie, die man in der radikalsten Form folgendermaßen präsentieren kann: In letzter Instanz ist für die Frage, ob eine Handlung rational ist oder nicht, ausschlaggebend, ob meine normative Überzeugung, dass diese Handlung die richtige ist, wohlbegründet ist oder nicht. Die letzte Instanz sind also nicht Wünsche, die sich in Absichten umsetzen und Absichten, die durch etwas erfüllt werden, sondern wir interpretieren jetzt diese Absichten als Ausdruck einer normativen Stellungnahme. Das erklärt, warum es keine Handlung, ohne eine wenigstens rudimentäre Abwägung von Gründen geben kann. Das ist eine sehr radikale Kritik der desire/belief-Theorie, die man auch vorsichtiger formulieren kann: Es gibt Handlungen, für die es erforderlich ist, eine solche Interpretation vorzunehmen. Die universelle Anwendung der desire/belief-Theorie scheitert also an diesem Phänomen bei bestimmten Handlungen. Das lässt sich tatsächlich beweisen (vgl. Nida-Rümelin 2001). Die weiter-

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gehende These als Allsatz lässt sich schwer beweisen, aber ich habe noch kein überzeugendes Gegenargument gehört. Der normative, unaufgeregte, nämlich nicht ontologisch angereicherte Realismus, für den ich plädiere, besagt, dass es uns hier bei der Abwägung von Gründen letztlich darum geht festzustellen, welche normativen Sachverhalte bestehen, welche Handlungen die besseren Argumente für sich haben. Deswegen reichere ich die natürliche Welt nicht notwendigerweise mit moralischen Eigenschaften an, vielmehr ist das in meinen Augen eine adäquate Beschreibung dessen, was wir alle in unserer alltäglichen Verständigungspraxis tun. Ich möchte den zentralen Punkt folgendermaßen zuspitzen: Angenommen es stimmt, dass ich bei jedem Verhalten, das Handlungscharakter hat, auf Fragen des Typs „Warum hast du das getan?“ eine Antwort geben kann, die keine Ursachen nennt, sondern Gründe angibt. Ich kann eine Antwort auf eine Warum-Frage spezifischen Typs geben und der Frager wäre äußerst enttäuscht, wenn ich bei meiner frühkindlichen traumatischen Erfahrung beginnen würde, um zu erklären, warum ich mich so und nicht anders verhalten habe, als eine Kausalgeschichte erzähle. Er will wissen, was für einen Grund ich hatte, so und nicht anders zu handeln. Wir haben hier etwas Merkwürdiges: Wenn ich Gründe angeben kann, dann nehme ich (um den Terminus zu verwenden) reflexiv Stellung. Ich sage, was mich bewogen hat, es so und nicht anders zu tun, warum ich überzeugt bin, es war das Richtige – normativ. Was ist nun mit der These, ein Gutteil unserer Handlungen habe nicht diesen Charakter, sondern geschehe irgendwie unbewusst oder – wie zuvor die These war – es gebe viele Emotionen, die keinen Bewusstseinzuständen entsprechen und diese könnten sich in einem konkreten Abwehrverhalten der betreffenden Person äußern? Nehmen wir einmal an, ein solches Forschungsprogramm ginge auf, man könnte also bestimmte Verhaltensweisen so erklären. Dann würden wir der Person Emotionen zuschreiben, die der Person nicht bewusst sind, die dieses Verhalten aber erklären. Jetzt fragen wir die Person, warum hast du das so und nicht anders gemacht, und die Person gibt Gründe, die natürlich nicht auf diese Emotionen Bezug nehmen können, da diese der Person ja nicht bewusst sind, wie angenommen wurde. Nun können wir versuchen die Sache mit der Behauptung zu retten, die Person irre sich. Sie wisse eben nicht, was sie dazu gebracht hat, sich so und nicht anders zu verhalten. Sie gibt zwar Gründe an, aber eben nur ex post, diese hatten keine handlungsleitende Rolle. Dies wäre eine Variante der error-theory: wir sind alle in einer Irrtumswelt befangen, wir

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geben Gründe an, ohne dass diese Gründe eine Rolle spielen für das, was wir tun. Wer das glauben will, den kann man nicht widerlegen, aber sehr plausibel ist das nicht. Die Tatsache, dass wir – schärfer formuliert – für diejenigen Verhaltensbestandteile, die Handlungscharakter haben, immer Gründe angeben können und diese Gründe sich dann in jener komplexen Intentionalität strukturieren, die ich vorher skizziert habe, mit motivierenden, vorausgehenden und begleitenden Absichten – diese Tatsache spricht gegen die These, dass das Handeln in hohem Maße bestimmt sei durch Vorgänge, die nicht ins Bewusstsein treten. Es ist mir völlig klar, dass die These der umfassenden Steuerung unseres Handelns durch Gründe zunächst einmal unplausibel erscheint. Deswegen versuche ich es etwas plausibler zu machen mit einem Beispiel, das ich bereits vor vielen Jahren in der „Kritik des Konsequentialismus“ (München/Wien 1993) verwendet habe, das mir aber nach wie vor illustrativ erscheint: Wenn Sie einen schweren Unfall mit einem Bein- oder Armbruch hatten und Sie dann wieder anfangen, sich zu bewegen, dann vollziehen Sie eine Vielzahl von Handlungen, die der normale Akteur, der keinen solchen Unfall hatte, allesamt nicht vollzieht. Sie sagen etwa zu sich: Damit ich zu diesem Glas komme, sollte ich erst einmal meine Schulter zurücknehmen, weil ich weiß, so direkt komme ich nicht hin, dann sollte ich mich mit meinem Oberkörper zur Seite drehen, damit das Gelenk eine Drehung mit kleinerem Winkel machen kann. Schließlich müssen sie eventuell alle Ihre Willenskraft zusammennehmen, damit die Muskeln die für diese Bewegung notwendige Arbeit verrichten. Um ein anderes Beispiel zu nehmen: Für jemanden der gerade Autofahren gelernt hat, ist Rechtsabbiegen eine dichte Folge von einzelnen Handlungen. Er ist schweißgebadet und überlegt sich, wann muss ich jetzt den Blinker setzen, von der Bremse gehen, die Kupplung drücken und das alles kurz hintereinander oder gar gleichzeitig. Derjenige, der gut Auto fährt, reduziert – mit einem Begriff von Danto – die Anzahl nicht mehr zerlegbarer Basishandlungen dramatisch. Der nach 25 Jahren Fahrpraxis wirkliche Geübte will nur noch von A nach B, seine Handlung setzt diese Absicht um. Es ist nicht erforderlich, ja psychologisch kaum noch möglich, diese Handlung in eine Vielzahl von Teilhandlungen zu zerlegen und diese einzeln zu vollziehen. Würde er das tatsächlich tun, erschiene sein Fahrstil wieder wie der eines Anfängers. Es gibt da viele, teilweise weit komplexere Beispiele: Jemand fährt 30 Kilometer nachts, er ist während dessen nicht eingeschlafen und merkt dennoch plötzlich, ich bin ja schon 30 Kilometer weiter gefahren, als mir bewusst war. Ist er bewusstlos gefahren,

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ist er während dessen bewusstlos gewesen? Nein, die naheliegendere Interpretation ist, dass die intentionale Steuerung, die handlungsleitende Rolle von Gründen hier auf ein Minimum reduziert ist und daher das Fahrverhalten weitgehend automatisiert ist, auch ohne bewusste Kontrolle auskommt (ganz ungefährlich ist das nicht, da erfahrungsgemäß in solchen Phasen die Reaktionszeiten wesentlich herabgesetzt sind). Das Bild der Handlung ändert sich also. Es ist nicht etwa so, dass Verhalten neben Handlung steht, sondern, solange ich bei Bewusstsein bin, ist alles handlungsstrukturiert, über Handlungen strukturiert. Aber die strukturierenden Elemente sind unterschiedlich groß und damit sind auch die Modi des Begründens andere. Der eine fragt z. B.: „Warum hast das gemacht?“ – Dann sagt der erfahrene Autofahrer: „Weil ich nach B wollte“. Das genügt. Der Ungeübte sagt: „Weil ich erstens nach B wollte und weil mir zweitens der Fahrlehrer gesagt hat, wenn ich das will, muss ich dies und jenes machen usw.“ Man könnte sagen, der phronimos handelt immer weniger, was nicht heißt, dass Teile seines Verhaltens keinen Handlungscharakter hätten. Sondern die kleinsten, nicht mehr in Einzelhandlungen zerlegbaren Teile seines Verhaltens, die Handlungscharakter haben, werden größer. Das ist die Idee. Damit sind wir schon nahe an der wesentliche These. Grnde heben berzeugungsund handlungsleitende Intentionalitt ins Bewusstsein (da gibt es in der Tat ex post-Phnomene) und strukturieren diese. Gründe strukturieren die Praxis, einschließlich der Urteilspraxis. Ich überspringe hier die Thematik der naturalistischen Unterbestimmtheit von Grnden, zu der ich in unserer Runde schon vorgetragen habe (Nida-Rümelin 2007) und komme zu der Frage, wie das, was wir gerne als „Autonomie“ oder „Selbstbestimmung“ bezeichnen, mit Gründen zusammenhängt. Die These lautet: Autonomie konstitutiert sich über Gründe, nicht über Wünsche zweiter Ordnung – das ist gegen die Diskussionen im Anschluss an Harry Frankfurt gerichtet. Ich bin ich (ich bin nicht ich lediglich auf der Metaebene der Volitionen zweiter Stufe), ich bin verantwortlich, für das was ich tue, sofern das, was ich tue (und übrigens auch das, was ich glaube, und größtenteils auch das, was ich empfinde, zumindest, wenn es um bestimmte Typen von moral sentiments geht), sich über Gründe konstituiert. D.h. ich kann Auskunft geben, warum ich jemanden hasse, warum ich von etwas überzeugt bin oder warum ich etwas getan habe (wenn es denn Handlungscharakter hat): Autonomie als praktische Freiheit, aber diese Freiheit ist wohlgemerkt konstituiert über die besondere Fähigkeit, die eigene Lebensform, seine Überzeugungen, seine Interaktionspraxis, bestimmte handlungsleitende

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Gefühle, von Gründen leiten zu lassen. In der gegenwärtigen Literatur ist es weitverbreitet, dass die Anhänger einer Autonomieinterpretation von Freiheit und die Anhänger einer Interpretation von Freiheit, die die Existenz von alternativen Möglichkeiten voraussetzt, als zwei Positionen angesehen werden, die eine unvereinbare Interpretation von Freiheit zu Grunde legen. Mir scheint das unplausibel zu sein, denn die Konfusionen in der zeitgenössischen free will-Debatte hängen genau damit zusammen, dass nicht geklärt wird, was es eigentlich heißt alternative Möglichkeiten zu haben und bezüglich welcher Bedingungen diese bestehen sollen. Da gibt es etwa das Beispiel, das z. B. Christine Korsgaard sehr beschäftigt hat: Wenn jemand ein moralisch so anständiger Mensch ist, dass das Abwägen von Gründen nur dazu führen kann, dass er dieses tut, dann ist er zwar verantwortlich für das, was er tut, dann ist er autonom, weil es ja seine Wünsche, Einstellungen und moralischen Überzeugungen sind, die dieses moralische Verhalten prägen, aber er war nicht frei, etwas anderes zu tun, weil er als Person ja so ist, dass er nichts anderes tun konnte, als das, was er tat. Nun, das ist völlig richtig, nur wird nicht genau gesagt, unter welchen Bedingtheiten dies geschieht. Denn diese Bedingtheiten, die eingeführt werden und die die alternativen Möglichkeiten ausschließen, beziehen sich ja schon auf den Inhalt der Abwägung der Gründe, die das betreffende Individuum als eine anständige moralische Person vornimmt. Meine These der Existenz alternativen Möglichkeit ist hingegen, dass die Deliberation eine Rolle spielt für das, was ich tue, und nicht vor aller Deliberation immer schon festliegt, was ich tue. Das ist eine ganz andere These und wenn man will, kann man das rekonstruieren über die Spielräume, die bleiben, wenn man eine vollständige Beschreibung der Verhaltensbedingungen in der Sprache vornimmt und mit den Gesetzesannahmen der Naturwissenschaft, also in einem naturalistischen Modus. Dass das alles science fiction ist, muss ich hier nicht betonen.

IV. Selbstbewusstsein und Freiheit Während ich beim ersten Schritt – Gibt es eine Einheit des Bewusstseins oder müssen wir wirklich verschiedene Typen unterscheiden? – eher einen heuristischen Vorschlag gemacht habe und mir nicht sicher bin, ob er sich wirklich durchhalten lässt, und ich im Zwischenteil, der sich mit dem Verhältnis von Bewusstsein und Intentionalität (II) und dem von Intentionalität und praktischer Freiheit (III) auseinandersetzt,

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ziemlich zuversichtlich bin, dass er sich gut verteidigen lässt, bin ich hier im vierten Teil wieder unsicherer. Zunächst einmal ist deutlich zu unterscheiden zwischen der Frage „Was ist Selbstbewusstsein?“ und der Frage „Was sind die Indikatoren von Selbstbewusstsein?“. Ich hatte ein Beispiel genannt: Der Spiegeltest oder das Täuschungsverhalten bei Tieren ist am einfachsten interpretiert als Ausdruck von Selbstbewusstsein. Aber was ist Selbstbewusstsein selbst? Nehmen wir „Selbstbewusstsein“ zunächst wörtlich: Es ist ein Bewusstsein meiner selbst. Ich habe ein Bewusstsein für meine Rolle in der sozialen, kulturellen oder physikalischen Welt. Selbstbewusstsein setzt voraus, dass ich eine Art Selbstbeobachtung habe: Ich stelle fest, was ich tue, ich kann rückblickend sagen, was ich getan habe usw. In diesem Sinne gibt es keine Rationalität über Gründe ohne Selbstbewusstsein. Wesen können Wünsche haben ohne Selbstbewusstsein, aber keine Gründe. Denn Gründe setzen immer ein bestimmtes Maß an Reflexion, eine Stellungnahme voraus („Ich sollte das tun“). Die These wäre – wieder gegen Harry Frankfurt –, die Person ist identifiziert über Gründe, die sie hat für ihre Überzeugungen, ihr Handeln und ihre moralischen Gefühle. Das macht den Persönlichkeitskern aus. Die Person nimmt Stellung zu ihrer Rolle in der Welt, indem sie Gründe gibt und Gründe nimmt, Anderen begründet, warum sie es so und so getan hat, Andere kritisiert dafür, dass sie es falsch gemacht haben usw. Ein wechselseitiger Prozess also, bei dem die jeweiligen Rollen in der Welt betrachtet werden und man sich auseinandersetzt mit den Kriterien der richtigen oder der falschen Rolle. Wie hängen nun Selbstbewusstsein und personale Identität miteinander zusammen? Das ist ein nächstes Großproblem. Man könnte sagen, in einem synchronen Sinn ist Selbstbewusstsein mit personaler Identität verknüpft, so wie ich es formuliert habe: Ich nehme Stellung zu meiner Rolle, ich sehe mich, ich nehme Stellung zu mir als Person, als Akteur, als Urteilender usw. Diachron betrachtet wird es schwierig, was einer der wenigen Streitpunkte ist, die ich mit meiner Schwester seit unserer Kindheit habe. Ich sagte damals zu ihr, das, was du meinst, wäre nur verständlich, wenn die „Engelhypothese“ stimmt: Nur wenn wir vorher und nachher Engel (derselbe Engel davor und danach) wären, die ihrerseits keine Entwicklung mehr durchmachen, also zeitlos sind, kann man verstehen, was (numerische) Identität über die Zeit, über alle Veränderungen im diesseitigen Leben, heißen soll. Ansonsten verstehe ich es nicht. Alle möglichen scharfsinnigen Argumente lösen nämlich die Grundproblematik nicht, dass diese These unterbestimmt ist. Ohne

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die ganze Diskussion hier führen zu können, will ich wenigstens zeigen, dass sich kohärent vertreten lässt, dass Selbstbewusstsein und personale Identität synchron miteinander verknüpft sind, sich diachron aber in einem gewissem Umfang entkoppeln. Jetzt bin ich wieder Gradualist! Denn wenn jemand von heute auf morgen völlig andere Begründungen für sein Handeln und Tun hervorbringt – und das passiert öfters –, dann haben wir ein Problem, ihn als Person überhaupt ernst zu nehmen. Wir verstehen nicht mehr, mit wem wir es eigentlich zu tun haben. Ist er noch der Gleiche? Wenn das allzu oft vorkommt, dann gibt es ein Problem der Zuschreibung von propositionalen Einstellungen, die über Gründe strukturiert sind. Denn dass sie über Gründe strukturiert sind, macht ja – wenn diese Analyse stimmt – den Persönlichkeitskern aus. Das ist ein gradualistisches Konzept und es passt wunderbar in die Rechtspraxis: Warum nimmt die strafrechtliche Verantwortung mit zunehmendem Alter zu? Da zieht man willkürlich bestimmte Altersstufen ein, aber das geschieht ja nur, um sozusagen auf der sicheren Seite zu sein. Warum verbinden wir strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht mit dem IQ, sondern mit dem Alter? – Mir scheint, diese Fähigkeit, sein Verhalten über Grunde zu strukturieren, nimmt in der Tat mit dem Alter zu. Da gibt es auch interessante psychologische Forschungen, die sogar die erfreuliche Botschaft haben, dass diese Fähigkeit bis ins hohe Alter sogar weiter zunimmt, es sei denn man wird dement. Auch wenn die Fähigkeit, parallel Informationen schnell zu verarbeiten, nachlässt, nimmt dennoch offenbar diese Fähigkeit, kohärent zu urteilen und zu handeln, zu. Dies alles steht dann in wunderbarer Übereinstimmung damit, dass man davon spricht, dass sich die Persönlichkeit entwickelt bzw. weiterentwickelt hat und dass wir sie dann in höherem Maße für das, was sie lebt, verantwortlich machen als zuvor. Das ist also ein gradualistischer Begriff von personaler Identität, der in seinem Kern normativ ist: Wir verlangen von Menschen, dass sie halbwegs kohärente Gründe haben für das, was sie tun und glauben. Wir verlangen, dass sie ein gewisses Maß an diachroner Identität in diesem Sinne aufweisen. Nun zur Rolle des Selbstbewusstseins für Interaktionen. Diese ließe sich noch mal sehr schön im Übergang von der Entscheidungs- zur Spieltheorie erläutern. Das Merkwürdige ist ja, dass die Entscheidungstheorie, wie gerade geschildert, abgeschlossen ist: vier Postulate und ein Kriterium, das der Erwartungswertmaximierung. Warum wird dieses Kriterium in der Spieltheorie nicht angewandt? Warum sind da auf einmal Gleichgewichtspunkte ausschlaggebend? – Die grobe Antwort ist folgende: Dass impliziter in der Spieltheorie die Fähigkeit

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vorausgesetzt wird, dem anderen Motive zu unterstellen, in der gleichen Weise, wie man selbst Motive hat und Gründe zuzuschreiben, die diese Motive (vorausgehenden Absichten usw.) leiten, und zu wissen, dass nicht nur man selbst, sondern auch die anderen Beteiligten diese Fähigkeiten haben und alle wissen, dass sie wissen, dass die anderen diese Fähigkeiten haben etc., so dass nur solche Empfehlungen gegeben werden können, die mit diesem gemeinsamen, iterierten Wissen kollektiv kompatibel sind. Deswegen dieser scharfe Bruch zwischen Entscheidungs- und Spieltheorie. Anders ausgedrückt: In der Zuschreibung von Selbstbewusstsein ist ein gewisses Element von Universalisierung eingebaut. Ich bestimme meine Rolle in der Welt und gegenüber anderen, setzt voraus, dass ich mich in den anderen soweit hinein versetzen kann, dass ich überhaupt rational interagieren kann. Dieses Sichhinein-versetzen-können in die Lage des anderen und dessen Interessen setzt eine gewisse (gradualistische) Distanzierung vom eigenen Standpunkt voraus. Nun zur letzten und wohl besonders umstrittenen meiner Thesen: Selbstbewusstsein impliziert Freiheit, und zwar in dem starken Sinne der naturalistischen Unterbestimmtheit von Gründen und der Existenz von alternativen Möglichkeiten. Warum das so ist, kann die Philosophie im Grunde nicht für sich beantworten. Das ist keine begriffliche Wahrheit, die ich hier behaupte, sondern eine letztlich empirische, wenn auch durch Experimente nur schwer belegbare. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Selbstbewusstsein entstehen kann, wenn nicht zugleich die Erfahrung da ist, dass das, was ich will, relevant ist für das, was ich tue, oder anders: Dass meine Intentionen kausal auf die Welt einwirken, dass die Welt ohne diese Intentionen und die sie realisierenden Handlungen anders wäre, als sie ist. Ohne diese Erfahrung der Freiheit, kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Wesen als Spezies und als Individuum betrachtet Selbstbewusstsein entwickeln kann.

Bibliographie Austin, John L. (1962): How To Do Things with Words. Oxford: Clarendon Press. Fischer, Julia (2007): Metakognition bei Tieren. In: Heilinger, Jan-Christoph (Hg.): Naturgeschichte der Freiheit. Berlin/New York: de Gruyter, 95 – 116. Grandy, Richard E./Warner, Richard (Hg.) (1989): Philosophical Grounds of Rationality. Intentions, Categories, Ends. Oxford: Oxford University Press. Grice, Herbert P. (1957): Meaning. In: Philosophical Review (66), 377 – 388.

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Grice, Herbert P. (1969): Utterer’s Meaning and Intentions. In: Philosophical Review (78), 147 – 177. Lee Whorf, Benjamin (1956): Language, Thought and Reality. London: John Wiley. Lewis, David (1969): Convention. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press. Nida-Rümelin, Julian (2001): Strukturelle Rationalitt. Stuttgart: Reclam. Nida-Rümelin, Julian (2006): Die Grenzen der Sprache. In: Bubner, Rüdiger/ Hindrichs, Gunnar (Hg.): Von der Logik zur Sprache. Stuttgarter Hegel Kongress 2005. Stuttgart: Klett-Cotta. Nida-Rümelin, Julian (2007): Freiheit als naturalistische Unterbestimmtheit von Gründen. In: Heilinger, Jan-Christoph (Hg.): Naturgeschichte der Freiheit. Berlin/New York: de Gruyter, 229 – 245. Nida-Rümelin, Julian (2009) (i.Ersch.): Grice und Grnde. Festschrift für Georg Meggle.

III. Bewusstsein in Kultur und Gesellschaft

Funktionen des Bewusstseins in sozialen Systemen Rudolf Stichweh I. Bewusstsein und soziale Systeme Wie gehen Sozialsysteme mit Bewusstsein um? Wofür benötigen sie es, welche Funktionen schreiben sie ihm zu? Welche Formen des Zugriffs auf Bewusstsein richten sie ein? Welche Freiheiten konzedieren sie dem Bewusstsein? Der vorliegende Text wird Antworten auf diese Fragen zu entwerfen versuchen. Seit den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts setzt sich in der Soziologie die Unterscheidung von sozialen und psychischen Systemen durch. Ein Hintergrund der Entstehung dieser Unterscheidung waren arbeits- und organisationspsychologische Studien, die in industriellen Arbeitsorganisationen die breite Existenz informeller Gruppen dokumentierten (Mayo 1945). Damit wurde eine Unfähigkeit der Organisation, auf Motivlagen und Einstellungen der in ihr Beschäftigten zuzugreifen, sichtbar. Diese Einsicht war ja eigentlich nur die Demonstration der Existenz eines anderen Sozialsystems innerhalb oder neben dem Sozialsystem „Organisation“. Aber der konkurrierende Zugriff der beiden Sozialsysteme ließ zugleich deutlicher hervortreten, dass diese Konkurrenz zweier Systeme eine dritte Systemreferenz betrifft, die für beide Sozialsysteme, Organisation und informelle Gruppe, eine externe Referenz ist und um deren Aufmerksamkeit und Bindungsfähigkeit diese beiden kompetitiv werben. Diese dritte Systemreferenz ist das psychische System. Was ist die Einsicht, die man als Soziologe gewinnt, wenn man die Unterscheidung von sozialem und psychischem System einführt? Es wird unabweisbar klar, dass soziale Systeme nicht aus einer wie auch immer gearteten Direktverknüpfung unter Psychen hervorgehen. Soziales wird vielmehr sichtbar als eine Systembildung eigenen Typs, die nicht auf die Verknüpfung von Psychen, sondern auf die Interrelation von Elementen zurückgeht, die eigengenerierte Elemente sozialer Systeme sind. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden insbesondere „Beziehungen“ („Relationen“), „Handlungen“ und „Kommunikationen“ in

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diesem Sinn als eigenständige Elemente sozialer Systeme behauptet und theoretisiert. Psychisches tritt dann als ein System in der Umwelt sozialer Systeme hervor, das seinerseits auf Elementen sui generis aufruht und zugleich in seinen operativen Vollzügen immer wieder durch die Ereigniszusammenhänge, aus denen sich soziale Systeme aufbauen, irritiert wird. Die Selbständigkeit der beiden Systembildungsebenen im Verhältnis zueinander geht also einher mit einer Kopplung der beiden Systeme aneinander, die Ereignisse in dem einen System unablässig für Ereignisse in dem anderen System relevant werden lässt. Der erste weltweit einflussreiche soziologische Theoretiker, der eine explizite Unterscheidung dieses Typs zur Grundlage seiner eigenen Arbeit gemacht hat, war Talcott Parsons (1902 – 1979). Parsons behandelte die „Personality“ (das psychische System) als eine autonome Systembildungsebene im Rahmen seines Vier-Funktionen-Paradigmas (Parsons 1964), in welchem die „Personality“ als System einerseits auf biologische, soziale und kulturelle Umwelten bezogen war, andererseits eine eigenständige Binnendifferenzierung erfuhr. Diese Binnendifferenzierung der „Personality“ (des psychischen Systems) beschrieb Parsons in Anlehnung an psychologische Theorien von Sigmund Freud (Parsons 1995) und Jean Piaget (Lidz und Lidz 1976). An die Stelle der Unterscheidung von sozialen und psychischen Systemen kann man in der Gegenwart die Unterscheidung von Kommunikation und Bewusstsein treten lassen. In dieser zweiten Fassung werden beide Seiten der Unterscheidung neu und sie werden anders bestimmt. Einerseits wird auf der Seite des Sozialsystems die kommunikationstheoretische Grundlegung der Soziologie benutzt, die seit der Informationstheorie der späten vierziger Jahre als eine Denkmöglichkeit verfügbar ist (Shannon und Weaver 1949; Ruesch und Bateson 1951; Luhmann 1984). Kommunikation ist unter diesen Voraussetzungen nicht etwas, was einem einzelnen Bewusstsein als seine Absicht oder einem einzelnen Akteur als seine Tätigkeit zugerechnet werden kann. Es handelt sich bei jeder einzelnen Kommunikation vielmehr um eine genuin soziale und elementare Einheit, die immer und mindestens zwei Prozessoren (Akteure, Psychen, Bewusstseine) voraussetzt, die an ihrer Produktion beteiligt sind. Eine Reduktion auf einen dieser Prozessoren ist nicht zulässig. Der Begriff des Bewusstseins wiederum kann nicht als bedeutungsidentisch mit dem Begriff des Psychischen gedacht werden. Vielmehr handelt es sich beim Bewusstsein um eine selektive Instanz, die sich, wie es Gregory Bateson formuliert, einer „Kodifikation und re-

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duktiven Simplifikation eines weiter gefassten psychischen Lebens“1 verdankt und dies auf der Basis einer „Spiegelung eines Teils der Psyche in das Feld des Bewusstseins“.2 Die dieser Überlegung zugrunde liegende Unterscheidung ist die von „bewusst“ und „unbewusst“. Jener Selektionsprozess, der Teile des Psychischen in das Bewusstsein spiegelt, ist selbst vermutlich eher ein unbewusster Prozess. Jedenfalls steht er unserer willentlichen Anstrengung nicht zur Verfügung. Für die Bewusstseinsbegriffe, die gegenwärtig in der Soziologie in der doppelten Absicht der Abgrenzung von Kommunikation und Bewusstsein und zugleich des strukturellen Vergleichs der Eigentümlichkeiten von Bewusstseins- und Kommunikationssystemen verwendet werden, haben die Analysen Edmund Husserls besondere Bedeutung erlangt. Zwei Gesichtspunkte Husserls sind besonders hervorzuheben (vgl. Ferguson 2001; 2006). Einmal dasjenige, was bei Husserl Intentionalität des Bewusstseins heißt. Bewusstsein ist dieser These nach niemals ohne Inhalte zu denken. Die Intentionalität des Bewusstseins meint, dass wir immer eine Vorstellung vom Inhalt des Bewusstseins als seinem Objekt besitzen. Bewusstsein ist also nicht Sehen, Hören und Fühlen; es ist vielmehr immer das Sehen, Hören und Fühlen von etwas. Diese erste Überlegung verbindet sich mit der anderen für Husserl fundamentalen These des Bewusstseins als gelebter Erfahrung. Damit ist ausgesagt, dass die unhintergehbaren Inhalte des Bewusstseins von denen gerade die Rede war, nicht vom Bewusstsein ablösbar sind, wie dies für Objekte in einer Schachtel gelten würde. Die Objekte des Bewusstseins sind vielmehr konstitutive Leistungen des Bewusstseins, so dass diese Objekte uns nicht „erscheinen“; wir vielmehr durch sie hindurch „leben“. Dieselbe Leitunterscheidung von Intentionalität des Bewusstseins und Bewusstsein als gelebter Erfahrung kehrt in Niklas Luhmanns soziologischer Theorie des Bewusstseins in der Unterscheidung von Fremd- und Selbstreferenz wieder (Luhmann 1990, Kap. 1; Luhmann 1995, insbes. Kap. 1 – 5). Der Gesichtspunkt der unhintergehbaren Fremdreferentialität aller Bewusstseinsoperationen reformuliert das Husserlsche Argument der inhaltlichen Erfülltheit des Bewusstseins. Zugleich muss sich das Bewusstsein, um dessen (inhaltliche) Erfahrun1 2

S. Bateson (1951, 182 f.): „codification and reductive simplification of information about certain parts of the wider psychic life“. S. Bateson (1951, ebd.): „mirroring of a part of the total psyche in the field of consciousness“.

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gen es sich hier handelt, seiner selbst gewiss sein und diese parallele Bedingung des Selbstkontakts wird durch den Gesichtspunkt der Selbstreferentialität des Bewusstseins artikuliert.

II. Funktionen des Bewusstseins Wie sehen die Funktionen des Bewusstseins in sozialen Systemen aus? An erster Stelle ist zu betonen, dass wir über historisch variierende Funktionszuweisungen zu sprechen haben. Die langfristige soziokulturelle Evolution sozialer Systeme ist zugleich die Geschichte extrem variierender Forderungen und Funktionszuweisungen, die soziale Systeme an das Bewusstsein adressieren. Insofern geht es bei den Funktionen des Bewusstseins nicht um historische Invarianten, vielmehr um eine im Zeitablauf variable Wirklichkeit. Ich werde im Folgenden historische Varianten einer Funktionalisierung des Bewusstseins durch soziale Systeme skizzieren.

II.1 Conscience collective – Strukturidentität von Gesellschaft und Bewusstsein Eine erste Möglichkeit besteht darin, dass Bewusstseine unmittelbar die Strukturbildungslast für soziale Systeme tragen. Diese Möglichkeit verkörpert die extremste Form einer Forderung des Bewusstseins durch soziale Systeme. Eine gute Illustration bietet Durkheims Idee einer „conscience collective“ (Durkheim 1893, Liv. I, Ch. 2). Diese setzt voraus, dass wir in einer gegebenen Gesellschaft in jedem Bewusstsein ungefähr dieselben Inhalte vorfinden. Diese Gemeinsamkeit der Inhalte ermöglicht dann die spontane Identität der Reaktionen auf eine vorkommende Normverletzung; eine Identität der Reaktionen, die den Eindruck unterstützt, dass ein gesellschaftliches Kollektiv und nicht individuelle Bewusstseine die Reaktion tragen. Eine Analyse dieses Typs unterstellt im Prinzip eine Aufhebung der Differenz (oder: eine noch nicht vollzogene Differenzierung) von Kommunikation und Bewusstsein. Die gerade skizzierten Annahmen sind unter modernen Bedingungen so gut wie nie mehr realistisch (wenn sie je realistisch waren). Es gibt allenfalls Einzelphänomene, die den Charakter einer „conscience collective“ zu verkörpern scheinen. Zu denken ist beispielsweise an die

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weitgehende Identität der Reaktionsweisen, die Intimbeziehungen manchmal erreichen oder auch anstreben, oder an Phänomene des Massenverhaltens. Vor allem die Synchronisation des Verhaltens in größeren sozialen Verbänden hat zuletzt viel Aufmerksamkeit gefunden, so die oft beobachtbare Synchronisation des Applauses in einem Theater oder bei einer Sportveranstaltung und die Synchronisation des Verhaltens in Tierschwärmen (Vogelflug; Glühwürmchen, insb. die Feuerfliegen Südamerikas; das Zirpen der Grillen). Die meisten dieser Phänomene haben wenig mit Bewusstsein zu tun, sind vielmehr auf anderen Steuerungsebenen zu verorten. Anders ist es möglicherweise mit dem rhythmischen Applaus, den nicht alle Gesellschaften kennen und der im Übrigen nur bei mittelgroßen Veranstaltungen zu erreichen ist (also nicht in einem großen Fußballstadion oder bei einem Open-AirKonzert). Dieses Phänomen ruht auf einer (halb-)bewussten Verringerung der Frequenz des Klatschens, zu der sich jeder einzelne Teilnehmer „entscheiden“ muss. Und die Synchronisation ist interessanterweise nur von begrenzter Dauer, weil der rhythmische Applaus die an ihm mitwirkenden psychischen Systeme auch enttäuscht, da das verlangsamte Klatschen den Lautpegel deutlich senkt und deshalb die Teilnehmer ihr Klatschen bald wieder beschleunigen, um ihrer Begeisterung Ausdruck verleihen zu können. Sobald sie ihr Klatschen erneut beschleunigen, hört die Synchronisierung des Applauses auf, was in einer oszillatorischen Bewegung häufig zu einer erneuten Verlangsamung des Klatschens führt (Néda 2000a; 2000b). Wenn man diese Phänomene so beschreibt, wird unmittelbar klar, dass wir von einer conscience collective weit entfernt sind, dass es vielmehr um relativ komplexe Mikrokoordinationen individuellen Verhaltens geht, denen man sich als Individuum auch entziehen mag, was aber das dafür optierende Individuum eventuell mit einem „Zwang“ zur erneuten Anpassung konfrontiert, der beispielsweise von dem temporär synchronisierten Applaus ausgehen mag.

II.2 Bewusstsein als externer Speicher vs. Bewusstsein als Medium Eine zweite, ganz andersartige Auffassung sieht das Bewusstsein als eine Art technische Apparatur zur Stützung des Gesellschaftsaufbaus. In diesem Fall gibt es keine Strukturidentität von Bewusstsein und Gesellschaft, wie dies im Fall der Existenz einer conscience collective zuträfe; es liegt aber eine Strukturbildung im Bewusstsein vor, von der man sagen

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kann, dass es sich bei den Strukturen des Bewusstseins gleichsam um ausgelagerte Strukturen der Gesellschaft handelt. Diese Auffassung des Bewusstseins ist in der topisch-moralischen Tradition der europäischen Rhetorik verankert (Ong 1958). Das Bewusstsein wird als eine räumliche Ordnung von Orten gedacht; diese Orte dienen der Speicherung je verschiedener Kommunikationsressourcen, die man an dem Ort, wo sie gespeichert sind, abrufen kann und die man, wenn man die räumliche Ordnung kennt, gleichsam auch am jeweils richtigen Ort absichtsvoll deponieren kann. Eine unmittelbare Verknüpfung mit Erziehungsvorstellungen liegt auf der Hand. Die Erziehung kennt das Bewusstsein, auf das sie einwirkt, und weiß um die jeweiligen Orte, an denen sie etwas ablegt. Die zugehörige Gesellschaft ist eine, in der die Mehrzahl ihrer Mitglieder nicht über Schrift verfügen, so dass das Bewusstsein als Archiv oder Speicher gesellschaftlichen Wissens gedacht werden muss. Das verknüpft sich mit Vorstellungen über Alter und Weisheit, weil vor allem alte Bewusstseine, in denen schon vor langer Zeit etwas abgelegt worden ist und in denen sich das Wissen über viele Jahrzehnte akkumuliert hat, als wertvolle gesellschaftliche Wissensspeicher angesehen werden.3 Vorstellungen dieser Art können in der funktional differenzierten Gesellschaft der Moderne nicht mehr wiederholt werden. Sie sind durch die Entwicklung und gesellschaftsweite Diffusion immer neuer Kommunikationstechniken abgelöst worden. Zu diesen Techniken gehören neben anderen die Schrift, der Buchdruck und das Internet, die alle dazu beitragen, gesellschaftliche Strukturen sichtbar und objektivierbar und damit negationsfähig zu machen. Die Wissensspeicher sind jetzt in der gesellschaftlichen Struktur selbst verankert und nicht mehr externalisiert. Dies befördert eine enorme Beschleunigung soziokultureller Evolution, und es geht damit eine Enttopikalisierung oder Enträumlichung des Bewusstseins einher, das nicht mehr als eine Ordnung von Orten gedacht werden kann, und zugleich vollzieht sich eine Enttechnisierung des Bewusstseins, das nicht mehr als ein Instrument für bestimmte Zwecke verstanden werden darf. Die spezifisch moderne Variante besteht dann darin, das Bewusstsein als ein Medium für die Aufnahme von Kommunikationen zu denken. Medien sind zunächst strukturlos; sie zeichnen sich durch den Sachverhalt der losen Kopplung der Elemente, aus denen sie bestehen, 3

Vgl. die interessanten Überlegungen zu Neuguinea (Speicherung des Wissens über schon vollzogene religiöse Rituale) bei Barth (1987).

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aus. Diese Strukturlosigkeit des Mediums wird zur Voraussetzung dafür, dass nahezu beliebige Strukturen in sie eingeprägt werden können. Theorien des Bewusstseins haben in der Folge die Aufgabe, erklären zu können, dass dies möglich ist. Das heißt, sie müssen die elementare und die operative Konstitution des Bewusstseins so beschreiben, dass die behauptete Leistung – die Aufnahme und Verarbeitung nahezu beliebiger Kommunikationen – plausibilisiert werden kann. Ein Beispiel für eine solche Theorie ist die im Anschluss an Husserl entwickelte Sinntheorie Niklas Luhmanns, die die mediale Gemeinsamkeit von Bewusstsein und Kommunikation als Gemeinsamkeit der Nutzung der Form Sinn beschreibt (Luhmann 1971). Sinn wiederum ist ein Medium, das unablässig aktualisierte Möglichkeiten auf alternative, aber derzeit nicht realisierte Möglichkeiten bezieht und insofern die jeweils gegenwärtige Wirklichkeit in eine Horizontstruktur weiterer und alternativer Potentiale einbettet. Die Gemeinsamkeit der Nutzung dieser Form Sinn sichert die Adäquatheit des Bewusstseins für die Aufnahme von Kommunikation.

II.3 Bewusstsein und Individualisierung Eine dritte – in der Moderne schnell an Bedeutung gewinnende – Funktionszuschreibung für Bewusstseine ist ihre Einordnung als Träger der Individualisierung des Menschen. Individualisierung und Bewusstsein müssen nicht zwangsläufig miteinander verknüpft werden. Man kann Individualisierung auch als einen rein gesellschaftsinternen Vorgang deuten (ohne auf Bewusstseine überhaupt Bezug zu nehmen). Es geht dann bei Individualisierung um eine populationistische Selbstauffassung der Gesellschaft: Es sind in einer Gesellschaft viele einzelne Mitglieder und vor allem viele verschiedene einzelne Mitglieder vorhanden. Die Verschiedenheit bezieht sich auf Eigenschaften, Ausstattungen, Verhaltenstendenzen etc. Gesellschaftliche Strukturbildung ist der selektive Zugriff auf die Eigenschaften dieser Einzelnen, d. h. die selektive Nutzung und Nichtnutzung dieser Eigenschaften für die Strukturbildung in sozialen Systemen (Luhmann 1997b). Gesellschaftlicher Wandel kann vorkommen, ohne dass sich in diesen einzelnen Mitgliedern etwas verändert, allein auf der Basis einer Verschiebung in der Selektivität des Zugriffs auf die Eigenschaften der Einzelnen. Aber es bleibt nicht bei dieser engen, populationistischen Auslegung gesellschaftlicher Strukturbildung. Die Moderne projiziert Individuali-

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sierung in die Bewusstseine. Der Individualität der Eigenschaften und des Verhaltens soll die Individualität eines Weltverhältnisses und eines Weltentwurfs entsprechen, die in jedem einzelnen Fall beobachtbar sein sollen (Stichweh 1994). Für die Gesellschaft ist dies eine Chance. Sie schafft sich systematisch Gelegenheiten, in denen sie den Rückgriff auf die Individualität des Bewusstseins nutzt: a) Sie tut dies erstens immer dann, wenn sie Zurechnungspunkte für Verantwortung und für Fehlentwicklungen sucht. Es wird ein Bewusstsein identifiziert, dem man ein problematisches Geschehen in der Weise zurechnen kann, dass es sich zu diesem Geschehen als seine Entscheidung (oder zumindest als sein Fehlhandeln) bekennt.4 Soweit dies gelingt, ist die Ursache für problematische Verläufe aus der Sicht der Gesellschaft externalisiert. Sie liegt jetzt in Fehlentwicklungen und Fehlentscheidungen eines Bewusstseins, zu dem sich die Gesellschaft unter bestimmten Umständen in der Weise verhalten kann, dass sie sich als Instanz der Reform des Bewusstseins versteht. b) Eine zweite Form der Externalisierung der Kommunikation liegt dann vor, wenn die Kommunikation sich selbst unterbricht und nach einem Bewusstsein sucht, dass zu ihrer Fortsetzung beizutragen imstande ist. Fragen dieses Typs sind in der Forschung zu „turntaking“ in der Konversation in den letzten drei Jahrzehnten ausführlich untersucht und theoretisiert worden (Sacks et. al. 1974; Sacks 1992). „Wer kann dazu etwas sagen?“ ist eine präferierte Überleitungsformel in der Selbstorganisation der Konversation, mit welcher die Konversation sich selbst unterbricht und die Suche nach einer Individualität und nach einem Bewusstsein signalisiert, das die Fortsetzung der Konversation zu gewährleisten imstande ist. c) Schließlich erwartet die Kommunikation von Bewusstseinen, dass sie über Repräsentationen für Individualität verfügen und auf diese Weise einigermaßen verlässliche Voraussagen hinsichtlich des erwarteten Verhaltens anderer zu machen imstande sind. Für diese Repräsentationen von Individualität gibt es vielfältige Begriffe: Role-taking in der Tradition von George H. Mead (Mead 1934, insbes. Kap. 3), Einfühlungsakte, Fremdverstehen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Gesellschaft unterstellt, dass Be4

Siehe zu der neurobiologischen Infragestellung dieser Entscheidungsfähigkeit Bommer (2008).

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wusstseine über eine Theorie anderer Bewusstseine verfügen, über eine „theory of mind“ (Boyd und Richardson 1996, 88), die es im Unterschied zu tierischen Organismen wahrscheinlicher macht, dass das Spektrum von auftretenden Überraschungen in sozialen Verhaltenszusammenhängen einigermaßen begrenzt bleibt. In dieser Fähigkeit der Bildung einer Theorie oder Hypothese über andere Bewusstseine spielt es eine signifikante Rolle, dass ein Bewusstsein, dass sich selbst als ein relativ geschlossenes System erfährt (weil es beispielsweise in der Interaktion etwas – z. B. ein Stigma – von sich verbirgt), auch besser in der Lage ist, anderen dieselbe selbstreferentielle Geschlossenheit ihres Operierens zu unterstellen und deshalb beispielsweise besser erinnert, was von diesen anderen in der Interaktion gesagt worden ist (Pachankis 2007, 333; Frable et. al. 1990).

II.4 Bewusstsein als Störquelle und Variationsmechanismus Das Bewusstsein der Moderne ist nicht nur ein Medium der Artikulation von Individualität. Es wird von der Gesellschaft auch als Störquelle und als Variationsmechanismus erfahren, wobei die Differenz dieser beiden Termini nur eine der Beleuchtung und der Wertung ist. Die Bedeutung des Bewusstseins für Prozesse soziokultureller Evolution liegt darin, dass sich im Bewusstsein ein „Nein“ zu einem vorgelegten Sinnvorschlag vorbereiten kann, dass dieses „Nein“ als Widerstand in der Kommunikation artikuliert wird und dass es zur Voraussetzung evolutionärer Neuheit werden kann. Dieser Zusammenhang ist in der Evolutionstheorie Niklas Luhmanns bisher am besten sichtbar gemacht worden (Luhmann 1997a, insbes. Kap. 3; Stichweh 1996). Ob man dem Bewusstsein diese Freiheiten zur Bildung von „Neins“ und zur Provokation von Variationen konzedieren will, ist eine gesellschaftlich offene Frage. Wenn man dies nicht will, braucht es Institutionen der Kontrolle des Bewusstseins, und es ist für die Soziologie eine interessante Aufgabe, deren historische Bandbreite zu studieren. Zentrale Institutionen der Kontrolle des Bewusstseins waren immer religiös und kirchlich. Michel Foucault nennt dies mit einem treffend an die Selbstauffassung der Kirche anknüpfenden Begriff „die christliche Pastoral“ (Foucault 1978) und zur christlichen Pastoral gehörten Institutionen wie die Beichte, die ihrer Struktur nach Bewusstseinszustände zu erfragen versuchten. Ein interessanter anderer Kandidat sind Intim-

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beziehungen, die den gerade genannten Institutionen darin gleichen, dass sie sich erlauben können, Bewusstseinszustände zu erfragen. Fragen wie „Was denkst Du gerade“ oder „Woran denkst Du gerade“ sind in Intimbeziehungen normal, wenn vielleicht auch lästig, und zugleich sind sie in den meisten anderen sozialen Systemen unzulässig. Auch wenn die Beteiligten dies in der Regel bestreiten würden, ist der pragmatische Sinn auch in Intimbeziehungen vielfach der, einem variationsinduzierenden „Nein“ und anderen Überraschungen rechtzeitig vorzubeugen und diesem Konformitätsdruck kann man sich nur schwer entziehen.5

II.5 Das Bewusstsein als Gegenstand unseres leidenschaftlichen Interesses Das Bewusstsein ist einerseits eine Black Box und als solche aus guten theoretischen Gründen für die Kommunikation prinzipiell uneinsehbar, und andererseits machen wir die pragmatische Erfahrung, dass wir Bewusstseine gut zu kennen glauben und sie deshalb für inspizierbar halten. Cartoonisten illustrieren dies für uns, indem sie Zeichnungen invariant mit (Sprech-)Blasen ausstatten, die sprachliche Gehalte dokumentieren, die wir problemlos als die sprachliche Verfasstheit des Bewusstseins zu verstehen imstande sind.6 Die Moderne entwickelt auf dieser Basis eine Leidenschaft für die Beobachtung des Bewusstseins als einem Medium der Individualisierung und als einer Form der komplexen Repräsentation von Welt. Man kann diese Leidenschaft für Bewusstsein und die Distinktheit von Bewusstsein und Kommunikation gut daran studieren, dass in der Entwicklung des Romans im 20. Jahrhunderts der Bewusstseinsroman – die narrative Repräsentation eines „stream of consciousness“ – einen gleichen Rang und eine gleiche Reputation erlangt hat wie der Dialogroman, der in seinen zugespitzten Varianten die Welt nur von der Kommunikationsseite aus beobachtet. Auch das Interesse an Biographie ist in einer 5 6

Bökmann (2000, 110) zit. eine Sequenz aus „Eine schrecklich nette Familie“. Peg Bundy zu ihrem Mann Al: „Al, was denkst du?“ Al: „Wenn ich dir sagen wollte, was ich denke, würde ich es dir sagen und nicht denken.“ S. treffend zu Bewusstsein als einer „box of sentences“ Goffman (1974, 527, Fn. 25): „Novelists and cartoonists can get inside the minds of their figures without causing us surprise because that’s what our mind is - a thing designed for others to get inside of, a box of sentences.“

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wichtigen Hinsicht das Interesse daran, die Welt so zu beobachten, wie sie von einem hochindividualisierten Bewusstsein erfahren und beobachtet worden ist. Dieses Interesse am Bewusstsein setzt gerade voraus, dass das Bewusstsein nicht mehr ein Speicher des gesellschaftlich verfügbaren Wissens ist, dass man also nicht Enzyklopädie treibt, wenn man die Entwicklungsgeschichte eines Bewusstseins beobachtend nachvollzieht.

II.6 Das Bewusstsein als Erkenntnisinstrument der Moderne Wir haben einerseits den Verlust bestimmter epistemischer Qualitäten des Bewussstseins betont. Dieses ist nicht mehr Speicher des gesellschaftlich verfügbaren Wissens. Die Topologie der Orte im Bewusstsein funktioniert nicht mehr als eine Enzyklopädie des Wissens. Auch das „gebildete“ Bewusstsein zeichnet sich nicht durch seine repräsentationalen Qualitäten aus, stattdessen durch die Individualität eines Weltverhältnisses. Aber dies ändert nichts daran, dass das auf diese Weise vielfältig entlastete Bewusstsein – es ist bekanntlich auch nicht mehr Träger der normativen Ordnung der Gesellschaft – freigesetzt wird für Erkenntnis und gerade auch für die Variation gegebener Erkenntnislagen. Ein Bewusstsein, dass nicht mehr die Strukturen der Gesellschaft mittragen oder entlasten muss, kann sich auf Wahrnehmungen konzentrieren, den Reichtum von Anschauungsmöglichkeiten ausschöpfen und kognitive Überraschungen produzieren, ohne deshalb als verantwortungslos erscheinen zu müssen. Es geht hier nicht mehr um die Subjektqualitäten des Bewusstseins, in dem Sinne, dass seine kognitiven Leistungen konstitutiv für Welterkenntnis wären. Sie sind dies auch, aber sie sind dies in einer Weise, dass sich im Bewusstsein ein individuelles Weltverhältnis entfaltet und individuelle Weltkonstitution vollzieht und Bewusstseine für Überraschungen jeder Art freigegeben sind. Gleichzeitig gilt für jenes System, dem am eindrucksvollsten eine kognitive Simulation der Komplexität der Welt gelingt, das Wissenschaftssystem der Moderne, dass es immer mehr ein kollektives Unterfangen wird, an dem immer größere Zahlen von Beiträgern punktuell partizipieren.7 Bekanntlich ist selbst der einzelne wissenschaftliche Aufsatz heute in 7

S. nur zwei Texte, die interessante Erläuterungen dieses Strukturwandels bieten: Barabási (2005); Guimerà et al. (2005).

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wachsendem Maße das Produkt der komplementären Verschränkung der Erkenntnisleistungen vieler Beteiligter. Das führt dazu, dass die Komplexität der modernen Wissenschaft als ein kollektives und soziales Produkt immer beeindruckendere Formen annimmt. Aber es führt zugleich dazu, dass man prinzipiell enttäuscht werden wird, wenn man die Erwartung hegt, dass man von dieser Komplexität der Wissenschaft als einer kulturellen Leistung im Bewusstsein des einzelnen Wissenschaftlers eine in irgendeinem Sinn adäquate Repräsentation finden wird. Die beiden Systemreferenzen – soziales System und Bewusstseinssystem – driften immer weiter auseinander. Beide gewinnen damit Freiheiten je verschiedenen Komplexitätsaufbaus. Aber das heißt auch, dass man Enttäuschungen erleben wird, wenn man an den einen Systembildungstyp Erwartungen adressiert, die nur in dem anderen erfüllt werden können. Es gibt ein vielfältiges Spiel der Leistungserwartungen zwischen den beiden Systembildungsebenen, ein Spiel der Einforderung von Funktionserfüllungen, das der vorliegende Text in einigen Facetten zu beleuchten versucht hat. Aber zugleich wachsen beiden Systembildungsebenen Freiheiten der funktionalen Autonomie zu, die eine der charakteristischen Signaturen der Moderne sind.

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Affektprogramme und Gefühle Achim Stephan Die interdisziplinäre Annäherung an Emotionen birgt eine Spannung, die uns aus anderen Diskursen – wie der Debatte um Willensfreiheit oder um das Problem phänomenaler Qualitäten – bereits bekannt ist: nämlich die Spannung zwischen der Beobachterperspektive und der personalen Perspektive (bzw. der Teilnehmerperspektive). Während wir aus eigener Erfahrung einen gewissen Teil des Reichtums kennen, den emotionale Erlebnisse zu bieten vermögen, haben wir durch Narrative auch Anteil an den Erlebnissen und Gefühlen anderer Menschen. Dagegen vermitteln Einsichten über die neuronalen Mechanismen, die emotionalen Prozessen zugrunde liegen, keinen Einblick in die mit diesen einhergehende Gefühlswelt. Fast könnte man meinen: Je genauer die neurowissenschaftlichen Erklärungen dessen ausfallen, was emotionalen Regungen zugrunde liegt, desto mehr verlieren wir das aus den Augen, was wir an unserem Gefühlsleben schätzen: die Vielschichtigkeit und Feinkörnigkeit des Erlebens selbst. Aber das muss nicht so sein. Im Folgenden möchte ich mich beiden Zugangsweisen widmen und dabei transparent werden lassen, worauf wir uns jeweils einlassen müssen. Als Richtschnur dient mir dabei zunächst Joseph LeDoux, einer der führenden neuropsychologischen Emotionsforscher der Gegenwart. In seinem neueren Buch Synaptic Self. How Our Brain Becomes Who We Are (2002) charakterisiert Joseph LeDoux zielsicher die oben beschriebene Kluft in der gegenwärtigen Emotionsforschung: […] most of what we know about the detailed brain mechanisms of emotion comes from studies of emotional behavior rather than from studies of feelings themselves. The explanation for this situation is simple. Feelings can be studied in humans, but […] they’re more difficult to examine in animals. Since, for both practical and ethical reasons, most brain research is conducted in animals, we end up with a gap between what emotion theories are about (feelings) and what brain researchers actually measure (behavior). This gap, in turn, creates a credibility problem for brain research on emotions (LeDoux 2002, 202; meine Hervorhebungen).

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Kurz gesagt: Was Neurowissenschaftler im Erfolgsfalle erschließen, sind die Strukturen und Mechanismen von Emotionssystemen oder Affektprogrammen – und damit: die Mechanismen emotionalen Verhaltens. Was Philosophen und manch andere jedoch häufig stärker interessiert, sind die überaus reichhaltigen Schattierungen emotionaler Gefhle, ihre Verwobenheit mit unseren (im strikten Sinne) kognitiven Einstellungen, ihr Einfluss auf unser Handeln und ihre kulturelle Varianz. Folgen wir methodisch zunächst LeDoux. Was an seinem Ansatz überzeugt, ist, dass er es genau wissen will. Doch dazu ist es nötig, dass man vieles von dem, was an Emotionen interessiert, vorübergehend außer Acht lassen muss: Wir haben uns auf eine ganze Reihe von Fokussierungen einzulassen.

Affektprogrammen auf der Spur Nach einer ersten Empfehlung LeDoux’s sollten wir davon absehen, die bewussten Gefühlserlebnisse, die vermeintlich den Kern unserer emotionalen Zustände ausmachen, ins Zentrum der wissenschaftlichen Erforschung der Emotionen zu stellen. So seien beispielsweise Angstgefhle nur ein unwesentlicher Teil der Gesamtreaktion auf gefährliche Situationen: „What we need to elucidate is not so much the conscious state of fear or the accompanying responses, but the system that detects the danger in the first place“ (LeDoux 1998, 18). LeDoux’s zweite Empfehlung zielt darauf ab, sich nicht auf typisch menschliche Emotionen zu konzentrieren. So ist er davon überzeugt, dass einige emotionale Systeme in ihrer neuronalen Realisierung bei den meisten Wirbeltieren nahezu identisch sind; Emotionen seien daher alles andere als spezifisch menschlich. Statt danach zu fragen, was an der menschlichen Emotion einzigartig sei, sollten wir lieber klären, warum die emotionalen Funktionen im Laufe der Evolution so wenig modifiziert wurden, während sich viele andere Hirnfunktionen und Körpermerkmale deutlich verändert haben (vgl. LeDoux 1998, 17, 107 und 125). Die dritte Empfehlung LeDoux’s, sich zunächst auf nur ein Emotions-System zu konzentrieren, um an diesem paradigmatisch die Funktionsweise eines solchen Systems zu ergründen, basiert auf der These, dass die verschiedenen emotionalen Reaktionsformen von unterschiedlichen neuronalen Systemen vermittelt werden, die sich aus je eigenen Gründen entwickelt haben (vgl. LeDoux 1998, 16). Es sei

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daher wenig aussichtsreich, wenn man danach suche, ein allgemeines Emotions-System (oder Emotions-Vermögen) zu finden. Besonders aussichtsreich sei dagegen die Untersuchung des Furcht- und Abwehrsystems (LeDoux 1998, 128 f.), da sich dieses bei (fast) allen Wirbeltieren finden lasse. Mit seinen Empfehlungen verfolgt LeDoux einen methodischen Weg, der neueren philosophischen Arbeiten diametral entgegengesetzt ist. So steht für Peter Goldie in The Emotions (2000) die von einer bewussten Person einnehmbare personale Perspektive („or point of view“) im Vordergrund seiner Untersuchungen, eine Perspektive, die ihm zufolge durch naturwissenschaftliche Untersuchungen gerade nicht erfasst werden kann. Ebenso betonen Christoph Demmerling und Hilge Landweer in ihrem Buch Philosophie der Gefhle (2007), dass für sie der „subjektive Standpunkt“ bei der Beschreibung und philosophischen Analyse emotionaler Phänomene von zentraler Bedeutung ist, gegenüber dem (natur-)wissenschaftlich motivierte Kausalerklärungen zunächst zurückzutreten haben.

Das Furchtsystem Doch kommen wir zunächst zurück zu LeDoux’s Vorschlag, das Furchtsystem näher zu untersuchen. Dieses ist LeDoux zufolge streng genommen kein System, das zum Furchterlebnis führt, sondern ein System des Abwehrverhaltens. Furchtgefhle seien daher ein Nebenprodukt der Evolution zweier unterschiedlicher Systeme, von denen das eine, das Furchtsystem, Abwehrverhalten und das andere Bewusstsein erzeuge. Da sich emotionale Verhaltensweisen wie das Abwehrverhalten unabhngig von (und evolutionsgeschichtlich vor) bewussten Gefühlen entwickelt hätten, sollten wir auch nicht vorschnell annehmen, dass ein Tier in Gefahr sich frchtet. Als ein System des Abwehrverhaltens hat das Furchtsystem primär die Aufgabe, Gefahren zu entdecken und Reaktionen zu erzeugen, die die Wahrscheinlichkeit maximieren, eine Gefahrensituation möglichst vorteilhaft zu überstehen. So muss jedes Tier in der Lage sein, die spezifischen Dinge zu erkennen, die ihm gefährlich werden können. Da es bei den universellen Reaktionsstrategien (u. a. Rückzug, Regungslosigkeit, Aggression und Unterwerfung) und den universellen physiologischen Anpassungen wenig Varianz unter den Wirbeltieren gibt, sind es LeDoux zufolge weniger die Ausdrucksformen der Furcht, in denen sich Menschen von anderen Lebewesen unter-

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scheiden, als die auslösenden Reize, die den Bewertungsmechanismus des Abwehrsystems aktivieren (vgl. LeDoux 1998, 133 – 134). Schließlich empfiehlt LeDoux, das Furchtsystem an nur einer Tiergattung – der Ratte – unter Laborbedingungen so präzise wie möglich zu untersuchen. Dazu erfolgt zunächst eine Furchtkonditionierung bei den einzelnen Versuchstieren: Diese werden in einen kleinen Käfig gesetzt. Kurz nach dem Erklingen eines Tons erfolgt an den Füßen ein kurzer schwacher Stromschlag. Nach wenigen Kopplungen von Ton und Stromschlag zeigen Ratten bereits dann Furchtverhalten, wenn nur der Ton erklingt: Sie ducken sich zu Boden und erstarren, außerdem sträubt sich ihr Fell, Blutdruck und Herzfrequenz steigen, und Stresshormone werden vermehrt ausgeschüttet. Es ist das gleiche Verhalten, das Ratten zeigen, wenn sie natürlichen Fressfeinden wie z. B. Katzen in freier Natur begegnen (vgl. LeDoux 1998, 141 – 142). Ungehindert durch gesetzliche und moralische Vorschriften, die analoge Versuche beim Menschen kategorisch ausschließen, wird anschließend der natürliche „Informationsfluss“ im Gehirn von Ratten durch eine Reihe unterschiedlicher, aber gezielt gesetzter Schädigungen so beeinträchtigt, dass die Architektur des Furchtsystems deutlich wird. Schädigt man bei Ratten, die nach einer Furchtkonditionierung beim Ertönen des assoziierten Tons regelmäßig das entsprechende Furchtverhalten zeigen, den auditorischen Thalamus, so verschwinden die typischen Furchtreaktionen. Bei einer Schädigung des auditorischen Kortex bleibt die (einfache) Furchtkonditionierung dagegen erhalten, was LeDoux zufolge zeigt, dass der Neokortex nicht beteiligt sein muss, um auf emotional relevante Muster adäquat zu reagieren (LeDoux 1998, 161). Ein anderes Bild ergibt sich freilich bei differenzierter Furchtkonditionierung: Wurde die Ratte in der Trainingsphase zwei verschiedenen Tönen ausgesetzt, von denen nur einer mit Stromschlägen korreliert war, so geht ein differenziertes Reagieren auf die beiden unterschiedlichen Töne, das gesunde Tiere regelmäßig zeigen, nach einer Schädigung des auditorischen Kortex verloren. Die Ratten reagieren dann auf beide Töne mit einer Furchtreaktion. Dieser Befund hat zu der Annahme geführt, dass es zwei unterschiedliche Wege der Reizverarbeitung gibt: eine schnelle und ungenaue Verarbeitungsbahn („quick and dirty processing pathway“), die den auditorischen Kortex umgeht, sowie eine langsamere, die ihn einschließt und differenziertere Reaktionen erlaubt (vgl. LeDoux 1998, 164).

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Will man einen noch tieferen Einblick in das Furchtsystem erhalten, so ist es erforderlich herauszufinden, welche spezifische Rolle der auditorische Thalamus darin spielt. Genauere Untersuchungen mit anterograden Tracern zeigen, dass dieser zu insgesamt vier subkortikalen Regionen Inputs liefert.1 Von herausragender Bedeutung ist dabei die Amygdala. Ist die Verbindung zu ihr unterbrochen, so erfolgt keine Furchtkonditionierung mehr. Eine Schädigung der anderen Verbindungen hat dagegen keinen Einfluss auf die Furchtkonditionierung. Noch etwas präziser zeigen retrograde Tracer, dass innerhalb der Amygdala vom auditorischen Thalamus aus insbesondere deren lateraler Kern erreicht wird; dieser kann aber auch vom sensorischen Kortex aus aktiviert werden. Auch die typischen Furchtreaktionen (wie Starreverhalten, Schmerzunterdrückung, Ausschüttung von Stresshormonen und Reflexverstärkung) werden durch jeweils spezifische Projektionen der Amygdala vermittelt, allerdings insbesondere durch Projektionen des zentralen Kerns: Während Schädigungen dieses Areals fast alle Furchtreaktionen unterbinden, können elektrische Stimulierungen des zentralen Kerns der Amygdala Erstarren und alle anderen Reaktionen hervorrufen, die typisch für Furchtverhalten sind. Die Amygdala erweist sich damit als eine der zentralen Areale in Bezug auf Furchtverhalten: Auf einer „unteren“ Ebene gelangen innerhalb von nur etwa zwölf Millisekunden Inputs aus den sensorischspezifischen Regionen des Thalamus zu ihr (dies ist die „schnelle ungenaue Bahn“). Etwa doppelt solange dauert es, bis von einer „höheren“ Warte aus, vom sensorisch-spezifischen Kortex, präzisere sensorische Informationen zu ihr gelangen können. Darüber hinaus erhält die Amygdala durch die Hippocampusformation vom Sensorischen unabhängige Informationen über die allgemeine Situation, in der sich das Tier befindet. Bei einer Schädigung des Hippocampus unterbleiben Kontextkonditionierungen durch normale Begleitumstände (wie das Setzen in einen Käfig), ohne dass die primäre Furchtkonditionierung (z. B. durch einen Ton) beeinträchtigt wird. LeDoux zufolge ist die 1

Bei Tracern handelt es sich um Markierungssubstanzen, die in Hirnregionen injiziert werden, wenn man untersuchen will, ob bestimmte Areale miteinander verbunden sind. Tracer können retrograd, anterograd oder in beide Richtungen wirken. Retrograde Tracer werden von den Endknöpfchen eines Axons (dem präsynaptischen Teil einer Synapse) aufgenommen und („zurück“) zum jeweiligen Zellkörper transportiert, anterograde Tracer werden hingegen vom Zellkörper aufgenommen und gelangen von dort („vorwärts“) zu den AxonEndknöpfchen.

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Amygdala durch diese Verbindungen in der Lage, die emotionale Bedeutung sowohl einzelner Reize als auch komplexer Situationen zu verarbeiten und ist insofern wesentlich an der Bewertung der emotionalen Bedeutung der verschiedensten Geschehnisse beteiligt (LeDoux 1998, 168 – 169).

Zurück zu den Gefühlen Um die am Furchtsystem der Ratte gewonnenen Einblicke auf die feinen emotionalen Nuancierungen, die für Menschen typisch sind, übertragen zu können, müssten die von LeDoux vorgenommenen Fokussierungen nun in geeigneter Weise rückgängig gemacht werden. Teilweise scheint dies möglich zu sein. Untersuchungen an anderen Säugetieren, Vögeln und Reptilien bestätigen, dass Reizungen des zentralen Kerns der Amygdala die jeweils typischen Furcht- und Abwehrreaktionen bei diesen Tieren hervorrufen. Ähnliche Reizungen wurden auch an Epilepsie-Patienten vorgenommen, während sie im Wachzustand einer klinisch indizierten Gehirnoperation unterzogen wurden. Auch diese Patienten zeigten dann furchtsame Ausdrucksbewegungen; darüber hinaus berichteten sie von einem Gefühl drohender Gefahr und von Furchterlebnissen (vgl. LeDoux 1998, 171 – 173). LeDoux zufolge zeigt sich damit, dass bei allen Lebewesen, die über eine solche Gehirnstruktur verfügen, die Amygdala in zentraler Weise am Zustandekommen von Furchtreaktionen beteiligt ist: Defense against danger is perhaps an organism’s number one priority and it appears that in the major groups of vertebrate animals that have been studied (reptiles, birds, and mammals) the brain performs this function using a common architectural plan. […] When it comes to detecting and responding to danger, the brain hasn’t changed much. In some ways we are emotional lizards (LeDoux 1998, 174).

Während viele Tiere LeDoux zufolge mit einem sogenannten „emotionalen Autopiloten“ durchs Leben kommen, seien allerdings diejenigen im Vorteil, denen ergänzend eine willkürliche Steuerung zur Verfügung stünde, die also emotionale und kognitive Prozesse zu koppeln in der Lage seien. Dazu gehöre nicht nur die präzisere Wahrnehmung einer emotional signifikanten Situation über den sensorischen Kortex, sondern insbesondere die Fähigkeit, in solchen Si-

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tuationen angemessene Handlungen kontrolliert auszuwählen, also zu agieren statt bloß zu reagieren (vgl. LeDoux 1998, 175 – 176). Bei seiner Untersuchung der Mechanismen des Furchtsystems konzentriert sich LeDoux – wie oben dargestellt – insbesondere auf die in vielen Wirbeltierarten ähnlich und größtenteils automatisch ablaufenden Verarbeitungsprozesse. Die für Menschen besonders prominenten Furchterlebnisse werden LeDoux zufolge jedoch gerade nicht durch das evolutionär alte Furchtsystem generiert, auch wenn diese Struktur aktiviert sein muss, damit es überhaupt zu Furchterlebnissen kommen kann. Damit wir Furcht oder andere Affekte erleben können, sei vielmehr unverzichtbar, dass die Aktivierungen des Furchtsystems (oder die der anderen Emotionssysteme) im Arbeitsgedächtnis repräsentiert werden (vgl. LeDoux 1998, 268, 270). Entsprechend betrachtet LeDoux Emotionen primär als unbewusste Prozesse, die manchmal zu bewussten Inhalten führen können (vgl. LeDoux 1998, 269). Sollte diese Auffassung Bestätigung finden können, so würde die eigentliche Emotionsforschung nach LeDoux’s Ansicht davon entlastet, auch noch erklären zu müssen, wie es zur bewussten Wahrnehmung von Gefühlen kommen könne; stattdessen könnte sie sich der Frage widmen, wie das Gehirn die unbewusst ablaufenden emotionalen Prozesse ausführe. Die allgemeine Frage nach der physischen Realisierungsbasis emotionaler Erlebnisse (und damit das Leib-Seele-Problem) könne somit der Bewusstseinsforschung zugewiesen werden. Für die Emotionsforschung bliebe die spezifischere Frage nach den Mechanismen, die dafür sorgen, dass emotionale Informationen im Arbeitsgedächtnis repräsentiert werden können (vgl. LeDoux 1998, 282 ff.; für nähere Einzelheiten vgl. Stephan 2008). LeDoux geht davon aus, dass es im Laufe der Evolution zur Herausbildung weiterer emotionaler Systeme gekommen ist, die in ähnlicher Weise wie das ausführlich von ihm diskutierte Furcht- und Abwehrsystem zahlreiche Verbindungen zu kortikalen und subkortikalen Strukturen aufweisen und in jeweils spezifischer Weise automatisch ablaufende Reaktionen nach sich ziehen. Für welche Emotionen er solche Systeme konkret anzunehmen bereit ist, lässt sich aus LeDoux’s Buch nicht entnehmen, vermutlich kommen dafür in erster Linie die in der übrigen Emotionsdebatte durchaus umstrittenen Basis-Emotionen – neben Furcht und Angst sind dies vor allem Wut und Zorn, Trauer, Freude, Ekel und Überraschung –, vielleicht auch soziale emotionale Regungen wie Liebe und Fürsorge, in Frage. Denn es ist nicht anzunehmen, dass sich im Laufe der Evolution für alle der typisch

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menschlichen emotionalen Regungen wie Scham, Stolz, Eifersucht, Achtung, Ehre, Heimweh oder Weltschmerz eigene Emotionssysteme entwickelt haben. Ausführlicher findet man dazu Darstellungen bei Jaak Panksepp (1998), der sich in seiner umfangreichen Monographie Affective Neuroscience ausführlich mit unterschiedlichen Affektprogrammen befasst. Den Ausgangspunkt bilden für ihn die Regulationsmechanismen basaler emotionaler Prozesse wie Lust und Schmerz (pleasure and pain), Wut und Zorn, oder Furcht und Angst; darüber hinaus befasst er sich mit Systemen, die soziale Emotionen wie Liebe, Lust (love and lust), Trauer, Sorge und Verzweiflung, aber auch Freude steuern. Was das bewusste Erleben anderer menschlicher Emotionen betrifft, kann LeDoux im Falle vorhandener Emotionssysteme ähnlich wie für das Furchtsystem argumentieren, da andere emotionale Systeme vermutlich in je eigener Weise auf die Erregungssysteme des Gehirns, das Autonome Nervensystem und die Gesichts- und Körpermuskulatur wirken (vgl. LeDoux 1998, 289 – 290 und 292). Was können wir aber aus LeDoux’s Untersuchungen entnehmen, wenn uns am meisten an menschlichen Emotionen und deren Interaktion mit bewussten kognitiven Vorgängen gelegen ist? LeDoux selbst ist gegen Ende seines Buches eindeutig: The brain states and bodily responses are the fundamental facts of an emotion, and the conscious feelings are the frills that have added icing to the emotional cake (LeDoux 1998, 302).

Es dürfte nahezu aussichtslos sein, auf der von LeDoux favorisierten Basis einer Vielzahl von Emotionen, die für den Menschen typisch sind, umfassend gerecht zu werden. Ausdrücke, wie „Heimweh“, „Eifersucht“ und „Mitleid“ beziehen sich ebenso wie „Furcht“ und „Ekel“ nicht auf Emotionssysteme, sondern auf affektive Zustnde und Prozesse, die insbesondere Menschen als Subjekte aus einer spezifischen, zugleich auf die Welt und sich selbst bezogenen Perspektive erleben. Diesen Bezug behalten emotionale Ausdrücke auch dann, wenn sich gar kein spezifisches System finden lässt, dessen Aktivierung diesen Erlebnissen regelmäßig zugrunde liegen könnte. Legt man nämlich einen Begriff eines Emotionssystems zugrunde, wie ihn LeDoux beispielhaft am Furcht- und Abwehrsystem der Ratte eingeführt und auf zahlreiche andere Wirbeltiere inklusive den Menschen ausgedehnt hat, so wird damit die Existenz spezifischer Projektionswege zwischen verschiedenen, ebenfalls spezifischen Hirn-Arealen impliziert, die an der Auslösung

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weitgehend automatischer Reaktionen beteiligt sind. Bei einer Vielzahl von menschlichen Emotionen – nämlich bei allen, die wir nicht in der einen oder anderen Weise mit unseren animalischen Vettern teilen – ist dagegen eher nicht anzunehmen, dass sich entsprechende modulare Systeme finden lassen. Von Emotionssystemen kann bei diesen Emotionen daher, wenn überhaupt, nur in einem stark erweiterten Sinne die Rede sein, in dem wir unter den Begriff eines bestimmten emotionalen „Systems“ jeweils die Gesamtheit aller Hirnstrukturen subsumieren, die am Zustandekommen der entsprechenden affektiven Zustände und Prozesse regelmäßig beteiligt sind. Je stärker der Einfluss von primär kognitiven Anteilen auf die Genese typisch menschlicher und damit auch kulturell unterschiedlich ausgestalteter Emotionen ist, desto häufiger dürften die gleichen kortikalen Areale an unterschiedlichen affektiven Vorgängen beteiligt sein. Die Vorstellung von klar voneinander abgrenzbaren (modularen) emotionalen Systemen ist in einem solchen Fall nicht länger haltbar. Aber selbst wenn es eine Reihe weiterer Emotionssysteme geben sollte, wäre die von LeDoux favorisierte Methode bei deren Untersuchung nur noch eingeschränkt tauglich, und zwar aus mindestens zwei Gründen. Zum einen übersteigt das emotionale Repertoire des Menschen dasjenige aller anderen Lebewesen beträchtlich. Eo ipso kann die strukturelle Basis genuin menschlicher Emotionen nicht einmal ansatzweise durch Tierversuche ermittelt werden. Zum anderen ist offen, ob Tiere überhaupt auf weitere Emotionen (außer Furcht und Ekel) konditioniert werden können. Schon für Reaktionen, die sich vielleicht als Ausdruck von Trauer, Zorn und Freude interpretieren lassen, dürfte dies sehr schwierig sein. Doch nur wenn bestimmte Emotionen gezielt ausgelöst werden können, lässt sich (wie im Falle des Furchtsystems) systematisch untersuchen, welche neuronalen Strukturen jeweils involviert sind. Selbst beim Menschen scheint es jedoch – auf den ersten Blick – kaum möglich zu sein, feinere emotionale Nuancierungen planmäßig unter Laborbedingungen auszulösen und die jeweils beteiligten Gehirnstrukturen mit Hilfe nicht-invasiver Methoden systematisch zu untersuchen: Wie sollten zum Beispiel Gefühle der Furcht, des Erschreckens, der vorübergehenden Befürchtung oder des Grauens bei Probanden wahlweise und zuverlässig generiert werden? In diesen Feinabstufungen erschließen sich menschliche Gefühle typischerweise und auch eher im Rahmen von Narrativen, wie sie u. a. von Goldie

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(2000), Voss (2004, III. Teil) oder Slaby (2008, Kapitel 11) vorgestellt werden. So schildert Peter Goldie eindrucksvoll einen möglichen Tagesverlauf im Leben eines von Eifersucht heimgesuchten Menschen, bei dem sich die Eifersucht immer wieder (zu verschiedenen Zeiten und zu unterschiedlichen Gelegenheiten) Bahn bricht. In einem Narrativ können diese verschiedenen Elemente in einer einzigen Sinn gebenden Geschichte zusammengeführt werden: You are jealous because you think that she has run off with someone else. You cannot sleep: your heart and mind are racing all night. While you are getting dressed in the morning you cannot help imagining them together, talking and joking about you perhaps, and you are unable to keep your mind on anything else. On the way to work, you see another couple in the distance, one of whom looks just like her, and you practically faint, frozen to the spot in terror. Later in the day, you are preoccupied with work for a while, and then suddenly, like a blow to the body, you see on your desk something of hers which triggers your feelings again, and you think „If I’m not able to talk to her now then I don’t know what I’ll do.“ The next minute your jealousy takes another turn, and you hope you never see her again; the telephone rings and the thought that it might be her fills you with dread (Goldie 2000, 14).

Diese vielschichtig und dynamisch miteinander verbundenen Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und körperlichen Veränderungen sind nach Goldies Ansicht alle Teil ein und derselben Emotion: derselben Eifersucht. „And these elements fit in as part of a narrative of this part of your life, which will include not just these elements but also things which you do out of jealousy and your emotional expressions of jealousy“ (Goldie 2000, 14).

Die Kraft der Narrative Vor allem im Hinblick auf zeitlich gebrochene, inhaltlich aber dennoch zusammenhängende emotionale Geschehnisse, wie sie u. a. in Eifersucht, Heimweh, Liebe oder Gefühlen verletzter Ehre zum Ausdruck kommen, erlauben Narrative, die verschiedenen (heterogenen) emotionalen Episoden durch ihre inhaltliche und zeitliche Verknüpfung in ein chronologisches Sinnganzes zu bringen (vgl. Voss 2004, 186, 209). In dieser spezifisch menschlichen Fähigkeit, das eigene emotionale Geschehen begrifflich zu durchdringen und in einen größeren Sinnzusammenhang zu integrieren, ist zugleich die Möglichkeit angelegt,

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von den jeweils unmittelbaren affektiven Erfahrungen Abstand zu nehmen und die auslösenden Situationen oder die eigenen emotionalen Reaktionen darauf neu zu bewerten. Damit ist es Menschen möglich, sich auch im Fhlen selbst situativ und evaluativ neu zu orientieren und dadurch den weiteren emotionalen Prozess zu beeinflussen. Derartige Modifikationen emotionaler Prozesse spielen eine nicht unbeträchtliche Rolle im menschlichen Gefühlsleben. Bei einer Fokussierung der Forschung auf die neuronalen Korrelate emotionaler Prozesse unter Absehung der für Menschen typischen Bewusstseinsleistungen bleibt die Ebene des Narrativen unweigerlich ausgeblendet. Umgekehrt trägt eine philosophische Analyse dieser komplexen Prozesse als solche nicht zur Aufdeckung der den verschiedenen Gefühlen zugrunde liegenden Gehirnstruktur bei. Inzwischen gibt es jedoch erste vielversprechende Untersuchungen, in denen gerade Narrative fruchtbar mit bildgebenden Verfahren kombiniert werden, die Aufschluss über die erhöhte oder erniedrigte Aktivität bestimmter Gehirnstrukturen geben. In einer noch laufenden Studie (HNPS) des Hanse-Wissenschaftskollegs über messbare neurobiologische Veränderungen im Rahmen einer psychoanalytischen Therapie bei Depressionen, in die u. a. Gerhard Roth, Horst Kächele, Anna Buchheim und Henrik Kessler involviert sind (vgl. Buchheim et al. 2008),2 werden Narrative in neuartiger Weise für funktionelle Untersuchungen des Gehirns fruchtbar gemacht. Unter anderem werden dabei aus für die Symptombildung einschlägigen Narrativen, die zuvor u. a. in klinischen Interviews erhoben werden, geeignete Schlüsselsätze ausgewählt und diese dann in einer fMRT-Umgebung den Patienten auf einem Bildschirm gezeigt – mit der Bitte, sich emotional und kognitiv in die umschriebene Situation zu versetzen. Es scheint damit zu gelingen, die im Narrativ beschriebenen traumatischen oder in anderer Hinsicht besonders bedeutsamen Situationen erneut zu evozieren und somit eine starke emotionale Beteiligung auszulösen. Es ist zu vermuten, dass sich diese Methode auch bei anderen Emotionen einsetzen lässt. So erscheint es nicht mehr utopisch, Versuchspersonen Narrative zu subtil differenzierbaren emotionalen Reaktionen berichten zu lassen, z. B. durch Fragen nach Situationen, in denen eine eher normale Angst erlebt wurde, gegenüber solchen, die gesteigerte Angst oder gar Panik auslösten, und auch diesen Narrativen geeignete Schlüsselwörter zu entnehmen. Auf dieser Basis könnten sich je unterschiedliche Aktivie2

Vgl. auch http://www.h-w-k.de/hnps.html.

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rungen und vielleicht auch unterschiedliche Mechanismen entdecken lassen, die mit den emotionalen Erlebnissen korreliert sind. Aber was genau erschließt sich uns, wenn wir mit Narrativen Zugang zu emotionsspezifischen neuronalen Vorgängen erhalten? Ist damit eine Überwindung der eingangs beschriebenen Kluft zwischen personaler Perspektive und Beobachterperspektive verbunden? – Zunächst einmal handelt es sich bei der beschriebenen Vorgehensweise um eine bemerkenswerte Kombination höchst unterschiedlicher Methoden: Der Zugang über die personale Ebene durch Exzerpte aus subjektiv bedeutungsvollen Narrativen eröffnet Untersuchungsmöglichkeiten auf der neuronalen Ebene, die in dieser Feinkörnigkeit andernfalls nicht möglich wären. Darüber hinaus erhalten wir eine weitere Perspektive auf eventuell erfolgreich verlaufende Psychotherapien: Diese können sich nun nicht nur in einer Verbesserung der Befindlichkeit der Patienten äußern, sondern zugleich auch dadurch sichtbar werden, dass sich die Reaktionen der an emotionalen Prozessen beteiligten Gehirnareale im Hinblick auf erneut evozierte traumatische Erlebnisse weitgehend „normalisieren“. Was wir durch Verwendung der Narrative in der Gehirnforschung allerdings nicht besser verstehen, ist, was die Kraft der Narrative selbst ausmacht und konstituiert. Ebenso wenig sind wir nun besser in der Lage, die seit Jahren im Fokus der Qualia-Debatte stehende „explanatorische Lücke“ zu schließen: Die Art und Weise, wie ein Eifersüchtiger die verschiedenen Episoden seiner Eifersucht im Laufe eines Tages erlebt, lässt sich nach wie vor nicht reduktiv erklären. Auch ein Bezug auf korrelierte neuronale Vorgänge, von denen wir durch die oben beschriebene Methode Kenntnis erhalten haben könnten, hilft da nicht weiter.3 Methodisch sind wir damit zwar in der Lage, die Kluft zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive in empirischen Untersuchungen (analog zu Fechners Psychophysik) zu überbrücken, doch erkenntnistheoretisch bleibt sie unverändert bestehen.

Unbewusste Bewertungen Wie die oben zitierte Zuckerguss-Metapher („conscious feelings are the frills that have added icing to the emotional cake“) zu erkennen gibt, sind Emotionen für LeDoux wesentlich subpersonal und unbewusst ab3

Zu dieser Problematik vgl. Stephan 2002 und 2004.

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laufende Prozesse, die durch spezifische evolutionär entstandene Systeme im Gehirn realisiert werden. Die mit diesen Prozessen bisweilen einhergehenden bewussten Gefühle seien nicht notwendig, damit überhaupt von einer emotionalen Reaktion gesprochen werden könne. Vielmehr seien diese eine Zutat, die zu den diversen körperlichen Reaktionen dazukomme und diese „verfeinere“. Aber die bloße Annahme verschiedener Emotionssysteme beantwortet ja nicht die Frage, warum in einer spezifischen Situation eher das eine statt eines anderen Emotionssystems aktiviert wird. Auf diese Frage geben vor allem Appraisaltheorien plausible, auch von LeDoux akzeptierte Antworten. Auch für ihn ist die Bewertung eines Reizes eindeutig der erste Schritt in der Einleitung einer emotionalen Episode (vgl. LeDoux 1998, 52). Dabei ist generell zu beachten, dass der in der Emotionsforschung verwendete Begriff der Bewertung (bzw. des Appraisals) als ein theoretisches (oder hypothetisches) Konstrukt verstanden wird.4 So schreibt Klaus Scherer, einer der Pioniere und maßgeblichen Vertreter der neueren Appraisalforschung: I originally suggested a set of criteria (which I called stimulus evaluation checks, SECs) that are predicted to underlie the assessment of the significance of a stimulus event for an organism […]. The SECs are chosen, in a particular fashion, to represent the minimal set of dimensions or criteria that are considered necessary to account for the differentiation of the major families of emotional states (Scherer 2001, 94).

Scherer zufolge werden Situationen, in die wir in der einen oder anderen Weise involviert sind, durch eine Kaskade unbewusst (und auch wiederholt) durchlaufener Bewertungen im Hinblick auf die folgenden vier Kategorien hin überprüft (vgl. Scherer 2001, 94):5 1. Relevanz: Wie wichtig ist das, was gerade geschieht, für mich? Bin ich selbst oder sind mir nahe stehende Personen (meine soziale Referenzgruppe) davon in unmittelbarer Weise betroffen?

4

5

Hypothetische Konstrukte sind erschlossene, postulierte Entitäten, die selbst nicht direkt beobachtbar sind, deren Annahme in wissenschaftlichen Theorien es jedoch gestattet, eine ganze Menge unterschiedlicher Phänomene systematisch zu ordnen und in plausibler Weise zu erklären. Scherer selbst spricht von Ereignissen (events). Da sich Ereignisse als solche aber kaum präzise individuieren lassen, verwende ich die Umschreibung „das, was gerade geschieht“ – nicht zuletzt, um damit auch das Prozesshafte an emotionalen Vorgängen hervorzuheben.

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2. Implikationen: Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem, was gerade geschieht, und wie werden dadurch mein Wohlbefinden sowie meine kurzfristigen und langfristigen Vorhaben beeinflusst? 3. Coping Potential: Welche Möglichkeiten der Einflussnahme habe ich auf den Gang der Dinge? Kann ich mich mit den zu erwartenden Konsequenzen arrangieren? 4. Normative Bedeutung: Welche Bedeutung hat das, was gerade geschieht, im Hinblick auf mein eigenes Selbst-Verständnis sowie auf soziale Normen und Werte? Man kann sich die SECs und dabei insbesondere die jeder RelevanzÜberprüfung vorhergehende Neuartigkeitsabfrage als eine fortwährend im Hintergrund unserer Aufmerksamkeit stattfindende Kontrolle vorstellen, mit deren Hilfe sowohl die Vorgänge in unserer Umgebung als auch in uns selbst nach spezifischen Kriterien überprüft werden. Je nach Ergebnis kann es zu einer Unterbrechung von Handlungsabläufen, zu einer Neufokussierung der Aufmerksamkeit und zu spezifischen emotionalen Reaktionen kommen. Unser Denken und Handeln kann in neue Richtungen gelenkt werden, wobei ihre Neuausrichtung und die sich daraus ergebenden Modifikationen der Situation, in der wir uns befinden, wiederum die unmittelbar nachfolgenden Appraisalprozesse beeinflussen und dadurch zu erneuten Anpassungen führen kann. Explizit nicht vorausgesetzt wird, dass es sich bei den aus unserer Verhaltensvielfalt und -phänomenologie erschlossenen SECs um bewusste, nach einer Reihe von Abwägungen vollzogene Urteile handelt; stattdessen wird angenommen, dass es sich um automatisch und unbewusst ablaufende Prozesse handelt, zu denen freilich auch bewusste Neubewertungen der entsprechenden Situation hinzutreten können. Zu unterscheiden sind dabei solche Begebenheiten, in denen schnelles Handeln geboten ist, von jenen, in denen uns genügend Zeit zu einem viele Aspekte gegeneinander abwägenden Entscheidungsprozess zur Verfügung steht. Über die neuronalen Mechanismen, die den postulierten SECs zugrunde liegen, herrscht jedoch noch weitgehend Unklarheit. Vor dem Hintergrund dieser explizit erschlossenen „Bewertungen“ sind philosophische Kritiken müßig, die darauf hinweisen, dass Bewertungen wesentlich bewusst seien und es sich daher in den von LeDoux oder von Appraisaltheoretikern wie Scherer angeführten Fällen nicht um genuine Bewertungen handeln könne. Doch das ist wohl eher ein Streit um Worte. Wenn in überwältigender Weise belegt ist, dass

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Emotionssysteme situationsadäquat aktiviert werden können, bevor unsere Wahrnehmungssysteme die entsprechenden Reize bewusst verarbeitet haben, dann ist davon auszugehen, dass es Mechanismen gibt, die auch ohne Beteiligung unseres Bewusstseins zu einer adäquaten Reaktion auf aktuelle Begebenheiten beitragen können. Wie sollte dies möglich sein, ohne dass eine Evaluierung der Situation vorgenommen wurde? LeDoux ist in diesem Punkt – in der für Neurowissenschaftler typischen pars pro toto-Einstellung – eindeutig: „The brain has to evaluate a stimulus and decide whether that stimulus should be ignored or should lead to some reaction“ (LeDoux 1998, 64; meine Hervorhebung). Auch wenn es aus philosophischer Sicht begrifflich unglücklich ist, Gehirne zu Subjekten von Bewertungs- und Entscheidungsprozessen zu erklären, kommen wir aus empirischer Sicht nicht umhin, unbewusste Bewertungsvorgänge zu postulieren, die zwischen der Wahrnehmung einer (emotional relevanten) Begebenheit und der Aktivierung eines spezifischen Emotionssystems vermitteln. Ohne diese Annahme bliebe unklar, wie es überhaupt zur adäquaten Aktivierung spezifischer Emotionssysteme kommen kann.6

Bibliographie Buchheim, Anna/Kächele, Horst/Cierpka, Manfred/Münte, Thomas/Kessler, Henrik/Wiswede, Daniel/Taubner, Svenja/Bruns, Georg/Roth, Gerhard (2008): Psychoanalyse und Neurowissenschaften. Neurobiologische Veränderungsprozesse bei psychoanalytischen Behandlungen von depressiven Patienten. In: Nervenheilkunde (27), 441 – 445. Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge (2007): Philosophie der Gefhle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart: Metzler. Goldie, Peter (2000): The Emotions: A Philosophical Exploration. Oxford: Clarendon Press. LeDoux, Joseph (1998): The Emotional Brain: The Mysterious Underpinnings of Emotional Life. London: Weidenfeld und Nicolson. [EA: New York 1996: Simon and Schuster]. LeDoux, Joseph (2002): Synaptic Self. How Our Brains Become Who We Are. New York: Penguin Books. Panksepp, Jaak (1998): Affective Neuroscience: The Foundations of Human and Animal Emotions. New York/ Oxford: Oxford University Press. 6

Henrik Kessler und Jan Slaby danke ich für Kommentare zu früheren Fragmenten dieses Artikels, der VolkswagenStiftung für die Förderung des animal emotionale-Projektes, in dessen Rahmen diese Arbeit entstehen konnte (vgl. http://www.animal-emotionale.de).

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Scherer, Klaus (2001): Appraisal Considered as a Process of Multilevel Sequential Checking. In: Scherer, Klaus/ Schorr, Angela/Johnstone, Tom (Hg.): Appraisal Processes in Emotion: Theory, Methods, Research. Oxford: Oxford University Press, 92 – 120. Slaby, Jan (2008): Gefhl und Weltbezug. Die menschliche Affektivitt im Kontext einer neo-existentialistischen Konzeption von Personalitt. Paderborn: Mentis. Stephan, Achim (2002). Phänomenaler Pessimismus. In: Pauen, Michael und Stephan, Achim (Hg.): Phnomenales Bewusstsein: Rckkehr zur Identittstheorie?. Paderborn: mentis, 342 – 363. Stephan, Achim (2004): Phänomenale Eigenschaften, Phänomenale Begriffe und die Grenzen Reduktiver Erklärung. In: Hogrebe, Wolfgang/Bromand, Joachim (Hg.): Grenzen und Grenzberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress fr Philosophie. Bonn, 23.–27. September 2002. Vortrge und Kolloquien. Berlin: Akademie Verlag, 404 – 416. Stephan, Achim (2008): LeDoux’s Emotionen und die vernachlässigte Kraft der Narrative. In: Merker, Barbara (Hg.): Wohin mit den Gefhlen? Emotionen, Gefhle, Werte. Paderborn: Mentis. Voss, Christiane (2004): Narrative Emotionen. Berlin/New York: de Gruyter.

Die Funktion des religiösen Bewusstseins in der Frage des Menschen nach sich selbst Wilhelm Grb 1. Religion als Funktion der Sinndeutung absoluter Kontingenz Eine Bestimmung der religiösen Funktion des Bewusstseins bzw. der Funktion des religiösen Bewusstseins soll hier im Rahmen eines funktionalen Begriffs des Bewusstseins überhaupt vorgenommen werden. Diesen Theorierahmen muss im Grunde jede Religionstheorie und auch die Theologie nach der Aufklärung – damit im Modus einer erfahrungsoffenen Arbeit am Begriff des Absoluten – einnehmen. Friedrich Schleiermacher, der sein Theologiekonzept als erster konsequent unter den Bedingungen und in der Fortführung der Erkenntniskritik Kants formuliert hat, konnte alle religiösen Vorstellungen, Ideen, Symbolsprachen und rituellen Praktiken als Ausdrucksphänomene des religiösen Bewusstseins rekonstruieren, das er zugleich im Kontext einer transzendentalen Theorie des menschlichen Bewusstseins und seiner wissenskonstitutiven Leistungen insgesamt verortet hat. Ohne die transzendentale Wissenstheorie übernehmen zu müssen, kann im Anschluss an Schleiermacher immer noch an der These festgehalten werden, dass, was für das Bewusstsein insgesamt gilt, so auch für die religiöse Funktion des Bewusstseins zutrifft: Es ist keine geistige Entität im Menschen, die sich gegenständlich bestimmen ließe, sondern ein an den biophysischen Organismus gebundenes und nur in der Verbindung mit ihm prozessierendes, aber doch zugleich der menschlichen Person als Ganzer, ihrem Denken, ihrem Willen und ihren Gefühlen zurechenbares, geistiges Leistungsgefüge. Es wird mit der Rede vom religiösen Bewusstsein bzw. der religiösen Funktion des Bewusstseins somit kein religiöses a priori im Menschen oder eine angeborene religiöse Anlage behauptet. Sondern es wird lediglich gesagt, dass unter das Ensemble geistiger Vorgänge, die wir meinen, wenn wir vom Bewusstsein sprechen, auch jene gehören können – nicht müssen – mit denen sich

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Menschen zu absoluten Grenz- bzw. Transzendenzerfahrungen sinnerschließend verhalten. Eine Bestimmung der Funktion des religiösen Bewusstseins kann insofern zur Klärung dessen führen, was religiöse Überzeugungen und Vorstellungen, die Erzählungen, Riten und Symbolssprachen der Religionen über das Verhältnis aussagen, das der Mensch zu sich selbst hat. Vermöge seines Bewusstseins weiß er um sich selbst und damit auch um die Kontingenz und Endlichkeit seines Daseins. Und die Funktion des religiösen Bewussteins dürfte spezifisch eben darin bestehen, zur Bewältigung absoluter, d. h. nicht in Handlungssinn integrierbarer, Kontingenz zu verhelfen. Die Bestimmung dieser Funktion, die das religiöse Bewusstsein für die menschliche Selbstbeziehung erfüllt, soll im Folgenden skizziert werden. Es wird damit zugleich eine begriffliche bzw. religionsphilosophische Klärung der Kriterien unternommen, die an mentale Aktivitäten und die Handlungen menschlicher Individuen angelegt werden müssen, wenn beurteilt werden soll, ob sie religiös sind. Im Unterschied zu dieser begrifflichen Arbeit ist es dann die Aufgabe der empirischen Religionswissenschaften, die Frage zu beantworten, ob und in welchem Maß menschliche Individuen mit ihren mentalen Aktivitäten, ihren sprachlichen Äußerungen, ihrem praktischen Verhalten und ihren Handlungen die begrifflichen Kriterien, die an das faktische Vorliegen und den Vollzug religiösen Bewusstseins anzulegen sind, erfüllen, also tatsächlich mehr oder weniger religiös sind und welche Bedeutung religiöse Vorstellungen und Praktiken für ihr Selbstverständnis, ihre Lebens- und Weltansicht gewinnen. Solche empirischen Untersuchungen über das Gegebensein religiösen Bewusstseins und die Funktion, die dieses faktisch für das Selbstverständnis und die Lebensführung eines Menschen hat, ist nicht weniger wichtig als die Klärung der begrifflichen Kriterien, die die empirischen Untersuchungen voraussetzen. Hier soll es freilich lediglich um Ersteres gehen, in der Absicht, das religiöse Bewusstsein als eine spezifische Fähigkeit menschlicher Individuen auszuweisen, die zwar mehr oder weniger entwickelt sein kann, dabei aber deren Selbstverhältnis mit konstituiert, auch wenn es in seiner materialen Ausprägung entscheidend von den soziokulturellen und institutionellen Daseinsbedingungen der Individuen abhängt. In den religionstheoretischen und -theologischen Debatten konkurrieren viele Religionsbegriffe miteinander. Ein gewisser Konsens besteht jedoch inzwischen darin – ähnlich wie bei den Bewusstseinstheorien –, dass mit einem funktionalen Religionsbegriff gearbeitet werden muss. D.h. die Frage, was Religion ist, will nicht mehr da-

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hingehend beantwortet sein, dass Religion über bestimmte Inhalte, wie z. B. den Glauben an Gott oder die Ehrfurcht vor dem Heiligen, definiert wird. Begriffsstrategisch leitend ist vielmehr die Bestimmung der Funktionen, die religiöse Vorstellungen und Symbole in einer Kultur bzw. Gesellschaft für das Selbstverständnis, in der Sozialisation von Individuen oder für die Integration bzw. das Veränderungspotential einer Gesellschaft erfüllen. Die Funktion des religiösen Bewusstseins besteht darin, so die inzwischen weithin zustimmungsfähige These, kontingente, unverfügbare, handlungssinntranszendente Widerfahrnisse, durch den symbolischen Ausgriff auf das Absolute sinnbezogen zu erschließen. Statt von „bloßem Zufall“ wird denn auch in religiöser Sinndeutung etwa vom Schicksal, von Fügung oder von Gottes Willen gesprochen.

2. Immanenz und Transzendenz Es ist ein kulturhistorisches Faktum, dass die Ausbildung religiöser Überzeugungen und Vorstellungen, ritueller Praktiken und Symbolsysteme ein Merkmal des Menschen ist, das nicht unerheblich seine Differenz zu anderen Lebewesen ausmacht. Zu den frühesten kulturhistorischen Zeugnissen vom Auftreten des Menschen gehört, dass er seine Toten bestattet. Er weiß um seine Sterblichkeit und ist daher auf Reflexionspotentiale angewiesen, die es ihm erlauben, den Tod, seiner absoluten Kontingenz zum Trotz, doch relativieren und damit transzendieren zu können. Religiöse Symbolsprachen artikulieren solche, auf absolute Sinninstanzen ausgreifende Transzendenzvorstellungen. Sie reden in mythischen Bildern von einer jenseitigen Welt, von Himmel und Hölle, von postmortaler Gottesnähe oder der absoluten Verlorenheit der Verdammten. In vielen religiösen Überlieferungen werden bunte Bilder vom Leben im himmlischen Jenseits gezeichnet. Religiöses Bewusstsein scheint gerade im Blick auf die „letzten Dinge“ von starker Imaginationskraft und kreativer Phantasie geprägt zu sein. Dies gilt nicht nur für die vielfältigen Jenseitsvorstellungen außerhalb der jüdischen und christlichen Überlieferungen. Phantastische Vergegenständlichungen von Himmel und Hölle prägen bis heute die ebenso bild- wie widerspruchsreichen Überlieferungen der Volksfrömmigkeit. Ein genaueres Wissen davon, wie es mit dem Menschen nach seinem Tod weitergeht, welche Zwischenzustände der Einzelne in welcher Daseinsform bis hin

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zum Endgericht durchlaufen muss und wie sich dieses postmortale Schicksal durch Angehörige beeinflussen lässt, nimmt die römisch-katholische Kirche mit ihrem Lehramt bis heute in Anspruch – ohne dass sie freilich je einen widerspruchfreien Vorstellungszusammenhang über diese „letzten Dinge“ hat ausbilden können. Wie dem auch sei, auf der Ebene einer Theorie des religiösen Bewusstseins und seiner Funktion für das menschliche Selbstverständnis ist festzustellen, dass auch religiöse Symbolsprachen es nicht vermögen, aus der Todesperspektive auf den Tod zu blicken und von dem zu sprechen, was mit ihm und über ihn hinaus ist. Wie philosophische, theologische oder andere gelehrte Versuche, über den Tod zu sprechen, können auch die religiösen Symbolsprachen immer nur vom Leben aus und in der Perspektive der Lebenden über den Tod hinauszeigen. Denn der Tod bedeutet das Ende aller Lebensmöglichkeiten eines Individuums, das Ende aller innerweltlichen Zukunft, aller Sozialität, eine unübersteigbare Grenze auch des Denkens und des Sagbaren. Eine kritische Auffassung von der Religion in der Form einer Theorie des religiösen Bewusstseins hält daran fest, dass es unübersteigbar das Diesseits ist, in dem über dessen Grenze und ihr absolutes Jenseits gesprochen wird. Das religiöse Bewusstsein operiert mit denjenigen mentalen Leistungen, vermöge deren ein Ich-bewusstes Individuum sich aus der Zentrierung auf das eigene Leben in den Grenzen des bloßen Diesseits zu befreien vermag. Die ins Erfahrungs- und Handlungstranszendente ausgeweiteten Vorstellungs- und Imaginationsräume, die das religiöse Bewusstsein auf dem Wege der symbolischen Repräsentation des Absoluten schafft, füllen sich mit dem Postulat eines absoluten, die Fragmentarizität endlichen Lebens umgreifenden Sinnzusammenhangs. Diese bewusste Beziehung auf einen absoluten Sinn wiederum ermöglicht es Menschen schließlich, ihr eigenes Leben in der konstitutiven Beziehung zum Absoluten zu verstehen. Sie sehen z. B. ihr Leben in der Verbindung mit einem Gott, der, wie diese Menschen dann glauben, dafür sorgt, dass sich das individuelle Leben im Tod nicht ins Nichts verliert, sondern es sich auf den Gott verlassen kann, der sich ewig seiner erinnert – obwohl die Theorie des religiösen Bewusstseins weiß, dass sich von solchen Ewigkeitsvorstellungen keine widerspruchsfreien Auffassungen gewinnen lassen, weil sie immer aus unseren endlichen Erfahrungszusammenhängen genommen sind. Den absoluten Sinn, der das Fragmentarische endlichen Daseins überschreitet und der ein Menschenleben in seiner Ganzheit umgreift, indem es diesem die selbstbewusste Perspektive einer ins Unendliche

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reichenden Vollendung vermittelt, „gibt“ es so wenig wie es das Jenseits oder eben auch das Bewusstsein als gegenständliche Realität gibt. Lebenssinn ist generell nichts, was schlicht gegeben wäre. Auch die Religionen können ihn mit ihren symbolisch-rituellen Vorstellungen und Praktiken nicht vermitteln. ,Sinn‘ bildet sich im komplexen Zusammenspiel von kultureller Traditionsaneignung, Auseinandersetzung mit lebensweltlich gegebenen Beziehungen, im Austausch mit andern Individuen, schließlich aus lebensgeschichtlicher Reifung und Einsicht. Sinnerfahrung ist insofern immer ein differenzierter, in sich gestufter Prozess, ein Zusammenhang bzw. eine Vielfalt von Zusammenhängen. Sinn entsteht zunächst in den Zusammenhängen, die sich zwischen dem Individuum und der Welt bilden. Diese führen auf den Sinn, der leiblich-sinnlich zu erfahren ist. Sinn entsteht sodann in den Zusammenhängen, die das Individuum mit sich selbst unterhält. Das ist gewissermaßen der Sinn, der in der Tiefe der Seele zu fühlen ist. Sinn entsteht schließlich in den Zusammenhängen, vermöge deren das Individuum sich mit dem Ganzen der Wirklichkeit verbunden weiß. Das ist der absolute Sinn, der im Geist zu denken ist. Ihn zu bilden ist die spezifische Funktion des religiösen Bewusstseins. Religiöse Sinndeutung, die auf den absoluten Sinnzusammenhang ausgreift, ermöglicht es Menschen, ihrem Leben trotz dessen offenkundiger Endlichkeit und Fragmentarizität doch zugleich Kohärenz, Perspektivität, Zielbestimmtheit und Ganzheit abzugewinnen. Aller Sinnaufbau ist eine Leistung des Bewusstseins. Der Aufbau eines absoluten Sinns ist die spezifische Leistung des religiösen Bewusstseins. Wo er vollzogen wird, sprechen wir vom religiösen Glauben. Der religiöse Glaube ist das Für-wahr-halten eines absoluten Sinns, der das individuelle Leben in das Ganze eines universalen Sinnzusammenhanges aufnimmt. Solcher Glaube bleibt insofern aber auch an die Leistung des religiösen Bewusstseins bzw. an die Erfüllung der religiösen Funktion des Bewusstseins gebunden. Auch die in den religiösen Symbolsprachen implizierten, inhaltlichen Deutungen eines absoluten, universalen Sinnzusammenhanges lassen sich insofern nur dort als allgemein gültige Wahrheit behaupten, wo sie auf die Zustimmungsbereitschaft des religiösen Bewusstseins rechnen können. Dass dem Leben trotz vielfältig erfahrener Sinnlosigkeit ein absoluter Sinn innewohnt, ein Sinn also, der auch noch die Erfahrungen von Negativität, von Sterben und Tod, von zerstörerischer Sinnlosigkeit zu übersteigen und in sich aufzunehmen vermag, ist freilich nur dann wahr, wenn das Leben selbst einen absoluten Sinn hat, ihm dieser also nicht nur vom

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religiösen Bewusstsein zugeschrieben wird. Zugleich hat es ihn aber nur für Menschen, die diesen absoluten Sinn auch für wahr halten bzw. an ihn glauben und in solchem Glauben ihr Leben in einer selbstbestimmten, zielgewissen Orientierung führen. Dass Sinn seine Negation in sich aufgenommen haben muss, wenn er in den Negativitätserfahrungen des Lebens soll erhalten werden können, denkt christliche Theologie in den inneren Zusammenhang von Kreuz und Auferstehung Jesu hinein. Dieses theologische Denken bleibt freilich, was seinen Geltungsanspruch anbelangt, erst recht auf den es aneignenden und in die Lebensführungspraxis der Frommen eingehenden Glauben angewiesen.

3. Religiöse Selbstdeutung Lange Zeit gehörte es in der Folge der Aufnahme und Fortführung platonischer Metaphysik zu den anthropologischen Kategorien der christlichen Theologie, einen Leib-Seele-Dualismus zu vertreten. Dabei sollte die Seele als immaterielle, vom Leib getrennte Substanz einen unsterblichen, göttlichen Wesenskern der menschlichen Person ausmachen. Unter nachkritischen, neuzeitlichen Erkenntnisbedingungen wird dieser substanzontologische Dualismus in der Theologie, jedenfalls der protestantischen, kaum noch vertreten. An die Stelle der Seele als einer immateriellen, geistigen Substanz, die den Menschen mit Gottes Ewigkeit verbindet, ist die Rede vom religiösen Bewusstsein bzw. vom „christlich-frommen Selbstbewusstsein“ (Schleiermacher) getreten. Das religiöse Bewusstsein ist als ein geistiger Vorgang der Träger dieser auf absoluten Sinn ausgreifenden Selbstdeutung eines Menschen. Es kann insofern auch als ein hermeneutischer Operator angesehen werden, der Menschen dazu befähigt, ihre Lebenserfahrungen in eine solche Deutung zu heben, die sie in einen ganzheitlichen Sinnzusammenhang einbindet. Selbstverständlich verlangt nicht jede Erfahrung nach religiöser Deutung. Es sind dies vielmehr eben die Erfahrungen absoluter Kontingenz, die ohne Ausgriff auf einen absoluten Sinn nicht sinnbezogen gedeutet werden können. Dennoch führen auch die Erfahrungen absoluter Kontingenz nicht zwangsläufig in religiöse Deutungen. Genau deshalb, weil religiöse Deutungen eine Leistung des religiösen Bewusstseins sind, müssen sie auch von Individuen selbst vollzogen bzw. in der Aneignung religiöser Deutungstraditionen ausgebildet und in die Lebensführungspraxis integriert werden. Insofern

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haben religiöse Sinndeutungen, obwohl sie auf universale Sinnganzheit ausgreifen, doch zugleich den Charakter von individuellen Selbstdeutungen, entwickeln sie sich zu einem elementaren Faktor im menschlichen Selbstbewusstsein. Das religiöse Bewusstsein realisiert geradezu auf exemplarische Weise das unauflösliche Ineinander von Individualität und Universalität. Es postuliert einen Sinnzusammenhang von universaler Reichweite und bleibt dabei doch an den Vollzug eines individuellen Glaubens, der sich gegenständlich in keiner Weise als wahr ausweisen kann, gebunden. Der absolute Sinn, den der religiöse Glaube für wahr hält, lässt sich ja nicht objektivieren. Er kann nur auf dem Wege je individueller Gegenzeichnung seinen Anspruch auf allgemeine Geltung einholen. Allerdings spricht auch das religiöse Bewusstsein nicht in Privatsprachen, sondern macht von religiösen Überlieferungen, allgemeinen religiösen Vorstellungskomplexen und tradierten Symbolen Gebrauch. Es vollzieht sich je individuell, ist aber nichts bloß Subjektives, sondern erhebt Anspruch auf allgemeine Geltung und setzt auf die Gegenzeichnung durch andere Individuen, denen ebenfalls die Struktur der bewussten Selbstbeziehung eigen ist. Zumeist hat der Vollzug des religiösen Bewusstseins jedenfalls die Form der individuellen Aneignung tradierter religiöser Vorstellungen und Deutungskategorien.

4. Selbstbewusstsein und Seele Die Funktion, die die Religion in der Form des religiösen Bewusstseins im Selbstverhältnis eines menschlichen Individuums erfüllt, ist, wie zu zeigen war, die, eine auf unbedingten, ganzheitlichen Sinn ausgreifende Lebensdeutung zu ermöglichen. Dieses funktionale Verständnis vom religiösen Bewusstsein verbindet sich, wie ebenfalls bereits eingangs festgehalten wurde, mit einem funktionalen Begriff des Bewusstseins überhaupt. Darin liegen weitere Implikationen, die für den funktionalen Begriff des religiösen Bewusstseins folgenreich sind. Das ist noch etwas weiter auszuführen. Ein funktionaler Begriff des Bewusstseins versteht unter dem Bewusstsein ja generell nicht etwas, das im biophysischen Organismus dinglich gegeben wäre, sondern sieht in ihm ein Leistungsgefüge, das es einem biophysischen Organismus ermöglicht, in einer wissenden Beziehung zu sich selbst zu stehen, Überzeugungen auszubilden, Intentionen zu verfolgen, sich Ziele zu setzen, sich zu einem bestimmten Handeln selbst zu bestimmen. Bewusstsein ist ein

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Ensemble von geistigen Vollzügen und Zuständen, die von einem Individuum einerseits unmittelbar als die eigenen erlebt werden, andererseits durch gegenständliche Wahrnehmungen, Erfahrungen und Wissensbestände vermittelt sind. Dem Bewusstsein ist also zunächst dieser unmittelbare Selbstbezug eigen, weshalb es nie ohne Selbstbewusstsein ist. Sodann ist aber auch ein sinnliches von einem unmittelbaren Selbstbewusstsein zu unterscheiden. Das sinnliche Selbstbewusstsein ist durch unsere sinnlichen Wahrnehmungen, auch diejenigen, die wir an uns selbst machen, vermittelt. Das unmittelbare Selbstbewusstsein wird hingegen deshalb unmittelbar genannt, weil es mentale Zustände meint, von denen wir erfahren, ohne dass wir auf unsere äußeren Sinne oder gar auf logische Schlussfolgerungen angewiesen wären. Im unmittelbaren Selbstbewusstsein sind wir uns bestimmter geistiger Zustände, Überzeugungen, Wünsche und Ängste unmittelbar bewusst. Obwohl die Unmittelbarkeit dieses Bewusstseins impliziert, dass keine Reflexionsanstrengungen in diese Bewusstseinsvorgänge eingehen, könnte doch von einem Selbst-Bewusstsein im inneren Erleben des Individuums wiederum nicht die Rede sein, wäre dieses rezeptive Erleben nicht bereits mit Deutungsoperationen verbunden, die dann freilich nicht prädikativ ausgearbeitet sein müssen, sondern auf einer emotionalen Ebene ablaufen. Möglicherweise lässt sich mit einer solchen Beschreibung der Verfassung des Selbstbewusstseins aber auch ein nachkritischer Begriff der Seele gewinnen. Hat der substanzontologische Seelenbegriff angesichts der kritischen Neufassung der Metaphysik als funktionaler Prinzipienreflexion ausgedient, so kann der Begriff der Seele nun möglicherweise zur erschließungskräftigen Metapher werden, mit der sich ausdrücken lässt, dass ein Mensch sich in der Ganzheit seiner psychophysischen Zustände immer auch im Wie seines inneren Erlebens selbst erschlossen ist. Die Seele eines Menschen ist seine an die leibliche Ganzheit gebundene Fähigkeit, sich in der Innenperspektive als eine Person im Wechsel der Gesamterlebniszustände selbst wahrzunehmen (Barth 2004). Mit dem Aufbau eines solchen nun nicht mehr substanzontologischen, sondern erkenntnis-theoretisch-psychologischen Seelenbegriffs wäre eine noch breitere Basis für die Ausarbeitung einer Theorie des religiösen Bewusstseins gewonnen. Denn von ihm her könnte gezeigt werden, dass es gerade die passive Konstitutionsstruktur des inneren Erlebens einer Person ist, die den Eintrag einer religiösen Deutungskomponente in deren Selbstverständnis nahelegt.

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5. Unmittelbarkeit und Reflexion Wenn die Rede vom religiösen Bewusstsein bedeutet, dass man unter den verschiedenen Funktionen des Bewusstseins auch eine religiöse Funktion unterscheiden kann, dann gehört der religiöse Glaube in den Kreis der mentalen Vorgänge und Tatbestände, die in Gestalt von Überzeugungen, Empfindungen, Vorstellungen und Ideen die Selbstbeziehung menschlicher Individuen generieren und repräsentieren. Er geht, wie alle anderen Bewusstseinsvollzüge auch, aus geistigen Prozessen hervor, die von Menschen unmittelbar als die eigenen erlebt werden und die ihr Handeln beeinflussen, ohne dabei immer mit ausdrücklichen Selbstwahrnehmungen oder gar kognitiven Ableitungen verbunden zu sein. Er vollzieht sich im Modus eines unmittelbaren Erlebens von mentalen Zuständen in der Perspektive der ersten Person. Dieses ist ein spezifisch religiöses Erleben, wenn es sich mit einer ebenso unmittelbaren wie unbedingten Überzeugungsgewissheit verbindet. Akte reflexiver Deutung und kategorialer Bestimmung müssen jedoch hinzukommen. Ohne diese tritt das Unbedingtheitsmoment in solchem Erleben, wodurch es allererst als spezifisch religiöses zu stehen kommt, nicht hervor. Der Mensch als Seele, d. h. mit seiner Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung in der leiblichen Ganzheit seiner biophysischen Zustände, gewinnt jedoch sein Selbstverständnis genau in diesem geistigen Aufbau eines Ineinander von Unmittelbarkeit und Reflexion bzw. von individuellem (Selbst-)Erleben und allgemeiner Deutung.

6. Selbstbestimmung unter Sinnbedingungen Das religiöse Bewusstsein macht uns Menschen eine auf absoluten Sinn ausgreifende Sinndeutung jener Tatbestände des Lebens möglich, die unseren endlichen Gestaltungs- und Erfahrungshorizont transzendieren. Es bildet Überzeugungen, Empfindungen, Vorstellungen und Symbolsprachen aus, mit denen wir uns zur Erfahrung absoluter Kontingenz, zum Tod und zu all jenen Abhängigkeiten und Unverfügbarkeiten verhalten können, die sich unserer Bestimmbarkeit und unseren Handlungsmöglichkeiten entziehen, aber gleichwohl uns unbedingt angehen, auf uns zukommen und uns betreffen. Es sind dies die Grundtatbestände unseres Geborenwerdens und Sterbens, sodann die vielfach unhintergehbaren Abhängigkeiten von einer Welt, in die wir uns als Individuen versetzt finden und in der wir unser Leben sinnvoll

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führen wollen, die wir als Ganzes aber nicht vor uns bringen und als gerichteten Sinnzusammenhang erfassen können. Wir können sie zwar in ihren komplexen sozialen und natürlichen Gegebenheiten und Bedingungsverhältnissen im Einzelnen erkennen und bearbeiten, nicht jedoch im Ganzen eines intentional fassbaren Sinnzusammenhanges, nicht im „Warum“ ihres Gegebenseins verstehen, somit auch nicht in Relation zum Sinn des eigenen Lebens und nicht zu den Endzwecken unseres Handelns bestimmen. Indem das religiöse Bewusstsein der Welt als Ganzer und damit dem individuellen Leben in ihr einen Sinn gibt, ermöglicht es auch individuelle Freiheit. Da Freiheit qua Selbstbestimmung ein Handeln aus der Einsicht in Gründe und Zwecke meint, muss es gerade als eine der entscheidenden Leistungen des religiösen Bewusstseins angesehen werden, Menschen gesteigert in die Lage zu versetzen, ein autonomes, sich selbst bestimmendes Subjekt zu werden, eben weil es sich in seiner religiösen Verankerung auf ein universales Sinnganzes hin entwirft. Das religiöse Bewusstsein macht es im Grunde allererst zu einem Selbst, das sich selbst bestimmen kann. Denn als religiös Bestimmtes weiß das Selbst auf ebenso unmittelbare wie unbedingte Weise um seine Bestimmung. Auch kann es sich als religiös Bestimmtes noch zu denjenigen Tatbeständen seines Daseins verhalten, die sich nicht zu sinnbestimmten Zwecken des eigenen Handelns machen lassen, vielmehr in deren unbedingte Sinnbestimmung immer schon eingehen. Das religiöse Bewusstsein verhilft somit zu einem selbstbestimmten menschlichen Handeln, indem es die handlungssinntranszendenten Sinnbedingungen menschlichen Lebens vergegenwärtigt. Die anerkennende Bezugnahme auf die unbedingten Sinnbedingungen selbstbestimmten Handelns, wie sie das religiöse Bewusstsein vollzieht, muss sich zwar nicht im Glauben an Gott artikulieren. Jedoch kann in solcher Anerkennung der rationale Gehalt des Glaubens an Gott hervortreten. Religion drückt jedenfalls im Glauben an Gott auf elementare Weise eben das Bewusstsein aus, dass wir im selbstbestimmten Handeln von nicht durch uns selbst gesetzten, unbedingten Sinnbedingungen abhängig sind. Sie eröffnen dem Selbst den Horizont, in dem es sich sinnorientiert zu einem bestimmten Handeln bestimmt. Die religiöse Anerkennung dieses Unbedingtheitshorizontes korreliert mit der Haltung menschlicher Bescheidenheit, Demut und Dankbarkeit. Das religiöse Bewusstsein gehört somit in die Konstitutionsbedingungen menschlicher Freiheit. Denn selbstbestimmtes Handeln setzt ein Selbst voraus, das sich auf der Basis seiner Überzeugungen und Per-

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sönlichkeitsmerkmale zu einem bestimmten Handeln selbst soll bestimmen können. Ein Selbst bzw. eine Person ist aber kein bloß natürlich oder sozial gegebenes Etwas, sondern verlangt ein ausgelegtes bzw. deutendes, bewusst vollzogenes und erarbeitetes Verhältnis eines menschlichen Individuums zu sich. Dieses muss, zumindest implizit, an den Sinnzusammenhang der Welt als Ganzer und des eigenen Lebens in ihr glauben. Erst der religiöse Glaube erschließt mit seinem Ausgriff auf religiös erschlossene Transzendenz einen unendlichen Möglichkeitsraum, innerhalb dessen sich die selbstbestimmten Handlungszwecke und -ziele allererst als letztlich sinnvoll darstellen.

7. Sprachen des Lebens In der Form des religiösen Bewusstseins deutet die Religion das Leben. Sie liefert aber keine Welterklärung. Sie stellt keine Kausalitätsverhältnisse her, gibt keinerlei objektiv sachhaltige Auskunft über die Entstehung des Universums, den Lauf der Geschichte oder das Ende der Welt. Sie redet in ihren Texten freilich auch nicht vom biologischen Organismus oder von neuronalen Prozessen. Wie die Beschreibungen des Lebens in der Literatur, in der darstellenden Kunst, in philosophischen und theologischen Texten ist es auch in religiösen Erzählungen so, dass dort in einer metaphorischen und symbolischen, somit sinndeutenden Sprache vom Leben gesprochen wird. Es spielen ganz andere Probleme eine Rolle und es treten andere Fragen hervor als in der wissenschaftlichen Welterklärung. Sie betreffen nicht das Funktionieren eines Organismus, sondern es geht um Individuen, die über geistige Zustände verfügen, die sich als Individuen verstehen, von anderen Individuen abgrenzen und gleichzeitig in eine Gemeinschaft von Individuen einfügen. Leben meint in religiösen Texten im Grunde immer bewusstes Leben. Die Individuen, von denen sie sprechen, können planen und Absichten verfolgen, stehen im Verhältnis zu sich und im Austausch mit der Umwelt, verhalten sich zu anderen ihresgleichen, müssen sich durchsetzen und im Dasein behaupten, ebenso Verantwortung für ihr Handeln tragen. Sie werden schuldig, verlangen nach Vergebung und hoffen auf Versöhnung. Es werden deshalb keine objektiven, empirischen Analysen angestellt, sondern subjektive, narrativ fassbare Ausdrucksformen von Gefühlen, Gedanken, Reaktionen, Absichten und Motiven beschrieben.

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Nur in diesen anderen als den biologischen Ordnungen des Lebens, wie sie in den Erzählungen und Symbolsprachen der Religionen, aber auch in der Literatur und der darstellenden Kunst, in Philosophie und Theologie entwickelt werden, tritt der Mensch als ein solches Lebewesen hervor, das nach sich selbst fragt. In diesen symbolischen Formen haben sich denn auch seit jeher die Lebensdeutungen artikuliert, mit denen die Menschen Antwort auf die letzten Fragen nach dem Warum allen Lebens und des eigenen Daseins, nach seinem Sinn und Zweck, nach Gut und Böse, nach Zufall, Schicksal oder göttlicher Fügung suchten. Der rationale Gehalt religiöser Symbolsprachen liegt bei aller Vieldeutigkeit, die diesen Sprachen eigentümlich ist, aber auch heute noch darin, dass sie einen in dichten Vorstellungen und starken Wertungen lebendigen Umgang mit den existentiellen Fragen nach dem Sinn des Ganzen eröffnen: Was heißt es für mich, ein Mensch zu sein? Wie erlebe ich mich als Individuum? Und dann eben auch: Welchen Sinn hat für mich mein Leben? Wie verhalte und äußere ich mich, um mich von anderen Individuen abzugrenzen oder mit ihnen in Verbindung zu treten? Welche Bedeutung schreibe ich mir selbst und anderen Individuen zu? Diese Fragen lassen sich mit biologischen oder neurologischen Datenbeständen und Erkenntnissen nicht beantworten, auch wenn diese noch so genau ausdifferenziert werden. Dazu braucht es die Welt der fiktionalen Erzählungen und mythischen Bilder, wie sie die religiösen Überlieferungen geschaffen haben. Allerdings sind unter modernen Kulturverhältnissen diese religiösen Überlieferungen vielfach fragmentiert, finden sich Marktverhältnissen ausgesetzt und stehen in Konkurrenz zu den Sinnangeboten einer weit ausdifferenzierten medienästhetischen Kultur. Die empirische Religion erscheint in der modernen Kultur in vielfach anderen Gestalten als ehedem. Auch die fiktionalen Welten, die die Literatur und der Film eröffnen, erfüllen unter Umständen diejenige Funktion des Bewusstseins, die es macht, dass menschliche Individuen sich deutend zum Sinn des Ganzen einer Welt und ihres Lebens verhalten können. Vor der empirischen Religionsforschung liegt hier ein weites Feld.

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8. Lebensdeutung und Lebensführung Gehört Religion zu denjenigen Sinndeutungen des Lebens, die zu den Ermöglichungsgründen einer zielgewissen Ausrichtung selbstbestimmter Lebensführung zu zählen ist, dann dürften auch religiöse Erzählungen und Symboltraditionen, eben weil sie diesen universalen Sinnzusammenhang zwischen der Welt als Ganzer und dem individuellen menschlichen Leben herstellen, zur Ausbildung der Fähigkeit eines selbstbestimmten, freien Handelns beitragen. Religiöse Symbol- und Ritualformen müssten sogar auf vorzügliche Weise zu einem gehaltvollen Aufbau des Selbst, das sich in seinem Handeln selbst soll bestimmen können, führen. Auch dies sollten religionsempirische Untersuchungen zeigen können. Das Selbst bzw. die Einheit der Person, die selbstbestimmt handeln kann, ist freilich ebenso wenig in einem schlichten Sinn gegenständlich gegeben wie das Bewusstsein in der Vielfalt der Funktionen, die es in der Lebensführung eines Individuums erfüllt. Auch das Selbst, die Person, dann der Wille, etwas zu tun, somit die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, müssen sowohl unmittelbar empfunden wie dann auch vorgestellt und gedanklich entwickelt, schließlich vom handelnden Individuum sowohl intuitiv angeeignet, als auch in anstrengender Arbeit an sich selbst, in der Ausbildung eines Charakters und Habitus in eine zielorientierte Lebensführung eingesetzt werden. Nur ein gehaltvoller Begriff des Selbst, der mit starken Wertungen verbunden ist und in die praktische Selbstdeutung eines Individuums integriert wird, gewinnt lebensführungspraktische Relevanz. Religiöse Überlieferungen vermitteln solche gehaltvollen, mit starken Wertungen verbundenen Selbstbegriffe und Selbstvorstellungen. In der christlichen Tradition ist dies z. B. der Mensch als Gottes Geschöpf, als Gottes Ebenbild, als in Christus gerechtfertigter Sünder. Diese theologischen Topoi enthalten jeweils inhaltlich bestimmte Konzepte humaner Selbstdeutung (wie z. B. das der Unverletzlichkeit der Würde jedes einzelnen Menschen), aus denen orientierungspraktische Konsequenzen für ein von diesem Selbst bestimmtes Handeln hervorgehen können.

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9. Glauben mit Leib und Seele Das religiöse Bewusstsein kann seine Funktion der Sinndeutung menschlichen Lebens nur in der Bindung an den biophysischen Organismus eines Individuums erfüllen und basiert selbstverständlich, wie alle anderen Bewusstseinsleistungen auch, auf neuronalen Bereitschaftspotentialen und Prozessen. Biologische bzw. neurowissenschaftliche Erkenntnisse, die den Widerspruch zur Existenz einer Seele und damit zu angeblich religiösen Wirklichkeitsauffassungen formulieren, treffen das hier vertretene Religionsverständnis nicht. Der religiöse Glaube ist eine auf unbedingten, ganzheitlichen Sinn ausgreifende Lebensdeutung. Er impliziert jedoch keine von der Unmittelbarkeit der Selbstbeziehung ablösbare, gegenständliche Existenzbehauptungen oder gar kausale Wirklichkeitserklärungen. Er sagt auch nichts aus über eine vom Selbstbewusstsein unabhängige Existenz und den Fortbestand der menschlichen Seele über die Zeit des irdischen Daseins hinaus. Aber Religion in der Form des religiösen Bewusstseins macht auf neue Weise die Rede von der menschlichen Seele möglich. Die Seele ist dann dasjenige Leistungsgefüge im Leben eines Menschen, das menschliche Individuen in der Ganzheit ihres leiblichen Daseins in einen unmittelbaren Bezug zu sich selbst und auf reflektierte Weise zugleich zum Grund ihres Selbstseinkönnens bringt, so dass sie sich in ihrem unmittelbar inneren Erleben doch auch auf bedeutsame Weise erschlossen sind. Die Seele funktioniert aber nur in Verbindung mit der durch den Leibbezug gestifteten Ganzheit der biophysischen Zustände eines Individuums. Ohne den Leib gibt es auch keine Seele und damit auch kein inneres Erleben, das seine Gehalte einer religiösen Deutung zuführen könnte.

10. Gott Das religiöse Bewusstsein transzendiert die Endlichkeit. Die von ihm produzierten Vorstellungsgehalte schaffen Imaginationsräume, in denen Menschen ihr endliches Leben in seiner konstitutiven Bezogenheit auf ein Unendliches, auf den Gott, von dem sie ihr Leben empfangen haben, zur Deutung bringen. Damit können sie dann auch den Glauben zum Ausdruck bringen, dass der Gott, aus dessen „Hand“ sie ihr Leben haben, sie auch im Tod nicht fallen lässt.

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Das ist die symbolische Sprache der Religion. Sie bringt, auf ihren rationalen Kern hin gesehen, zum einen die elementare Einsicht zum Ausdruck, dass kein Mensch sich selbst das Leben gegeben hat, wir uns vielmehr immer schon in Lebenszusammenhänge hineingestellt finden, denen wir das eigene Dasein verdanken und die zugleich weiter existieren, auch wenn wir selbst nicht mehr sind. Sie schafft zum anderen möglicherweise aber auch die Fähigkeit, sich selbst und das eigene irdische Dasein zu relativieren, zum einen im Blick auf die Welt, die weiter besteht, auch wenn ich nicht mehr bin, zum anderen im Blick auf den Gott, von dem der religiöse Glaube in der ihm eigenen Sprache sagt, dass er mich ewig in seinen Händen hält. Gott ist gewissermaßen die Symbolisierung der universalen Sinnganzheit, die zugleich in einem Individuum vorgestellt wird. Der christliche Gottesgedanke realisiert dies in der Auffassung, dass Gott in dem einen Menschen Jesus zur Welt gekommen ist. In der religiösen Selbstdeutung eines Menschen, die sich im Glauben an Gott, den Schöpfer des Lebens und den Erlöser aus dem Tod, ausspricht, gewinnt die Frage des Menschen nach sich selbst insofern eine spezifische Antwort: Sie besagt, übersetzt man sie in eine allgemeinverständliche Sprache, dass er nicht allein das ist, was er selbst aus sich und seinem Leben macht bzw. gemacht hat. Er ist nicht nur die Summe seiner Erfahrungen und Erwartungen, seiner Leistungen und seines Versagens, sondern ein Individuum, das einen absoluten Wert in sich selbst trägt, wie es auch immer um die Bedingungen und Verhältnisse seines fragmentarischen Daseins und seines fehlbaren Handelns stehen mag. Diese Sätze des Glaubens formulieren kein Wissen, sondern verlangen den persönlichen Glauben, der den absoluten Sinn, der in Gott individuell konkret wird, für wahr hält. Im Bewusstsein dieser Unterscheidung kann es als vernünftig einleuchten, auf die Grenzen des Wissens zu achten, aber aus ganz lebenspraktischen Gründen auch dem Glauben Raum zu lassen.

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Fallstricke evolutionärer (Selbst-) Bewusstseinsmodelle Andreas Heinz/Fatima Napo Einleitung Evolutionäre Modelle des (Selbst-)Bewusstseins und seiner Störungen standen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, lange Zeit im Zentrum psychiatrischer Krankheitstheorien. Sie verwiesen auf zeitgenössische ethnologische und anthropologische Erklärungsmodelle, deren Wandel auch die Grundannahmen zur psychischen Gesundheit und Krankheit substantiell beeinflusste. Aber gibt es überhaupt sinnvolle Definitionen „psychischer“ Erkrankungen oder sind Krankheitsdefinitionen nur im Bereich einer reduktionistisch-organischen Medizin sinnvoll? Eine Definition des Begriffs psychischer Krankheit und Gesundheit muss auf den Kontext Bezug nehmen, in dem dieser Begriff verwendet wird. Ähnlich wie bei der Frage nach der „Existenz“ geht es also um den semantischen Zusammenhang, in dem diese Definition gefordert wird. Beispielsweise erscheint es durchaus sinnvoll, im Rahmen der Frage der Finanzierung von Psychotherapie einen Krankheitsbegriff einzuführen, der die Verpflichtung zur Hilfe durch die Solidargemeinschaft auf schwere oder „unverschuldete“ Fälle seelischer Krankheit beschränkt, da alltägliches seelisches Leiden so ubiquitär ist, dass eine umfassende psychotherapeutische Diagnostik und Versorgung nicht angemessen erscheint. Tugendhat stellte demgegenüber die Frage nach dem Begriff psychischer Krankheit und Gesundheit im Rahmen seiner ethischen Untersuchungen. In der Arbeit „Antike und moderne Ethik“ (1984) suchte er nach dem Ideal des ausgewogenen „guten Lebens“ gegenüber einem abzulehnenden Diktat des „richtigen Menschseins“. Der gesuchte Begriff des guten Lebens sollte dazu dienen, so genannte „falsche Bedürfnisse“ im Sinne Marcuses abzugrenzen. Gesundheit wurde von Tugendhat als „objektives Kriterium des Wohls“ verstanden, und er stellte die Hypothese auf, dass es irrational wäre, „nicht gesund sein zu

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wollen“, und zwar „in derselben Weise irrational, wie wenn man grundlos Schmerzen leiden wollte“. Die Suche nach dem guten Leben zieht also auch hier die Frage nach den Kriterien psychischer Krankheit nach sich. Diese Frage stellt sich im philosophischen Kontext allerdings auch im Rahmen der Erkenntnistheorie. So postulierte Popper (1984), dass jeder am wissenschaftlichen Diskurs über die Gültigkeit der Basissätze teilnimmt, „sofern er nur Vernunft hat“. Allerdings lässt sich zeigen, dass jede Definition des Wahns auf einen Wirklichkeitsbegriff verweist, der in der Regel demjenigen der „Naturwissenschaften“ entsprechen soll (Heinz 2002). Die Wissenschaft benötigt also ein Kriterium zum Ausschluss der Unvernünftigen, während umgekehrt die Definition derjenigen Menschen, die ihrer Vernunft verlustig gegangen sind, auf die Naturwissenschaften zurückweist. Damit stellt sich die Frage, ob aus dem Erkenntnisstand der Naturwissenschaften ein Kriterium psychischer Gesundheit abgeleitet werden kann. In der Tat ist das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts von dem Versuch geprägt, auf der Grundlage einer evolutionären Vorstellung vom Menschen und seiner Gehirnentwicklung ein universell gültiges Bild vom gesunden wie kranken (Selbst-)Bewusstsein zu konstruieren.

Die Entwicklung evolutionärer Bewusstseinsmodelle Gegenüber dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Bild der Degeneration, das noch davon ausging, dass der Mensch von Gott perfekt geschaffen sei und im Laufe seiner historischen Entwicklung von diesem göttlichen Ideal abweiche (Heinz 2002), dominiert zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein evolutionäres Menschenbild die anthropologischen wie neurowissenschaftlichen Konstruktionen des Menschen (Tylor 1903; Jackson 1927). Auch hier gibt es ein hierarchisch konzipiertes, unilineares Entwicklungsmodell, nur die Entwicklungsrichtung wurde umgekehrt: Demnach hat sich der Mensch, ebenso wie sein Gehirn, im Laufe der Evolution sukzessive höher entwickelt. Es wurde postuliert, dass die individuelle Entwicklung (Ontogenese) eine kurze Wiederholung der stammesgeschichtlichen Entwicklung (Phylogenese) sei (Abb. 1). Der Degenerationsgedanke wurde damit aber keineswegs abgelegt, er feierte seine Wiederkehr im Gewande der Pathologie: So postulierte 1884 der Neurologe und Psychiater Jackson (1927), dass die evolutionär

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Abb. 1: Evolutionäres Modell der Hirnentwicklung

Abb. 2: Modell psychischer Krankheit als evolutionärer Abbau/Degeneration

jüngsten und komplexesten Hirnzentren jeweils als erstes ausfielen und einen degenerativen Prozess auslösten, den Jackson als „Dissolution“ im Sinne einer Umkehr der Evolution bezeichnete. Demnach könne der Ausfall der höchsten Hirnzentren als Funktionsverlust bzw. „Negativsymptomatik“ bezeichnet werden. Da Jackson das Gehirn als eine kasernenhofartige Struktur verstand, bei der ältere bzw. evolutionär primitivere Hirnzentren die höheren Zentren informieren und diese im Gegenzug die älteren hemmen, ging er davon aus, dass der Ausfall eines höheren Hirnzentrums jeweils zur Enthemmung primitiver Zentren führe, die sich dann als inadäquate Manifestation primitiver Verhaltensweisen oder Schablonen zeige und die er als „Positivsymptomatik“ bezeichnete. Je nachdem, wie schwer die Erkrankung bzw. wie tief der evolutionäre Abbau, also die „Dissolution“ voranschreite, desto primitiver werden nach diesem Modell die zu Tage tretenden Symptome bzw. Zeichen der psychischen Erkrankung (Abb. 2). Freud nahm dieses Modell 1911 in seinen Überlegungen zur Pathogenese psychotischer Symptomatik auf. Er war aber zu klug, die von

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ihm konstruierten, in der Ontogenese als Rekapitulation der Phylogenese zu erringenden psychotischen Funktionsniveaus mit lokalisierbaren Hirnzentren zu verbinden. Aber auch im Freudschen Entwicklungsmodell der Libido findet sich eine stufenweise Entwicklung des Autoerotismus über die orale und anale zur prägenitalen Phase, und eine frühe Traumatisierung oder eine entsprechende Krankheitsdisposition kann zur pathologischen Fixierung der Libido auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe führen. Kommt es dann zu psychosozialen Konflikten, kann die Libido auf das Entwicklungsstadium der pathologischen Fixierung zurückkehren, was sich im Rahmen der neurotischen Kompromissbildung dann jeweils als Hysterie (auf der prägenitalen Stufe), als Zwangsstörung (auf der analen Stufe), als Depression (auf der oralen Stufe), oder eben als Psychose im Sinne einer Rückkehr auf die autoerotische Entwicklungsstufe der Libido zeigen soll (Freud 1977a). Jacksons Negativsymptomatik entspricht in Freuds Modell der Verlust des rationalen Denkens im Sinne des Sekundärprozesses, während die Umkehr der Evolution als „Regression“ auf das Stadium eines primärprozesshaften Wunschdenkens erfolgen soll und zur Positivsymptomatik führt, d. h. zur Manifestation eines vermeintlich primitiven „Wunschdenkens“, das dem magischen Denken der Naturvölker ähneln soll. Freuds Hypothese beruht also ebenfalls auf der Annahme, dass die stammesgeschichtliche Entwicklung sich ontogenetisch nachvollziehen lasse und dass die psychischen Funktionsniveaus des Kleinkindes stammesgeschichtlich frühen Entwicklungsstufen entsprächen, so dass zum Beispiel die individuelle frühe Entwicklungsstufe des „primärprozesshaften“ Wunschdenkens mit unzureichender Unterscheidung des Ichs von der Umwelt und mit Überschätzung der eigenen Gedanken dem magischen Denken vermeintlich primitiver Völker entspräche (Freud 1977b). Wissenschaftsgeschichtlich interessant erscheint hier der Bezug auf zeitgenössische soziale Herrschaftsverhältnisse. So dienten nicht nur die Kolonialvölker mangels realer Anschaulichkeit der Urvölker kurzerhand als deren gleichwertiger Ersatz, bereits Jacksons evolutionäres Entwicklungsmodell konstruiert sich historisch als Projektion sozialer Herrschaftsverhältnisse auf das Gehirn. So illustrierte Jackson (1927) sein Beispiel des Abbaus höherer Hirnzentren mit der Parabel vom Ausfall der Regierung. Demnach würde ein Volk beim Ausfall seiner fähigsten Männer, d. h. der Regierung, einerseits unter dem Verlust ihrer Kontrollfunktion leiden (was der Negativsymptomatik entspräche), andererseits würde sich die „Anarchie“ des nun enthemmten und ver-

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meintlich primitiven Volkes als evolutionär primitive „Positivsymptomatik“ zeigen. Solche hierarchischen Hirnmodelle stehen auch Pate bei der Geburt des Begriffes der Schizophrenie. Angeregt von Freud ging beispielsweise Bleuler (1911) davon aus, dass das rationale Denken als Manifestation höchster Hirnzentren in der Psychose ausfalle und dass es zu einer Rückkehr auf ein primär prozesshaftes Wunschdenken komme, welches Freud dem Stadium des Autoerotismus zugeordnet hatte. Bleuler missfiel allerdings der Aspekt der Erotik in Freuds Begriffsbildung, so dass er den „Autoerotismus“ kurzerhand um die missliebige Vokabel kürzte und den Kunstbegriff des „Autismus“ schuf (Heinz 2002). Auch moderne neurowissenschaftliche Theorien beziehen sich wohl auf diese Traditionslinie. So übersetzte beispielsweise der derzeit einflussreichste Schizophrenieforscher Weinberger (1987) Freuds Hypothesen zurück in ein neurobiologisches Verständnis des Gehirns, bei dem einerseits frühe Interaktionsstörungen im Verlauf der Ontogenese durch eine frühe Migrationsstörung von Nervenzellen im Bereich des temporalen Kortex ersetzt wurden und andererseits die Störung evolutionär höchster Zentren im Sinne Jacksons wieder eindeutig im Gehirn verortet wurden, nämlich im Sinne eines Ausfalls der Exekutivbzw. Kontrollfunktionen des Frontalhirns. Die sich hierbei ergebende Enthemmung „primitiver“ evolutionärer Zentren wird von Weinberger als Enthemmung der subkortikalen Dopamin-Freisetzung konzeptualisiert (Heinz 2000). Anzumerken ist, dass bei diesen modernen Modellen psychischer Krankheit der psychosoziale Kontext und die Projektion von Herrschaftsverhältnissen auf das Gehirn nicht mehr explizit mitgedacht werden. Ihrem Kontext entkleidet werden die hierarchischen bzw. „Top-Down“-Hirnmodelle im Sinne von Funktionsweisen verstanden, die eine neurobiologisch erfolgversprechende Forschungsrichtung vorgeben, welche sich ihrer sozialen Ursprünge und Implikationen in der Regel nicht bewusst ist. So wird bis heute die Negativsymptomatik im Sinne der Apathie, der kognitiven Störungen und des sozialen Rückzugs wesentlich im frontalen Kortex verortet, während die Positivsymptomatik im Sinne der Wahnbildung und des Stimmenhörens mit der dopaminergen Enthemmung im Bereich der älteren Hirnzentren, beispielsweise des Striatums, zusammenhängen soll. Nicht mitgedacht werden bei solchen Modellen „Bottom-Up“-Regulationsprozesse oder Interaktionen in komplexen Netzwerken, bei denen beispielsweise ein vermeintlich „primitives“ Hirnzentrum als erstes ausfallen könnte und ein komplexes

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kortikales Hirnzentrum enthemmen würde, welches dann im Rahmen seiner dysfunktionalen Aktivität zur Manifestation der Positivsymptomatik beitragen könnte (Heinz 2002). Dass es tatsächlich solche Fehlfunktion höherer kortikaler Zentren geben könnte, zeigen aktuelle Studien zur Manifestation von akustischen Halluzinationen, nach denen die Halluzinationen durch eine Enthemmung primärer akustischer und damit komplexer kortikaler Hörzentren entstehen sollen (Dierks et al. 1999). Es ist heute also zumindest denkbar, dass die „evolutionär höheren Zentren“ irren können und dass Pathologien nicht immer als Fehler des „evolutionär Primitiven“ zu verstehen sind.

(Post-)moderne Kritik an den großen evolutionären Erzählungen Angesichts der traditionell evolutionären Theorien des menschlichen Bewusstseins stellt sich die Frage nach deren Gültigkeit einerseits auf neurobiologischer und andererseits auf anthropologisch-ethnologischer Ebene. Aus der Auseinandersetzung mit der Struktur traditionell evolutionärer Theorien psychischer Erkrankungen ergeben sich zudem Fragen nach alternativen Modellen. Denn selbst wenn das bisher referierte evolutionäre Hirnmodell heute als überholt angesehen werden könnte, ist einerseits nach der Integration evolutionärer Erkenntnisse in die modernen Neurowissenschaften und andererseits nach der Brauchbarkeit aktueller neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu fragen, beispielsweise in Bezug auf das Verständnis des Selbstbewusstseins und seiner Störungen im Rahmen schizophrener Psychosen. Das klassische evolutionäre, neurowissenschaftlich wie psychoanalytisch konstruierte Paradigma von der evolutionären Entwicklung bzw. Rückentwicklung im Rahmen psychischer Störungen gewann seine Suggestivkraft einerseits aus der Projektion sozialer Hierarchien auf das Gehirn, andererseits bot es die Möglichkeit, den alten Degenerationsbegriff im Sinne des krankhaften Abbaus, der Regression, Dissolution oder Degeneration, in das evolutionäre Hirnmodell zu integrieren. Darum hatte dieses Modell zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus breiten Erklärungswert. Auch neurobiologisch gibt es Funktionsbereiche im Zentralnervensystem, die mit diesem Modell knapp und zutreffend beschrieben werden können: So kommt es beispielsweise beim Schlaganfall durch Ausfall des ersten Motoneurons, das vom Kortex zum

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Rückenmark zieht, zu einer Enthemmung primitiver spinaler Reflexe. Der Ausfall des ersten Motoneurons und die damit verbundene Lähmung können als Negativsymptomatik verstanden werden, die Enthemmung spinaler Reflexe und die Manifestation von pathologischen Zeichen wie dem Babinski-Reflex als Positivsymptomatik. Auch im Bereich der schizophrenen Psychosen kann davon ausgegangen werden, dass eine komplexe Funktionsstörung des Zusammenspiels zwischen temporo-limbischen Hirnregionen (die mit Hippocampus und der Amygdala Zentren zur Gedächtnisbildung und emotionalen Verarbeitung beinhalten) und des frontalen Kortex (der die Handlungskontrolle im Sinne der Exekutivfunktionen unterstützt) zu Funktionsausfällen und damit zur Negativsymptomatik (z. B. im Sinne kognitiver Störungen) beiträgt. Zudem kann die Kontrolle dieser kortikalen Zentren über nachgeschaltete, subkortikale Hirnregionen beeinträchtigt werden. Denn wenn ein solcherart gestörtes Zusammenspiel der kortikalen Zentren entwicklungsgeschichtlich früh genug auftritt, kommt es in einigen Tiermodellen tatsächlich zu einer subkortikalen Enthemmung der dopaminergen Neurotransmission, die zur Positivsymptomatik beitragen kann (Heinz 2000). Abzulehnen ist allerdings der immer wieder versuchte Vergleich psychotischer Wahnbildung oder psychotischer Symptomatik überhaupt mit vermeintlich primitiven Formen des Denkens. Der Philosoph und Anthropologe Lévy-Brühl (1985) konstruierte beispielsweise ein „prälogisches Denken“, was er zwar nicht im eigentlichen Sinne als evolutionären Vorläufer des modernen logischen Denkens verstand, dessen Beschreibung jedoch – unterstützt durch Metaphern technischen Fortschritts – immer wieder den Eindruck erweckt, dass es sich hier um einen Vorläufer moderner Denkformen handele. Wesentlich drastischer formulierte Bleuler (1911) diese Gleichsetzung bei der Konstruktion seines Autismus-Begriffs. So behauptete er, dass sich der Autismus auch beim „Neger“ finde, der in Bleulers ansonsten bemerkenswert differenziertem Buch nur im Singular auftaucht und durch eine einzige Geschichte charakterisiert wird, die offenbar einem kolonialem Kontext entstammt und in der „er“ einer Bestrafung zu entgehen sucht, indem er eine Tat ableugnet, die laut Bleuler außerhalb jeden Zweifels steht. Gegen solche Konstruktionen eines vermeintlich primitiven, primär prozesshaften Wunschdenkens bei „Naturvölkern“ haben Ethnologen und Anthropologen seit Beginn der Feldforschung begründeten Einspruch erhoben. So beobachtete Malinowski (1987), dass zweckratio-

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Abb. 3: Strukturelles Modell „wilden“ Denkens von Lévi-Strauss

nales Handeln bei sogenannten primitiven Völkern durchaus getrennt von magischen Ritualen auftritt, dass sich die magischen Rituale auf unkontrollierbare Situationen beziehen und dass sie mit zweckdienlichen psychischen Wirkungen verbunden seien. In dieser funktionalistischen Konstruktion erfüllt die Magie also eine durchaus nachvollziehbare und sinnhafte Aufgabe. Einen Schritt weiter ging Evans-Pritchard (1976), der die Magie bei den Azande als rationales und auch für einen Europäer verständliches System bezeichnete, in dass er sich sogar einfühlen und an dem er in dem gegebenen sozialen Kontext partizipieren konnte. Evans-Pritchard (1965) stellte damit explizit die von Lévy-Brühl behauptete, grundsätzliche Andersartigkeit des prälogischen Denkens in Frage und zeigte die Nähe des vermeintlich Fremden zu den eigenen alltäglichen Konstruktionen, mit denen auch Europäer sich Schicksalsschläge zu erklären suchen. Ein weiteren entscheidenden Schritt ging Lévi-Strauss (1968), der das vermeintlich „wilde“ Denken als Versuch einer Klassifikation der Eigenschaften der Welt im Rahmen von binären Gegensätzen verstand. Orientiert an damals zeitgenössischen linguistischen Theorien zur notwendigen Differenz von Lautbildungen in jeder Sprache ging Lévi-Strauss davon aus, dass sich die Elemente jedes Weltbildes (beispielsweise „Männer versus Frauen“, Jahreszeiten wie „Sommer versus Winter“, soziale Einheiten wie

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„Clans, die am Wasser leben versus Clans im Landesinneren“ oder eben auch Totemtiere mit Bezug zum Wasser versus solche mit Bezug zum Land, siehe Abb. 3) grundsätzlich voneinander durch einen leicht beobachtbaren Unterschied, eben ihre Differenz, auszeichnen. Diese Differenzen werden nun miteinander verglichen nicht etwa auf Grund einer inhaltlichen Ähnlichkeit zwischen den Elementen, sondern weil der Grad der Differenz zwischen den Begriffen vergleichbar sei. Keineswegs ähneln also die Frauen dem Sommer oder den Clans am Wasser oder gar einem bestimmten Totemtier, wie ältere Theorien zum vermeintlich weltweiten „Totemismus“ immer wieder behauptet haben. Vielmehr sei die grundsätzlich strukturierende Konstruktion das parallele Aneinanderreihen von Gegensatzpaaren, die dann in einer ritualisierten Zuordnung in ein komplexes Begriffsnetz eingebunden werden können. So kann man beispielsweise die Clans, die am Wasser leben, weiter unterteilen und sie mit bestimmten Totemtieren und Riten zu einzelnen Jahreszeiten in Verbindung bringen. Das so entstehende System ist aber laut Lévi-Strauss keineswegs primitiv, sondern ergibt ein komplexes Konstrukt aus binären Gegensätzen, in dem jeder wichtige Gegenstand oder Bereich der Welt seinen Platz findet. In seiner Konstruktion ähnelt es ironischerweise älteren und neueren psychiatrischen Theorien, die vermeintlich primitive und vermeintlich moderne Geisteszustände im Sinne binärer Gegensätze verstehen (Heinz 2002; siehe Abb. 4). Diese modernen Nachfolger des „wilden Denkens“ gehen allerdings in der Regel im Sinne der großen evolutionären Erzählungen von einem notwendigen Fortschritt des Krankhaften zum Gesunden, des Primitiven zum Modernen oder des Kindes zum Erwachsenen aus, während die von Lévi-Strauss beschriebenen Strukturen eher ein zyklisches Zeitverständnis voraussetzen, in dem der Sommer auf den Winter folgt oder die verschiedenen Clans aufeinander angewiesen sind.

Soziale und neuronale Netze – Beliebigkeit statt Pathologie? Die moderne Sicht menschlicher Kulturen, die eine grundsätzliche Vergleichbarkeit ihrer Strukturen und Elemente postuliert und die das komplexe Netz der Interaktionen ihrer konstitutiven Begriffe auslotet, ermöglicht auch ein grundsätzlich anderes Verständnis der Elemente neurowissenschaftlicher Gehirnkonstruktionen. Anstelle einer strikten, kasernenhofartigen oder „Top-Down“ regulierten Funktionseinheit

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Abb. 4: Struktur der psychiatrischen Regressions-/Degenerationsmodelle

tritt so das Verständnis eines komplexen Netzwerkes psychischer Funktionen bzw. der sie wahrscheinlich tragenden Hirnzentren oder neuronalen Netze. Angesichts der damit zu postulierenden Komplexität geht allerdings ein einfaches Kriterium psychischer Krankheit verloren, das der „Primitivierung“. Wenn aber das Gehirn als komplexes Zusammenspiel verschiedener Hirnzentren verstanden werden kann, an welchem Punkt lässt sich eine „Krankheit“ bzw. ein krankhafter Funktionsverlust postulieren? Aufgrund der Komplexität und Vielfalt der Hirnprozesse, die einzelnen psychischen Funktionen zugrunde liegen (Heinz 2005), lässt sich vermuten, dass es wahrscheinlich sehr schwierig oder gar prinzipiell unmöglich ist, anhand von neuronalen Aktivierungsmustern Fragen der Pathologie bzw. Normalität zu entscheiden. Da Aktivierungsmuster selbst bei Durchführung von standardisierten Aufgaben bei verschiedenen Menschen prinzipiell sehr unterschiedlich sind, lässt sich hier offenbar keine einfache Norm definieren. Damit ist man zurückverwiesen auf einen Begriff psychischer Krankheit und Gesundheit, der sich an generellen Krankheits- oder Gesundheitskriterien in der Medizin orientiert. Im Folgenden sollen zwei zeitgenössische Wege dargestellt werden, einen Begriff psychischer Krankheit und Gesundheit zu definieren, der auf Störungen einfacher Funktionen des Bewusstseins bzw. Selbstbewusstseins Bezug nimmt.

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Psychische Krankheit als Leiden ohne aufrechterhaltende äußere Ursache Ein solcher Weg wurde von Culver und Gert 1982 beschritten. Sie definierten Krankheit als „Malady“ im Sinne eines für jeden Menschen feststellbaren Leidens oder Übels, das ohne aufrechterhaltende äußere Ursache auftritt. Vereinfacht gesagt wäre also ein Mensch, der unter der Folter leidet, ein gequältes Individuum, während ein Leiden, das nach Beendigung der Folter anhält, beispielsweise als posttraumatische Belastungsstörung im Sinne einer psychischen Krankheit diagnostiziert und behandelt werden kann und dann die Unterstützung durch die Solidargemeinschaft der Versicherten erfordert. Neben dem Kriterium des Übels postulierten Culver und Gert, dass Krankheit auch dann gegeben sei, wenn ein Mensch nicht leide, aber wenn ein erhöhtes Risiko bestehe, dass er stirbt, beispielsweise wenn man bereits einen Lungenkrebs aufweist, dieser aber noch keine Beschwerden verursacht. Eine Behinderung wesentlicher Funktionen ist laut Culver und Gert ein weiteres Krankheitskriterium, zu denen auch noch der Verlust von Freiheit oder Lebensmöglichkeiten und der Verlust von Lebensfreude zählen. Culver und Gerts Definition besticht durch den plausiblen, aber inhaltlich schwer zu fassenden Verweis auf das subjektive Leiden bzw. die Beeinträchtigung durch eine Krankheit. Er vermeidet weitgehend die schwierige Definition „normaler“ Funktionen und die Frage, ob eine solche Funktionseinschränkung immer pathologisch zu werten sei. Beispielsweise ist die Möglichkeit, die Zunge zu rollen, eine vollständig genetisch determinierte Funktion, deren Verlust aber keinesfalls krankhaft ist, da er eben nicht mit Leiden verbunden ist (und überhaupt ohne funktionelle Bedeutung zu sein scheint). Schramme (2000) hat allerdings kritisiert, dass dieser plausibel erscheinende Krankheitsbegriff auf einer Vermischung von normativen, lebensweltlich wertenden Begriffen mit einem wissenschaftlichen Krankheitsbegriff beruhe. Tatsächlich lässt sich die Frage, was denn nun ein für alle Menschen gleichermaßen gültiges und damit zu vermeidendes Übel sei, wahrscheinlich nur zirkulär beantworten. Denn beispielsweise ein manischer Patient, der seine Schlaflosigkeit, seine Hochstimmung und sein Allmachtsgefühl als sehr angenehm erlebt, würde sicherlich widersprechen, dass die Manie ein Übel sei und somit das Postulat in Frage stellen, dass man Übel bzw. Leiden als ein für alle Menschen gültiges Krankheitskriterium definieren könne. Auch das Kriterium der „Behinderung

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wesentlicher Funktionen“ setzt implizit eine Norm voraus, die diese wesentlichen Funktionen beschreibt. Damit stellt sich die Frage nach alternativen Krankheitsbegriffen, die keiner Übereinkunft bezüglich allgemein für „den Menschen“ abträglicher Seins-Zustände bedarf.

Psychische Krankheit als wesentliche Funktionsstörung eines Organs: die Pathologien der Norm Ein solches alternatives Modell wurde von Boorse (1976; 1997) vorgelegt. Demnach ist Krankheit und damit auch psychische Krankheit als wesentliche Funktionsstörung eines Organs zu beschreiben, die das Überleben des Individuums oder dessen Reproduktionsfähigkeit beeinträchtigt. Die Funktionsstörung versteht Boorse als Abweichung von der statistischen Norm. Analog zur Diagnose einer Lebererkrankung, die sich an einer quantitativen Erhöhung der Leberenzyme gegenüber dem Normwert messen lässt, müsste sich also der Begriff psychischer Krankheit durch die Definition wesentlicher psychischer Funktionsstörungen definieren lassen, die in einem entsprechenden Ausmaß von dem statistischen Durchschnitt normaler Funktionsfähigkeit abweichen. An dieser Konzeption wurde aus verschiedenen Gründen Kritik geübt. Zum einen wurde in Frage gestellt, dass es eine Übereinkunft über die wesentlichen psychischen Funktionen gebe, geschweige denn, dass sich dafür Normwerte aufstellen lassen. Zudem definiert sich laut Boorse eine wesentliche Funktion nicht nur durch ihre Bedeutung für das Überleben des Individuums, sondern auch für dessen Reproduktionsfähigkeit. Problematisch erscheint hier, dass die heterosexuelle Reproduktionsfähigkeit unter der Hand zum Kriterium psychischer Gesundheit gemacht wird. Denn Vorlieben im Bereich der sexuellen Objektwahl wie bei der Homosexualität können ja die Reproduktionsfähigkeit beeinträchtigen und müssten dann pathologisiert werden, was wahrscheinlich nicht im Interesse von Boorse lag und keinesfalls modernen psychiatrischen Klassifikationskriterien entspräche (Heinz 2005). Wenn man die Reproduktionsfähigkeit aus dem Kriteriumskatalog der psychischen Gesundheit streicht, bleibt das Überleben des Individuums, das erst dann gefährdet ist, wenn eine wesentliche Funktionsstörung eines Organs, inklusive des Gehirns, vorliegt.

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Minimale anthropologische Grundannahmen zur Definition universeller psychischer Funktionen? Was also wären wesentliche psychische Funktionen und wie könnte deren Normalität beurteilt werden? Die Annahme, dass ein Katalog von psychischen Funktionen erstellt werden kann, der für alle Menschen verbindlich ist, ist verschiedentlich kritisiert worden (Heinz 1994; 2005). Verlässt man jedoch für einen Augenblick die Frage der theoretischen Konstruktion und schaut sich die psychiatrische Praxis an, zeigt sich, dass tatsächlich die Diagnose psychischer Krankheiten implizit oder explizit einen solchen Definitionsversuch wesentlicher Funktionen beinhaltet. Schramme (2000) hatte vorgeschlagen, wesentliche psychische Funktionen auf der Grundlage eines psychoanalytischen-psychodynamischen Verständnisses des Menschen zu definieren. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Psychoanalyse derzeit ein nicht unbeträchtliches Defizit an empirischer Evidenz aufweist und die hier anzuführenden Funktionen äußerst komplex und damit kaum operationalisierbar geschweige denn konsensfähig beurteilbar sind. Der psychiatrische Alltag bezieht sich jedoch nach wie vor auf ein dreigliedriges Diagnoseschema, dem ein relativ einfacher und operationalisierbarer psychopathologischer Befund zugrunde liegt (Huber 1976). Demnach wurden hirnorganische Psychosyndrome im Sinne exogener Psychosen von den endogenen Psychosen und von den Variationen psychischer Befindlichkeit unterschieden. Zu ersteren gehören die akut verlaufenden Delirien und die chronisch verlaufenden Demenzen, zu den endogenen Psychosen die Schizophrenien und die affektiven Psychosen, während alle anderen psychischen Auffälligkeiten als „Variationen“ menschlichen Seins verstanden wurden, worunter einerseits die „schon immer bestehenden“ Persönlichkeitsstörungen im Sinne des Charakters zu verstehen sind und zum zweiten die Neurosen, die in psychoanalytischer Sicht auf frühe Traumatisierungen und Entwicklungsstörungen zurückgeführt werden können, welche zu einem späteren Zeitpunkt konflikthaft-reaktiv zur Manifestation von psychopathologischen Symptomen führen. Sicheren Krankheitswert haben in diesem Schema die endogenen und exogenen Psychosen, die ohne kontextuell verständlichen Zusammenhang über den Menschen hereinbrechen können und einen weitgehend prozesshaften und von erlebnis-reaktiven Faktoren zumindest teilweise unabhängigen Verlauf nehmen. Die mit den Psychosen verbundene Schwere der Beein-

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trächtigung und die Veränderung der Primärpersönlichkeit hatten auch im Bereich der endogenen Psychosen lange schon die Annahme nahe gelegt, dass sich hier hirnorganische Korrelate des Krankheitsprozesses finden lassen, die erklären, warum die Krankheit quasi „von außen“ in den Sinnzusammenhang des Lebens des Patienten einbricht ( Jaspers 1920). Der Diagnostik dieser Krankheitsbilder liegt nun im Bereich der Psychopathologie eine Definition wesentlicher psychischer Funktionen zugrunde, die offenbar universell operationalisierbar sind und mit wenigen Modifikationen Einzug in die internationalen Klassifikationssysteme des ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bzw. des eng verwandten DSM-IV der amerikanischen Psychiatrievereinigung (APA) gefunden haben. Betrachtet man ein (vereinfachtes) psychopathologisches Befundschema, so werden hier tatsächlich relativ einfach zu beschreibende psychische Funktionen wie die Orientierung, Wachheit, das Kurzzeitgedächtnis etc. untersucht (AMDP 1981). Die grundlegende Idee ist, dass akute Delirien zu den schwersten Erkrankungen zählen, damit die „tiefste Schicht“ psychischer Störungen ausmachen, und dass das Auftreten eines Delirs die Diagnostik einer weniger schweren Krankheit oder Funktionsstörung unmöglich macht. Es wäre also nicht sinnvoll, bei einem akut deliranten Patienten zusätzlich eine Angststörung oder gar eine histrionische Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren. Die hypothetisch tiefere oder tiefgreifendere Störung, in diesem Fall das Delir, kann alle anderen Krankheitssymptome beinhalten. Ein Delir wird nun ausgeschlossen durch Prüfung der Wachheit (Vigilanz), der Orientierung im Bezug auf Person, Ort und Zeit sowie der Auffassung des gesprochenen Wortes, für die beispielsweise ein Sprichworttest oder ähnliches verwandt werden kann, wenn eine Aphasie im Sinne einer Sprachstörung ausgeschlossen ist und der Patient aus demselben Kulturkreis kommt, aus dem das Sprichwort stammt. Vereinfacht gesprochen kann kein akutes hirnorganisches Psychosyndrom diagnostiziert werden, wenn die eben genannten Funktionen unauffällig sind. Im zweiten Schritt wird dann eine Demenz im Sinne eines chronischen hirnorganischen Psychosyndroms ausgeschlossen, wozu die Konzentration, beispielsweise durch fortlaufende Subtraktion einer Zahl (z. B. 100 – 7) geprüft wird. Weiterhin wird die Merkfähigkeit geprüft (drei Begriffe über wenige Minuten) und das Gedächtnis im Bezug auf Zeitgitter und Langzeitgedächtnis beschrieben (AMDP 1981). Auch hier handelt es sich wieder um Funktionen, die universelle und relative „basale“ psychische Fähigkeiten erfassen und

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deren Prüfung auch über Kulturgrenzen hinweg als weitgehend unproblematisch erscheint.

Störungen des Ich- bzw. Selbst-Bewusstseins: universelle oder kulturell spezifische Erfahrungen? Während also Störungen der Vigilanz bzw. Bewusstseinsklarheit, der örtlichen und zeitlichen Orientierung und der Gedächtnisleistung offenbar kulturübergreifend relativ einfach untersucht werden können, gestaltet sich der Ausschluss einer schizophrenen Psychose schwieriger. In Anlehnung an Bleuler (1911) muss hier die Frage der kohärenten oder inkohärenten Denkabläufe geprüft werden. Schon Kurt Schneider (1942) hat bemerkt, dass diese Beurteilung fremden menschlichen Seins höchst störanfällig und unzuverlässig ist. Er verwies deswegen zur Diagnose schizophrener Psychosen im Wesentlichen auf Symptome, die vom Patienten selbst berichtet werden und die auch ein unbegabter Psychiater kaum verzerren kann, wenn er seinen Patienten nur hinreichend zuhört. Deswegen zählen zu den Schneiderschen „Erstrangsymptomen“ schizophrener Psychosen einerseits Störungen der IchFunktionen im Sinne der Gedankeneingebung, der Gedankenausbreitung oder des Gedankenentzugs, die vom Patienten als subjektiv wirkliches Erleben geschildert werden. Weiterhin zählen dazu bestimmte akustische Halluzinationen wie Stimmen in Rede und Gegenrede oder kommentierende Stimmen, welche die Handlungen des schizophrenen Patienten mit ihren Anmerkungen begleiten. Letztlich zählt hierzu auch die Wahnwahrnehmung, bei der einer auch für den Untersucher nachprüfbaren Wahrnehmung eine offenbar abstruse, wahnhafte Bedeutung zugeschrieben wird. Die Frage, ob sich diese Symptomatik tatsächlich transkulturell valide und reliabel diagnostizieren lassen, ist derzeit offen. Einerseits hat die WHO postuliert, dass man mit diesen Kriterien in verschiedensten Ländern und auch im ländlichen Nigeria und Indien Schizophrenien mit einer Frequenz von etwa 1 % feststellen kann (Sartorius et al. 1987). Diese Ergebnisse wurden durch die Multicenterstudie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestützt, für die man in 9 verschiedenen Zentren der Welt (Nord- und Südamerika, Asien, Afrika, Europa) über 1200 Patienten mit standardisierten Verfahrensweisen (Interview, Dokumentation, Computerdiagnostik) untersuchte. Es ergaben sich keine

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erheblichen Unterschiede in der Kernsymptomatik inklusive dem Auftreten von „Ich-Störungen“ im Sinne Kurt Schneiders (1942), die sich in allen Zentren nachweisen ließ. Die Untersuchung zeigte aber Unterschiede bezüglich des Verlaufs: Schizophrene Patienten in ländlichen Regionen Nigerias und Indiens zeigten seltener einen chronischen Verlauf als Patienten aus anderen Zentren. Andererseits erscheinen gerade Kriterien wie die Ich-Störungen als kulturell beeinflussbar. So hat beispielsweise Erich Wulff (1995) angemerkt, das Ich-Störungen bei Vietnamesen nur selten auftreten, da bereits in der linguistischen Struktur der vietnamesischen Sprache das Wort „Ich“ kaum Verwendung findet. Typischerweise verortet sich ein Sprecher hier mit Bezug auf seine soziale Stellung (z. B. Mutter von X). Auch ein afrikanisches Konzept der Person, das Ubuntu-Prinzip, formuliert das Verständnis der Person im Rahmen sozialer Interaktion: „Umuntu Ngumuntu Ngabantu“ bedeutet „Eine Person ist eine Person erst durch andere Personen“ im Sinne der sozialen Bezüge (Okpara und Lee 1995). Whorf (1963) hat darauf hingewiesen, dass in indianischen Sprachen an Stelle des Gebrauchs aktiver Verben häufig der Gebrauch passiver Formen tritt. So würde eine Person kaum von sich selbst sagen, dass sie ärgerlich oder wütend sei, sondern feststellen, dass etwas sie ärgerlich mache.1 Es ist also möglich, dass andere Kulturen weitaus weniger Gewicht auf ein vitales, abgegrenztes und selbständig handelndes Ich legen, das in der Eigenwahrnehmung präsent sein soll und dessen Störung diagnostiziert werden kann. Auch philosophisch erscheint die Frage nicht widerspruchsfrei geklärt. So postulierte beispielsweise Hume (1739/40), dass er kein „Ich“ außerhalb des Stroms der Wahrnehmung bemerken könne, während Kant (1781) die prinzipielle Zugehörigkeit aller Wahrnehmungen zum Ich postulierte, ohne die man ja gar nicht davon sprechen könne, dass man solche Gedanken habe. Kant ging allerdings davon aus, dass hier keine eigentliche (sinnliche) Wahrnehmung mit dem Zusatz des „ich denke“ zu einem eigenen Gedanken verbunden sei. Wenn dem so ist, wäre aber unklar, warum schizophrene Patienten einerseits von ihren eigenen Gedanken berichten können, andererseits diese aber als „fremd“ oder „von außen eingegeben“ empfinden. Möglicherweise ist 1

Auch in der Ilias findet sich ein – allerdings möglicherweise rein literarisch bedingter – Verweis auf den ständigen Einfluss, den Götter auf Emotionen und Handlungen der Menschen nehmen.

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ein entscheidender Unterschied derjenige der Stimmigkeit dieser Gedanken zum sonstigen semantischen Kontext, in dem diese Gedanken zu einem bestimmten Zeitpunkt auftauchen bzw. zu der Erfahrung ihrer Kontrollierbarkeit durch das denkende Subjekt. Anders als von Hume postuliert könnte ja ein wesentlicher Unterschied zwischen Ideen und Impressionen nicht einfach in der schwächeren Präsenz der Ideen bestehen, sondern darin, dass man Ideen aktiv manipulieren kann, während das für Impressionen nicht gilt. So ist es beispielsweise unmöglich, das konkret gesehene Fenster in der Wahrnehmung auf den Kopf zu stellen, während das bei der Vorstellung des Fensters durchaus möglich ist. Eine Erklärung zum Auftreten von Ich-Störungen wäre also die Annahme, dass Gedanken wie Vorstellungen dann als „icheigen“ empfunden werden, wenn sie einerseits zum sonstigen Kontext des psychischen Erlebens passen und andererseits im Rahmen dieses Kontextes (zumindest in der Selbstwahrnehmung) manipuliert werden können (weil nichts darüber ausgesagt wird, ob diese vermeintliche Kontrolle über die eigenen Gedanken eine tatsächliche oder eine nur eingebildete ist). Ein Verlust dieser selbst erlebten Möglichkeit der Manipulation könnte dann dazu führen, dass ein Gedanke oder ein Eindruck als von außen kommend klassifiziert wird. Eine solche Annahme würde es ermöglichen, den Einbruch psychotischer Ich-Störungen bei nicht mehr kontrollierbaren Erfahrungen verständlich zu machen. Schizophrene Psychosen sind also durch Symptome gekennzeichnet, die einerseits im Sinne der Ich-Aktivität und Abgrenzung mit einer spezifischen europäischen Tradition der Selbst-Attribution von Gedanken und Handlungen verbunden, andererseits aber laut empirischer Untersuchungen wahrscheinlich universell nachzuweisen sind (Sartorius et al. 1986). Allerdings gibt es einzelne ethnologische Studien und psychiatrische Untersuchungen, nach denen Ich-Störungen in verschiedenen Kulturen durchaus mit sehr unterschiedlicher Häufigkeit auftreten (Chandrasena 1987), was den universellen Charakter dieser Störungen wieder in Frage stellt und die Bedeutung kultursensitiver Erhebungsinstrumente betont. Ist keine der relativ einfach beschreibbaren und möglicherweise universell vorhandenen psychischen Funktionen gestört, ist die kulturübergreifende Diagnose also zumindest erschwert.

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Minimale anthropologische Grundannahmen und die Konstruktion des Selbst Anhand des Gesagten lässt sich postulieren, dass exogene Psychosen durch universell beschreibbare Funktionen der Psyche wie Wachheit oder Merkfähigkeit charakterisierbar sind, während die endogenen Psychosen zwar einerseits auf relativ eindeutig beschreibbare psychische Funktionsstörungen zurückgeführt werden können, die aber kulturellen Einflüssen unterliegen, welche die universelle Diagnostik von psychischen Erkrankungen erschweren. Verweisen aber diese psychischen Funktionen auf Funktionen des Selbstbewusstseins, die einerseits neurobiologisch untersuchbar sind und die andererseits ein Modell des gesunden psychischen Seins liefern, das im Sinne der eingangs von Tugendhat postulierten Suche nach der Definition falscher Bedürfnisse hilfreich ist? Leider lässt sich auf diese Frage wahrscheinlich keine eindeutige Antwort geben. Derzeitige Selbstmodelle sind stark von komplexen psychoanalytischen Annahmen beeinflusst, auch wenn in die Frage der Definition einzelner Funktionen die genannten minimalen anthropologischen Grundannahmen eingehen. Bei der Konstruktion eines Selbstmodells muss zwischen dem „Selbst“ als Träger dieses Modells (bzw. dem Roth’schen „Gehirn an sich“) und der „Selbstrepräsentanz“ unterschieden werden. Das Bild, das ich mir von mir mache, ist natürlich nicht mit dem Selbst oder dem Gehirn identisch, das dieses Bild von sich produziert bzw. trägt. Innerhalb des psychischen Geschehens kann in Anlehnung an Freud von verdeckten Kognitionen bzw. unbewussten Trieben, Automatismen, Motivationen oder dem „Es“ gesprochen werden. Bei allem Streit zwischen verschieden psychischen, psychologischen und psychiatrischen Schulen gibt es einen weitgehenden Konsens darüber, dass nur ein Bruchteil der Vorgänge im Gehirn als subjektiv erlebbare Erfahrung dem Selbsterleben zugänglich wird. In der Regel ist die Bewusstwerdung aber möglich. Freud (1977a) hatte postuliert, dass eine Vorstellung nur dann bewusst werden kann, wenn sich ein Wort mit einer Sachvorstellung verbindet und diese noch dazu mit Libido, d. h. mit Interesse oder Sexualenergie besetzt wird. Dabei kann es allerdings eine gesellschaftlich beeinflussbare Verdrängungsschranke geben, nach der bestimmte sozial missliebige Vorstellungen nicht repräsentiert werden können. Der Ort der Repräsentation, d. h. der bewussten Selbstwahrnehmung wäre demnach das Ich, welches, wie oben ausgeführt,

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wahrscheinlich phänomenologisch einer gewissen, subjektiv erlebten Kontrolle über das Auftreten von Gedankeninhalten bedarf, um diese als „ich-eigen“ kennzeichnen zu können. Das „Ich“ wiederum kann neben Wort- und Sachvorstellungen äußerer Objekte oder Abläufe auch auf die Selbstrepräsentanz Bezug nehmen, was dann einem reflektiven Selbstbezug entspräche. Ein präreflektiver Selbstbezug, wie er beispielsweise von Manfred Frank (1991) im Sinne Henrichs konstruiert wird, liegt dagegen möglicherweise jeglichem Bezug auf ein eigenes Ich zugrunde und könnte – wie oben postuliert – mit dem subjektiven Gefühl der Kontrolle über die Bewusstseinsinhalte verbunden sein. Evolutionäre Fragestellungen könnten hier anknüpfen und Selbstbezüge bei unterschiedlichen Organisationsmustern verschiedener Säugetierarten untersuchen. Ein solches phänomenologisches Modell psychischen Selbsterlebens ist jedoch nicht einfach mit dem Gehirn in Verbindung zu bringen. Es ist wahrscheinlich ein Irrweg, das „Ich“, „Es“ und „Über-Ich“ oder andere Selbstrepräsentanzen als komplexe Konstrukte einzelnen Hirnzentren zuzuordnen. Das Gehirn ist ein integratives und interagierendes Organ, welches wohl kaum komplexe Funktionen und Repräsentanzen in einzelnen neuronalen Modulen abspeichert. Eher wäre anzunehmen, dass psychisch erlebbare Funktionen aus der Interaktion verschiedenster Hirnareale und ihrer jeweiligen Leistungen hervorgehen. Eine moderne Theorie des Selbstbewusstseins und seiner neurobiologischen Korrelation sollte auf einfache psychische Funktionen Bezug nehmen, die (wie beispielsweise die genannten minimalen anthropologischen Grundannahmen) definierbar und operationalisierbar und damit einer testpsychologischen Untersuchung zugänglich sind, welche sie wiederum mit neuronalen Korrelation in Verbindung bringen kann. Die Beobachtung von Korrelation ist hier in vieler Weise hilfreich, beispielsweise kann sie pharmakologische Interventionsmöglichkeiten anzeigen, psychotherapeutische Interventionen anhand möglicher organischer Korrelate beschreiben und zu einem vertieften Verständnis des Organs Gehirn beitragen. Wie bei allen korrelativen Untersuchungen ist eine Verkürzung der einen Seite des Zusammenhangs auf der anderen jedoch nicht hilfreich. Immerhin würde dieser Ansatz eine Möglichkeit bieten, im Sinne Poppers (1984) die Teilhabe an der „Vernunft“ nicht zirkulär zu begründen sondern im Sinne der Leistungsfähigkeit einzelner psychischer Funktionen wie der Wachheit, Orientierung, Gedächtnisleistung etc. definieren zu können. Im Kontext versicherungsrechtlicher und humanitärer Fragen ließe sich damit ein Anspruch auf Hilfe durch

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die Solidargemeinschaft einfordern, aber die Tugendhat’sche Frage nach den wahren oder falschen Bedürfnissen kaum beantworten.

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Bewusstsein – Reichweite und Grenzen naturwissenschaftlicher Erklärung Alfred Gierer Gehirn-Geist-Beziehung: Gründe für Grenzen der Dekodierbarkeit Bewusstsein ist kein Begriff physikalisch begründeter Naturwissenschaften, und doch ist menschliches Bewusstsein Voraussetzung dafür, dass es Naturwissenschaften überhaupt gibt. Was ist Bewusstsein? Eine Klärung ist aus einer Reihe tief liegender Gründe schwierig. Zum einen sind Grenzen etwa im Vergleich von Mensch und Tier schwer zu ziehen. Zum anderen einigt man sich, was menschliches Bewusstsein angeht, ziemlich leicht auf einige notwendige Kriterien, zum Beispiel den Selbstbezug; eine hinreichende Liste von Kriterien dafür, wer oder was Bewusstsein hat, ist aber kaum realisierbar, ist vielleicht prinzipiell unmöglich. Dazu folgendes Gedankenexperiment: Nehmen wir an, wir hätten eine Liste von formalen Merkmalen, die wir für vollständig erklären, und würden sie in einer computergesteuerten Puppe implementieren. Würden wir diese dann einvernehmlich und mit allen – auch den juristischen und moralischen – Konsequenzen als im menschlichen Sinne bewusst anerkennen? Kaum. Zweifellos ist Bewusstsein eine Funktion von Gehirnprozessen, und die unterliegen den Grundgesetzen der Physik. Was formalisierbar ist, ist mechanisierbar; wir dürfen daher vermuten, dass jede, auch jede höhere, Gehirnfähigkeit, die sich vollständig formal beschreiben lässt, schließlich einer naturwissenschaftlichen Erklärung zugänglich sein sollte. Es ist aber doch zu fragen, ob es nicht prinzipielle Grenzen der Formalisierung von Bewusstseinsvorgängen und Zuständen gibt, wie dies ja schon durch die Definitionsprobleme nahe gelegt wird. Zwei Grundeinstellungen verdienen nach meiner Ansicht bei der Suche nach Antworten besonderes Vertrauen. Erstens konsequenter Physikalismus: Die Physik gilt ohne Einschränkung für alle Ereignisse in Raum und Zeit, Gehirnprozesse eingeschlossen; zweitens aber auch

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epistemologisch begründete, entscheidungstheoretische Skepsis: Es gibt prinzipielle Grenzen der Berechenbarkeit und Entscheidbarkeit, wie sie Heisenbergs Unbestimmtheit für die Physik und Gödels Theoreme für die Mathematik eindrucksvoll aufgezeigt haben. Nicht, dass daraus direkt etwas für die Gehirn-Geist-Beziehung folgen würde; wesentlich ist aber, dass überhaupt mit grundsätzlichen, wissenschaftlich begründbaren Erkenntnisgrenzen zu rechnen ist, zumal wenn, wie schon in der Physik und Mathematik, Selbstbezug involviert ist. Insbesondere zeigt die mathematische Entscheidungstheorie, dass kein einigermaßen leistungsfähiges logisches System mit den je eigenen Mitteln gegen Widersprüche abgesichert werden kann. Ich meine, dass sich in Analogie hierzu besonders selbstbezogene Aspekte von Bewusstsein einer vollständigen algorithmischen Theorie entziehen könnten. Nun gelten zwar die Theoreme mathematischer Unentscheidbarkeit für unendliche Gegebenheiten, während unser Gehirn in seinen Möglichkeiten ein endliches System ist, sodass man im Prinzip über die Gültigkeit jeder allgemeinen Aussage entscheiden könnte, indem man alle Möglichkeiten durchspielt und überprüft. In Wirklichkeit folgt aus mathematischer Endlichkeit aber noch lange nicht Ableitbarkeit mit innerweltlichen Mitteln. Die sind nämlich aus fundamentalen physikalischen Gründen naturgesetzlich begrenzt – selbst bei großzügiger Abschätzung auf unter 10120 Rechenschritte. Das sind nun keineswegs irgendwelche Zahlen; sie hängen stringent ab von den Dimensionen des Universums und eng zusammen mit den Grundkonstanten der Physik, und das spricht dafür, solche Begrenzungen erkenntnistheoretisch ernst zu nehmen: Die Endlichkeit der Welt begrenzt auch die Entscheidbarkeit von Problemen; was nur für einen superkosmischen Computer determiniert wäre, ist nicht determiniert. Nun reicht aber selbst eine so hohe Anzahl realisierbarer Rechenoperationen wie 10120 nicht unbedingt aus, wenn es um die Analyse solch weiter Felder von Möglichkeiten geht, wie sie erforderlich ist, wenn man aus der Datenflut der Gehirnzustände zum Beispiel selbstbezogene Verhaltensdispositionen für eine offene Zukunft verlässlich ableiten will; man kann sie nicht alle nacheinander testen, um herauszufinden, welche Disposition einem physikalischen Gehirnzustand nun entspricht. Natürlich kann man trotzdem durch systematische Forschung – durch bewusstseinsnahe Neurobiologie, durch Psychophysik, auch durch theoretische Modelle – sehr Vieles und sehr Interessantes über die Gehirn-Geist-Beziehung herausbekommen; aber es gibt eben keine Garantie, keinen Algorithmus für Antworten auf jede vernünftige

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Frage, auch nicht auf jede Frage nach psychischen Zuständen und Dispositionen. Vielmehr ist es eine begründete Vermutung, dass es prinzipielle Grenzen der Dekodierbarkeit der Beziehung zwischen neurophysiologischen und psychischen Zuständen gibt, zumal wenn Selbstbezug im Spiel ist.

Funktionen des Bewusstseins und deren Evolution Angesichts dieser Grenzen sollte man nun nicht die bedeutenden wissenschaftlichen, zumal neurobiologischen Erkenntnisse zum besseren Verständnis des Bewusstseinsproblems übersehen. Menschliches Bewusstsein ist besonders durch vier Fähigkeiten charakterisiert: Die Fähigkeit der Bindung sehr verschiedener Aspekte der Wahrnehmung und des Wissens zu einer möglichst guten Interpretation einer Gesamtsituation; die Fähigkeit der Abstraktion, die auch Symbolik und MetaEbenen des Denkens ermöglicht, zumal in Zusammenhang mit der menschlichen Sprache; die Fähigkeit der kognitionsgestützten Empathie, die es erlaubt, sich in die Gefühle, das Wissen und die Vorhaben Anderer hineinzuversetzen; und die Fähigkeit der Zeitintegration, die Verfügung über Erinnerungen auch in eine ferne Vergangenheit ebenso wie die Vorausschau in Handlungsmöglichkeiten in einem weiten Zukunftshorizont. All diese Fähigkeiten, die Gegenstand hochinteressanter neurobiologischer Forschung sind, bündeln sich in der Basisfähigkeit, die nach meiner Auffassung den biologisch modernen Menschentyp charakterisiert: Das umfassende strategische Denken. Dieser moderne Menschentyp Homo sapiens sapiens ging vermutlich vor etwa 200000 Jahren aus einer kleinen Menschengruppe in Afrika hervor; er hat danach alle anderen Menschentypen verdrängt und schließlich, vor über 30000 Jahren, die Eigendynamik der Kulturgeschichte ausgelöst. Seine umfassende Kulturfähigkeit ist ein Produkt biologischer Evolution, die einzelne Kultur ist es nicht. Nach einer anfänglichen Phase der Ko-Evolution genetischer und kultureller Merkmale konnte die kulturelle Differenzierung und Entwicklung bis hin zu den Hochkulturen dann wohl ohne wesentliche Genänderungen erfolgen, die mentale Fähigkeiten betrafen. Wir wissen nicht, welche Mutationen es waren, die in der Evolution bei der biologischen Begründung der Kulturfähigkeit des modernen Menschentyps eine wesentliche Rolle gespielt haben. Vorherrschende Meinung ist, dass dies in einer Vielzahl von für sich betrachtet

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recht unspezifischen Schritten geschah. Die Systemtheorie zeigt, dass in der Tat auf diese Weise ein Umschlag von Quantität in Qualität möglich ist, eine Art „Selbstorganisation“, die zur Ausbildung neuer Strukturen und Funktionen führen kann. Es ist der intellektuelle Charme der Selbstorganisation, vielleicht auch der vermeintlichen, als besonders aufgeklärt geltenden Distanz zur Schöpfungstheologie, die der extremen Kontinuitätstheorie psychologische Vorteile in der wissenschaftlichen Community verschafft. Aber Vorsicht: Es könnten auch wenige Genänderungen, es könnte sogar eine einzelne, singuläre genetische Mutation eine neue Richtung der Evolution begründet haben; eine Richtung, die z. B. an der Ausbildung des neuralen Netzwerkes ansetzte, indem in weiten Bereiche der Großhirnrinde solche Verschaltungen der Neurone ausgebildet wurden, die neue Meta-Ebenen der Informationsverarbeitung ermöglichten oder sehr stark erleichterten. Auf derartigen erweiterten Fähigkeiten wiederum beruht letztlich das ganze Bündel von Faktoren, das für menschliches strategisches Denken erforderlich ist. Dazu gehört die Anwendung analytischer Prozesse auf analytische Prozesse selbst. Dazu gehören nicht zuletzt auch multiple Selbstrepräsentationen im Gehirn in Form abstrakter „Selbstbilder“, in denen mögliche Zustände der eigenen Person in verschiedenen Szenarien der Zukunft repräsentiert sind und die darstellen, wie wir sind, wie wir werden und nicht werden wollen. Als Voraussetzung menschlicher, kognitionsgestützter Empathie gehören dazu auch die Repräsentationen Anderer, die deren Befindlichkeiten, Erwartungen und Befürchtungen für die Zukunft einschließen. Empathie ist ganz wesentlich für die eindrucksvolle Kooperationsfähigkeit unserer Spezies „Mensch“. Vermutlich spielte der Fitness-Gewinn durch Kooperationsfähigkeit eine entscheidende Rolle für die Evolution menschlicher Gehirnfähigkeiten überhaupt. Dieser Gewinn bezieht sich durchaus auch auf die individuelle Fitness, an der die genetische Selektion ansetzt: Es lohnt sich für den Einzelnen, sich als kooperativ darzustellen. „Good guys“ finden eher Kooperationspartner als „bad guys“, Menschen, die nach einem Streit versöhnungsbereit sind, fahren besser als dauerhaft unversöhnliche. Ein gewisses Maß an Anfangsvertrauen und Fairness auch gegenüber Unbekannten erhöht Kooperationschancen. Vermutlich gibt es eine pauschalierte, von bewussten Einzelabwägungen unabhängige Reziprozität in Form von Dispositionen zu „low-cost-altruistic-actions“, man denke nur an die Höflichkeit oder die Gastlichkeit. Auf

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solche Weise beziehen neuere Linien soziobiologischen Denkens auch „freundliche“ Eigenschaften des Menschen ein. Wesentlich für die Evolution des modernen Menschentyps vor vielleicht 200000 Jahren war, so die Vermutung, der Prozess der genetischen Weichenstellung, mit zunächst geringen Auswirkungen, die dann durch eine Vielzahl nachfolgender Mutationsschritte weiter ausgeprägt wurden – also ein phänotypischer Gradualismus und dennoch eine distinkte Rolle für spezifische Veränderungen im Genom. Weichenstellungen durch eine oder wenige Zufallsmutationen, die selten, aber nicht extrem unwahrscheinlich waren, konnten in der Folge zum Einzug neuer Meta-Ebenen der Informationsverarbeitung im Gehirn führen. Dabei ist besonders an die Neukombination eines oder weniger Abschnitte der Genregulierung zu denken, die an der Ausbildung der Verschaltung der Neuronen in der Großhirnrinde über weite Bereiche beteiligt sind. Die molekulare Genetik zeigt interessante Beispiele für „Rekrutierungen“ von Abschnitten des Genoms durch Kombination in einen neuen funktionalen Kontext bei der Evolution der Organismen. Diese Argumente für die Schlüsselrolle von eher seltenen und somit distinkten Genänderungen lassen sich durch Vergleiche mit Innovationen in der Geschichte der Technik stützen. Darin gibt es auch beides, Kontinuität von Quantitäten ebenso wie qualitative Innovationen, zumal durch Neukombinationen. So zum Beispiel in der Schifffahrt: Die Segelschifffahrt entwickelte sich wesentlich durch die quantitative Vergrößerung der Segelfläche – größere Segel, mehr Masten, mehr Segel pro Mast – die Dampfschifffahrt aber durch Neukombination von Elementen, die in anderem Kontext schon beträchtliche technische Reife erlangt hatten: Dampfmaschine und Schiffsrumpf; Eisen statt Holz für den Rumpf; die Schiffsschraube statt des Schaufelrades für den Antrieb. Gerade der Vergleich mit der Technikentwicklung legt die Vermutung nahe, dass bei innovativen Vorgängen im Allgemeinen, zumal auch bei der Evolution menschlicher Gehirnfähigkeiten, Kontinuität und Singularität ihre Rolle spielten. Dabei ist mit distinkten Auswirkungen von Mutationen besonders dann zu rechnen, wenn es um die Neukombination von schon ausgereiften Teilfähigkeiten geht. Eben diese Voraussetzung dürfte für die Evolution von Gehirnfähigkeiten des biologisch modernen Menschentyps auf der Basis von Teilfähigkeiten seiner Vorgänger in der Evolution zutreffen. Es ist ganz generell wenig plausibel, Gehirnfähigkeiten, die bei der Menschwerdung entstanden, in erster Linie als Folge diffuser Selbstorganisation vergrößerter Gehirne anzusehen, wie das immer wieder

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behauptet wird. Nach der Erfindung des Dampfschiffes stiegen Schiffsgrößen um Faktoren um hundert, von Fultons „Clermont“ bis zur berühmten „Titanic“; niemand aber würde den Dampfantrieb durch Selbstorganisation bei Zunahme von Schiffsgrößen erklären wollen. Primär war natürlich die neue Kombination von Dampfmaschine und Schiff. Dementsprechend dürften – auch, aber nicht nur bei der Menschwerdung – neue Kombinationen von Genabschnitten manche Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet haben, durch die erst in der Folge Großhirnvergrößerungen evolutionär lohnend werden konnten; ohne neue oder stark erweiterte Fähigkeiten hätte Vergrößerung angesichts des besonders hohen Energieverbrauchs von Nervensystemen nicht nur Vorteile in der Evolution gebracht. Was die Funktionen des menschlichen Bewusstseins angeht, so habe ich auf eine – wenn nicht die – zentrale Rolle des bewussten planenden Denkens und Entscheidens hingewiesen. Diese beruht auf der Interpretation der gesamten von einer Person wahrgenommenen Situation, und zwar im Licht von Erfahrungen der Vergangenheit und möglichen Szenarien für die Zukunft einschließlich ihrer emotionalen Färbung und Bewertung; dafür wiederum sind die Repräsentationen befürchteter bzw. erhoffter eigener Zustände von, im Wortsinne, entscheidender Bedeutung. Bei solchen mit Planung und Selbstbezug verbundenen Integrationsleistungen ist zwar der präfrontale Cortex ganz wesentlich beteiligt, sie umfassen aber insgesamt weite Bereiche des menschlichen Gehirns. Sie resultieren oft, aber nicht immer in bewusstem Erleben und machen wesentlich die Gesamtbefindlichkeit einer Person aus. Dabei sind zumeist nur die Ergebnisse der Integrationsleistungen, nicht aber alle vorgeschalteten Prozesse der Informationsverarbeitung und emotionalen Bewertung bewusst. Insbesondere werden wohl gerade solche Situationen ins Bewusstsein gehoben, in denen es Konflikte zwischen Motiven und wesentlich verschiedene Handlungsoptionen bei vergleichbarer emotionaler Gesamtbewertung gibt, sodass zwischen ihnen erst durch weitere Gehirnprozesse – nicht zuletzt auch mit Hilfe des bewussten Denkens – zu entscheiden ist. Bewusstes Wissen, Denken und Fühlen ist so an der menschlichen Willensbildung essenziell beteiligt, zumindest in komplexen Situationen. Wegen ihrer Bedeutung für strategische Voraussicht ist die Zweckmäßigkeit einer Evolution der Fähigkeiten des Bewusstseins aus biologischer Sicht nachvollziehbar. Ihre biologische Funktion an sich erklärt aber nicht in befriedigender Weise, wie Zustände und Vorgänge ins Bewusstsein gehoben werden und wie bewusste mit unbewussten Vorgängen zusammenwirken.

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Die wissenschaftlichen Überlegungen und Forschungsergebnisse zum Thema „Bewusstsein“ sollten daher nicht den Blick auf die prinzipiellen Grenzen der Erkenntnis verstellen, die einer vollständigen naturwissenschaftlichen Erklärung des menschlichen Bewusstseins entgegenstehen. Auch Einsichten in seine evolutionären Ursprünge ergeben für sich genommen noch kein umfassendes Verständnis von dessen stark verallgemeinerungsfähigen Potentialen. Das ist nicht viel anders als bei sehr allgemeinen technischen Erfindungen, etwa der des Rades: Die erste Erfindung von hölzernen Rädern für Wagen vor vielleicht 6000 Jahren impliziert keineswegs schon das ganze Spektrum der Entwicklungsmöglichkeiten des Konzepts „Rad“, etwa die Töpferscheibe, die Schiffsschraube, die Windmühle, die Gebetsmühle, Buddhas Rad der Lehre, das Fahrrad, das Zahnrad, das Feuerrad, das Glücksrad, das Kugellager und das Düsenaggregat… Noch weniger aber dürfen wir erwarten, dass uns die Neurobiologie sicher zu eindeutigen Antworten auf die tiefsten philosophischen Fragen führt, die mit menschlichem Denken und Bewusstsein verbunden sind. Das möchte ich an zwei Problemfeldern skizzieren, der Willensfreiheit und der Beziehung von Naturwissenschaft und Religion.

Willensfreiheit, Hirnforschung und Grenzen objektiver Entscheidbarkeit: Was für niemanden determiniert ist, ist nicht determiniert Wir empfinden uns in gewissem Maße als frei in der Wahl unserer Handlungen und verantwortlich für deren Folgen. Zwar lässt sich Wahlfreiheit mit soziologischen, psychologischen und philosophischen Argumenten anzweifeln, doch ändert dies nichts an dem Bewusstsein des Einzelnen dafür, dass er Entscheidungsalternativen hat und wahrnimmt. Weitgehend unabhängig von theoretischen Auffassungen unterstellen wir lebenspraktisch eine Willensfreiheit des Menschen; ohne diese gäbe es kein wertbestimmtes soziales Verhalten. Gibt es Willensfreiheit wirklich und wenn ja, in welchem Sinne? Wieweit können wir überhaupt verantwortlich handeln? Wie vertragen sich das subjektive Empfinden, zwischen verschiedenen Handlungsalternativen frei wählen zu können, und der Anspruch der Gesellschaft, Rechenschaft für eine bestimmte Handlung zu verlangen, mit dem streng naturgesetzlichen

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Ablauf der Ereignisse im Menschen, einschließlich auch denjenigen in seinem Gehirn? Diese Frage wird in jüngster Zeit besonders in Zusammenhang mit neuesten Ergebnissen neurobiologischer und neuropsychologischer Forschungen diskutiert.1 Sie weisen eine Vielfalt von Zusammenhängen von Aktivitäten in bestimmten Teilbereichen des menschlichen Gehirns mit höheren geistigen Fähigkeiten (einschließlich ihrer emotionalen Korrelate) auf, so denen der Sprache, der Abstraktion, der strategischen Planung und der Empathie. Kein Zweifel, dass bewusstes Erleben mit Zuständen und Prozessen in unserem Gehirn auf das Engste verbunden ist. Lassen die Naturgesetze dann überhaupt so etwas wie einen freien Willen zu? Erhebliche Aufmerksamkeit fanden in jüngerer Zeit auch experimentelle Ergebnisse, nach denen die Vorbereitung willkürlicher Bewegungen, zum Beispiel die eines Fingers, bereits durch bestimmte Gehirnaktivitäten nachweisbar ist, ehe uns die Handlungsabsicht bewusst wird – Bruchteile einer Sekunde zuvor. Allerdings kann es danach noch ein bewusstes „Veto“ geben, sodass die Handlung unterbleibt. Zudem ist die Auslösung einfacher Bewegungen nicht prototypisch für die Vorbereitung bewusster Entscheidungen auf Grund planerischen Denkens, das für menschliche willentliche Entscheidungen eine so große Rolle spielt. Dennoch: Die Verschränkungen bewusster und unbewusster Vorgänge und ihre zeitlichen Beziehungen sind wohl komplexer, als man früher gedacht hatte. Lassen sich aber nun anhand der Ergebnisse der Hirnforschung generelle Zweifel an der Willensfreiheit begründen? Derartige Schlüsse wären mehr als voreilig. Da Bewusstsein, Wille und Freiheit keine Begriffe physikalisch begründeter Naturwissenschaft sind, folgt allein aus der Neurobiologie für die Willensfreiheit wohl gar nichts; durch Verbindungen der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit Grundeinstellungen, Intuitionen und „soft facts“ aus anderen Bereichen aber ist es möglich, wenigstens zu begründeten Vermutungen zu gelangen. Diese allerdings hängen von der Wahl der zusätzlich hinzugezogenen Erkenntnisfelder ab. Ich komme bei dieser Wahl auf die beiden schon erwähnten Grundeinstellungen zurück, die in diesem Zusammenhang meiner Ansicht nach besonderes Vertrauen verdienen: Konsequenter Physikalismus – keinesfalls kann unser Wille die Gültigkeit der physikalischen 1

Vgl. dazu auch die Beiträge im ersten Band der Buchreihe Humanprojekt unter dem Titel „Naturgeschichte der Freiheit“.

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Gesetze in unserem Gehirn aushebeln – und entscheidungstheoretische Skepsis. Wesentlich ist, dass mit Erkenntnisgrenzen zu rechnen ist, zumal wenn Selbstbezug involviert ist: Wie ich schon erläutert habe, ist vermutlich eine vollständige Dekodierung physikalischer Gehirnzustände in Bezug auf psychische Zustände prinzipiell unmöglich. Nach dieser Auffassung sind unsere Willensentscheidungen zwar nichts Unphysiologisches beziehungsweise Antiphysikalisches, sie involvieren bewusste ebenso wie unbewusste Vorgänge (und warum soll es dabei nicht auch eine nachträgliche bewusste Entscheidung für eine vorgängig unbewusst vorbereitete Handlung geben können?). Aber unser Wille kann auch durch solche Innenfaktoren in uns mitbestimmt sein, die der Außenanalyse durch Andere prinzipiell nicht vollständig zugänglich sind. Von solchen selbstbezogenen Innenfaktoren sind die erwähnten, mit dem Namen Libet verbundenen Experimente zur Fingerbewegung sehr weit entfernt. Welche philosophischen Auffassungen auch immer wir hierzu vertreten – stringente Schlüsse der Neurobiologie allein in Bezug auf das Willensfreiheitsproblem sind auch auf der Basis der LibetExperimente nicht möglich. Allerdings meine ich, dass Grenzen der Entscheidbarkeit mit rigoros deterministischen Auffassungen unverträglich sind: Was für niemanden determiniert ist, ist nicht determiniert. Unser Gehirn unterliegt zwar den gleichen physikalischen Gesetzen wie eine Maschine; aber eine Maschine, die wir vollkommen verstehen, leistet nicht alles wie unser Gehirn, und eine Maschine, die alles leistet wie unser Gehirn, würden wir ebenso wenig vollständig verstehen wie das Gehirn selbst. Deshalb können Selbstaussagen über bewusste Zustände und Vorgänge im Prinzip über das hinausführen, was durch noch so raffinierte objektive Methoden durch Außenstehende herauszubringen wäre. Allgemein dürften Einsichten über Grenzen der Dekodierung der Gehirn-Geist-Beziehung durchaus mehr Beachtung durch Historiker, Philosophen und Sozialwissenschaftler, Journalisten und Politiker, Ankläger und Richter verdienen – und zwar in Richtung auf Zurückhaltung im Urteil: Einem Einstieg in fremdes Bewusstsein, fremde Gedanken, fremdes Wissen und fremde Motive sind vermutlich unüberwindliche, epistemologisch robuste Grenzen gesetzt. Perfektes „mind-reading“ gibt es schlechthin nicht – zum Glück. Was die Willensfreiheit angeht, so bleiben Deutungsspielräume, und die bevorzugten Deutungen sind auch eine Frage der Lebenskunst. Wollen wir wirklich die erlebte Willensfreiheit als schlechthin betrügerische Illusion ansehen? In einer nicht ganz streng und ernst ge-

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meinten Erklärung hat hierzu der Verhaltensforscher Konrad Lorenz einmal bemerkt, das mit dem Determinismus sei doch eigentlich nicht so schwierig. Es gibt Optimisten und Pessimisten; Pessimisten empfinden meist fatalistisch und neigen zum Determinismus, Optimisten setzen eher auf Selbstvertrauen und dabei auf Freiheit ihres Willens.

Naturwissenschaft, Religion und die philosophische Mehrdeutigkeit der Welt Insgesamt ergeben sich aus der Neurobiologie durchaus wesentliche Erkenntnisse über unsere Spezies „Mensch“, die auch von den Geisteswissenschaften zu deren Vorteil zu integrieren sind. Die neuere Biologie widerlegt viele Vorstellungen zum Beispiel über außerphysikalische biologische Prinzipien, sie erhellt Grund- und Randbedingungen unseres Verständnisses vom Menschen. Die metatheoretische Mehrdeutigkeit unseres Wissens auf der philosophischen und kulturellen Ebene wird aber dadurch nicht aufgehoben. Nicht jede, aber mehr als eine Deutung ist mit naturwissenschaftlichem Wissen logisch verträglich. Das gilt wohl auch für das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion. Noch vor wenigen Generationen sahen die meisten Intellektuellen ein Absterben der als vorwissenschaftlich angesehenen Religionen zugunsten eines wissenschaftlich dominierten Weltverständnisses voraus. Das prognostiziert heute kaum noch jemand. Die dramatische Erweiterung unseres Wissens im 20. Jahrhundert war engstens mit einer Selbstbegrenzung naturwissenschaftlichen Denkens durch die wissenschaftliche Reflexion der eigenen Voraussetzungen verbunden, und dies wiederum führt zu einer offeneren Sicht auf religiöse Weltdeutungen. Dies liegt nicht nur, aber auch daran, dass liberale, undogmatische Versionen theologischen Denkens mit Wissenschaft und logischem Denken vereinbar sind, wenn die Selbstbegrenzung der Letzteren beachtet wird. So ist die religiöse Deutung der Ordnung der Natur als Schöpfung Gottes und des Menschen als Ebenbild des Schöpfers im geistigen, kreativen Sinn nicht nur logisch konsistent mit wissenschaftlichem Denken; sie bildet auch eine, wenngleich „weiche“, Erklärung dafür, warum die gesetzmäßige Ordnung doch so unerwartet weit dem menschlichen Denken zugänglich ist, wie es die Geschichte des Kulturprodukts „Naturwissenschaft“ aufzeigt. Wie kommt der

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menschliche Geist zu der Fähigkeit, die Formel E=mc2 zu konzipieren und zu bestätigen? Evolutionsbiologische Erklärungen, die bei den Bedingungen von Jäger- und Sammlerkulturen der Steinzeit ansetzen, tun sich mit der Beantwortung dieser Frage nicht eben leicht. Das Unverständlichste am Universum ist im Grunde, so Einstein, dass wir es verstehen können – jedenfalls weitergehend verstehen, als man früher gemeint hat. Die Vereinbarung von wissenschaftlichem mit religiösem Denken bleibt aber eine Option und kein Muss. Es kann nicht verwundern, dass es unter Wissenschaftlern viele gibt, die Religion aus berechtigtem Ärger über religiösen Fundamentalismus nach Art des Kreationismus ablehnen. Das ist verständlich, aber auch in ablehnenden Argumenten finden sich nicht selten ihrerseits fundamentalistische, unduldsame und dogmatische Züge. Die Aufklärung des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts hat begründet, dass religiöse Auffassungen nicht naturwissenschaftliche Erkenntnisse widerlegen können. Die nachfolgende Aufklärung über die Aufklärung, mit Ausläufern bis in die Gegenwart, impliziert dann aber auch, dass die Naturwissenschaft nicht die Religionen widerlegt, jedenfalls nicht in deren ihrerseits aufgeklärten Formen. Die Einstellung zu Religion ist nicht allein aufgrund wissenschaftlicher Kriterien zu entscheiden, sie hängt von individuellen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen ab und ist nicht zuletzt eine Frage der Weisheit und der Lebenskunst. Die realistische Prognose lautet, dass agnostische und religiöse Weltdeutungen auf Dauer koexistieren werden. Was das gesellschaftliche Wohlergehen betrifft, so hängt sehr viel davon ab, dass jeweils innerhalb religiöser wie auch agnostischer Strömungen die liberalen und toleranten gegenüber den fundamentalistischen und dogmatischen die Oberhand gewinnen und behalten. Was nun die Rolle der Neurobiologie in diesem Kontext angeht, so kann sie zweifellos allgemeine Beiträge zum Selbstverständnis des Menschen leisten, indem sie Gehirneigenschaften zu erklären hilft. Eindeutige Antworten auf die damit verbundenen grundsätzlichen, philosophischen Fragen sind aber nicht zu erwarten, und das gilt besonders für das Verständnis von Religion. Was können wir lernen, wenn wir neurobiologische Prozesse im Kontext religiöser Gedanken, Gefühle und Erlebnisse beobachten, etwa durch aktivitätsabhängiges Neuro-Imaging? Manches ist ja schon vor solchen Untersuchungen klar: Dass all dies mit Gehirnaktivitäten verbunden ist; und dass, soweit es sich hierbei um Fähigkeiten handelt, die zum Beispiel Schimpansen nicht haben, diesen dann auch Unterschiede in Gehirnvorgängen,

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vermutlich auch von Gehirnstrukturen zwischen Mensch und Schimpanse zugrunde liegen, und nicht zuletzt auch Unterschiede von Genen, die die Gehirnentwicklung steuern und die in der menschlichen Evolution gebildet oder verändert wurden – so schwer dies auch im Einzelnen nachweisbar sein mag. Sodann zeigen soziobiologische Überlegungen, dass die religiösen Fähigkeiten Leben und Überleben befördert haben, und damit wird ihre ursprüngliche Entwicklung evolutionsbiologisch nachvollziehbar. Und doch wäre es ein großer Irrtum zu glauben, man könne auf diesem Wege Religion vollständig erklären oder gar wegerklären, sozusagen entlarven. Bei naturwissenschaftlichen Aussagen, zum Beispiel zur Evolution des Lebens auf der Erde, hat die Biologie gegenüber tradierten Überlieferungen der Religionen das letzte Wort; über die Wahrheitsansprüche philosophischer, zumal metaphysischer Voraussetzungen menschlichen Denkens aber kann die Biologie nicht verbindlich entscheiden. Wesentlich für unser Selbstverständnis bleibt, dass die allgemeinen Fähigkeiten der Spezies Mensch weit über den evolutionären Anlass ihrer Entstehung hinausführen können, und dieser Überschuss fällt in die Domäne der Kulturgeschichte und Philosophie, nicht der Biologie. Man kann sich dies an einer der philosophisch tiefsten und allgemeinsten Fragen klarmachen, die unsere Intuitionen zu Gunsten oder zu Ungunsten eines religiösen Weltverständnisses wesentlich mitbestimmt: Gibt es eine Ordnung der Welt, des Denkens und der Dinge auch ohne uns Menschen, eine Ordnung, die wir mit unserem evolvierten Gehirn im Laufe der letzten Jahrtausende der Kulturgeschichte entdeckt und mehr oder weniger gut verstanden haben? Inwieweit und inwiefern ist diese Ordnung vom menschlichen Erkenntnisapparat strukturiert? Ist sie vielleicht überhaupt nur eine Konstruktion menschlicher Gehirne, also eine Ordnung, die es ohne uns Menschen gar nicht geben würde? Mit den Mitteln der Neurobiologie sind diese Fragen nicht zu entscheiden: Es gäbe ja in jedem Fall menschenspezifische, wohl auch neurobiologisch nachweisbare Gehirnaktivitäten, die mit religiösen Gedanken und Empfindungen verbunden sind, ganz unabhängig davon, ob die Weltordnung nun von Gott in wesentlichen Zügen am Anfang der Dinge geschaffen wurde oder ob sie ausschließlich erst von uns Menschen konstruiert ist. Zum Vergleich lässt sich das gleiche Argument auf einen weniger emotionalen Kontext übertragen, auf ein wenn nicht das philosophisch hintergründigste Grundproblem der Mathematik: Gibt es mathematische Wahrheiten, mentale Wirklichkeiten, gibt es zum Beispiel wie es

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die idealistische Philosophie behauptet, die platonischen Körper auch unabhängig von uns Menschen? Oder sind sie nur Konstruktionen unseres menschlichen Denkens? Machen wir hierzu ein Gedankenexperiment: Schieben wir einen klugen Menschen in einen Computertomographen, der die Gehirnaktivitäten misst und lokalisiert, und fragen ihn nach den Primzahlen zwischen 10 und 20. Er sagt 11, 13, 17, 19; die nächste ist 23. Dann fragen wir, ob es endlich oder unendlich viele Primzahlen gibt und erzählen ihm den Beweis dafür, dass es unendlich viele gibt: Gäbe es nur endlich viele, so könnten wir sie alle miteinander multiplizieren und hätten wieder eine Zahl. Zählen wir eins dazu, haben wir aber noch eine Primzahl – die als vollständig vorausgesetzte Liste der Primzahlen war gar nicht vollständig! Also kann es nicht nur endlich viele Primzahlen geben. Kennt nun unser Proband diesen Beweis noch nicht oder nicht mehr, wird er ihn erhellend und witzig finden. Alles nur Konstruktion? Dann fragen wir als nächstes, ob es endlich oder unendlich viele Primzahlpärchen wie 11, 13 oder 17, 19 gibt – eines der schwierigsten Probleme der Zahlentheorie. Wenn tatsächlich alles nur Konstruktion ist, dann konstruieren wir doch einfach das Ergebnis! Gerade das geht aber nicht, es handelt sich, soviel ich weiß, um ein immer noch ungelöstes Problem. Schließlich befreien wir unseren Kollegen aus dem Tomographen und werten die Diagramme über seine Gehirnprozesse aus. Wir lernen einiges über den Umgang des menschlichen Gehirns mit Zahlen, aber sicher nichts darüber, ob wir sie nur konstruieren, oder ob es Wahrheiten über sie auch ohne uns gibt – an Hirnströmen allein würde sich die philosophische Wahrheit nicht zeigen. Und hier liegt die Parallelität mit der genannten Grundfrage zur Religion: Gibt es eine Ordnung der Welt, der Dinge und des Geistes nur durch und in uns oder auch ohne und vor uns – auch das werden wir im Prinzip nicht durch neurobiologische Forschung entscheiden können. Wir bleiben in solchen Fragen nicht zuletzt auf Lebenskunst und philosophische Vernunft angewiesen, und beide sprechen nach meiner Ansicht gegen einseitig konstruktivistische Auffassungen. Auch ein besseres Verständnis der evolutionären und kulturgeschichtlichen Ursprünge der Religionen, so interessant entsprechende Erkenntnisse auch sind, kann die Potentiale religiöser Beiträge zum menschlichen Selbst- und Weltverständnis nicht erschöpfen – ebenso wenig wie die schon erwähnte Erfindung des hölzernen Scheibenrades für Transportkarren vor vielleicht 6000 Jahren das ganze, vielfältige Potential des

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mentalen Konzeptes „Rad“ erfasst, das sich erst in einer langen kulturgeschichtlichen Entwicklung zeigte.

Abschließende Betrachtungen Die großen Fortschritte der Neurobiologie in der Gegenwart machen es psychologisch verständlich, dass heutzutage viele der daran Beteiligten an die asymptotische Lösbarkeit aller wichtigen Fragestellungen glauben. So haben es die Physiker und Mathematiker in ihren Gebieten um 1900 getan. Dann aber, um 1927, war diese Auffassung durch die Entwicklung der Quantenphysik widerlegt worden. Bestimmte atomare Ereignisse können im Prinzip nicht genau vorausberechnet werden, gleichgültig wie viel Mess- und Berechnungsaufwand wir treiben, und diese Beschränkung ist selbst ein Naturgesetz! Und noch 1930 erklärte der große Mathematiker Hilbert, es gäbe keine unlösbaren mathematischen Probleme. Ein Jahr später, mit Gödels Unentscheidbarkeitstheoremen, war es auch damit vorbei. In der Gegenwart versprechen sich manche Physiker Lösungen des Bewusstseinsproblems von einer künftigen, erweiterten Physik. Bei aller Skepsis: Ausgeschlossen ist das nicht, aber es ist wohl auch nicht sehr wahrscheinlich. Und dann gibt es viele recht spekulative Überlegungen, wieweit die neuen Einsichten in die Quantenwelt Folgerungen, wenn nicht gar Lösungen auch zum Bewusstseinsproblem bieten könnten. Ich habe diese Ansätze nicht ernsthaft verfolgt und kann dazu deshalb auch kein fundiertes Urteil abgeben. Das Gehirn ist kein Quantencomputer; ob es Funktionen gibt, bei denen Quanteneffekte wie Verschränkung, Dekohärenz oder Nichtlokalität eine unmittelbare Rolle spielen, ist offen und erscheint derzeit nicht sonderlich plausibel. Hinter solchen merkwürdigen quantenphysikalischen Phänomenen könnten sich aber allgemeinere Merkmale eines physikalisch-mathematischen Naturverständnisses verbergen. Dies betrifft nicht zuletzt den Schlüsselbegriff „Information“, der in Diskussionen um die Grundlagen der modernen Physik eine wesentliche Rolle spielt. Dass die übergeordneten, oft so hintergründigen und dabei anti-intuitiven erkenntnistheoretischen Merkmale der Quantenphysik hinsichtlich der Beziehung von Einsicht und Realität – und damit der Beziehung des Mentalen zum Materiellen – auch für das Gehirn-Geist-Problem relevant, zumindest aber lehrreich sein könnten, dafür sollten wir aufgeschlossen sein. Es ist mehr als zweifelhaft, die Gehirnphysik als Argument gegen

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die Willensfreiheit in Anspruch zu nehmen, indem man mehr oder weniger implizit auf Intuitionen der mittlerweile etwas angestaubten deterministischen Mechanik des 19. Jahrhunderts zurückgreift. Stattdessen dürften entscheidungstheoretische Aspekte der GehirnGeist-Beziehung unsere besondere Beachtung verdienen: Verstehen wir Grenzen der Berechenbarkeit auf Grund der Endlichkeit physikalisch möglicher Informationsverarbeitung in einem endlichen Universum als erkenntnistheoretisch robuste Grenzen des möglichen Wissens, so erscheinen psychische Zustände zwar als Funktionen physikalischer Gehirnzustände, aber es handelt sich vermutlich nicht um vollständig berechenbare Funktionen. Informationstheoretisch gibt es vielmehr einen Grad von prinzipiell unüberwindlicher Unbestimmtheit. Darin liegt auch ein Grad Freiheit in dem Sinne, dass eigene psychische Vorgänge von Anderen nicht unbegrenzt durchschaubar und steuerbar sind: Willensfreiheit besteht – in Grenzen – in einer Autonomie interner Vorgänge in einer handelnden Person. Ganz allgemein vermute ich, dass es letztlich in Bezug auf die Erklärung von Bewusstsein prinzipielle Grenzen der Erkenntnis gibt, ähnlich wie in der Physik und Mathematik. Dabei geht es auch um die Problematik von Selbstbezug, also um die Grenzen des Bewusstseins von Bewusstsein. Ich sehe allerdings, ähnlich wie schon Cusanus im 15. Jahrhundert, Erkenntnisse über Grenzen der Erkenntnis eher positiv: Sie sind Folgen der Erweiterung, nicht der Verengung unseres Denkens. Menschliches Bewusstsein entstand zwar als Ergebnis biologischer Evolution, aber es begründet sehr allgemeine Fähigkeiten, die über den Anlass der Entstehung zu Jäger- und Sammlerzeiten weit hinausführen und sich erst in der kulturellen Entwicklung voll entfalteten, wie z. B. das strategische Denken und die kognitionsgestützte Empathie. Ich habe Gründe für die Vermutung erörtert, dass bei der Evolution des biologisch modernen Menschentyps vor vielleicht 200000 Jahren neue Meta-Ebenen der Informationsverarbeitung – ein Stichwort wäre hier Selbstbezug – in die Verschaltungen des neuronalen Netzes eingezogen wurden. Naturphilosophisch gesehen führt dies zu analogen Problemen mit ähnlichen entscheidungstheoretischen Konsequenzen, wie wir sie beim Übergang von armen zu reichen logischen Systemen kennen, besonders bei der Erweiterung der leistungsschwachen Aussagenlogik zur leistungsstarken Prädikaten- bzw. Quantorenlogik: Im Gegensatz zum schwachen lässt sich das starke System nicht mehr aus sich selbst heraus absichern, hat aber dafür im positiven Sinne ein sehr weites, offenes Potential. Zu den erstaunlichsten Potentialen des

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menschlichen Denkens gehört die moderne Naturwissenschaft, dieses späte Produkt europäischer Kulturgeschichte. Sie lässt sich wirklich nicht mehr vernünftig auf Evolutionsvorteile zu Jäger- und Sammlerzeiten zurückführen, und doch verbindet sie in erstaunlicher und überraschender Weise das menschliche Denken mit der Ordnung der Vorgänge und der Dinge: Eine spannende Herausforderung im Grenzbereich von Natur- und Geisteswissenschaften, insbesondere was das Verständnis – und Selbstverständnis – menschlichen Bewusstseins angeht.

Bibliographie Eine systematische Literaturliste zu den zahlreichen, hier angesprochenen Themen würde über den Rahmen dieses Essays hinausgehen. Um die Beziehung von Wissenschaft und Menschenbild, nicht zuletzt um die knappe Ressource Gemeinsinn, geht es in meinem Buch Gierer, 1998; dort finden sich, nach Teilthemen geordnet, Literaturhinweise auf den Seiten 289 – 312. Zu Grenzen der Dekodierbarkeit der GehirnGeist-Beziehung möchte ich verweisen auf den Artikel Gierer, 2008. Technikgeschichtliche Argumente zur Gehirnevolution sind Themen in Gierer 2004. Gierer, Alfred (1998): Im Spiegel der Natur erkennen wir uns selbst – Wissenschaft und Menschenbild. Reinbek: Rowohlt. http://www.eb.tuebingen.mpg.de/ departments/former-departments/a-gierer/Im%20Spiegel.pdf (Literaturhinweise 177 – 191). Volltext auch unter http://edoc.bbaw.de Gierer, Alfred (2004): Human brain evolution, theories of innovation, and lessons from the history of technology. In: Journal of Biosciences 29(3), 235 – 244. http://www.eb.tuebingen.mpg.de/departments/former-departments/a-gierer/Brain-Evolution.pdf Gierer, Alfred (2008): Brain, mind and limitations of a scientific theory of human consciousness. In: BioEssays (30), 499 – 505. http://www.eb.tuebingen.mpg.de/departments/former-departments/a-gierer/brain-mindbioess.pdf

Autorinnen und Autoren Dr. Katja Crone, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin School of Mind and Brain, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Prof. Dr. Alexandra Freund, Psychologisches Institut der Universität Zürich, Binzmühlestr. 14/11, 8050 Zürich, Schweiz Prof. Dr. Volker Gerhardt, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Philosophie, Unter den Linden 6, 10099 Berlin Prof. Dr. Alfred Gierer, Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, Spemannstr. 35, 72076 Tübingen Prof. Dr. Wilhelm Gräb, Humboldt-Universität zu Berlin, Theologische Fakultät, Burgstr. 26, 10178 Berlin Jan-Christoph Heilinger, M.A., Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin Prof. Dr. Andreas Heinz, Universitätsklinikum Charité, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Campus Charité Mitte, Schumannstr. 20/21, 10117 Berlin Prof. Dr. Hans J. Markowitsch, Universität Bielefeld, Abteilung für Psychologie, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Prof. Dr. Peter McLaughlin, Universität Heidelberg, Institut für Philosophie, Schulgasse 6, 69117 Heidelberg Dipl.-Psych. Fatima Napo, Freie Universität Berlin, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Bonhoefferweg 3, 10117 Berlin Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Oettingenstr. 67, 80538 München Prof. Dr. Martine Nida-Rümelin, Université de Fribourg, Département de Philosophie, Av. de l’Europe 20, 1700 Fribourg, Schweiz Prof. Dr. Klaus Oberauer, Department of Experimental Psychology, 12a Priory Road, Clifton, Bristol, BS8 1TU, United Kingdom Dr. Martina Piefke, Physiological Psychology Unit, Department of Psychology, University of Bielefeld, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld Prof. Dr. Wolfgang Prinz, Max Planck Institute for Human Cognitive and Brain Sciences, Stephanstr. 1A, 04103 Leipzig Prof. Dr. Michael A. Stadler, Universität Bremen, Institut für Psychologie und Kognitionsforschung, Grazer Str. 4, 28359 Bremen Prof. Dr. Achim Stephan, Institut für Kognitionswissenschaft, Universität Osnabrück, Albrechtstr. 28, 49076 Osnabrück Prof. Dr. Rudolf Stichweh, Soziologisches Seminar der Universität Luzern, Kasernenplatz 3, 6000 Luzern, Schweiz Prof. Dr. Dieter Sturma, Universität Bonn, Institut für Philosophie, Bonner Talweg 57, 53113 Bonn,

Namenregister Aristoteles 33, 35 f., 87 Austin, John L. 186 Bargh, John A. 124 Bateson, Gregory 200 f. Bennett, Jonathan 184 Bieri, Peter 4, 11, 86, 122 Bigelow, John 26 Bleuler, Ernst 249, 251, 259 Bluck, Susan 137–139 Boorse, Christopher 256 Borges, Jorge L. 67–69 Brentano, Franz 70–72, 179 Buchheim, Anna 223 Chalmers, David J. 6-14, 44, 84, 120, 164 Clore, Gerald L. 132 Creutzfeld, Otto 162 Crick, Francis C. 162 Crone, Katja 3, 12 Culver, Charles M. 255 Cummins, Robert 14, 28, 30 f. Daneman, Meredith 121 Danto, Arthur C. 190 Davidson, Donald 178 Demmerling, Christoph 215 Deutsch, Roland 63, 128, 131, 184 Du Bois-Reymond, Emil 161,163 f. Durkheim, Émile 202 Eckhorn, Rainer 168 Ehrenfels, Christian von 165 Eibach, Richard P. 137 f. Evans, Gareth 93, 252 Fechner, Gustav Theodor 163, 224 Fischer, Julia 178 Fitzsimmons, Gráine 124 Foucault, Michel 207 Frank, Manfred 63, 263

Frankfurt, Harry G. 191, 193 Freud, Sigmund 200, 219–221, 247–249, 262 Freund, Alexandra 17, 119, 124 f. Gallagher, Shaun 136 Gawronski, Bertram 128, 131 Gerhardt, Volker 14, 17, 103 Gert, Bernard 255 Gierer, Alfred 267, 282 Gödel, Kurt 268, 280 Goldie, Peter 215, 221f. Gräb, Wilhelm 17, 229 Grice, Herbert P. 184 f. Habermas, Tilmann 137–139 Heilinger, Jan 3 Heinz, Andreas 245 f., 249–251, 253 f., 256 f. Heisenberg, Werner 268 Hempel, Carl Gustav 26–31 Henrich, Dieter 263 Hering, Ewald 135 Hilbert, David 280 Hume, David 260 f. Husserl, Edmund 201, 205 Jackson, Frank 11, 14, 42 f. Jackson, John H. 246–249 Jaynes, Julian 74 f. Jeffrey, Richard 181 Kächele, Horst 223 Kant, Immanuel 14, 24, 32, 71f., 91–94, 229, 260 Kessler, Henrik 147, 223, 227 Köhler, Wolfgang 164, 166–169, 173 Korsgaard, Christine 192 Landweer, Hilge Laotse 166

215

286

Namenregister

Lashley, Karl S. 168 LeDoux, Joseph 213–221, 224–227 Leibniz, Gottfried 85 f. Levine, Joseph 7, 13 f., 43, 45, 51, 54 Lévi-Strauss, Claude 252 f. Levy, Erwin 168 Lévy-Brühl, Lucien 251 f. Lewis, David 184 Libby, Lisa K. 13 f. Libet, Benjamin 275 Lorenz, Konrad 276 Luhmann, Niklas 80, 20 f., 205, 207 Maguire, Eleanore D. 140 Malinowski, Bronislaw 251 Markowitsch, Hans J. 135, 141–143, 146, 148 f., 160 McLaughlin, Peter 13 f., 18, 21, 31, 34, 36 Mead, George Herbert 206 Merikle, Philip 121 Metzger, Wolfgang 166 Millikan, Ruth 21 Morgenstern, Oskar 183 Müller, Georg E. 163, 166 Müller, Johannes 163 Nagel, Ernest 26–28, 30 f. Nagel, Thomas 7 f., 10 f., 39, 41 Napo, Fatima 245 Nida-Rümelin, Julian 12, 18, 177, 180, 185, 188, 191 Nida-Rümelin, Martine 39 f., 43, 45, 51, 60 Oberauer, Klaus

17, 119

Panksepp, Jaak 220 Pargetter, Robert 26 Parsons, Talcott 200 Pasupathi, Monisha 137 f. Piaget, Jean 200 Piefke, Martina 135, 140–143

Popper, Karl Raimund 246, 263 Prinz, Wolfgang 63, 75, 79 Pritchard, Evans 252 Ratzinger, Joseph 65 f., 77, 80 Rencˇín, Vladimír 68 Rensch, Bernhard 165 Roth, Gerhard 161, 223, 262 Ryle, Gilbert 95 f. Scheerer, Eckhard 167 f. Scheler, Max 180 Scherer, Klaus 225 f. Schleiermacher, Friedrich 229, 234 Schneider, Kurt 259 f. Schramme, Thomas 255, 257 Schwarz, Norbert 42, 132 Searle, John R. 9, 26 Sellars, Wilfrid 91, 98 f. Siewert, Charles 40 Singer, Wolf 140, 168 Smith, Adam 77 f. Sperry, Roger W. 168 Stadler, Michael A. 161, 170–172, 174 Stephan, Achim 18, 213, 219, 224 Stichweh, Rudolf 17, 199, 206 f. Strack, Fritz 128, 131 Sturma, Dieter 83, 85 f., 91 f., 94 f. Tugendhat, Ernst 245, 262, 264 Tulving, Endel 135–137, 141 Vico, Giambattista

63 f.

Wang, Qi 139 Weinberger, Daniel R. 249 Wertheimer, Max 166 Whorf, Benjamin Lee 185, 260 Wittgenstein, Ludwig 95, 184 Wowereit, Klaus 81 Wright, Georg H. von 33–36 Wright, Larry 29 f. Wulff, Erich 260

Sachregister Affekt 219 – Affektprogramme 213 f., 220 Akteur 66, 76 f., 79, 84, 99, 114, 178, 183, 190, 193, 200 Amnesie 142 f., 146, 160 – anterograde Amnesie 146 – psychogene Amnesie 141, 145 f., 147–151 – retrograde Amnesie 146, 149 Apperzeption, transzendentale 71 f. Appetenz s. Coping Appraisal 225 – Appraisal-forschung 225 – Appraisal-prozesse 226 – Appraisal-theorien 226 Artefakte 25, 34, 37, 63–67, 69, 77, 80 f. – Auto-Artefakte 80 – soziale Artefakte 64 f., 80 – technische Artefakte 64 f. Autonomie 191, 210, 281 Behaviourismus 8, 40 Beobachter 66 – äußerer Beobachter 95, 97 – Beobachterperspektive 63, 138, 213, 224 Bewusstsein – anoetisches Bewusstsein 137 – autonoetisches Bewusstsein 135–137, 139, 141, 143 f. – Bewusstseinsarten 137 – Bewusstseinsbegriffe 70, 201 – Bewusstseinserscheinung 72 – Bewusstseinsformen 14, 136, 178 f. – Bewusstseinsforschung 3, 162, 219 – Bewusstseinsinhalte 8, 121, 263 – Bewusstseinsmodelle 90, 245 f. – Bewusstseinsproblem 84 f., 269, 280

– Bewusstseinsprozesse 10, 162 – Bewusstseinstatsachen 66 – Bewusstseinstheorie 6, 91, 112, 230 – Bewusstseinsvorgänge 236, 267 – Enttechnisierung des Bewusstseins 204 – Enttopikalisierung des Bewusstseins 204 – Funktionalisierung des Bewusstseins 202 – hochindividualisiertes Bewusstsein 209 – menschliches Bewusstsein 8, 84 f., 87–92, 95, 98, 144 f., 150 f., 229, 250, 267, 269, 272 f., 281 f. – Naturalisierung des Bewusstseins 21 f., 29, 36, 86 – noetisches Bewusstsein 135 f. – phänomenales Bewusstsein 3, 8–10, 14, 16 f., 39 f., 44, 46, 50–53, 55, 57, 120 – psychologisches Bewusstsein 120 – religiöses Bewusstsein 229–239, 242 – Zugriffsbewusstsein 8 f., 120, 123 Blindsight 8 f. Collective choice-Theorie 181 Common sense 76 Consciousness 7 f., 85, 201 – access consciousness 8 – creature consciousness 4 – hard problem of consciousness 7, 11 – neural correlates of consciousness 170 – phenomenal consciousness 8 – stream of consciousness 208 Coping-Potential 226 Dekodierung 267, 269, 275, 282 Deliberation 11 f., 122, 192 desire/belief-Theorie 188

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Sachregister

Determination, kausale 122 Determinismus 171, 276 Dissolution 247, 250 Dissoziation 121, 127 f., 130, 133 Doppel-Aspekt-Theorie 173 Dualismus 58 f., 61, 234 – Eigenschaftsdualismus 7, 43 f., 57 – Subjekt-Körper-Dualismus 58 – Substanzdualismus 59 Eigenschaften 3, 5, 12, 16, 34, 43 f., 46–51, 53–59, 63, 65 f., 77, 87 f., 90, 93, 95, 166 f., 189, 205 f., 252, 271 – biologische Eigenschaften 34 – epistemische Eigenschaften 16 – geistig-seelische Eigenschaften 44, 47, 59 – kausale Eigenschaften 3 – komplexe Eigenschaften 48 – moralische Eigenschaften 189 f. – neuronale Eigenschaften 57 f. – phänomenale Eigenschaften 10, 15, 44, 46–53, 56 f., 59, 169 – g-phänomenale Eigenschaften 47–58 – physikalische Eigenschaften 43 f. – physiologische Eigenschaften 53, 169 – qualitative Eigenschaften 49, 52, 55 f., 167 – spezifische Eigenschaften 5 Einstellungen 14, 83 f., 94–96, 178, 192, 199, 214, 227, 277 – epistemische Einstellungen 178 – intentionale Einstellungen 84 – mentale Einstellungen 94 – propositionale Einstellungen 93, 180 f. 183, 194 Eliminativismus 40, 85, 90 Emergenz 161, 171, 173 Emotion 18, 58, 76, 78 f., 143, 148, 180, 189, 213–215, 219–224, 260 – Basisemotion 219 – Emotionsforschung 213, 219, 225 – Emotionssystem 214 f. Empathie 270, 274

– kognitionsgestützte Empathie 269 f., 281 Empfindung 46, 58, 107, 164, 237, 278 Empfindlichkeit 107 Entscheidungstheorie 181, 194 – mathematische Entscheidungstheorie 268 – revealed preference-Konzept 181 Erinnerung 122, 135–139, 142–146, 148–150, 269 Erklärung 10, 11 f., 21 f., 25, 27, 29, 45, 55, 84, 171, 178, 261, 276, 281 – ätiologische Erklärung 29 – funktionale Erklärung 24, 26, 29 – funktionalistische Erklärung 13 f. – materialistische Erklärung 43, 45 – naturalistische Erklärung 32 – physikalistische Erklärung 8, 44 – reduktive Erklärung 11 – teleologische Erklärung 13 Erklärungslücke 7, 41, 43–45, 53 f. Erleben 3–7, 10, 12, 14–16, 18, 40–44, 48–52, 55, 58–60, 83, 136, 170, 210, 213, 219 f., 236 f., 242, 259, 261 – bewusstes Erleben 7 f., 43, 59, 70, 119, 162, 165, 220, 272, 274 – phänomenales Erleben 3 f., 6–9, 15, 17 f. – subjektives Erleben 3, 7 f., 10–12, 83 Erlebniszustände 10 – phänomenale Erlebniszustände 4, 16 – qualitative Erlebniszustände 10, 13 f. – subjektive Erlebniszustände 11 error-theory 189 Evolution 56 – 59, 74, 136 f., 144, 165, 168, 202, 204, 207, 214 f., 219, 225, 245–251, 253, 263, 269–273, 278 f., 281 Explanandum 10, 14, 50, 54 false fame-Effekt 131 Fehlschluss 9, 35, 88

Sachregister

Fitness 29 f., 75, 270 Freiheit 18, 94, 108, 177, 187, 191 f., 195, 199, 207, 210, 238, 255, 273 f., 276, 281 – Freiheitsgrad 122 Fugue 146 f. Funktionsanalyse 25, 28 Funktionsträger 25–31, 33, 36 Funktionszuschreibung 9, 25, 27–30, 33, 205 Funktionalismus 8, 12–14, 22 – analytischer Funktionalismus 40 – funktionale Relationen 13 – machine functionalism 13 Gedächtnis 135–137, 140, 143, 146, 148, 150, 258 – autobiographisches Gedächtnis 135, 137–139, 144 – bewusstes Gedächtnis 140 – episodisches Gedächtnis 136, 157 f. – explizites Gedächtnis 136 – Gedächtnisaufgaben 141 f. – Gedächtnisfunktionen 141 f., 150 – Gedächtnisleistung 145 f., 149, 259, 263 – Gedächtnisstörung 146 f., 149, 160 – Gedächtnissystem 135 f., 157 – implizites Gedächtnis 136 – Kurzzeitgedächtnis 147 f., 258 – Langzeitgedächtnis 136, 140, 147, 149, 258 – perzeptuelles Gedächtnis 136 – prozedurales Gedächtnis 136 – semantisches Gedächtnis 136, 147 – Quellengedächtnis 145 Gehirn 7, 42, 45–48, 56, 84, 89, 104, 108–110, 140, 146, 148–151, 161–168, 173, 216, 219 f., 223, 225, 227, 246–250, 254, 256, 262 f., 268, 270–272, 274 f., 278–280 – Gehirnaktivität 171, 274, 277–279 – Gehirneigenschaft 277 – Gehirnentwicklung 246, 278

289

– Gehirnfähigkeit 270 f., 267 – Gehirnforschung s. Hirnforschung – Gehirn-Geist-Beziehung 267 f., 275, 281 f. – Gehirnprozesse 39 f., 46–49, 52–57, 162, 167, 169, 171, 173, 267, 272, 279 – Gehirnstruktur s. Hirnstruktur – Gehirnvorgang 48, 51 – Gehirnzustand 48, 50, 52, 268 Handlung 4, 11, 15–17, 23 f., 40, 60, 75–79, 84, 94, 96, 99, 107, 123, 125, 133, 136, 138, 170, 173, 178, 182, 187–191, 195, 199, 219, 230, 259–261, 273–275 – Handlungsautorenschaft 79 – Handlungsentscheidungen 76 – Handlungsmodell 123, 133 – Handlungsoptionen 17, 99, 237, 269, 272 – Handlungssequenzen 17 – Handlungssteuerung 9, 17, 123 Hirnforschung 3, 6, 74, 78, 161 f., 224, 273 f. Hirnstruktur 3, 6, 74, 78, 140 f., 143, 161 f., 218, 221, 223 f., 273 f., 278 Holismus 180 f. Identität 17, 41, 54, 60, 93, 138 f., 169, 171, 193 f., 202 f. – Identitätsentwicklung 137, 139 – Identitätstheorie 40 f., 45, 169 f. Individualismus 74 Individualität 72, 206 f., 209, 235 Information 6, 16, 105–108, 137, 141–143, 145–149, 194, 201, 217, 219, 280 Informationsverarbeitung 59, 123, 136, 270–272, 281 Intentionalität 14, 21 f., 26, 29, 32, 89, 177–180, 187 f., 190–192, 201 Interferenz 144 – Interferenzeffekte 144 f. Isomorphie 161, 164, 166–169, 173

290

Sachregister

Knowledge-Argument 11 Kognition 75, 80, 119 f., 143, 163, 262 – Kognitionswissenschaften 8, 12, 66 f., 72–74 Kohärenz 135, 139, 144 f., 169, 183 f., 233 Kommunikation 17, 78 f., 105, 109 f., 112, 115, 186, 199–202, 204–208 Konsistenz 135, 138, 144 f. Konsolidierungstheorie 142 Konstruktion 80, 98, 139, 144, 150 f., 246, 251–253, 257, 262, 278 f. – Ko-Konstruktion 138 – mentale Konstruktion 139, 144 – Selbstkonstruktion 139, 144 Konstruktivismus 72 f. Korrektiv 17, 119, 127, 130 f., 133 Korrelate 167 – emotionale Korrelate 274 – hirnorganische Korrelate 258 – kortikale Korrelate 167, 173 – neuronale Korrelate 3, 163, 223 – organische Korrelate 263 – physiologische Korrelate 164 Korrelationsforschung 162 Kovarianz 163 Kreationismus 277 Kreiskausalität 170 f. Kultur 64, 76 f., 105, 112 f., 197, 231, 240, 253, 259–261, 269 – Kulturfähigkeit 269 – Kulturgeschichte 269, 278, 282 – Kulturphilosophie 64 Laser-Theorie 171 Leben 35 f., 50, 57, 67, 77, 93, 99, 103 f., 106, 108, 111 f., 115, 132, 137, 144, 147, 193, 201, 218, 222, 231–234, 237–246, 258, 278 – Lebensbewältigung 111 – Lebensdeutung 235, 240–242 – Lebenserfahrung 137 f., 234 – Lebensform 83 f., 95 f., 98 f., 111, 114 f., 186, 191, 241 – Lebensführung 147, 230, 241

– Lebensführungspraxis 234 Lebensgeschichte 138 f., 146–148 Lebensimpuls 116 Lebenskunst 275, 277, 279 Lebensleistung 109, 112 Lebensphasen 144 Lebenspraxis 76 Lebensprozess 103–105, 108 f., 112 – Lebensraum 86 – Lebenssituationen 137, 144, 147 f., 149 – Lebensstadien 140 – Lebenssteuerung 115 – Lebensvollzüge 104 – Lebensvorgang 104, 108 – Lebenswelt 18, 83, 87, 140, 150 f. – Lebenszusammenhang 111, 243 Lebendiges 14, 36, 103, 109 Lebendigkeit 107 Leib-Seele-Problem 162, 219 Leistung 9, 23, 25, 27 f., 31, 35 f., 73, 75, 79, 92, 103–109, 111–115, 141, 162, 201, 205, 209 f., 229, 232–234, 238, 243, 263 – Diskriminationsleistung 121 – Integrationsleistung 272 Lingualismus 184 f. Logik 89, 109, 113, 116 – Quantorenlogik 281 – – – – – – –

Materialismus 11, 41, 43 f., 92 – materialistische Beschreibung 41 – materialistische Erklärung 43, 45 – materialistische Position 10 – materialistische Theorie 45, 56 mind-reading 275 Missrepräsentation 22 Mitteilung 103–112, 114–117, 119–121 Mitteilbarkeitskriterium 121 mongrel concept 5 Multiple Trace Theory 142, 158 Natur 25 f., 32, 43 f., 47, 51, 53, 55, 60 f., 64, 66, 70, 81, 85, 97,

Sachregister

105 f., 108, 112–114, 163, 169–171, 215 f., 276, 282 – Naturgesetz 94, 274, 280 – Naturtatsachen 63–66, 77 – Naturwissenschaft 7, 12, 41, 85, 87, 94, 98, 161, 192, 246, 267, 273 f., 276 f., 282 Naturalismus 72 naturalistisch 12, 17 f., 21 f., 26, 28, 32, 67, 72, 84 f., 87, 191 f., 195 Negation 16, 128–131, 234 Neurobiologie 61, 140, 268 f., 273–280 Neuro-Imaging 277 neuronale Plastizität 140, 150 Neurowissenschaften 3, 5 f., 61, 89, 250 Ontologie 63–66 Organ 13, 22, 25, 29 f., 35, 72 f., 76, 104, 106–110, 113, 115, 165, 256, 263 Organismus 3 f., 12 f., 16, 18, 23, 25, 28 f., 36, 42, 46, 52, 54, 58, 103, 105–111, 113, 115, 122 f., 125, 127, 166, 229, 235, 239, 242 Panpsychismus 165 Paradigma 12, 69, 128 f., 168, 200, 250 Partizipation 103, 115 Person – erste Person 7 f., 24, 91, 138, 237 – dritte Person 6, 10, 138 Personalität 63, 72 Perspektive 6, 8, 10, 14, 25 f., 28, 57, 66, 84, 91, 93, 95, 98, 122, 135, 137 f., 144, 147, 213, 215, 220, 224, 232, 237 – Erlebnisperspektive 12, 83–85, 89, 93, 98 – Teilnehmerperspektive 213 Perspektivabhängigkeit 11 Philosophie des Geistes 12, 21 f., 29, 49, 61, 73, 83–86, 90 f., 95 Physikalismus 267, 274 Politik 103 f., 114, 275 Priming 128–131, 136

291

Prozess 4, 7 f., 12, 15, 17 f., 25, 46, 48–51, 73, 75, 80 f., 97, 99, 104, 106, 109–111, 115 f., 123–125, 127, 137 f., 163 f., 167–171, 173 f., 193, 207, 213, 218–221, 223–226, 233, 237, 242, 247, 271 f., 274, 277 – analytische Prozesse 270 – automatische Prozesse 119, 124 f. – bewusste Prozesse 12, 123 f., 127 – deliberative Prozesse 125 – mentale Prozesse 10, 120, 169 – natürliche Prozesse 12 – neuronale Prozesse 11, 46, 49, 52, 56, 58, 170, 239 – unbewusste Prozesse 133, 201, 219 Psychologie 17, 70, 73 f., 92, 119–123, 131, 162 f. – Empirische Psychologie 120 – Gestaltpsychologie 162, 165 Psychophysik 163 f., 224, 268 Qualia 3, 10, 15 f., 49, 89, 163, 167, 173, 224 Reaktion 51, 86, 90, 107 f., 110, 121 f., 124, 130, 132 f., 202, 215–217, 219, 221, 223–227, 239 Realismus 84 f., 189 Referentialität – Fremdreferentialität 201 – Selbstreferentialität 5, 202 Regressus 28, 31–33 – funktionaler Regressus 6, 31, 80, 235 f. Reiz 107, 110, 122–125, 129, 132, 166, 173, 216, 218, 225, 227 Repräsentation 17, 21 f., 79 f., 120, 122–124, 206, 208, 210, 232, 262, 270, 272 role-taking 206 Selbst 4–7, 12, 14, 17 f., 22–24, 28, 30 f., 33–36, 44, 47–50, 59 f., 65–67, 71–73, 75–80, 83, 88, 91–96, 103–105, 108, 110, 112–114, 116 f., 119, 128, 130,

292

Sachregister

135 f., 138 f., 144, 148, 150 f., 165–169, 171, 186–188, 193, 195, 200–202, 204, 206 f., 209, 213, 220 f., 223–226, 229 f., 233–243, 245 f., 250, 254, 259–262, 268, 270, 275, 279–281 – Selbstbestimmung 191, 237 f., 241 – Selbstbewusstsein 83 f., 87, 89–95, 108, 114–117, 177, 192–195, 234–236, 242, 250, 254, 262 f. – Selbstbezug 107, 139, 236, 263, 267–269, 272, 275, 281 – Selbstbild 270 – Selbstdeutung 234 f., 241, 243 – Selbsterhaltung 36 f., 111, 115 – Selbsterkenntnis 87, 92 f. – Selbstgefühl 17 – Selbstkonzept 137 f. – Selbstorganisation 103, 109 f., 171, 206, 270–272 – Selbstproduktion 36 f. – Selbstrepräsentation 270 – Selbstverständnis 230–232, 236 f., 277 f., 282 – Selbstvertrautheit 84, 87, 93 – Selbstwahrnehmung 137, 237, 261 f. – Selbstzuschreibung 77, 92 f. Skepsis 11, 13, 268, 275, 280 Spiegel – Spiegelmetapher 78 – Spiegelpraktiken 76, 78–80 – Spiegeltest 193 Spiegelung 78 Sprache 44, 47, 53, 61, 76, 78, 95, 112 f., 116, 169, 178, 184–186, 192, 239 f., 243, 252, 260, 269, 274 Subjekt 14, 17, 23 f., 31 f., 39 f., 44, 46–61, 63, 69, 71, 77, 79–81, 89, 92, 116, 164, 171, 173, 220, 227, 238, 261 Subjektivität 66 f., 69 f., 72–74, 76–78, 80 – Subjektivitätskonzeptualisierungen 72

Synergetik 170 System 6, 13 f., 22–28, 31, 33, 36, 43, 45, 55, 58 f., 72, 79 f., 89, 107, 136, 150, 166, 170–173, 178, 199 f., 207, 209, 214 f., 219–221, 225, 252 f., 268, 281 – Abwehrsystem 215 f., 219 f. – Emotionssystem 214, 219–221, 225, 227 – Erregungssystem 220 – Furchtsystem 215–221 – kognitives System 3, 6 f., 12 f., 170 f., 173 f. – komplexes System 25 f. – materielles System 24 – psychisches System 199 f., 203 – soziales System 199 f., 202, 205, 208, 210 – Systemleistung 28, 31 – Systemtheorie 169, 270 Teleosemantik 21 f., 29, 33 Theory of Mind 207 Turing-Test 121 turn-taking 206 umbrella term 5 Umwelt 16, 18, 83, 105–107, 111, 125, 185, 200, 239, 248 – Umwelteinflüsse 140 Verhalten 10, 13, 25, 94 f., 98 f., 106, 111, 113, 119–127, 140, 147, 150, 162, 170–172, 177 f., 181, 184, 189, 191 f., 194, 203, 206, 214, 216, 230, 237–240, 273 – Verhaltensabfolge 120 – Verhaltensaktivierung 125 – Verhaltensabläufe 123, 125–127 – Verhaltensbedingungen 192 – Verhaltensbestandteile 190 – Verhaltensdisposition 268 – Verhaltensforscher 276 – Verhaltenskontrolle 6, 9 – Verhaltenskriterien 121 – Verhaltensmöglichkeiten 99 – Verhaltensmuster 22 – Verhaltensregeln 184

Sachregister

– – – –

Verhaltensregulierung 115 Verhaltenssteuerung 9, 106–108 Verhaltensstudien 131 Verhaltenstendenzen 40, 189, 205, 215, 247 – Verhaltensvielfalt 226 – Verhaltensweise 25, 83, 95, 111, 113, 119, 131, 144, 150 f., 189, 215, 247 – Verhaltenszusammenhänge 207 verum-factum-Prinzip 64 Wille 24, 171, 229, 231, 241, 274 f.

293

Willensfreiheit 87 f., 213, 273–275, 281 Wissen 42 f., 50, 63, 66 f., 74 f., 78 f., 83, 117, 124, 130 f., 149, 163, 167 f., 178, 186, 189, 195, 204, 209, 214, 231, 243, 269, 272, 275 f., 281 – propositionales Wissen 126, 178 Zielaktivierung s. Verhaltensaktivierung Zwei-Prozess-Modell 123 f.