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German Pages [125] Year 2018
Frithjof Rodi
Diltheys Philosophie des Lebenszusammenhangs Strukturtheorie – Hermeneutik – Anthropologie
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495813867
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B
Frithjof Rodi Diltheys Philosophie des Lebenszusammenhangs
VERLAG KARL ALBER
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Im Rückblick auf die Diltheyforschung der vergangenen Jahrzehnte verfolgt Frithjof Rodi einige der das ganze Werk Diltheys durchziehenden Linien in ihrer Genese und ihren Verflechtungen. Jede Studie des Bandes thematisiert eines der Hauptthemen des Philosophen, von den Kategorien der Ganzheit und des Zusammenhangs über den Strukturbegriff, die vergleichende Anthropologie und Typologie bis zum historischen Grundbegriff des Wirkungszusammenhangs. Redundanzen in der Analyse werden bewusst herbeigeführt, um die Verzweigungen der Thematik deutlich zu machen. Ein sich durchhaltendes Motiv ist die Spannung zwischen gewissen organologischen Ausgangspositionen des frühen Dilthey und ihrer Transformation in den hermeneutisch-phänomenologischen Beschreibungen im Spätwerk. Im Begriff Lebenszusammenhang sind diese Spannungen in besonderer Weise gebündelt.
Der Autor: Frithjof Rodi, emeritierter Professor der Philosophie an der RuhrUniversität Bochum, war als Mitherausgeber der Gesammelten Schriften von Wilhelm Dilthey zugleich Begründer und langjähriger Leiter der Bochumer Dilthey-Forschungsstelle und Herausgeber des Dilthey-Jahrbuchs, sowie Mitherausgeber der amerikanischen Dilthey-Ausgabe. Bei Alber erschien 2015 Über die Erfahrung von Bedeutsamkeit (272 S.).
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Frithjof Rodi
Diltheys Philosophie des Lebenszusammenhangs Strukturtheorie – Hermeneutik – Anthropologie
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48837-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81386-7
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Nur weil das Leben selbst ein Strukturzusammenhang ist, in welchem die Erlebnisse in erlebbaren Beziehungen stehen, ist uns Zusammenhang des Lebens gegeben. (Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, VII, S. 195)
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Inhalt
Zur Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Drei Bemerkungen zu Diltheys Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik von 1900 . . . . . . . . . . .
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Dilthey zwischen Kant und Goethe. Zur Genese der Lebenskategorien Ganzheit und Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Diltheys Strukturbegriff im Kontext von Naturwissenschaft und Philosophie des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . .
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Das Besondere und das Allgemeine in Diltheys Theorie des Typus. Anmerkungen zu seiner Vergleichenden Psychologie . . .
70
Psychologie oder Anthropologie? Vom Lebenszusammenhang zur Geschichte . . . . . . . . . .
92
Die Verwurzelung der Geisteswissenschaften im Leben. Zum Verhältnis von ›Psychologie‹ und ›Hermeneutik‹ im Spätwerk Diltheys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
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Zur Zitierweise
Aus Diltheys Gesammelten Schriften (Ges. Schr.) wird unter Angabe der römischen Band- und arabischen Seitenzahlen zitiert. Auf folgende der hier besonders häufig zitierten Einzelschriften wird im Text mit Kurztiteln Bezug genommen: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Ges. Schr. VII, 79–188. = Aufbau Beiträge zum Studium der Individualität. Ges. Schr. V, 241–303. (Der von Dilthey veröffentlichte Teil der Fragment gebliebenen Abhandlung Über vergleichende Psychologie). = Beiträge Breslauer Ausarbeitung des Zweiten Bandes der »Einleitung in die Geisteswissenschaften«. Ges. Schr. XIX, 58–227. = Breslauer Ausarbeitung Einleitung in die Geisteswissenschaften. Ges. Schr. I. = Einleitung Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. Ges. Schr. V, 139–237. = Ideen Leben Schleiermachers. Ges. Schr. XIII/1 = Schleiermacher Die Mannigfaltigkeit des psychischen Lebens und ihre Einteilung. Ges. Schr. XVIII, 112–185. = Mannigfaltigkeit 9 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
Zur Zitierweise
Über vergleichende Psychologie. (Die Fragment gebliebene größere Abhandlung, aus der von Dilthey selbst nur die Beiträge veröffentlicht wurden). Ges. Schr. V, 241–316. = Vergleichende Psychologie Gudrun Kühne-Bertram/Hans-Ulrich Lessing (Hrsg.): Wilhelm Dilthey. Briefwechsel. Bd. I (1852–1882). Göttingen 2011; Bd. II (1882–1895). Göttingen 2015. = Briefwechsel I u. II Georg Misch: Vorbericht zu den Bänden V und VI von Diltheys Ges. Schr. V, VII–CXVII. = Misch, Vorbericht
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Einleitung
Blickt man zurück auf die nun schon über einhundertjährige Rezeptionsgeschichte der Philosophie Wilhelm Diltheys, fällt auf, mit welcher Beharrlichkeit selbst heute noch über einige von ihm formulierte Gegensätze diskutiert wird. Am augenfälligsten und mit dem Namen Diltheys am engsten verbunden ist die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Hier bestand von Anfang an eine gewisse Unklarheit darüber, ob mit dieser Unterscheidung ein ausschließender Gegensatz oder ein komplementäres Verhältnis zwischen den beiden Hemisphären des Wissenschaftsglobus zu verstehen sei. Dass im Hintergrund dieser Dichotomie der Gegensatz von Erklären und Verstehen liegt, ist zwar wissenschaftsgeschichtlich eine Selbstverständlichkeit, im Verständnis der verschiedenen Disziplinen jedoch kein allgemeiner Konsens. Längst haben die Naturwissenschaften das Verstehen auch für sich reklamiert 1, wie umgekehrt in den Geisteswissenschaften neue Tendenzen einer »Verwissenschaftlichung« unverkennbar sind. Durch all diese Grenzziehungen und -verwischungen gerät die eigentliche Quelle dieses dichotomischen Denkens in den Hintergrund. Es ist Diltheys Rekurs (»Selbstbesinnung«) auf die Ganzheitlichkeit des psychischen Lebens und damit auf die Ganzheitlichkeit unseres Verhältnisses zur Welt. Die »Totaltatsache des Lebens« An neuester Literatur zur philosophischen Auflockerung der Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften vgl. den Sammelband Dilthey als Wissenschaftsphilosoph, hrsg. v. Chr. Damböck u. H.-U. Lessing. Freiburg/München 2016; vor allem die Beiträge von G. Kühne-Bertram: Zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften sowie J. de Mul: The syntax, pragmatics and semantics of life. Dilthey’s hermeneutics of life in the light of contemporary biosemiotics. – Vgl. ferner J.-Cl. Gens: Die Aktualität von Diltheys Naturphilosophie. In: G. Scholtz (Hrsg.): Diltheys Werk und die Wissenschaften. Neue Aspekte. Göttingen 2013.
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Einleitung
ist für ihn »der wahre Ausgangspunkt einer Erfahrungsphilosophie und der Psychologie auf diesem Standpunkte« (XVIII, XXVIII). Diese Grundüberzeugung war in ihm schon vorherrschend, bevor er dafür den geeigneten Namen fand: Struktur. Er verband diesen Begriff ursprünglich mit der Konzeption eines »Funktionskreises« von Denken, Fühlen und Wollen, ohne sich allerdings der traditionellen Theorie von drei »Seelenvermögen« als selbständigen psychischen Kräften anzuschließen. Er betonte jedoch die Präsenz kognitiver, emotiver und volitionaler Elemente in jedem »Erlebnis« genannten Lebensmoment. Die Herausarbeitung dieses anthropologischen Grundbefundes kam zu dem Resultat, dass sich eine Theorie des Wissens nicht ausschließlich auf die kognitiven Leistungen konzentrieren dürfe, sondern in jedem untersuchten Gegenstandsbezug auch die emotionalen und volitionalen Bestandteile zu berücksichtigen habe. Von hier aus ergab sich eine Zweiteilung der Wissenschaft in dem Sinne, dass die Erforschung der menschlichen Welt und ihrer Objektivationen in den Geisteswissenschaften ein anderes Maß ganzheitlichen Verstehens voraussetze, als es etwa bei der Entdeckung und Anwendung von Naturgesetzen der Fall sein könne. Diese verlangten vom Naturwissenschaftler eine asketisch zu nennende Beschränkung auf primär kognitive Prozesse und eine »selbstlose« Objektivität. Dies hat zu einer noch Anfang des 20. Jahrhunderts unvorstellbaren Aufwertung des Begriffs Hermeneutik beigetragen. Diltheys immenser Anteil an dieser Entwicklung fand auf zwei Ebenen statt. Einerseits war er durch seine Schleiermacher-Studien ein ausgewiesener Fachmann für die mit dem Thema Hermeneutik verbundenen Spezialprobleme wie die ›grammatische‹ und die ›technische‹ Interpretation, die ›divinatorische‹ und die ›komparative‹ Methode, den ›hermeneutischen Zirkel‹ usw. Aber diese Themen spielen im Gesamtwerk nur eine geringe Rolle. Dilthey war kein »Hermeneutiker« im sozusagen handwerklichen Sinn und wollte es auch nicht sein. Umso nachhaltiger beschäftigte ihn das Verstehen in seiner anthropologischen Dimension als die eine Seite unseres Weltverhältnisses. In diesem Sinne war er Repräsentant eines Denkens, das unter Berufung auf Goethe und die deutsche Romantik bei den Phänomenen immer vom Ganzen ausging, um die Teile zu verstehen und doch wieder aus den Teilen das Ganze erstehen zu 12 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
Einleitung
lassen. Das hermeneutische Prinzip des Zirkels galt also nicht nur für das Verstehen von Texten. Dies ist die universale Ebene der Hermeneutik, zu der nach Diltheys zeitgebundener Meinung im Wesentlichen nur die Geisteswissenschaften Zugang haben. Wenn sich auch aus diesem Gegensatz eine dualistische Wissenschaftssystematik ableiten ließ, so enthielt der ganzheitliche Ansatz zugleich doch auch die Kraft, diesen Dualismus zu sprengen. Denn jede philosophische Beschäftigung mit dem Begriff der Ganzheit stößt irgendwann auf das Thema »Organismus« – sei es als Denkmodell, Metapher, »Urphänomen« oder Schema des Verhältnisses von Teilen zum Ganzen. Dilthey ist durch seinen Lehrer Trendelenburg auf diesen Problemzusammenhang aufmerksam geworden. Wenn er sich auch dessen »organischer Weltansicht« nur mit Vorbehalten anschloss, so hat er doch zur Biologie im weitesten Sinne lebenslang eher einen Bezug der Zugehörigkeit als den der Fremdheit gehabt. In den hier vorgelegten Aufsätzen wird diesem Bezug in verschiedenen Bereichen nachgegangen, dabei aber auch immer auf die Grenzen dieser Beziehung geachtet. So wird in der dritten unserer Drei Bemerkungen auf die selten hervorgehobene Tatsache verwiesen, dass Dilthey neben seinem sprichwörtlich gewordenen Wissenschaftsdualismus auch eine dreigliedrige Systematik gekannt hat. Diese ergab sich aus der Zwischenstellung der organischen zwischen der anorganischen Natur und der menschlich-geschichtlichen Welt. Vehikel einer solchen Relativierung des Dualismus sind neben dem Strukturbegriff u. a. die Kategorien der Ganzheit und des Zusammenhangs, der Begriff des Typus und im Spätwerk der Begriff des Wirkungszusammenhangs. Die hier folgenden Studien gehen einerseits der Genese dieser Begriffe nach, versuchen aber auch, ihre Tragweite im jeweiligen Kontext zu bestimmen. Die Herkunft des Strukturbegriffs aus der Biologie ist für Dilthey zeitlebens eine Brücke zu organologischen Begriffen gewesen. ›Struktur‹ als Anschauungsschema steht im Allgemeinen zwar eher für ein statisches Gefüge als für einen dynamischen Funktionskreis und scheint mehr der physikalischen als der biologischen Begriffswelt anzugehören. Aber Diltheys Aufgreifen der dynamischen Konzeption der »Physiologisten« hängt zusammen mit seinem Begriff des Lebens als unauflöslicher Wechselwirkung von Selbst und Welt. Dies führt ihn allerdings in der mittleren Phase seines Schaf13 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
Einleitung
fens zur Zurückführung des ›Lebens‹ auf ein bereits in der animalischen Welt angelegtes Reiz-Reaktions-Schema. In ihm ist die Konzeption des Zusammenspiels von kognitiven, emotiven und volitionalen Leistungen gleichsam radikalisiert und simplifiziert: Der Anteil der »besonnenen« Gefühlsbewertung des Wahrgenommenen, also die »psychische Mitte zwischen Eindruck und Bewegung« (XIX, 102 f.), wird in diesem Modell bisweilen auf eine Reflexhandlung reduziert. Dies widerspricht natürlich seinen eigensten Intentionen, denen zufolge im Haushalt der menschlichen Psyche den Gefühlen und ihrer Wertschätzung des Wahrgenommenen ein bevorzugter Platz zukommt. In unseren Texten wird deshalb ein großes Gewicht auf die Tatsache gelegt, dass in Diltheys Strukturtheorie das Totalitätsmotiv, also die Triade von Wirklichkeitsauffassung (Denken), Wertgebung (Fühlen) und Zwecksetzung (Wollen), für sein gesamtes Denken ab ca. 1880 das Zentrum seiner Anthropologie darstellt, während die Reduzierung auf ein Reiz-Reaktions-Schema nur eine systematisch und zeitlich begrenzte Rolle spielt. Aber dies ist noch nicht das letzte Wort in seiner Strukturtheorie. Was schon in früheren Schriften angelegt, aber noch nicht zu einer ausgereiften Konzeption gekommen war, nämlich der Gedanke, dass die psychische Struktur ein System innerer erlebbarer Beziehungen darstellt, wird wenige Jahre vor Diltheys Tod neu aufgegriffen. Er besagt, dass jedes Erlebnis gleichsam aufgefangen wird in einem Netz von Bezügen des Erinnerns und der positiven oder negativen Bewertung. Es tritt nicht rein additiv zur Kette früherer Erlebnisse im Lebensverlauf hinzu, sondern bildet mit ihnen das Ganze des Lebenszusammenhangs, der mehr ist als eine »Summe aufeinanderfolgender Momente« (VII, 140). Die Frage nach dem Allgemeinen im Besonderen ist ein gleichfalls Diltheys ganzes Denken beherrschendes Problem und wird hier am Beispiel seines mehrdeutigen Begriffs des Typus expliziert. Im Begriff des Typus kommen bei Dilthey drei Momente zusammen. Ein Typus entsteht einmal durch induktiven Vergleich verwandter Phänomene, ein Verfahren das eine Nähe der vergleichenden Disziplinen in Natur- und Geisteswissenschaften bedeutet und ein gemeinsames klassifizierendes Interesse zum Ausdruck bringt. Diesem klassifizierenden Interesse steht das charakterisierende gegenüber, das sich vor allem im geschichtlichen Denken für die Singularität einer Gestalt oder eines Ereignisses öffnet, aber nicht 14 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
Einleitung
»idiographisch« (Windelband) bei der Singularität des Phänomens stehen bleibt, sondern dieses auf ein Allgemeines hin sichtbar macht: »Hier haben wir Einzelanschauungen, gesättigt von einem Allgemeinen«, wie der junge Dilthey in einer seiner frühsten Vorlesungen sagte (XX, 101). Es kennzeichnet diesen nicht-klassifizierenden Typusbegriff Diltheys, dass er die Bedeutsamkeit und »Wesenhaftigkeit« des Besonderen nicht durch Vergleichen und Induktion, sondern durch veranschaulichendes Erschließen des singulären Phänomens ausdrückt und damit zum Symbol wird, allerdings zum »Symbol seiner selbst« (B. Croce). 2 Zwischen diesen beiden extremen Formen der Typisierung und in kompliziertesten Beziehungen mit ihnen verbunden, wirkt sich der halb wissenschaftlich, halb dichterisch zu nennende Impuls einer intuitiv-morphologischen Betrachtungsweise aus, die mit dem Namen Goethes verbunden ist. Ihr Typusbegriff meint eine Grundgestalt, von der das Mannigfaltige in der Anschauung abgeleitet wird, wie Dilthey dies mit dem Prinzip der Metamorphose der Phantasiebilder für die Poetik fruchtbar zu machen versuchte. 3 Dieser Impuls hat besonders dazu beigetragen, die Grenzen zwischen organischer Natur und menschlich-geschichtlicher Welt durchlässig zu machen. Eine Durchlässigkeit freilich, die dort ihren Preis hatte, wo in der Vergleichenden Psychologie die Gemeinsamkeit von Biologie und Geschichte als vergleichende Disziplinen das Spezifische geisteswissenschaftlicher Fragestellungen zu verdunkeln schien. Auch der Begriff Anthropologie sprengt die Grenzen einer allzu glatten Dichotomie. Wie beim Hermeneutik-Begriff und beim Typus sind mehrere Ebenen auseinander zu halten. In unserer Studie wird zwischen einem pragmatischen, einem morphologischen und einem geschichtlich-philosophischen Gebrauch des Wortes unterschieden: Der praktischen Anwendung menschenkundlicher Einsichten steht das morphologische Interesse einer zur vergleichenden Psychologie gewordenen Anthropologie gegenüber, die aber dann doch wieder zur Beantwortung letzter Fragen zugelassen wird. Die Bereitschaft, das Zentrum seines Denkens als AnthroVgl. unten, S. 82. – Vom diltheyschen Begriff der Bedeutsamkeit sind einige Studien ausgegangen, die jetzt gesammelt vorliegen. Vgl. F. Rodi: Über die Erfahrung von Bedeutsamkeit. Freiburg/München 2015. 3 Vgl. F. Rodi: Morphologie und Hermeneutik. Zur Methode von Diltheys Ästhetik. Stuttgart 1969. 2
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Einleitung
pologie zu bezeichnen, begleitet Dilthey von Anfang an, führt aber immer wieder zu anderen Begriffen wie ›vergleichende Psychologie‹, ›Philosophie des Lebens‹ usw. Die Nähe der ›anthropologischen Reflexion‹ zur Dichtung (vgl. VI, 305), aber auch zur praktischen Menschenkunde deutet auf den vorwissenschaftlichen Charakter der Anthropologie, wie Dilthey sie in der Regel gesehen und deshalb nicht zum Gegenstand theoretischer Überlegungen gemacht hat. Das Prinzip der anthropologischen Selbstbesinnung steht über den Grenzlinien einzelner Disziplinen und ist letztlich ihre gemeinsame, aber nie wirklich definierte Basis. Das abschließend behandelte Thema Psychologie und Hermeneutik betrifft wieder ein dichotomisches Schema, das aber nicht von Dilthey selbst, sondern von seinen Interpreten entwickelt worden ist. Ausgangspunkt war das Erscheinen des Bandes VII (1926) der Gesammelten Schriften. Dessen Herausgeber, Bernhard Groethuysen, begründete durch die Anlage des Bandes und durch seinen Vorbericht die Vorstellung eines Antagonismus in den Arbeiten des späten Dilthey. Die »Problemreihen« nannte er »Psychologie« und »Hermeneutik«. Diese Kategorisierung war insofern zutreffend, als die Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften den strukturpsychologischen Ansatz der Ideen weiterentwickelten, während die Darstellung im Aufbau von der neu konzipierten Triade Erlebnis – Ausdruck – Verstehen ausging. Aber diese Zuordnung bedeutete eine problematische Festschreibung im Sinne eines offenbar nicht auflösbaren Gegensatzes. Hinzu kam eine missverständliche Formulierung im Vorbericht, die nahelegte, dass es sich bei der »Psychologie« um eine frühere und überholte, bei der »Hermeneutik« um die spätere und letztgültige Position Diltheys handelte. 4 Diese Interpretation war von großem Einfluss, ist aber in der Dilthey-Forschung in ihrem Anspruch schon dadurch überholt, dass durch die Erschließung und Interpretation neuer Quellen die Genese der Konzeptionen Diltheys in einem anderen Licht erscheint. Unsere Studie vertritt insofern eine mittlere Position, als hier das komplementäre Verhältnis der beiden »Problemreihen« dargelegt »Es handelt sich also nicht mehr um einen Aufbau von unten auf, um mich so auszudrücken, um eine Grundlegung, die von bestimmten, als solchen zu zergliedernden und zu beschreibenden Tatbeständen ausginge […]«. B. Groethuysen: Vorbericht des Herausgebers zu Diltheys Ges. Schr., Bd. VII, S. VII; Hervorhbg. F. R.
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Einleitung
werden soll. Die vom Reiz-Reaktions-Schema weitgehend befreite Strukturtheorie und die auf die Objektivationen des Lebens bezogene Verstehenstheorie treffen sich im Begriff des Ausdrucks, der vom Wirkungszusammenhang der psychischen Struktur »erwirkt« und vom Interpreten verstehend aufgenommen wird. Dilthey selbst sprach von den beiden Zugängen zur gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit: »Vom Erleben der eigenen Zustände und vom Verstehen des in der Außenwelt objektivierten Geistigen aus« (VII, 119). * * * Die Studien dieses Bandes werden als Bestandteile einer Philosophie des Lebenszusammenhangs vorgestellt. Dieser Begriff Diltheys erscheint als weit genug, um die hier behandelten Aspekte einer Anthropologie des Individuums in seiner unauflösbaren Verflechtung mit Welt unter einen einzigen Begriff zu stellen. Mit dieser Eingrenzung können wir uns allerdings nicht auf eine entsprechende Textstelle bei Dilthey berufen. Vielmehr soll dieser kaum je definierte und eher evokativ gebrauchte Begriff ›Lebenszusammenhang‹ gerade in seiner Vagheit und Mehrdeutigkeit das komplexe Phänomen der Lebenswirklichkeit repräsentieren. Zur Verdeutlichung der Intentionen Diltheys sollen abschließend vier Beispiele der Anwendung des Begriffs aufgeführt werden: a) In seiner Deskription der Vergegenständlichung einzelner Erlebnisse innerhalb eines Lebensverlaufs hebt Dilthey das besondere Verhältnis des Einzelerlebnisses zum Ganzen des Lebensverlaufs hervor. Die Erlebnisse bilden einen Lebenszusammenhang. Dieser ist »nicht eine Summe oder ein Inbegriff aufeinanderfolgender Momente, sondern eine durch Beziehungen, die alle Teile verbinden, konstituierte Einheit« (VII, 140). Das Wort ›Lebenszusammenhang‹ bezieht sich hier also auf die Einheitsbildung innerhalb eines zeitlichen Verlaufs, wobei es Dilthey darauf ankommt, dass die einzelnen Momente auch mit solchen, die »durch lange Zeiträume« von ihnen getrennt sind, strukturell verbunden sein können. Dieser Gedanke ist vermutlich der Ausgangspunkt für Diltheys Konzeption der Bedeutung als Lebenskategorie. So wird in einem Fragment zur Bedeutungslehre die Wichtigkeit betont, »daß in der Erinnerung das Erlebnis zu einer Einheit zusammengefaßt wird 17 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
Einleitung
und zu anderen Erlebnissen im Ganzen des Lebens Beziehung gewinnt = Bedeutung« (XXIV, 225). In diesem Sinn ist Bedeutung »ein innerer Zusammenhang, der frei zwischen Gliedern aufgesucht wird, unabhängig vom realen Zusammenhang in Raum, Zeit und Kausalität« (XXIV, 222). b) Auch in einem wesentlich früheren Text geht es Dilthey um den Ursprung der Kategorien, also um die Theorie, »daß die Zusammenhänge, durch welche wir die Welt begreifen, weder aus dem Intellekte stammen, noch ausschließlich aus der Natur des äußeren Geschehens vermittels der psychischen Vorgänge sich bilden, sondern vielmehr Teile des Einen Lebenszusammenhangs sind, den die Lebenseinheit in sich erfährt und um sich wieder findet, der sonach für das menschliche Erkennen ein Gegebenes ausmacht« (XIX, 371). Diese Formulierungen sollen besagen, dass der Zusammenhang selber das Verhältnis (z. B. des Wirkens und Leidens) in sich enthält, dessen abstrahierte Formel dann als die Kategorie der Kausalität erscheint. Es ist »der unergründliche, jedoch in seiner Artikulation der Beschreibung zugängliche Zusammenhang des Lebens in einem menschlichen Körper«, und er besteht »in einem Zusammenhang funktioneller Lebensäußerungen, in welchem das Denken nicht den Zusammenhang herstellt, jedoch überall vermittelt, daß der Zusammenhang in Wirkung treten kann« (XIX, 35). c) Für die darstellende Kunst, vor allem das Porträt, sieht Dilthey die Aufgabe einer »Anleitung zum tieferen Verständnis« des Darzustellenden. Dieses wird von einem »Eindruckspunkt« aus aufgefasst, was schließlich zur Erfassung eines Lebenszusammenhanges führt, in dem »das, um welches in Energie und Gefühl gerade diese Existenz sich dreht, zusammengehalten [wird]« (VI, 283). ›Lebenszusammenhang‹ ist hier also die Einheit der Person oder des Charakters, die künstlerisch unter einem bestimmten Gesichtspunkt gestalthaft erfasst wird. In diesem Sinn ist es der Lebenszusammenhang, »in welchem die Inhalte und Werte des Lebens zum Ausdruck gelangen« (II, 417). d) Abweichend von seinem sonstigen Sprachgebrauch verwendet Dilthey das Wort ›Lebenszusammenhang‹ auch in präpositionalen Ausdrücken. Es gibt einen Lebenszusammenhang »zwischen Gegenstand und Subjekt« (XXIV, 239), »zum wertenden Subjekt« (XXIV, 245), »mit dem urteilenden Subjekt« (XXIV, 245) usw. Es ist zu vermuten, dass diese Ausdrucksweise die Vorstufe für die Bil18 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
Einleitung
dung des Begriffs ›Lebensbezug‹ in Diltheys letzten Schriften darstellt. Ob nun Bedeutung als Einheitsbildung im zeitlichen Verlauf, Begriffsbildung aus vordiskursivem Wissen oder Lebensbezug zwischen Subjekt und Gegenstand – überall ist das Stattfinden von Lebenszusammenhang Voraussetzung für die Prozesse der Aufhellung und Vergegenständlichung des Erlebens. Dieser (mit Eugen Fink 5 zu reden:) »operative« Gebrauch des Wortes ›Lebenszusammenhang‹ deutet darauf hin, dass Dilthey nicht ein begrifflich ausdefiniertes Phänomen vor sich hatte, sondern ein der weiteren Artikulation bedürfendes »Urphänomen«, dem man sich nur approximativ und in immer neuen Anläufen annähern kann. Indem das Wort in den Titel dieser Sammlung von Aufsätzen aufgenommen wird, soll zum Ausdruck gebracht werden, dass über alle Grenzziehungen hinweg die Frage nach dem Zusammenhang des Lebens – des geschichtlichen wie des organischen Lebens – Leitmotiv seines Denkens war. * * * Die Veröffentlichung dieser Arbeiten gibt mir die Gelegenheit, noch einmal dankbar auf den Anteil hinzuweisen, den Otto Friedrich Bollnow an der Entstehung dieser Fragestellungen gehabt hat. Sein vor nunmehr 80 Jahren erschienenes Buch Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie hat das Dilthey-Bild meiner Generation nachhaltig geprägt und war die Basis für eine Beziehung, die sich vom anfänglichen Lehrer-Schüler-Verhältnis zu einer lebenslangen Freundschaft verwandelte. Diese erfuhr auch keine Beeinträchtigung, als sich von den 1960er Jahren ab eine jüngere Forschergeneration im Zuge der Fortführung der Dilthey-Ausgabe auch wieder dem jungen und »mittleren« Dilthey zuwandte, der in Bollnows Interpretation zum Teil in scharfen Gegensatz zum Spätwerk gesetzt worden war. Seine anfängliche Skepsis wich einer wachsenden Zustimmung und Unterstützung unserer Bochumer Arbeit, die auch für ihn neue Dimensionen im Verständnis von Diltheys Gesamtwerk erschloss. E. Fink: Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie. In: Ders.: Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze. Freiburg/München 1976, S. 180 ff.
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Drei Bemerkungen zu Diltheys Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik von 1900
Mit den folgenden drei »Bemerkungen« soll auf einige Probleme der Abhandlung von 1900 aufmerksam gemacht werden, deren Diskussion den Hintergrund jenes Aufsatzes an einigen Stellen etwas aufhellen könnte. Es handelt sich zunächst um das terminologische Problem des relativ spärlichen Gebrauchs des Wortes ›Hermeneutik‹ in Diltheys Schriften (mit Ausnahme der Preisschrift über Schleiermachers Hermeneutik) und – damit verbunden – die relativ späte Thematisierung der Methode des Verstehens innerhalb der lebenslangen Arbeit Diltheys an der Grundlegung der Geisteswissenschaften. Ein zweites Problem ist gleichfalls teilweise terminologischer Art. Es betrifft Diltheys Gebrauch der Kategorie ›Ausdruck‹. Schließlich soll mit Bezugnahme auf eine Stelle aus den Zusätzen aus den Handschriften darauf aufmerksam gemacht werden, dass der strenge Wissenschaftsdualismus (Natur- und Geisteswissenschaften) für Dilthey nicht absolut verbindlich war.
1. Mit seiner Abhandlung in der Sigwart-Festschrift hat Dilthey das Stichwort ›Hermeneutik‹ gleichsam aus dem 19. in das 20. Jahrhundert hinübergerettet – damals außerhalb der Theologie und Jurisprudenz ein so gut wie unbekanntes Wort, von dem niemand ahnen konnte, welche Karriere es im Laufe des neuen Jahrhunderts machen würde. Dass selbst für Theologen um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Wort ›Hermeneutik‹ unbekannt sein konnte, lässt sich durch einen Brief des jungen Dilthey an seinen Vater, Kirchenrat und Hofprediger des Herzogs von Nassau, belegen. Dilthey berichtete im Frühjahr 1860 vom Abschluss seiner Preisschrift über die Hermeneutik Schleiermachers und hielt es offenbar für notwendig, 20 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
Diltheys Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik
seinem Vater zu erklären, was ›Hermeneutik‹ bedeutet! 1 Er selbst war zeit seines Lebens äußerst zurückhaltend im Gebrauch des Terminus. Es klingt fast wie ein Geheimtipp, wenn Dilthey in der Erstfassung des Goethe- Aufsatzes 1877 von »der leider seit Schleiermacher und Boeckh so vernachlässigten Hermeneutik oder Theorie des Verstehens« spricht (XXV, 141). Auch in der Abhandlung Beiträge zum Studium der Individualität von 1895/96, die ja eine der wichtigsten hermeneutischen Grundschriften Diltheys darstellt, taucht mitten in den Partien über Erleben und Verstehen nur einmal wie beiläufig die Vokabel auf: »Dies ist die hermeneutische und die mit ihr verbundene kritische Methode, welche nicht nur vom Philologen und Historiker geübt wird, sondern ohne die keine Geisteswissenschaft bestehen kann.« (V, 262) Schließlich bleibt auch im wichtigsten Fragment zur Hermeneutik aus Diltheys letztem Lebensjahr (Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen) die Einführung des Wortes ›Hermeneutik‹ bis zum letzten Abschnitt aufgespart. Wieder wird an den Zusammenhang mit Schleiermacher und Boeckh erinnert, und es heißt dann: »Heute tritt nun die Hermeneutik in einen Zusammenhang, der den Geisteswissenschaften eine neue bedeutsame Aufgabe zuweist.« (VII, 217) Diese zum Teil durch Jahrzehnte voneinander getrennten Äußerungen Diltheys, in denen er das Wort ›Hermeneutik‹ gebraucht, könnten vermuten lassen, dass Dilthey selbst nur sporadisch sich des Zusammenhangs seiner eigenen Grundlegung der Geisteswissenschaften mit der Hermeneutik Schleiermachers und Boeckhs erinnerte und von daher auch die Vokabel ›hermeneutisch‹ für seinen eigenen Ansatz nicht in Anspruch nahm. 2 Daran ist so viel richtig, dass Dilthey es sicher abgelehnt hätte, als »Hermeneutiker« bezeichnet zu werden. Damit hätte er sich zu sehr auf die Positionen von Schleiermacher und Boeckh festgelegt gesehen. Es darf ja nicht vergessen werden, dass er in jenem schon zitierten Brief an den Vater betonte, dass »meine ganze Abhandlung Polemik gegen Schleiermacher ist.« 3
Briefwechsel I, 131. Vgl. hierzu auch J. Grondin: Georg Misch und die Universalität der Hermeneutik: Logik oder Rhetorik? In: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, Bd. 11/ 1997–98, S. 48 ff. 3 Ebd. 1 2
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Diltheys Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik
Es gibt also, von hieraus gesehen, keine bruchlose Entwicklungslinie einer hermeneutischen Tradition innerhalb des 19. Jahrhunderts. Aber es gibt – entgegen der zunächst geäußerten Vermutung – bei Dilthey selbst eine kontinuierlich sich durchhaltende Konzeption für die Rolle der Hermeneutik innerhalb seines Programms einer erkenntnistheoretisch-logisch-methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften. Der Dreischritt Erkenntnistheorie – Logik – Methodologie entspricht, wie wir in unserer Rekonstruktion des Zweiten Bandes der Einleitung in die Geisteswissenschaften 4 gezeigt haben, den Schritten vom Vierten bis zum Sechsten Buch der Einleitung, und hierbei war der Theorie des Verstehens eine bevorzugte Rolle innerhalb der Methodologie zugedacht. Schon in der studentischen Mitschrift der Basler Fassung seines ersten systematischen Kollegs über Logik und System der philosophischen Wissenschaften (1867/68) fällt die disproportionale Ausführlichkeit auf, mit der unter dem Titel »Intuition« die verstehende Methode und der historische Bezug zu Schleiermacher behandelt wird. 5 Auch in der etwa 10 Jahre später verfassten Gliederungsskizze zur Fortsetzung der Abhandlung von 1875, die zugleich einen der ersten Entwürfe zur Einleitung darstellt, sollte die Abhandlung einmünden in die im engeren Sinn geisteswissenschaftliche Themenstellung mit den Kapitelüberschriften: »Auslegung von schriftstellerischen und Kunstwerken (Hermeneutik)« und »Geschichtsschreibung und Dichtung« (XVIII, 109). Allerdings zeigen andere Entwürfe und Dispositionsskizzen, dass das Sechste Buch der Einleitung seinen Abschluss auch mit anderen Fragestellungen hätte finden können. So sieht der sog. Berliner Entwurf (ca. 1893) für dieses abschließende Buch den Titel vor: »Von der Macht des Menschen durch das Wissen und den Grenzen desselben« (XIX, 327). Ein »Plan des Ganzen« (ebenfalls ca. 1893) nennt als Abschluss einen Abschnitt über »Die Geisteswissenschaften als Grundlage der Pädagogie« (XIX, 450), ein Thema, das auch in einem Schema von 1887 den Abschluss bildet (XIX, 291) und in einer weiteren, nicht datierbaren Disposition wohl aus
H. Johach/F. Rodi: Vorbericht der Herausgeber zu Bd. XIX von Diltheys Gesammelten Schriften. 5 Vgl. XX, 98 ff. 4
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Diltheys Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik
der gleichen Zeit so formuliert wird: »Das praktische Ideal der Geisteswissenschaften. Symbol davon Fortschrittsidee«. (XIX, 444) Wenn die Akzente in Diltheys Entwürfen für die Vollendung des Zweiten Bandes der Einleitung auch verschieden gesetzt sind, so kann man doch mit aller gebotenen Vorsicht sagen, dass die methodologische Verstehensproblematik zusammen mit Fragen der praktischen Relevanz der Geisteswissenschaften erst ganz am Ende des Gesamtwerkes hätte behandelt werden sollen. Bekanntlich hat Dilthey seine wichtigsten systematischen (und z. T. auch seine historischen) Arbeiten als Bestandteile des zu vollendenden Zweiten Bandes der Einleitung geschrieben. In einigen Fällen ist die Zuordnung ganz eindeutig, wie z. B. bei der Realitätsabhandlung, in der die wichtigsten Themen der erkenntnistheoretischen Grundlegung des Vierten Buches erörtert werden. 6 In anderen Fällen gibt es Hinweise Diltheys darauf, dass die eine oder andere Abhandlung die Lücken des Zweiten Bandes auffüllen sollte. Schließlich zeigt auch die von Dilthey selbst getroffene Anordnung der Aufsätze, die er unter dem Titel Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens veröffentlicht sehen wollte (und die nun die Bände V und VI der Gesammelten Schriften füllen), dass Chronologie der Entstehung und systematische Folge sich weitgehend decken. Von hier aus kann vermutet werden, dass das Thema ›Hermeneutik‹, mit dem Dilthey sich in seinen Anfängen so intensiv auseinandergesetzt hatte, in der schrittweisen Ausführung des Programms der Einleitung immer wieder aufgeschoben wurde, weil es eben erst für den abschließenden Teil des Gesamtwerkes vorgesehen war. Die Hermeneutik war in all diesen Jahrzehnten keineswegs vergessen, sondern als methodologische Schlusspointe der Grundlegung vorgesehen. Die gelegentlichen Erwähnungen deuten – dieser Vermutung gemäß – darauf hin, dass Dilthey seine Trumpfkarte nicht vorzeitig ausspielen wollte, ihren Einsatz aber hin und wieder vorbereitete. Zu dieser Vorbereitung gehört auch der Schlusssatz der Entstehung der Hermeneutik: »Aufgenommen in den Zusammenhang von Erkenntnistheorie, Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften, wird diese Lehre von der Interpretation ein wichtiges Verbindungsglied zwischen Philosophie und Vgl. W. Dilthey: Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht. V, 90 ff.
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den geschichtlichen Wissenschaften, ein Hauptbestand der Grundlegung der Geisteswissenschaften«. (V, 331)
2. Wer in der Entstehung der Hermeneutik den Begriff ›Ausdruck‹, oder gar die aus dem Spätwerk stammende Triade ›Erlebnis – Ausdruck – Verstehen‹ als zentrale Begriffe erwartet, wird enttäuscht sein. Wir finden zwar Formulierungen, in denen das Verhältnis zwischen einem »Psychischen« oder einem geistigen Gehalt einerseits und »sinnlich gegebenen Zeichen« andererseits thematisiert wird. Auch spricht Dilthey von »dauernd fixierten Lebensäußerungen«, die es zu verstehen und auszulegen gelte (V, 318 f.). Nirgends aber ist der emphatische Ausdrucksbegriff zu finden, wie er wenige Jahre später in ganz verschiedenen Schriften auftaucht. Erinnert sei an die letzte Fassung des Goethe-Aufsatzes in dem Buch Das Erlebnis und die Dichtung oder an das Fragment Das musikalische Verstehen aus dem Umkreis der Abhandlung Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften oder an die Studie Die ritterliche Dichtung und das nationale Ethos aus dem Torso gebliebenen Werk Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. 7 In diesen ihrer Entstehungszeit nach dicht beieinanderliegenden Schriften wird der Gedanke ausgesprochen, dass es vor allem dem lyrischen Dichter und dem Musiker gegeben sei, seine Erlebnisse ohne störende Reflexion auszudrücken: »Denn der Ausdruck quillt aus der Seele unmittelbar, ohne Reflexion und hält dann durch seine Festigkeit dem Verstehen stand; so enthält er mehr vom Erlebnis, als Selbstbeobachtung auffinden kann.« (VII, 328 f.) Dies alles findet schließlich seine Zuspitzung in dem Terminus ›Erlebnisausdruck‹, wie er in dem Fragment Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen eingeführt wird: »Ganz anders der Erlebnisausdruck! Eine besondere Beziehung besteht zwischen ihm, dem Leben, aus dem er hervorgeht, und dem Verstehen, das er erwirkt. Der Ausdruck kann nämlich vom seelischen Zusammenhang
W. Dilthey: Von deutscher Dichtung und Musik. Aus den Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. 2. Aufl. Stuttgart/Göttingen 1957, S. 61–94.
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mehr enthalten, als jede Introspektion gewahren kann. Er hebt aus Tiefen, die das Bewußtsein nicht erhellt.« (VII, 206) Keiner von diesen Sätzen, in denen ein zentraler Aspekt der Spätphilosophie Diltheys artikuliert ist, hat ein Äquivalent in der Abhandlung von 1900 oder in den Zusätzen aus den Handschriften. Aber im Gegensatz zu dem, was über Diltheys Zurückhaltung im Gebrauch des Wortes ›Hermeneutik‹ gesagt wurde, können wir hier nicht davon sprechen, dass unser Philosoph ein längst durchdachtes Theorem aus Gründen der Arbeitsökonomie noch nicht vorzeitig vor dem Publikum ausbreiten wollte. Wir müssen – im Gegenteil – annehmen, dass Dilthey den emphatischen Ausdrucksbegriff zur Zeit der Entstehung der Hermeneutik einfach noch nicht gebildet hatte. So sehr man vom Titel der Abhandlung her erwarten sollte, dass hier nun der »Hermeneutiker« Dilthey auftritt, so sehr müssen wir dies doch einschränken in dem Sinn, dass die zentrale Kategorie des Ausdrucks (und mit ihr die der Bedeutung) hier noch fehlen, und zwar nicht nur rein terminologisch, sondern auch im Sinne einer allgemeiner zu fassenden Konzeption vom »schaffenden Ausdruck«. Wir können also zunächst zusammenfassend sagen, dass Dilthey zwar in all den Jahren seiner Arbeit an der Grundlegung der Geisteswissenschaften ein hermeneutisches Konzept gleichsam im Hinterkopf gehabt haben muss, dass er sich jedoch über eine der wichtigsten Komponenten dieser Konzeption, nämlich den Erlebnisausdruck, um 1900 noch nicht im Klaren war. Vergleicht man die verschiedenen Fassungen des Goethe-Aufsatzes aus Das Erlebnis und die Dichtung, so zeigt sich, dass erst in der 2. Auflage (1907) jene Passagen erscheinen, in denen der unmittelbare Zusammenhang von Erlebnis und Ausdruck hervorgehoben wird: »Das Erlebte geht hier voll und ganz in den Ausdruck ein. Keine Reflexionen trennen seine Tiefen von ihrer Darstellung in Worten.« (XXVI, 152) Dass Dilthey nach seinem 70. Lebensjahr seine Konzeptionen noch einmal stark veränderte, hängt sicher mit dem starken Impuls zusammen, den er nach eigenem Bekunden von dem »epochemachenden« Buch Husserls, den Logischen Untersuchungen, empfangen hatte (vgl. VII, 14). Vermutlich waren es vor allem zwei Gedanken, die ihn zur neuerlichen Aufnahme seiner (in der EbbinghausDebatte steckengebliebenen) Strukturlehre ermutigten: zum einen 25 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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das Prinzip einer deskriptiv-phänomenologischen Methode, wie er sie selbst schon in seinen um 1880 geschriebenen Texten, vor allem in der sog. Breslauer Ausarbeitung zum Zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften angewandt hatte (vgl. XIX, 58 ff.) und nun bei Husserl in methodologisch schärfer durchreflektierter und subtilerer Weise angewandt fand. Zum anderen war es das Verhältnis von Ausdruck und Bedeutung, das Husserl in der 1. Logischen Untersuchung des 2. Bandes analysiert hatte, das Diltheys Aufmerksamkeit auf den Ausdrucksbegriff lenkte. Für beide Seiten des Einflusses gibt es Zeugnisse des Dankes und der direkten Übernahme, und zwar in den Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, in denen Dilthey einen neuen Anlauf zur Vollendung des großen Projektes der Einleitung machte (VII, 14 u.19). Von diesen Bezugnahmen auf Husserl verdient diejenige, in der Dilthey auf das Verhältnis von Ausdruck und Bedeutung rekurriert, besondere Beachtung. Man muss sich klarmachen, dass es Dilthey in den Studien darum zu tun war, das Thema »Totalität der Menschennatur« für sein Projekt der Grundlegung noch stärker zu fruktifizieren, als ihm dies bis dahin gelungen war. So ging es ihm vor allem um die schon früh angekündigte Ausweitung der Logik über die rein kognitiven Leistungen hinaus (XIX, 1 ff.), um auch die im Gefühls- und Willensverhalten enthaltenen Denkleistungen in ihrem logischen Charakter zu erfassen. 8 Dieses neu einsetzende Interesse zeigt sich schon in der Vorlesung System der Philosophie in Grundzügen, und zwar in der vermutlich aus dem Sommer 1903 stammenden Fassung. Wir finden dort die Logik eingeleitet mit einem Paragraphen, für den Dilthey nachträglich den Titel notierte: »Das Denken in den verschiedenen Gebieten des Seelenlebens. Der phänomenologische Ausgangspunkt« (XX, 353). Von dem Satz ausgehend, dass »in allen konkreten Prozessen des Seelenlebens Denken enthalten ist«, verknüpft Dilthey die Aufgabe einer strukturpsychologischen Lehre von den drei Seiten des psychischen Lebens (Denken, Fühlen und Wollen) mit der Aufgabe, auch die nicht im engeren Sinn kognitiven Prozesse in eine Logik der GeisteswissenVgl. dazu das reichhaltige, in der Forschung noch zu wenig beachtete Material in Band XXIV: Logik und Wert. Späte Vorlesungen, Entwürfe und Fragmente zur Strukturpsychologie, Logik und Wertlehre ca. 1904–191, hrsg. v. G. Kühne-Bertram, Göttingen 2004.
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schaften einzubringen. Für diese deskriptiv-phänomenologisch zu lösende Aufgabe ergab sich allerdings das Problem, wie die auf den vordiskursiven Denkleistungen (»schweigendes Denken«) aufbauenden Gefühls- und Willensaussagen, die in Wertbestimmungen, Imperativen, normativen Aussagen usw. kulminieren, von ihren entsprechenden »Erlebnissen« her deskriptiv erfassbar sind. An diesem Punkt konnte Dilthey auf die »innere Einheit« rekurrieren, die er von Husserl für das Verhältnis von Ausdruck und Bedeutung analysiert fand. Der Begriff ›Ausdruck‹ war allerdings von Husserl in einem rein semantischen Sinn eingeführt worden: Den Terminus Ausdruck nehmen wir dabei freilich in einem eingeschränkten Sinne, dessen Geltungsbereich manches ausschließt, was in normaler Rede als Ausdruck bezeichnet wird. […] Zur vorläufigen Verständigung setzen wir fest, dass jede Rede und jeder Redeteil, sowie jedes wesentlich gleichartige Zeichen ein Ausdruck sei, wobei es nicht darauf ankommen soll, ob die Rede wirklich geredet, also in kommunikativer Absicht an irgendwelche Personen gerichtet ist oder nicht. 9
Diese Einschränkung des Geltungsbereiches des Wortes ›Ausdruck‹, die Husserl hier vornimmt, ist für unseren Zusammenhang deshalb von großer Bedeutung, weil Dilthey sie nicht übernommen hat und weil dadurch ein grundsätzlicher Unterschied im Forschungsinteresse der beiden Philosophen deutlich wird. Während Husserl scharf zwischen der semantischen Bedeutungshaltigkeit eines sprachlichen Ausdrucks und der bloßen Funktion eines ›Anzeichens‹, den der Ausdruck auch haben kann, unterschied, ist für Diltheys deskriptive Methode der Ausdruck in erster Linie Anzeichen, nämlich Anzeichen für ein bestimmtes kognitives, emotives oder volitionales Erlebnis. Dilthey ist offenbar erst durch Husserl auf die besondere Art der »inneren Einheit« aufmerksam geworden, wie er sie nun nicht nur in der rein semantischen Beziehung zwischen Ausdruck und Bedeutung, sondern – in seiner Terminologie gesagt – zwischen Erlebnis und Ausdruck findet. Diese »innere Einheit« ist dort am stärksten, wo – wie Dilthey dies für die lyrische Dichtung und die Instrumentalmusik darlegt – das Erlebnis »voll und ganz« in den Ausdruck eingeht. Die damit vollzogene Konzeption des Begriffs ›Erlebnisausdruck‹ liegt chronologisch eindeutig später als die Entstehung der Hermeneutik. Von hier aus betrachtet 9
E. Husserl: Logische Untersuchungen. Husserliana, Bd. XIX, I, 1984, S. 37.
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bedeutet die Abhandlung von 1900 eigentlich keine besondere Zäsur im Schaffen Diltheys, und dies umso weniger, als ja auch der Haupttext auf seine frühsten Arbeiten über Schleiermacher bzw. auf Akademie-Vorträge von 1896 und 1897 aus diesem thematischen Umkreis zurückgehen. »Epochemachend« ist die Abhandlung in erster Linie dadurch, dass Dilthey nach Jahrzehnten der Zurückhaltung das Wort ›Hermeneutik‹ in den Titel einer veröffentlichten Arbeit aufnahm und die historische Darstellung mit der programmatischen Schlussbemerkung über die neue, grundlegende Aufgabe der Hermeneutik versah.
3. Mit unserer dritten Bemerkung bewegen wir uns nicht mehr im hermeneutischen Diskurs (im engeren Sinn des Wortes). Vielmehr geht es im Anschluss an eine eher beiläufig gemachte Bemerkung in den Zusätzen aus den Handschriften um die Frage, wie wörtlich wir Diltheys bisweilen schroffe Entgegensetzung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, insbesondere auch den Gegensatz von Erklären und Verstehen, zu nehmen haben. Im Zuge der Erörterung des logischen Problems der Hermeneutik kommt Dilthey hier (V, 334 f.) kurz auf seine Theorie der »elementaren logischen Operationen« zurück, in denen er die Basis jeder kognitiven Leistung erblickt. Er betont, dass es dieselben Operationen des vordiskursiven Vergleichens, Unterscheidens usw. sind, die in allen Wissensgebieten, also in Natur- und Geisteswissenschaften auftreten. Im weiteren Verlauf dieses Gedankens kommt er nun aber nicht zu der geläufigen Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften, sondern zu einer Dreigliederung in (1) physikalisch-chemische, (2) biologische und (3) Geisteswissenschaften. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sich ihre induktive Verarbeitung der Sinnesdaten »auf der Grundlage eines Wissens von einem Zusammenhang« vollzieht. Dieser Zusammenhang ist aber je nach Wissensgebiet verschieden. Er ist »in den physikalisch-chemischen Wissenschaften die mathematische Kenntnis quantitativer Verhältnisse, in den biologischen Wissenschaften die Lebenszweckmäßigkeit, in den Geisteswissenschaften die Struktur der seelischen Lebendigkeit« (V, 335). 28 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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Hier schiebt sich also zwischen die nur berechenbare, uns im Übrigen aber »stumm« bleibende anorganische Natur und die uns »von innen« verständliche Welt von Gesellschaft und Geschichte ein Mittleres: die Welt des Organischen. Dass Dilthey diese nicht einfach der uns stumm bleibenden Natur im Ganzen zuschlägt, um den Blick frei zu haben für das eigentlich allein ihn interessierende Leben des Geistes, lässt sich auch aus anderen Texten belegen. So spricht er in einem Fragment aus dem Umkreis des Aufbaus davon, dass »nach dem Charakter der Evolution der in unsere Erfahrung fallenden Wirklichkeit das organische Leben als ein Zwischenglied zwischen der unorganischen Natur und der geschichtlichen Welt, sonach als eine Vorstufe der letzteren anzusehen ist« (VII, 198). Über den Stellenwert des Organischen in Diltheys Denken ist schon manches geschrieben worden, Kritisches zumal, indem man auf gewisse »biologistische« Züge aufmerksam machte. Vom Grafen Yorck von Wartenburg stammt das später von Heidegger berühmt gemachte Diktum von der zu wenig betonten »Differenz zwischen Ontischem und Historischem«, 10 wobei unter »Ontisch« das organische Leben zu verstehen war. Denn Yorck bezog sich auf Diltheys Abhandlung Beiträge zum Studium der Individualität, in dem in der Tat die Methoden der Biologie nicht in ihrem Gegensatz, sondern in ihrer Nähe zu den vergleichenden und Typen ausbildenden Methoden der Geisteswissenschaften behandelt wurden. Auch hier spricht Dilthey von »drei Systemen von generellen Wahrheiten«, die sich auf »drei große Ordnungen von Inhalten am Wirklichen« beziehen (V, 272). Gewiss interessiert ihn auch hier primär die Sonderstellung der menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit gegenüber den beiden ihr vorausliegenden Welten des Anorganischen und Organischen. Aber es ist auch hier festzuhalten, dass für Dilthey der Globus der Wissenschaften nicht einfach durch den Gegensatz der beiden Hemisphären Natur und Geschichte bestimmt ist. Blicken wir noch einmal auf den Ausgangspunkt dieser Betrachtung, die kurze Bemerkung aus den Zusätzen aus den Handschriften, zurück. Dilthey unterscheidet hier zwischen drei »Zusammenhängen«, innerhalb derer sich die jeweilige Induktion vollzieht. Für die biologischen Wissenschaften gibt er als solchen Zusammenhang die »Lebenszweckmäßigkeit« an. Vermutlich hat 10
Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit, § 77.
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er eine Art teleologischer Betrachtung im Auge, wie sie Kant in der Kritik der Urteilskraft für die Beurteilung von Naturphänomenen formuliert hat, also den in regulativer Absicht eingeführten Zweckbegriff als ein Prinzip, die Erscheinungen der Natur »unter Regeln zu bringen, wo die Gesetze der Kausalität nach dem bloßen Mechanism derselben nicht zulangen.« 11 Diese Art vorsichtiger Teleologie, wie wir sie bei Dilthey allerdings nur vermuten können, grenzt sich nach zwei Seiten ab: Nach »unten« gegenüber der Kausalerklärung der mechanischen Naturbetrachtung; nach »oben« gegenüber einer Metaphysik, die in der organischen Zweckmäßigkeit die Gedanken einer Weltvernunft zu lesen versucht. Die Abgrenzung »nach unten« hatte Dilthey ausdrücklich in den Beiträgen vorgenommen, allerdings im Bewusstsein der Möglichkeit, dass eine künftige Forschung diese Grenzziehung aufheben könnte: Die mechanische Theorie der Erscheinungen hat zunächst da ihre Grenze, wo die Zelle auftritt. Wohl ist der Versuch methodisch gefordert, aus den bekannten chemischen und physikalischen Prozessen die Vorgänge in der organischen Natur […] abzuleiten. Aber solange dieser Versuch keinen ausreichenden Erfolg hat, müssen neue generelle Wahrheiten als hinzutretend zu unserer Erkenntnis der physikalischen und chemischen Eigenschaften der Materie da eingeführt werden, wo die Zelle auftritt. (V, 272) 12
Die Abgrenzung »nach oben« hatte Dilthey im Ganzen seiner Destruktion der Metaphysik unternommen, mit der er die historische Basis für seine eigene erkenntnistheoretisch-logisch-methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften schuf. Dies ist das Thema des Zweiten Buches der Einleitung in die Geisteswissenschaften. Es endet mit einem vergleichenden Blick auf Natur- und Geisteswissenschaften in ihrer jeweiligen Funktion als »Auflösung der metaphysischen Stellung des Menschen zur Wirklichkeit« (I, 351 f.). Diese Bilanz wird jedoch nicht vorgenommen im Geiste I. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 61. Den Spuren einer »Ausdehnung der Hermeneutik über die Sphäre der Geschichte« geht Jean-Claude Gens in Dijon seit Jahren nach und kommt zu neuen Aspekten einer »Hermeneutik des Lebens«. Vgl. J.-Cl. Gens: Die Ansätze der verstehenden Biologie des 20. Jahrhunderts in Diltheys Hermeneutik des Lebens. In: G. Kühne-Bertram, F. Rodi (Hrsg.): Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie. Wirkungsgeschichtliche Aspekte seines Werkes. Göttingen 2008, S. 297–312.
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eines triumphierenden Positivismus, der mit allen Hirngespinsten der Metaphysik glaubt aufgeräumt zu haben. Vielmehr konstatiert Dilthey für beide Seiten einen »Rückstand«, d. h. einen wissenschaftlich nicht auflösbaren Restbestand, in dem die ursprünglichen metaphysischen Fragen der Menschheit weiterleben. Was die Geisteswissenschaften betrifft, so bleibt trotz ihrer Zersetzung aller metaphysischen Erklärungsprinzipien von Einzelseele, Gesellschaft und Geschichte doch ein unzerstörbares Bewusstsein eines höheren Zusammenhangs, »in den unser Leben und Sterben verwebt ist.« »Aus der Tiefe der Selbstbesinnung, die das Erleben der Hingabe, der freien Verneinung unserer Egoität vorfindet und so unsere Freiheit vom Naturzusammenhang erweist«, erwachse »das Bewußtsein, daß dieser Wille nicht bedingt sein kann durch die Naturordnung, deren Gesetzen sein Leben nicht entspricht, sondern nur durch etwas, was dieselbe hinter sich zurückläßt.« (I, 385) Dilthey nennt dieses auch von der fortgeschrittensten neuzeitlichen Wissenschaft nicht zerstörbare Bewusstsein »das Meta-Physische unseres Lebens als persönliche Erfahrung, d. h. als moralisch-religiöse Wahrheit« (I, 384). »Das meta-physische Bewußtsein der Person ist ewig.« (I, 386) Was hier als schroffste Entgegensetzung des menschlichen Willens »in der Burgfreiheit seiner Person« (I, 385) gegen die Gesetze der Naturordnung wie eine letzte Zuspitzung des Dualismus Natur – menschlich-geschichtliche Welt erscheint, wird doch dadurch abgemildert, dass Dilthey diesen unauflöslichen »Rückstand« des meta-physischen Bewusstseins mit dem anderen, von den Naturwissenschaften übrig gelassenen »Rückstand« parallelisiert. Hier finden wir noch einmal jene Ausdifferenzierung, wie wir sie mit der teleologischen Betrachtung der organischen Natur angetroffen haben. Denn wenn auch die mechanische Naturerklärung den Zweckgedanken als unwissenschaftlich verworfen habe, bleibe er doch »in dem Zusammenhang des Lebens, welchem die Natur gegeben ist, enthalten.« Wenn man die Teleologie im Sinne der Griechen als dies Bewußtsein von dem gedankenmäßigen, unserem inneren Leben entsprechenden schönen Zusammenhang erkennt, ist diese Idee von Zweckmäßigkeit im Menschengeschlechte unzerstörbar. (I, 372)
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Diltheys Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik
Dies gilt vor allem für das organische Leben: »In den Formen, Gattungen und Arten der Natur bleibt ein Ausdruck dieser immanenten Zweckmäßigkeit enthalten und wird selbst von den Darwinisten nur weiter zurückgeschoben.« (ebd.) Die beiden Anschauungskreise, die in der Weltanschauungstypologie des Spätwerks dann als »Idealismus der Freiheit« und »objektiver Idealismus« charakterisiert werden, sind hier, am Ende der Einleitung, schon vorweggenommen und stehen sich nicht feindlich, sondern als polar verschiedene Möglichkeiten des Verhältnisses zur Natur gegenüber. Das kantisch-schillersche Prinzip der »Burgfreiheit des Willen« begründet zugleich den schroffen Gegensatz von Natur und Geschichte, während die Naturnähe des teleologischen Denkens und Fühlens mit Goethes Worten aus dem Faust beschworen wird: Du führst die Reihe der Lebendigen Vor mir vorbei und lehrst mich meine Brüder Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen. 13
Allerdings gesteht Dilthey nur der Dichtung die Legitimation zu, »das […] große Gefühl des Lebens in der Natur aufrechtzuerhalten.« So sieht er in der deutschen Naturphilosophie der Romantik »eine Verwirrung der Naturerkenntnis durch Hineintragung des Geistes und eine Herabminderung des Geistigen durch Versenkung in die Natur.« Das Privileg Fausts, der Natur »in ihre tiefe Brust, wie in den Busen eines Freundes, zu schauen«, bleibt den Dichtern vorbehalten als »ihre unsterbliche Aufgabe« (ebd.).
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I, 373. – Vgl. Faust I, Wald und Höhle.
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Dilthey zwischen Kant und Goethe Zur Genese der Lebenskategorien Ganzheit und Zusammenhang
1.
Lebenskategorien
Der Titel dieser kleinen Studie könnte vielleicht erwarten lassen, dass Dilthey hier in den Koordinaten seiner eigenen Weltanschauungstypologie verortet werden soll und einerseits vom Kant-Typus (Idealismus der Freiheit), andererseits vom Goethe-Typus (Objektiver Idealismus) her charakterisiert wird. Der Untertitel weist jedoch in eine andere Richtung. In der Reihe der von Dilthey aufgestellten Lebenskategorien 1 nehmen die Kategorien Ganzes und Teile und Zusammenhang einen besonderen Platz ein. Sie sind miteinander verwandt, und man könnte meinen, dass sie fast dasselbe bedeuten, etwa wenn Dilthey sagt: »Zusammenhang ist der Inbegriff der im Verhältnis des Ganzen zu den Teilen bestehenden Beziehungen« (XI, 218). Aber an anderen Stellen zeigt sich, dass sie ihre je eigene Sphäre haben. Um dieses schwierige Verhältnis etwas aufzuhellen, soll hier versucht werden, statt einer Begriffsanalyse einen Umweg zu gehen. Wir suchen – vor allem beim jungen Dilthey – die Bereiche auf, in denen er mit der Darstellung fremder Gedanken die Verarbeitung, Aneignung, kritische Sichtung verbindet und allmählich zu seiner eigenen Begrifflichkeit kommt. Dies kann an seinem Verhältnis zu Kant und Goethe in der Weise gezeigt werden, dass dabei bestimmte gedankliche Motive herausgehoben werden können, die auf die beiden Lebenskategorien vorausweisen. Dabei muss von vornherein betont werden, dass sich mit den Namen Kant und Goethe hier keine schroffe Dichotomie oder Polarität verbindet, in die Dilthey gleichsam eingespannt wäre. Zu Diltheys Kategorienlehre vgl. die Weiterführung durch F. Fellmann: Symbolischer Pragmatismus. Hermeneutik nach Dilthey, Reinbek b. Hamburg 1991.
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Dilthey zwischen Kant und Goethe
Diltheys Beziehung zu Kant und Goethe ist nach beiden Seiten hin mehrschichtig. Bekannt ist seine Ablehnung eines »starren a priori unseres Erkenntnisvermögens« (I, xviii) und von Kants Lehre von der Zeit als einer reinen Anschauungsform. 2 Andererseits ist Kant für ihn der »tiefsinnigste Geist, den die neueren europäischen Völker hervorgebracht haben« (I, 133), und es heißt lapidar: Es gibt keine Wissenschaft als auf dem Grunde der im inneren und äußeren Sinn gegebenen Erfahrungen. Dies hat Kant streng bewiesen, und nach ihm hat jede wahre erkenntnistheoretische Untersuchung, wie der Gang menschlicher Forschung, dies bestätigt. (XIX, 2)
Auch bekennt sich Dilthey in seiner Basler Antrittsvorlesung von 1867 emphatisch zu Kant, der »das Grundproblem der Philosophie […] für alle Zeiten festgestellt« habe, und verlangt (allerdings nicht im Sinn von Otto Liebmann!), die Philosophie solle »über Hegel, Schelling und Fichte auf Kant zurückgreifen« (V, 12). »Wie man es auch nehme«, sagt er in einer seiner späten Vorlesungen, »mit Kant beginnt die wahre Methode der Grundlegung der Philosophie« (XX, 335). Schließlich sollte man nicht vergessen, dass es Dilthey war, der als Initiator und langjähriger Organisator die Akademie-Ausgabe von Kants Werken ins Leben gerufen und geprägt hat. 3 Zweifellos ist aber das Verhältnis zu Goethe von Anfang an von größerer Sympathie bestimmt und lässt Affinitäten erkennen, die in Diltheys Gesamtwerk nachhaltige Spuren hinterlassen haben. Aber es wäre falsch, Dilthey als kritiklosen »Anhänger« von Goethe sehen zu wollen. Man denke etwa an das harte Wort über Goethes Farbenlehre in der Schleiermacher-Biographie (XIII/1, 192).
2.
Geniale Anschauung
Das wohl einprägsamste Beispiel für die Stellung des jungen Dilthey zwischen Kant und Goethe ist sein 1870 erschienener erster Band der zu seinen Lebzeiten nie vollendeten Biographie Leben Vgl. XX, 290 ff. Vgl. vom Verfasser: Dilthey und die Kant-Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Einige editions-und lebensgeschichtliche Aspekte. In: F. Rodi: Das strukturierte Ganze. Studien zum Werk von Wilhelm Dilthey. Weilerswist 2003, S. 153–172.
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Dilthey zwischen Kant und Goethe
Schleiermachers. 4 Dieses weit über rein biographische Bezüge hinausgreifende Buch gibt ein Gesamtbild des geistesgeschichtlichen Zusammenhangs, in dem Schleiermacher in der Mannigfaltigkeit seiner Ideen und Interessen zu stehen kommt. Es sind vor allem das 9. Kapitel des Ersten und das 1. Kapitel des Zweiten Buches, die für eine solche Betrachtung heranzuziehen sind. Es gibt vielleicht keine lebendigere Darstellung der Grundgedanken Kants als jenes 9. Kapitel mit dem Titel Kants kritischer Standpunkt als Grundlage der Entwicklung Schleiermachers. Es soll hier nur mit einem einzigen Zitat die Emphase gezeigt werden, mit der Dilthey jene Forderung aus der Basler Antrittsvorlesung, auf Kant zurückzugreifen, zu erfüllen strebt. Er wendet sich gegen die Versuche im 19. Jahrhundert, über die kantischen Wurzeln in Schleiermacher hinwegzugehen. Es geht um den Grundgedanken Kants: Und noch steht dieser Gedanke! Die transzendenten Systeme der Hegel, Schelling, Baader und ihrer Nachfahren haben sich gleich willkürlich obwohl gewaltig geformten Dunst- und Nebelgebilden verzogen; er steht wieder vor uns ganz sichtbar, ganz nah und in Sonnenhelle. (XIII/I, 108)
Es zeigt die über alle Parteilichkeit erhabene historische Objektivität des jungen Dilthey, dass in demselben Buch auch die in vieler Hinsicht Kant entgegengesetzte Welt, nämlich die deutsche Literatur von Lessing bis zur Romantik, mit einem vergleichbaren Engagement dargestellt werden konnte. Hierbei ging es vor allem um einen Begriff, der in der bisherigen Literatur über Dilthey wenig Beachtung gefunden hat: geniale Anschauung. Dieser hat im Gesamtwerk kaum den Charakter terminologischer Festigkeit angenommen. Aber Dilthey hat in seinen Anfängen, als er Mitte der sechziger Jahre den ersten Band seines Schleiermacher schrieb und erst in Berlin, dann in Basel seine erste wissenschaftslogische Vorlesung hielt, mit großer Emphase vom Begriff Anschauung Gebrauch gemacht. So ist in der studentischen Nachschrift der Basler Logik der Paragraph über Intuition unproportional groß ausgefallen. Er enthält u. a. eine erste Skizze für die Aufgabe, die Hermeneutik in den allgemeineren Zusammenhang einer wissenschaft-
W. Dilthey: Leben Schleiermachers. Erster Band. Auf Grund des Textes der 1. Auflage von 1870 und der Zusätze aus dem Nachlaß herausgegeben von M. Redeker. Erster Halbband. XIII/1.
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Dilthey zwischen Kant und Goethe
lichen Methodenlehre einzubringen. 5 Hierbei spielen die Begriffe Anschauung und Phantasie eine zentrale Rolle. Sie sind Hauptbegriffe des ganzen Abschnitts. »Wir haben ein Interesse an der Anschauung […], ein Recht, uns in der Welt der Anschauung mit voller Freiheit zu bewegen« (XX, 97). Ein Zug schöpferischer Phantasie »analog dem Tun des Künstlers« sei selbst für den Experimentator in den Naturwissenschaften erforderlich, umso mehr aber in den historischen Wissenschaften. »Die wissenschaftlichen Operationen haben als Grundlage die schöpferische Phantasie des Menschen. Phantasie ist ein Vorgang der Anschauung, ich füge zu gegebenen Anschauungsmomenten solche hinzu, die mir nicht gegeben sind« (XX, 100). Jenseits des abstrakten Denkens, in dem die Allgemeinvorstellungen begrifflich abgeklärt sind, sucht Dilthey diejenigen logischen Vorgänge auf, in denen ein »Allgemeines ohne Begriffe« gegeben ist. Er nennt sie »Einzelanschauungen, gesättigt von einem Allgemeinen« (XX, 101). Wenn Dilthey dann fortfährt: »Die Anschauung wird genial, indem sie ein Allgemeines enthält. Das Wesen des Genies ist die Klarheit der Anschauung, in der ein Allgemeines ist« (XX, 102), bringt er den wichtigen Begriff der genialen Anschauung aus seiner Schleiermacher-Biographie in dieses Methodenkapitel seiner Vorlesung ein. In jenem zweiten der genannten Kapitel mit dem Titel Die deutsche Literatur als Ausbildung einer neuen Weltansicht hatte er in seinem Buch eine Art Bilanz jener geistigen Bewegung gezogen, 6 die er auch in seiner Basler Antrittsvorlesung gewürdigt hatte. Aufgabe des Kapitels ist die geistesgeschichtliche Einordnung Schleiermachers und seiner Generation in den übergreifenden Zusammenhang, der sich einerseits philosophisch von Kant bis zum Deutschen Idealismus, andererseits in der Dichtung von Lessing bis zur Romantik erstreckt. Schon in seiner Preisschrift über Schleiermachers Hermeneutik hatte Dilthey diese Einordnung skizziert, dort aber noch von einer »Bewegung der ästhetischen Anschauung« gesprochen. 7 Zentrale Gestalt ist Goethe, dem ein zusammenhängender Text gewidmet ist, den man wohl als Keimzelle des späteren, immer wieder umgearbeiteten Essays ansehen kann. 5 6 7
Vgl. XX, 98 ff. Vgl. XIII/1. 183 ff. XIV, 665.
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Die »neue Weltansicht«, auf die sich der Titel des Kapitels bezieht, bezeichnet weniger eine Weltanschauung im Sinne von Diltheys im Spätwerk entwickelter Typologie der Weltanschauungen als vielmehr eine neue Methode, Zusammenhänge in Natur und Geschichte zu erfassen. Zweifellos hat zwar Goethes »große Richtung […], die Naturerscheinungen nach ihrer inneren Gliederung zu einem Ganzen aufzufassen« (XIII/1, 198), dem modernen Pantheismus eine neue Gestalt gegeben, doch ist diese weltanschauliche Verortung hier nicht Diltheys Hauptthema. Es geht ihm vor allem – und deshalb die Nähe zum Methodenkapitel der Basler Logik – um die methodischen Konsequenzen der »bestimmten Art des Sentierens und Anschauens« des Genies (XIII/1, 191). »Geniale« Anschauung ist also wörtlich zu nehmen als Anschauung des Genies. Auch in den Wissenschaften sollte »jenes geniale Vermögen des Sentierens und Anschauens mit seinen Offenbarungen sich erweisen. Alle Kräfte des Gemüts sollen ineinander wirken, das Innerste des Gegenstandes nachzubilden« (XIII/1, 191). Winckelmann wird als der eigentliche Begründer dieser neuen Methode bezeichnet, dem sich Herder zur Seite stellte. Von hier führt die Entwicklung bis zur Romantik, »deren Methode ebenfalls die geniale Anschauung war« (XIII/1, 192). Dilthey setzt sich nachdrücklich für die Anerkennung der Methode der genialen Anschauung als eines neuen Instrumentariums der Geisteswissenschaften ein: Diese ganze Welt der Anschauung gehört der wissenschaftlichen Forschung. Es ist ein folgenschwerer Irrtum, unsere abstrakten Einsichten, die Erkenntnis der Gesetze, für die allein wertvollen zu halten, begreiflich bei einem Mill oder Buckle, aber unter uns durch die Richtung vieler bedeutender deutscher Forschungen von vornherein widerlegt. (XIII/1, 200) Auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften wäre auch nur Namen zu nennen Überfluß; hier hat die Methode der Anschauung das Höchste erreicht; die Schlegel, W. v. Humboldt, Bopp, die Grimm, Böckh, Welcker bilden eine Reihe. (XIII/1, 207)
Die Sonderstellung Goethes innerhalb dieses Zusammenhangs ergibt sich für Dilthey nicht nur aus dessen besonderer Stärke seiner Anschauungskraft, sondern daraus, dass er über diese reflektierte. Als besonders markantes Beispiel wird Goethes Aufgreifen der berühmten Worte Kants über den intuitiven Verstand in der Kritik der Urteilskraft hervorgehoben. Kant hatte die Möglichkeit er37 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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örtert, dass es einen Verstand geben könne, »der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom Synthetisch-Allgemeinen, (der Anschauung eines Ganzen als eines solchen) zum Besonderen geht, das ist, vom Ganzen zu den Teilen«. 8 Damit war zwar auf die Grenzen unseres (diskursiven) Denkens verwiesen, gleichzeitig die Denkmöglichkeit eines intuitiven Verstandes zugestanden. Goethe hat in dem kleinen Text Anschauende Urteilskraft die Stelle zitiert und dazu bemerkt: Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollten: so dürft es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. 9
Für Dilthey ist diese Äußerung »wie ein Markstein der Richtungen« (XIII/1, 199). Es wäre zu viel gesagt, wollte man behaupten, dass er sich einseitig auf die Seite Goethes gestellt hätte. Es geht ihm vielmehr darum, die oft als »bloß dichterisch« verachtete Richtung zur Anerkennung wissenschaftlicher Dignität zu bringen. Noch in der letzten Fassung des Goethe-Aufsatzes aus Das Erlebnis und die Dichtung wird auf die Stelle angespielt, wenn er als Grundlage von Goethes Forschung »das anschauende Verhalten, das im Verhältnis des Ganzen zu den Teilen fortgeht« (XXVI, 158) hervorhebt. »Keine bisherige Wissenschaftslehre«, heißt es im Schleiermacher, »hat diese große Richtung menschlicher Forschung wirklich untersucht« (XIII/1, 200). Es geht ihm um das Recht jenes intuitiven Verständnisses, das auf anderem Gebiet Winckelmann und Herder zuerst zu einer Methode der Forschung auszubilden unternahmen und das von ihnen ab in der ganzen Epoche, die wir hier darstellen, die herrschende geistige Verfahrensart in Deutschland geblieben ist. (XIII/1, 199 f.)
Bei aller Emphase sieht Dilthey doch auch deutlich den anderen Aspekt der »genialen Anschauung«: Dieser Methode verdanken wir epochemachende Arbeiten auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften, hervorragende auf dem der beschreibenden Na8 9
I. Kant: Kritik der Urteilskraft. Akademie-Ausgabe. Bd. 5, S. 407. J. W. Goethe: Sämtliche Werke. Artemis-Gedenkausgabe. Bd. 16, S. 878.
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turwissenschaften, dagegen überall Irrtümer, wo sie sich andern Teilen der Naturwissenschaften oder der allgemeinen Wissenschaftslehre und Metaphysik näherte, von Goethes Farbenlehre ab die Naturphilosophie hindurch. (XIII/1, 192)
Es ist zu vermuten, dass es gerade diese Einschränkungen waren, in denen die Fragestellungen von Diltheys gesamter Lebensarbeit vorbereitet wurden. Denn das Ungenügen an der fehlenden methodischen Begründung der Geisteswissenschaften, das in der Vorrede zur Einleitung in die Geisteswissenschaften so deutlich ausgesprochen wurde, kann als die eigentlich treibende Kraft von Diltheys Arbeit angesehen werden. Er spricht dort von dem »unwirksamen Protest einer lebendigeren und tieferen Anschauung« gegen den westeuropäischen Positivismus, »die sich weder zu entwickeln noch zu begründen vermochte« (I, xvi). In diesem Sinn wird schon im Schleiermacher von den »tiefgreifenden Irrungen« der Goethezeit gesprochen und von der Aufgabe, für die Methoden, die nach Kant bei philosophischen Denkern wie bei positiven Forschern bis auf unsere Zeit hin herrschend wurden, den erklärenden Grund in der damaligen Verfassung des wissenschaftlichen Geistes zu entdecken, ihre großen Impulse von ihren Irrtümern zu sondern. (XIII/1, 207)
Verfolgt man das Wort »Anschauung« in dem speziellen Sinn einer Methode der genialen Anschauung im späteren Werk Diltheys, kommt man zu zwei gegensätzlichen Ergebnissen. Einerseits bleibt die Betonung der künstlerischen Dimension der Anschauung ein wichtiges Thema: »Die Anschauung des Künstlers und die des wissenschaftlichen Forschers reichen sich hier die Hand, und Goethes Richtung auf das Morphologische ist in diesem Grundzuge begründet« (XVIII, 106). Auch in Bezug auf die Leistungen der Historischen Schule wird die Anschauung entsprechend gewürdigt. In der Rede zum 70. Geburtstag 10 werden Historiker, wie Niebuhr, Boeckh, Jacob Grimm, Ranke und Mommsen, sämtlich durch ihr ganzheitliches Erfassen ihrer Forschungsgebiete charakterisiert – die »Gesamtanschauung des geschichtlichen Lebens« (Boeckh); die »Totalanschauung des älteren deutschen Lebens« (Grimm); die »universale Anschauung des Erdganzen und der sich auf ihm abspielenden Geschichte« (Ritter und Ranke); die »objektive An10
V, 7 ff.
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schauung dessen, was gewesen ist« (Ranke); die Lösung der Aufgabe, das Leben eines Volkes aufzubauen (Mommsen). Auch im Aufbau gibt es entsprechende Stellen: Niebuhr habe die älteren römischen Zeiten »aus der Grundanschauung von einem in Sitte, Recht, dichterischer Tradition der Geschichte wirksamen nationalen Gemeingeist« verstanden; Savignys »Anschauung der Rechtsgeschichte« sei von denselben Anschauungen ausgegangen, desgleichen Jacob Grimms »große Konzeption von der Entwicklung des deutschen Geistes in Sprache, Recht und Religion« (VII, 97). Dilthey fasst zusammen: »Eine einzige, ich möchte sagen morphologische Betrachtungsweise geht durch alle diese Generalisationen hindurch und führte zu Begriffen von neuer Tiefe« (VII, 99). So können wir im Vorausblick auf unsere beiden Lebenskategorien sagen, dass sie im Kontext des Methodenproblems der Anschauung noch fast ungeschieden sind. Denn die Anschauung gibt uns ja ein Ganzes als einen Zusammenhang, den wir überblicken können. Auf der anderen Seite verblasst die Formel »geniale Anschauung« im späteren Werk zu einer historischen Kategorie für die Charakterisierung der Bewegung um 1800. Die »geniale Anschauung« sei keine besondere Methode gewesen, »sondern der Prozeß der fruchtbaren Gärung selber, in der die Einzelwissenschaften des Geistes ineinanderarbeiteten: eine werdende Welt« (I, 104). Sie habe durch die Konzentration auf ein Prinzip (d. i. die intellektuale Anschauung des Deutschen Idealismus) für kurze Zeit eine »ungewöhnliche Energie der Wirkung« gehabt, allerdings um den Preis der Einführung einer abstrakten Wesenheit (Geist, Vernunft), »welche in einer farblosen Abstraktion den geschichtlichen Weltlauf zusammenfaßt […]«. Unüberhörbar kritisch wird auch im Spätwerk der Verstand bisweilen vor der Intuition in Schutz genommen, etwa wenn der Autor das Denken »vom lebendigen Gefühl und von der genialen Intuition bekämpft« sieht (VII, 6) oder wenn die deutsche Aufklärung vor der »genialitätsstolzen Kritik ihrer romantischen Gegner« verteidigt wird (III, 142). »Wir brauchen nicht in die Intuition zu flüchten und den Begriffen zu entsagen, aber allerdings gilt es, die historischen und psychologischen Begriffe umzubilden« (VII, 280). Aber dann finden wir auch im Spätwerk wiederum den direkten Rekurs auf die frühe Anschauungsthematik. So heißt es 1901 über Winckelmann:
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Das Vermögen der nachschaffenden kongenialen Anschauung wurde durch ihn in seinem Werte für das historische Erkennen zur Anerkennung gebracht. Diese Anschauung erfaßt Werke des Geistes durch eine innere Bewegung der Seele, sie geht vom Ganzen aus und macht es aus der erzeugenden Kraft verständlich bis zu jedem Zweig der Technik, in welchem das Innere sich ausdrückt, bis zu jeder Linie des Bildwerkes oder dem Rhythmus und Klange der Verse. (III, 258)
Es verdient angemerkt zu werden, dass die Anschauung hier nicht mehr »genial«, sondern »kongenial« genannt wird. Dies erinnert an eine der ersten Skizzen von Diltheys Weltanschauungstypologie, wo die später »objektiver Idealismus« genannte Tradition als »Philosophie des congenialen Weltverständnisses« bezeichnet wird. 11 Darin steckt eine weltanschauliche Voraussetzung, von der Goethes Anspruch auf die geistige Teilnahme an der schaffenden Natur getragen ist und die auch Dilthey nicht fremd gewesen sein dürfte.
3.
»Vom Ganzen ausgehend«
Die Herausarbeitung des geistesgeschichtlichen Zusammenhangs der Epoche Goethes mit der Gegenwart des jungen Dilthey (»So ruht Goethes forschendes Auge noch auf dem, was wir heute tun«, V, 24) erfuhr eine gewisse Interessenverschiebung, als Dilthey in Basel durch seinen Kontakt mit Naturwissenschaftlern stärker als noch in der Berliner Zeit mit sinnesphysiologischen Studien befasst war. Vielleicht ließ das Interesse an der »genialen Anschauung« in dem Maße nach, in dem – wiederum im Blick auf Goethe – die sinnesphysiologischen Bedingungen der dichterischen Einbildungskraft besondere Aufmerksamkeit erfuhren. Der Zeitpunkt, von dem ab diese Verschiebung spätestens stattfand, lässt sich durch Diltheys intensive Rezeption der Frühschrift des Physiologen Johannes Müller Über die phantastischen Gesichtserscheinungen 12 genau bestimmen. Müllers Einfluss ist schon in dem Anschauungskapitel im Leben Schleiermachers deutlich erkennbar und steigert sich dann im Zuge der Herausbildung von Diltheys eigener Theorie der MetaBriefwechsel I, 170 f. J. Müller: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung. Koblenz 1826. – W. Dilthey: Phantastische Gesichtserscheinungen von Goethe, Tieck und Otto Ludwig. In: XV, 93–101.
11 12
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morphose der Vorstellungsbilder. Sein Traum, strengen Gesetzen des produzierenden Geistes auf der Spur zu sein, hat noch in seiner Poetik von 1887 eine Rolle gespielt. 13 Wie auch immer die Interessen und ihre Artikulation im Einzelnen sich veränderten – der Kern des Methodenproblems, zentriert in »Goethes Lehre von einer Anschauung, in welcher die Teile aus dem Ganzen verstanden werden« (GS V, 26), erhielt sich als zentraler Bestand in Diltheys lebenslanger Arbeit. Schon im Leben Schleiermachers fasst er die methodologischen Erwägungen zum Thema »geniale Anschauung« in der Formel zusammen: »Vom Ganzen ausgehend Gliederung, Verteilung und Struktur aufzufassen.« Dieser und der zuvor zitierte Satz (V, 26) erinnern an eine programmatische Äußerung aus den Ideen: »Wir gehen im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen, der uns lebendig gegeben ist, aus, um aus diesem das einzelne uns fassbar zu machen.« (V, 172) In diesen (und zahlreichen anderen) Formulierungen ist nicht davon die Rede, dass es im Verstehen um ein zirkuläres Hin- und Hergehen zwischen Ganzem und Teilen im Sinne des vielbeschworenen »hermeneutischen Zirkels« gehe. Dies legt die Frage nahe, ob das hier jeweils gemeinte Ganze eine andere Gegebenheitsweise beanspruchen kann als ein uns im Sinne einer Verstehensaufgabe begegnendes Textganzes. Welches sind die Bedeutungsnuancen in der Rede vom jeweils gemeinten Ganzen? Im Falle von »Goethes Lehre von einer Anschauung, in welcher die Teile aus dem Ganzen verstanden werden«, ist festzuhalten, dass der von Dilthey zitierte Widerspruch Goethes gegen Kants Einschränkung des anschauenden Vermögens sich auf die Erkenntnis der Natur bezieht. Dies wird im Schleiermacher konkretisiert. Dilthey skizziert Goethes Weg zu den Allgemeinvorstellungen (Schemata), in denen wir, von den für uns bedeutungslosen Unterschieden absehend, Anschauungen bilden, die im Wechsel der Erscheinungen ein Gleichbleibendes mit sinnlichen Linien zeichnen, das doch nirgend existiert. Solche Schemata waren die morphologischen Grundformen, wie sie Goethe aufzustellen unternahm. (XIII/1, 200)
Die Schwierigkeit, hier zu unterscheiden zwischen einem eher induktiv zu nennenden Weg vom Besonderen zum Allgemeinen und Vgl. F. Rodi: Das strukturierte Ganze, a. a. O., S. 85 ff. – Ders.: Morphologie und Hermeneutik. Zur Methode von Diltheys Ästhetik. Stuttgart 1969, S. 64–74 u. 130–140.
13
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einem »Ausgehen vom Ganzen« wird illustriert durch Diltheys schwankenden Sprachgebrauch. Er sagt einmal, Goethe habe die Naturerscheinungen in ihrer Gliederung »als ein Ganzes« aufgefasst (XIII/1, 200), dann wieder: »zu einem Ganzen« (XIII/1, 196). Ist hier nicht doch eine Zirkularität impliziert, die in der Formel vom Ganzen nur verdeckt wird? Zu dieser Vermutung ermutigt uns Goethe selbst mit seiner Bemerkung, er habe es für selbstverständlich gehalten, als Dichter und Forscher immer zugleich synthetisch und dann wieder analytisch zu verfahren: »Die Systole und Diastole des menschlichen Geistes war mir, wie ein zweites Atemholen, niemals getrennt, immer pulsierend.« 14 Auf diese Stelle bezieht sich Dilthey, wenn er einräumt, dass auch in einer von der seelischen Ganzheit ausgehenden deskriptiven Psychologie Analysis und Synthesis, ihnen eingeordnet Induktion und Deduktion […] nicht auseinandergerissen werden. Sie bedingen einander in dem Lebensprozeß der Erkenntnis nach Goethes schönem Wort, wie sich Einatmen und Ausatmen bedingen […]. Aber darum handelt es sich nun hier, daß der Gang einer solchen Psychologie ausschließlich beschreibend und zergliedernd sein muß, gleichviel ob im Dienste dieses Verfahrens synthetische Denkakte erforderlich sind. (V, 169)
Der leitende Gedanke dieser Argumentation ist, dass die deskriptive Psychologie im Unterschied zu »erklärenden« Methoden naturwissenschaftlich ausgerichteter Disziplinen von einer »festen, erlebten und unmittelbar sicheren Grundlage« (V, 172) ausgehen kann, nämlich dem erfahrenen Zusammenhang des Seelenlebens. Dieser ist das »Ganze«, von dem alle Beschreibungen und Zergliederungen bestimmt sind. Alle psychologische Einzelerkenntnis ist nur Zergliederung dieses Zusammenhangs. So ist hier eine feste Struktur unmittelbar und objektiv gegeben, daher hat die Beschreibung auf diesem Gebiete eine zweifellose, allgemeingültige Grundlage […]. Das psychologische Denken artikuliert und distinguiert von dem gegebenen Zusammenhang aus. (V, 173 f.)
Die Schwierigkeit, die verschiedenen Konzeptionen von einem Ganzen als Ausgangspunkt der Artikulation zu vereinen, liegt darin, dass jetzt, mit der beschreibenden und zergliedernden Psycho14
Goethe, a. a. O., S. 874.
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logie, ein Ganzes auftritt, das nicht mehr primär der Objektwelt angehört, sondern zugleich Subjekt und Objekt einer Selbstbesinnung ist. Diese ist nicht nur mit Einschränkung »Psychologie« zu nennen, sondern im Sinne von Diltheys frühesten Konzeptionen eher »Anthropologie« oder »Philosophie des Lebens«. Dies kann hier nicht in alle Komponenten auseinandergelegt werden. Aber es scheint lohnend, Teile des Wurzelgeflechtes freizulegen, aus dem die spätere Lebenskategorie Zusammenhang ihre Kraft bezog. Damit begeben wir uns auf einen anderen Weg, der eher in die Nähe zu Kant als zu Goethe führt.
4.
Der Zusammenhang der Lebendigkeit
Mit der Fokussierung auf den erlebten psychischen Zusammenhang verschiebt sich unser Interesse innerhalb der Skala Kant-Goethe. Die Orientierung an Goethes Naturforschung hatte Dilthey auf dem Umweg über die Sinnesphysiologie zum Thema »Einbildungskraft« geführt und ein Leben lang, bis zur letzten Fassung des Goethe-Aufsatzes aus Das Erlebnis und die Dichtung, beschäftigt. Die wichtigste Station auf diesem Weg war Diltheys Poetik von 1887, in der sich Elemente einer deskriptiven Psychologie mit solchen eines erklärenden Ansatzes mischten. Eine andere Linie seiner Interessen ging aus von seinem frühen Aufsatz über Novalis (1865), in dem der Gedanke einer deskriptiven Psychologie unter dem Namen »Realpsychologie« oder »Anthropologie« zum ersten Mal formuliert wurde. 15 Dass die beiden Linien nicht eng zusammengehören, zeigt sich schon darin, dass in dem oben herangezogenen Kapitel aus dem Leben Schleiermachers Novalis mit keinem Wort erwähnt wird. Dies bedeutet, dass Dilthey ihn nicht zu den Repräsentanten der »genialen Anschauung« auf der Linie Winckelmann – Herder – Goethe usw. rechnete. Diese Ausklammerung ist umso auffälliger, als der Novalis-Aufsatz in großer zeitlicher Nähe zu dem Kapitel über die »geniale Anschauung« und zur Basler Logik geschrieben und Novalis in anderer Hinsicht vielfältig im Buch über Schleiermacher präsent ist. Ähnlich wie Hölderlin ist Novalis für Dilthey
15
Vgl. XXVI, 173 ff.
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nicht »Morphologe«, nicht Vorläufer der Historischen Schule, nicht Gründervater der hermeneutischen Wissenschaften. Trotz der »größten Verschiedenheit der Ideenkreise« (XXVI, 198) sieht er ihn eher in der Nähe Schopenhauers. Wie dieser gehe Novalis davon aus, dass der Geist nur sich selbst kennt und die Natur »unbegreiflich per se« ist. Die naturphilosophischen Versuche des Novalis sieht Dilthey nur als Ausdruck einer Zeitstimmung. »Dagegen finde ich die Gedanken Hardenbergs [= Novalis] über die Wissenschaften des Geistes von hervorragender Originalität« (XXVI, 196). Diese Konstellation Novalis – Schopenhauer – Dilthey erscheint zunächst befremdlich. Sie wird plausibel, wenn man als das Gemeinsame die Überzeugung von der »Stummheit« der Natur annimmt. So wie bei Schopenhauer ein Wissen vom Inneren der Natur nur »nach Analogie des Leibes« indirekt vermittelbar ist und für Dilthey die Grenzen des Verstehens durch die Natur gegeben sind, wird bei Novalis der Gedanke betont, die Natur als das per se Unbegreifliche erscheine »als ein Universaltropus des Geistes, d. h. als ein symbolisches Bild desselben. Demgemäß ist sie durch diesen allein verständlich« (XXVI, 196 f.). Dies ist weit entfernt von Goethes »kongenialem Weltverständnis« und seiner Gewissheit, der schaffenden Natur gleichsam über die Schulter zu schauen. Wir bleiben im Folgenden auf dieser Spur. Die »Realpsychologie« oder »Anthropologie« des Novalis wird bestimmt als »eine Psychologie, welche den Inhalt unserer Seele selber zu ordnen, in seinen Zusammenhängen aufzufassen, soweit möglich zu erklären unternimmt« (XXVI, 198). Abgesehen von dem von Dilthey selbst herausgehobenen Wort »Inhalt« (als Gegenbegriff gegen die formalen psychischen Mechanismen) ist hier auf das Wort »Zusammenhang« zu achten, das dann 30 Jahre später, in den Ideen, zu der vielleicht am häufigsten gebrauchten Leit-Vokabel des Textes, z. T. unter Rekurs auf den Novalis-Aufsatz, wurde. Dieses Wort des damals etwa dreißigjährigen Dilthey wird in seinem Denken eine ähnlich dominante Rolle spielen wie andere, zu größerer Prominenz gekommene Begriffe (Leben, Erleben, Verstehen usw.). Die zentrale Bedeutung dieses Begriffs ›Zusammenhang‹ kann gar nicht überschätzt werden. Wir haben es nun mit der zweiten Lebenskategorie, von der wir ausgegangen sind, zu tun. Dilthey hat schon in seinen ersten Fragmenten zu einer deskriptiven Psychologie dem erlebten psychischen Zusammenhang 45 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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eine zentrale Stelle gegeben. Er bilde »das Schema der Auffassung eines jeden anderen lebendigen und realen Ganzen«. Damit ist er die Bedingung der Möglichkeit des Auffassens von Ganzheiten überhaupt. Er ist »ein Zusammenhang, welcher nicht in Begriffen ausgedrückt werden kann, den wir aber erleben und der in Folge davon von uns in concreto zum Bewusstsein gebracht werden kann« (XVIII, 164). Mit diesen und ähnlichen Gedanken ist Dilthey Kant näher als Goethe. Man zitiert allzu häufig seine Kritik an dem »starren und toten« Apriori Kants. Man sollte aber nicht vergessen, mit welchem Nachdruck er es als »die Stärke des Kantschen Kritizismus« bezeichnet hat, dass Kant in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft »sein Werk tiefer gegründet und den Bedingungsinbegriff der Erscheinungen, der in uns gelegen ist, als Synthesis der Apperzeption bestimmt hat.« »Hier treffen wir auf eine Bedingung, welche nicht aus Erfahrung entspringt, sondern wahrhaft Voraussetzung der Erfahrung ist.« (XVIII, 196 f.) Noch nachdrücklicher erfolgt der Hinweis auf Kants Lehre von der transzendentalen Apperzeption im 12. Kapitel der Breslauer Ausarbeitung. In ihr sieht Dilthey »den tiefsten Punkt der Kritik der reinen Vernunft« (XIX, 155). Wenn er im selben Kapitel von dem Selbst spricht, »welches mit seinem: ich denke, ich will, ich fürchte seine Zustände begleitet« (XIX, 173), so nimmt er mit dieser Anspielung auf das kantische »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können« nur eine Korrektur des einseitigen Intellektualismus vor, steht aber im Prinzip auf kantischem Boden. Dies zeigt sich auch in seinen Ausführungen über die Einheit des Bewusstseins in seinen Psychologie-Vorlesungen und der Breslauer Ausarbeitung. Die Einheit des Bewusstseins ist »die allgemeine Bedingung, unter der allein Inhalte zur Erfahrung und zur Einheit des Gegenstandes verknüpft werden« (XXI, 236, vgl. 311). Dilthey spricht von den »unteilbaren Handlungen des Bewußtseins«, in denen Bewusstseinsinhalte »ineinandergehalten und aufeinander bezogen werden« (XXI, 311). Dies wird aufgenommen in den Ideen, wo als Bedingung einzelner geistiger Leistungen »ein ursprünglicher Zusammenhang, eine Einheit, die nicht aus getrennten Elementen und den Leistungen derselben zusammengeschlossen ist, vorausgesetzt wird« (V, 224). Hier meint Dilthey den »lebendigen Zusammenhang der Seele«. »Er ist das Leben, das 46 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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vor allem Erkennen da ist.« (V, 196) Martin Heidegger hat diesen Gedanken so zusammengefasst: Dieser Zusammenhang ist ihm (d. i. Dilthey; F. R.) das Primäre, das Ganze des Lebens selbst. Der Zusammenhang ist immer schon da, nicht erst aus Elementen aufzubauen. Er ist als erstes festgehalten, und aus ihm sind seine Glieder herauszulösen. 16
5.
Apriorisch oder empirisch?
Diese von Kant her bestimmte Konzeption wird nun spätestens seit Mitte der 1880er Jahre überlagert von einem naturalistisch fundierten Modell, in dem eine Übertragung des Reiz-Reaktions-Schemas der animalischen Welt auf das innere Leben des Menschen vorgenommen wird. So kann Dilthey jetzt sagen: »Die Urzelle des inneren Lebens ist überall der Fortgang vom Eindruck aus dem Milieu des Lebewesens zu der Bewegung, die das Verhältnis zu diesem Milieu im Lebewesen anpaßt.« (XIX, 345) Es soll hier nicht nach den Einzelheiten des Auftretens dieses Theorems gefragt werden. Wichtig für unser Thema ›Zusammenhang‹ ist die Tatsache, dass für die Bedeutung dieses Begriffs eine Ausdifferenzierung stattfindet. ›Zusammenhang‹ bleibt erstens der Name für die transzendentale Voraussetzung ganzheitlichen Verstehens durch einen nicht hinterfragbaren, jedoch erlebbaren psychischen Zusammenhang. Als ›Strukturzusammenhang‹ bildet zweitens der Funktionszusammenhang von kognitiven, emotiven und volitionalen Leistungen bzw. Bewusstseinslagen ein besonders wichtiges Element, dessen eigentliches Motiv die Anerkennung der Totalität der Menschennatur gegenüber jeder kognitivistischen »Verstümmelung« darstellt. Dieser Funktionskreis, der sich in der triadischen Beziehung von Auffassen der Wirklichkeit, Wertschätzung und Zwecksetzung konkretisiert, erfährt drittens eine Verengung und Zuspitzung im Sinne des Reiz-Reaktions-Schemas, wie dies teilweise für die Schriften um 1890 kennzeichnend ist. M. Heidegger: Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung. In: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 8 (1992–1993), 156. Jetzt auch in: M. Heidegger: Gesamtausgabe Bd. 80.1. Frankfurt a. M. 2016, S. 127.
16
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Aber Dilthey lässt uns bisweilen ratlos. Es wird z. B. nicht deutlich, ob der »ursprüngliche Zusammenhang« (V, 224), also »das Leben selber, die Lebendigkeit, hinter die ich nicht zurückgehen kann« (V, 83), eine apriorische Voraussetzung oder aber Teil des Strukturzusammenhangs sein soll, sofern dieser als empirisch gegebener Funktionszusammenhang anzusehen ist. Noch beim spätesten Dilthey finden wir ein gewisses Schwanken. In einem (allerdings nicht von ihm selbst veröffentlichten, sondern eher ins Unreine geschriebenen) Fragment aus dem Umkreis der Studien über die Grundlegung der Geisteswissenschaften (1904/05) wird gesagt, die Strukturzusammenhänge seien »gleichsam das Apriori, auf welches eine objektive Philosophie zurückzugehen hat« (XXIV, 161). Dieses relativierende »gleichsam« nimmt Dilthey aber sofort zurück, indem er im nächsten Satz betont: »Und zwar in dem echt kantischen Sinne von Apriori als der im psychischen Zusammenhang enthaltenen Bedingung des Denkens.« (ebd.) Noch auf derselben Seite wird dies dann wieder abgeschwächt, indem gesagt wird, die Frage nach dem Rechtsgrund unseres Wissens von den strukturellen Beziehungen sei »der Grundfrage Kants verwandt, daß wir genötigt werden, von gegebenem Wissen zu dessen Bedingungen zurückzugehen« (ebd.). Diese »Verwandtschaft mit dem Apriori Kants« (XXIV, 160) wird auch in einem Nachbarfragment betont, in dem es heißt: »So kann man schließlich diese Struktur als den letzten Zusammenhang bezeichnen, der dem Machen, dem Schaffen seine Regelhaftigkeit gibt.« (ebd.) Hier bleibt vieles offen. Man erinnert sich an die immer wieder konstatierte Zwischenstellung Diltheys zwischen den Extremen der Philosophie des 19. Jahrhunderts – zwischen »Romantik und Positivismus«, zwischen »Schleiermacher und J. St. Mill«, »Biologismus und Selbstbesinnung«, »Transzendentalphilosophie und Empirismus«. Nicht zuletzt war es Dilthey selbst, der mit seinem Fragment Die Philosophie des Lebens in ihrem Verhältnis zu Empirismus und Spekulation (XIX, 39– 41) das entsprechende Stichwort gegeben hat. Unabhängig von dieser Fragestellung ergibt sich ein weiterer Aspekt des psychischen Zusammenhangs durch die elementare Form des Bewusstseins, die Dilthey das Innewerden nennt. Er meint damit das beständige, fast unmerkliche Wissen um das Befasstsein mit Bewusstseinsinhalten, die mir in einer unausdrücklichen Weise gegenwärtig sind. Dieses Innewerden ist eine Art Zwi48 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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schenstufe zwischen dem gleichsam bewusstlosen Aufgehen in der Vorstellung eines Dinges oder eines Gefühls und dem bewussten, reflektierten ›Vor-sich-stellen‹ eines Gegenstandes. In diesem Zwischenbereich, von dem Dilthey sagt, er sei »die einfachste Form, in dem psychisches Leben auftreten kann« (XIX, 67), findet zwar nicht die übliche Sonderung zwischen vorstellendem Subjekt und seinem Gegenstand statt; er ist »gleichsam ein Hell- und Lichtwerden dessen, was diesen Inhalt bildet« (XIX, 66). Rudolf A. Makkreel hat im Zuge der amerikanischen Dilthey-Übersetzung den Begriff ›Innewerden‹ durch ›reflexive awareness‹ übersetzt. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es im Unterschied zum reflektierenden Gegenstandsbewusstsein jene unmerkliche Spiegelung der Tatsachen des Bewusstseins gibt, die eine nicht »reflektive«, sondern nur »reflexive« Begleitung der intentionalen Bezüge darstellt. Auch Makkreel sieht hier einen Bezug zum transzendentalen »Ich denke« Kants, betont aber den nicht reflektierenden Charakter dieser Form des Bewusstseins. Das Innewerden »ist transzendental, ohne ein transzendentales Ich zu setzen. Innewerden geht allen reflektierenden Unterscheidungen zwischen Subjekt und Objekt, Handlung und Inhalt, Form und Inhalt voraus, die das vorstellende Bewusstsein charakterisieren.« 17 Aber auch die reflektierende Erfahrung bildet einen Zusammenhang von Erlebnissen, in dem sich das Wissen vom Leben und der Geschichte aufbaut. Wir können abschließend in diese Gedanken eine Notiz Diltheys einbringen, in der auch das Verhältnis der beiden Lebenskategorien Ganzes und Teile und Zusammenhang noch einmal berührt wird. Es geht dabei um die Frage, wie uns der Zusammenhang des Lebens gegeben ist. Zunächst wird festgestellt: »Wir fassen Zusammenhang auf vermöge der Einheit des Bewusstseins. Diese ist die Bedingung, unter welcher alles Auffassen steht.« (VII, 195) Aber, so führt Dilthey den Gedanken weiter, das Stattfinden von Zusammenhang wird nicht durch die Einheit des Bewusstseins konstituiert: »Nur weil das Leben selbst ein Strukturzusammenhang ist, in welchem die Erlebnisse in erlebbaren Beziehungen stehen, ist uns Zusammenhang des Lebens gegeben.« (ebd.) Die kategoriale Erfassung dieses Zusammenhangs bedarf R. A. Makkreel: Dilthey. Philosopher of the Human Studies. Princeton 1975. Dt. Übers. Frankfurt a. M. 1991, S. 85.
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Dilthey zwischen Kant und Goethe
aber einer übergeordneten Kategorie, »welche eine Weise der Aussage über alle Wirklichkeit ist, – dem Verhältnis des Ganzen zu Teilen« (ebd.).
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Diltheys Strukturbegriff im Kontext von Naturwissenschaft und Philosophie des 19. Jahrhunderts
1. Es ist seit den 1960er Jahren schwierig geworden, über »Struktur« zu sprechen, ohne an die philosophische Avantgarde im Paris jener Jahre zu denken. Aber es wird häufig übersehen, dass sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert das Wort »Struktur« nicht immer auf statische Ordnungen und Systeme bezog, die sich als leitende Prinzipien menschlichen Verhaltens archäologisch aus den Schichten des Unbewussten ausgraben ließen. Vielmehr gab es eine Tradition, der gemäß »Struktur« als ein dynamisches Prinzip für organische Einheiten stand, die durch ihre inhärente Teleologie als »sinnvoll« aufgefasst werden konnten. 1 In diesem Sinne waren der Organismus und der menschliche Geist zwei Felder, auf denen wir frühe Anwendungen des Wortes finden. Schon 1699 sprach Shaftesbury von der »united structure and fabric of the mind«. 2 Caspar Friedrich Wolff (1734–1794), ein Biologe und Mediziner, der gegen die mechanistische bzw. theologische Konzeption von Evolution kämpfte und für das Prinzip der Epigenese eintrat, machte Gebrauch von der eingedeutschten Form »Struktur«, was damals noch ungewöhnlich war. Er sprach von der »inneren« oder »organischen« Struktur des
Zur Geschichte des Strukturbegriffs vgl. M. Dessoir: Geschichte der neueren Psychologie. 2. Aufl. Amsterdam 1964; H.-J. Lieber: Die psychische Struktur. Untersuchungen zum Begriff einer Struktur des Seelenlebens bei Dilthey. Diss. (masch. schr.) Berlin 1945; – Neu zu unserem Thema: J.-Cl. Gens: L’origine et l’avenir biologique du concept diltheyen de Strukturzusammenhang. Entre Karl Ernst von Baer et Jakob von Uexküll. In: Lo Sguardo – Rivista di Filosofia 14, 2014 (I) (Wilhelm Dilthey: Un Pensiero della Struttura), S. 101–116. 2 A. A. Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. London 1711, Vol 2, S. 174. 1
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Diltheys Strukturbegriff im Kontext von Naturwissenschaft und Philosophie
Organismus, womit er das Ergebnis der Differenzierung in der Natur meinte. 3 In seinem Aufsatz Die russische ideologische Tradition und die deutsche Romantik 4 hat Elmar Holenstein gezeigt, dass Roman Jakobson, einer der Begründer des linguistischen Strukturalismus und Gegner eines statischen Strukturbegriffs, wie er aus der Sprachtheorie von de Saussure abgeleitet wurde, von dem Biologen Karl Ernst von Baer beeinflusst war, der seinerseits Anhänger von Wolff war. Wolff und von Baer lehrten in Russland. Jakobson bezog sich in seinem Aufsatz Über die heutigen Voraussetzungen der russischen Slavistik nicht nur auf diese Tradition. 5 Er wandte auch wiederholt von Baers Prinzip der »inneren Differenzierung« auf seinen eigenen holistischen Ansatz an, vor allem auf das Problem der ontogenetischen Sprachentwicklung des Kindes. 6 So können wir sagen, dass der Strukturalismus des 20. Jahrhunderts in seinen frühesten Stadien eine seiner Wurzeln in einigen holistischen Begriffen der Biologie hat, in denen das Problem der Entwicklung bzw. Evolution durch die Idee gefasst werden sollte, dass organische Entwicklung Differenzierung bedeutet, also einen Fortgang von einem Zustand der Homogenität zu einem Zustand der Heterogenität. Auf einem verschlungenen Pfad, der mit der Edition von Diltheys erstem Entwurf einer deskriptiven Psychologie 7 bekannt geworden ist, gelangte der Strukturbegriff zusammen mit der Idee der strukturellen Differenzierung gleichfalls von den deutsch-russischen Physiologen in die moderne Theorie der Geisteswissenschaften und der Soziologie. Es war Herbert Spencer, der das Prinzip der Differenzierung zu einem allgemeinen Gesetz der Evolution machte, das sowohl für die Natur wie für die gesellschaftlich-geschichtliche Welt zu gelten habe. In seiner Autobiographie berichtet er, wie er auf C. Fr. Wolff veröffentlichte seine Dissertation Theoria Generationis 1759. Die deutsche Version Theorie von der Generation in zwei Abhandlungen erklärt und bewiesen (1764) erschien auch als Nachdruck (Hildesheim 1966). Wolff benutzt »Struktur« vor allem in Secs. 27–29. 4 Erschienen in: R. Jakobson, H.-G. Gadamer, E. Holenstein: Das Erbe Hegels II. Frankfurt a. M. 1984, S. 21–142. 5 R. Jakobson: Über die heutigen Voraussetzungen der russischen Slavistik. In: Slavische Rundschau I, S. 629–646. 6 Vgl. Holenstein, a. a. O., S. 75. 7 W. Dilthey: Die Mannigfaltigkeit des psychischen Lebens und ihre Einteilung. In: Ders., Ges. Schr. XVIII, S. 112–183. 3
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von Baers Gesetz der Differenzierung stieß, als er 1851 für die Westminster Review das Buch Principles of Physiology, general and comparative von W. B. Carpenter zu rezensieren hatte. 8 In der Abhandlung Progress: Its Law and Cause von 1857 9 schreibt Spencer: In respect to that progress which individual organisms display in the course of their evolution, this question has been answered by the Germans. The investigations of Wolff, Goethe, and von Baer have established the truth that the series of changes gone through during the development of a seed into a tree, or an ovum into an animal, constitute an advance from homogeneity of structure to heterogeneity of structure. […] It is settled beyond dispute that organic progress consists in a change from the homogeneous to the heterogeneous.
Spencers gesamtes System hat als Basis die Idee, dass this law of organic process is the law of all progress. […] From the earliest traceble cosmical changes down to the latest results of civilization, we shall find that the transfomation of the homogeneous into the heterogeneous is that in which progress essentially consists.« (ebd.)
In seinen First Principles bezieht sich Spencer wiederholt auf die »German physiologists«, deren Gesetz der organischen Entwicklung er zu einem allgemeinen Gesetz macht. 10 Diese Bezugnahme finden wir wiederholt in dem Buch La Psychologie Anglaise Contemporaine des französischen Psychologen Th. Ribot. Er schreibt: Les physiologistes allemands ont tres-bien etabli que dans les organismes individuels, le progres consiste dans la passage d’une structure homogène à une structure heterogène. 11
Dies ist die Stelle, an der gleichsam die Stafette an Dilthey weitergegeben wird. Im Zuge seiner umfangreichen Rezensionstätigkeit bespricht er 1877 ein anderes Buch von Ribot und stößt vermutlich erst damals auf das schon 1870 erschienene Werk über die englische Psychologie. 12 Er notiert sich die von Ribot hervorgehobenen Formulierungen, die Begriffe »Struktur« und »Differenzierung« H. Spencer: An Autobiography. 2 vols. New York 1904. Vol. 2, S. 445 f. H. Spencer: Essays, scientific, political and speculative, Vol. 1, London 1868, S. 2. 10 H. Spencer: First Principles. New York 1896, S. 369 f. 11 Th. Ribot: La Psychologie Anglaise Contemporaine. Paris 1870, S. 169. 12 Vgl. Ges. Schr. XVII, S. 131. 8 9
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eingeschlossen, und spricht in seinem eigenen Text von einer Korrespondenz zwischen der »Stufenfolge der psychischen Differenzierung« und der »physiologischen Struktur-Differenzierung« (XVIII, 168 u. 239). Spätestens von hier ab (ca. 1880; vgl. XVIII, 234) gehört der Gedanke eines genetischen Zusammenhangs der »Stufenfolge oder Entwicklung des psychischen Lebens in der aufsteigenden Reihe komplexerer tierischer Organismen« (XVIII, 168) mit der Strukturdifferenzierung der menschlichen Psyche zu Diltheys Leitgedanken zumindest in seiner »positivistischen« Phase. Zu beachten ist jedoch, dass dies nicht mit einem durchweg reduktionistischen Gestus verbunden ist. Vielmehr finden wir gerade auch in diesen Manuskripten die Suche nach dem Weg von den naturhaften Bedingungen des menschlichen Lebens zu den differenzierten Leistungen in Geschichte und Kultur. Zwar geht es auch Dilthey, wie den »Physiologisten« und Spencer, damals noch um Gesetze, aber immerhin um solche »der wachsenden Differenzierung in der Kultur« (XVIII, 239). Es sind die Jahre, in denen er auch für die dichterische Phantasie Gesetze aufzufinden suchte und auch da auf Ergebnisse der Physiologie zurückgriff: »Die Poetik scheint unter Bedingungen zu stehen, welche vielleicht ihr zuerst die innere Erklärung eines geistig-geschichtlichen Ganzen nach kausaler Methode ermöglichen.« (VI, 125) Aber so, wie er in einer späteren Phase diesen Ansatz revidierte (VI, 313 ff.), verliert auch der Strukturbegriff – mit den Worten Georg Mischs gesagt – »sein biologisches Gesicht, das er zeigt, wenn er auf die organischen Lebensfunktionen bezogen ist, und abwirft, sobald er als Ausdruck dient für das in sich sinnvolle Gefüge qualitativer Relationen« (V, xcvi). Die »Einbeziehung des Organischen in den Lebensbegriff« ist – noch einmal mit Misch gesagt – »eine dieser ›Philosophie des Lebens‹ wesentliche Tendenz« (ebd.). Der Bezug zu den biologischen Grundlagen höherer geistiger Leistungen ist aus Diltheys tragenden Konzeptionen nicht wegzudenken. Aber es gehört zu den schwierigsten Aufgaben einer Interpretation dieses Denkens, die Grenzen zu sehen, von denen ab organologische Begriffe nur noch »vage Analogien« ausdrücken (VII, 23).
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2. Zu der Zeit, als Dilthey auf die physiologische Konzeption der strukturellen Differenzierung stieß, hatte er vom Strukturbegriff nur wenig, wenn überhaupt, Gebrauch gemacht. 13 Seine grundlegenden anthropologisch-psychologischen Konzeptionen waren jedoch so konzipiert, dass statt des Wortes »Struktur« andere Begriffe, wie »Gefüge«, »Gliederung« oder »Artikulation«, Verwendung fanden. Es gab also bei ihm einen Strukturbegriff avant-lalettre. Dieser bezog sich auf die altehrwürdige Lehre von den drei »Seelenvermögen« (Denken, Fühlen, Wollen), mit deren Funktion und »Gliederung« Dilthey von seinen ersten akademischen Anfängen bis zu seinen spätesten Arbeiten in der einen oder anderen Form befasst war. Es ging ihm dabei allerdings nicht um isolierbare Kräfte der Seele, sondern um Elemente der verschiedenen Bewusstseinslagen, die immer auf das Ganze des psychischen Zusammenhangs bezogen sind. 14 Diese Fokussierung auf die »Totaltatsache des Lebens« soll im Folgenden als das »Totalitätsmotiv« bezeichnet werden. Es kann mit aller gebotenen Vorsicht als die tragende Konzeption seines ganzen Denkens angesehen werden. Seiner Tendenz nach ist es primär eine Kritik an jeder intellektualistischen »Verstümmelung« des Zusammenwirkens von kognitiven, emotiven und volitionalen Elementen in jedem einzelnen Bewusstseinszustand. Es betrifft darüber hinaus die Struktur dieses Zusammenwirkens und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für eine erkenntnisanthropologische Grundlegung der Geisteswissenschaften. Wie dieses Totalitätsmotiv in die erkenntnistheoretischen Im »Manuskript I« der Fortsetzungen der Abhandlung von 1875 finden sich zwei Bezugnahmen auf die »Struktur unseres Nervensystems« bzw. auf die Struktur der Sinnesnerven im Zusammenhang mit Arbeiten von Hamilton und Baine. Vgl. XVIII, 74 u. 97. Dies ist systematisch ohne Belang. 14 Während in der Basler Logik von den »drei Urphänomenen, Wille, Intelligenz und Gefühl« (XX, 123) gesprochen wird, betont Dilthey in der Mannigfaltigkeit, dass das Verhältnis der drei Funktionen nicht als »das des Nebeneinanderbestehens selbständiger Vermögen« anzusehen sei (XVIII, 161). Noch nachdrücklicher in einer späten Vorlesung: »Eine solche Vermögenslehre hat schlechterdings nichts zu tun mit dieser Strukturlehre« (XX, 322). Allerdings spricht er in den Ideen von den »drei großen in der seelischen Struktur verbundenen Gliedern des Seelenlebens, nämlich der Intelligenz, des Trieb- und Gefühlslebens und der Willenshandlungen« (V, 180). 13
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Überlegungen zu dieser Grundlegung eingebracht wurde, zeigt sich vor allem in den erkenntnistheoretischen Manuskripten der so genannten Breslauer Ausarbeitung, die weder von Dilthey selbst noch von den ersten Herausgebern seiner Gesammelten Schriften veröffentlicht wurde. Sie bildet heute das Herzstück des 19. Bandes der Ausgabe und lässt erkennen, wie der ursprüngliche erkenntnistheoretische Ansatz durch das Totalitätsmotiv eine besondere Ausrichtung erfuhr, die dann erst später mit dem Strukturbegriff ihre terminologische Festschreibung erhielt. Vor allem Kapitel 6 der Breslauer Ausarbeitung führt diese »Strukturtheorie ohne Strukturbegriff«, wie man sie nennen könnte, durch. Sein Titel (»Die Gliederung der Tatsachen des Bewusstseins«) zeigt, welche Konsequenzen Dilthey aus seinem so genannten Zweiten Hauptsatz der Philosophie zu ziehen bereit war. Der Erste Hauptsatz, der »Satz der Phänomenalität«, hatte besagt: Alle wahrnehmbaren Gegenstände, die Personen meiner engsten Beziehung eingeschlossen, sind für mich nur da als Tatsachen meines Bewusstseins. Damit wurde gesagt, dass das Problem der Wirklichkeitserkenntnis nur durch eine Bewusstseinsanalyse gelöst werden könne. Aber dieses Prinzip allein würde zu einem radikalen Phänomenalismus führen, dem zufolge die Wirklichkeit zur bloßen Erscheinung für ein rein vorstellendes Subjekt reduziert würde, in dessen Adern »kein wirkliches Blut« (I, xviii) fließt. Dieser Mangel an wirklichem Blut hatte ja Schopenhauer, Vertreter eines solchen radikalen Phänomenalismus, gezwungen, aus dieser Welt der bloßen Vorstellung in das metaphysische Prinzip des Willens zu flüchten. Dilthey wollte dieses Paradox Schopenhauers überwinden, indem er das Prinzip der bloßen Erscheinungshaftigkeit der Welt durch einen zweiten Hauptsatz ausglich. Er lautet: »Der Zusammenhang, in welchem die Tatsachen des Bewusstseins […] stehen, ist […] in der Totalität des Seelenlebens enthalten.« (XIX, 75; Hervorhb. F. R.) Dies bedeutet: Die Tatsachen des Bewusstsein können nicht zu einer Welt bloßer Bilder für ein ebenfalls bloß zuschauendes Subjekt reduziert werden, das von allen handfest konkreten Bezügen zur äußeren Welt abgeschnitten ist. 15 Zu den Tatsachen des Bewusstseins gehören ja auch schmerzhafte Erfahrungen, freuFast sprichwörtlich geworden ist Diltheys Wort aus der Einleitung: »Leben, nicht bloßes Vorstellen« (I, xix).
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dige Überraschungen, Hoffnung, Furcht und Befriedigung. Als Grundmodell dieses konkreten Wirklichkeitsbezugs hat Dilthey später die Widerstandserfahrung angeführt, welche die leiblichen Bewegungen durch den Gegendruck der körperlich-räumlichen Welt erfahren. 16 In diesen Argumentationsgang führt Dilthey den Begriff Erlebnis als die grundlegende erkenntnisanthropologische Kategorie ein, die – in ausdrücklichem Gegensatz zur »bloßen« Vorstellung – für die Totalität des Wirklichkeitsbezugs zu stehen hat. Damit impliziert war das Postulat, dass an die Stelle einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften eine umfassendere psychologisch-anthropologische »Selbstbesinnung« zu treten habe. Dies war auf dem damaligen Stand seiner Überlegungen die Aufgabe einer deskriptiven Psychologie, die auf der Basis der Analyse des Erlebnisses in seiner Gesamtheit alle anthropologischen Befunde aus Sprache, Mythos, Religion und Dichtung in den Kreis ihrer Betrachtung einbringen sollte. Es ist keine Frage von grundlegender Bedeutung, ob wir diese Selbstbesinnung »Philosophie des Lebens«, »Erkenntnisanthropologie« oder einfach »Erkenntnistheorie« nennen wollen, solange wir uns darüber verständigen können, dass es sich nicht um Psychologie im engeren Sinn des Wortes »Psychologismus« handelt (womöglich unter Einschluss der Suche nach reduktionistisch konzipierten Gesetzen). Indem nun Dilthey von der »Gliederung« der Tatsachen des Bewusstseins spricht, betont er, dass die Gesamtheit dieser Tatsachen keine amorphe Anhäufung elementarer Bezüge und Tendenzen bildet, die eine deskriptive Analyse erst zu sortieren hätte, sondern, im Gegenteil, ein komplexes, aber gegliedertes Ganzes, bestehend aus den drei genannten Grundfunktionen. Es ist zu vermuten, dass ihm der Strukturbegriff, auf den er ja wohl eher zufällig gestoßen war, eine willkommene begriffliche Zuspitzung für eine Konzeption bedeutete, die er bislang in eher tastenden Formulierungen in Verbindung mit den Kategorien der Ganzheit und des Zusammenhangs zu fassen versucht hatte. Aber diese Übernahme erfolgt noch nicht in der Breslauer Ausarbeitung. Nirgends in ihren zwölf Kapiteln taucht der Strukturbegriff auf. Der Rekurs auf die Vgl. Diltheys Abhandlung Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (V, 90–138).
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»Totalität des Seelenlebens« gehört zu jener ursprünglicheren Konzeption, die durch den Strukturbegriff zwar bereichert und schließlich terminologisch verfestigt, aber nicht begründet wurde. Erste Schritte dieser Entwicklung finden wir in dem 6. Kapitel. Hier werden nämlich nicht nur die Konsequenzen aus dem »Zweiten Hauptsatz« in dem Sinne gezogen, dass es für die Grundlegung der Geisteswissenschaften über eine Erkenntnis-Theorie hinaus auch einer Gefühls- und Willens-Theorie bedarf. Hinzu kommt jetzt der Gedanke der »Wechselwirkung der Lebenseinheit mit der Außenwelt im Umsatz von Eindruck und Antrieb« (XIX, 415, Anm. 160). Es kann hier nicht ausführlich dargestellt werden, wie »am Leitfaden« der Gliederung des Nervensystems 17 das anthropologische Totalitätsmotiv mit dem Reiz-Reaktions-Schema der Psychologie zu einem »einfachsten Schema dieser psychischen Gliederung« verbunden wurde: »Ein Eindruck, welcher ein Gefühl in sich schließt, und auf der Grundlage dieses Gefühls eine auf den Eindruck bezogene Bewegung« (XIX, 104). Diese Kombination wird denn auch sofort angewandt. Das kulturanthropologische Interesse des Autors findet in einem Vergleich von »Naturmensch« und »Kulturmensch« seinen Niederschlag: Kraft desselben Grundschemas der psychischen Gliederung gestaltet sich in diesem das Leben und in jenem. Aber dort als Abhängigkeit von Reiz und Eindruck und Außenwelt, als Regellosigkeit und Zufall; hier als Ausdruck eines Gesetzes des eigenen Inneren. Die Entwicklung des Einzelnen wie der Fortgang der Kultur geht zur Freiheit. (XIX, 105)
Dieser Gedanke eines »Gesetzes des eigenen Innern« ist die Keimzelle des von Dilthey erst Jahre später entwickelten Begriffs des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens. Dieser ist gleichsam die habituell gewordene Antwort auf die wahrnehmend-wertend-handelnde Verarbeitung des Wirklichkeitsstoffs durch die Struktur. Er ist das Regulativ gegenüber Gefühlsdruck und Willensimpulsen:
»Diese Gliederung des Nervensystems und seiner Funktion zeigt das psychische Leben in seiner Doppelstellung, als Einwirkungen von der Außenwelt empfangend und auf sie zurückwirkend.« Dilthey hebt »in der aufsteigenden Reihe der Tiere« eine »Zunahme der psychischen Mitte zwischen Eindruck und Bewegung« hervor. (XIX, 102 f.)
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Das im Bewußtsein Befindliche ist zu ihm orientiert; es ist von ihm begrenzt, bestimmt und begründet. Sätze haben in ihm ihre Gewißheit; Begriffe haben durch ihn ihre scharfe Begrenzung; unsere Lage im Raum und in der Zeit hat an ihm ihre Orientierung […]. (VI,143)
Und wieder orientiert sich Dilthey an Bildern des Organischen: Ich bediene mich dieses Begriffs der Artikulation, um auszudrücken, daß lebendiger Zusammenhang die Grundlage aller Entwicklung ist und alle Differenzierungen und klareren Beziehungen aus dieser Struktur sich entwickeln, wie aus dem Embryo die Gliederung eines tierischen Wesens. Und indem die Verbindungen ebensogut in festen Besitz des Seelenlebens übergehen als die Vorstellungen, bildet sich mit dieser Artikulation zugleich ein erworbener Zusammenhang des Seelenlebens und seine Herrschaft über die einzelnen bewußten Vorgänge aus. (V, 217; Hervorhbg. i. Original)
Mit diesen letzten Zitaten haben wir allerdings bereits auf die Ideen und ihre direkten Vorläufer vorgegriffen. Von der Breslauer Ausarbeitung führt der Weg aber zunächst zu Diltheys erstem Entwurf einer deskriptiven Psychologie, der Mannigfaltigkeit des psychischen Lebens und ihre Einteilung, in dem nun auch der Strukturbegriff in systematischer Funktion auftritt. Dieser in der DiltheyExegese noch immer stiefmütterlich behandelte Text enthält schon die meisten Elemente der ein Dutzend Jahre später erscheinenden Ideen. Gegenüber dem eher beiläufigen und seltenen Gebrauch des Wortes »Struktur« in den Fragmenten nach 1875 kommen dem Begriff jetzt mehrere Bedeutungselemente zu: 1. Er hebt stärker als das Wort »Gliederung« die Einheit und Geschlossenheit der Individualpsyche hervor; 18 2. Er betont durch seine Verbindung mit »Differenzierung« das dynamische Element einer organischen Entwicklung; 3. Er impliziert den Hinweis auf den teleologischen Charakter des psychischen Zusammenhangs. Dilthey spricht jetzt von der »Entwicklung des psychischen Lebens in der aufsteigenden Reihe komplexerer tierischer Organismen« (XVIII, 168) im Sinne einer Kontinuität zwischen Animalität und Humanität. Es ist unüberhörbar, dass das bei Dilthey nun zum ersten Mal erscheinende Wort In dem nicht von ihm selbst veröffentlichten und daher ohne Überarbeitung gebliebenen Fragment Leben und Erkennen schreibt Dilthey: »So ist diese Struktur ein höchst realer, kernhafter Zusammenhang, ja der Kern des Lebens selber, jenseits dessen es ja für uns nichts Kernhaftes gibt, wofern wir nicht durch die Analogie des Lebens Kern vermuten. In diesem Kern ist der Sitz von Individualität, Glück und Kraft.« (XIX, 353)
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»Strukturdifferenzierung« (ebd.) im Sinne der »Physiologisten« eher auf eine organische Steigerung der von der Natur mitgegebenen Möglichkeiten als auf eine grundsätzlich neue Ebene, die gesellschaftlich-geschichtliche Welt, abzielt. Es liegt in der einmal gewählten Terminologie immer auch ein gewisser Sachzwang. Die biologischen Konnotationen im Wort »Struktur« entwickelten in Diltheys Konzeptionen im Jahrzehnt nach dieser terminologischen Innovation ein Eigengewicht, das ihm neben dem Vorwurf des Positivismus nicht ganz zu Unrecht auch den des Biologismus einbrachte. Vielleicht war es die allzu einladende Plausibilität der Kombination von zwei ursprünglich nicht zusammengehörigen Theoremen, nämlich der klassischen Lehre von den drei »Seelenvermögen« im »Totalitätsmotiv« 19 und eines biologistischen ReizReaktions-Schemas der Psychologie 20, was Dilthey zu einer erstaunlich extensiven Anwendung auf den verschiedensten geisteswissenschaftlichen Gebieten veranlasste. Von seinen Vorlesungen zur Ethik, Pädagogik und Psychologie über die Poetik bis zur Typologie der Weltanschauungen und schließlich sogar zur Begründung der Notwendigkeit von Literaturarchiven reicht dieser Anwendungsbereich. 21 Die Griffigkeit dieses »einfachsten Schemas der psychischen Gliederung« enthielt fraglos reduktionistische Züge: Das Seelenleben zeigt von den niedersten Stufen tierischen Daseins aufwärts dieselbe Struktur, welche teleologisch und die Entwicklung steigernd wirkt. Sie enthält die Wurzel aller zweckmäßigen Effekte in Menschenleben, Gesellschaft und Geschichte. (IX, 185)
Es sind vor allem zwei Charakteristika, die den Menschen als »Lebewesen« unter seinesgleichen erscheinen lassen: Zunächst die bruchlose Reihe im genetischen Ganzen der animalischen Welt: Das ganze System der tierischen und menschlichen Welt stellt sich als die Entfaltung dieser einfachen Grundstruktur des Seelenlebens in zunehmender Differenzierung, Verselbständigung der einzelnen Funktionen und Teile sowie höherer Verbindung derselben untereinander dar. (V, 211) Dilthey nennt in seiner Psychologie-Vorlesung von 1875/76 Tetens, Mendelssohn und Kant als Hauptvertreter dieser Theorie der drei Seelenvermögen, mit der er sich jedoch nicht identifiziert (XXI, 1; vgl. a. a. O., 52 ff.). 20 XXI, 50 f.; vgl. 285 f. 21 Vgl. IX, 185; V, 95 u. 211; VI, 95 u. 167; IV, 559; VIII, 82 ff.; XXI,285; XXIV, 87 etc. 19
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Hinzu kommt ein zweites, aus dem Reiz-Reaktions-Schema abgeleitetes Charakteristikum: Das Lebewesen Mensch ist diesem Schema gemäß primär ein reagierendes Wesen: 22 Eine Struktur gliedert in jedem von uns dies Ganze: von der Außenwelt her ruft das Spiel der Reize Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellungen hervor; nun wird in dem Mannigfachen der Gefühle der Wert dieser Veränderungen für das Eigenleben erfahren; und die von den Gefühlen erregten Antriebe und Willensakte wirken dann wieder nach Außen zurück. Diese beständige Wechselwirkung zwischen unserem Eigenleben und dem Milieu, in dem es atmet, leidet und handelt: das ist unser Leben. (VI, 95)
Dieser emphatische Schluss (»Das ist unser Leben«) erscheint bei Dilthey in verschiedenen Variationen immer wieder, wenn die psychische Struktur als das »einfachste Schema« vorgestellt wird: »In ihr ist unser Leben« (V, 143); »Das ist das Schema eines Lebewesens« (X, 48); »Dies ist das große Gesetz alles Lebens« (XIX, 309); »Das ist menschliches Leben« (V, 373, vgl. XXIV, 87); »Das Grundschema des Lebens« (XXI, 285); »Der Kern des Lebens selber« (XIX, 353) usw. 23 Wie diese Konzeption ursprünglich, d. h. vor einer stärkeren Inanspruchnahme des Reiz-Reaktions-Schemas, ausgesehen hat, zeigt die folgende Stelle aus der Mannigfaltigkeit: Leben ist erst da, wo in einem Selbstgefühl sich von dem wirkenden Draußen dasjenige unterscheidet, welches der Einwirkung innewird und Gegenwirkung übt. In dieser Erfahrung liegt erst das, was Leben ausmacht. (XVIII, 157)
Dieser Gedanke der Widerstandserfahrung ist dann in der Realitätsabhandlung (gleichfalls ohne naturalistische Ausdeutung) weiter ausgeführt worden. Noch einmal zusammengefasst: Diltheys Konzeption einer psychischen Struktur als einheitliche Gliederung der drei Grundfunk-
Noch in einer späten Vorlesung finden wir den Satz: »Reaktion, das ist die Urform alles seelischen Lebens« (XX, 344). – Von der Goethe’schen Poesie wird gesagt, dass sie »überall in der Reaktionsfähigkeit des Selbst und in der Entwicklung das Leben sieht« (VII, 333). 23 Schon in der Mannigfaltigkeit findet sich die Formulierung: »[…] im Zusammen, in der Beziehung von Selbst und Außen, welche das Leben selbst ist […]« (XVIII, 137). 22
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tionen in den Prozessen der Wechselwirkung von Individuum und Außenwelt und der sich damit vollziehenden Differenzierung hat sich in mehreren von uns nachvollziehbaren Schritten entwickelt. Von den ersten systematischen Vorlesungen in Berlin und Basel (XX, 27 u. 54) über die Fragmente zur Fortsetzung der Abhandlung von 1875 (XVIII, 72 ff.), die Psychologie-Vorlesungen der 1870er Jahre (XXI, 1 ff. u. 52 ff.) und das 6. Kapitel der Breslauer Ausarbeitung (XIX, 99–105), wo überall im Sinne des Totalitätsmotivs das »Urphänomen« des Zusammenspiels kognitiver, emotiver und volitionaler Funktionen thematisiert wird, führt der Weg zur Mannigfaltigkeit, und erst hier gewinnt die Konzeption mit dem Begriff der Struktur-Differenzierung ihre endgültige Gestalt (XVIII, 112 ff.). Ihr Gewicht gegenüber der erkenntnistheoretischen Grundlegung nimmt zu und verändert im Berliner Entwurf die Systematik des geplanten Zweiten Bandes der Einleitung. Gleichzeitig wird in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Bereichen (Ethik, Poetik, Psychologie, Anthropologie, Pädagogik etc.) mit einer gewissen Massivität das »anthropologische Schema« (XVIII, 184) der Wechselbeziehung von Eindruck und Bewegung bzw. Reiz und Reaktion als das »Schema eines Lebewesens« (X, 48) eingeführt. Mit den großen Abhandlungen der 1890er Jahre zur deskriptiven und komparativen Psychologie erfährt dann die Konzeption eine gewisse Abrundung und zugleich Öffnung für neue Fragen einer Grundlegung der Geisteswissenschaften. Wir versuchen, diese Wandlungen, die in der traditionellen Dilthey-Exegese häufig als eine Überwindung der Psychologie durch die Hermeneutik im Spätwerk Diltheys interpretiert worden sind, als eine weitere Stufe der Entwicklung des diltheyschen Strukturdenkens zu sehen, das schließlich zu einer weiter ausgreifenden Philosophie des Lebenszusammenhangs und damit auch der Geisteswissenschaften führte. Dies lässt jedoch auch auf einige bereits klassisch gewordene Einwände gegen den Strukturbegriff insbesondere des mittleren Dilthey aufmerksam werden.
3. Nach diversen, wie zur Probe vorgenommenen Anwendungen des neu formulierten Prinzips Ende der 1880er Jahre und zu Anfang des 62 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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neuen Jahrzehnts 24 präsentiert Dilthey 1894 die ausgereifte Konzeption seiner deskriptiven Psychologie zusammen mit dem Begriff der Struktur-Differenzierung in der Abhandlung Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (V, 139–237). Ohne uns auf die ausführlichen methodologischen Abgrenzungen zur »erklärenden« Psychologie einzulassen, die am nachhaltigsten auf die zeitgenössische Wissenschaftsdiskussion gewirkt haben dürften, soll uns hier weiterhin nur die Stellung des Strukturbegriffs im Zusammenhang seiner Gesamtkonzeption beschäftigen. Hierbei ist zu beachten, dass sich aus der Genese des Begriffs bei Dilthey ein gewisses Schwanken der Bedeutung ergibt. Wir haben zu unterscheiden zwischen einem allgemeineren Sinn von »Strukturzusammenhang« als Grundform des Seelenlebens überhaupt und der »Struktur« im Sinne des teleologischen Zusammenwirkens kognitiver, emotiver und volitionaler Funktionen im Rahmen des Reiz-Reaktions-Schemas. Hier geht es ausdrücklicher um das »Strukturgesetz, […] durch welches die Intelligenz, das Trieb- und Gefühlsleben und die Willenshandlungen zu dem gegliederten Ganzen des Seelenlebens verknüpft sind« (V, 176). In der Aufgabenstellung für die deskriptive Psychologie wird dies unterschieden von den Themen »Entwicklung« und »erworbener Zusammenhang« des Seelenlebens. Dieses Kernstück der diltheyschen Anthropologie kann hier nicht in seinen einzelnen Elementen expliziert werden. Es geht nur darum, die Linie (und die Probleme!) weiter zu verfolgen, die sich aus der Verbindung des Totalitätsmotivs mit dem Reiz-Reaktions-Schema ergaben. Es lag in der Natur der Sache, dass auch an dieser Stelle das Verhältnis zur Biologie thematisiert wurde, und zwar von Dilthey selbst, wie auch durch seine Schüler. Was Diltheys eigene Position betrifft, so ist sie bestimmt von seinem erkenntnistheoretischen Prinzip, dass unmittelbare Erfahrung nur als eigenes Erlebnis zugänglich ist und Aussagen über die Natur nur hypothetischen Charakter haben. 25 Nur die Erfahrung eines erlebbaren Strukturzusammenhangs in mir selbst ermächtigt mich zu der Annahme der Existenz eines entsprechenden Phänomens in anderen LebeVgl. Anm. 15. Dilthey spricht immerhin von einer »kaum vermeidlichen Annahme einer Entwicklung im organischen Reiche« (V, 211).
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wesen. Dilthey ist also der Meinung, dass ihn ein Vorwurf des »Biologismus« nicht treffen könne. Er betont, nur »von einem erfahrenen Lebens- und Bewusstseinszusammenhang« auszugehen. Die Phänomene in der Welt des Organischen seien nicht der empirisch gegebene Ausgangspunkt, sondern lediglich vergleichbare, hypothetisch gewonnene Hinweise auf die Wirklichkeit des Psychischen: Ja, in der seelischen Struktur allein ist der Charakter der Zweckmäßigkeit ursprünglich gegeben, und wenn wir etwa dem Organismus oder der Welt Zweckmäßigkeit zuschreiben, so ist dieser Begriff nur aus dem inneren Erleben übertragen. Denn jede Beziehung von Teilen zu einem Ganzen erhält erst aus dem in ihr realisierten Wert den Charakter der Zweckmäßigkeit, dieser Wert aber wird nur im Gefühls- und Triebleben erfahren. (V, 207)
Dieser Argumentationsgang ist schwer in Einklang zu bringen mit dem tatsächlichen Eindruck, den die Strukturlehre hinsichtlich ihrer Nähe zur Biologie hervorrief. Wir haben bis heute noch keine befriedigende Interpretation der verschiedenen Bemerkungen, die Dilthey vor allem in dem Fragment Leben und Erkennen über eine »biologische Breite der Betrachtung« gemacht hat, die erforderlich sei, »um in bezug auf die Struktur des Lebens zu überzeugen« (XIX, 345). Hält sich diese Forderung innerhalb der Grenzen, die durch den Satz gezogen sind: »Andererseits ist die Mitbenutzung des äußerlich Biologischen (Physiologischen) keinen kritischen Bedenken unterworfen, da wir es nur phänomenal nehmen« (XIX, 344)? Es ist, mit diesen Worten gesagt, nicht immer eindeutig auszumachen, wo er die organologischen Befunde in ihrer Parallelität zum Psychischen »nur phänomenal« und als »vage Analogien« (VII, 23) betrachtete und wo er sie als in den Bereich des Psychischen hineinragende Fakten des Organischen ernst nahm. Wirkungsgeschichtlich betrachtet war dies ein Problem vor allem für diejenigen seiner Schüler wie Herman Nohl und Eduard Spranger, die primär von den Schriften der 1890er Jahre geprägt waren. So schreibt Nohl: Es ist überhaupt fraglich, ob auch nur dieser Gedanke einer allgemeingültigen formalen Teleologie durchführbar ist. Schon ihre Voraussetzung, der seelische Zusammenhang, der auf äußere Reize reaktiv tätig ist, stammt
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aus dem Naturalismus und übersieht, ob wir nicht die Fähigkeit haben, aus uns selbst Zwecke zu setzen und schöpferisch zu handeln. 26
Eduard Spranger, der von Dilthey den Strukturbegriff, allerdings ohne naturalistische Anklänge, übernommen hatte, erhebt einen ähnlichen Einwand: Dilthey hat die Seele als einen Zweckzusammenhang oder als eine teleologische Struktur bezeichnet. Und zwar begnügte er sich damit, von einer inneren Teleologie zu reden, d. h. dem seelischen Zusammenhang eine solche Struktur zuzuschreiben, dass er das für das betreffende Individuum Wertvolle und Wertwidrige durch eine Art von Gefühlsregulator anzeige. So einfach aber, wie Dilthey den Begriff der Struktur durchführt, liegt dieses Problem nicht. Wäre die individuelle Seele wirklich nur eine solche immanente Teleologie, so könnte man sie rein biologisch begreifen, d. h. alle ihre Akte und Erlebnisse wären durch das wertvolle Ziel der Selbsterhaltung reguliert. 27
Während hier Diltheys Konzeption der immanenten Teleologie auf das Ziel der Lebensdienlichkeit verkürzt wird, ist Nohls Einwand gegen den bloß reaktiven Charakter der Struktur umso gewichtiger. Diltheys Orientierung am Reiz-Reaktions-Schema beschränkt die kognitive Funktion des Strukturzusammenhangs (Vorstellung) in der Tat auf die Rezeption von Wirklichkeitsstoff, der dann im Gefühl bewertet und volitional beantwortet wird. Nicht nur das schöpferische Handeln, sondern jedes alltägliche Planen, sofern es nicht durch äußere Notwendigkeit gefordert ist, würde nicht mehr von diesem Strukturmodell her verständlich gemacht werden können. Gleichwohl sind die Ideen, gemessen an einigen anderen Texten aus jenen Jahren, weniger bestimmt vom Reiz-ReaktionsSchema und der damit verbundenen direkten Teleologie. Je mehr Dilthey den Gedanken von einem reinen »Kreislauf der psychischen Tätigkeit« (XVIII, 182; vgl. 164), also von Wahrnehmen, Bewerten und zweckgeleitetem Handeln zurückstellte hinter die allgemeinere Konzeption einer Wechselbeziehung zwischen Selbst und Milieu und die damit verbundene Artikulation des erworbenen psychischen Zusammenhangs, desto näher kam er dem Problem der H. Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. 7. Aufl. Frankfurt a. M. 1970, S. 112 f. 27 Ed. Spranger: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit. 2. Aufl. Halle a. d. S. 1921, S. 8 u. 13 f. 26
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Geschichtlichkeit des Menschen. Man darf nicht vergessen, dass seine psychologisch-anthropologischen Anschauungen erhebliche Modifizierungen im Bereich der traditionellen Logik und Methodologie verlangten, die das Herzstück der Grundlegung der Geisteswissenschaften bilden sollten. Dies war nur möglich, wenn seine Philosophie weniger ein unmittelbarer Beitrag zur Logik und Methodologie der Geisteswissenschaften war als vielmehr ein indirekter Weg, nämlich eine anthropologisch-hermeneutische Analyse des Lebenszusammenhangs in der Mitte zwischen Natur und Geschichte. Deshalb wird man seine Psychologie und deren Strukturbegriff in allen Stadien ihrer Entwicklung immer wieder auf ihren ursprünglichen Impuls hin betrachten müssen. Und dies umso mehr, als der psychische Zusammenhang für Dilthey nicht nur das Grundmodell für jeden anderen lebendigen Zusammenhang gewesen ist, sondern auch die Bedingung der Möglichkeit, andere Zusammenhänge in ihrer Struktur zu erfassen.
4. Blickt man von der Situation Diltheys in den frühen 1890er Jahren in das folgende Jahrzehnt, das dann sein letztes sein sollte, zeigt sich einerseits die Beharrlichkeit, mit der das triadische Strukturmodell bis in die letzten Publikationen in seinem Denken präsent ist 28, zugleich aber eine Ausdifferenzierung erfährt, die das Alterswerk charakterisiert. Auffallend ist zunächst die terminologische Akzentverschiebung, die darin liegt, dass der Strukturzusammenhang jetzt als »Wirkungszusammenhang« und damit als »Grundbegriff der Geisteswissenschaften« (VII, 156) für einen letzten Versuch Diltheys steht, von seiner Strukturtheorie aus eine Grundlegung der Geisteswissenschaften zu leisten. Aber dieser Begriff »Wirkungszusammenhang« tritt nicht, wie Bernhard Groethuysen in seinem Vorbericht zu Band VII sagte, als etwas Neues auf, sondern entstammt noch dem Umkreis der deskriptiven Psychologie (V, 238 f. u. 272). Er stellt das Verbindungsstück dar zwischen der Strukturpsychologie und der in der Spätschrift Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften entworfenen hermeneutischen His28
Vgl. V, 373; VIII, 82 ff.
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torik. Und hier findet nun eine subtile Differenzierung statt. Denn während im »Wirkungszusammenhang« die immanente Teleologie des individualpsychischen Kreislaufs der Funktionen auf QuasiSubjekte wie kollektive Gebilde und Kultursysteme, Epochen, schließlich die Universalgeschichte übertragen wird, erhält der Strukturbegriff in anderem Kontext ein neues Gesicht. Er bezeichnet jetzt »die Anordnung, nach welcher im entwickelten Seelenleben psychische Tatsachen von verschiedener Beschaffenheit regelmäßig durch eine innere erlebbare Beziehung miteinander verbunden sind«. 29 Dilthey verweist bei dieser Einführung des neuen Strukturbegriffs auf die Stelle in den Ideen, wo ebenfalls auf die »innere Beziehung dieser verschiedenen Seiten meines Verhaltens, gleichsam die Struktur, in welcher diese Fasern miteinander verknüpft sind«, hingewiesen wurde (V, 204). Dies ist in der Tat der Ansatzpunkt für ein verändertes »strukturelles« Denken. Statt von einer am organischen Leben orientierten Teleologie spricht Dilthey jetzt von der »Zielstrebigkeit« (VII, 8) 30 des als Wirkungszusammenhang aufgefassten Strukturzusammenhangs, der in seinen Leistungen von Wirklichkeitsauffassung, Wertschätzung, Zweckbestimmung und Regelgebung einen Spielraum des Sich-Verhaltens zur Realität besitzt, wie er durch das Reiz-Reaktions-Schema nicht ausdrückbar ist. Dieses hat für die »Fortbildung des in meinen früheren Arbeiten eingenommenen Standpunktes«, für die Husserl ausdrücklich gedankt wird (VII, 13, Anm. 1), nur noch eine eingeschränkte Bedeutung. Im Vordergrund des Interesses stehen die »inneren Beziehungen, die am entwickelten Seelenleben aufgefaßt werden können« (VII, 15). 31 Dilthey nennt als Beispiele sprachliche Wendungen, in denen solche strukturelle Beziehungen ausgedrückt sind: »Ich habe Kummer über etwas, ich habe Lust, etwas zu tun, ich wünsche das Eintreten eines Ereignisses« (VII, 18.) Man hat den Eindruck, dass er in seiner eigenen phänomenologischen Sensibilität durch die Husserl-Lektüre bestärkt wurde und nun das »Be-
VII, 15; Hervorhbg. Diltheys. Vgl. XXIV, 160. Auf diese Entwicklung hat schon Misch in seinem Vorbericht hingewiesen (V, xcvi). 30 Zum Begriff ›Zielstrebigkeit‹ vgl. J-Cl. Gens: Die Aktualität von Diltheys Naturphilosophie, a.a.O., S. 236. 31 Allein auf dieser und der vorhergehenden Seite erscheinen Wortverbindungen mit »Beziehung« insgesamt mehr als 20-mal! 29
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schreiben und Zergliedern« einen höheren Grad an Subtilität erreichte. 32 Dass aber diese »Fortbildung« des früheren Standpunktes keine radikale Wendung bedeutet, ergibt sich schon aus der Tatsache, dass diese strukturellen inneren Beziehungen innerhalb der als solcher nicht in Frage gestellten dreigliedrigen psychischen Struktur aufgesucht werden. Dilthey hält sich bis zuletzt die beiden Zugänge offen: die erkenntnisanthropologische Selbstbesinnung mit ihren fraglos organologischen Wurzeln (die man auch Psychologie nennen mag) und die beim »objektiven Geist« einsetzende Verstehenslehre. Beide, die jetzt eher phänomenologisch als psychologisch zu nennende Selbstbesinnung und der hermeneutische Weg über den Ausdruck, sind Möglichkeiten einer Philosophie des Lebenszusammenhangs. Die veränderte Konzeption bedeutet also keinen abrupt neuen Ansatz in dem Sinn, dass Dilthey sich von seinen früheren Konzeptionen abgewandt oder sie womöglich widerrufen hätte. Auch reicht das Thema der inneren Beziehungen nicht nur zurück bis zu den Ideen, sondern bis zur Mannigfaltigkeit. Dort verbindet sich die strikte Ablehnung des Gedankens von Seelenvermögen 33 mit der Analyse der Beziehungen zwischen einzelnen Bewusstseinslagen und führt weiter zur Konzeption eines zwar nicht begrifflich ausdrückbaren, aber erlebbaren psychischen Zusammenhangs solcher Beziehungen 34. Es kennzeichnet Diltheys Arbeitsweise, dass bestimmte gedankliche Motive wie hier die Erlebbarkeit innerer Beziehungen relativ früh formuliert, aber erst nach Jahrzehnten voll zur Geltung gebracht wurden. Diese Art einer unterschwelligen Kontinuität verbietet es, in Diltheys Entwicklungsgang allzu schroffe Zäsuren anzunehmen. Gewiss aber kommt den Texten, in denen sich die Wiederaufnahme des Themas ›innere Beziehungen‹ befindet, erhebliche Bedeutung zu. Es sind die Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. 35 Dass Dilthey auch in dieser letzten Über die Problematik des »nicht mehr« vgl. oben S. 16. Vgl. oben S. 55, Anm. 14. 34 »Wir suchen nunmehr nach einer Formel für die Beziehung, in welcher Vorstellung, Gefühl und Wille als Bestandteil in den verschiedenen Lebensmomenten verbunden sind. […] Positiv kann diese erläutert [werden] aus der Analogie des Organismus und des politischen Körpers.« (XVIII, 163) 35 W. Dilthey: Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (VII, 3–75). 32 33
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Phase seines Philosophierens an der triadischen Konzeption der menschlichen Psyche festgehalten hat, zeigt sich gerade in diesen Studien sowie in den zahllosen Entwürfen und Notizen, die jetzt in dem von Gudrun Kühne-Bertram herausgegebenen Band XXIV der Ges. Schr. zusammengestellt sind. 36 Die in der Ersten Studie entworfene Theorie des Wissens möchte das Erkennen der Wirklichkeit, die Wertschätzungen, Zwecksetzungen und Regelgebungen »gleichmäßig umfassen«. Deshalb bedarf sie »der Rückbeziehung auf den Zusammenhang, in welchem diese verschiedenen seelischen Leistungen miteinander verknüpft sind« (VII, 11). Damit stellt sie sich nicht gegen die Psychologie, sondern ist deren methodologische Konsequenz, und zwar in dreifacher Hinsicht: Sie öffnet das Tor für eine phänomenologische Deskription komplexer psychischer Vorgänge; sie intensiviert das anthropologische Interesse an der Totalität der Natur des Menschen; und sie schlägt die Brücke zum historischen Verstehen »regelmäßig« auftretender innerer Beziehungen im geschichtlichen Wandel.
W. Dilthey: Ges. Schr. XXIV, Logik und Wert. Späte Vorlesungen, Entwürfe und Fragmente zur Strukturpsychologie, Logik und Wertlehre (ca. 1904–1911), hrsg. v. G. Kühne-Bertram, Göttingen 2004.
36
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Das Besondere und das Allgemeine in Diltheys Theorie des Typus Anmerkungen zu seiner Vergleichenden Psychologie
Zu den unruhigsten der uns bekannten Situationen in Diltheys Leben gehört der Winter 1895/96 des damals zweiundsechzigjährigen Philosophen. Er hatte unmittelbar zuvor einen Höhepunkt in seiner Karriere erreicht: In der Berliner Akademie der Wissenschaften war sein Antrag auf Förderung der »monumentalen Kant-Ausgabe« angenommen worden; 1 er hatte den Psychologen Carl Stumpf in der Berliner Universität als Nachfolger Eduard Zellers durchgesetzt, hatte in der Akademie seine beiden Abhandlungen zur deskriptiven und zur Vergleichenden Psychologie präsentiert 2 und ein im Ganzen positives Echo der Fachwelt 3 erfahren. Noch im Sommer 1895 hegt er Pläne für eine ähnlich monumentale Leibniz-Ausgabe und arbeitet an einer mehrbändigen Sammlung seiner literarhistorischen und poetologischen Aufsätze unter dem Titel Dichter als Seher der Menschheit. 4 Gleichzeitig ist er mit einer Erweiterung seiner vergleichenden Psychologie befasst und plant, sie als ein Buch von ca. 200 Seiten »außerhalb des großen Werkes«, d. h. der Einleitung in die Geisteswissenschaften, zu veröffentlichen. 5 »Es ist ein frischer Wind in den Segeln«, schreibt er seinem Freund im Juni 1895. Diese euphorische Stimmung schlägt um, als im Spätherbst Vgl. zu allem Folgenden F. Rodi: Dilthey und die Kant-Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften. In: Ders.: Das strukturierte Ganze. Studien zum Werk von Wilhelm Dilthey. Weilerswist 2003, S. 153–172. 2 Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie und Beiträge zum Studium der Individualität (V 139–316). 3 Vgl. H.-U. Lessing: Briefe an Dilthey anläßlich der Veröffentlichung seiner »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie«. In: Dilthey-Jahrbuch 3 (1985), S. 193–232. 4 Dieses Vorhaben ist rekonstruiert von Gabriele Malsch als Herausgeberin von Bd. XXV der Ges. Schr. 5 Briefwechsel II, 551. 1
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1895 die berühmt-berüchtigte Kritik seiner Ideen durch Hermann Ebbinghaus erscheint, gleichzeitig Schwierigkeiten bei der KantAusgabe auftreten und sich gesundheitliche Probleme nicht nur bei Dilthey selbst, sondern auch in der Familie einstellen. Dilthey muss »alles stehen und liegen lassen, darunter auch die Kantsache« 6 und zieht sich nach Meran in einen schon zuvor geplanten Arbeitsurlaub zurück, der jetzt eher ein Kuraufenthalt wird, in dem er weder an der Vergleichenden Psychologie noch am Gesamtwerk der Einleitung in die Geisteswissenschaften weiterarbeitet. Die stattdessen erfolgende Wiederaufnahme der Arbeiten am Schleiermacher-Buch erscheint wie ein Ausweichen vor den nun liegenbleibenden Projekten.
1. Dilthey hatte das Programm seiner Vergleichenden Psychologie in einer erwartungsfrohen Ausführlichkeit skizziert: Eben in der unermeßlichen Fülle singulärer Gestaltungen lebt sich die Menschheit aus. Welche Probleme entstehen hier gerade aus der regelmäßigen Verbindung individuell differenzierter Züge zu typischen Grundformen des Seelenlebens! Solche Grundformen sind die beiden Geschlechter, die Rassen, die Nationalitäten, die landschaftlichen Besonderheiten, die Verschiedenheiten des mitgegebenen Naturells, innerhalb derselben die auffälligen Typen der vier Temperamente, nun gar die elastische Fülle ausgebildeter Unterschiede, wie sie den Dichter vom Religiösen, den Mann der Wissenschaft von dem des praktischen Lebens, den Griechen der perikleischen Zeit von dem Italiener der Renaissance trennen. Die vergleichende Psychologie möchte nun beschreiben, wie in solchen typischen Grundformen bestimmte Züge regelmäßig verbunden sind, sie möchte die Gründe hiervon erforschen und die Prozesse erkennen, welche in dieser Besonderung des allgemeinen Seelenlebens wirksam sind. (V, 241 f.)
Die »Besonderung des allgemeinen Seelenlebens«, also das große Rätsel der Individuation, ist das alles überwölbende Thema, das nun allerdings zunächst nicht direkt behandelt werden kann und auch zu keinem Abschluss gebracht wird. Denn die in Angriff genommene Abhandlung Über vergleichende Psychologie steht unter H. Diels an E. Zeller, 15. 12. 1895. In: D. Ehlers (Hrsg.): Briefwechsel Hermann Diels; Hermann Usener; Eduard Zeller. 2 Bde. Berlin 1992. Hier: Bd. II, S. 119.
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keinem guten Stern. Sie muss zunächst die ausführliche Entgegnung auf den Angriff von Ebbinghaus aufnehmen 7 und befasst sich dann mit Wilhelm Windelbands dualistischer Wissenschaftssystematik, bis sie schließlich im Zuge einer neuerlichen Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften zum eigentlichen Thema kommt. Wie bei fast allen seinen Projekten schießt Dilthey auch hier über das Ziel hinaus: Es soll gar nicht bei der einen Abhandlung bleiben. Sie soll in erweiterter Fassung zu einem Buch mit dem Titel Vergleichende Psychologie, ein Beitrag zum Studium von Geschichte, Literatur und Geisteswissenschaften werden – eine Art Vorläufer oder mehr noch Rivale für den Zweiten Band der Einleitung, der – wie dann auch die Vergleichende Psychologie – nicht zuletzt an diesen Verwicklungen scheitert. Das Thema der Individuation ist die Geschichte des Allgemeinen, das sich in seinen Besonderungen verwirklicht. Ein besonderer Aspekt dieses Verhältnisses des Besonderen zum Allgemeinen war von Windelband zur Grundlage seiner Wissenschaftsphilosophie gemacht worden, die Diltheys eigener Konzeption völlig zuwiderlief. In seiner Straßburger Rektoratsrede Geschichte und Naturwissenschaft 8 hatte er zwölf Jahre nach Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften eine im Wesentlichen negative Antwort auf jenen Entwurf einer Wissenschaftssystematik gegeben. Er hielt zwar fest an Diltheys prinzipiellem Wissenschaftsdualismus, verwarf aber den Begriff »Geisteswissenschaften« ebenso wie die grundlegende Funktion, die Dilthey der Psychologie für die Geisteswissenschaften zugesprochen hatte. 9 Es geht um die Rolle, die dem Begriffspaar »Besonderes – Allgemeines« zukommt – »jenem wichtigsten und entscheidenden Verhältnis im menschlichen Verstande, das von Sokrates als die Grundbeziehung alles wissenschaftlichen Denkens erkannt wurde«. 10 Windelbands bekannte UnterDie in den Ges. Schr. den Ideen angefügte Entgegnung (V, 237–240) war ursprünglich eine Anmerkung der Beiträge. 8 W. Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. In: Ders.: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte. Bd. II. 8. Aufl. Tübingen 1921, S. 137–160. 9 Hierzu äußerte sich Heidegger in den Kasseler Vorträgen: Man müsse sich klarmachen, »daß die positive Tendenz Diltheys mit einem Strich aus der Welt geschafft ist […]. Man sagt einfach: Für uns ist Psychologie Naturwissenschaft.« A. a. O. (Gesamtausgabe), S. 130. 10 Windelband, a. a. O., S. 145. 7
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scheidung zwischen nomothetischen und idiographischen Erkenntniszielen geht hierauf zurück. Auf der Suche nach gesetzlichen Notwendigkeiten der Wirklichkeit subsumieren die nomothetischen Wissenschaften das Besondere als den einzelnen Fall induktiv unter Gattungs- und Konstruktionsbegriffe und vertreten mit diesem »Haften am Gattungsmäßigen« nach Windelbands Meinung noch immer die Einseitigkeit des klassischen Platonismus. Demgegenüber sieht er den Erkenntniszweck der Geschichte darin, »dass ein Gebilde des Menschenlebens, welches in einmaliger Wirklichkeit sich dargestellt hat, in dieser seiner Tatsächlichkeit reproduziert und verstanden werde«. 11 Gegenüber den naturwissenschaftlichen »Gesetzeswissenschaften« gehe es den historischen »Ereigniswissenschaften« – darin der Dichtung verwandt – um die »liebevolle Ausprägung des Besonderen«, 12 das in »ideeller Gegenwärtigkeit neu zu beleben« und in seiner »vollen individuellen Lebendigkeit herauszuarbeiten und aufzubewahren« sei. 13 Die Einmaligkeit des Ereignisses mache seine Werthaftigkeit aus, denn alle Wertbestimmung des Menschen beziehe sich auf das Einzelne und Einmalige: »In der Einmaligkeit, der Unvergleichlichkeit des Gegenstandes wurzeln alle unsere Wertgefühle.« 14 So kommt Windelband zu dem abschließenden Urteil über die »Gesamtheit des geschichtlichen Prozesses: Er hat nur Wert, wenn er einmalig ist. Während die Naturwissenschaften Gesetze suchen, sucht der Historiker Gestalten, »Bilder von Menschen und Menschenleben mit dem ganzen Reichtum ihrer eigenartigen Ausgestaltungen, aufbewahrt in ihrer vollen individuellen Lebendigkeit«. 15 Windelband hebt mehrmals »die Verwandtschaft des historischen Schaffens mit dem ästhetischen und die der historischen Disziplinen mit den belles lettres« hervor. 16 Man muss vermuten, dass ihm eine Art Essayistik vorschwebte, und so schreibt denn auch Graf Yorck an Dilthey: »Jenem ist Geschichte: eine Reihe von Bildern, von Einzelgestalten, ästhetische Forderung.« 17 11 12 13 14 15 16 17
A. a. O., S. 144. A. a. O., S. 149. A. a. O., S. 151. A. a. O., S. 155. A. a. O., S. 151. A. a. O., S. 149 ff. Briefwechsel II, 559.
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Das Besondere und das Allgemeine
Mit diesem asymmetrischen Wissenschaftsdualismus verzichtet Windelband auf eine Gliederung des gesamten Wissensgebietes nach Inhalten und damit auch auf das von Dilthey angestrebte relative Gleichgewicht zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Dilthey hat darauf sofort reagiert, allerdings nicht öffentlich, da er sich in der durch den Streit mit Ebbinghaus belasteten Situation nicht auch noch mit Windelband anlegen wollte. Aber in der ursprünglichen Fassung der Akademie-Abhandlung Beiträge zum Studium der Individualität verteidigt Dilthey den von ihm entwickelten Zusammenhang der Geisteswissenschaften im Sinne eines »vom Naturerkennen unterschiedenen Ganzen« (V, 255). Nicht der formale Charakter von Erkenntnismethoden (nomothetisch-idiographisch), sondern die »Sonderung nach dem Prinzip des Inhalts« (V, 258) müsse die Grundlage einer Wissenschaftssystematik bilden. Ich lasse hier den Gang der Begründung dieses Prinzips unerörtert und beschränke mich auf Diltheys Kritik an Windelbands Abgrenzungskriterien. Das Postulat der »liebevollen Ausprägung des Besonderen« stelle nur die eine Hälfte der Wahrheit dar. Eine Einschränkung dieser Seite der mit geistigen Tatsachen befassten Wissenschaften ignoriere die systematischen Geisteswissenschaften, wie Wirtschaftslehre, Linguistik, Ästhetik, in denen wie in den Naturwissenschaften das Besondere unter das Allgemeine gesetzlicher oder regelhafter Beziehungen subsumiert werde. Nach Windelbands Einteilung müssten alle generellen Sätze der systematischen Geisteswissenschaften »dem naturwissenschaftlichen Zweig der Erkenntnis zufallen« (V, 257), und die Geschichtsschreibung würde »für sich allein, aber auch ganz allein, die andere Klasse bilden« (ebd.). Und selbst innerhalb dieser Disziplin würden dann Forschungen zu generellen Tendenzen und Gleichförmigkeiten der Geschichte als nomothetisch in die Nähe der Naturwissenschaften gestellt werden müssen. Positiv gefasst: Eben in der Verbindung des Generellen und der Individuation besteht die eigenste Natur der systematischen Geisteswissenschaften; sie suchen die ursächlichen Relationen, welche diese Individuation, die Abstufungen, Verwandtschaften und Typen des menschlich-geschichtlichen Lebens bedingen. (V, 258)
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Durch alle Geisteswissenschaften hindurch gehe »die Verbindung von Gleichförmigkeiten als Grundlage und auf ihr erwachsener Individuation und sonach die von generellen Theorien und vergleichender Betrachtung« (ebd.). Es konnte für Dilthey also nicht darum gehen, diejenigen Teile der Geisteswissenschaften, welche nach ihrer Methode – also der vergleichenden – eine Verwandtschaft mit entsprechenden Naturwissenschaften aufweisen, dieser Wissenschaftsgruppe direkt zuzurechnen. Vielmehr ließ er sie nebeneinander gelten. Als vergleichende Disziplinen standen Naturund Geisteswissenschaften plötzlich geschwisterlich beisammen. Während in den Ideen die Abgrenzung zu den Naturwissenschaften mit großem Nachdruck vorgenommen war, sah sich Dilthey jetzt genötigt, die Geschichte gegenüber dem Anspruch einer rigiden Idiographik zu verteidigen und sie neben die vergleichenden, also einige ihr methodisch verwandte Naturwissenschaften, zu stellen. Die Betonung der »Verbindung von Gleichförmigkeiten als Grundlage und auf ihr erwachsener Individuation« wäre ohne die extreme Position Windelbands vielleicht nicht so nachdrücklich ausgefallen. Das Ergebnis ist eindeutig. Diltheys eigener Ansatz liegt jenseits von Windelbands Dichotomie. Selbst dort, wo man eine gewisse Verwandtschaft vermuten könnte, nämlich bei der »liebevollen Ausprägung des Besonderen«, reklamiert Dilthey einen gebührenden Anteil des Generellen, ohne den die Geschichte in völliger Isolation allen anderen Disziplinen gegenüberstehen würde. Das Besondere bedarf einer Mindest-Teilhabe am Allgemeinen. Das ist ja die Pointe im Begriff »Geisteswissenschaften«, dass sie die Mitte halten sollen zwischen den Polen »Arts« und »Sciences«. Aber nicht nur einem Zuviel an Besonderem und Anschaulichem, sondern auch einem Zuwenig an Lebendigkeit des Allgemeinen gegenüber war eine Abgrenzung nötig.
2. Ich gehe dabei noch einmal von einer Gegenposition aus, dieses Mal von der Wissenschaftssystematik Heinrich Rickerts. Dieser hatte in seinem voluminösen Werk Die Grenzen der naturwissenschaft-
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lichen Begriffsbildung 18 die Theorien seines Lehrers Windelband in mancher Hinsicht revidiert, was vor allem die extreme Sonderstellung der idiographischen Ereigniswissenschaften in der Ausschließlichkeit ihres Befasstseins mit dem Einmaligen und Besonderen betraf. Stattdessen unterschied er zwischen generalisierenden und individualisierenden Methoden. Denn für ihn hat auch die Geschichte Anteil am Allgemeinen, was allerdings nicht darin liegt, dass sie ein System von allgemeinen Begriffen nach dem Vorbild der Naturwissenschaften zu bilden hätte. Das Allgemeine betrifft vielmehr die Methode der Geschichtswissenschaft, und hier unterscheidet Rickert vier verschiedene Bezüge. Die Historie macht erstens Gebrauch von Elementen des Allgemeinen, indem ihre Urteile »unabhängig von der Anschauung einen Sinn haben und verstanden werden müssen«. 19 Ein zweites Allgemeines liegt darin, dass die Geschichtswissenschaft ein Prinzip der Auswahl des historisch Wichtigen haben muss, wenn ihre Darstellung »für alle gültig« sein soll. 20 Dieses Prinzip besteht aus der Geltung »allgemeiner Wertgesichtspunkte«. Die dritte Art des Allgemeinen besteht darin, dass die Geschichte ihre Objekte nie isoliert, sondern immer in einem Zusammenhang auffasst. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften tut sie dies aber nicht dadurch, dass sie das Einzelne als Exemplar in ein Verhältnis zu einem übergeordneten allgemeinen Begriff setzt, sondern als individuellen Teil mit einem Ganzen verknüpft, das selbst wiederum ein Individuum ist. Schließlich gebraucht die Geschichte Begriffe nicht nur als Mittel ihrer Darstellung, sondern auch als deren Zweck. Dies sieht der Autor dort gegeben, wo innerhalb eines umfassenden Ganzen nicht jeder einzelne Teil bedeutsam ist, sondern wo Teile in Gruppen zusammengefasst »und dann unter Begriffe gebracht werden, die nur das allen Teilen der Gruppe Gemeinsame enthalten«. 21 Auch über dieses Geschichtsverständnis hat Heidegger ein geradezu vernichtendes Urteil gefällt: Hier wird das mißverstandene Problem Diltheys bis zur Unkenntlichkeit veräußerlicht. Diltheys letztes Interesse lag an dem geschichtlichen Sein;
H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. 5. Aufl. Tübingen 1929. 19 Rickert, a. a. O., S. 740. 20 Rickert, a. a. O., S. 742 21 Rickerl, a. a. O., S. 750. 18
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Rickert interessiert nicht einmal mehr die Erkenntnis der Geschichte, sondern nur ihre Darstellung. 22
Eine noch wichtigere Divergenz zwischen Dilthey und der Geschichtslogik der Südwestdeutschen Schule liegt in der jeweiligen Bedeutung des Begriffs Typus. Während dieser bei Dilthey eine zentrale Rolle spielt, ist er für die »idiographische« Geschichte im Sinne Windelbands als das »Allgemeine« systematisch ausgeschlossen. Rickert, der diese Schwäche Windelbands erkennt, nimmt (aber doch eher beiläufig) die gelegentlich erhobene Forderung auf, die Geschichte habe vom Typischen zu handeln. Diesen Gedanken lehnt er aber wegen der Mehrdeutigkeit des Typusbegriffs ab. Er unterscheidet zwei Hauptbedeutungen des Wortes: »Typus« bedeutet entweder »Vorbild« im Sinne einer vollkommenen Ausprägung; oder es bedeutet »das für den Durchschnitt einer Gruppe von Dingen oder Vorgängen Charakteristische«. 23 In dieser zweiten Bedeutung kann das Wort auch das Exemplar eines allgemeinen naturwissenschaftlichen Gattungsbegriffs bedeuten, während in der ersten Bedeutung ein Wertbegriff ausgedrückt ist. Beide Bedeutungen schließen nach Rickert einander prinzipiell aus, denn »die ›typische‹ Verkörperung eines Ideals kann niemals die ›typische‹ Verkörperung eines allgemeinen Begriffsinhalts sein.« Das »für alle Bedeutsame« dürfe nicht mit dem »mit allen Gemeinsamen« verwechselt werden. 24 Es klingt wie ein direkt gemeinter Widerspruch zu dieser Position, wenn Georg Misch von Dilthey sagt, dieser habe im Begriff des Typus das Moment des »Gemeinsamen« in einer Gruppe mit dem Moment der Norm, »das die Richtung auf eine Vollkommenheit […] enthält, zusammengenommen«. 25 Was für Rickert ein logisch nicht auflösbarer Widerspruch ist, nämlich den Typus als Vorbild und gleichzeitig als Kennzeichen einer durchschnittlichen Qualität anzusehen, soll sich für Dilthey zu einem einzigen Prinzip verbinden. Diese Paradoxie betrifft einen zentralen Punkt in Diltheys Begriff des Typischen, dem wir uns nur auf Umwegen annähern können. 26 22 23 24 25 26
Heidegger, a. a. O. (Gesamtausgabe), S. 130. Rickert, a. a. O., S. 325. Rickert, a. a. O., S. 327. Misch, a. a. O. (Vorbericht), S. ci. Vgl. unten S. 86.
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3. Man kann Diltheys Gebrauch des Typusbegriffs nur vor dem Hintergrund der Thematisierung des Phänomens der Individuation in der organischen und der geschichtlichen Welt verstehen. Dies ist das Problem, in dessen Behandlung der vergleichenden Psychologie eine bestimmte Aufgabe zukommt. Die Durchführung dieser Thematik findet zwar im Rahmen einer Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften statt. Eine solche Abgrenzung wird aber im Hinblick darauf eingeschränkt, dass Individuation auch schon die Welt des Organischen beherrscht und dementsprechend Begriffe wie Typus, Entwicklung etc. keine ursprünglich geisteswissenschaftlichen Kategorien sind. Dies ist die eine Seite des Problems, die Seite der Nähe zur Natur. Aber da ist auch die andere, die geschichtsnahe Seite. Für Dilthey ist der Typus, wie Graf Yorck schreibt, der Schlüssel, der die feinsten und schwierigsten Schlösser öffnet. […]. Er konstituiert ein Lebensmaß, eine geschichtliche Kategorie, von gleicher Bedeutung für die Erkenntnis der Historizität, wie irgendeine der logischen Kategorien für das Ontische. (Briefwechsel II, 557) 27
Yorck bezieht sich dabei auf das Kapitel Die Kunst als erste Darstellung der menschlich-geschichtlichen Welt in ihrer Individuation in Diltheys Vergleichender Psychologie (V, 273–303). Der Stellenwert der Kunst in diesem Zusammenhang ergibt sich aus Diltheys Theorem des »Zusammenwirkens von Lebenserfahrung, darstellender Kunst und wissenschaftlichem Denken, das uns von überall her beeinflußt« (V, 275). Die Kunst in ihrer mittleren Position teilt mit der Lebenserfahrung die Lebendigkeit des Erlebens, mit der Wissenschaft die prägnante Vereinfachung der Phänomene. In einem glanzvollen, essay-artigen Text geht Dilthey hier den feinsten Nuancen der Charakterzeichnung im Gang der Weltliteratur nach. Es wird an einem solchen Text deutlich, dass Diltheys eigentliche Stärke darin lag, einen bestimmten Grundgedanken in der geschichtlichen Konkretion in voller Plastizität hervortreten zu Vgl. die Analysen von M. Mezzanzanica: Der Typusbegriff bei Dilthey und Yorck, in: J. Krakowski u. G. Scholtz (Hrsg.): Dilthey und Yorck. Philosophie und Geisteswissenschaften im Zeichen von Geschichtlichkeit und Historismus. Wrocław 1996, S. 167–178.
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lassen. So stimmte denn auch Yorck begeistert zu: »So kann sich nur aussprechen, wer in der Innerlichkeit der Poesie wohnt. Solche ›Kritik‹ existiert überhaupt vorher nicht.« (Briefwechsel II, 557) Durch dieses Kapitel wird besonders augenfällig, wie absurd die These Windelbands ist, dass in der Geschichte nur die Singularität zähle, weil sie allein einen Wert darstelle. Auch Rickerts abstraktes Wertesystem verblasst vor dem lebendigen Bezug zwischen dem Allgemeinen und Besonderen im Prinzip der Individuation. In Diltheys Art der Durchführung ist immer noch sein frühes Programm erkennbar, »Einzelanschauungen, gesättigt von einem Allgemeinen« dargestellt zu sehen (XX, 101). 28 Dies zeigt sich jetzt in all den typischen Charakteren, die er in der Dichtung verkörpert findet und die weit mehr sind als »werthafte Singularitäten«. Sie sind aber auch nicht Bestandteile einer Klassifikation oder Beispiele für ein zuvor aufgestelltes Prinzip. Sie sind, von bestimmten Phänomenen in der Antike und von der Komödie abgesehen, im Sinne von Diltheys Poetik die auf ein »Wesenhaftes« hin transparent gemachte Wirklichkeit. 29 Ohne Systemzwang bei den einzelnen Dichtern aufgesucht, finden wir hier eine Fülle der in der Geschichte konkret gewordenen Möglichkeiten individueller Bedeutsamkeit. Von den Gestalten des homerischen Epos und der attischen Tragödie führt der Weg zunächst zu Shakespeares Charaktertypen. Ausprägungen wie der Machtmensch, die Tyrannennatur, der von Vernunft, Maß und Gerechtigkeit geleitete heroische Mensch, der von Reflexion beherrschte Hamlet-Typ etc. etc. – sie alle stehen mehr oder weniger außerhalb eines vorgegebenen Schemas, wie auch die »Bedingtheiten komplizierterer Art« (V, 295), d. h. Einflüsse durch Rasse, Klima, wirtschaftliche Kräfte und andere gesellschaftliche Verhältnisse, ohne systematische Einordnungen hier aufgeführt werden. Diese spiegeln sich nach Dilthey vor allem im Roman des 17. und 18. Jahrhunderts wider. Die Darstellung kulminiert in einer Nachzeichnung von Wallensteins Persönlichkeit, wie Schiller sie als einen »historischen Charakter« geschaffen hat. Dieser hat die »freie Lebendigkeit einer ganzen Menschennatur zur Grundlage« (V, 299). Indem Dilthey diese Hervorbringungen als erste Darstellung Vgl. oben S. 36. Vgl. W. Dilthey: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik. In: Ges. Schr. V, S. 103–241; hier: S. 186 ff.
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der historischen Welt in ihrer Individuation bezeichnete, betonte er nicht nur die genetische Priorität einer künstlerischen Charakterkunde vor der wissenschaftlichen, sondern auch ihre besondere Intensität, die er das typische Sehen nannte: Die darstellende Kunst gibt aber mehr als die Nachbildungen des menschlichen Lebens. Das typische Sehen und Darstellen ist ihr Kunstgriff, im Tatsächlichen die Regeln des Lebens zu geben. So enthält sie eine Anleitung zu sehen. (V, 279)
Diese »Anleitung« kann wahrnehmungstheoretisch oder normativ verstanden werden. Dies hängt zusammen mit der von Dilthey in diesem Kontext hervorgehobenen »Untrennbarkeit des Tatsächlichen von Wertbestimmungen und Normen« (V, 279). Diese Ambivalenz ist schon im Begriff der Regel impliziert. Die Regel schreibt vor, aber das Regelhafte kann auch das sachlich-neutrale Erkennbare sein, das sichtbar gemacht wird. Dies gilt auch für das Typische, in dem Dilthey verschiedene Grade der Subjektivität der Darstellung unterscheidet. So gibt es für jede menschliche Tätigkeit eine regelhafte Allgemeinform, die als Typus der angemessenen Ausführung menschlicher Lebensäußerungen bezeichnet wird (V, 279). – In der Betonung des Regelhaften einer ganzen Gruppe von Phänomenen entsteht der Typus des herausgehobenen Gemeinsamen. Hier werden »Linien des lebendigen Zusammenhangs im typischen Darstellen herausgehoben oder stärker verzeichnet« (ebd.). – Dem klassifizierenden Interesse der Wissenschaft entspricht in der darstellenden Kunst das Verfahren, »durch die Bezüge einer Anzahl von Personen diese ganze Lebenswirklichkeit zu repräsentieren«. Die typischen oder »wesenhaften« Bezüge, d. h. »die Verteilung der inneren Lebendigkeit an Figuren und Vorgängen«, bewirken eine »Familienähnlichkeit« der Charaktere, die das Gesamtwerk des Dichters kennzeichnet. – Das typische Sehen ist schließlich Ausdruck der Subjektivität des Künstlers, der in der Malerei die Wirklichkeit von einem »gefühlten Eindruckspunkt« (V, 282) aus auffasst. Dieser ist »durch das Verhältnis irgendeiner Lebendigkeit zu der meinigen bedingt«. Ich finde mich in meinem Lebenszusammenhang von etwas Wirkendem in einer anderen Natur innerlich berührt; ich verstehe von diesem Lebenspunkte aus die dorthin konvergierenden Züge. So entsteht ein Typus. Ein Individuum war das Original; ein Typus ist jedes echte Porträt. (Ebd.)
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Dies ist nicht das antiquarische Interesse Windelbands an der »liebevollen Ausprägung des Besonderen«, das »in ideeller Gegenwärtigkeit neu zu beleben […] und aufzubewahren« ist. Es ist aber auch nicht das klassifizierende Interesse in der Herausstellung und Ordnung typischer Lebens- und Ausdrucksformen. Es handelt sich vielmehr um die »geniale Verdichtung und Erhöhung […], welche das Zufällige, das Impulsive, das Versinken mitten im Gespräch in uns selbst zugleich steigert und simplifiziert« (ebd.). Als »Anleitung zu sehen« ist diese Steigerung und zugleich Simplifikation der Wirklichkeit Ausdruck eines charakterisierenden Interesses. 30 Yorcks Wort vom Typus als dem »Schlüssel, der die feinsten und schwierigsten Schlösser öffnet«, bezieht sich auf diese Funktion
4. Dieser Unterschied zwischen klassifizierender und charakterisierender Typik hat schon immer die Dilthey-Interpreten bewegt. 31 Er ist auch für unsere Begriffsklärung wichtig. Ich betone diese heuristische Seite von Diltheys Auffassung des Typischen, weil sich mir von hier aus der Brückenschlag zur Hermeneutik des Spätwerks fast wie von selbst zu ergeben scheint. Das Sich-Einlassen auf ein Besonderes muss nicht immer eine Subsumtion unter ein bereitliegendes Zuordnungsschema bedeuten. Der von Dilthey gemeinte Typus, den jedes »echte« Porträt darstellen soll, kann zwar auch ein »typischer« Rembrandt, ein »typischer« Romantiker-Kopf, ein »typisches« Rokoko-Bild sein. Alle diese Zuordnungen gehören zum unverzichtbaren Instrumentarium jeder Kulturgeschichte. Sie sind, im Sinne Kants gesagt, Leistungen der bestimmenden UrteilsSie nähert sich damit dem Prinzip des »Idealtypus« von Max Weber, hält sich jedoch in der Nähe zu den prägnant-evokativen Ausdrucksleistungen im »typischen Sehen« der Dichter. 31 So nimmt Ludwig Landgrebe die Entwicklung des Typusbegriffs von Dilthey, »wie er allmählich aus einer biologisch-morphologischen Kategorie zu einer spezifisch geschichtlichen sich wandelt, als Leitfaden zu seiner endgültigen Stellung und Lösung.« Vgl. L. Landgrebe: Wilhelm Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften. Analyse ihrer Grundbegriffe. In: Jahrbuch für philosophische und phänomenologische Forschung, 9. Bd. Halle 1928, S. 278. Vgl. auch F. Rodi: Die Lebensphilosophie und die Folgen. Zu zwei Aufsätzen von Hans-Joachim Lieber. In: Das strukturierte Ganze, a. a. O., S. 207–222. 30
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kraft, d. h. sie subsumieren ein Besonderes unter ein Allgemeines. Wo aber die reflektierende Urteilskraft zu einem Besonderen ein Allgemeines erst suchen muss, bleibt dieses in der Regel ein heuristischer Entwurf, der eher einen Eindruck artikuliert als einen Sachverhalt konstatiert. 32 Es ist oben betont worden, dass Diltheys Gang durch die Weltliteratur nirgends mit einem Klassifikationsschema verbunden war. Das typische Sehen der Dichter ohne festlegende Zuordnung war ihm der »mütterliche Boden« für alle komplizierteren Nachzeichnungen der Individuation. Graf Yorck hat auch hier die Intention des Freundes erkannt: »Windelband weist der Geschichte Gestalten zu. Ihr [d. i. Diltheys] Begriff des Typus ist ein durchaus innerlicher. Da handelt es sich um Charaktere, nicht um Gestalten.« (Briefwechsel, 559) Die von Dilthey herausgehobenen Typen oder Charaktere der Literatur, also die großen Charaktere wie Hamlet oder Othello, sind gleichsam »Typen ihrer selbst«. 33 Sie stellen unvergleichliche Charakterisierungen dar, Formen der Individuation auf höchstem Niveau. Jede Zuordnung zu einem bereits vorhandenen Schema würde ihnen die Substanz des eigentlich Charakteristischen nehmen. Das einzige klassifikatorische Element in Diltheys Darstellung ist die Ordnung nach Epochen; denn diese in der Geschichte der Poesie von Europa zu unterscheidenden Epochen »sind zugleich Abschnitte in der dichterischen Auffassung von der Individuation der allgemeinen Menschennatur« (V, 283). Es muss nun allerdings gefragt werden, ob mit dieser Betonung der nicht-klassifikatorischen Funktion des Typusbegriffs die eigentliche Intention Diltheys wirklich getroffen ist. Beruhte sein Einfluss nicht primär auf seiner Typologie der Weltanschauungen, deren charakterisierende Funktion deutlich hinter die klassifikatorische zurücktritt? Ist eine vergleichende Psychologie nicht immer auf Gemeinsamkeiten und Abweichungen von Grundformen, Zuordnungssystemen und Typen angewiesen? Die stärksten Argumente für das Recht solcher Fragen scheint Dilthey selbst geliefert Vgl. F. Rodi: Die Artikulation des Eindrucks. In: Ders.: Über die Erfahrung von Bedeutsamkeit. Freiburg/München 2015, S. 106–129. 33 Diesen Ausdruck gebraucht Benedetto Croce – allerdings kritisch – für den nicht klassifikatorischen Typusbegriff: »Das Tyische kann dann nichts anderes bedeuten als das Charakteristische; typisch darstellen heißt dann charakterisieren.« Vgl. B. Croce: Ästhetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Linguistik. Leipzig 1905, S. 34. 32
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zu haben, und zwar vor allem in jenem nicht von ihm veröffentlichten Teil seiner Abhandlung Über vergleichende Psychologie, der unter dem Titel Gang der vergleichenden Geisteswissenschaften bis zur methodischen Bearbeitung des Problems der Individuation das Fragment beschließt aber nach wenigen Seiten abbricht (V, 303– 316). Die Linie des geplanten Gangs der Darstellung war in wenigen Sätzen skizziert worden: Die vergleichenden Naturwissenschaften gelangen von Buffon und Cuvier ab zu strenger Durchbildung. Und in ihren Fußstapfen, nicht am wenigsten durch Herder, Goethe und Schiller in dieser Übertragung bedingt, gelangen die Geisteswissenschaften in das Stadium der vergleichenden Methoden. (V, 303)
Wir befinden uns, wie oben schon erwähnt, an dem Punkt der diltheyschen Wissenschaftstheorie, an dem es um den Zusammenhang der vergleichenden Naturwissenschaften mit denen der Geisteswissenschaften geht: Das Verfahren […], welches Unterschiede, Abstufungen, Verwandtschaften, Typen, Anordnung und Erklärung derselben zum Gegenstande hat, gibt den Wissenschaften einen komparativen Charakter. So sind alle Wissenschaften, welche auf dem Grunde der Gleichförmigkeit diese Seite der Individuation […] zum Gegenstande haben, zu einer umfassenden Klasse verbunden. (V, 304)
Es ist bemerkenswert, dass der gemeinhin als Vertreter eines schroffen Wissenschaftsdualismus geltende Dilthey für die vergleichenden Methoden immer wieder den genetischen und systematischen Zusammenhang der beiden Wissenschaftsgruppen betont hat: Gattung, Art, Typen, Entwicklung, Milieu, innere Form, Struktur – diese und andere Begriffe wurden von dem naturwissenschaftlichen Denken geschaffen und in den Geisteswissenschaften benutzt […]. Und die Aufgabe einer vergleichenden Psychologie kann nur im klaren Bewußtsein dieses Zusammenhangs aufgelöst werden, in welchem sie steht. (V, 310 f.)
In der Konstituierung der vergleichenden Psychologie sieht Dilthey das letzte Glied des umfassenden Vorgangs, »in welchem das große Rätsel der Individuation innerhalb der organischen und menschlich-geschichtlichen Welt zu lösen versucht wurde« (ebd.). Dies hat auch Konsequenzen für den Typusbegriff. Hans-Ulrich Lessing hat in einer vorzüglichen Studie von einem »morpho83 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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logisch-vergleichenden Typus-Konzept« Diltheys gesprochen, das vor allem durch seine Ordnungsfunktion gekennzeichnet ist. 34 In der Tat hat Dilthey immer wieder diese Funktion des vergleichenden Verfahrens betont und gerade von da aus die Verbindung zur Biologie aufgezeigt. Das nicht vollendete Schlusskapitel über den Gang der vergleichenden Geisteswissenschaften ist ein überwältigender Beweis für den hohen Stellenwert, den Dilthey dem klassifikatorischen Typusbegriff zuspricht.
5. Aber hier ist eine Differenzierung notwendig. Das morphologischvergleichende Verfahren gelangt induktiv zu typischen Allgemeinstrukturen. »Morphologisch« bedeutet hier empirischen Nachvollzug von Gleichförmigkeiten und Unterschieden im Bemühen um Ordnungsprinzipien. 35 Es gibt jedoch noch eine andere – berühmtere – Bedeutung des Wortes Morphologie, und sie war Dilthey nicht nur wohlvertraut, sondern Bestandteil seines typologischen Ansatzes. Im Rekurs auf Goethes Bekenntnis, »daß meine Art, die Gegenstände der Natur anzusehen und zu behandeln, von dem Ganzen zu dem Einzelnen, vom Totaleindruck zur Beobachtung der Teile fortschreitet« 36, hat er dieses Programm nicht zuletzt für sich selbst auf die Formel gebracht, »vom Ganzen ausgehend Gliederung, Verteilung und Struktur aufzufassen« (XIII/1, 207). Auf seine Psychologie übertragen ist dieses »Ganze« der psychische Strukturzusammenhang, der erlebbar und beschreibbar ist und den Ausgangspunkt bildet für die Erforschung der konkreten Besonderungen in der menschlich-geschichtlichen Welt durch eine – bisweilen auch »AnH.-U. Lessing: Der Typus zwischen Ordnungs- und Aufschließungsfunktion. Anmerkungen zum heuristischen Status des Typus-Begriffs bei Wilhelm Dilthey und Max Weber. In: F. Rodi (Hrsg.): Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen. Weilerswist 2003, S. 139–158. 35 In diesem Sinn forderte auch der von Dilthey so geschätzte Physiologe Johannes Müller, »daß man […] aus dem Ganzen in die Tiefe strebe, vorausgesetzt, daß man auf analytischem Wege das einzelne erkannt und zum Begriff des Ganzen gelangt ist.« J. Müller: Bildungsgeschichte der Genitalien, zitiert bei U. Ebbeke: Johannes Müller, der große rheinische Physiologe. Hannover 1951, S. 19. 36 J. W. Goethe: Sämtliche Werke in 18 Bänden (Gedenkausgabe), hrsg. v. E. Beutler, Zürich 1949. Hier Bd. 17, S. 529. 34
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thropologie« genannte – vergleichende Psychologie. Im Unterschied zum induktiven Verfahren der bisher betrachteten Typologie geht diese Morphologie intuitiv von einer Allgemeinstruktur (Grundtypus) aus, die in der Anschauung gegeben und der weiteren Artikulation fähig ist. Aber hier verschwimmen die Grenzen von Natur und Geschichte. So bezieht sich Dilthey auf den letzten Seiten seiner Abhandlung auf die entsprechende Konzeption Goethes und Herders, die Natur als das »Subjekt der gesamten Individuation« mit einer Technik ausgestattet zu sehen, »die ganze Individuation der Lebewesen von einem Typus aus« abzuleiten (V, 314; Hervorhbg. F. R.). In seiner Schleiermacher-Biographie zitiert er Naturwissenschaftler wie Helmholtz und Johannes Müller mit deren vorbehaltloser Zustimmung zu Goethes Prinzip, dass alle Unterschiede im Bau der Tierarten als Veränderungen des einen Grundtypus aufgefasst werden müssten, welche durch Verschmelzung, Umformung, Vergrößerung, Verkleinerung oder gänzliche Beseitigung einzelner Teile hervorgebracht seien. (XIII/1, 201; Hervorhbg. F. R.) 37
So kann er nun auch über die Methode der Historischen Schule, sofern auch sie von Totalanschauungen ausging, sagen: »Eine einzige, ich möchte sagen morphologische Betrachtungsweise geht durch alle diese Generalisationen hindurch und führt zu Begriffen von neuer Tiefe.« (VII, 99) 38 Nirgends ist hier der Typus das Endprodukt eines induktivvergleichenden Verfahrens, sondern als »Grundtypus« der intuitive Ausgangspunkt für den Vorgang des »Ableitens«, welches allerdings nicht mit logischer Deduktion gleichgesetzt werden sollte. 39 In beiden Spielarten der Morphologie überwiegt das klassifikatorisch-ordnende Interesse, sei es im Gang vom Allgemeinen zum Besonderen (analytisch) oder umgekehrt (synthetisch). Zu beachIn seiner Basler Logik-Vorlesung vom Winter 1867/68 zitiert Dilthey den Satz Cuviers, »man möge ihm einen Knochen eines früheren Geschöpfes geben, so werde er das ganze rekonstruieren« (XX, 119). 38 Vgl. in diesem Band S. 40. 39 Während z. B. Spranger ganz im Sinne Rickerts neben den induktiv gewonnenen »Durchschnittstypus« den deduktiv erzeugten Idealtypus stellt, der »durch apriorische Konstruktion aus einem Gesetz« gewonnen wird, scheint es mir für das Verständnis Diltheys unerlässlich, von der intuitiven Erfahrung einer erlebbaren psychischen Allgemeinstruktur auszugehen. Vgl. E. Spranger: Psychologie des Jugendalters. 22. Aufl. Heidelberg 1953, S. 18. 37
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ten ist, dass auch Dilthey selbst nicht von einem Gegensatz, sondern von einem komplementären Verhältnis zwischen Analyse und Synthese (»ihnen eingeordnet Induktion und Deduktion«) ausgegangen ist (V, 169). Auch das »rein« analytische Einsetzen bei einer Allgemeinstruktur, wenn es nicht ein scholastisches »Herunterdeduzieren« des Besonderen sein will, muss sich immer auf empirisch Vorgegebenes beziehen, wie umgekehrt das synthetische Verallgemeinern des Besonderen von theoretischen Vorgriffen geleitet sein muss. 40 Es besteht bei Dilthey also keine scharfe Grenze zwischen den beiden Richtungen eines morphologischen Verfahrens, wie auch dieses in seiner Gesamtheit nicht scharf von dem charakterisierenden Zugriff abgehoben ist. Diese Unschärfe macht die Stärke und Schwäche seines Gebrauchs des Typusbegriffs aus. Es ist hier der Ort, noch einmal auf Georg Mischs These zurückzukommen, Dilthey habe im Begriff des Typus als des ›Regelhaften‹ das Moment des ›Gemeinsamen‹ in einer Gruppe, das den Grund der Besonderung in sich enthält, zusammen [genommen] mit dem Moment der Norm, das die Richtung auf eine Vollkommenheit in der Ausprägung dessen enthält, was als ›Natur‹, als innere Bestimmung, oder, wie er sagt, als ›Wert‹ den Teilen eines Ganzen einwohnt. (V, ci)
Im Sinne der formallogischen Argumentation Rickerts, so wurde deutlich, besteht hier ein unauflösbarer Widerspruch: Das »mit allen Gemeinsame« dürfe nicht mit dem »für alle Bedeutsamen« verwechselt werden. Und doch erscheint es sinnvoll, dieses Ineinander der beiden »Momente« als das Spezifische der Konzeption Diltheys hervorzuheben. Hierher gehört sein Dictum von der »Untrennbarkeit des Tatsächlichen von Wertbestimmungen und Normen« (V, 279). Auch das »Typische« als das Gemeinsame einer Gruppe verweist auf einen Wert, nämlich eine Mindest-Bedeutsamkeit, die Vgl. oben S. 43. – In meinem vor fast 50 Jahren vorgelegten Versuch, zwei Grundformen der Interpretation mit den Begriffen Morphologie und Hermeneutik zu fixieren, war noch nicht zwischen einer induktiv-vergleichenden und einer intuitiv-ableitenden Morphologie unterschieden worden. Die dort festgestellte Zwischenstellung Diltheys zwischen Positivismus und Romantik konnte dementsprechend nicht ausreichend von diesem Dualismus her begründet werden. Vgl. F. Rodi: Morphologie und Hermeneutik. Zur Methode von Diltheys Ästhetik. Stuttgart 1969.
40
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Anlass dazu gibt, »Linien des lebendigen Zusammenhangs im typischen Darstellen« zu ziehen. 41 Diese Bedeutsamkeit kann in gesteigerter Form im Typus dann »die Richtung auf eine Vollkommenheit« anzeigen, wobei gerade das bloß Richtungshafte im Gegensatz zur fixierten Bedeutung den heuristischen Wert eines solchen Typus ausdrückt. Solche Abstufungen gelten auch für die komplizierteste Anwendung des typologischen Denkens, nämlich in Diltheys Weltanschauungslehre, in der sich klassifizierendes und charakterisierendes Denken wechselseitig durchdringen.
6. Dilthey hat gegen Ende seines Lebens in mehreren Abhandlungen den Versuch unternommen, durch eine Gesamtübersicht über die Geschichte der Philosophie die einzelnen philosophischen Systeme in ihrem Aussagewert nicht etwa zu relativieren, sondern als Bestandteile einer gesamtmenschheitlichen Antwort auf die Rätsel des Lebens zusammenzufassen. Sein immenses philosophiegeschichtliches Wissen mag darüber hinaus in ihm das Bedürfnis geweckt haben, die Stoffmassen zu ordnen, zu gliedern und in einen universalen Zusammenhang zu bringen. So entstand seine Typologie der Weltanschauungen, in der er drei Haupttypen der philosophischen Systeme unterschied: Naturalismus, objektiver Idealismus und Idealismus der Freiheit. Unter diesen drei Namen, so hoffte er, war das gesamte philosophische Denken der Menschheit in drei sich deutlich unterscheidenden, ja sich zum Teil bekämpfenden Strömungen zusammengefasst. Wie nahe er sich auch damals noch immer den Wissenschaften des Organischen fühlte, zeigt eine häufig zitierte Stelle aus dem Aufsatz Das Wesen der Philosophie aus dem Jahre 1907: Wie der Botaniker die Pflanzen in Klassen ordnet und das Gesetz ihres Wachstums erforscht, so muß der Zergliederer der Philosophie die Typen der Weltanschauung aufsuchen und die Gesetzmäßigkeit in ihrer Bildung erkennen. (V, 380)
Der »Philosoph der Philosophie« müsse »das betrachtende Bewußtsein selber, das sich die Gegenstände unterwirft, geschichtlich-ver41
Vgl. oben S. 80.
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gleichend auffassen und sonach über ihnen allen seinen Standpunkt einnehmen« – eine Art Credo des Historismus. Das Verfahren, das er für dieses Unternehmen anwendet, ist aus verschiedenen Methoden gemischt. In dem ersten Anlauf, den er 1898 mit dem Aufsatz Die drei Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vornimmt, herrscht fraglos das Bemühen des empirisch forschenden Historikers vor, der unübersichtlichen Materie überhaupt Struktur und Profil abzugewinnen. In den späteren Arbeiten, vor allem in Das Wesen der Philosophie (V, 339–416) und Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (VIII, 75–128) wird ein Klassifikationsschema angewandt, das teils induktiv von der Vielfalt der Phänomene zu den drei Haupttypen kommt, zum anderen Teil jedoch von einem vorgegebenen Schema aus die chaotische Vielfalt ordnet. Dieses Schema ist das gegliederte Ganze der psychischen Struktur mit ihren drei Elementen des Kognitiven, Emotiven und Volitionalen. Ihnen werden die drei Weltanschauungstypen in der Weise zugeordnet, dass Dilthey im Naturalismus eine Dominanz des Kognitiven annimmt, während im (pantheistischen) objektiven Idealismus das Element der Gefühle und im Idealismus der Freiheit die dualistische Willensphilosophie vorherrschen. Diese Schematik hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite ist der intuitiv-morphologische Impuls noch spürbar, den wir aus den Jugendtagebüchern Diltheys kennen. Eine neue Kritik der Vernunft, die er mit der Einleitung schließlich selbst zu schreiben unternahm, sollte schon damals die philosophischen Systeme »wie Naturprodukte analysieren, als Kristallisationen, deren Urform Schemata sind« (J, 80). 42 Die Systeme auf ihr Schema zu reduzieren, sei »der beste Beweis dafür, dass man sie begreift. Denn aus einfachen, ja armen Elementen, Gesetzen, Grundformen entsteht durch unendliche Mannigfaltigkeit der Reichtum der Welt.« (J, 89) Dies ist ein Hauch der goetheschen Morphologie, bewusst aufgenommen von dem 26-jährigen Philosophen, der damit auch schon das Prinzip der Individuation vorwegnimmt. Auf der anderen Seite stellt die ausschließliche Orientierung Schon im Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften von 1865 finden wir als Thema: »Komparative Analyse der Weltansichten« (XX, 32).
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an der dreigliedrigen psychischen Struktur einen Schematismus im Sinne eines geschlossenen Systems der Interpretation dar. Eine Klassifikation gewährt zwar immer gewisse Orientierungslinien. Aber die Festlegung eines historischen Phänomens auf ein vorgegebenes Zuordnungsschema verleiht ihm ein Zuviel an objektivistischer Handhabbarkeit. Dieser Gefahr war sich Dilthey wohl nicht immer bewusst. Er betont zwar: »Die Forschung muß hierbei gegenüber ihren Ergebnissen jede Möglichkeit einer Fortbildung sich fortdauernd offen halten. Jede Aufstellung ist nur vorläufig. Sie ist und bleibt nur ein Hilfsmittel, historisch tiefer zu sehen.« (VIII, 86) Aber die Weltanschauungstypologie bleibt letztlich ein geschlossenes System. Wenn es so etwas gibt wie die Verpflichtung zum »nur« heuristischen Sehen-Lassen, so war diese bei Dilthey immer überschattet von der anderen Verpflichtung, auch den Geisteswissenschaften eine selbstverständliche Allgemeingültigkeit zu sichern. Diese Spätphilosophie mit der Hauptschrift Die Typen der Weltanschauung erreichte ihren Höhepunkt etwa eineinhalb Jahrzehnte nach der Vergleichenden Psychologie. Nach deren Abbruch im Krisenwinter 1895/96 war ja das Thema »Typologien in den vergleichenden Natur- und Geisteswissenschaften« scheinbar aufgegeben. Es ist aber zu vermuten, dass die Weltanschauungslehre aus Diltheys letzten Lebensjahren neben dem anspruchsvollen Programm einer »Philosophie der Philosophie« auch eine Art Wiederaufnahme des methodischen Problems der Typologie in den Geisteswissenschaften leisten sollte. Das Fragment der Vergleichenden Psychologie hatte ja noch die Mahnung gebracht, es gelte zu erkennen, in welchem Maße die Übertragung der vergleichenden Methode von den Naturwissenschaften auf die Geisteswissenschaften neben der Fruchtbarkeit dieser Übertragung »auch von nachteiligen Folgen begleitet gewesen ist und durch eine andere, aus den Eigenschaften des Psychischen stammende Betrachtungsweise ergänzt werden muß« (V, 316).
7. Eine solche andere Betrachtungsweise betrifft vor allem den Stellenwert des Allgemeinen in geisteswissenschaftlichen Aussagen. 89 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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Das Typische als das Gemeinsame einer Gruppe von Phänomenen ist in der Regel definierbar, in vielen Fällen sogar zähl- und messbar. Es gibt z. B. ein typisch unterschiedliches Aussehen und Verhalten von Bienen und Wespen, aber auch ein solches in der menschlichen Welt. Vergleichende Disziplinen in Natur- und Geisteswissenschaften sind mit dieser Art des Allgemeinen befasst. Sie orientieren sich an induktiv gewonnenen und generalisierten Kennzeichen. In der Regel führen diese Klassifizierungen zur Festschreibung von Phänomenbereichen im Sinne von Klassen und Arten. Aber das Typische als das für einen Einzelnen oder Mehrere Bedeutsame ist nicht in dieser Weise definierbar. Theodor Litt hat in seiner Studie Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis hervorgehoben, daß das in dem Typus gemeinte »Allgemeine« es nicht verträgt, zur Schärfe eines in Definitionsform fixierten Klassenbegriffs durchgebildet zu werden, sondern sich in einer Schwebe hält, die jeder Festlegung ausweicht. 43
Ähnlich wie in Mischs Betonung einer bloßen Richtungshaftigkeit des Typus sieht Litt die Notwendigkeit eines In-»Fühlung«-Bleibens mit der Mannigfaltigkeit der zugehörigen konkreten Erscheinungen. Während Misch die »Richtung« vom Besonderen zum Allgemeinen im Auge hatte, geht es bei Litt in umgekehrter Richtung um die Nicht-Ablösbarkeit des Allgemeinen vom Besonderen. In beiden Fällen handelt es sich nicht um das fixierbar Typische der Klassifikation, sondern um das heuristische Einbringen einer Hinsicht, deren Produktivität gerade darin liegt, dass die Teilhabe (Methexis) des Besonderen am Allgemeinen seine Bedeutsamkeit ausmacht. Aber während z. B. Schopenhauer in einem kurzschlüssigen Platonismus die ästhetische Erkenntnis der Erscheinungen bis zu den Ideen vordringen lässt, begnügt sich Misch im Sinne Diltheys mit der »Richtung« auf die Vollkommenheit der Phänomene, wie sie der charakterisierende Typus in seiner Nähe zum Symbol ausdrückt. Noch einen Schritt weiter ging Ludwig Landgrebe in seiner frühen Arbeit über Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften. Er unterschied scharf zwischen einer »naturhistorischen« Auffassung Th. Litt: Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis. Hamburg 1980, S. 24 f.
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des Typus und dem Typus als Repräsentation eines Erlebnisses, in dem mir »in der Selbstbesinnung die Bedeutsamkeit meines Lebens aufgeht und die objektive Geltung meiner Lebenserfahrung durch die Berührung mit fremdem Leben sich erweist.« 44 Nicht darauf komme es an, »daß ich fremde Individualitäten erfassen und nach ›Typen‹ im landläufigen Sinne einteilen kann, sondern darauf, daß ich in diesem Erfassen mein eigenes Leben in seinen wesentlichen Zügen erfasse.« 45 Und noch stärker im Sinne unserer Unterscheidung gesagt: Es handelt sich nicht um ein objektives Sammeln und Klassifizieren. […] Der Typus ist Repräsentation, das heißt: er hat sein Sein in dem Erlebnis, in dem ich im verstehenden Auffassen fremden Lebens dieses als Möglichkeit ergreife, die mein eigenes Sein mit ausmacht. 46
Diese in der Nähe zu Heidegger geschriebene Interpretation mag in manchen Zügen über Diltheys Intentionen hinausgehen. Sie ist jedoch hilfreich in der Relativierung eines gewissen objektivistischen Überschwangs in Diltheys Umgang mit dem Typusbegriff und bringt uns sein zentrales Thema der anthropologischen Selbstbesinnung ermahnend in Erinnerung.
44 45 46
Landgrebe, a. a. O., S. 47. A. a. O., S. 123. Ebd.
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Psychologie oder Anthropologie? Vom Lebenszusammenhang zur Geschichte
Für Dilthey war »Psychologie« ein beherrschendes Thema seines Lebens, auch wenn er unter diesem Titel manche Gegenstände behandelte, die wir heute nicht mehr diesem Fach zuordnen würden. Dazu gehört das weite Feld der Anthropologie, die wir in drei nicht immer scharf zu trennenden Formen antreffen: Einerseits die aus der konkreten Lebenswirklichkeit geschöpften Erfahrungen und Kenntnisse, die ihrerseits wieder auf diese Lebenspraxis zurückwirken sollen. Im Sinne einer solchen pragmatischen Menschenkunde unterscheidet sich diese Betrachtungsweise von einer im engeren Sinn philosophischen Anthropologie, die den Menschen vor allem als geschichtliches Wesen verstehen will. Schließlich ist Anthropologie die morphologische Erforschung der Mannigfaltigkeit menschlicher Lebensformen in ihren typischen Gestalten, und dies ist die vergleichende Psychologie, in der eine auch biologische Kategorien nicht verschmähende Anthropologie bei Dilthey aufgeht. Wir werden es mit allen drei Spielarten (und dazwischenliegenden Nuancen) zu tun haben.
1. Dilthey hat das Wort »Anthropologie« in unterschiedlichen Kontexten gebraucht, wie er es auch aus verschiedenen Traditionszusammenhängen übernommen hat. Eine entscheidende Anregung, auf die er selbst immer wieder zurückgekommen ist, waren die Gedanken des Romantikers Novalis über eine »reale Psychologie« oder »Anthropologie«, welche nach Diltheys Worten »den unendlichen Gehalt der menschlichen Natur nur an seiner Entwicklung in der Geschichte zu studieren vermag« (XXVI, 197) und die dies im Gegensatz zur herkömmlichen Psychologie durch 92 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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eine Deskription der Inhalte, nicht der bloßen Mechanismen der Seele zu tun habe. Der Entwurf einer solchen »realen Psychologie«, die Dilthey kurz »Realpsychologie« nannte, war für ihn die Vorwegnahme seiner eigenen Konzeption einer »beschreibenden und zergliedernden« Psychologie. Von hier aus muss man fragen, ob die Namen »Anthropologie« und »deskriptive Psychologie« für uns austauschbare Begriffe sein können. Diese Frage ist deshalb schwer zu beantworten, weil die psychologische Hauptschrift, die Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, gleichsam zwei Gesichter hat. Einerseits versucht sie, die engen Grenzen einer formalen Analyse seelischer Prozesse in Richtung auf eine Beschreibung des Zusammenhangs solcher Phänomene zu überschreiten. Andererseits sind die Ideen in gewisser Hinsicht der Nachhall eines Richtungskampfes um die Durchsetzung einer nicht naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychologie in Berlin. 1 Diltheys Engagement in dieser Auseinandersetzung, die mit der Berufung von Carl Stumpf, seinem Wunschkandidaten, entschieden wurde, ist in Anlage und Text der Ideen noch spürbar; nicht zum Vorteil der Sache, wenn wir unter dieser die Vollendung des großen Vorhabens der Einleitung in die Geisteswissenschaften ansehen. Die scharfe Abgrenzung gegenüber der »erklärenden« Psychologie verengte den in vorausgehenden Fragmenten skizzierten Rahmen. In einem nicht im engeren Sinn psychologischen Kontext, nämlich dem der Ethnologie, verband sich für den dreißigjährigen Philosophen der Begriff Anthropologie mit der These, daß für alle Menschenstämme dieselben Entwicklungsbedingungen des geistigen Lebens gelten, daß deshalb auch von dieser Seite her kein hinreichender Grund vorliegt, spezifische Unterschiede innerhalb des Menschengeschlechts anzunehmen. (XVI, 379)
Dieser Satz entstammt der Besprechung der Anthropologie der Naturvölker von Theodor Waitz, die Dilthey 1863 anonym in der Berliner Allgemeinen Zeitung veröffentlichte. 2 Die Rezension beginnt mit den Worten:
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Vgl. F. Rodi: Das strukturierte Ganze. A. a. O., S. 174. XVI, 373–381.
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Der vornehmste Gegenstand der Philosophie ist der menschliche Geist; ihre lebendigste und anschaulichste Form, die, welche den konkreten Wissenschaften am nächsten steht, ist die Anthropologie. In ihr vereinigen sich alle Naturwissenschaften, Geographie und Geschichte, alle philosophischen Disziplinen. (XVI, 373)
Dilthey blickt dabei zurück auf die Hochkonjunktur des anthropologischen Schrifttums im 18. Jahrhundert, Kant eingeschlossen. Er hätte sich auch auf die vielstimmige Tradition philosophischer Schriften der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beziehen können, die »Anthropologie« im Titel oder Untertitel führten, von Görres und Troxler über Fries und Steffens zu Feuerbach, Krause und Lotze. 3 Dilthey schloss sich dieser Tradition nicht an. Aber das Wort »Anthropologie« war ihm geläufig genug, um es sozusagen operativ, also nicht definitorisch festlegend, zu gebrauchen, wenn es ihm darum ging, über die menschliche Natur in einem nicht streng psychologischen Sinn zu sprechen. Er war in jenen Jahren mit der Ausarbeitung seiner ersten systematischen Vorlesung beschäftigt, die mit dem Titel Logik mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte und Methode der einzelnen Wissenschaften bereits auf das große Thema seines Lebens, die Einleitung in die Geisteswissenschaften, hindeutete. Für seine Hörer des Wintersemesters 1864/65 gab er als Privatdruck einen Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften aus (XX, 19–32). Hier finden wir den Begriff »Anthropologie« zum ersten Mal innerhalb des Gesamtwerkes in systematischem Gebrauch. Dilthey stellt an die Spitze seines Systems der »Wissenschaften des Geistes« eine »allgemeine grundlegende Wissenschaft«, nämlich »Psychologie und Anthropologie« (XX, 26). Diese Und-Verbindung, die dann mehrfach, z. B. im Ersten Buch der Einleitung wiederkehrt, 4 ist nicht eindeutig. Spricht der Autor von einer Psychologie, die er auch Anthropologie nennt, oder gibt es hier eine gemeinsame, aber verschieden strukturierte Aufgabe? Für die erste Möglichkeit spricht die erwähnte Tatsache, dass im Novalis-Aufsatz die Begriffe »Realpsychologie« und »Anthropologie« als gleichbedeutend nebeneinander gestellt sind. Noch dreißig Jahre später, im so genannten Berliner Entwurf, finden wir Vgl. den Artikel Anthropologie im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter, Bd. 1 (Darmstadt 1971), vor allem Sp. 367. 4 I, 32; vgl. XXI, 21 u. 166. 3
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die beschreibende Psychologie auch als Anthropologie bezeichnet (XIX, 308). Und in der Einleitung, werden zwar zwei Aufgaben unterschieden, aber beide mit dem Namen »Anthropologie« statt dem uns von Dilthey her vertrauteren Wort »Psychologie« verbunden (I, 40). Was also gilt: die bloße Synonymie der Bezeichnungen oder die Verschiedenheit der Anwendungsbereiche? 5 In die Reihe der Belege für die erste Möglichkeit scheint auch der so genannte Berliner Entwurf des Zweiten Bandes der Einleitung in die Geisteswissenschaften zu gehören. Dieses Fragment ist innerhalb der Schriften Diltheys ein einmaliges Dokument der Selbstverständigung des Philosophen über den immer mehr sich ausweitenden Gesamtplan seines Hauptwerkes. Alle noch so verzweigten und scheinbar weit auseinander liegenden Einzelthemen wurden hier neu überdacht, ergänzt und in einen übergreifenden Zusammenhang gebracht. Neu gegenüber früheren Entwürfen war der Plan, noch vor die eigentlich systematische, erkenntnistheoretisch-logische Grundlegung ein Viertes Buch unter dem Titel Das Leben. Deskriptive und komparative Psychologie zu stellen. Es geht um einen »beschreibenden Zusammenhang des Seelenlebens«, und die dafür geeignete Psychologie kann »nach älterem Sprachgebrauch als empirisch bezeichnet werden, als Anthropologie«. Diese wird dann wie folgt charakterisiert: Der Begriff der Anthropologie ist der einer vollständigen, in der Vorstellung alle Funktionen des Seelenlebens umfassenden, nach ihrem Gewicht und ihren Beziehungen auch das große Selbstverständliche zum Bewußtsein erhebenden. Schließlich soll durch sie das ganze Leben verständlich erscheinen; auch die Hauptformen der psychischen Unterschiede, das Verhältnis zum theoretischen Leben etc. (XIX, 308).
Von hier aus kann gesagt werden, dass nach diesem Plan die gesamte systematisch fortschreitende Grundlegung der Geisteswissenschaften auf der Basis einer in aller Breite durchgeführten psychologisch-anthropologischen Betrachtung des »Lebens« erfolgen Zur Unterscheidung von ›Anthropologie‹ und ›Psychologie‹ bei Dilthey vgl. U. Herrmann: Die Pädagogik Wilhelm Diltheys. Ihr wissenschaftstheoretischer Ansatz in Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften. Göttingen 1971, S. 133 ff. – Vgl. auch H.-U. Lessing: Der ganze Mensch. Grundzüge von Diltheys philosophischer Anthropologie. In: Ders.: Die Autonomie der Geisteswissenschaften. Studien zur Philosophie Wilhelm Diltheys. 2. Teilband, Nordhausen 2016, S. 99–110, hier S. 102.
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sollte. Auch hier bedeutete der anthropologische Ansatz die Überschreitung enger Fachgrenzen, in diesem Fall nicht nur die der Psychologie, sondern vor allem der Erkenntnistheorie. 6
2. Wir bleiben im Kontext der geplanten Systematik der Einleitung. Für den Abschluss des historischen Teils im Dritten Buch hatte Dilthey eine Reihe von Abhandlungen vorgesehen, die dann nach seinem Tod in Band II der Gesammelten Schriften abgedruckt wurden. Unter diesen Arbeiten verdient die Akademie-Abhandlung von 1904 über Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts unsere besondere Aufmerksamkeit. Das Thema hatte Dilthey schon in seiner Zeit in Kiel beschäftigt, von wo er an Wilhelm Scherer schrieb: Ich untersuche die Stellung, welche die Affektentheorie in dem 17. Jahrhundert eingenommen hat, ihre verschiedenen Formen bis zum Abschluss in Spinoza, […] ihre Stellung zu der politischen Theorie, Praxis etc. der Zeit […]. 7
Hier gilt schon, was in dem erst über dreißig Jahre später vollendeten Aufsatz über die Anthropologie gesagt wird: »Sie ist nicht eine Einzelwissenschaft, sondern Studium der Seele als Schlüssel für Kenntnis und Behandlung des Lebens.« (II, 423) Diese neue philosophische Menschenkunde, wie sie von Cardano, Telesio, Scaliger, dem Spanier Vives und anderen vertreten wurde, charakterisiert Dilthey so: Diese erforscht im Unterschied von der modernen Psychologie die Inhaltlichkeit der Menschennatur selber, den Lebenszusammenhang, in welchem die Inhalte und Werte des Lebens zum Ausdruck gelangen, die Entwicklungsstufen, in denen das geschieht, das Verhältnis zur Umgebung, endlich die individuellen Daseinsformen, zu denen der Mensch sich differenziert,
Georg Misch geht in dieser Einschätzung des Stellenwertes der Anthropologie noch weiter: »[…] der ganze psychologische Weg ist für ihn von Anfang an nur ein Moment innerhalb des Ganzen seiner übergreifenden Intention, die er als ›anthropologisch-historische Methode‹, als ›philosophisch-historische Weltansicht‹ bezeichnete.« Misch, Vorbericht, LXXV. 7 Briefwechsel I, 555. 6
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und so entspringt folgerichtig aus ihr eine Lehre von der Lebensführung, eine Beurteilung der Lebenswerte, kurz eine Lebensphilosophie. (II, 417)
Die hier vorgenommene Abgrenzung gegenüber der »modernen Psychologie« betrifft nur – wie in den Ideen – die »erklärende« Psychologie. Die Stelle zeigt die systematische Absicht, in der der Autor diese Abhandlungen in das geplante Dritte Buch der Einleitung inkorporieren wollte. Es ging ihm offensichtlich um die Markierung der Wurzeln seines eigenen anthropologischen Ansatzes als Basis für die sowohl historische wie systematische Grundlegung der Geisteswissenschaften. Dies lässt sich exemplarisch aufzeigen an der Behandlung einer Gestalt, die in der bisherigen Dilthey-Forschung keine besondere Rolle gespielt hat: des spanischen Humanisten und Pädagogen J. L. Vives, der ein Freund des Erasmus und zeitweilig Prinzenerzieher am Hof Heinrichs VIII. war. Für Dilthey ist er »der hervorragendste spanische Denker«, dessen Schriften »in völliger Freiheit des Geistes die neue Menschenkunde und Lehre von der Lebensführung begründet haben« (XXV, 264). Wie bei Montaigne, Cardano und Telesio sieht Dilthey hier den Blick »für die physiognomische Erscheinung des Menschen, für die Zeichensprache seiner Gebärden, die Temperamente und individuellen Verschiedenheiten« (ebd.). Wenn Dilthey sagt, Vives bezeichne den »Übergang aus der metaphysischen Psychologie zu der beschreibenden und zergliedernden« und suche in der Schilderung seelischer Zustände »einen Strukturzusammenhang des seelischen Lebens zu gewinnen« (II, 423), dann wird die Betonung der Vorläuferschaft für die eigene Position besonders deutlich. Auch hier scheinen »Menschenkunde« und »beschreibende Psychologie« dieselbe Sache zu bezeichnen.
3. Für die genauere Bestimmung des Verhältnisses von Psychologie und Anthropologie kann man auch von einer sprachlichen Besonderheit in der Einleitung ausgehen. Die beiden Disziplinen werden offenbar so sehr als Einheit aufgefasst, dass das sich auf sie beziehende Prädikat nicht im Plural, sondern im Singular steht: »So aufgefasst ist Anthropologie und Psychologie die Grundlage aller Er97 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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kenntnis des geschichtlichen Lebens« (I, 32, Hervorhbg. F. R.). »Die Theorie dieser psycho-physischen Lebenseinheiten ist die Anthropologie und Psychologie« (I, 29, Hervorhbg. F. R.). Diese Verbindung ist ja, wie wir gesehen haben, schon im Grundriss von Diltheys erster systematischer Vorlesung angelegt, in der die beiden Disziplinen als die eine »allgemeine grundlegende Wissenschaft des Geistes« auftreten und in der so verschiedene Themen wie der Zusammenhang von Vorstellungen, Gefühlen und Wille, aber auch die Psychologie der Naturvölker oder die »Bestimmung des Menschengeschlechts« unter diesem gemeinsamen Dach behandelt werden (XX, 26 f.). Aber an der entsprechenden Stelle in der Einleitung in die Geisteswissenschaften wird differenziert: Die Psychologie allein wäre angewiesen auf die Abstraktion eines aus dem konkreten Lebenszusammenhang ausgesonderten Einzelwesens. Erst im Verein mit der Anthropologie erweitert sie ihren Umfang: Über die bisherige Erfassung der Gleichförmigkeiten des geistigen Lebens hinaus muß sie typische Unterschiede desselben erkennen, die Einbildungskraft des Künstlers, das Naturell des handelnden Menschen der Beschreibung und Analysis unterwerfen und das Studium der Formen des geistigen Lebens durch die Deskription der Realität seines Verlaufs sowie seines Inhaltes ergänzen. (I, 32)
Dies ist das anthropologische Programm in nuce, das die Psychologie erst zur »Realpsychologie« macht und die Lücke schließt, die Dilthey zwischen der bisherigen Psychologie und den einzelnen Wissenschaften des Geistes konstatiert. Die Kompetenzbereiche der Zwillingsdisziplinen sind in der Einleitung allerdings noch nicht klar definiert. Dies erfolgt erst durch die beiden großen Psychologie-Abhandlungen der neunziger Jahre, die Ideen und Über vergleichende Psychologie. Allerdings verschwindet hier der Name »Anthropologie«. Diese emanzipiert sich unter dem Namen »vergleichende Psychologie« und erhält nun ihr eigenes Reich. Auf der ersten Seite der Vergleichenden Psychologie wird innerhalb der beschreibenden und zergliedernden Psychologie die Unterscheidung zwischen der »allgemeinen Psychologie«, wie sie in den Ideen entwickelt wurde, und der nun eingeführten »vergleichenden Psychologie« durchgeführt. Während die erstere die Gleichförmigkeiten des Seelenlebens beschreibt und 98 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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damit zu einer Allgemeinstruktur des Psychischen kommt, sucht die komparative Psychologie »gerade die individuellen Differenzen, […] Abstufungen der Unterschiede zwischen Individualitäten, Verwandtschaft, Typus auf« (V, 241). Diese Konzeption ist eine Fortschreibung mindestens der einen Hälfte der früheren »Realpsychologie«. Der alte Zwillingscharakter von Psychologie und Anthropologie bleibt in dieser Konzeption von 1895 zwar erhalten. Sie beide sind »beschreibend und zergliedernd« und damit jeder »mechanistischen« Psychologie entgegengesetzt. Als die beiden Seiten der deskriptiven Psychologie sind sie aber in erster Linie – Psychologie. Terminologisch ist von hier ab die »Anthropologie« aus den Entwürfen zur Einleitung verbannt und kehrt erst in den spätesten Fragmenten als »anthropologische Reflexion« zurück. Erst mit dem von Dilthey selbst gewählten Titel Philosophie des Lebens wird die ursprüngliche Weite der Konzeption angemessen repräsentiert. Wie wichtig diese komparative Psychologie alias Anthropologie für Dilthey gewesen sein muss, wird aus dem im Herbst 1895 noch vor Erscheinen der Ebbinghaus-Kritik konzipierten Plan ersichtlich, die Vergleichende Psychologie zu einem eigenen Buch von etwa 200 Seiten auszuweiten und unter dem Titel Vergleichende Psychologie, ein Beitrag zum Studium von Geschichte, Literatur und Geisteswissenschaften außerhalb der Einleitung erscheinen zu lassen. 8 Das anthropologische Interesse zeigt sich vor allem in dem zentralen Abschnitt Die Kunst als erste Darstellung der menschlich-geschichtlichen Welt in ihrer Individuation. Darin werden Möglichkeiten menschlicher Individuation herausgehoben, die im »typischen Sehen« der Dichter gestaltet wurden, so etwa die zahlreichen Charaktere Shakespeares. Dass sich dieses Interesse Diltheys an dem anthropologischen Wissen der Dichtung mit der Skizze einer Theorie der vergleichenden Methoden in Natur- und Geisteswissenschaften verband, führte an die Grenzen der ursprünglichen Konzeption der Einleitung. Ob es eher das Bewusstsein dieser Komplikationen – verstärkt durch Bedenken des Grafen Yorck 9 – waren oder eher der Schock der Ebbinghaus-Polemik, die zum Abbruch der Arbeit führten, lässt sich nicht mehr feststellen. 8 9
Briefwechsel II, 551. Briefwechsel II, 558.
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Wir können nur darüber spekulieren, welchen Weg Dilthey auf der Basis der erweiterten Vergleichenden Psychologie gegangen wäre. Hätte sich der »morphologische« Zug, den er in der Historischen Schule hervorhob, bei ihm selbst stärker durchgesetzt? Wäre es zu einer Verstärkung der Annäherung an die entsprechenden Tendenzen in den vergleichenden, Typologien bildenden Naturwissenschaften gekommen, wie dies sich gegen Ende der Abhandlung abzeichnete 10 und Yorck zu seinem Einwand gegen die zu wenig deutliche »generische Differenz zwischen Ontischem und Historischem« provozierte? 11 Im Grunde kann man sich nach dieser Zäsur in der Genese der Einleitung nicht mehr vorstellen, wie es jemals noch zu einem homogenen Ganzen dieses riesigen Projektes hätte kommen können.
4. Das schon erwähnte, im Berliner Entwurf skizzierte Vierte Buch der Einleitung wiederholt neben vielen Einzelthemen in seinem einleitenden 3. Kapitel den für Dilthey seit Mitte der 1880er Jahre zentralen Gedanken, dass »das große Gesetz alles Lebens, welches die ganze tierische Welt durchwaltet«, das Prinzip der Wechselwirkung zwischen Individuum und Milieu im Zusammenhang von Reiz, Reaktion und Anpassung darstellt (XIX, 309). So heißt es auch in dem aus derselben Zeit wie der Berliner Entwurf stammenden Fragment Leben und Erkennen: »In dieser Struktur, welche vom Reiz zur Bewegung geht, pulsiert gleichsam das Geheimnis des Lebens« (XIX 344). »So ist diese Struktur ein höchst realer, kernhafter Zusammenhang, ja der Kern des Lebens selber […]« (XIX, 353). Diese zunächst mit großem Nachdruck als notwendige »biologische« Betrachtungsweise (XIX, 345, 352) vorgetragene Auffassung wird dann u. a. in der späten Schrift Das Wesen der Philosophie verändert. Struktur ist jetzt der Name für den Zusammenhang, in dem »psyImmerhin werden hier die vergleichenden Geisteswissenschaften in ihrem Hervorgang aus den entsprechenden Naturwissenschaften des 18. Jahrhunderts dargestellt und Goethe, Herder, Winckelmann, die Humboldts, Grimm und andere mit Linné, Buffon, Daubenton, Cuvier und Lamarck durch eine geistige Bewegung verbunden gesehen (V, 309). 11 Briefwechsel II, 557. 10
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chische Tatsachen von verschiedener Beschaffenheit im entwickelten Seelenleben durch eine innere erlebbare Beziehung miteinander verbunden sind« (V, 373). Allerdings besteht Dilthey auch hier noch einmal auf der »biologischen« Betrachtungsweise: »Die Grundform dieses seelischen Zusammenhangs ist dadurch bestimmt, daß sich alles psychische Leben von seinem Milieu bedingt findet und rückwärts auf dieses Milieu zweckmäßig einwirkt.« (Ebd.) Auch diese Konzeption lässt sich in ihrer Entstehung bis in die Breslauer Zeit zurückverfolgen. Diltheys erster großer Entwurf einer deskriptiven Psychologie, Die Mannigfaltigkeit des psychischen Lebens (XVIII, 112–185; ca. 1880), enthält die frühe Skizze eines »Kreislauf[s] der psychischen Tätigkeit, in welchem Eindrücke jederzeit Willensaktionen auslösen und der Wille alsdann in dem erfahrenen Widerstand neue Lebensreize zurückführt« (XVIII, 182). Dieser »Kreislauf der Lebensfunktionen« (XVIII, 183) wird auch als »anthropologisches Schema« bezeichnet (XVIII, 184; vgl. 239). Wenn dieses mit den Schritten »Gefühl – Empfindung – Trieb – Umsetzung in Bewegung – Befriedigung etc.« beschrieben wird (XVIII, 239) oder wenn Dilthey in der Breslauer Ausarbeitung von der »Wechselwirkung der Lebenseinheit mit der Außenwelt im Umsatz von Eindruck, der aus der Außenwelt wirkend eintritt und Antrieb, der auf sie zurückwirkt« (XIX, 100) spricht, so ist aus diesen Stellen zu schließen, dass diese Konzeption ursprünglich nicht jene naturalistischen Züge aufwies, die dann um 1890 zu mancher extremen Formulierung geführt haben. Diesem frühen Entwurf zufolge bildet diese Lehre »von der Konstitution des Gesamtzustandes Gefühl, des Gesamtzustandes Wille, der psychischen Intelligenz und von dem Kreislauf, der zwischen ihnen besteht«, den »Mittelpunkt der Anthropologie« (XVIII, 183). Diese Gedanken sind nicht, wie in späteren Jahren, teilweise oder sogar vorwiegend, auf die Naturseite des Menschen bezogen, sondern skizzieren in erster Linie die anthropologische Grundlage der Geschichtlichkeit des Menschen: »So bildet die Anthropologie den Übergang zur Philosophie der Geschichte. In ihr wird der Antrieb bloßgelegt, durch den der Mensch aktives Element in der Geschichte, wirksame Zelle in ihrem Organismus wird.« (XVIII, 184) Man muss unterscheiden zwischen der ursprünglichen Konzeption des »Kreislaufs der psychischen Tätigkeit« und den seit den späten 1880er Jahren bei Dilthey sich entwickelnden »schlim101 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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men Neigungen zur Evolutionslehre, Anthropologie und Völkerkunde«, wie er selbstironisch an den Grafen Yorck schrieb.12 (Die hier gemeinte Anthropologie ist sicher nicht mehr die »Realpsychologie« des Novalis, sondern die Wissenschaft von einem auch der Biologie zugänglichen Lebewesen.) Das entscheidende Kriterium der Abgrenzung ist der Stellenwert der ursprünglichen Frage nach der psychologisch-anthropologischen Fundierung von Geschichtlichkeit, und zwar in einem doppelten Sinn: Neben der Frage nach der Urzelle der Geschichte steht das methodische Prinzip der Deutung des Menschen von seiner Geschichte her. Hier finden wir Ansätze zu einer wirklich philosophischen Anthropologie im Sinne unserer zu Beginn getroffenen Unterscheidungen. Die Grenzen sind allerdings fließend. Die Aufnahme des Strukturbegriffs in diese Konzeption, die man gleichfalls im Fragment Die Mannigfaltigkeit nachvollziehen kann (XVIII, 168 u. 239) 13, nimmt dem Begriff »Anthropologie« ein weiteres Stück seiner Eigenständigkeit. Er wird jetzt, wie schon Georg Misch festgestellt hat, fast gleichbedeutend mit »Strukturpsychologie«. Aber die »Anthropologie« übernimmt, wo sie in den Spätschriften überhaupt noch vorkommt, als »anthropologische Reflexion« die Vermittlung zwischen der Erfassung konkreter Lebensformen und der Herausbildung entsprechender Lebenskategorien. Während sie Anfang der 1890er Jahre in den Entwürfen zu den Ideen terminologisch vermieden wird, 14 gewinnt sie in den Fragmenten des Spätwerks wieder an Bedeutung. Sie wird jetzt zum Ausgangspunkt einer Linie der Artikulation von Zusammenhängen, die in der Kunst, der Geschichte und Philosophie »immer nur das im Leben Enthaltene zum Bewußtsein erheben«. Sie steht nun »in größtem Gegensatz« zu der eigentlichen Wissenschaft der Psychologie, »weil sie eben dem konkreten Leben selbst so nahe steht« (VII, 239). »Von der anthropologischen Reflexion ab ist alles Aufklärung, Explikation des Lebens selbst, so auch Poesie« (VII, 240). Briefwechsel II, 262. Vgl. S. 53 f. in diesem Band. 14 Die Formulierung: »Es bedarf einer anthropologischen Betrachtungsweise, welche vorherrschend deskriptiv, daher umfassender, weniger bestimmt und weniger hypothetisch ist« (XIX, 452) wird später im Entwurf geändert in: »Ich will eine solche deskriptive und ganz umfassende Betrachtungsweise als empirisch-psychologisch bezeichnen« (XIX, 343). 12 13
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Dilthey kommt noch einmal auf seine frühen Studien zur Affektenlehre zurück und rechnet »Leidenschaften, Charaktere, Ableitung aus dem Egoismus etc.« zu den Gegenständen einer solchen anthropologischen Reflexion. Sie geht den Zusammenhängen nach, »welche konkrete Reihen aus dem Lebensverlauf herausheben« (XXIV, 169 f.). Solche »anthropologische Zusammenhänge« sind »konkrete Tatsachen der Ausbildung der Leidenschaften der Seele und ihrer Auflösung in der Illusion, Gewohnheit und ihrer Macht, die Unbefriedigung über das Leben und die religiöse Hinwendung zum Übersinnlichen, Liebe, Freundschaft, Schicksal, Resignation« (XXIV, 170). Dies alles kann nicht von der erklärenden Psychologie verständlich gemacht werden. Auf der anderen Seite ist deutlich, »daß dieser geheimnisvolle Weg nach innen ins Unerforschliche führt« (ebd.). So bleibt es die Aufgabe der anthropologischen Reflexion, »die Bedeutsamkeit der Zusammenhänge im Ganzen des Lebens auszusprechen« (VII, 239). Indem Dilthey die Versuche erwähnt, in Lebensläufen »einen gewissen Typus zu realisieren«, wird der Zusammenhang deutlich, in dem die anthropologische Reflexion mit dem »typischen Sehen« steht, wie es in der Vergleichenden Psychologie beschrieben worden ist. 15 In beiden Fällen geht es um vorwissenschaftliche Aufhellungsleistungen, erste Schritte auf dem Weg der in den Geisteswissenschaften zur Entfaltung kommenden Selbstbesinnung. In Diltheys letztem Manuskript, dem Fragment Das Problem der Religion, kommt es zu einer überraschenden Rückkehr zur Anthropologie, die nun die Attribute »beschreibend und zergliedernd« von der Psychologie übernimmt: Dem Leben selbst steht die Methode am nächsten, welche Abfolge und Koexistenz der konkreten seelischen Zustände beschreibt und zergliedert. […] Die anthropologische Methode beschreibt und zergliedert also die Abfolge der konkreten Gemütszustände: sie findet diese bestimmt durch eine innere Bewegung vorwärts und die äußeren Einwirkungen. […] Die anthropologische Forschung ist benachbart der Dichtung. Das Erlebnis wird hier in der Phantasie nach der ihm einwohnenden Bedeutung ausgebildet, und so wird hier das Verhältnis des seelischen Verlaufes zum umgebenden Leben in seiner konkreten Realität dargestellt. (VI, 305)
15
Vgl. oben S. 80.
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Die Verwurzelung der Geisteswissenschaften im Leben Zum Verhältnis von ›Psychologie‹ und ›Hermeneutik‹ im Spätwerk Diltheys
1. Die Betonung der Lebensnähe der Geisteswissenschaften ist so selbstverständlich mit dem Namen von Wilhelm Dilthey verbunden, dass eine neuerliche Thematisierung als überflüssig erscheinen mag. Vor allem in Diltheys später systematischer Hauptschrift Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, die ein Jahr vor seinem Tod erschien (VII, 79 ff.), sowie in den damit verbundenen Fragmenten und Plänen einer Fortsetzung, ist allein schon von der Terminologie her diese Lebensnähe zum Ausdruck gebracht worden: Die zahlreichen Wortbildungen mit »Leben-«, wie Lebensbezug, Lebenserfahrung, Lebensäußerung, Lebenswert usw., sollen den Zusammenhang der differenzierteren geisteswissenschaftlichen Leistungen mit den tragenden Schichten des Lebens, des alltäglichen Lebens zumal, verdeutlichen. Der lebensweltliche Zusammenhang von Erleben und Verstehen, den Dilthey schon in der Einleitung in die Geisteswissenschaften kurz thematisiert hatte, 1 wird in den Spätschriften als das Grundverhältnis dargestellt, von dem aus überhaupt erst methodisch geleitetes Verstehen und Interpretieren möglich ist. So bekannt und geradezu sprichwörtlich für Dilthey diese Akzentuierung auch ist, so kompliziert ist doch die Verflechtung der gedanklichen Motive, die in den Spätschriften auftreten. In die Dilthey-Exegese sind schon früh zwei Leitbegriffe eingeführt worden, um Licht in diese Verflechtungen zu bringen: »Psychologie« und »Hermeneutik«. Hierbei wurde – nicht zuletzt unter dem Einfluss Heideggers – die »Hermeneutik« mit einem positiven, die »Psychologie« mit einem eher negativen Wertakzent versehen, und man hat 1
Vgl. I, 36 f. und die frühere Fassung V, 60 ff.
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Die Verwurzelung der Geisteswissenschaften im Leben
sogar davon gesprochen, dass in den Spätschriften die »Psychologie« durch die »Hermeneutik« überwunden worden sei. In den folgenden Überlegungen soll im Blick auf das Theorem der Lebensnähe der Geisteswissenschaften auf diesen Disput, der so alt ist wie die Wirkungsgeschichte Diltheys selbst, noch einmal eingegangen werden. Dabei soll der »Psychologie« größere Beachtung geschenkt werden als der »Hermeneutik«. Die beiden Wörter werden hier in Anführungszeichen gesetzt, um auszudrücken, dass ihre Bedeutung keineswegs klar und distinkt ist. Dies gilt vor allem für die »Psychologie«. Dilthey, der jahrzehntelang Vorlesungen über Psychologie gehalten hat, 2 ist erst 1894 mit einem eigenständigen Entwurf einer »beschreibenden und zergliedernden Psychologie« hervorgetreten, die dann die bekannte Kontroverse mit Ebbinghaus ausgelöst hat. 3 Es muss als besonders unglücklich angesehen werden, dass Dilthey seinen eigenen Ansatz durch die scharfe Abgrenzung gegenüber der »erklärenden« bzw. naturwissenschaftlich orientierten Psychologie entwickelt hat und damit stärker, als dies seiner ursprünglichen Tendenz entsprach, in den Diskurs der Psychologie hineingezogen wurde. Sein eigenes Anliegen war doch eher das einer anthropologischen Selbstbesinnung, wie er sie auch im Kontext der Erkenntnistheorie eingefordert hatte: »Selbstbesinnung, im Gegensatz gegen Erkenntnistheorie. Denn die Selbstbesinnung findet im Zusammenhang der Tatsachen des Bewußtseins ebenso gut die Grundlagen für das Handeln als die für das Denken.« 4 Wenn auch dieses Verhältnis von Psychologie und Anthropologie bei Dilthey nie ganz eindeutig bestimmt ist, kann man doch sagen, dass die beiden Namen bei ihm häufig als austauschbar erscheinen und dass, wie schon Georg Misch hervorgehoben hat, insbesondere die Begriffe »Strukturpsychologie« und »Anthropologie« gleichberechtigt für sein Projekt der anthropologischen
Diese Vorlesungen sind dokumentiert in den Bänden XXI und XXII der Ges. Schr. hrsg. von G. van Kerckhoven und H.-U. Lessing, Göttingen 1997 bzw. 2005. 3 Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (V, 138–240). – Zur Kontroverse mit Ebbinghaus vgl. F. Rodi: Die Ebbinghaus-Dilthey-Kontroverse. Biographischer Hintergrund und sachlicher Ertrag. In: Ders.: Das strukturierte Ganze, a. a. O., S. 173–183. 4 XIX, 79; vgl. XIX, 89. 2
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Die Verwurzelung der Geisteswissenschaften im Leben
Selbstbesinnung zu stehen hatten. 5 Dass man ein solches »beschreibend-zergliederndes« Verfahren auch »phänomenologisch« nennen könne, ist Dilthey erst durch Husserl klargeworden, und so hat er wenigstens noch in seinem letzten Kolleg (System der Philosophie in Grundzügen, 1903 bzw. 1906) von einem »phänomenologischen Ausgangspunkt« sprechen können (XX, 353). Das Verfahren, von einem gegebenen Ganzen auszugehen, um dessen »Gliederung, Verteilung und Struktur aufzufassen«, hat Dilthey als »die Methode der Anschauung« schon in seinen Anfängen als die herrschende Tendenz von W. v. Humboldt, Goethe, den Romantikern und der Historischen Schule gewürdigt, denen er sich verpflichtet wusste. 6 Er hat diesem Prinzip eine transzendentalphilosophische Wendung gegeben, indem er – gleichfalls schon in einer frühen Arbeit – als ursprünglichste aller möglichen Ganzheitserfahrungen den zwar nicht begrifflich ausdrückbaren, aber erlebten psychischen Zusammenhang hervorhob (XVIII, 164 f.). Hier liegt die gemeinsame Wurzel des »psychologischen« und des »hermeneutischen« Ansatzes. Im Rekurs auf den Zusammenhang des eigenen Erlebens artikuliert das beschreibende und zergliedernde Verfahren eine bestimmte Grundform des Lebens, nämlich die psychische Struktur. Der Begriff »Strukturzusammenhang« wird damit zum Zentralbegriff von Diltheys Psychologie. Als »Wirkungszusammenhang« ist er jedoch zugleich der Grundbegriff einer hermeneutischen Historik.
2. Als Bernhard Groethuysen sich in den späten zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der editorischen Aufgabe unterzog, die systematischen Arbeiten aus Diltheys letztem Lebensjahrzehnt zu dokumentieren, stellte er in Band VII der Gesammelten Schriften zwei nach Thematik und Quellenbefund verschiedene Textgruppen zusammen: Einerseits enthielt der Band unter dem Titel Studien zur Vgl. dazu F. Rodi, Die Rolle der Anthropologie in Wilhelm Diltheys Konzeption einer Grundlegung der Geisteswissenschaften. In: Singh, R. (Hrsg.), Perspectives. A Collection of Essays in Honour of G. A. Rauche. Durban 1986, S. 127–136. 6 Vgl. XIII/1, 207. Vgl. oben S. 37 ff. 5
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Grundlegung der Geisteswissenschaften die Abhandlungen und Fragmente, die Dilthey zwischen 1904 und ca. 1906 für Vorträge in der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin erarbeitet hatte und von denen seinerzeit nur die erste Studie in den Sitzungsberichten der Akademie erschienen war. Andererseits besteht der Band zur Hauptsache aus der Akademieabhandlung Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) und zugehöriger Fragmente, die auch dem Band als Ganzem den Titel gaben. In seinem Vorbericht charakterisierte Groethuysen die beiden Textgruppen (mit Ausnahme der dritten Studie) inhaltlich in der Weise, dass er von zwei »Problemreihen« sprach bzw. von zwei Gesichtspunkten, »die ich der Einfachheit halber als den psychologischen und den hermeneutischen bezeichnen möchte«. 7 Entgegen einer später gängig gewordenen Ansicht, dass der hermeneutische Ansatz der entscheidende Durchbruch in Diltheys Spätwerk gegenüber dem psychologischen Standpunkt darstelle, behandelt Groethuysen die beiden »Problemreihen« ohne eindeutige Bewertung der Themenkreise innerhalb der letzten Schaffensperiode des Philosophen. Zwar betonte er, dass bestimmte Konzeptionen aus dem Aufbau gegenüber dem psychologischen Standpunkte »etwas Neues« darstellten, dass sie aber auch von dem »hermeneutischen Schema« der Fragmente zur Fortsetzung des Aufbaus abwichen. 8 Groethuysens Präsentation von Diltheys systematischen Spätschriften (zu denen auch noch die Weltanschauungslehre aus Band VIII zu rechnen ist) trägt der komplizierten Verflechtung Rechnung, in der die einzelnen Themen der Spätschriften miteinander verbunden sind und sich doch unterscheiden. Sie werden nicht gegeneinander ausgespielt, aber eine gewisse Präferenz für die Hermeneutik klingt durch. Groethuysen konnte sich terminologisch auf Georg Mischs Unterscheidung zwischen einem psychologischen und einem hermeneutischen »Weg« stützen, wie dies in Mischs großem Vorbericht zu Band V von Diltheys Gesammelten Schriften vorgenommen worden war: Dieser psychologische Weg nahm den hermeneutischen in sich auf, der schon früh, in der Preisschrift über Schleiermachers Hermeneutik, angelegt
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B. Groethuysen, Vorbericht des Herausgebers, VII, viii. Ebd.
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war, und überdeckte ihn auch zunächst an der Stelle, wo sich für Dilthey das Problem von Ausdruck und Bedeutung des Lebens sammelte, in der Poetik. 9
Misch bezog sich dabei auf die Abhandlung Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887), die in der Tat Diltheys größte Nähe zu einer »erklärenden« Psychologie markiert und später einer grundlegenden Revision unterzogen wurde. 10 Nicht jedoch setzt Misch die spätere Strukturpsychologie Diltheys in einen Gegensatz zu den hermeneutischen Ansätzen. Vielmehr sagt er an derselben Stelle seines Vorberichts, dass es mit ihr gelungen sei, »die Psychologie für die Aufnahme des historischen Bewußtseins zu öffnen«. 11 Ähnlich wie Groethuysen 12 sieht auch er im Spätwerk Diltheys keinen Antagonismus zwischen den beiden Standpunkten und vor allem nicht das Problem einer zu »überwindenden« Strukturpsychologie. Die Geschichtlichkeit des Individuums, sein Befasstsein mit gesellschaftlich-geschichtlich vermittelten Inhalten und die Unauflösbarkeit dieses Verwobenseins von Selbst und Welt sind nicht weiter hinterfragbare Voraussetzungen jeder strukturpsychologischen wie hermeneutischen Forschung. Zwar verlaufen die beiden »Problemreihen« in verschiedener Richtung. Sie gehen jedoch von einem gemeinsamen Zentrum aus. Dieses Zentrum kann schlagwortartig als die Konzeption einer lebensphilosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften bezeichnet werden, doch ist damit noch nicht sehr viel ausgesagt. Konkreter bestimmbar wird dies, wenn man von Diltheys Theorem der Lebensnähe der Geisteswissenschaften ausgeht. Diese Verwurzelung im Leben ist ja eines der Abgrenzungskriterien der GeistesMisch, Vorbericht, XLV. Vgl. VI, 313 ff. 11 Misch, Vorbericht, XLVI. 12 Arthur Stein, der als Mitarbeiter von Groethuysen an der ersten Sichtung und Ordnung des handschriftlichen Nachlasses von Dilthey beteiligt war, berichtet allerdings von der eindeutigen Präferenz Groethuysens für den hermeneutischen Ansatz. Groethuysen habe sogar vermutet, dass Dilthey den Aufbau während der Abwesenheit Groethuysens von Berlin überraschend schnell veröffentlicht habe, um vielleicht von seinem Schüler nicht noch mehr in die hermeneutische Richtung gedrängt zu werden. Von einem solchen »allzu vehementen ›hermeneutischen‹ Vorstoß«, wie Stein ihn empfand, ist im Vorbericht von Groethuysen nur wenig zu spüren. Vgl. F. Rodi, Die Anfänge der Dilthey-Ausgabe, gespiegelt in Mitteilungen und Dokumenten von Arthur Stein. In: Dilthey-Jahrbuch. Bd. 5 (1988), S. 167–177. 9
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wissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften. Während der Naturwissenschaftler seine Wissenschaftlichkeit nicht zuletzt aus der Askese gewinnt, mit der er absieht von jedem subjektiven Lebensbezug zur Sache, kann, ja darf der Historiker, der Jurist, der Sprachforscher nicht beliebig weit abstrahieren von der ihm gegenwärtigen lebensweltlichen Einbettung des Forschungsgegenstandes. Beide, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, suchen und schaffen Zusammenhang. Aber: In der äußeren Natur wird Zusammenhang in einer Verbindung abstrakter Begriffe den Erscheinungen untergelegt. Dagegen der Zusammenhang in der geistigen Welt wird erlebt und nachverstanden. Der Zusammenhang der Natur ist abstrakt, der seelische und geschichtliche aber ist lebendig, lebengesättigt. (VII, 119)
Aber man muss, um diese »Lebensnähe« genauer zu bestimmen, noch einen Schritt weitergehen und nach dem hier zugrunde liegenden Lebensbegriff selbst fragen. Dilthey wird häufig – zusammen mit Nietzsche – zur Lebensphilosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts gerechnet, eine Zuordnung, die freilich einem genaueren Vergleich nicht standhält. Für Dilthey war das Leben nicht jenes quasi-mythische Du, von dem man sich umfangen fühlte oder dem man ins unerforschliche Auge blickte. Nur an ganz wenigen Stellen finden wir einige deutlich an Nietzsche anklingende Wendungen vom »Antlitz des Lebens mit dem lachenden Munde und den schwermütig blickenden Augen« (VI, 287). Dem steht gegenüber, dass er unter dem Titel Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens 13 eine Sammlung seiner systematischen Aufsätze zur Grundlegung der Geisteswissenschaften zur Veröffentlichung vorbereitete, in denen sich keine Spur eines landläufig so genannten »lebensphilosophischen Irrationalismus« finden lässt. Es waren Abhandlungen und Reden, gehalten vor allem in der Preußischen Akademie der Wissenschaften oder erschienen in akademischen Festschriften, Institutionen der Gelehrsamkeit und des strengen Fachwissens. Denn Dilthey war, im Gegensatz zu Nietzsche, kein von der Fachzunft Ausgestoßener, sondern einer ihrer wichtigsten Repräsentanten, wenn auch ohne Breitenwirkung im gebildeten Publikum. 13
Vgl. die Bände V und VI der Ges. Schriften.
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Worauf zielte er ab mit diesem Titel Einleitung in die Philosophie des Lebens und mit diesem Lebensbegriff? Man kann drei Aspekte unterscheiden, die in diesem Begriff gebündelt und sämtlich aus der anthropologischen Selbstbesinnung entwickelt sind: Leben ist erstens die unauflösliche Einheit von Selbst und Welt. Eine Herauslösung des Individuums aus dem gesellschaftlich-geschichtlichen Zusammenhang, sei es im Stile Fichtes, dessen Ich ein Nicht-Ich erst »setzt«, sei es in der Art der »Robinson-Modelle« verschiedener Soziallehren, ist für Dilthey eine künstliche Abstraktion von begrenztem heuristischen Wert. Damit verbindet sich als zweiter Aspekt der Gedanke, dass diese Einheit von Selbst und Welt das Individuum in der Totalität seiner Kräfte betrifft und nicht auf eine, wiederum in künstlicher Abstraktion herausgelöste, Funktion des bloß Kognitiven beschränkt ist. Die unauflösliche Einheit von Selbst und Welt lässt sich nicht reduzieren auf die erkenntnistheoretische Unterscheidung von Subjekt und Objekt, sondern beinhaltet gleichermaßen kognitive, emotive und volitionale Verschränkungen, die Dilthey mit dem Begriff »Erlebnis« bezeichnet. Dass sich dieses Verschränktsein mit der Welt in zeitlicher Erstreckung vollzieht, macht den dritten Aspekt aus. Im Fluss des Lebens folgen wie Töne einer Melodie die einzelnen Erlebnisse aufeinander, in komplexesten Beziehungen zueinander stehend, sich beeinflussend und gegenseitig überschattend, oder auch – in abrupter Entgegensetzung – Diskontinuität und Disharmonie dieser Lebensmelodie darstellend. Es ist für Dilthey entscheidend, dass der Lebensverlauf (immer dabei bezogen auf menschliches Leben) nicht bloßer Ablauf und Zerrinnen ist, sondern sich in gestalthaften Bedeutungseinheiten aufbaut, die sich wie musikalische Motive innerhalb des Gesamtbogens der Lebensmelodie ablösen und zugleich in inneren Beziehungen zueinander stehen: Im Lebensverlauf ist jedes einzelne Erlebnis auf ein Ganzes bezogen. Dieser Lebenszusammenhang ist nicht eine Summe oder ein Inbegriff aufeinander folgender Momente, sondern eine durch Beziehungen, die alle Teile verbinden, konstituierte Einheit. (VII, 140)
Es geht im Folgenden um alle drei Aspekte des Lebenszusammenhangs: das konkrete psychophysische Verschränktsein des Individuums mit der als Korrelat gegebenen Wirklichkeit, die Totalität der Menschennatur mit ihren über den bloß kognitiven Weltbezug 110 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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hinausreichenden emotionalen und volitionalen Verwebungen und die »inneren Beziehungen«, welche den Strukturzusammenhang des Psychischen bilden.
3. Dilthey hat für das Zusammenwirken der drei Funktionen den Begriff der Struktur des Seelenlebens eingeführt und hat mit diesem um das Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschen Umgangssprache kaum gebrauchten Wort ein wichtiges Stichwort an das Denken des folgenden Jahrhunderts weitergegeben. Es ist noch immer zu wenig bekannt, dass der Gebrauch des Wortes Struktur vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin so etwas wie das Erkennungszeichen der jungen Dilthey-Schule war 14 und dass – vermittelt durch den russischen Phänomenologen Gustav Špet – der Strukturbegriff Diltheys und Sprangers auf dem Weg über Russland in die Terminologie der Linguistik eingeflossen ist. 15 Auf dieses über all den Hermeneutik-Debatten vernachlässigte Stück Wirkungsgeschichte sei allerdings nur dieser Seitenblick geworfen. Was uns hier interessieren soll, ist die Konzeption der seelischen Struktur als eines Funktionskreises, in dem die genannten drei Seiten zusammengeschlossen sind. Die Einheit von Selbst und Welt ist kein statisches Ineinander, gleichsam ein bloßes Eingepasstsein des Individuums in seine Mit- und Umwelt, sondern ein reich ausdifferenziertes dynamisches Verhältnis, in dem Wirklichkeit kognitiv erfasst, gefühlsmäßig bewertet und volitional auf Regelung und Veränderung hin anvisiert wird. Die drei Funktionen, die sich so zu einem produktiven Prozess zusammenschließen, sind in Diltheys ursprünglicher Konzeption nicht statisch-substanziell in einer Art Schichtung von »Seelenvermögen« übereinandergelagert vorzustellen, sondern als in lebendigster Aktion verkettete Leistungen. Es ist das beständig pulsierende »Leben«, das mehr ist als bloßes Vorstellen. Dilthey hat in seinen Schriften der mittleren Zeit immer Nach einer mündlichen Mitteilung durch Georg Misch. Vgl. G. Špet, Die Hermeneutik und ihre Probleme, hrsg. von A. Haardt und R. Daube-Schackat. Freiburg/München 1993.
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wieder die biologischen Wurzeln des »Lebens« betont. 16 Dies mag überraschen, wenn man seine scharfen Abgrenzungen den Naturwissenschaften gegenüber im Ohr hat. Tatsächlich spricht er damals geradezu von einer »biologischen Breite der Betrachtung, […] um in bezug auf die Struktur des Lebens zu überzeugen« (XIX, 345). Was er also als »Wechselwirkung der Lebenseinheit mit der Außenwelt im Umsatz von Eindruck, der aus der Außenwelt wirkend eintritt, und Antrieb, der auf sie zurückwirkt« bezeichnet (XIX, 100), sieht er als »das große Gesetz alles Lebens, welches die ganze tierische Welt durchwaltet« (XIX, 309). Diese Wechselwirkung erfahren wir in uns, und wir finden sie wieder in anderen Lebewesen. Sie beruht darin, daß inmitten der Reize, welche aus dem Milieu auf ein Lebewesen eindringen, dieses entsprechend der Befriedigung seines Trieb- und Gefühlssystems in Reaktion auf diese Objekte dieselben seinen Erfordernissen anpaßt, bzw. sich dem Unveränderlichen anpaßt. (Ebd.)
»Die Struktur und Artikulation des Lebens ist überall, wo psychisches Innen auftritt, sonach in der ganzen Tier- und Menschenwelt dieselbe.« (XIX, 345) Und schon in einer der frühen Skizzen zur Strukturpsychologie heißt es: Leben ist erst da, wo in einem Selbstgefühl sich von dem wirkenden Draußen dasjenige unterscheidet, welches der Einwirkung innewird und Gegenwirkung übt. In dieser Erfahrung liegt erst das, was Leben ausmacht. (XVIII, 157)
Vor allem in der mittleren Schaffensphase, aber auch noch in seinen letzten Jahren hat Dilthey diese Grundstruktur des »Lebens« primär als ein Reagieren aufgefasst, und dieses Reagieren scheint in jenen Konzeptionen eine Art von anthropologischem Grundmodell gewesen zu sein. 17 Man darf dieses Reagieren allerdings nicht reduzieren auf ein rein passives Sichbestimmen-Lassen durch äußere Faktoren, sondern als ein Hin und Her von Wirkung und Gegenwirkung. Wie wird dieser Gedanke im Spätwerk weiterentwickelt? Zunächst ist festzuhalten, dass Dilthey eine direkte Linie zieht vom Funktionskreis des animalischen Reagierens zu dem, was er in seinen letzten Schriften den Wirkungszusammenhang der Struktur nennt. Dieser Begriff ist etwas missverständlich. Wenn er z. B. in 16 17
Vgl. u. a. V, 95 f., 211 f., 373; VI, 63 f., 143,167; IX, 185 f.; X, 48. »Reaktion, das ist die Urform alles seelischen Lebens« (XX, 344).
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seinen Fragmenten zur Historik vom Wirkungszusammenhang einer Epoche spricht, so liegt es eigentlich nahe, sich darunter im Sinne einer Synergie ein Zusammenfließen oder eine Bündelung einer Vielzahl historischer Wirkungen im gestalthaften Ganzen einer Epoche vorzustellen. In Wahrheit meint Dilthey aber auch hier einen Erwirkungszusammenhang, also einen von der psychischen Struktur erbrachten Zusammenhang aus Wirklichkeitsauffassungen, Bewertungen, Normsetzungen, Regelgebungen usw. Eine Epoche, aber auch die von Dilthey als »Kultursysteme« bezeichneten Wirkungszusammenhänge der Kunst, der Wissenschaft, der Religion sind, in diesem Sinne verstanden, Quasi-Subjekte des Erwirkens, und Dilthey hat sich nie gescheut, auf ihre biologischen Wurzeln hinzuweisen. Er hat damit wichtige Gedanken der modernen Systemtheorie vorweggenommen, 18 und es ist kein Zufall, dass die seit den frühen 1960er Jahren in Gang gekommenen Versuche, das Wort Wirkungszusammenhang ins Englische zu übersetzen, Wortverbindungen mit ›system‹ bevorzugten (›system of interaction‹, ›dynamic system‹, ›productive system‹ etc.). 19 Der Begriff des Wirkungszusammenhangs ist die eigentliche Klammer, die im Spätwerk Diltheys die Strukturpsychologie mit den im engeren Sinn hermeneutischen Konzeptionen verbindet. Es trifft nämlich nicht zu, dass die Konzeption des Wirkungszusammenhangs »gegenüber dem psychologischen Standpunkte […] etwas Neues« darstellte, wie Groethuysen in seinem Vorbericht sagte. 20 Der Begriff stammt vielmehr aus der Mitte der Auseinandersetzung um die Strukturpsychologie (um 1895) und taucht zum ersten Mal auf in der Abhandlung Beiträge zum Studium der Individualität, die in der ursprünglichen Fassung auch Diltheys Antwort auf die Kritik von Ebbinghaus enthielt. 21 Es heißt dort: So macht dieser Strukturzusammenhang, als eine einheitliche Kraft, dies Wort ohne jede metaphysische Substanzialisierung genommen, den lebendigen Wirkungszusammenhang innerhalb des Seelenlebens und der ge-
Vgl. A. Hahn: Die Systemtheorie Wilhelm Dilthey. In: Berliner Journal für Soziologie. Bd. 9 (1999), S. 5–24. 19 Vgl. u. a. R. A. Makkreel, F. Rodi (Hrsg.): Wilhelm Dilthey. Selected Works. Princeton 2002, Bd. III, S. 379. 20 Groethuysen, a. a. O., S. VIII. 21 Vgl. V, 237–240 und Mischs editorische Anmerkung in V, 421. 18
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schichtlichen Welt wenigstens innerhalb eines gewissen Umfangs verständlich. (V, 238; vgl. 239 u. 272)
Schon hier also ist die Öffnung der Psychologie »für die Aufnahme des historischen Bewußtseins« vorgenommen. Es ist eine der Merkwürdigkeiten in Diltheys Arbeitsweise, dass er im Grunde immer auf Vorrat gearbeitet hat im Blick auf das große Ziel der Vollendung der Einleitung, dass er sich aber auch immer wieder durch neue, vorwiegend historische Projekte von der systematischen Arbeit abziehen ließ. So ist auch die Konzeption des Wirkungszusammenhangs über zehn Jahre lang liegengeblieben, bis sie dann im Aufbau den Schlussstein des Ganzen bildet und der Begriff Wirkungszusammenhang zum »Grundbegriff der Geisteswissenschaften« (VII, 156) avanciert. Seine strukturpsychologische Provenienz ist offenkundig: »Dieser Wirkungszusammenhang unterscheidet sich von dem Kausalzusammenhang der Natur dadurch, daß er nach der Struktur des Seelenlebens Werte erzeugt und Zwecke realisiert.« (VII, 153) Oder, in umgekehrter Richtung gesagt: »Die Lebenseinheit (d. i. das Individuum, F. R.) ist ein Wirkungszusammenhang, der vor dem der Natur voraus hat, daß er erlebt wird […]« (VII, 159). Von hier aus gesehen kann nicht von einer »hermeneutischen Wende« im Alterswerk Diltheys gesprochen werden. Vielmehr finden wir eine auf dem Boden strukturpsychologischer Überlegungen erfolgende Erweiterung und Zuspitzung der Frage nach Zugang und Bedeutungsgehalt kultureller Objektivationen. Was hier im Spätwerk zu unterscheiden ist, sind nicht »Phasen« oder gegensätzliche Positionen, sondern zwei Themenkreise, die sich in vielfältiger Weise gegenseitig durchdringen.
4. Ein wichtiger Berührungspunkt dieser beiden Themenkreise besteht nun aber in dem besonderen Aspekt der Lebendigkeit, der als das anthropologische Grundmodell des Reagierens bezeichnet wurde. Bei aller Betonung der animalischen Grundlagen im Reiz-Reaktions-Schema geht es Dilthey doch vor allem darum, die spezifisch menschliche Form des Reagierens, also die ›besonnene‹ 114 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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Gefühlsbewertung der Eindrücke, herauszuarbeiten. Strukturpsychologisch betrachtet ist diese Leistung eingebunden in den Funktionskreis, der von der Wirklichkeitsauffassung zur zweckgeleiteten Veränderung der Wirklichkeit und zu neuem Auffassen beständig weiterführt. Dilthey hat jedoch, und zwar im Kontext seiner Poetik, noch eine andere Form des Reagierens hervorgehoben. Auch der Dichter reagiert auf das ihm Begegnende. 22 Aber im Unterschied zum Menschen der Tat führt bei ihm die Begegnung nicht weiter zum Handeln, sondern zur Erfassung des Erlebnisses in seiner Bedeutsamkeit. »So bringt der Dichter vom Gefühle aus das Wesenhafte im Singularen oder das Typische hervor.« (VI, 188) Das Erlebnis als der Akt der Begegnung mit Welt konstituiert sich erst ganz, wenn es einen Ausdruck gefunden hat, der kommunikativ, d. h. auf Verstehen hin angelegt ist. Die Gefühlsbewertung, die noch als Bestandteil des Erlebnisses anzusehen ist, findet beim Dichter (aber auch beim Alltagsmenschen) in der Regel nicht im tiefsten Innern der Seele statt, sondern durch Versprachlichung, die unmittelbar und spontan oder auch sorgfältig bedacht und gewählt sein mag. Dieser Zusammenhang ist auch ohne Kenntnis der entsprechenden Textpassagen Diltheys einsichtig und beinahe selbstverständlich. Er war es aber merkwürdigerweise nicht für ihn selbst, der nämlich fast 20 Jahre gebraucht hat, bis er den eigentlich so nahe liegenden Begriff des Ausdrucks als die zentrale Kategorie in sein Modell aufgenommen hat. 23 Vermutlich ist die Wirkung seiner Poetik von 1887 gerade dadurch beeinträchtigt worden, dass er sich über seine eigentlichen Intentionen in diesem Stadium seiner philosophischen Entwicklung noch nicht im Klaren war und sich verschiedene Konzeptionen gegenseitig im Wege standen. Jedenfalls ist festzuhalten, dass die zweite Art des Reagierens auf Welt, sofern dies am Beispiel des Dichters entwickelt wird, sich als Artikulation eines Eindrucks oder Erlebnisses vollzieht (»Erlebnisausdruck«), und dass diese Manifestation ihrerseits wieder Gegenstand eines Verständnisses – sei es der sich ausdrückenden Person selbst oder anderer Personen – werden kann. Von hier aus Dies gilt für Dilthey vor allem für den »objektiven Dichter«, der weniger einen subjektiven Zustand im Symbol eines äußeren Vorgangs versinnlicht« (VI, 211), als vielmehr »in das Bildliche der Anschauung die im Gefühl genossene Lebendigkeit hineinträgt« und so dieses »beseelt« (VI, 177). 23 Vgl. oben S. 24 ff. 22
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bildete sich die Triade »Erlebnis – Ausdruck – Verstehen« heraus, in der die Hermeneutik des Spätwerks formelhaft zusammengefasst ist. Diese Formel verbindet gleichfalls die beiden »Problemreihen«: Während es aus der Sicht der Strukturtheorie um den Schritt vom Eindruck zur Artikulation des Erlebnisses geht, handelt es sich in der hermeneutischen Theorie um die Rückübersetzung des fertigen Ausdrucks in die Lebendigkeit des objektivierten Erlebnisses. Die Kategorie des Ausdrucks ist gleichsam der Januskopf zwischen den beiden Bewegungen: einerseits das Resultat der Objektivierung, andererseits der Einsatzpunkt für die verstehende Aneignung dieser Objektivation. Was uns zunächst in der »naturalistischen« Fassung des Reagierens begegnete, zeigt sich jetzt als das Empfangen und Beantworten von Eindrücken, d. h. als Konkretion der Allgemeinstruktur »Selbst und Welt« – zum einen als strukturtheoretisch zu begreifender Wirkungszusammenhang, zum anderen als Verstehensleistung des seine Welt begreifenden Selbst. So werden die beiden »Problemreihen« in komplexen Konzeptionen miteinander verbunden. Dazu gehört vor allem auch der modifizierte Strukturbegriff, in dem von etwa 1905 ab weitere Elemente einer allzu naturalistischen Teleologie zurückgenommen werden. ›Struktur‹ ist jetzt »die Anordnung, nach welcher im entwickelten Seelenleben psychische Tatsachen von verschiedener Beschaffenheit regelmäßig durch eine innere erlebbare Beziehung miteinander verbunden sind« (VII, 15). 24 Wie schon an anderer Stelle hervorgehoben, 25 liegt das Hauptgewicht dieser Definition auf dem Begriff der inneren Beziehungen. Diese unterscheiden sich in ihrer »erlebbaren Regelmäßigkeit« von den nur äußerlich feststellbaren, in ihrem Bedingtsein nur erschlossenen Gleichförmigkeiten des psychischen Lebens, wie Assoziation, Reproduktion und Apperzeption. 26 Als »genetische Verhältnisse« entsprechen diese den Gesetzmäßigkeiten der äußeren Natur und sind nicht erlebbar. Dagegen sind Eindrücke, etwa von Zusammengehörigkeit oder Lebendigkeit, im psychischen Leben »charakteristische Momente« der Erlebnisse Diese Definition findet sich auch im Wesen der Philosophie (V, 373) und in dem Fragment Struktur als Wirkungszusammenhang (XXIV, 160). 25 Vgl. oben S. 67 ff. 26 Vgl. den Paralleltext im Fragment Struktur als Wirkungszusammenhang: »Die Prozesse von Reproduktion, Verschmelzung, Apperzeption sind Bedingungen für einen solchen Zusammenhang, aber er besteht nicht aus ihnen.« (XXIV, 159) 24
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selbst und können als innere Beziehungen auch zwischen zeitlich auseinanderliegenden Erlebnissen bestehen. So können einzelne Teile des psychischen Zusammenhangs »mitten in der Zufälligkeit des Nebeneinanderbestandes psychischer Bestandteile und der Abfolge psychischer Erlebnisse« aufeinander bezogen sein (VII, 15). Sie bilden damit den Strukturzusammenhang, »und diese strukturelle Beschaffenheit des seelischen Zusammenhangs hat […] zur Folge, daß Erlebnisse wie Leistungen zu einem Gesamteffekt zusammenwirken« (VII, 17).
5. Hieraus ergeben sich einige weitere Elemente der beiden »Problemreihen«. 1. Dilthey hebt hervor, dass das Zusammenwirken der seelischen Regungen eine Tendenz hervorbringt, »einen zunehmend bestimmteren psychischen Zusammenhang herbeizuführen, wie er mit den Lebensbedingungen übereinstimmt – gleichsam eine Gestalt dieses Zusammenhangs« (VII, 14). Er spielt damit an auf seine frühere, in den Ideen ausführlich dargelegte Theorie des ›erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens‹. Was hier vor allem interessiert, ist die Auflockerung jenes bisweilen massiven Naturalismus aus Diltheys mittlerer Schaffensperiode. Das Erwirken einer »Gestalt des Zusammenhangs« ist nicht mehr Resultat eines lebensdienlichen Reiz-Reaktions-Schemas: »Dem strukturellen Zusammenhang wohnt zwar nicht Zweckmäßigkeit im objektiven Sinne inne, aber ein Zweckwirken in der Richtung auf bestimmte Bewußtseinslagen.« (VII, 17) Dieses »Zweckwirken« wird in vorsichtigerer Terminologie Zielstrebigkeit genannt: Die immanent subjektive Zweckmäßigkeit des Strukturzusammenhangs realisiert nicht einen ihr durch die Natur oder Gott vorgeschriebenen Zweck; auch erwirkt der Strukturzusammenhang nicht ein bestimmtes Ziel: er enthält nur Zielstrebigkeit. Diese aber wird nicht hypothetisch in ihn verlegt, sondern sie wird erfahren. […] Jede Lebenserfahrung lehrt vielmehr, wie eine bestimmte Richtung in dieser Zielstrebigkeit erst in der individuellen Entwicklung entsteht. (VII, 329 f.)
2. Die Zielstrebigkeit, »welche vorwärts zieht« (VII, 330), sieht Dilthey bereits im gegenständlichen Auffassen, in dem »das Gegen117 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
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ständliche zu immer vollständigerer und bewußterer Repräsentation gelangt« (V, 372). 27 Sie findet innerhalb der inneren Beziehungen statt, wie sie schon in Diltheys frühsten Gedanken eines Funktionskreises von Denken, Fühlen und Wollen festgehalten wurden. Es handelt sich um ein »Fortgezogenwerden« im Zuge der Aufhellung und Objektivierung eines Erlebnisses. Dies wird am (wiederholt gebrauchten) Beispiel seiner in schlaflosen Nächten sich einstellenden Sorge um das bedrückend Unvollendete seiner gesamten Lebensarbeit erläutert. Auf der Grundlage eines gegenständlich aufgefassten Tatbestandes erheben sich Bedenken und Zweifel, die weiterführen zu dem Streben, über diesen Tatbestand hinauszugelangen. Das Erlebnis der bedrückenden Ungewissheit wird in einer »direkten Linie von Repräsentationen bis zu der Ordnung der Begriffe« aufgeklärt (VII, 139): All dieses Über, Von und Auf, all diese Beziehungen des Erinnerten auf das Erlebte, kurz diese strukturellen inneren Beziehungen müssen von mir, der ich jetzt die Fülle des Erlebnisses auffassend erschöpfen will, aufgefaßt werden. (VII, 28 f; vgl. 139 f.)
Auch hier geht die Strukturtheorie fast unmerklich über in die hermeneutische Deskription des Begreifens einer Situation im Sinne eines »Fortgezogenwerdens zu immer weiteren Gliedern des Zusammenhangs durch den Sachverhalt selbst und die Befriedigung, die im Ausschöpfen desselben enthalten ist« (VII, 29). Der enge Zusammenhang von struktureller Analyse und Verstehenstheorie wird schon durch die Tatsache deutlich, dass das Beispiel des in Nachtgedanken aufzuklärenden Erlebnisses sowohl in den Studien als auch im Aufbau in fast wörtlicher Wiederholung verwendet wird. Dieser »erwirkenden« Bewegung vom Eindruck zur Objektivierung des Erlebnisses entspricht der inverse Vorgang des Verstehens. Man kann es geradezu als das Herzstück der strukturtheoreJean-Claude Gens hat neuerdings wieder in Erinnerung gebracht, dass der Begriff ›Zielstrebigkeit‹ von dem für Dilthey wichtigen Entwicklungstheoretiker Karl Ernst von Baer (vgl. oben S. 52 f.) eingeführt wurde, »um die Zweideutigkeit des Zweckbegriffs zu vermeiden«. Vgl. J.-Cl. Gens: Die Aktualität von Diltheys Naturphilosophie. In: G. Scholtz (Hrsg.): Diltheys Werk und die Wissenschaften. Neue Aspekte, a. a. O., S. 237. Vgl. dazu E. Holenstein, Das Erbe Hegels II, a. a. O., S. 101.
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tischen Begründung der Geisteswissenschaften bezeichnen, dass die strukturellen Beziehungen (»Wir nennen sie innere, weil sie erlebbar und in einer Regelmäßigkeit des Verhaltens gegründet sind.« VII, 21) als die Grundlage für die »in tausendjähriger Arbeit ausgebildeten und verfeinerten Ausdrucksformen des Psychischen« herausgearbeitet werden. Denken wir uns eine Auslegungskunst, welche auf die Interpretation derselben gerichtet ist: und es ist sogleich deutlich, daß das, worin diese Hermeneutik alles vorhandenen geistigen Verkehrs sich gründet, eben die festen strukturellen Beziehungen sind, welche regelmäßig in allen geistigen Lebensäußerungen auftreten. (VII, 18 f.)
Was in der hermeneutischen Historik des Aufbaus dann mit dem Begriff des »objektiven Geistes« bezeichnet wird, beruht auf der elementaren Schicht artikulierter struktureller Beziehungen in ihrer nicht systematisierbaren Mannigfaltigkeit. »Psychologie« und »Hermeneutik«, in diesem differenzierteren Sinn als Strukturtheorie und Verstehenstheorie genommen, sind nicht Gegensätze, sondern komplementär aufeinander bezogene Weisen der anthropologischen Selbstbesinnung, wie sie sich im institutionellen Rahmen der Geisteswissenschaften, im Grunde aber schon in jeder lebensweltlichen Artikulation einer Erfahrung von Bedeutsamkeit, von Wert und Unwert, verwirklicht.
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Nachweise
Drei Bemerkungen zu Diltheys Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik von 1900. In: Revue Internationale de Philosophie 4/2003, Nr. 226, S. 425–438. Dilthey zwischen Kant und Goethe. Zur Genese der Lebenskategorien Ganzheit und Zusammenhang. In: Recent Contributions to Dilthey’s Philosophy of the Human Sciences, hrsg. von H.-U. Lessing, R. A. Makkreel, R. Pozzo. Stuttgart 2011, S. 135–153. Gekürzte Fassung Diltheys Strukturbegriff im Kontext von Naturwissenschaft und Philosophie des 19. Jahrhunderts. Rückübersetzung und Überarbeitung des englischen Originals Dilthey’s Concept of ›Structure‹ within the Context of Ninenteenth-Century Science and Philosophy, in: R. A. Makkreel/ J. Scanlon (Hrsg.): Dilthey and Phenomenology. Lanham/London 1987, S. 107–121. Das Besondere und das Allgemeine in Diltheys Theorie des Typus. Anmerkungen zu seiner Vergleichenden Psychologie. Bisher unveröffentlicht Psychologie oder Anthropologie? Vom Lebenszusammenhang zur Geschichte. Umgearbeitete Fassung der Einleitung in: G. D’Anna, H. Johach, E. S. Nelson (Hrsg.): Anthropologie und Geschichte. Studien zu Wilhelm Dilthey aus Anlass seines 100. Todestages. Würzburg 2013, S. 15–32.
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Nachweise
Die Verwurzelung der Geisteswissenschaften im Leben. Zum Verhältnis von ›Psychologie‹ und ›Hermeneutik‹ im Spätwerk Diltheys. In: G. Kühne-Bertram, H.-U. Lessing, V. Steenblock (Hrsg.): Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften. Würzburg 2003, S. 73–84. Erweiterte Fassung.
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Personenregister
Baader, Fr. 35 Baer, K. E. 52 f., 118 Beutler, E. 84 Boeckh, A. 21, 37, 39 Bollnow, O. F. 19 Bopp, Fr. 37 Buckle, H. Th. 37 Buffon, G. 83, 100
Grimm, J. 37, 39 f., 100 Grimm, W. 37 Groethuysen, B. 16, 106 ff., 113 Grondin, J. 21 Haardt, A. 111 Hegel, G. W. F. 34 f. Heidegger, M. 29, 47, 72, 76, 91, 104 Heinrich VIII. v. Engl. 97 Helmholtz, H. 85 Herder, J. G. 37 f., 44, 83, 85, 100 Herrmann, U. 95 Hölderlin, Fr. 44 Holenstein, E. 52, 118 Humboldt, A. 100 Humboldt, W. 37, 100, 106 Husserl, E. 18, 25 ff., 67, 106
Cardano, H. 96 f. Carpenter, W. B. 52 Croce, B. 15, 82 Cuvier, G. 83, 85, 100 Dambröck, Chr. 11 Daubenton 100 Daube-Schackat 111 Dessoir, M. 51 Diels, H. 71 Ebbeke, U. 84 Ebbinghaus, H. 25, 71 f., 74, 99, 105, 113 Erasmus v. R. 97 Feuerbach, L. 94 Fichte, J. G. 34, 110 Fink., E. 19 Fries, J. 94 Gadamer, H.-G. 52 Gens, J.-Cl. 11, 30, 51, 67, 118 Goethe, J. W. v. 12, 15, 21, 24 f., 32 ff., 36–39, 41–46, 53, 61, 83–86, 100, 106 Görres, J. 94
Jakobson, R. 52 Johach, H. 22 Kant, I. 30, 32–37, 44, 46, 48 f., 60, 70 f., 81, 94 Kerckhoven, G. v. 105 Krause, K. 94 Kühne-Bertram, G. 11, 26, 30, 69 Lamarck, J. B. 100 Landgrebe, L. 81, 90 Leibniz, G. W. 70 Lessing, G. E. 35 f. Lessing, H.-U. 11, 70, 83 f., 95, 105 Liebmann, O. 34 Linné, C. 100
123 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .
Personenregister Litt, Th. 90 Lotze, R. H. 94 Ludwig, O. 41 Makkreel, R. A. 49, 113 Malsch, G. 70 Mendelssohn, M. 60 Mill, J. St. 37, 48 Misch, G. 54, 67, 77, 86, 90, 96, 102, 105, 107 f. Mommsen, Th. 39 f. Montaigne, M. 97 Müller, J. 41, 84 f. Niebuhr, B. 3, 9, 40 Nietzsche, Fr. 109 Nohl, H. 64 Novalis 44 f., 92, 102 Ranke, L. 39 f. Rauche, G. A. 106 Redeker, M. 35 Rembrandt 81 Ribot, Th. 53 Rickert, H. 75 ff., 79, 86 Ritter, C. 39 Ritter, J. 94 Saussure, F. 52 Savigny, Fr. C. 40 Scaliger, J. 96 Schelling, F. W. J. 34 f. Scherer, W. 96 Schiller, Fr. 32, 79, 83 Schlegel, A. W. 37 Schlegel, Fr. 37
Schleiermacher, F. D. E. 12, 20 ff., 28, 35 f., 38 f., 41 f., 44, 71, 85 Scholtz, G. 11, 30, 78, 118 Schopenhauer, A. 45, 56, 90 Shaftesbury, A. 51 Shakespeare, W. 79, 99 Sigwart, Chr. 20 Singh, R. 106 Spencer, H. 52 ff. Špet, G. 110 Spinoza, B. 96 Spranger, E. 64, 85, 111 Steffens, H. 94 Stein, A. 108 Stumpf, C. 70, 93 Telesio, B. 96 f. Tetens, J. N. 60 Tieck, L. 41 Trendelenburg, A. 13 Troxler, I. 94 Usener, H. 71 Vives, J. 96 f. Waitz, Th. 93 Weber, M. 81, 84 Welcker, Fr. G. 37 Winckelmann, J. J. 37 f., 40, 44, 100 Windelband, W. 15, 72–77, 79, 81 f. Wolff, C. Fr. 51 ff. Yorck, P. v. 29, 73, 78, 81 f., 99 f., 102 Zeller, E. 70, 71
124 https://doi.org/10.5771/9783495813867 .