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German Pages 464 Year 2020
Philosophie des Designs Schriftenreihe des Weißenhof-Instituts zur Architekturund Designtheorie Daniel Martin Feige, Florian Arnold und Markus Rautzenberg (Hg.)
1 . 1 / S . 48 / Z.16
[…] dass die Designerinnen/ Designer der ›Gegenwart‹ das Feld ihrer ›Gegenwart‹ beobachten müssen, … 1 . 2 / S . 60 / Z . 32
Designer mögen alles Mögliche von sich halten, … 1 . 3 / S . 85 / Z .32
Stünde das Design also allein im Dienste … 1 . 4 / S . 121 / Z . 31
Ein Design, das nicht grundsätzlich relational oder holistisch ist,…
1 . 5 / S . 140 / Z .15
Design und Kunst sind kulturelle Manifestationen … 1 . 6 / S . 143 / Z .39
Design gestaltet Praxis … 1 . 7 / S . 183 / Z . 27
Eine Funktion ist … 1 . 8 / S . 211 / Z . 29
[…] die neue Signatur des Designs … 1 . 9 / S . 215 / Z . 12
Die entwerfende Praxis der Entwurfsdisziplinen bringt etwas zur Erscheinung, … 1 . 10 / S . 238 / Z .28
Design ist nicht einfach Planung oder Entwurf, … 1 . 11 / S . 245 / Z . 07
[…] warum wir nicht mehr von Kunst, sondern von einem Prozess des iterativen Designs sprechen … 1 . 12 / S . 263 / Z . 06
Wenn Graphikdesign mehr ist, … 1 . 13 / S . 295 / Z . 04
Von Anfang an ist das Grafische also bestimmt von zwei Aspekten: … 1 . 14 / S . 301 / Z . 26
Für den Designer gibt es keine Gestaltung … 1 . 15 / S . 309 / Z . 05
Wenn im Folgenden also von Design die Rede ist, … 1 . 16 / S . 330 / Z . 28
Designer entwerfen Objekte, … 1 . 17 / S . 356 / Z . 02
Design als Inbegriff »angewandter Kunst« … 1 . 18 / S . 378 / Z . 23
›Designing‹ als Algorithmik … 1 . 19 / S . 401 / Z . 15
Die neue Aufgabe des Designs … 1 . 20 / S . 443 / Z .31
Inhaltsverzeichnis
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S. 27 Beiwort
Thoreaus Cottage. Eine Philosophie der Gestaltung Andreas Dorschel Archäologie des Designs. Zur Philosophie einer Genealogie der Gestaltung Oliver Ruf
1 . 3
Das Zeug zur Macht – Bemerkungen zum Design als Modernisierung von Kompetenz Peter Sloterdijk
1 . 4
Designphilosophie des Postfuturismus. Zum Mythos der Virtualität Florian Arnold
1 . 5
Design zwischen Konstruktivismus und Realismus Wolfgang Welsch
1 . 6
Design und Kunst – eine philosophische Geschichte ihres Verhältnisses in der Moderne Judith Siegmund
1 . 7
Kunst und Design? Kunst oder Design! Daniel Martin Feige
1 . 8
Funktionen und Zwecke Johannes Lang
1 . 9
Zum erweiterten Designbegriff Anke Haarmann
1 . 10
Philosophisches Deuten und entwerfendes Gestalten. Ein Versuch mit Paul Valérys »Eupalinos«-Dialog Clemens Belut
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Design ist unterwegs. Design als dialektischer Prozess von Gestaltung und Entstaltung Hyun Kang Kim
1 . 12
Do it again! Zur Philosophie des iterativen Designs Martin Burckhardt
1 . 13
»I« »N« »F« »O« »S« sortieren oder Grundsätzliches zum Graphikdesign Jakob Steinbrenner
1 . 14
gráphein. Zur Materialität des Grafischen in algorithmischen Kulturen. Ein Essay Markus Rautzenberg
1 . 15
Philosophische Ästhetik & Design Julia-Constance Dissel
1 . 16
Design oder: Von Reiz des Nutzlosen Silke Müller
1 . 17
Die Transformation des Designs durch sachferne Kriterien Thomas Friedrich
1 . 18
Philosophie und kritische Theorie des Designs Gerhard Schweppenhäuser
1 . 19
Kritische Philosophie des Designs Dieter Mersch
1 . 20
The Next Big Step in Design Theory Martin Gessmann
S . 449 Literaturverzeichnis S . 461 Abbildungsverzeichnis S . 464 Impressum
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In den letzten Dekaden wird der Stellenwert des Designs immer mehr auch außerhalb der im engeren Sinne designtheoretischen Debatten deutlich. Wer heute über kulturelle Praktiken nachdenkt, wird immer auch auf die Art und Weise gestoßen, auf die Designgegenstände an ihnen Anteil haben. Design zeigt sich dabei unter normativen Gesichtspunkten als potentiell janusköpfig: als Teil der Lösung wie des Problems. Auf der einen Seite sind Antworten auf die Frage, wie wir unsere Praxis in einer Weise gestalten, die unter ethischen, ökologischen, politischen usf. Gesichtspunkten gut ist, in der Umsetzung nicht ohne Designentscheidungen denkbar; auf der anderen Seite ist die Praxis des Designs, geboren aus dem Geiste der Industrialisierung, nicht gefeit vor einer bloß in strumentellen und letztlich ökonomischen Inbesitznahme. Relativ unumstritten ist angesichts dieser normativen Fragen gleichwohl die diagnostische Grundlage: Design ist omnipräsent. Es kommt nicht nur in der Gestaltung unserer Produktwelt zum Tragen, sondern reicht über Formate wie Infrastrukturen der Neuen Medien zugleich in unseren Alltag hinein – gleich ob es sich dabei um zwischenmenschliche Kommunikation oder den selbstverständlichen Gebrauch von Applikationen handelt. Der Austausch mit unserer natürlichen oder artifiziellen Umwelt unterliegt in den meisten Fällen bereits einem Design der Abläufe und Zugriffe, das nicht allein die Formen der Kommunikation und die Gegenstände des Gebrauchs prägt, sondern dadurch mittelbar auch die Kommunizierenden und Gebrauchenden selbst. So stellt sich mit der Frage danach, was Design ist, zugleich auch die Frage einer Anthropologie des Designs: Was ist unter dem Menschen zu verstehen, wenn Design sich in vermeintlich natürliche Gewohnheiten und Verhaltensweisen einschreibt, angefangen beim Betrachten von Bildschirmen in der U-Bahn über das Versinken in mixed reality Spielwelten bis hin zu operativen Formen des human enhancement. Der menschliche Welt- oder Selbstentwurf scheint fortwährend zur Disposition gestellt, wo sich ›gestalterische Lösungen‹ mittlerweile für alle erdenklichen Probleme anbieten. Offen ist dabei die Frage, ob der verstärkte Blick auf das Design dabei Ausdruck einer qualitativen
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Veränderung unserer Lebenswelt ist oder im Design nicht vielmehr etwas thematisch wird, was jeher Signum der menschlichen Welt war: ihre grundsätzliche Gestaltbarkeit. Dabei taucht auch hier die Janusköpfigkeit des Designs auf. Indem es in üblichen Praxiszusammenhängen eher unaufdringlich bleibt, droht die Gefahr, die Dialektik der zweiten Natur zu wiederholen: notwendig für unsere selbstbestimmte Lebensweise und zugleich notwendigerweise durch sein Aufgehen in Praxiszusammenhängen ein Hindernis für dieselbe. Ob man euphorischen Positionen wie derjenigen Bruno Latours, der zufolge unser Dasein zu einem Design geworden ist, das auf die Konstitution von ›Geist und Körper‹ ausgreift und dabei einen physischen sowie konzeptuellen Paradigmenwechsel für sich in Anspruch nimmt, folgt, oder pessimistischen Diagnosen wie derjenigen Vilém Flussers, derzufolge Design allein die Rationalität der Mittel und nicht der Zwecke meint bzw. derzufolge sich im Design notwendigerweise beides in die Quere kommt, ist eine derzeit gerade in den Debatten um das Social Design vieldiskutierte Frage. Ist gleichwohl an der Omnipräsenz des Designs und seiner Relevanz für unser Denken und Handeln gerade deshalb nicht zu zweifeln, weil die Formen und Inhalte unseres Handelns immer auch von Designentscheidungen geprägt sind, wie unser Denken sich notwendig in medialen Formen artikuliert, so lassen sich die meisten Fragen der praktischen wie theoretischen Philosophie heute auch unter designspezifischer Perspektive stellen. Themen wie etwa die Maschinenethik gewinnen gegenwärtig, im Zuge einer forcierten KI-Forschung samt ihren Infrastrukturen, Zulieferern und Abnehmern, nicht nur praktisch an Dringlichkeit; vielmehr fordern uns diese Entwicklungen auch und gerade im Lichte der Designpraktiken dazu auf zu fragen, ob daraus nicht auch ein neues Verständnis der Philosophie als begrifflicher Arbeit notwendig wird bzw. ein neuer Sinn der Praxis der Philosophie zur Debatte steht. Die Situation stellt sich weniger so dar, dass eine sogenannte digitale Revolution gedankenlos wie eine SiliciumSintflut über uns hinwegrollte, entfacht von einer unsichtbaren, künstlichen Hand – als dass es gerade Metaphysiken solchen Schlags sind, die einen unverkennbaren, doch unbewältigten Ballast an überkommenen Philosophemen mit sich schleppen und in Theorien wie dem Transhumanismus (Nick Bostrom) oder der nahenden
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Singularität (Raymond Kurzweil) einer so oder so drohenden Selbstentmündigung vorarbeiten. Hier ist begriffliche Aufklärung zu betreiben – nicht zuletzt auch mit Blick auf die Frage nach einem zeitgenössischen Begriff der Philosophie selbst. Will damit auch nicht gesagt sein, dass erst mit dem Aufkommen des Designs die dilemmatische Dynamik einer technikgebundenen Befreiung zur technikentbundenen Freiheit entstanden wäre, so ist es doch denkbar, dass es hier nicht allein um eine Verschärfung geht. Stattdessen könnte man die philosophische Relevanz des Designs so lesen, dass sie im Vollzug des modernen Designs bereits implizit reflektiert, was sich explizit als philosophische Kritik in dieselben Verhältnisse einschreibt: Seit der etwa zeitgleichen politischen Revolution in den Vereinigten Staaten und Frankreich, der industriellen in England und der philosophischen in den deutschen Landen hat es sich herausgestellt, dass wir – mehr als uns vielleicht lieb ist – uns (und) unser Schicksal gestalten müssen. Infolgedessen sehen wir uns vor ein Problem gestellt, das die Gretchenfrage: »Wie hältst Du es mit der Aufklärung angesichts ihrer Dialektik?« erneut und anders aufwirft. Wem das zu idealistisch oder kritisch klingen sollte, sei darauf verwiesen, dass sich dasselbe Phänomen auch von Seiten einer wachsenden Kulturtechnikforschung her untersuchen lässt. So waren es bereits Marx und später auch Walter Fritz Haug, die dem Design durch den Begriff des Warenfetischismus nolens volens eine zentrale Rolle in der Industriegesellschaft einräumten. Der entscheidende Unterschied im Übergang zur postindustriellen, digitalen Gesellschaft besteht nun jedoch darin, dass unklar ist, ob das Design nicht mehr nur am Aufbau und Erhalt der kapitalistischen Leistungsgesellschaft wesentlich mitwirkt, sondern vielleicht zu einem entscheidenden Hebel geworden sein könnte, sich ihr wieder zu entziehen – sei es in Form einer eher revolutionären oder reformatorischen Herangehensweise. In jedem Fall ist Design längst kein Luxusphänomen mehr, wenn es das in seiner kurzen Geschichte jemals gewesen ist, sondern langwierig etablierter Alltag.
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Die hier versammelten Beiträge zu einer »Philosophie des Designs« verstehen sich also durchaus im Doppelsinne des verwendeten Genitivs, indem sie einmal mehr, einmal weniger ein wechselseitiges Verhältnis thematisieren und dadurch Einsicht sowohl
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in das Design als auch in die Philosophie verschaffen wollen. Ziel ist es, die Philosophie dort selbst zu Wort kommen zu lassen, wo sie seit einiger Zeit bereits die theoretische Auseinandersetzung mit dem jungen Phänomen Design souffliert, um umgekehrt auch in der Praxis nicht allein anregend zu wirken, sondern dasjenige Reflexionsniveau längerfristig herzustellen, das der Bedeutung des Designs für seine eigene sowie unsere Zukunft allererst gerecht wird. Entsprechend geht es im Folgenden darum, die nötige Grundlagenarbeit, eine Auf- und Ausarbeitung der noch relativ jungen Disziplin der Designphilosophie zu leisten. Was die Beiträge dieses Sammelbandes dabei über ihre Differenzen und Divergenzen hinaus vereint, ist die Frage nach einem produktiven oder kritischen Verhältnis der beiden Disziplinen. Dabei sind alle Beiträger* innen von den Herausgebern dazu aufgefordert worden, ihre je eigene Perspektive darzulegen und sich dabei der Probleme, die in diesem Beiwort skizziert sind, mit Blick auf verschiedene Aspekte des Verhältnisses von Design und Philosophie anzunehmen. Bei der Lektüre des Bandes dürfte jedem aufmerksamen Leser schnell klar werden, dass die mannigfachen direkten oder indirketen, offensichtlichen und verborgenen Bezüge bereits ein Foschungsfeld konstituieren, das in Zukunft erfreuliche Einsichten verspricht, und durch die vorliegenden Beiträge schon seine erste Systematisierung erfahren hat.
Unser Dank gilt dabei nicht nur den Beiträgern des Bandes, sondern auch dem Weißenhof-Institut und dem HuM-Collective für die gestalterische Arbeit sowie Alina Anderson und Roxana Rentsch für die Unterstützung bei den Korrekturen. 25
Florian Arnold, Daniel M. Feige und Markus Rautzenberg 30
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Prof. Dr. phil. Andreas Dorschel lehrt seit 2002 Ästhetik an der Kunstuniversität Graz. Zuvor lehrte er an Universitäten in England, Deutschland und der Schweiz, wo er 2002 an der Universität Bern habilitiert wurde. 2006 war er Gastprofessor in Stanford. Zu seinen Büchern zählen: Nachdenken
über Vorurteile, Felix Meiner 2001; Gestaltung – Zur Ästhetik des Brauchbaren, Universitätsverlag Winter, 2003; Verwandlung. Mythologische Ansichten, technologische Absichten, Vandenhoeck & Ruprecht 2009 sowie Ideengeschichte, Vandenhoeck & Ruprecht 2010. Abhandlungen Andreas Dorschels erschienen u.a. in The Cambridge Quarterly und in The
Oxford Handbook of the New Cultural History of Music, Essays im Merkur sowie in Lettre International.
Thoreaus Cottage. Eine Philosophie der Gestaltung Andreas Dorschel
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Zwischen vereinzelten Fichten, mitten durch das weißrauchige st rahlende Licht der Julisonne, fü hrte der schmale Weg hin zu dem Waldhaus. Splitter von Katzengold funkelten auf der Erde im Glanz dieses Sommers. Die beiden großen Nussbäume hinter dem Haus hatten die Frauen schon von weitem erblickt. Ohne Zaun oder Gatter st and das Cottage frei in der Landschaft. Frei gleich seinem Besitzer, dachten sie im selben Augenblick, da dieser, Henry Thoreau, vor die Tür trat. Wie frei, das wollten Lidian Emerson und Sophia Hawthorne heute genauer untersuchen. Dass bei der Untersuchung der kleine Neid auf diese Freiheit dem Hausbesitzer unbemerkt bleiben müsse, damit er sich so wenig wie möglich auf sie einbilde – auch dieser naheliegende Hintergedanke kam den beiden Stadtbewohnerinnen im gleichen Moment.
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Henry Thoreau: Lidian! Sophia! Euer Besuch überrascht mich. Lidian Emerson: Wer sich der Einsamkeit ergibt, kommt fü r den nicht jeder Besuch überraschend? Th: Was Menschen betriff t, st immt das. Allerdings besucht mich hier in der Einsamkeit manches, das ich erwarten kann. Auf das ich beinahe ein Recht habe als Einsamer. Eulen zum Beispiel und, dazu passend, gute Ideen. Sophia Hawthorne: Wer gute Ideen hat, wird nicht in Verlegenheit sein, die Fragen zu beantworten, die wir uns auf dem Weg hierher zurechtgelegt haben. Th: Wer sagt dir, dass meine gute Ideen Antworten sind. Vielleicht sind sie selber Fragen. E: Antworten willst du also ausweichen? Th: Ich wachte heute früh auf mit dem Gefü hl, mir sei im
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Abbildung Thoreaus Haus, Stahlstich nach einer Zeichnung von Sophia Thoreau, abgedruckt auf dem Titelblatt zu Henry David Thoreau: Walden or Life in the Woods, Boston 1854.
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Schlaf eine Frage gestellt worden, die zu beantworten ich mich die ganze Nacht gequält hatte. Aber da erschien das Gesicht der Natur in meinem Fenster, heiter und zufrieden, keine einzige Frage auf ihren Lippen. E: Ist ›Natur‹ nicht eine gesichtslose Abstraktion? Th: In der Stadt wird sie so erscheinen. Hier in Walden trägt sie eine fraglose Miene. H: Und nun kommen wir, unnatürlich wie wir sind, und bringen desto mehr Fragen. Th: Das ist, in der Umkehrung, ja schon die beste meiner guten Ideen: Wir leben nicht mehr natürlich. E: Wie bist du darauf gekommen – und gerade hier? Th: Wo die Natur und mit ihr die Einsamkeit anfängt, er- kenne ich erst die Unnatur der Gesellschaft. H: ›Wir leben nicht mehr natürlich.‹ Deine gute Idee scheint mir so dürftig, dass sie wohl kaum die Entbehrungen eines Eremitendaseins wert war. Aber vielleicht ist sie ja dessen notwendige Folge. Vielleicht macht der Rückzug aus der Gesellschaft unbedarft. E: Oder er verhilft zu der Einfalt, von der es heißt, sie mache selig. Th: Verschwende lieber keine Ehrfurcht auf meine Meinungen, Lidian! H: Dafür werde ich sorgen. Th: Lidian wird für sich selber sorgen müssen. Die Ehrfurcht, wie alle Furcht, kann man sich nur selber nehmen. E: Wirklich? Vielleicht treibt mir ja das natürliche Leben die Ehrfurcht aus. Wo ist es denn? Th: Ihr steht unmittelbar vor ihm: dieses Haus verkörpert natürliches Leben. E: Dieses Haus? Th: Ich weiß, was du denkst – der Bau ist weder originell, noch fantastisch, noch eindrucksvoll. Aber die Natur selber ist weder originell, noch fantastisch, noch ein drucksvoll. Gerade um der Eigenschaften willen, die euch an meinem Haus enttäuschen, ist es natürlich. H: Eigenartigerweise macht aber die Natur keine Häuser. Diese fürsorgliche Instanz, die der Schildkröte ihren Panzer verlieh, stattet selbst so zarte Geister wie dich
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nicht mit einem Cottage aus. Th: Ich rechne nicht zu den zarten Geistern. H: Zu den zarten schon, aber offenbar nicht zu den scharfen. Was ein Mensch tut, sagt mehr über ihn, als was er redet. Man macht Häuser, indem man die Natur zerschneidet. Bretter sind gemordete Bäume. Th: Ein paar weniger wird man gemordet haben, als für eure Häuser in Concord. E: Und weniger ist gleich natürlicher? Th: Sobald der Mensch mit der Natur übereinstimmt, braucht er sich nicht mehr gegen sie zu verteidigen. Dann kommt er mit weniger aus. H: Mehr oder weniger gibt es nur auf derselben Skala. Du hast das Leben unter eine Alternative gestellt: Natur oder Unnatur. Th: Wirklich habe ich dir schon zu viel zugestanden. Kein Baum ist gemordet worden für mein Haus. E: Wie das? Th: James Collins, ein irischer Arbeiter an der Fitchburg Railroad, westlich des Teiches, hatte eine Hütte, die er aufgeben wollte. Ich kaufte sie ihm ab. Brett für Brett, Nagel für Nagel nahm ich Collinsʼ Shandy auseinander und trug die Teile hier zu meinem Bauplatz. So macht es auch die Natur: sie verwendet alles wieder. Und darum sage ich, dieses Haus sei natürliches Leben. Ein neues Wort dafür ist mir heute morgen eingefallen. Alles in der Natur verläuft in Kreisläufen. Was ich so gemacht habe, weil es die Natur auf diese Weise macht, nenne ich Recycling. E: Ein unschönes Wort. Th: Das sind sie immer, die Worte, die ihrer Zeit voraus sind. H: Mich stört weniger das Wort als die Sache. Es macht für die Natur keinen Unterschied, ob Henry Thoreau ihre Bäume gemordet hat oder James Collins. Sie kennt euch nicht. Und irgendwann werden die Bretter deines Hauses morsch geworden sein; dann wird wieder einer Bäume fällen für frische Bretter. Th: Also gut, ich habe zwar nicht gemordet, aber das natür liche Mordopfer gekauft. Was wollt ihr? Seid ihr ge-
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kommen, mir Vorwürfe zu machen? Eure mitgebrachten Fragen könnt ihr euch selber beantworten, sofern ihr zugleich Augen mitgebracht habt, die sehen. Ein wenig gemordet werden muss auch in der Natur. Es ist nicht so, dass euer Leben Unnatur wäre und meines Natur. Ich kam und komme nur der Natur etwas näher als ihr. H: Wenn das gut wäre, wäre es noch besser, ihr noch näher zu kommen. Die Natur macht Höhlen, nicht solche Häuser. Weshalb wohnst du nicht in einer Höhle? Was du bewohnst, ist ein englisches Cottage: vier Wände umschließen einen Raum mit einem Kaminofen an der hinteren Seite. Englische Siedler brachten dies Machwerk der Kultur und Geschichte, nicht der Natur, im 17. Jahrhundert nach Amerika. Th: Natürlich aussehen, so denkst du, müsse das Haus, damit ich meinem Anspruch gerecht werde; darum glaubst du auch, eine Höhle käme dem näher als ein englisches Cottage. Aber das Natürliche liegt nicht darin, wie das Haus aussieht, sondern wie ich mit ihm umgehe. Ich dressiere dieses Haus, lehre es, mir dies und jenes zu leisten, so wie es umgekehrt mich einiges lehrt. E: Dressur ist doch das Gegenteil von Natur: ihre Verge waltigung. Th: An den Zirkus denkst du – hier, wo wir ihm so fern wie möglich sind. Der Dompteur macht aus den Tieren, was sie nicht sind. Den Bären verzerrt er zum Tänzer. Das ist die niedere Dressur. In der höheren Dressur reizt hinge gen die Natur an sich selbst aus, was in ihr steckt. So dressiert der jagende Fuchs den Hasen zum besten Läufer auf dem Feld und der Hase den Fuchs zum schärfsten Beobachter des Hakenschlagens. E: Aber diesen Erfolg wollen die beiden gar nicht. Th: Irgendetwas sollte der Mensch doch den Füchsen und Hasen voraushaben, wenn er sie schon im Laufen kläg lich unterbietet. Die höchste Dressur führt das, was die höhere unbewusst treibt, mit Willen und Bewusstsein aus. Ich möchte die Leistung. Das Haus will ich gar nicht unbedingt. Gibt mir sonst etwas die Leistung, dann
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nehme ich sie anderwärts her. E: Du sagst das, als sei es etwas Besonderes. Th: Ich sehe, wie meine Zeitgenossen sich einsperren in ihre Bauten, ohne das Eingesperrtsein zu spüren. Sie fühlen sich wohl. Ihr Bedürfnis sich zu bewegen, und mit ihm sie selber, schrumpfen ein. Ihre Solidität richtet sie zugrunde. Von ihnen bleibt bloß ihr Haus. Sie wollten sich ihre Wohnung bauen und haben sich ihr Mauso leum gebaut. Für mich hingegen zählt nicht das Haus, sondern das Leben, das ich darin und darum führe. Der Erbauer bedeutet mehr als das Erbaute. Fleisch ist wich tiger als Stein. Wie das Schalentier das zu eng gewor dene Haus abstreift, muss auch mein Ich, um zu leben – und leben heißt wachsen – , die Hülle des alten Hauses irgendwann abwerfen. Ich habe noch andere Leben zu führen als dieses Leben mit diesem Haus. Es ist nur eine Haut, in diesem Fall eine hölzerne. Sich häuten: das ist das Prinzip der Natur. E: Amerikanischer Optimismus – da schlägt mein Herz höher. Th: So optimistisch war es gar nicht gemeint. Das ganze Leben ist ein Versuch, Form zu erlangen; man springt periodisch von der einen in die andere hinein und findet jede zu eng oder zu weit, bis man des Probierens müde wird und sich von der letzten ersticken oder auseinan derreißen lässt. E: Deutscher Pessimismus – mir sinkt das Herz. Eigentlich alles, was an mir sinken kann. Th: Unvorteilhafte Richtung. Versuchʼ, meinen metaphysi schen Schlenker ironisch zu nehmen. Das hebt. E: Ich wehre mich gegen das Sinken. Nachdem die Leiber unserer Vorväter das sinkende Schiff, Europa, verlassen haben, muss der Geist unserer Generation den gleichen Schritt tun. Springen wir von dem morschen Pott des alten Kontinents! Wir brauchen eine amerikanische Phi losophie. Th: Eben sie steht ja vor euch, in Holz und Stein. E: Ein Haus, ergo eine Philosophie zum Wegwerfen, wenn ich deinen Ausführungen gefolgt bin. Th: Die Natur will es so.
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E: Der Natur, scheint mir, kann man alles Mögliche nach sagen. Vorhin war noch Recycling das Prinzip der Natur, nun das Wegwerfen. Ist das nicht das Gegenteil? Th: Es ist nicht das Gegenteil; es ist dasselbe. Was ich ab streife, werden andere sich überstreifen, so wie ich mir überstreifte, was andere, Collins zum Beispiel, abstreiften. E: Wie sollte anderen passen, was du so sehr auf dich zuge schnitten hast? Th: Sie werden umgestalten müssen, was ich gestaltete. Das gehört zum Recycling. Wie sagt Waldo in Nature: Die Schöpfung hat nicht mit Genesis geendet; sie geht immer weiter. Nur schöpft kein Yankee aus dem Nichts, wie Jehova, sondern aus dem Etwas. Ich nahm von Collins die Bretter. Aber sein Shandy löste ich auf. Nicht die Form nahm ich; ich nahm das Material. Aus ihm gestaltete ich mein Cottage. Das war – das ist mein be scheidener Beitrag zur Kreation des Universums. H: Die Form gaben dir die englischen Siedler. Th: Ich sagte schon, dass es ein bescheidener Beitrag sei. H: Das freut mich auf ungewohnte Art. Geschichtenerzähler wie Nathaniel sind nicht so bescheiden. Schließlich neh men sie alles aus ihrem Kopf – die Form und den Stoff. Fast wie der liebe Gott. Th: Was sie aus ihrem Kopf nehmen, wird ihnen jemand oder etwas in den Kopf gesetzt haben. Natur und Gesell schaft. Am Ende stammt alles daher. Auch hier: Recy cling. H: Sei froh, dass uns Nathaniel nicht hört. Er würde dir den Kopf abreißen. Th: Anders wieder aufgesetzt, produzierte er sicher noch mehr gute amerikanische Ideen. H: Noch mehr? Bisher habe ich nur von einer einzigen gehört, und die war halbschlecht: die Idee einer rezyk lierenden Natur. Wenn das schöne Wetter hier am Wald nicht irgendwie schöner wäre als in der Stadt, hätte ich wohl schon kehrtgemacht, mir zu Hause Geschichten anzuhören, die angeblich der reinen Einbildungskraft und in Wahrheit dem unreinen Massachusetts entsprun gen sind.
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Th: Wo ich Nathaniel eben Unrecht gab, als er zu nah an den lieben Gott rückte, muss ich ihm doch auch wieder ein wenig Recht geben. Am Ende kommt alles Gute von innen, bei Büchern wie bei Häusern. Wo sich Äußeres dem Inneren auferlegt, aufdrängt, aufzwingt, entsteht jedesmal ein Gefängnis, auch wenn es nicht so heißt. Das wenige Schöne, das ich an Häusern sehe, ist von innen nach außen gewachsen, aus den Bedürfnissen und Eigen tümlichkeiten des Bewohners, welcher der eigentliche Baumeister ist, hinein in Böden, Wände, Decken und Dächer. Am schönsten werden immer Luftschlösser sein: Äußeres und Inneres sind da eins. E: Aber wird aus einem unschönen Inneren nicht ein un schönes Äußeres wachsen? An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. H: Alle männlichen Emersons waren seit jeher dazu be stimmt, Pfarrer zu werden. Waldo ist keiner geworden. Und doch redest du wie eine Pfarrfrau. ›So spricht der Herr: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.‹ Ich frage mich, warum in einem Gespräch über etwas so Profanes wie den Hausbau unsere Köpfe zwischen Bibel seiten sinken. Das erste Buch Mose zunächst, nun das Evangelium nach Matthäus. Th: Obschon eigentlich ein Ketzer, kann ich das so falsch nicht finden. Es geht beim Wohnen immer um das Heil der Seele. H: Die muss allerdings obenan stehen, wo dem Leib so wenig geboten wird wie mit deiner Hütte. Th: Weniger ist mehr. Wie die Regierungen die besten sind, die am wenigsten regieren, sind die Häuser die besten, die am wenigsten behausen. Ich habe mich so in der Welt ein richten wollen, dass ich möglichst frei bin. Unabhängig. E: Wollen wir das nicht alle in diesem Land? Th: Es ist leichter, eine Unabhängigkeitserklärung abzuge ben, als unabhängig zu leben. E: Wie machst du es? Wie hast du es gemacht? Th: Um frei zu sein, musste ich lösen, was mich zuvor gebun den hatte. Jeder hat das zu tun, der frei sein möchte. Und danach ist auch der Platz zu gestalten, den ein freier
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Mensch in der Welt einnimmt: sein Haus. E: Und wenn das Haus nicht so ausfällt? Th: Ein Haus kann ein Gefängnis sein. Ein fehlerloses Ge fängnis für fehlerhafte Menschen. H: Aber ist das enge Haus nicht eher ein Gefängnis als das weitläufige? Th: Mein Haus ist nicht eng. Es ist 10 Fuß breit und 15 Fuß lang. Offensichtlich weit genug für meinen Körper. Weit genug, die Dinge in meinem Kopf hin- und herzudrehen: zur Zeit meine vorwiegende Beschäftigung. Also auch weit genug für meinen Geist. H: Nach üblichen Maßstäben ist dein Haus eng. Th: Ich zweifle, so gut ich kann, am Üblichen. H: Gut ist nicht gut genug. Das Übliche zeigt sich bisher wenig beeindruckt von deinem Zweifel. Th: Ich weiß, und völlig Unrecht hat es nicht einmal. Ich selber meide die Enge und begehre sie zugleich. Es ist der Zweck eines Hauses, seinem Bewohner die allzu weite Welt einzuengen: Das ist sein wahrer Komfort. Ein enges Haus entspricht diesem Zweck. Ein weites Haus ist ein Widerspruch in sich. Paläste sind ungemütlich. H: Man hat dir welche angeboten und du hast dankend abgelehnt? Th: Wer glanzvolle Weite sucht – auch ich suche sie oft –, der soll nicht von Palästen träumen. Es genügt, dies Haus zu verlassen. Selbst wenn man mein Haus nach üblichen Maßstäben und sogar nach meinem Maßstab eng nennen muss, ist die Landschaft um es herum nach allen Maß stäben weit. Dem Wald bin ich gleichgültig. Es gibt keinen Nachbar, der mich beengt und bedrängt. In der Stadt sind wenigstens die teuren Häuser innen weit, aber von außen beengt durch ständigen Zwang, Rücksicht zu nehmen. E: Und der Glanz? Th: Das Katzengold auf dem Weg vor diesem Cottage glitzert herrlicher in der Sonne als es die Goldvasen in einem Herrenhaus je könnten. H: Im Katzengold lügt eine Natur, die bloß Pyrit ist, dem Auge Gold vor. Th: Als Lüge erscheint es uns nur, weil wir Gold und Geld
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H: E: Th: H: Th: H: Th: H: Th:
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überschätzen. Die Natur sagt immer die Wahrheit. Deiner Wahrheit mangelt, was man seit jeher von ihr forderte: sie solle allgemein gelten. Es gilt jedenfalls nicht für mich, es gilt nicht für Sophia, es gilt überhaupt für viele nicht. Du willst die ganze Menschheit in heiterer Vereinzelung über den Erdball verstreuen? Es würde auch einige säuerliche Vereinzelung dabei unterlaufen. Ihr habt Recht; ich rede nur für mich. Mit anderen Worten: Deine Wahrheit steht und fällt mit deinen eingefleischten Marotten. Dass du nicht gerne Rücksicht nimmst, Henry, ist mir noch aus Concord bestens in schlechter Erinnerung. Ein Fehler, der mich gerettet hat. Wer freie Sicht nach vorne braucht, kann nicht ständig den Blick rückwärts richten, nur weil dort jemand empfindlich sein könnte. Wichtiger als das Haus, das Gebilde aus Holz oder Stein, ist darum der leere Raum in ihm und um es. Das heißt: Leer ist es um es herum ja nicht, sondern voller Luft, Wasser, Erde, Pflanzen, Tiere – aber eben nicht voller Menschen. Nachdem Staat und Gesellschaft den vergeblichen Versuch unternommen hatten, mich zu einem ihnen nützlichen Glied – zu einem Mitglied – zu erziehen, zu einem Beamten zum Beispiel oder zu einem Krämer, habe ich ihnen mit diesem Haus geantwortet. Und meine Antwort liegt nicht in den Brettern und Nägeln, aus denen das Haus gemacht ist, sondern in dem Raum um es herum, aus dem es nicht gemacht ist. Sie lautet: Staat und Gesellschaft sollen mich in Ruhe lassen. Ich will kein Mitglied von was auch immer sein. Bei jeder Art von Karriere räume ich meinen anstelligeren Zeitgenossen den Vortritt ein. Dabei bist du einsam auf eine Art und Weise, dass es die ganze Welt mitbekommt. Am Ende wirst du vermutlich ein Buch über deine Einsiedelei unter die Leute bringen. Das habe ich allerdings vor. Ein natürliches Buch über das natürliche Haus, nehme ich an. Die Ironie wird dir vergehen, solltest du das Buch eines
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Tages lesen. H: Auch eine Karriere in der Gesellschaft, so eine Autoren karriere. Th: Ich habe daran gedacht, das Buch anonym drucken zu lassen. Mir liegt nichts daran, dass mein Name weiter lebt. Nur daran, dass meine Gedanken weiterleben, liegt mir etwas. Und zwar nicht als meine Gedanken, sondern einfach als Gedanken. H: Das findest du vermutlich bescheiden. Es ist das Gegen teil. Den Gipfel der Eitelkeit erreicht ein Autor mit einer anonymen Schrift, die sogenannte Wahrheiten persön lichster Art verewigt. Marotten, in eherne Lettern gegossen. Th: Ich wage kaum noch, dir in die Augen zu sehen. H: Du solltest deiner Inkonsequenz ins Auge sehen: Nach Walden gingst du, um allein zu sein. Allein wolltest du sein, weil du meintest, nur so du selbst sein zu können. Ein Mensch, der ein Buch schreibt, ist nie allein. Immer schaut ihm ein Leser über die Schulter. Bist du aber bücherschreibend zwei, was nützt dir dann die soge nannte Einsamkeit? E: Und belästigen denn Staat und Gesellschaft nur? Bieten sie nicht auch manches? Th: Ich vergesse nie das Datum, an dem ich hier einzog: den 4. Juli 1845. Das war der Freitag, an dem die Bewohner von Concord sich patriotisch einstimmten auf einen Feldzug gegen Mexiko. Dessen Regierung hatte die Annexion von Texas nicht hinnehmen wollen. Staat und Gesellschaft der USA boten Krieg an. Jeder muss wissen, wo er hingehört; ich machte mir selber an diesem Tag das Geschenk der Einsamkeit. E: Selbst du – ein Widerspenstiger, der keine Zähmung duldet – wirst nicht behaupten, Staat und Gesellschaft böten nur Krieg an? Th: Nicht nur; es genügt, dass sie ihn überhaupt anbieten. Frie den gäbe es erst, wenn die Leute nicht nur gegen Kriege, sondern auch gegen Siege wären. Siege machen süchtig. E: Ist nicht ein Yankee immer eher Händler als Soldat? Das sollte helfen gegen Sucht. Jedenfalls gegen die militäri sche.
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Th: In unserem Land ist Krieg die Fortsetzung der Geschäfte mit anderen Mitteln. E: Selbst du hast gelegentlich Geschäfte gemacht. Th: Ich habe hart gearbeitet, und tue es noch. E: Hart? Th: Hart wie der Flaum der Pusteblume, der pausenlos über die Wiesen weht. E: Aber Geschäfte hast du auch gemacht. Th: Keine blutigen. E: Immerhin Geschäfte. Th: Ich kenne die Annehmlichkeiten der Gesellschaft. Und es ist wahr, dass ich mir auch sie so ziemlich – nicht ganz, wie euer Besuch beweist – vom Leibe halte. Darum ist etwas anderes wichtiger als die Landschaft, in der ein Haus steht. Ich meine die Landschaft der Bedürfnisse des Hausbewohners. Was dort wächst, kann jedes Haus zum Gefängnis, zur Falle oder gar zum Sarg machen: im schlechten Sinne eng. Man muss zunächst die Bedürf nisse in ihrem Wildwuchs beschneiden, ehe man ein Haus bauen kann, das befreit statt beengt. H: Gute und schlechte Enge. Ich beginne zu verstehen, was du im Sinn hast. Du gehst aus von der Frage: Was braucht ein Mensch zum Leben? Das Weitere – nicht nur Bauen und Wohnen – ergibt sich daraus. Meinst du es so? Th: Auf der Erde zuhause ist einer nur, sofern er sich in Din gen bewegt, die er selber hergestellt hat. Aber nicht in möglichst vielen Dingen. Was er hat, gemacht hat oder erworben hat, jedoch nicht braucht, schränkt ihn ein. Es steht ihm im Weg. Alles, was nicht nötig ist, stelle ich unter Verdacht. H: Leben wie ein Indianer … Th (lacht): Wie ein Indianer! Als die Spanier in Tenochtitlán einzogen, sahen sie dort ziselierte Geräte aus Schildpatt, Thermophore für Speisen, Gemälde aus Federmosaik, Plafonds aus Schnitzwerk, Parfümzerstäuber. E: Du allein widerstehst dem Unnötigen? Th: Ich halte es nicht aus meinem Leben heraus, weil es un nötig wäre, sondern weil es zum Hindernis des Lebens wird. Wenn ich etwas mache, beschäftigt mich mehr
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noch als, was da entstehen soll, die Frage, was ich weg lassen kann. Als ich vorhin die Seele ins Spiel brachte, meinte ich nichts anderes. Der Gedanke ist kaum so fromm, wie du gefürchtet hast, Sophia, und – feierliche Retraktation – man kann dabei die Bibel aus dem Spiel lassen. Der Christ verzichtet im Diesseits um des Jenseits willen. Ich verzichte im Diesseits um des Diesseits willen. Das heißt: Ich verzichte eigentlich gar nicht. Ich lebe. H: Mich freut, dass wir ohne die Heilige Schrift auskom men und wieder nüchtern geworden sind. Und nüchtern verstehe ich so viel an deiner Immobilienreklame: dies Haus war billig. Th: Allerdings. Es hat mich 28 Dollar und 12 Cents gekostet. Aber mein Ziel war und ist nicht, alles so billig wie mög lich zu bekommen, sondern: meine Sache mit so wenig Hindernissen wie möglich zu treiben. H: Was billig ist, befreit ein Stück weit vom Zwang zur Arbeit. In diesem Sinne hast du dich mit deinem Haus in der Welt so eingerichtet, dass du möglichst frei bist. Th: Die anderen schieben ihr Leben auf – morgen wollen sie damit anfangen, und darauf sparen sie, darauf bereiten sie sich vor. Sie arbeiten für die Zukunft und zahlen mit ihrem Leben; denn die Zukunft macht Bankrott. Ich lebe jetzt. H: So viel ich weiß, ist nur in der Gegenwart zu leben eine Eigenart der Tiere. Befriedigter Tiere. Th: Dann weißt du ja, wer oder was ich bin. Ich selber weiß es mit den Jahren immer weniger. Desto besser, wenn andere es wissen. H: Auch du zahlst einen Preis für das, was du bist: dein Haus verzichtet auf Schönheit. Du verzichtest auf sie. Th: Das meinst du nur, weil du bei Schönheit an Schmuck denkst. H: Warum sollte ich nicht? Th: Schmuck braucht nur der Bau, der scheinen soll, was er nicht ist. H: Aber schöner wäre der Bau mit etwas Schmuck. Th: Du kannst die Einfachheit nicht zieren. Geziertes hört auf, einfach zu sein.
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Also das Einfache suchst du vor allem. Nicht vor allem. Es ist Mittel zum Zweck. Das heißt: Ich suche das einfache Leben nicht, weil es einfach, sondern weil es weniger abhängig ist. Aufs Leben gemünzt, verstehe ich diesen Gedanken. Aber die einfache Gestalt? Sie ist nicht freier als die geschmückte. Was am Ornament ist oder macht abhängig? Lass es mich anders sagen, obwohl du über die Idee vor hin gespottet hast. Vielleicht siehst du sie jetzt klarer. Ich höre dich, aber ich sehe nichts. Die Augen, wie gesagt, musst du mitbringen. Ich rede so anschaulich, wie ich’s vermag: Kein Wesen in der Natur ist enttäuscht von sich. Die Natur kennt kein ›nur‹. Es fällt den Ratten nicht ein, dass sie peinlicherweise nur Ratten sind; sie sind mit ihrem Rattesein zufrieden, ja von ihm erfüllt und durchdrungen. Recht haben sie; dass sie keine Löwen sind, setzt sie nicht herab. So soll man auch kein Cottage bauen, das sich danach sehnt, eine herrschaftliche Residenz zu sein, sondern: Das kleine Haus muss mit seinem Kleinsein zufrieden sein, ja von ihm erfüllt und durchdrungen. Das Unnatürliche in der Gestaltung ergibt die Prätention. Etwas will sein, was es nicht ist. Nicht jede Verzierung ist schon prätentiös, aber alles Verzieren ist gefährdet durch Prätention. An meinem Cottage habe ich gar nichts verziert. Alles ist, was und wie es ist. Mag sein; davon wird es noch nicht schön. Schönheit ist nicht Sache des Schmucks, sondern des Schauens. Hat einer ein kompliziertes Heim, dann muss er in ihm putzen, waschen, wischen sowie umräumen, einräumen, aufräumen, bevor er zum Schauen kommt. Das heißt: Er kommt gar nicht zum Schauen. Er wird zum Hausmeister, aber nicht zum Meister des Hauses. Ist an einer Ecke des Hauses etwas zu Bruch gegangen und gerade ersetzt worden, muss an der anderen Ecke die nächste Sache repariert werden. In solchen Verhältnissen dient der Hausherr dem Haus. Oder er braucht Diener, die er zu beherbergen, zu beaufsichtigen und zu bezahlen hat. So oder so: Menschen werden Werkzeuge
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ihrer Werkzeuge. Dieses Haus hier dient mir. Während andere den Staub von ihren Nippesfiguren wischen, wische ich mir den Staub aus den Augen und schaue mich um. Weil es einfach ist, lässt mein Cottage mir Zeit zum Schauen: in es, aus ihm heraus, durchs Fenster, in mich selbst hinein, oder heute in eure Gesichter. So komme ich zum Schönen: durchs Einfache. E: Du sagst Schönheit und meinst schmucklose Ehrlichkeit. Th schweigt. E: Du verstummst? H: Stille Wasser sind tief, leere Brunnen auch. Th: Vielleicht hast du recht, Lidian. Dennoch hänge ich an dem Wort, Schönheit. Aber was liegt an Worten? Meine eigene langnasige Häßlichkeit ist jedenfalls ehrlich und besser, als eine verlogene Schönheit es wäre. 
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E: Th: E:
Auch ist es ja ganz charmant, dass du für unsere schönen Gesichter Augen hast. Aber die Bedürfnisse, aus denen heraus dein Haus gestaltet ist, sind immer nur deine. Es liegt ein Egoismus darin, der unschön ist. Es ist nun einmal mein Haus. Nur deines?
Abbildung S. 3, S. 33 und S. 48 Henry David Thoreau: Photographie aus dem Jahr 1856. – Zu den 30
aufschlussreicheren literatur-, kultur- und architekturhistorischen Studien über Thoreaus Cottage zählen Marilyn R. Chandler, Walden: »A Manifesto in Wood and Stone«, in dies.: Dwelling in the Text: Houses in American Fiction, Berkeley, CA 1991), S. 23 – 45; William Barksdale Maynard: »Thoreau’s House at Walden«, in: The Art Bulletin LXXXI (1999), Heft 2, 303 – 325; Cecelia Tichi: »Domesticity on Walden Pond«, in: A Historical
Guide to Henry David Thoreau, hrsg. v. William E. Cain, New York 2000, S. 95 – 121; Maura D’Amore: »Thoreau’s Unreal Estate: Playing House at Walden Pond«, in: dies., 35
Suburban Plots: Men at Home in Nineteenth – Century American Print Culture , Amherst, MA 2014, S. 20 – 37 u. 179 – 180. – Seit jeher nimmt der philosophische Dialog aber das Recht freier Abwandlung historischer Figuren in Anspruch. Als Bericht über Thoreaus Aufenthalt in seinem Cottage vom 4. Juli 1845 bis zum 6. September 1847 wäre bereits
Walden missverstanden; das Buch von 1854 fasst diese Lebensphase kunstvoll stilisierend in eine philosophische Predigt vom Wesen menschlichen Wohnens, die Ästhetik in Moral und Moral in Ästhetik überführt.
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Th: Meines, aber nicht für immer. Ich sprach vorhin vom Sichhäuten. Habe ich es einmal als Hülle abgeworfen, wird dieses selbe Haus vielleicht als Kaninchenstall die nen. Henry Thoreaus Cottage, das ihr jetzt schäbig findet, wird dann pompös erscheinen. Das Urteil gilt gar nicht dem Gegenstand, für sich genommen, sondern es gilt ihm im Verhältnis zu seinem Zweck. Und der Zweck braucht nicht der zu sein, den der Entwerfer oder der Erbauer im Sinn hatte; es ist der Zweck dessen, der den Gegenstand jeweils gebraucht. Vielleicht gebraucht er ihn zu einem Zweck, den Entwerfer und Erbauer nie im Sinn hatten. Solche Benutzer kann es viele nacheinan der geben und ebenso viele Zwecke. H: So ungefähr; blieben gar die Bücher im Haus, würden die Karnickel den Raum sicher nicht bloß pompös, son dern, gemessen an ihren schmalen Hirnkästen, trans zendent oder transzendental finden – den Unterschied zwischen beidem habe ich nie ganz begriffen und ihr Transzendentalisten, glaube ich, auch nicht. Gewiss sind beide, der Unterschied und der Raum, für Karnickel zu hoch. Th: Räumt ihr mir das also ein, dann müsst ihr mir auch zu gestehen, dass ich dies Haus jetzt schön nenne, im Ver hältnis nämlich zu meinen Zwecken und Absichten, die ich nun einmal besser kenne als ihr. E: Das meine ich ja. Th: Ich verstehe nicht ganz. E: Ein Mann versteht nie ganz, wenn er mehr auf das Gesicht einer Frau achtet als auf das, was sie sagt. Ich meine: deine Zwecke! Als ob du der einzige Mensch auf der Welt wärest. Etwas so Kleines, Kleinliches kann nicht Schönheit heißen. Erst mit den anderen beginnt sie. Mit uns zum Beispiel, deinen Gästen. Ist so ein karges Haus einladend? Th: Wer als Fremder in mein Haus kommt, hält sich als Fremder in ihm auf. Die Fremdheit bringt er mit, das Haus zwingt sie ihm nicht auf. Den Empfang bereitet sich jeder selber; kein Stück der Einrichtung tut es. E: In dein Haus sind wir ja noch gar nicht gekommen; von
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der Einrichtung haben wir nicht das Mindeste gesehen. Th: Ich habe drei Stühle in meinem Haus; einen für die Ein samkeit, zwei für die Freundschaft, drei für die Gesell schaft. (Er bietet den Frauen, die bisher draußen gestanden hatten, an, einzutreten und sich zu setzen. Sie nehmen Platz; dann setzt er sich selber.) Sind wir mehr als drei, stehen alle. Es ist merkwürdig, wie viele große Männer und Frauen ein kleines Haus fassen kann. Ich habe schon fünfundzwanzig, ja dreißig Seelen nebst deren Körpern unter meinem Dach gehabt, und doch gingen wir oft auseinander, ohne zu merken, dass wir einander sehr nahe gekommen waren. E: An so einem heißen Tag lobe ich mir die prästabilierte Harmonie zwischen der Zahl der Stühle und der anwe senden Personen. Th: Falls du die Prästabiliertheit auf den Herrn der Welt zurückführen oder im Ensemble der Stühle einen Wider schein der Trinität erblicken solltest, würden wir uns wieder Zonen nähern, die Sophia äußerst unangenehm berühren. E: Ich weiß um die Delikatesse meiner Freundin, weshalb ich weder zurückführe noch erblicke noch berühre oder berühren lasse, erst recht nicht unangenehm. Was ich bemerkte, betraf durchaus weltliche Grenzen deiner Gastfreundschaft. Th: Mein Haus hat einen einzigen Raum und so seid ihr in meinem ganzen Haus zu Gast. Sein Inneres liegt für jeden Besucher offen da wie ein Vogelnest. Das ist wand und insofern grenzenlose Gastfreundschaft. Es ist zu gleich Wahrheit. Bei mir hängen, gut sichtbar, Hammer und Kochlöffel an Haken. Ich geniere mich nicht für sie. Ihr sucht Schmuck? Die Werkzeuge meiner Arbeit sind hier der Schmuck. E: Vielleicht fordert dein gut sichtbarer Kochlöffel Gäste auf, ihn selber in die Hand zu nehmen? Andernorts ist man diskreter. Th: Allzu diskret. Wie geht es denn zu in den Häusern, die jetzt überall gebaut werden? Da herrscht der Kult des Zimmers, des Kastens in einem Kasten. Der Gast ist von
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sieben Achteln des Hauses ausgesperrt und in eine besondere Zelle, das Speisezimmer, eingesperrt. Er wird von Küche und Werkstatt ferngehalten, als führe der Hausherr im Schilde, ihn zu vergiften oder zu erschlagen. E: Wilde Einfälle hast du. Th: Wohlbegründete. Alle Arbeit im Haus des Städters wird versteckt. So lügt man mit Wänden. E: Vergiftet zu werden fürchten wir hier nicht gerade, da du uns weder etwas zu essen noch etwas zu trinken anbietest. Th: Ich habe nur einen einzigen Becher. E: Und du bist stolz darauf? Th: Sehr. E: Eine Ratte, Leitstern deiner Gestaltung, kommt ohne jeden Becher aus. Th nimmt den Becher zur Hand, als erwäge er, ihn wegzuwerfen. E: Ich glaube, Sophia, es ist Zeit zu gehen. Th: Nicht nur Flucht aus der Gesellschaft gibt es – auch Flucht in sie kommt vor … E: … sagt der leibhaftige Grund für letztere. Aber was du hier in Saft und Kraft lebst, wird unter deinen Händen ja ohnehin zu Papier eintrocknen. Vielleicht lesen wir es einmal nach. Bei Kaffee und Kuchen. Th: Es tut mir leid, wenn ich euch enttäuscht habe. H: Es wäre nicht das schlechteste Resultat einer Wande rung, Täuschungen zu verlieren. E: Enttäuscht werden kann nur, wer sich im anderen oder in sich selbst getäuscht hat. Th: Vielleicht lebe ich hier nicht ganz und gar richtig – jedenfalls aber weniger falsch als zuvor. E: Angesichts von so viel unverfälschter Natur kehren wir gut gelaunt ins Falsche zurück. Uns erfüllt Vorfreude aufs Überflüssige. Bei den Alcotts, die wie du nie Geld im Hause haben, soll es heute Kuchen geben. Mit Apri kosen. Hättest du auch gerne welchen? Seiʼs auch nur, weil das Kauen zum Schweigen zwingt. Th: Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Sage ich ja, so findet ihr mich inkonsequent in meinem Denken; sage ich nein, so haltet ihr mich für einen Heuchler. E: Wer sich sucht, wird damit bestraft, dass er sich findet.
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H: Selber hat er das aber nicht angestellt. Du hast ihn hinein gestupst in ein gleich schreckliches Ja und Nein. Die Phi losophen, habe ich gehört, nennen das ein Dilemma. E: Und was tut der Mensch, wenn er in ein solches gerät? H: Das habe ich nicht gehört; daher weiß ich es nicht. E (zu Thoreau): Weißt du, was man tut, wenn man in ein Dilemma gerät? Th: Hoffen. E: Worauf? H: Zu dieser Frage kann man nur schweigen – wenn man es kann. E: Ich beharre: Worauf? Auf Aprikosenkuchen? Th: Wer weiß?
Auf dem Weg von Walden nach Concord blieb Sophia einmal ein Stück weit hinter Lidian zurück. Sie wollte sich gerade sputen, den Abstand aufzuholen, als sie durch die Bäume hindurch eine von Tannen umrandete Lichtung erblickte. Das Bild, das diese bot, war von solch gesammelter Kraft, von so eigentümlicher Vollstän digkeit, dass die Wandernde abrupt stehenblieb. Der kleine Aus schnitt Himmel, den sie zwischen den Spitzen der Tannen sah, leuchtete azuren. Mitten auf der Lichtung befand sich ein kleiner Erdhügel, bedeckt mit schön kristallisiertem Pyrit. »Das ist es«, dachte Sophia, nahm einen Brocken des Katzengoldes und hielt ihn den Strahlen der Nachmittagssonne entgegen. Den Winkel, in dem diese auf den Stein fielen, mit der Hand stets abwandelnd, vervielfachte die Finderin das Funkeln der Oberfläche. Die Zeit vergaß sie darüber. 15
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Mit der These, dass Gegenwartsdesign Design in der Gegenwart ist, korreliert der Befund, dass die Designerinnen/ Designer der ›Gegenwart‹ das Feld ihrer ›Gegenwart‹ beobachten müssen, wollen sie sich innerhalb von diesem bewegen.
Prof. Dr. phil. Oliver Ruf lehrt seit 2019 Kommunikationswissenschaft und Medienpraxis an der Hochschule BonnRhein-Sieg und ist dort zudem Co-Direktor des Instituts für Medienentwicklung und
-analyse (IMEA). Zuvor war er 2012 – 2019 Professor an der Fakultät Digitale Medien der Hochschule Furtwangen. Er war Gastprofessor /-dozent u.a. an der Universität der Künste Berlin und der Zürcher Hochschule der Künste, tätig in der Medien- und Gestaltungspraxis und ist Herausgeber der wissenschaftlichen Schriftenreihen Medien- und Gestaltungsäs-
thetik (transcript), Mikrographien / Mikrokosmen (Königshausen & Neumann) sowie Welt / Gestalten (Büchner). Hinzu kommen verschiedene Fellowships und Auszeichnungen, darunter der Essay-Preis der Zeitschrift MERKUR, der Preis des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Jahr der Geisteswissenschaften, der erstmals vergebene Lehrpreis der HFU und der Gewinn im Hochschulwettbewerb 2019 von »Wissenschaft im Dialog«
Künstliche Intelligenz.
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»Archäologisch zählt man nicht vom Anfang bis zum Ende, man rechnet von der Gegenwart zurück.« Knut Ebeling, Wilde Archäologien I (2012)
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I. Ein Zugang zur Gegenwart Das Verhältnis von Design und Geschichte ist bisher u.a. in Bezug auf die Gegenüberstellung von geplantem, vernünftigem, erfolgsorientiertem Handeln des Menschen als Gestaltung von bedarfsbedingten Systemen zur Steigerung eines gewissen Wertbewusstseins in bestimmten zeitlichen, auch epochalen Abschreitungen untersucht worden. Dies beginnt oftmals mit der Betrachtung der Massenproduktion von Konsumgütern in der industriellen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und blickt in vielen Fällen auf die Entwicklungen und Entscheidungen im Entwurfswesen, die Steuerung von Materialbildungen und die leitenden Operatoren sozialer Vermittlung. Der Begriff ›Designgeschichte‹ wurde dabei, wie dies etwa John Walker getan hat,1 als Katalysator einer wissenschaftlichen Disziplin sowie, mit Bernhard Bürdek,2 als Ausdruck der Entwicklung der Produktgestaltung in Anschlag gebracht: Hinweise auf Produkte, Unternehmen und Entwerfer demonstrieren hier, wie es bei Bürdek heißt, »signifikante Entwicklungen und deren Auswirkungen«3 im und auf das Design. Weitere, wichtige Meilensteine für derartige Annäherungen an eine Bestimmung des Verhältnisses von Design und Geschichte sind, um nur einige wirkmächtige Bücher zu nennen: John Hesketts Design. A Very Short Introduction, Guy Juliers The Culture of Design, Penny Sparkes An Introduction to Design and Culture, Jonathan Woodhams Twentieth-Century Design, David Raizmans History of Modern Design und nicht zuletzt Gert Selles Geschichte des Design in Deutschland.4
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1 Vgl. John A. Walker: Designgeschichte. Perspektiven einer wissenschaftlichen Disziplin , München 2005. 2 Vgl. Bernhard E. Bürdek: Design: Geschichte, Theorie und Praxis der
Produktgestaltung, Basel 2005. 3 Ebd., S. 17. 4 Vgl. John Heskett: Design. A Very Short Introduction, Oxford 2005; Guy Julier: The Culture of Design, London u.a. 2007; Penny Sparke: An Introduction to Design and Culture: 1900 to the Present, London / New
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Die vorliegende Skizze wählt dagegen einen verschobenen Zugang für eine Sicht auf das Verhältnis von Design und Geschichte, wenn sie den in dieser Reihung als Zweites genannten Begriff zunächst zurückstellt und dem erstgenannten einen anderen, neuen Begriff an die Seite gibt. Es wird also eine andere, jedoch, so die These, gleichermaßen bedeutsame Relation ins Zentrum der Überlegungen gerückt. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass der Begriff der ›Geschichte‹ – insbesondere aus der Perspektive einer Philosophie des Designs5 – für eine Beobachtung und Beschreibung für das Funktionieren wie für die Charakterisierung von Design in gewisser Weise unzureichend ist bzw. in vielen Fällen zu weit geht, vielleicht auch: zu viel möchte oder: zu viel verlangt, zu viel erfordert. Von der Entfaltung der Wirksamkeit von Erscheinungen des Designs ausgehend stellt das Folgende daher einige Vorschläge zur Relation von Begrifflichkeiten an, um vor dieser Folie die Idee des ›Designs mit Geschichte‹ kritisch ( philosophisch) zu reflektieren. Zurückgegriffen wird dazu auf die neuere, kulturwissenschaftlich orientierte Theorie, die sich in vehementer Weise wiederum explizit mit dem Begriff der ›Geschichte‹ auseinander gesetzt hat6 und diesem jenen anderen, hier stark gemachten Begriff zur Seite stellt: denjenigen der ›Archäologie‹. Die Opposition von ›Geschichte‹ und ›Archäologie‹ hat dabei insbesondere Knut Ebeling in der »qualitativen Differenz ihrer Zeitlichkeiten«7 identifiziert: Während der Historiker (als Repräsentant einer Wissenschaft, die sich der Geschichte annimmt) die Vergangenheit erforsche, suche der Archäologe nach dem darin aufzuspürenden Wirksamen, nach zu Codierendem bzw. nach dem, was neue Zeitlichkeiten einstelle: nach dem, so formuliert es Agamben, »Ort einer Operation, die ihre Wirkung jeweils erst aktualisieren muss.«8 Entsprechend wurde die Idee der Archäologie
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York 2013; Jonathan Woodham: Twentieth-Century Design, Oxford 1997; David Raizman:
History of Modern Design , London u.a. 2010; Gert Selle: Geschichte des Design in Deutschland, Frankfurt a. M. 2007. Siehe außerdem auch Enrico Morteo: Design-Atlas. Von 1850 bis heute, Köln 2015; Thomas Hauffe: Die Geschichte des Designs im Überblick. Von der Industrialisierung bis heute, Köln 2017; ders.: Geschichte des Designs, Köln 35
2014. 5 Siehe dazu auch Glenn Parsons: The Philosophy of Design, Cambridge 2015; Daniel Martin Feige: Design. Eine philosophische Analyse , Berlin 2018; Florian Arnold:
Logik des Entwerfens. Eine designphilosophische Grundlegung, Paderborn 2018. 6 Siehe dazu etwa auch Friedrich Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000. 7 Knut Ebeling: Wilde Archäologien I. Theorien der materiellen Kultur von Kant bis
Kittler, Berlin 2012, S. 13. 8 Giorgio Agamben: Signatura rerum. Zur Methode. Frankfurt a. M. 2009, S. 58. 9 Siehe u.a. Immanuel Kant: Geographische und andere naturwis-
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als Denkfigur wie als epistemische Praxis aufgeschlüsselt und ihr vier auf sie rekurrierende Praktiken zur Seite gestellt – eine Archäologie der Metaphysik à la Kant, eine Archäologie der Seele im Sinne Freuds, eine Archäologie der Moderne im Benjaminschen Verständnis, eine Archäologie des Wissens nach Foucault und eine Archäologie der Medien gemäß Kittler.9 Mit diesen Gewährsmännern im Rücken konnte so eine der klassischen Historie gegenüber stehende, projektive Methodik formuliert werden, die Wissenstransferierungen neu verdeutlicht.10 Was bislang aber ausgeblieben ist, ist die Übertragung der Archäologie auf Bereiche jenseits der genannten Disziplinen – ein Befund, der, so die vertretene Annahme, vor allem die Künste einschließlich ihrer angewandten und funktionalen Formen bzw. konkret: der Gestaltung und des Designs betrifft. Dabei zeichnet sich dieses Gebiet auch dadurch aus, dass es sich eindeutigen historischen Zuschreibungen und Tendenzen (Epochenzuteilungen etwa oder Umbruchzeiten) vehement zu verweigern sucht; die Erforschung des Designs aus einem archäologischen Blickwinkel drängt sich geradezu auf und stellt zugleich ein Desiderat designwissenschaftlicher11 Betrachtung dar. Die, wie sie an dieser Stelle genannt werden soll und wie sie hier auch zum ersten Mal hiermit überhaupt genannt wird, ›Designarchäologie‹ stellt somit eine zu schließende epistemologische Lücke dar und verlangt nach Vorschlägen zu deren Schließung. Erste Schritte in diese Richtung sollen im Folgenden skizziert werden, indem die grundlegenden Ordnungen der oben kurz angedeuteten Gegenüberstellung von Geschichte versus Archäologie behandelt werden, um dann dieses Konzept auf dem Feld des Designs theoretisch zu entfalten. Zur Sprache kommen wird an dieser Stelle u.a. die These, dass sich hinter der Rede von einer Designarchäologie die Vorstellung einer ›Genealogie‹ zu verbergen sucht, d.h. einer
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senschaftliche Schriften, Hamburg 1985; Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt a. M. 1999; Walter Benjamin: Berliner Chronik, Frankfurt a. M. 1970; Ders.: Das Passa-
gen-Werk, Frankfurt a. M. 1983; Ders.: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Gießener Fassung, Frankfurt a. M. 2000; Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1971; ders.: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a. M. 1972; ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976; Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, hrsg. v. Friedrich A. Kittler, Paderborn 1980; ders.: Aufschreibesysteme 1800 / 1900 , München 2003. 10 Siehe dazu insgesamt erneut Ebeling: Wilde Archäologien I, a.a.O. 11 Siehe dazu auch Hand-
buch Designwissenschaft. Theorie – Praxis – Geschichte, hrsg. v. Oliver Ruf u. Thomas Hensel, Stuttgart 2018.
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dann doch zumindest historisch geprägten Methode, die aber in erster Linie Entwicklungsanalysen und Freilegungen anstrebt, um einen, so wiederum Agamben, »Zugang[] zur Gegenwart«12 zu ermöglichen: Designarchäologie erforscht die Zeit – Vergangenheit und auch Gegenwart – und sie beschäftigt sich währenddessen sowohl mit Monumenten als auch mit Dokumenten;13 sie geht hinter die Zeit zurück14 und »erforscht also gewissermaßen den Zugang oder den Grund der Gegenwart«15 oder auch: »den Boden, aus dem wir stammen).«16
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II. Was ist Gegenwartsdesign? Ist diese Gegenwart ein Archetyp und Ausgangspunkt des Designs? Ist sie darin fixierte kulturelle Praxis, fiktives bzw. ästhetisches Produkt der sie umgebenden gegenwärtigen Unmittelbarkeit? ›Gegen-wärtig‹ ist etwas, das einem selbst erkennbar gegenübersteht. Zu dieser körperlichen Präsenz tritt die geistige Gegenwart, die Vergegenwärtigung von etwas Abwesendem. Damit gibt die Gegenwart eine Vorstellung von Zeit, die auch Vergangenheit und Zukunft umfasst: Es gibt nur Gegenwart; die Vergangenheit ist die erinnerte, die Zukunft die erhoffte Gegenwart. Wird dieser Gedanke als Formel verstanden (über die Form des Begriffs wird die Zeit, aber auch der Raum in einer Konstellation erfasst), stellt sich die Frage, was Design zu vergegenwärtigen vermag? Dessen Gegenwart wandelt sich beständig, mit jedem neuen Entwurf, jeder neuen Form oder jedem neuen Produkt. Wer von Gegenwart spricht, hat davon eine induktiv gewonnene ›sinnliche Gewissheit‹ im Sinne Hegels, kein deduktiv abgeleitetes, überprüfbares Wissen: Hegel schreibt mithin den Satz ›Jetzt ist die Nacht‹ in der Nacht auf; seine Wahrheit kann weder durch das Aufschreiben noch durch das Aufbewahren schwinden; das ›Jetzt‹ bleibt erhalten, auch am nächsten Tag, aber als etwas, das ›jetzt‹ nicht ›Nacht‹ ist.17 Die ›Gegenwart‹ ist ein mit der Zeit wandelbarer und sich wandelnder Begriff; er wird bestimmt durch die Differenz zu dem, was nicht mehr Gegenwart ist. Die Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit erscheint dabei besser einschätzbar, wirft man einen
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12 Agamben: Signatura rerum , a.a.O., S. 127f. 13 Vgl. Ebeling: Wilde Archäologien I , a.a.O., S. 13. 14 Vgl. Agamben: Signatura rerum, a.a.O., S. 130. 15 Ebd., S. 13. 16 Michel Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders.: Von der Sub-
version des Wissens, Frankfurt a. M. 1987, S. 69 – 90, hier S. 87. 17 Siehe dazu ausführlich Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M.
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kurzen Blick auf ihr Verhältnis zum Design und schränkt dazu jene Differenz auf eine solche Zeit ein, in der sie als deren Ausdruck erfahren wird: Dann ist Gegenwartsdesign das Design, das Design erinnen / Designer und Nutzerinnen / Nutzer als Zeitgenossen eint. Ihr gemeinsamer Gegenstand ist die entwerfend gestaltete Gegenwart. Der Nominalgenitiv ›Gegenwart‹ im Begriff ›Gegenwarts design‹ ist hier Subjekt und Objekt zugleich: Die ›Gegenwart‹ ist (1.) Objekt des Designs, d.h. als Zeit, in der Design entsteht, unabhängig davon, ob sich das Entstehende mit dieser ›Gegenwart‹ befasst – so gesehen, ist Gegenwartsdesign Design in der Gegenwart; die ›Gegenwart‹ ist (2.) Subjekt des Designs, d.h. als Impuls, als Motiv oder als Thema, gelegentlich sogar als Akteur – so gesehen ist Gegenwartsdesign Design über die Gegenwart. Ad (1.) Dass Gegenwartsdesign Design in der Gegenwart ist, heißt, sie mit Bourdieu innerhalb eines geradezu dynamischen (Kraft-) Feldes zu verorten, auf dem um die Veränderung der Kraftverhältnisse gleichsam permanent gerungen wird. Dies ist eine Perspektive, die eine treibende Kraft den Akteuren innerhalb dieses Feldes zuschreibt, was den Willen zur Anhäufung von ökonomischem wie symbolischem Kapitel umfasst, mit deren Hilfe sich Einflussund Wirkungsbereiche stabilisieren oder vergrößern lassen.18 Von diesen Auseinandersetzungen werden nicht nur die Gruppendynamiken und institutionellen Zuordnungen im Feld des Designs bestimmt; auch das Selbstverständnis und der Habitus einzelner Designerinnen und Designer, ihre ästhetischen Programme und Entwurfsweisen sind davon entscheidend geprägt. Letztlich ist so jedes einzelne gestalterische Werk selbst »als intentionales Zeichen« dieser Auseinandersetzungen zu verstehen, »das von etwas anderem beseelt und bestimmt wird, dessen Symptom es auch ist.«19 Innerhalb des Feldes ist also die Frage, was die ›Gegenwart‹ des Designs ist, in den Selbst- und Fremdzuschreibungen, was eine Designerin / ein Designer sei, was ein ›Produkt‹ sei, wie man sich als Designerin / Designer in der Öffentlichkeit verhalten müsse und wie sich finanzielles oder symbolisches Kapital akkumulieren ließe, beantwortet. Diese Zuschreibungen betreffen die Praxis einer Kultur, die – so ein Wort Hans Magnus Enzensbergers – »auf keine Kuhhaut«20 geht. 05
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1986. 18 Siehe dazu Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literari-
schen Feldes, Frankfurt a. M. 1999. 19 Ders.: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 16. 20 Hans Magnus Enzensberger: »Verunstaltung
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Für die ›Gegenwart‹ des Designs bedeutet dies: Was die Designerin / der Designer ›gegenwärtig‹ zur Designerin / zum Designer werden lässt, ist im Rahmen der Programme, Institutionen, Strukturen, Gesetzmäßigkeiten, Handlungs- und Rollenmuster des kulturellen Feldes immer schon vorbestimmt und wird doch immer wieder neu ermittelt; und: auf diesem Feld kann es die ›naive‹ Designerin / den ›naiven‹ Designer nicht geben, also keine / keinen, die / der von den Mechanismen jenes Feldes gar nichts weiß und ›einfach nur so‹ entwirft / oder gestaltet. Designerinnen / Designer operieren mithin immer schon mit implizitem und explizitem Wissen über den Betrieb, in dem sie sich bewegen, und je nachdrücklicher sie sich professionalisieren, umso routinierter erwerben sie sich ihr Wissen und setzen es ein. Die ›Gegenwart‹ des Designs betrifft also die Elemente, die Wissensbestandteile des kulturellen Feldes bzw. des Kulturbetriebs,21 den u.a. die Parameter ›Öffentlichkeit‹, ›Wettbewerb‹, ›Pluralität‹, ›Medialität‹ und ›Professionalisierung‹ begrifflich konstituieren. Diese Dimension hat einen stark informellen, diskursiven und performativen Charakter und der Weg der Designerin / des Designers zur Nutzerin / zum Nutzer ist aus dieser Perspektive vermittelt durch eine öffentliche Instanz, die werbenden, auswählenden oder präsentierend-performativen bzw. analysierenden Charakter hat. Oft sind die ›Medien‹ Träger dieser Vermittlung, und zwar sowohl in Gestalt der Kommunikationsprozesse zwischen Designerin / Designer und Nutzerin / Nutzer, in Gestalt der jeweiligen Institution sowie in Gestalt der materialen Träger der Kommunikation. Dieses komplexe Zusammenwirken zwischen Produktion, Distribution und Rezeption ist als eine Art ›Schaltkreis‹ vorstellbar, in dem viele Signale nach bestimmten Regeln so aufeinander abgestimmt sind, dass ein erwartbarer Ablauf stattfindet. Ad (2.) Mit der These, dass Gegenwartsdesign Design in der Gegenwart ist, korreliert der Befund, dass die Designerinnen / Designer der ›Gegenwart‹ das Feld ihrer ›Gegenwart‹ beobachten müssen, wollen sie sich innerhalb von diesem bewegen. Von ihnen gefordert ist ein ›kreatives‹ Leben:22 Sie müssen um die Designs ihrer 05
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durch Veranstaltung. Eine Glosse über das Entbehrliche«, in: Ders.: Zickzack. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1997, S. 162. 21 Siehe dazu u.a. Werner Heinrichs: Der Kulturbetrieb.
Bildende Kunst – Musik – Literatur – Theater – Film, Bielefeld 2006. 22 Siehe dazu einmal mehr Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher
Ästhetisierung, Berlin 2012. 23 Beat Schneider: Design – Eine Einführung. Entwurf im
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Designer-Kolleginnen und Kollegen wissen und sich über ihre Entwurfsweisen und -muster klar werden; sie müssen Moden und Trends zumindest wahrnehmen ebenso wie sie gegenwärtige Gestaltungen selbst zu nutzen haben; sie müssen informiert sein, die Designlandschaft sondieren, Events kennen, kulturpolitische / -ökonomische Entwicklungen lokalisieren und schließlich up to date bleiben mit dem, was die gegenwärtigen Kräfteverhältnisse im Feld stabilisiert, irritiert oder verändert. Stabilität – Irritation – Veränderung: Die ›Gegenwart‹ des Designs ist kein starres Gebilde; sie ist fortlaufend im Fluss. Die Akkumulation von Wissen über sie kann verdeckter oder offener ablaufen; sie kann mehr oder weniger Zeit in Anspruch nehmen, einen direkteren oder indirekteren Einfluss auf das Gestalten und das Gestaltete nehmen. Rückkoppelungen mit dem benannten Betrieb gestalten letzten Endes ein kulturelles (und auch: ästhetisches) Praxiswissen, das durch ständigen Kontakt mit dem Feld korrigiert und erweitert wird – eine Maxime, die schon immer die Produktion des Designs beeinflusst hat, die aber gleichzeitig nicht unproblematisch ist. Wie kann, um auf die Ausgangsfrage zurück zu kommen, diese Designgegenwart freigelegt und aufrechterhalten werden? Die Archäologie fragt nach dieser Prozessualität: Sie fragt danach, wie sich im Design Gegenwart zeigt und was die existenten Formen, Funktionen und Systeme von Design – nicht dieses oder jenes einzelnen Werkes – über die Herkunft, die Verfassung und den Erfolg von Design schlechthin sagen. Die Archäologie denkt in der Betrachtung des Designs gegenwartsbezogen nach. Dieses Programm und dessen Grundthese, die im Folgenden nochmals zusammengefasst werden, deuten darauf hin, dass Design in einer Gelingensbedingung von Gegenwärtigkeit besteht.
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III. Vom Suchen und Finden Die Designtheorie ist mit der konstitutiv gegenwärtigen Dimension der Archäologie durchaus vertraut. Beispielsweise wurde Design bereits als spezifische Methode in der Herangehensweise zur Welt qualifiziert, die neue, bildhaftes Wissen über diese Welt generiere.23 Insbesondere die Wissensgenerierung respektive »Wissensbestimmungen« sind dabei »untrennbar an die Analyse ihrer materialen, medialen, ästhetischen und technologischen Bedingungen sowie ihrer gesellschaftswirtschaftlichen Anwendungskontexte
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gebunden«:24 An gestalteten Objekten kann Wissen diskursiv verhandelt werden und in ihnen materialisiert es sich auch. Es handelt sich aber um ein Wissen, das nicht unbedingt oder besser: nicht zwangsläufig zu erwarten ist. Angesprochen ist damit jene Dimension der Operativität und Wirksamkeit archäologischer Struktur, die an anderer Stelle als Solidarität »mit dem Unerwarteten« bezeichnet wird, da Archäologie »Unabsehbares, Destruiertes, Diskontinuierliches« zumeist findet:25 Allein schon die Tatsache, dass die Aktivität des Findens zu ihren selbstverständlichen Szenarien gehöre, spreche dafür, dass das Unwahrscheinliche sich hier gewissermaßen in den Alltag einfügt. Denn wenn man Geschichte schreibt, stellt man zunächst einmal eine Kontinuität her, die alles Unwahrscheinliche und Unerwartete ausschließt. […] Allein das Medium der Geschichte, der Zeitstrahl, ordnet alles auf der beruhigenden Skala des Erwartbaren an. Bei allen Komplizierungen in der Zeit verfolgt ihre Linie stets das Selbe innerhalb eines Mediums zurück. Die Archäologie hingegen bringt das Andere an den Tag. Wenn man unter einer Stadt gräbt oder eine Siedlung entbirgt, ist man stets auf das Überraschende gefasst. Dieser Befund gilt sowohl für die klassischen als auch für die abgewandelten Archäologien. Auch die sexuellen Objekte, die eine Archäologie der Seele hervorbrachte, waren zunächst erstaunlich und schockierend – zumal sie von den selbst erzählten Geschichten der Patienten mehr oder weniger krass abwichen. Ein anderes Beispiel ist [erneut] Benjamin, der bei seiner Archäologie der Moderne nicht nur die Architektur der Passage fand – sondern auch deren nicht ins Kalkül gezogene Wirklichkeitsbedingung, die Eisenbahnschiene. Und selbst die medialen Gegenstände, die von der Archäologie der Medien hervorgebracht werden, sind von ganz anderer Art als das literarische oder historische Wissen, das mit ihrer Hilfe vervollständigt wird.26
sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext, Basel 2005, S. 276. 24 Claudia Mareis: Design als Wissenskultur. Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, Bielefeld 2011, S. 10 f. 25 Ebeling: Wilde Archäologien I, a.a.O., S. 16 f. 26
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Wenn Archäologie mithin das Unerwartete erforscht, ist sie selbst immer kulturell konnotiert; sie ist ein »privilegiertes Medium der Selbstbeschreibung von Kulturen«:27 »In der Archäologie gräbt eine Kultur sich selbst aus. Im undurchsichtigen Fundstück wird sie sich selbst intelligibel. Das archäologische Objekt ist dasjenige fehlende Element, das eine Kultur oder eine Epoche braucht, um sich selbst zu verstehen – gleichgültig, ob es sich um ein archäologisches Artefakt handelt oder um Metaphysik, Seele oder Medium.«28 Oder, wie es hier unterstrichen werden soll, ob es sich um ein gestaltetes Objekt, ein Artefakt, ein System, ein Projekt oder einen Prozess des Designs dreht. I n jeder Archäologie konstruiere der Archäologe (und mit ihm eine ganze Kultur) – so noch einmal Ebeling – einen fehlenden Gegenstand, der alles andere verständlich mache: »Archäologie heißt also zunächst die Kunst der Konstruktion eines missing link zum Selbst. Erst wenn eine bestimmte Zeit sich in einem spezifischen Objekt kristallisiert, das sie als ihren fehlenden Schlüssel betrachtet, kommt es zur Formulierung oder Konstruktion einer Archäologie.«29 Archäologie wird konstituiert und konstituiert sich aus dieser Sicht in drei miteinander verwobenen und voneinander abhän gigen Gesten: (A.) in der »Suche nach unseren aktuellen kulturellen Konstruktionen von Verborgenheit, in denen sich eine Kultur [gleichsam] ihre Bedeutung zuflüstert«; (B.) in der »kulturelle[n] Operation, die diese Suche und diese Selbstbeschreibung ermöglicht«; und (C.) in der signifikanten »Kunst des Suchens«: »Archäologie heißt die Konstruktion einer Suche, die eine Bedeutung zuallererst produziert. Sie ist die Kunst, nach einem Anderen zu suchen, um sich selbst zu finden – und diesem Anderen ständig neue Namen zu geben.«30 Der, wie Foucault ihn genannt hat, »heiße[] Begriff«31 der Archäologie nimmt damit in der Debatte um das Privileg, welche Disziplin was, wie und wozu über Vergangenheit und Gegenwart aussagt, mindestens einen prominenten Platz ein. Der Begriff selbst verweist zwar mit der Bestimmung ἀρχαῖος / archaios = ›alt‹ und lógos = ›Lehre‹ auf die Dimension einer Kunde vom Alten und des Alters. Ausgegangen wird hier allerdings immer von den materiellen Hinterlassenschaften des Menschen, etwa von seinen Gebäuden, Werkzeugen und Kunstwerken – auch im näheren und
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Ebd., S. 17. 27 Ebd., S. 18. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 18 f. 31 Michel Foucault: Der
Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M. 1977, S. 8.
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nahen Jetzt. Im Mittelpunkt steht die Ebene der Wahrnehmbarkeit »einer ganzen Reihe von Transformationen der materiellen Kultur«,32 d.h. eine grundsätzliche Eingelassenheit von Strukturen in Materialisierungen von Form. Die wissenschaftliche Arbeit mit ihnen hat ihren Ausdruck im Übrigen vor allem in den angelsächsischen material culture studies erhalten, die u.a. in dem von Daniel Miller herausgegebenen Band Materiality oder in dem Joana Sofaer herausgegebenen Band Material Identities erklärt werden.33 Diese Hinwendung zum Materialhaften und zu den Materialitäten archäologisch zu untersuchender Felder ist maßgeblich für den Eindruck einer, so Detlef Rößler, »archäologischen Offensive der Geisteswissenschaften«,34 die die Erkenntnis verbreitet, dass man Vergangenheiten wie Gegenwärtigkeiten ausgraben, berechnen und auch lesen kann.35 Christian J. Emden formuliert dies im Zuge seiner Studie zu Walter Benjamins Archäologie der Moderne bzw. zur Kulturwissenschaft um 1930 folgendermaßen: »Am Anfang der modernen Archäologie steht das Faszinosum, dass unter der dünnen Schicht der Gegenwart eine vergessene Welt verborgen liegt«,36 dass man mithin bestimmte »Verbindungen zwischen Verborgenheit und Ausgrabbarkeit, Unsichtbarkeit und Berechenbarkeit«37 frei zu legen vermag und dies auch vor der Folie eines ›weiten‹ MaterialBegriffs. Jene »Abbrüche, Zäsuren, Schocks, Diskontinuitäten [und] Schnitte«,38 die Karl Schlögel in der historiographischen Erschließung insbesondere des 20. Jahrhunderts vermisst, sind denn auch die Sache der Archäologie:
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Ihre Sache ist es, nicht mehr nur zu lesen, sondern auch zu sehen, und historische Zeiten nicht mehr auf dem Zeitstrahl, sondern in Räumen zu verteilen. Gegen die Linearität starrer Chronologien wirken die unaufgeräumten Wissensgeschichten [der] Archäologie […] mit ihren Schichten und Blöcken, Verschiebungen und Verwerfungen wie Wunderkammern, angefüllt mit materialisierter Zeit.39
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32 Ebeling: Wilde Archäologien I, a.a.O., S. 31. 33 Vgl. Materiality, hrsg. v. Daniel Miller, Durham / London 2005; Material Identities , hrsg. v. Joana Sofaer, Malden MA u.a. 2007. Siehe dazu etwa auch Hans-Peter Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005; Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen , hrsg. v. Hans-Peter Hahn u.a., Stuttgart / Weimar 2014; Ästhetik der Materialität, hrsg. v. Christiane Heibach u. Carsten Rhode, Paderborn 2015. 34 Detlef Rößler: »Foucault und
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Da sich nun gerade kulturelle Organisationsstrukturen in ihrer Materialität jedoch nicht einfach zeigen, kommt Praktiken der Visualisierung und der Repräsentation im Kontext der archäologischen Betrachtung bzw. des epistemischen Charakters des Archäologischen große Bedeutung zu. Bevor diese Praktiken vorgestellt werden können, muss – einmal mehr – auf den Gehalt des auch hier privilegierten Begriffs des ›Materiellen‹ zurückgekommen werden. Vilém Flusser hat ihn in einem erstmals 1991 veröffentlichten Aufsatz, der später ebenfalls in Lob der Oberflächlichkeit und in Medienkultur wieder abgedruckt worden ist, in der ihm eigenen Weise ausgeführt – ich zitiere etwas ausführlicher:
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Das Wort materia ist das Resultat des römischen Versuchs, den griechischen Begriff hylé ins Lateinische zu übersetzen. Hylé meint ursprünglich ›Holz‹, und so etwas wird auch das Wort materia gemeint haben, wie aus dem spanischen Wort madera noch zu ersehen ist. Aber als die griechischen Philosophen zum Wort hylé gegriffen haben, dachten sie dabei nicht an Holz im allgemeinen, sondern an jenes Holz, das in Tischlerwerkstätten lagert. Es ging ihnen nämlich darum, ein Wort zu finden, in welchem ein Gegensatz zum Begriff ›Form‹ (griechisch morphé) ausgedrückt werden könnte. Also meint hylé etwas Amorphes. Die Grundvorstellung dabei ist folgende: Die Welt der Erscheinungen, so wie wir sie mit unseren Sinnen wahrnehmen, ist ein unförmiger Brei, und hinter ihr sind ewige, unveränderliche Formen verborgen, die wir dank des übersinnlichen Blicks der Theorie wahrnehmen können. Der amorphe Brei der Er-scheinungen (die ›materielle Welt‹) ist eine Täuschung, und die dahinter verborgenen Formen (die ›formale Welt‹) sind die Wirklichkeit, die dank der Theorie entdeckt wird, indem man erkennt, wie die amorphen Erscheinungen in die Formen
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die Archäologen«, in: Die Aktualität des Archäologischen – in Wissenschaft, Medien und Küns35
ten, hrsg. v. Knut Ebeling u. Stefan Altekamp, Frankfurt a. M. 2004, S. 118 – 134, hier S. 121. 35 Vgl. Ebeling: Wilde Archäologien I, a.a.O., S. 43. 36 Christian J. Emden:
Walter Benjamins Archäologie der Moderne. Kulturwissenschaft um 1930, München 2006, S. 80. 37 Ebeling: Wilde Archäologien I, a.a.O., S. 43. 38 Karl Schlögel: Im Raume
lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München / Wien 2003, S. 503f. 39 Ebeling: Wilde Archäologien I, a.a.O., S. 53.
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fließen, sie füllen, um dann wieder ins Amorphe hinauszufließen. Wir kommen dem Gegensatz hylé – morphé oder ›Materie – Form‹ näher, wenn wir das Wort ›Materie‹ mit ›Stoff‹ übersetzen. Die materielle Welt ist das, was in Formen gestopft wird, sie ist das Füllsel für Formen.40
Form und Material – das sind Grundbegriffe, die in einem archäologischen Zugang Materialitäten und Formen zu »Objekten des Wissens«41 machen, zu Objekten, die in einem intrinsischen Zusammenhang stehen, in einem Zusammenhang, den etwa Volker Albus im Hinblick auf dasjenige problematisiert hat, was in der Regel ›gutes Design‹ auszeichnen soll: Nicht nur aus der Sicht von Traditionalisten definiere sich dieses bis heute nicht allein über die Funktion; auch für den aufgeklärten Laien bilde die rational ermittelnde Formfindung die überragende Grundlage sämtlicher Facetten der Gestaltung.42 Als Exempel dient Albus die 1976 im Internationalen Design Zentrum Berlin (IDZ) gezeigte (und vehement kritisierte) Ausstellung Kontinuität im Leben und Werk. Arbeiten 1955 – 1975 von Ettore Sottsass. Dieser formuliert im gleichnamigen Ausstellungskatalog die These, dass es
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keine Lösung für einen Entwurf gibt, die nicht berechtigterweise auch eine andere Lösung sein könnte, und wenn dies mehr oder minder stimmt, ging es darum, eine Methode des Entwerfens in Bewegung zu setzen, die nicht so sehr um die ›perfekte Form‹ bemüht ist, um die ideale Form oder die Idee von der Form, als vielmehr um die Methode der Suche nach der Form.43
Designarchäologie meint diese Suche nach der Form, die aus Material besteht. Es handelt sich generell, wie Christiane Heibach und Carsten Rhode in dem von ihnen herausgegebenen Band Ästhetik der Materialität hinsichtlich des New Materialism schreiben,
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40 Vilém Flusser: »Der Schein des Materials«, in: ders.: Medienkultur, Frankfurt a. M. 1997, 35
S. 216 – 222, hier S. 216 f. 41 Ebeling: Wilde Archäologien I, a.a.O., S. 67. 42 Vgl. Volker Albus: »Versuchslabor Galerie: Über die Funktion experimentell angelegter ›Objektmöbel‹ «, in: Design Kulturen. Der erweiterte Designbegriff im Entwurfsfeld der Kulturwis-
senschaft, hrsg. v. Yana Milev, München 2013, S. 197 – 209, hier S. 197. 43 Ettore Sottsass: Kontinuität von Leben und Werk Arbeiten 1955 – 1975, Berlin 1976, S. 25. 44 Christiane Heibach / Carsten Rhode: »Material Turn?«, in: Ästhetik der Materialität, hrsg. v. Christian Heibach u. Carsten Rhode, a.a.O, S. 9 – 30, hier S. 14. 45 Sophia Prinz:
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nicht um eine Rückkehr zu einem simplen Primat des konkreten Dings, sondern um ein komplexes wissenschaftliches Narrativ, das materielle und dingorientierte Aspekte in der Beschreibung von Kultur und Gesellschaft zwar in den Vordergrund rückt, ihre immateriellen Ordnungs- und Spiegelungsfunktionen aber nicht leugnet und Dinge als Akteure von Netzwerken kultureller Prozesse versteht.44
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IV. Systeme und Strukturen In Frage steht allerdings, wie eine Archäologie des Designs vor diesem Hintergrund genauer zu fassen ist. Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive lassen sich vier Aspekte benennen, die eng miteinander zusammenhängen, aus Gründen der Heuristik hier aber nacheinander behandelt werden, und die vornehmlich den Gebrauch respektive den Gebrauchswert von Design in der Alltagskultur betreffen: (i.) geht es um die »materielle Widerständigkeit« und »räumliche Ausdehnung« von Design: »Zum einen setzen sie dem körperlichen Bewegungs- und Handlungsspielraum manifeste Grenzen, zum anderen ermöglichen sie aber auch Praktiken, die ohne sie gar nicht durchführbar wären« – eine Beobachtung, die mit Bruno Latour als ein mehr oder weniger flexibles »Aktionsprogramm« bezeichnet werden kann,45 das den Dingen aufgrund der Form, Beschaffenheit und Zusammensetzung ihrer materiellen Gestalt innewohnt. (ii.) ist die »sinnlich-ästhetische Ordnung«46 des Designs hervorzuheben. Zu denken ist hier sowohl an die fundamentale Operativität von »Schönheit, Reinheit und harmonischer Form«,47 wie sie schon Adolf Loos als – im Sinne Rancières – ästhetisches Regime explizit anti-historisch in Ornament und Verbrechen betont, als auch an deren Antonyme und Oppositionen: an das ›Unästhetische‹, das ›Unreine‹. Hinzu kommt eine »›Aufteilung des Sinnlichen‹«, die beeinflusst, wie uns die Welt und unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten darin erscheinen – »welche Aspekte und Relationen wir als signifikant erachten und welche aus dem Gesichtsfeld ausgeklammert werden; welche Formen, Anordnungen und Blickver10
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»Formen des Gebrauchs. Über die alltägliche Ordnung der Dinge«, in: Design Kulturen, hrsg. v. Miley, a.a.O., S. 33 – 42, hier S. 35. 46 Ebd., S. 36. 47 Ebd.
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hältnisse als selbstverständlich gelten und wo ästhetische Umgestaltungen denkbar sind.«48 Rancière schreibt:
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Wenn ich hier von Design spreche, […] interessiert mich die Frage, wie es möglich ist, durch das Ziehen von Linien, die Anordnung von Worten und die Verteilung von Flächen zugleich Aufteilungen des gemeinschaftlichen Raums vorzunehmen. Inwiefern beeinflusst ein bestimmtes Aufeinandertreffen von Worten und Formen […] bestimmte Konfigurationen des Sichtbaren und des Denkbaren, bestimmte Formen des Bewohnens der sinnlichen Welt.?49
Eng mit der ästhetischen Ebene hängt (iii.) die Dimensionen des Symbolischen und Abstrakten von Design zusammen, die bereits Baudrillard als das »Angesprochensein[] von den Gegenständen bestimmt«, als das »mehr oder minder zusammenhängende[] System[] der Bedeutsamkeiten, den diese aufbauen«.50 Ein bedeutender archäologischer Effekt dieses Angesprochenseins sind jene sozialen Wert- und Bedeutungszuschreibungen, die »rituell eingebettete, fetischisierte oder sakralisierte Objekte« hervorbringen, »die aufgrund ihres außerordentlichen Status’ eine gemeinschafts-, sinnund identitätsstiftende Funktion ausüben« (Kultgegenstände, Waren oder Gaben), aber auch die »gewöhnlichen Konsumgüter«, die »aufgrund ihrer jeweiligen Gestaltung und des verwendeten Materials stets auch kulturell spezifische Konnotationen […] transportieren«,51 die gewissermaßen semantisch werden. Roland Barthes hat diese Semantik des Objekts näher bestimmt: »Das Objekt«, schreibt Barthes,
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wird dabei als das Hergestellte definiert; als bearbeitete, standardisierte, geformte und normalisierte, das heißt den Herstellungs- und Qualitätsnormen unterworfene Materie: das Objekt wird dabei vor allem als Element des Verbrauchs definiert: eine bestimmte Idee des Objekts wird millionenfach, in Millionen Kopien in der Welt
48 Ebd., S. 37. 49 Jacques Rancière: »Die Fläche des Designs«, in: ders., Politik der Bilder, Berlin / Zürich 2005, S. 107 – 125, hier S. 107. 50 Jean Baudrillard: Das System der
Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a. M. 2001,
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reproduziert: ein Telephon, eine Uhr, eine Nippfigur, ein Teller, ein Möbel, ein Füllfederhalter, genau das bezeichnen wir gemeinhin als Objekte […]. Desgleichen stellt ein Füllfederhalter zwangsläufig einen bestimmten Sinn des Reichtums, der Einfachheit, der Seriosität, der Phantasie usw. zur Schau […].52
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Schließlich zeichnet sich Design (iv.) durch Störanfälligkeiten aus, es verweist also stets auf die Dimension der Irritation, die – im Luhmannschen Verständnis – immer dann entsteht, wenn es ausgehend von Erwartungsstrukturen zu Überraschungen, Abweichungen oder eben Störungen kommt: als Erwartungsenttäuschungen, auf die man mit Ignoranz, Abweichung oder Strukturveränderung reagieren kann. Bei Luhmann klingt dies ja wie folgt: »Irritation ist danach ein Systemzustand, der zur Fortsetzung der autopoietischen Operationen des Systems anregt, dabei aber, als bloße Irritation, zunächst noch offen lässt, ob dazu Strukturen geändert werden müssen oder nicht.«53 Die angesprochenen Aspekte einer Archäologie des Designs werden, was bereits angekündigt worden ist, besonders gut in einem genealogischen Verständnis greifbar, da die Genealogie spätestens seit Nietzsche und entsprechend repräsentativ bei Foucault als Suche nach der Herkunft par excellence gilt, die damit einen archäologischen Wert immer schon vor sich trägt. Der Genealoge glaube, so Foucault, dass es »hinter den Dingen« »›etwas ganz anderes‹« gebe: »[N]icht deren geheimes, zeitloses Wesen, sondern das Geheimnis, dass sie gar kein Wesen haben oder dass ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren konstruiert wurde, die ihnen fremd waren.«54 Design genealogisch zu archäologisieren heißt dann, ein Objekt oder Ding des Designs als gewachsen zu begreifen und dieses (kontingente, diskontinuierliche) Wachsen zu suchen, aufzufinden und zu rekonstruieren: zusammenzufügen, heißt, eine Entstehung zu betrachten: Während die Herkunft die Qualität eines Instinkts bezeichne, seine Stärke oder Schwäche, die Spuren, die er auf dem Leib hinterlasse, bezeichne die Entstehung
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S. 11. 51 Prinz: »Formen des Gebrauchs«, a.a.O., S. 38. 52 Roland Barthes: »Die Semantik des Objekts«, in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, S. 187 – 199, hier S. 189 f. 53 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft , Frankfurt a. M. 1997, S. 790. 54 Foucault: Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 168 f. 55 Vgl. ebd., S. 177. 56 Ebd., S. 166, 170 f. 57 Ebd., S. 181. 58 Friedrich Nietzsche:
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einen Ort der Konfrontation.55 Damit konstituiert sich Designarchäologie unter genealogischen Vorzeichen (a.) in der Fokussierung auf Design-Ereignisse, (b.) in der Fokussierung auf das Nahe des jeweiligen Designs und (c.) im Eingeständnis der eigenen Perspektivität desselben. Ad (a): Design-Ereignisse werden nicht als Glieder einer Kausalkette gesehen; sie werden, wiederum in Foucaults Worten, »in ihrer Einzigartigkeit und jenseits aller gleich bleibenden Finalität« erfasst; sie werden dort aufgesucht, »wo man sie am wenigsten erwartet, und in solchen Bereichen, die keinerlei Geschichte zu besitzen scheinen«: in »Einzelheiten und Zufällen«, in »Erschütterungen«, »Überraschungen«, in »glücklichen Siegen« und »kaum verwundenen Niederlagen«.56 Ad (b): Designarchäologie hat zwar »das Nächstgelegene«57 im Blick, sie muss sich aber von ihren Gegenständen entfernen, um ihnen in Nietzsches genealogischem Verständnis nahe zu kommen. In Die fröhliche Wissenschaft heißt es: 05
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Sich von den Dingen entfernen, bis man vieles von ihnen nicht mehr sieht und vieles hinzusehn muss, um sie noch zu sehen – oder die Dinge um die Ecke und wie in einem Ausschnitte sehen – oder sie so stellen, dass sie sich teilweise verstellen und nur perspektivische Durchblicke gestatten – oder sie durch gefärbtes Glas oder im Lichte der Abendröte anschauen – oder ihnen eine Oberfläche und Haut geben, welche keine volle Transparenz hat […].58
Ad (c): Abstand zu nehmen, Abstand zu wahren, ausschnittsweise Betrachtungen zulassen, Verstelltes, Gefiltertes und Durchlässiges sich vorzunehmen, sind Motive, dem eigenen Standort designarchäologisch gewahr zu werden. Designarchäologen schreiben wie Genealogen »in jede wie auch immer vorgestellte historische Verlaufs- und Entwicklungslogik die Unwägbarkeiten des Subjektiven und des Menschlichen ein, damit aber auch [wiederum ihrerseits] des Zufälligen und Diskontinuierlichen.«59 30
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»Fröhliche Wissenschaft IV«, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bän-
den, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, Bd. 3, S. 538. 59 Philipp Sarasin: Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie,
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Das Motiv der Designarchäologie ist die ereigniszentrierte, nahebringende und perspektivisch einsichtige Untersuchung des Herstellungscharakters der betroffenen, zurückliegenden Ordnungen von, wie Yana Milev über den erweiterten Designbegriff in einer kulturwissenschaftlichen Verortung erklärt, »Situationen und Alltag« und dann doch auch von »Historien« sowie von »Archiven«, von »(Selbst)Beschreibung und (Fremd)Deutung kultureller Systeme.«60 Gleichwohl wohnt der Designarchäologie gerade aufgrund ihrer Zuwendung zur Gegenwart des Vergangenen, zum Jetzt des Älteren ein Moment der Zukunft inne: eine ›Erinnerung an die Zukunft‹,61 in der bereits Benjamins archäologisches Verfahren die Züge des Kommenden gesucht hat. Dasjenige, um dessentwillen sich die designarchäologische Grabung lohnt, ist weiterhin ein entschieden Zukünftiges;62 sie ist das Projekt, das an die Stelle des »[x]« in Benjamins »Archäologie des [x]« einen Namen, ein Gebiet und eine Methode einzusetzen vermag. Solche »Archäologien der Zukunft« weisen 05
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nicht allein darauf hin, dass auch die Zukunft endlich und ausgrabbar ist. Sie enthalten auch einen Hinweis darauf, dass die Vergangenheit ebenso sehr eine ungefundene wie zukünftige ist. Weil die Archäologie nicht eigentlich nach der Vergangenheit sucht, sondern nach Agambens »Anbruchspunkten«, weil es »in ihr nicht ei gentl ich [um] die Vergangenheit [geht], sondern […] [um] Anbruchspunkte«, und weil stets etwas neues und Unvorhersehbares anbrechen kann, aus diesem Grund kann man die Archäologie am Ende sogar zum Hermes einer anderen Zukunft stilisieren, zur ›Retterin‹ der Geschichte: Denn »nur sie« sei [wie Agamben sagt] fähig, den historischen Phänomen ihre Intelligibilität zu geben, sie archäologisch zu »retten« im futurum exactum, d.h. in einem Verstehen […] einer zugleich endlichen und nicht totalisierbaren Geschichte.63
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Frankfurt a. M. 2009, S. 223. 60 Yana Milev: »Der erweitere Designbegriff in einer kulturwissenschaftlichen Verortung«, in: Design Kulturen , hrsg. v. Yana Milev, a.a.O., S. 11 – 31, hier S. 17. 61 Vgl. Anna Stüssi: Erinnerung an die Zukunft. W. Benjamins
›Berliner Kindheit um Neunzehnhundert‹, Göttingen 1977. 62 Vgl. Josef Fürnkäs: Surrealismus als Erkenntnis. Walter Benjamin – Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passage , Stuttgart 1988, S. 131. 63 Ebeling: Wilde Archäologien I, a.a.O., S. 738.
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Damit lässt sich festhalten, dass sich die Designarchäologie in erster Linie dort als bemerkenswert produktiv erweist, wo es um die Analyse epistemischer wie politischer Konstellationen materieller, ästhetischer, symbolischer und problematischer Natur geht, und zwar unabhängig davon, wie Design mit Geschichte im Einzelfall jeweils bewertet wird. Was ihre eigentliche Anwendung betrifft, muss daher an anderer Stelle gefragt werden, wie (um ein Wort von Deleuze zu verwenden) Erscheinungen gestalterischer ›Erregung‹ zu beobachten sind, die sich einer designarchäologischen Betrachtung empfehlen. Wichtig bleibt es hierbei, die jeweilige Handhabung des Verhältnisses gestalterischer Artikulation und der aus ihr selbst hervorgehenden Differenzen herauszuarbeiten, was für eine Analyse der Geschichte des Designs freilich gleichermaßen relevant ist. Es bleibt also, die hier vorgetragene Überlegung konkret zu machen, mithin bestimmte oder tatsächliche, exemplarische wie allgemeine, stellvertretende wie singuläre Designphänomene mit Punktierungen exemplarischer Designdisziplinen durch die Brille des Designarchäologen zu erblicken. Über solche Untersuchungen hinaus kann sich Designgeschichte im Übrigen zu Design-Storys entwickeln, die einem Design der Zukunft seine Dispositionen erzählen. Wie hart oder weich diese gesuchten, diese gefragten Storys auch immer sein mögen, sie besitzen die Kraft, Zeitläufte zu verformen und Traditionen zu erschüttern.
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Designer mögen alles Mögliche von sich halten, sie sind jedenfalls keine Handlanger Gottes und keine Arbeiter im Weinberg des Seins.
Prof. em. Dr. Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel Strukturalismus als poetische Hermeneutik. In den Jahren 1972 / 73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918 – 1933 promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch Kritik der zynischen Vernunft zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. Von 2001 – 2015 war Sloterdijk in Nachfolge von Heinrich Klotz Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.
Das Zeug zur Macht – Bemerkungen zum Design als Modernisierung von Kompetenz Peter Sloterdijk
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I. Das Tausendjährige Reich der Kompetenz – Zum Selbstbegriff der modernen Welt Es besteht bei fast allen, die über das Wesen der Modernität nachgedacht haben, ein mehr oder weniger ausdrücklicher Konsensus darüber, dass das Weltalter, in dem wir leben, ein riesiges Experiment der primären technologiefähigen Nationen über das Motiv der grenzenlosen Steigerung von Macht und der immerwährenden Intensivierung des Lebens darstellt. In diesem Weltexperiment entdecken sich die modernen Subjekte – fortschreitend von Generation zu Generation – als Träger eines spezifischen Willens zur Macht. Es ist allerdings durchaus nicht wahr, dass mit Männern vom Schlage eines Kolumbus oder eines Descartes, eines Cosimo oder eines Bacon mit einem Mal ein neues fertiges Geschlecht von theoretischen und praktischen Machtmenschen auf den Plan getreten sei, die nun nach einem gewalttätigen Meisterplan ein von vornherein intendiertes Imperium des Könnens ohne Grenzen aufgerichtet hätten. Die genannten Namen stehen als personale Symbole für einen transpersonalen Wirbel, in dem sich das epochale Experiment der fortgehenden Macht- und Könnenssteigerungen aufschaukelt. Nicht einzelne Individuen sind Initiatoren und erste Ursachen des großen neuzeitlichen Ausgriffs in die Seinsweise der neuen Kompetenzen, sondern eine autonome, durch aktive Subjekte hindurchgreifende Kompetenzsteigerungsspirale ist es, die sich mit den schöpferischen Geistern der frühen Moderne zu drehen beginnt, indem sie den Erfindungswillen und die Initiativität jener Männer rekrutiert. Die großen Namen aus der Frühzeit der europäischen Ermächtigungsgeschichte sind gewissermaßen die Namen von experimentellen Aposteln – sie bezeichnen Individuen, die als die Erstberufenen einer neuen globalen europäischen Mission gelten können; sie waren die Träger eines ursprünglichen Apostolats der Wissensmacht, das sich mit der Unwiderstehlichkeit einer siegreichen Religion fortpflanzte, immer neue Berufungen hervorbringend und zu immer neuen Sukzessionen inspirierend. Die Macht- und Kompetenzerweiterungsspirale der europäischen Neuzeit lässt sich als eine Art Fortsetzungsspiel beschreiben, in
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dem jeweils neue Generationen – vom Könnensniveau der älteren ausgehend – ihr eigentümliches Kapitel in den epochalen Steigerungsroman einfügten. Vor dem Drama sind alle Akteure gleich, und vor dem Ruf zur Macht verschwinden zu Beginn der Neuzeit die ständischen Differenzen; Kaiser und Bürger sind gleichzeitig Medien der autonomen Machtspirale – Fürsten hören wie Ingenieure den Ruf der neuen Könnens-Horizonte. Plus ultra lautete das Motto des habsburgischen Kaisers Karl V., und auf den Weltmeeren des frühen 16. Jahrhunderts kreuzten die spanischen Flotten unter diesem Zeichen, von dem man behaupten darf, es sei das maßgebliche Europäerwort der Neuzeit. Nur wer dem inneren modus operandi seines Lebens nach an diesem Immer-Weiter Anteil hat, ist im präzisen Sinn des Wortes ein moderner Europäer. Erst nach der Einnistung des Steigerungsmotivs in den Pilot-Individuen der Neuzeitspirale wird Subjektivität modernen Typs im eigentlichen Sinne möglich und wirklich. Im Willen zum Immer-Weiter sind Zwang und Spontaneität untrennbar ineinander verschmolzen, so dass sich nie mehr sagen lässt, ob die Spirale ihre Dynamik eher aus Könnenwollen oder Könnenmüssen zieht – gewiss ist nur, dass ihre Schwungmasse zuletzt immer subjektiver, also kompetenzhafter wird, so dass sich Könnenwollen in Wollenkönnen und Könnenmüssen in Müssenkönnen verwandelt. Es wird, mit anderen Worten, jedes Mal das Kompetenzmoment führend, und das Subjekt kristallisiert sich fortschreitend heraus als eines, das sein Handeln, sein Wissen, sein Begehren, sein Wollen auf einem subjektiven Kapitalstock von Kompetenzen gründet. Es ist dies alles nur eine andere Art zu sagen, dass moderne Subjekte diskrete Medien von Macht sind, freilich nicht von einfacher Macht, sondern von Macht mit einem Steigerungsindex, von Ermächtigungsmacht, wenn man so will. Wer auf moderne Weise etwas kann, der kann es so, dass ein Zuwachs an Können samt einem Willen zum Mehrkönnen schon a priori mitgemeint und mitgekonnt wird. Ich möchte nun diese Andeutungen über die Dynamisierung von Macht und Kompetenz für die Charakterbestimmung des gegenwärtigen Zeitalters nutzen. Ein in der westlichen Welt weit verbreitetes Sprachspiel legt uns die Meinung in den Mund, wir lebten in einer postmodernen Zeit. Darunter ist entweder eine epigonale Position gegenüber der heroischen und avantgardistischen Modernität, vor allem in den Künsten, zu verstehen oder eine ernüchterte
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Position gegenüber exaltierten Vorstellungen von Geschichtsplanung und Naturbeherrschung.Wenn die Moderne ein Kompositum aus Genialität und Konstruktivismus war, so wäre die Postmoderne eines aus Mediokrität und Chaosmanagement. Ich möchte demgegenüber zeigen, dass diese Entgegensetzungen unter kompetenzgeschichtlichen Gesichtspunkten sich nicht halten lassen. Denn über die beiden Positionen hinweg, und durch sie hindurch, zieht sich die unaufgehaltene Bewegung der Machtsteigerungsspirale; ja man kann sogar der Meinung sein, dass die so genannte Postmoderne nur eine weitere Landmarke in der seit Jahrhunderten akkumulierenden Ermächtigungsdynamik festsetzt; was sie auszeichnet, ist die Vermassung der vormaligen Avantgardequalitäten und die Übersetzung von einst pathetischer Kreativität in alltägliche Manipulation von Materialien und Zeichen durch die Angehörigen einer weltumspannenden Design-Zivilisation, sprich, durch die übernationalen neuen smarten Mittelschichten. In dieser Sicht sind Moderne und Postmoderne durch ein überwältigendes Kontinuum verbunden. Ohne Zweifel ist auch die so genannte Postmoderne eine Phase in der Geschichte des euro-amerikanischen Plus-Ultra. Sie hat keine Entspannung vom Zwang zur Macht mit sich gebracht, allenfalls hat sie das Könnenmüssen dem neuesten Stand der Technologie angepasst und ein wenig Spiel in den zeitgenössischen Kompetenzstil eingeführt. Es gibt keine Anzeichen für einen wirklichen Epochenbruch im Sinne eines Abbruchs der Kompetenz-Eskalation. Solange nicht eine höhere Gewalt die Spirale der Könnenssteigerungen sprengt, bleibt ihre Aufschraubung als kinetisches Herzstück der Modernität ungebremst in Fahrt. Auch was ihr widerstehen möchte, scheint zu ihrem Auftrieb beizutragen; wer sie bekämpft, treibt sie an. Was auf die Modernität folgen wird, kann darum nur ein weiteres höheres Modernitätsniveau sein. Unser Zeitalter hat, solange der Weltlauf seiner Eigendynamik überlassen bleibt, nichts vor sich außer der Fortschreibung und Steigerung seiner selbst ins Unabsehbare und doch prinzipiell Immergleiche – bis hin zu Grenzwerten, von denen man gleichwohl annimmt, auch sie ließen sich überspielen und immer weiter hinausrücken. Die Modernität ist somit die Endzeit ihrer selbst, und sie kann wesenhaft für sich selbst nichts anderes als ihre eigene Zukunftsquelle sein, sofern sie die Drehung der Kompetenzspirale bleibt. In diesem Sinn muss man sie als ein dynamisches Millenium
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verstehen. Wer auch immer sein Leben als genuiner Teilnehmer am Weltexperiment der Neuzeit vollzieht, muss sich Rechenschaft ablegen über seine spontane Beteiligung an einer millenarischen Operation; für diese gilt seit dem europäischen 16. Jahrhundert die noch immer unüberwindliche imperiale Devise. Gleich, ob wir in Kolumbus oder Karl V., den Ingenieuren der Renaissance oder den Utopisten des Barock die ursprünglichen Apostel des neuzeitlichen Kompetenz-Evangeliums sehen: Wir stehen noch immer mit jeder aktuellen Lebensäußerung in ihrer Sukzession. Ob wir Jahrhunderte rückwärts schauen oder die Gegenwart in die Zukunft weiterdenken: Wir sind zunächst und zumeist Agenten und Medien für ein Tausendjähriges Reich der Kompetenz.
II. Simulation von Souveränität – Über die Geburt des Designs aus dem Geist des Rituals Dieses unruhige Reich ist, so viel wir wissen, kein bequemer Ort. In der agitierten Endzeit ohne Ende wird dem Leben der Einzelnen eine neuartige wettläufige Leistungsverfassung aufgeprägt; diese erzwingt die Entwicklung des Individuums zu einer adaptionsbereiten Biomaschine. Als Könner oder Inhaber von Kompetenz muss das einzelne Subjekt zu einem Träger von abstrakter Leistungsbereitschaft und konkreter Leistungsfähigkeit werden. Sein sozialer Stolz und seine private Würde begründen sich aus dem Bewusstsein seiner Beitragsfähigkeit zu einer Totalität von steigenden Leistungen. Der Einzelne im Kompetenz-Universum muss sich selber als relativer Souverän in seiner Wirkungssphäre verstehen. Eben dadurch gerät der moderne Einzelne in eine Falle, aus der es kein Entrinnen – zumindest kein direktes – gibt. Die Falle klafft dadurch auf, dass das leistungsstolze Subjekt des Kompetenzsteigerungszeitalters im Gesamtwirbel der Kompetenzspirale nur eine immer kleinere, immer weiter relativierte und spezialisierte Position einnehmen kann. Der moderne Könner kann immer weniger immer besser. Was einerseits gerechter Grund seines existentiellen Stolzes ist – nämlich die aufgeweckte Mobilisierung von Wollen und Können in offenen Horizonten –, wird zugleich auch zum Grund einer fundamentalen und unausweichlichen Demütigung. Die Kompetenzmasse der experimentell mobilisierten Welt im Ganzen wächst exponentiell im Verhältnis zu den Lernfortschritten der einzelnen Könnensträger. Je mehr Kompetenz der Einzelne erwirbt,
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umso gewisser ist er Mitspieler in einem Gesamtspiel, neben dem sein Kompetenzradius – so groß er sein mag – nichtig erscheinen muss. Dieses Paradox der zugleich steigenden und sinkenden Individualkompetenz bildet den Hintergrund, vor dem sich das System des neuzeitlichen Individualismus entwickelt. Die individualistische Zivilisation steht vor der Aufgabe, die Fähigkeiten und Ansprüche der Einzelnen so aufzuwirbeln, dass die aufgestachelten kompetenten Einzelnen nicht in vernichtende Depressionen fallen durch die unvermeidliche Entdeckung ihrer jetzt erst sichtbar werdenden unermesslichen Inkompetenz in allem Übrigen. Der Individualismus schafft das psychosoziale Reizklima, das die Souveränität der Einzelnen zugleich provoziert und annulliert. Genau mit der dramatischen Entfaltung dieser Verlegenheit findet das Prinzip Design seinen Ort im System. Denn Design ist – von einem kompetenzökologischen Ansatz her gesehen – nichts anderes als die gekonnte Abwicklung des Nichtgekonnten. Es sichert die Kompetenzgrenzen der Einzelnen, indem es dem Subjekt Verfahren und Gesten an die Hand gibt, im Ozean seiner Inkompetenz als Könner zu navigieren. Insofern darf man Design als Souveränitäts-Simulation definieren: Design ist, wenn man trotzdem kann. Ich denke, es lohnt sich, diesem Sachverhalt ein wenig weiter auf den Grund zu gehen. Dieser Grund liegt, wie man sich nach dem Gesagten vorstellen kann, keineswegs in unmittelbarer Nähe zum manifesten Thema. So wie Martin Heidegger in einem berühmten Diktum darauf insistierte, dass das Wesen der Technik selbst nichts Technisches sei, so muss man im Blick auf unser Sujet deutlich machen, dass das Wesen des Designs selbst nichts Designartiges ist. Ich habe soeben Design als Können des Nichtkönnens definiert und möchte nun diese Formel mit einigen anthropologischen Überlegungen unterbauen. Die Wurzeln des gekonnten Nichtkönnens reichen natürlich weit vor die moderne Kompetenzwelt zurück, ja sie durchziehen das gesamte Feld der menschlichen Urgeschichte und der Frühkulturen; in denen driftet der homo sapiens als Werkzeugmacher und Mythenerzähler in Horden und Stämmen durch eine noch weithin technisch unbewältigte und analytisch undurchdrungene Naturwirklichkeit. Für ihn ist das Nichtkönnen – das Nichtvielmachenkönnen, Nichtvielverändernkönnen in Bezug auf seine Umwelt – zumindest verglichen mit dem Machtradius der 05
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Spätkultur – gleichsam seine erste Natur. Nichtsdestoweniger sind die frühen Menschen alles andere als hilflose, angstüberschwemmte Opfer einer übermächtigen Außenwelt. Sie sind, im Gegenteil, lebhafte, erfinderische, hochbewegliche Akteure eines Überlebensspiels, das sie mit großem Erfolg betreiben, auch wenn sie vom Kompetenzhorizont eines mittelmäßigen modernen Individuums nur wie von einem Dasein in göttlichen Vollmachten hätten träumen können. Wenn ihre Lebensformen aus heutiger Sicht als schiere Ohnmachtskulturen erscheinen, so haben wir es mit einer optischen Täuschung zu tun. In Wahrheit sind moderne Subjekte wegen der breiten Entfaltung ihres Kompetenzenfächers viel mehr ohnmachtsgefährdet als die vorgeschichtlichen Menschen. Sie riskieren öfter und an vermehrten Fronten, ihr Scheitern durch Inkompetenz zu erfahren. Der Frühmensch hingegen profitiert davon, dass er zumeist fast alle Griffe kann, die er zu seiner persönlichen und sozialen Selbsterhaltung braucht, während er alles, was nicht gekonnt werden kann, im Schutz von Ritualen mehr oder weniger routiniert übersteht. Nehmen Sie an, die Sintflut fällt unter Blitz und Donner vom Himmel auf Ihr Blätterdach, dann können Sie, wenn sich das Unwetter überhaupt überstehen lässt, es besser überstehen, wenn Sie ein Lied für den Wettergott rezitieren. Es ist nicht wichtig, dass Sie selber Wetter machen können – auch die modernen Kompetenzen reichen noch nicht ganz bis dorthin –, sondern dass Sie eine Technik kennen, bei schlechtem Wetter in Form zu bleiben; es muss in Ihrer Kompetenz liegen, auch dann etwas tun zu können, wenn man ansonsten nichts tun kann. Nur wer weiß, was man tut, wenn nichts zu machen ist, verfügt über hinreichend effiziente weiterlaufende Lebensspiele, die ihm dabei helfen, nicht in auflösende Panik oder seelentötende Starre zu verfallen. Gekonntes Nichtkönnen stiftet eine Art Leerlaufverhalten oder einen Parallelprozess, in dem das Leben auch in Gegenwart des Ohnmächtigmachenden weitergehen kann. Ich verwende für solche Parallelprozesse den religionswissenschaftlichen und ethnologischen Ausdruck Ritual. Auch die Menschen der Frühzeit konnten nicht ganz dessen gewiss sein, ob die Sonne wirklich deswegen aufgeht, weil sie schon vor ihr wach waren und ihren Aufgang mit einem Rundtanz förderten; aber sie waren auf diese Weise den Dämonen der Morgendämmerung gewachsen und konnten sich so in ihren Tag hineinspielen und ihre mythische
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Identität als Kinder des hellen Gestirns und der dunklen Erde bewahren. Die Lücke, durch die Ohnmacht, Panik und Tod ins Leben eindringen, wird von archaischen Zeiten an durch Rituale geschlossen. In diesem Sinn darf man von der Geburt des Designs aus dem Geist des Rituals sprechen. Denn wenn auch Design im exakten Sinn des Wortes eine unverkennbar moderne Erscheinung ist und sich eher an Dingen als an Gesten manifestiert, so ist sein gestisches Substrat, das Können im Ungekonnten, das In-Form-Bleiben inmitten des Formzersetzenden, doch präfiguriert in der uralten Geschichte jener gestischen und symbolischen Parallelhandlungen, die wir Rituale nennen. Ohne selbst ursächlich auf die Ereignisse in der autonomen Umwelt einzuwirken, halten die Rituale die Lebensvollzüge ihrer Praktikanten zusammen und besitzen in diesem wohlverstandenen Sinn die Macht, eine ansonsten nicht zu meisternde Welt in Ordnung zu bringen. Extra ritum nulla salus. Vor allem für die unverfügbaren, großen Schwellenereignisse des Lebens – insbesondere beim Tod von nahe stehenden Menschen – haben ja auch moderne Individuen noch Reste von Ritualkompetenz bewahrt; diese erlaubt es ihnen, parallel zum nicht-beherrschbaren Ereignis die Fortsetzung des eigenen Lebensspiels durch Minimalschemata des richtigen Weitermachens und Darüberhinwegkommens zu beherrschen. Ähnliches lässt sich auch für Geburten und Geburtstage, Hochzeiten und Trennungen sowie für Jahreswechsel und Jubiläen sagen. Sie sind von Ritualresten unterfütterte Schwellen, deren Überschreitung ein Minimum an formaler Fitness erforderlich macht. Das Ritual, als elementare Spielregel und Formquelle, liefert das hierzu notwendige gestische Repertoire. Von hier aus ist die Rückkehr zu den aktuellen Gestalten des Design-getragenen Inkompetenz-Managements nicht allzu schwierig. In der Not nimmt auch der Teufel den Farbeimer. Als in den 70er Jahren auf dem Flugplatz von Athen eine Maschine der Swissair abgestürzt war, kam es neben den selbstverständlichen Bergungsmaßnahmen für die überlebenden und toten Passagiere auch zu der bedenkenswerten Anordnung seitens der Fluggesellschaft, dass das hoch aufragende Heck der zerbrochen am Boden liegenden Maschine mit dem allzu sichtbaren weißen Kreuz auf rotem Grund von einem Flughafenarbeiter auf der Stelle übermalt werden sollte. Man mag das Erste Hilfe für ein verunglücktes Firmenzeichen nennen. Es zeigt präzise, was Design im Extremfall
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will und kann: Die Heckübermalung ist ein Beweis dafür, dass man immer noch etwas tun kann, wenn man nichts mehr tun kann. Aber es wäre sinnlos und frivol, die Design-Frage ausschließlich von Inkompetenzkatastrophen der erwähnten Art her zu entwickeln. Kompetenter Umgang mit Verhältnissen und Geräten, für die man nicht ganz kompetent sein kann, macht ja einen übergroßen Teil des modernen Berufslebens und Freizeitalltags aus. Alle technischen Systeme, die auf der Basis von höherer Feinmechanik, von Verbrennungstechnik, von Nukleartechnologie, von Elektrik und Elektronik funktionieren, sind für die durchschnittlichen Benutzer völlig undurchsichtige Größen. Nichtsdestoweniger ist unser Leben alltäglich längst in den Umgang mit solcher Technologie installiert. Die Basismaschinen der gegenwärtigen Welt, die Uhren, die Automobile, die Computer, der Gerätepark der Unterhaltungselektronik, die höheren Werkzeuge und dergleichen – sie sind allesamt für die absolute Mehrheit der Benutzer nur glitzernde Oberflächen, deren Innenwelten unmöglich zu betreten sind, es sei denn dilettantisch und zerstörerisch. In traditioneller Rhetorik würde man von Büchern mit sieben Siegeln sprechen, in zeitgenössischer Sprache heißen solche undurchdringlich komplexen Blöcke in der Umwelt der Benutzer schwarze Kästen. Nach der technologischen Revolution ist die Lebenswelt der Individuen vollgestellt mit solchen Gerätschaften, die zu zauberanalogen telepathischen Operationen ermächtigen – wie Fernhören, Fernsehen, Fernsprechen, Fernsteuern, Fernlesen –, Operationen, die sich sämtlich auf vom Benutzer abgewandte apparatinnerliche Prozesse stützen. Design kommt unweigerlich überall dort ins Spiel, wo der schwarze Kasten dem Benutzer eine Kontaktseite zuwenden muss, um sich ihm trotz seiner internen Hermetik nützlich zu machen. Design schafft den dunklen Rätselkästen ein aufgeschlossenes Äußeres. Diese Benutzeroberflächen sind gleichsam die Gesichter der Kästen, sie sind das Make-up der Maschinen; sie simulieren eine Art von Verwandtschaft zwischen Mensch und Kasten und flüstern dem Benutzer Appetite, Berührungslüste, Handlichkeitsempfindungen und Initiativen ein. Je unbegreiflicher und transzendenter das Innenleben des Kastens ist, desto auffordernder muss das Kastengesicht dem Kunden ins Naturgesicht lächeln und ihm signalisieren: Du und ich, wir können es miteinander; vor dir verhehle ich keine meiner empfindlichen Stellen; ich drücke in meiner PVC-Physiognomie 05
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meine ungeheuchelte dienstbereite Sympathie für dich aus. Durch Design lässt sich die Überzeugung stiften, dass ein Mann und sein Trockenrasierer Mannschaftskameraden sind, kaum anders als die Hausfrau und ihr Lavamat. Design schafft bei komplexem Gerät jene Fassade aus Zeichen und Berührungspunkten, an welcher der Benutzer ohne spürbare Demütigung durch seine evidente Inkompetenz fürs Innere sein Spiel anschließen lassen kann. Aus der Benutzerperspektive muss Unwissen Macht werden können. Ich telefaxe, also bin ich, ich telefoniere mobil, also schwinge ich mich ein ins Netz. Das Universum des Produktdesigns dreht sich weitgehend um das sensitive Sujet des Dienstes am Kompetenz-Bedarf strukturinkompetenter Benutzer. Ein Kunde ist aus solcher Sicht immer ein Idiot, der Souveränität kaufen möchte. Und der Designer liegt – in strategischer Allianz mit den Herstellern und den Experten für das Innere der schwarzen Kästen – immer auf dem Sprung, um neue Wendungen auf dem Souveränitätsmarkt hervorzubringen oder nachzuvollziehen. Als Benutzer von undurchschauter Technologie ist der moderne Kunde ein ins Alltägliche abgesunkener Scharlatan – ein Illuminist mit Kippschalter und Dimmer, ein Telepathiekünstler mit Faxgerät, ein kinetischer Gaukler am Steuer eines Wagens, ein Levitationsmeister im Linienflugzeug. Und insofern all diese dunklen technischen Objekte ohne den Beitrag von Designern nicht wären, wie sie sind, kann man den Beruf des Designers als den eines Scharlatanenausstatters bezeichnen – er liefert Alltagsscharlatanen wie mir und jedermann das Zubehör für fortlaufende Souveränitäts-Simulationen. Umgangssprachlich nennt man dieselbe Leistung Mithilfe zur Lebenserleichterung. Dieser Dienst hat Vorbilder und Verwandte in einer Sphäre, die dem technischen Element ganz fern, ja entgegengesetzt zu sein scheint: bei den Rhetorik- und Grammatiklehrern der Antike und den Tanz- und Manierenlehrern aristokratischer Zeiten. Beide lieferten Trainings in sprachlichen und körperlichen Haltungen, die den Individuen auch in bodenlosen Situationen den Absturz in Sprach- und Haltlosigkeit ersparten. Wenn kein Wort mehr passend ist, ist immer noch ein Wort am Platz; wo aller Halt verloren ging, ist immer noch gute Haltung möglich. Design wiederholt diese Ausstattung mit Souveränitätsmitteln im Horizont einer technologischen Zivilisation; es liefert das technische Zeug zur Macht für Menschen, die versuchen, in der ungeheuren
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Machtsteigerungsspirale der Gegenwart nicht nur als ohnmächtige Kompetenz-Marionetten vorgeführt zu werden. Ob dieser Versuch gelingen kann, darüber streiten heute die humanistischen und die technizistischen Parteien der Kulturkritik. 05
III. Kompetenz als Revisionskompetenz – Design unter dem kategorischen Imperativ der Warenwelt Nachdem von der Geburt des Designs aus dem Geist des Rituals die Rede war, muss von einer zweiten spezifisch modernen Quelle der Design-Zivilisation gesprochen werden. Die moderne Welt als Experimentalkultur ist in ihrem Betrieb der praktische Vollzug der Überzeugung, dass Dinge nicht Wesen oder Kreaturen sind, sondern Funktionen oder verstofflichte Handlungen. Wären Dinge Wesen aus eigenem Recht und Ursprung – gewissermaßen Dinge von Gottes Gnaden –, so wäre der Versuch, Hand an sie zu legen, latent oder manifest blasphemisch; jedes Design – sofern Design Neuzeichnung von Dingen meint – wäre dann ein Aufstand gegen die anerschaffene oder naturgeborene Essenz. Sind Dinge jedoch Träger von Funktionen, so sind sie durch kein Ursprungssiegel geschützt und geheiligt und stehen von ihnen selbst her einer ständigen Verbesserung und Neuschöpfung offen. In diesem Sinn ist Design als Haltung und Beruf im elementaren Revisionismus der pragmatischen Modernität verankert; Revisionismus aber ist Meliorismus, Neumachen meint Bessermachen. Design ist also die Vollzugsform des Funktionalismus – wer Design betreibt, bekennt sich als praktizierenden Funktionalisten, er ist Täter des Verbs Funktionieren, Apostel des in alle Welt hinausgesandten Glaubens an den Vorrang der Funktion vor der Struktur. Treten wir einen Schritt von solchen Selbstverständlichkeiten zurück und fragen nach dem Sinn dieser allzu einleuchtenden Ausdrücke, so gelangen wir auf ein Feld, wo der Zusammenhang zwischen dem Ding und seiner Funktion oder der Funktion und ihrem Ding in einer durchaus zwielichtigen Weise sichtbar wird. Martin Heidegger hat in seiner berüchtigten dunklen Rede über »das Ding« die hier gestellten Fragen am Beispiel eines Kruges erläutert. Die Funktion des Kruges – darüber sind nicht viele Worte zu verlieren – zeigt sich in seiner Eignung zu der Aufgabe, in seinem hohlen Innern Wasser oder Wein zu fassen und zum Ausschenken zur Verfügung zu stellen – deswegen vereinigt er in seinem
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Aussehen notwendigerweise die drei Merkmale Hohlbauch, Griff und Schnabel. Die Funktion des Dings wäre demnach einfachhin dessen Dienst oder Nutzen. Von diesem Beispiel her gedacht sind Dinge allgemein gesprochen nützliches zuhandenes Zeug. Aber als dienendes Zeug sind Dinge zugleich auch diskret souveräne Geber – Gebe-Wesen sozusagen in den Händen von Lebewesen. Dies zeigt sich am Krugbeispiel besonders klar. Der Krug ist von Amts wegen zum Ausschenken da, so dass sich an ihm ohne Umschweife verdeutlicht, wie dieses Ding, indem es dient, zugleich auch schenkt. Man muss zugeben, dass Heidegger zu Recht keinen Grund sah, vor der Aussage zurückzuschrecken, das Wesen des Kruges sei das Schenken. Von hier aus ist es nur ein Schritt zu dem ding-ontologischen Hauptsatz, das Wesen des Dings überhaupt sei das GeSchenk. Wir erreichen mit diesem überraschenden Theorem ein doppeltes Dingverständnis – eines, das den funktionalen Dienst des Dings an den Anfang stellt und von diesem her auf den Menschen als Herrn und Nutzer kommt, und eines, das vom Geschenkcharakter des Dings ausgeht und den Menschen als Empfänger von Gaben der Dinge kennzeichnet. Die zweite Auffassung ist nach Tenor und Logik natürlich in einer vormodernen Welt- und Seinsauslegung zu Hause, weil sie dem Subjekt – statt seinen Willen zur Mehrkompetenz zu bedienen – seine fällige Dankbarkeit gegenüber den sich schenkenden Dingen in Erinnerung ruft. Sie markiert die Position des Anti-Designs schlechthin. Wer sie sinngetreu in die Tat umsetzte, wäre kein Souveränität suchender kompetent-inkompetenter Benutzer von Zeug zur Macht, sondern ein Meditierer und ein dingfrommer Empfänger von Geschenk im Gewand von Werkzeug, Stoff und Lebensmittel. Cum grano salis entspräche dies einer katholischen Handwerks- und Bauernphilosophie; für diese beginnt jeder Gebrauch von Werkzeugen oder Apparaten rechtens immer mit einer Dingandacht, so wie das Essen mit einem Tischgebet. Auf diese Weise ist noch kein Designer entstanden. Designer mögen alles Mögliche von sich halten, sie sind jedenfalls keine Handlanger Gottes und keine Arbeiter im Weinberg des Seins. Ein Designer kann sich nie nur als Kurator des schon Vorhandenen verstehen. Alles Design entspringt einer Anti-Andacht; es beginnt mit der Entscheidung, die Frage nach der Form und Funktion der Dinge neu zu stellen. Souverän ist, wer in Formfragen über den Ausnahmezustand entscheidet. Und Design ist der permanente
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Ausnahmezustand in Dingformangelegenheiten – es erklärt ein Ende der Bescheidenheit gegenüber überlieferten Dingverfassungen und manifestiert den Willen zur Neufassung aller Dinge aus dem Geist eines radikalisierten Fragens nach der Funktion und ihrem Herrn und Nutzer. Jedem Funktionalismus wohnt ein dingstürmerischer Funke inne. Während man beim Geschenk nicht an den Preis zu denken hat, ist das Designer-Ding von Anfang an für Preisfragen und Revisionen offen: Statt das Ding zu nehmen, wie es sich gibt, stellt das Design die Funktion an den Anfang und macht aus dem Ding eine variable Erfüllung der Funktion. Design ist möglich, weil und insofern der Satz gilt, dass jedes Ding seinen Preis hat. Man muss die Geschichte vom Aufstieg des Designs zum fast unumschränkten Machthaber über die Neufassung von Dingen nämlich auch in einer ökonomischen Tonart erzählen. Denn was hier im ontologischen Jargon als Ding bezeichnet wurde, heißt ökonomisch natürlich Ware. Ein Ding, das Wert trägt, ist ein Gut. Wenn ein werttragendes Ding auf den Markt gebracht wird, um dort mit anderen Dingen gleicher Orientierung zu konkurrieren, so wird die Ware, wenn sie erfolgswillig und erfolgsfähig ist, im Wettlauf mit ihresgleichen zum vergleichsweise besseren Gut – mit einem Wort, sie wird vom Gut zur Besserung. Dies scheint fürs Erste nur ein Wortspiel zu sein – ist aber auf dem zweiten Blick der gültige Begriff für das dynamisierte Wertobjekt. Das zur Besserung gesteigerte Gut als erfolgsuchendes, werttragendes Ding ist seiner dynamischen Seinsweise auf dem Markt gemäß von sich her schon eine Sache, die den Vergleich sucht, um ihn zu ihren Gunsten zu bestehen. Man könnte sagen, sie gehorcht dem kategorischen Imperativ: Präsentiere deine Erscheinung auf dem Gütermarkt immer so, dass das Motiv deines Daseins jederzeit als Ausdruck und Anreiz des Strebens nach Besserung verstanden werden könnte. Weil nun gerade Design-Güter per se als Verkörperungen des Anspruchs auf Vorzüglichkeit gegenüber konkurrierenden Gütern hervorgebracht werden, sind sie sozusagen die real existierenden Komparative der Dinge. In der modernisierten Warenwelt gibt es – idealtypisch gesprochen – der Tendenz des Marktverlaufs nach keine statischen Güter mehr, sondern nur noch Besserungen – keine stabilen Qualitäten, sondern nur Überbietungs- und Steigerungswaren. Die revisionistische Ding-Auffassung im Design artikuliert sich genau
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am Schnittpunkt zwischen Experiment und Konkurrenz, zwischen Funktionsverbesserung und Verwertungsverbesserung. Zu diesen beiden Verbesserungen tritt eine dritte hinzu, wenn man berücksichtigt, dass ein Design-Ding selten, ja nie allein kommt. Jedes einzelne Design-Objekt profitiert von Nachbarschaften zu seinesgleichen – es nimmt von ihnen einen atmosphärischen Mehrwert auf, der von der Familienähnlichkeit mit verwandten optimierten, stilisierten, neugedachten, weitergedachten und zugespitzten Produkten, also Besserungen herrührt. Von Besserungen-Gruppen handelt die kritische Theorie des Sortiments. Aber ob im Ensemble oder als Einzelstück aufgefasst, nach der Verjüngung im Design ist das Ding immer ein komparatives Objekt – es ist der Nachfolger eines abgelösten oder überbotenen Dings, Ergebnis einer nach vorne offenen Optimierungsgeschichte. Wenn der Designer als homo aestheticus und psychologicus, wie gesagt, ein Zulieferer für Souveränitäts-Simulationen ist, so ist er als homo oeconomicus der Ausstatter für Güter auf dem Weg zur Besserung; er ist der Mann des unbedingten Komparativs – Entwicklungshelfer für aufstrebende Dinge. Man könnte ihn als Generalisten für Ding-Revisionen bezeichnen. In dieser Eigenschaft fungiert er als Zeugmeister für die Machtkämpfe der Eigentümer an variablem Kapital, das in Gestalt von Besserungswaren zirkuliert. Und in dem Maß, wie der aktuelle Weltmarkt tatsächlich Besserung honoriert, wird Design nicht nur zu einem Erfolgs-Faktor unter anderen, sondern mehr noch zum Grundelement und zur Nährlösung für den modernisierten, das heißt klüger gemachten Erfolg überhaupt.
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IV. Auf das Ego angewandte Kunst Nach Ritual und Kapital ist eine dritte Quelle zu nennen, aus der Design im aktuellen Machtraum Bedeutungen ansaugt. Das Stichwort lautet angewandte Kunst. Ich möchte hier keine Exkursion in die Sumpflandschaften von Theorien moderner Kunst beginnen. Auch den marxistischen Klassiker Warenästhetik und den liberalen Schlager Konsumästhetik will ich hier unberücksichtigt lassen. Ich spreche also nicht über »die Rolle des Ästhetischen bei der Scheinlösung von Grundwidersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft« – wir sind nicht mehr in den 70er Jahren. Ich setze voraus, dass bekannt ist, wie Designer als Maskenbildner der Waren mitwirken an der Erwirtschaftung eines Aufmachungsmehrwerts;
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auch dass Scheinbesserungen, Vortäuschung von Qualitätsdifferenzen, Erzeugung der Illusion von Auswahl beim Kunden seit langem problematische Domänen von Design als angewandter Kunst auf Abwegen darstellen, ist eine Prämisse, die ich hier ohne weiteren Kommentar in Ansatz bringen darf. In einer Identitätskultur wird Differenz notwendigerweise zur knappen Ressource. Was angewandte Kunst angeht, so ist sie, wie jeder weiß, nicht nur ein Kontakthof für Begegnungen zwischen Schönheiten und Techniken, sondern auch ein Inbegriff von Verfahren, den Schein des schönen Lebens zu regenerieren. Insofern ist angewandte Kunst ein privilegierter Zugang zu den Traumfabriken, ohne deren Beitrag die komplizierte psychopolitische Maschinerie moderner Massengesellschaften nicht in Gang gehalten werden könnte. Modernität ist ja, wie sich inzwischen auch bei Ideologiekritikern herumgesprochen hat, nur ein anderer Name für die Verlegenheit, zwischen Abbau und Aufbau von Illusionen die richtige Balance finden zu müssen. Design als angewandte Kunst ist darum immer auch ein Regulator in der subjektiven Ökologie der individualistischen Zivilisation; es klimatisiert nervöse Großgesellschaften und wirkt mit an der Feineinstellung von Illusions- und Elan-Systemen. Es motiviert und tonisiert die Spieler in den Gewinnspielen der Leistungs- und Erlebnisgesellschaft, indem es die Prämie Souveränität samt ihren Simulationsmitteln so breit ausschüttet wie irgend möglich. Alle sollen Zugang zu Gewinner-Gefühlen haben – so lautet die Regel für inklusive Spiele. Solange im avancierten Illusions-Design demokratische Konzepte Regie führen, wird der technologische Fortschritt sich immer auch als Gewinnspiel für viele, wenn nicht alle präsentieren. So hat die französische SNCF ihre Hochgeschwindigkeitszüge-Politik ins Volk getragen mit dem Slogan: Le progrès ne vaut que s’il est partagé par tous. Auf der Kehrseite dieses generösen Illusionismus wächst jedoch eine harte Nüchternheit heran. Deren Zeichen spuken durch alle Medien, und die Trendpresse sendet seit langem nur noch auf dieser Welle. Angewandte Kunst – mit neuer Illusionslosigkeit in exklusiven Spielen kombiniert – ergibt die Modernisierung des Egoismus, und dieses Ergebnis aus dem neuen massenhaften self-designing ist es, was einen kalten Zug ins postmoderne Illusionen- Treibhaus des Westens vor dem Jahr 2000 bringt. Design als auf das Ego angewandte Kunst erzeugt an seinem smarten Träger ein hochaktuelles
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Kompetenzbündel aus Tempo, Information, Ironie, Geschmack und zweiter Rücksichtslosigkeit. Die vormalige Avantgarde-Idee, das Leben des Einzelnen selbst zum Kunstwerk zu machen, hat nun, mit einer Verzögerung von kaum drei Generationen, die Basis erreicht. Was man Lifestyle nennt, ist der Durchbruch von Design auf die Ebene der Selbststilisierungen und der Biographien. Das Individuum greift jetzt nach der Kompetenz, sich selber als Kompromiss zwischen Kunstwerk und Maschine auszuführen – etwa nach dem Vorbild von Andy Warhol, der längst weltweit als Patriarch des designgestützten Neo-Individualismus rezipiert wird. Von ihm haben nachrückende Generationen gelernt, dass Souveränität ein Effekt aus der Investition von Energie in flache Prozesse ist. Und insofern das Individuum im Design-Zeitalter selbst der Operator von flachen Prozessen am eigenen Leib werden will, dürfen wir uns darauf gefasst machen, in eine neue psychosoziale Ära hineinzusteuern, ja vielleicht sogar auf einen anthropologischen Quantensprung zu. In der Folgezeit muss es, wenn das Trendbild nicht trügt, zu einem Gestaltwandel in der tradierten menschlichen Imago kommen, bis hin zur Neuprägung von psychophysiologischen und neuronalen Prozessen. Es hat den Anschein, als sollte ein Typus von homo semioticus den hochkulturellen homo psychologicus ablösen; die manifesten Träger dieser Entwicklung sind bereits volljährig, unsere Kinder, unsere Mutanten; bei ihnen würde die klassische »tiefe« Trias von Psyche, Erinnerung, Innenwelt ersetzt durch die neue flache von Operator, Speicher, Bildraum. Die »Seele im technischen Zeitalter« könnte so etwas werden wie ein lebender Cursor in turbulenten Ereignisräumen – ein Cursor auf der Suche nach seinem Curriculum, ein Läufer auf der Suche nach einer Bahn, die seine »eigene« wäre.
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V. Im Titanenkampf Wie immer man über solche Tendenzvermutungen urteilen mag – auf jeden Fall ist Design in allen seinen drei Stämmen in eine Art von psychopolitischer Titanenschlacht verwickelt, in der Hoffnungskräfte und Verzweiflungskräfte wie zwei Weltmächte oder Gesamtatmosphären miteinander ringen. Insofern ist mit dem Kollaps des Kommunismus keineswegs ein Ende dessen erreicht, was man die bipolare Ära genannt hat. Man kann allenfalls sagen, dass der überflüssige Titanenkampf, die Ost-West-Bipolarität, 35
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endlich verschwunden ist, um Platz zu machen für den notwendigen Titanenkampf, nämlich den menschheitsweit schicksalhaften Streit zwischen der Zuversicht, samt dem, was ihr Gründe gibt, und der Verzweiflung, samt dem, was sie nährt. Es ist der Kampf um die Lebensgründe einer Menschheit, die es im Zuge ihrer Modernisierung lernen musste, ihre Verhältnisse mit nüchternen Augen anzusehen. In dieser Bipolarität haben alle Arbeiten und Künste der Gegenwart ihren Ort; in der Schlacht der Motive, die Hoffnung gründen oder in Verzweiflung treiben, kommen die Lebensantriebe der aktuellen und künftigen Generationen zu sich – oder lösen sich in ihr auf zu nichts. Dieses psychodynamische Endspiel der Gattungsintelligenz ist von den Medien weithin unbegriffen, obwohl sie allesamt längst wie Kombattanten im Nebel durcheinander schreien; es ist von den politischen Klassen kaum erfasst, obwohl sie selbst längst in mehr oder weniger wirren Manövern auf dem Schlachtfeld operieren. Kein Institut für strategische Studien hat je über den Verlauf des ultimativen psycho-politischen Dramas ein Wort verloren, geschweige denn eine These über seinen Ausgang gewagt. Auch über der Intelligenz liegt ein merkwürdiger Bann, der sie daran hindert, ihr Weltzeugenamt in gehöriger Weise wahrzunehmen. Offenbar ist es für Menschen unserer Zeit noch immer zu schwer, inmitten einer Titanenschlacht zugleich Kombattant und Beobachter zu sein. Wer sieht, so scheint die Regel zu lauten, der kämpft nicht, und wer kämpft, der sieht nicht. Und doch wäre ein sehendes Kämpfen und ein kämpferisches Sehen an der Zeit – vor allem deswegen, weil kaum jemand noch weiß oder wissen kann, auf welcher Seite der Schlacht er oder sie eigentlich angeworben wurde. Das ist der Rahmen für die heute allenthalben wahrgenommene Krise der Visionen. Die Sicht als solche ist im verworrenen Titanenkampf getrübt. Des einen Grund zur Zuversicht ist des anderen Verzweiflung; des einen Verzweiflung ist des anderen Grund zur Zuversicht. Auch die letzte Bipolarität hat ihre toten Räume und Niemandsländer; zwischen den Fronten irren die Doppelagenten hin und her, und die Szenarien des Tiefenweltkriegs verbergen sich hinter Wolken von Mehrdeutigkeit. Aber wo Ambivalenz herrscht, ist Design nicht weit. Designer sind auch Maskenbildner für bodenlose Zuversicht und Schöpfer von Simulationsmitteln für trügerische Hoffnungen und falsche Auswege.
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Sie sind die Kerntruppe der Doppelagenten in der Titanomachie, indem sie mit der Zuversicht am Neuen und Zukunftsfähigen arbeiten und mit der Verzweiflung in Selbsterhaltungspanik blind die immergleichen Pfade rennen. Sie geben beiden Seiten Recht und rüsten beide mit Zeichen und Geräten aus. Als Mitglieder der unentschiedenen Klasse par excellence sind die Designer zugleich Lieferanten von Spielzeug für letzte Menschen und Erfinder von Werkzeug, das sich in Zukunftswerkstätten bewähren soll. Aber ihre Unentschiedenheit ist nicht Laune oder private Schwäche, sie spiegelt den Zustand aller Kompetenzträger im aktuellen Weltaugenblick wider. Sie zeigt, dass wir zurzeit nicht wissen, mit welchen Kompetenzen man ausgestattet sein müsste, wollte man der Verzweiflung keine weiteren Gründe liefern.
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Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags dem Band Peter Sloterdijk:
Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, Berlin 2014 entnommen.
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Stünde das Design also allein im Dienste eines unverhohlenen Machtpragmatismus, dem letztlich jedes Mittel lieb ist?
Dr. Dr. phil. Florian Arnold geb. 1985, arbeitet als akademischer Mitarbeiter an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und ist Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg. Erste Promotion in Philosophie an der Universität Heidelberg, zweite Promotion in Designtheorie an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Er ist Redakteur der Philosophischen Rundschau, wissenschaftlicher Beirat bei DIVERSUS e.V. und Protagonist des satirischen Webformats: »Design und Strafe« auf zdf.kultur. Veröffentlichungen u.a.: Philosophie für Designer, avedition 2016; Logik des Entwerfens. Eine
designphilosophische Grundlegung, Fink 2018.
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Angesichts einer heute geradezu allgegenwärtigen, von den Genen des Einzelnen über die Gegenstände des Alltags bis zum Klima des Globus reichenden Gestaltung sieht man sich mit der Frage konfrontiert, wo und wie es noch weitergehen soll, ob auch das Design Grenzen des Wachstums kennt, oder ob es diese Grenzen auch künftig überschreiten und verschieben wird. Man scheint die Zukunft (nicht nur) des Designs heute ungeduldiger als jemals zuvor zu erwarten, doch, so kann man den Eindruck gewinnen, weniger darum, weil man mit neuen Entdeckungen und Erfindungen rechnet – dessen darf man vielmehr versichert sein –, sondern weil man zu erkennen meint, dass die Vorstellung einer andauernden Zukunft, die in ihren Entwürfen zuverlässig über das Bisherige an Wirklichkeiten und Wünschen hinausginge, zu den auf paradoxerweise überholten Vorstellungen der sog. ›Neuzeit‹ zählt. So beschleicht einen bisweilen das Gefühl, dass sich der Möglichkeitshorizont zwar täglich weitet, doch ebenso absehbarer wird, wo er sich öffnet: Was Neues kommt, scheint dabei weniger vor hergesehen als im Gewesenen bereits vorgesehen und zwar in einem Gewesenen, das sich im Nachgang als das eigentlich Wesentliche des Zukünftigen herausstellt. Was also ist mit der Zukunft passiert, angesichts der Umstände, dass ihre Möglichkeiten immer notwendiger und die herkömmlichen Notwendigkeiten immer möglicher werden? Als Schlussvariation zu Derridas Leit-motiv: l’avenir reste à venir, scheint uns, statt einer eigenständig anderen Zukunft, nur noch die andauernd erneuerte Ernüchterung zu bleiben, im Künftigen die ewige Wiederkehr des status quo zu erwarten. Will man sich heute Rechenschaft darüber ablegen, woran man und was an der Zeit ist, fällt die Prognose ermüdend gleichgültig aus: Die Zukunft ist passé – und die Gegenwart wird wohl darin verharren, was sie schon war. Doch was liegt an diesem Verlust einer anderen Zukunft, vielleicht der Zukunft (sofern man ihn überhaupt als solchen erfährt), dass man dagegen jede minimale Zukunftsaussicht vorauseilend schon als neuen Gewinn zu verbuchen trachtet, so karg er auch ausfallen mag? Erinnert man sich nochmals an die vergangenen 05
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Zukunftserwartungen einer von Fortschritten, allen voran der Technik, euphorisierten Moderne, meint man erwarten zu dürfen, paradigmatisch bei den Futuristen, Auskunft über den Stand der Dinge zu erhalten. Doch im Rückblick scheint selbst dort schon die heutige Enttäuschung von weitem erkennbar. So sollte Marinetti ungewollt mit seiner Behauptung Recht behalten: »Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! …Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.«1
In der Tat leben wir heute in einem Absoluten der allgegenwärtigen Geschwindigkeit, doch damit wohl oder übel auch unter den Bedingungen seiner negativen Theologie und ihrer coincidentia oppositorum: Wir leben in einem »rasenden Stillstand«2. Marinettis Ewigkeitsvision stellt sich heute als ein Tunnelblick auf der Datenautobahn heraus: Wir sehen weniger andauernd revolutionären Ereignissen entgegen, als dass wir angesichts eines sicheren Overkills an Eindrücken und Information einer lethargischen Unachtsamkeit verfallen. Was vom Geschwindigkeitsrausch des Futurismus noch bleibt, ist nurmehr sein Überdruss. Man kann der 100 Jahre verspäteten Replik von Franco Berardis, seinem Manifest des Postfuturismus, nur zustimmen:
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»Wir sind am äußersten Kap der Jahrhunderte. Wir müssen unbedingt zurückschauen, um den Abgrund der Gewalt und des Horrors zu erinnern, die durch militärische Aggressivität und nationalistische Ignoranz jeden Moment heraufbeschworen werden können. Wir haben zu lange in der Religion der gleichförmigen Zeit gelebt. Doch wir haben die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit hinter uns gelassen, im Internet, also können wir sie nun vergessen, um unseren singulären Rhythmus zu finden.« 3
1 Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus , erstmals erschienen in: Le Figaro, Paris, 20. Februar 1909. 2 Vgl. Paul Virilio: Rasender Stillstand, Essay, Frankfurt a. M.
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Was noch an Zukunftsahnungen aufkommt, macht sich allein durch das Gefühl der Beschleunigung oder des Ausbremsens einer ansonsten gleichbleibenden Geschwindigkeit auf vorgezeichneten Bahnen des Fortschritts bemerkbar, Bahnen, die geradewegs auf ein dead end zuzulaufen scheinen. Was heißt es dann aber, den Appellen Berardis zu folgen, »unbedingt zurückschauen« und ›unseren singulären Rhythmus zu finden‹? Lässt sich die »Religion der gleichförmigen Zeit« und ihr Absolutes einer allgegenwärtigen Geschwindigkeit einfach »vergessen« – »im Internet«? Und läuft dieses ›Vergessen‹ nicht selbst Gefahr, geradezu selbstvergessen die futuristischen Ewigkeitsvision mit ihrer post-futuristischen Variante zu vertauschen – mit jenem rasenden nunc stans, das man gegenwärtig immer noch etwas unbeholfen ›Virtualität‹, den Cyberspace oder eben das ›Internet‹ nennt? Diese Fragen lassen sich heute nicht mehr beantworten, ohne zugleich die Frage nach dem Design als Entwurfspraxis aufzuwerfen. Mochte sich das moderne Design gemäß seiner Logik des Entwerfens vor allem als ein ›Zukunfts-Projekt‹ verstehen, so scheinen die heutigen Zeichen der Zeit darauf zu deuten, dass auch hier das Futur bereits passé ist und in diesem Zug eine Neuorientierung vorgenommen wurde, die von Utopie auf Mythos umgestellt hat. Der Entwurf der Zukunft ist zugleich ihre Unterwerfung4 – relativ zur gestalterischen Macht ihrer Manipulierbarkeit. Die Utopie ist zur Falle der Erwartungen geworden und der Mythos umgekehrt zur ratsamen Erinnerung daran, was es heißt, in einer ewigen Wiederkunft gefangen zu sein. Erst so scheint ein möglicher Ausweg, der nicht schon vorgesehen oder vorhergesehen ist, denkbar. Demnach bestünde eine wesentliche Aufgabe einer postfuturistischen Designphilosophie darin, das allzu gepriesene Konzept ›des Anderen‹ als das bloße Einerlei der Veränderung, das stets selbe Andere zu entlarven, um, entgegen dieser illusionärer Heterogenitäten, das Selbe wieder anders denken zu lernen. Entsprechend wird im Folgenden zu zeigen sein, dass und wie sich Design und Philosophie innerhalb des Zeitwandels wechselseitig zu orientieren vermögen, genauer: wie Herkunft und Zukunft einer
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1997. 3 Vgl. Franco Berardi: Manifest des Post-Futurismus, online auf der Homepage des Europäischen Instituts für progressive Kulturpolitik (http://eipcp.net/n/1234779255/?lid =1234779542), letzter Zugriff am 5.11.2018 4 Zum Verhältnis von Entwerfen und Unterwerfen siehe Friedrich von Borries: Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie, Berlin 2016, S. 9 ff.
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geistesgegenwärtigen Designphilosophie zu bestimmen sind, die sich durch einen ausgeprägten Virtualitätssinn auszeichnet, der wiederum über einen vorgezeichneten Möglichkeitshorizont hinausgeht (ohne von seinem Jenseits zu träumen). Dafür wird im Schnelldurchlauf der Jahrhunderte verfolgt, wie sich ein eschatolo gischer Futurismus der Neuzeit im Biokosmismus des revolutionären Russlands der 1920er Jahre und noch einmal verspätet im kalifornischen Transhumanismus der Gegenwart vollendet, indem er die Zukunft eher abschließt, als öffnet. Die eigentliche Herausforderung des Postfuturismus besteht dagegen in einer erneuten Erdung im Hier und Jetzt, die Bruno Latour jüngst als Kampf um Gaia in Acht Vorträgen über das neue Klimaregime geschildert hat. Dabei wird noch genauer zu beobachten sein, auf welche Weise Mythos und Virtualität fortwährend ineinander umschlagen. In diesem Sinne macht eine mythische Neuverortung des Designs hier den Anfang, um eine direkte Wesensverwandtschaft mit der Philosophie offenzulegen: Eine postfuturistische Designphilosophie ist weder vulkanisch, apollinisch, dionysisch, martialisch noch prometheisch. Design und Philosophie stehen vielmehr in der Gunst Athenas.
I. Athena ist als Göttin der Kopfgeburten in das Pantheon des Abendlandes eingegangen. Als Schirmherrin der Wissenschaften thront sie noch heute, nach ›dem lebendigen Geist‹ Ausschau haltend, über dem Portal manch altehrwürdiger Universität, und auch zu ihren Glanzzeiten wussten sich die Bürger der nach ihr benannten Stadt sowohl ihrer Wehrhaftigkeit als auch insbesondere ihrer Weisheit zu versichern. Dass sie dabei nicht zuletzt den Philosophen lieb war, lässt allen voran der Stifter der weltweiten Akademietradition, Platon, seinen Protagonisten Sokrates an berühmter Stelle im Kratylos bezeugen: 25
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»Es scheinen aber die Alten von der Athene eben das gehalten zu haben, was noch jetzt die, welche sich auf denHomeros verstehen. Denn die meisten von ihnen sagten auch bei ihren Auslegungen des Dichters, er habe durch die Athene Verstand und Einsicht (noun te kai dianoian) vorgestellt, und dergleichen etwas scheint auch, wer die
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Namen bestimmt, von ihr gedacht zu haben, nur drückte er es noch stärker aus, indem er sie gleichsam Gottes Vernunft (theon noesin) nennt, so daß sie ha theonoa ist […].«5 Ob diese Etymologie (die im Dialogkontext selbst nicht ohne eine gewisse sokratische Ironie vorgetragen wird) nun korrekt sein mag, oder nicht: Der literarische Strippenzieher Platon gibt dieser Auslegung nicht nur darum den Vorzug, weil sie sich angeblich auf andere Interpreten der Heidenbibel Homer berufen kann, sondern auch weil sie dem eigenen Unternehmen, »Verstand und Einsicht« bzw. Nous und Dianoia in Athen institutionell zu verankern, höchsten Kredit einräumt. Dass es sich hierbei nicht um philosophisches Wunschdenken handelt – eine mutwillige Vereinnahmung des Mythos durch den Logos, sondern um eine legitime Kopfgeburt – veranschaulicht gerade der Geburtsmythos der Athena selbst, wie er im Homerischen Hymnus 286 belegt ist. Hier wie auch andern Orts erscheint Athene nicht nur von Anfang an in voller Kampfmontur, sondern gleichermaßen mit einer gewissen ›Klugheit‹ (mētis) ausgestattet, die nicht allein auf ihren Vater zurückgeht. Dieser nämlich, wie wiederum Hesiod in seiner Theogonie zu berichten weiß, hatte Athenas Mutter vor ihrer Niederkunft verschlungen, um seiner forcierten Abdankung zu entgehen:
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»Als Götterkönig machte Zeus Metis (Klugheit) zur ersten Gattin, die weiseste unter Göttern und sterblichen Menschen. Doch als diese die helläugige Athene gebären sollte, da täuschte er sie listig mit schmeichelnden Worten und barg Metis nach dem Rat Gaias und des sternenreichen Himmels [d.i. ihr erster Gatte Ouranos; Anm. d. Verf.] in seinem Leib. Dies nämlich rieten sie ihm, damit nicht ein anderer der ewigen Götter an seiner Stelle die Herrschergewalt übernehme. Denn Metis sollte, so war es bestimmt, sehr kluge Kinder gebären; zuerst eine Tochter, die helläugige Tritogeneia, dem Vater gleich an Mut und
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5 Platon: Kratylos, 407 a / b. Zitiert nach Platon: Werke in acht Bänden, hrsg. v. Gunther Eigler in der korrigierten Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Bd. III, Darmstadt 1974, S. 470 / 71. 6 Vgl. Homerische Hymnen , hrsg. v. Anton Weiher, München 1950, S. 126 / 27: »Pallas Athene, die ruhmvolle Göttin, will ich besingen, / eulenäugig, vieles beratend (polymetin), spröde im Herzen, / züchtige Jungfrau, Städtebeschirmerin, mutig zur Abwehr / ist sie, Tritogeneia, die Zeus, der Berater (mētieta zeus), erzeugte / selbst aus
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planendem Willen; dann aber sollte sie einen Sohn gebären, einen König der Götter und Menschen mit trotzigem Sinn. Doch zuvor barg Zeus Metis in seinem Leib, damit ihm die Göttin künde, was gut sei und böse.«7 05
An dieser kanonischen Stelle entpuppt sich Athena nicht nur als Kopfgeburt eines unliebsame Geschicke umsteuernden Götterkönigs, sondern gleichen Teils seiner ersten Gattin, die als perso nifizierte Klugheit den Wink für alles Weitere wie Vorherige gibt. Während Zeus als unbezwingbarer, blitzeschleudernder Herrscher gilt, wird der Ausdruck mētis zumeist im Sinne eines Sich-Verstehens auf die Erfordernisse der Situation8 gebraucht und deutet damit auf eine praktische Vernunft in der Entscheidungsfindung, der gleichzeitig etwas listenreiches anhaftet. Wo beide elterlichen Momente sich berühren, leuchtet für einen kurzen Augenblick auf, wie Athene nicht nur zur Göttin der Philosophen avancieren konnte, sondern gleichermaßen als Lehrmeisterin der Designerzunft gelten kann. Gleichsam als Gedankenblitz des großen Donnerers ist sie der »Mut und der planende Wille«, sich nicht nur gegen eine bedrohliche Wirklichkeit zu wappnen, sondern gegen sie, bestens gerüstet mit Einsicht und Voraussicht, sogar in den Angriff überzugehen.9 Entsprechend wird Athena zu unterschiedlichen Zeiten ebenfalls als Mentorin der Metallgießer und anderer Handwerker (Töpfer, Wagen- und Schiffsbauer oder auch der Schmiede)10 verehrt, indem sie mit Hephaistos konkurriert. Aber auch dem Kunsthand werk ist sie nicht abgeneigt, denkt man etwa an das prachtvolle Gewebe, das der mit ihr wetteifernden Arachne das Leben kosten sollte, oder an das Totentuch, das sie Penelope für ihren Schwieger vater Laertes zu weben hieß. Doch anders als bei Apollo, sind es gerade nicht die bildenden Künste und der ästhetische Selbstzweck, denen die Gunst Athenas gilt. Ihr Besuch auf dem Musenberg 10
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seinem erhabenen Haupt, zum Kampfe gewaffnet, / golden und ganz voll Glanz.« 7 Hesoid,
Theogonie, 886 – 900. 8 Auf die nahe Verwandtschaft mit einem anderen Konzept praktischer Intelligenz und deren Unterschied macht Lisa Raphals in Knowing Words. Wisdom and
Cunning in Classical Tradition of China and Greece (Ithaca/London, S. 5) aufmerksam: »An 35
immediate obstacle to the preliminary description of metic intelligence is the overt resemblance of mētis and phronēsis, the ›practical intelligence‹ of Aristotle. Yet metic intelligence operates with a peculiar twist, the unexpressed premise that both reality and language cannot be understood (or manipulated) in straightforward ›rational‹ terms but must be approached by subtlety, indirection, and even cunning. By contrast, phronēsis is practical but not inherently oblique, devious, or indirect. In more contemporary terms, it is tempting, but misleading, to reduce metic intelligence to ›know-how knowledge‹« 9 Walter F. Otto
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Helikon, den Ovid in den Metamorphosen schildert, und die dabei fallenden Begrüßungsworte von Seiten der Musen machen von vornherein deutlich, wie die Verhältnisse liegen: »O Tritonia, die du in unseren Reihen getreten / wärest, wenn Tapferkeit [virtus] nicht zu höherem Werk dich berufen.«11 Die Tugend (»virtus«) Athenas soll für höhere denn musische Werke taugen. Unversehens sieht man sich an die Selbstbeschreibung der Philosophen in Platons Nomoi erinnert, wonach die Philosophie den Künsten und der Dichtung nicht eigentlich Feind wäre, vielmehr ihre Überwindung und höhere Vollendung, folglich ihre Erübrigung darstelle.12 Ähnliches sollte auch von Konstrukti visten und Produktivisten im Zuge der russischen Revolution für das Verhältnis von Kunst und Design behauptet werden, ausstrahlend auf althergebrachte Kunstakademien und kommende Hochschulen für Gestaltung. Unverkennbar prägt also eine Neigung zur praktischen Wirksamkeit in der Wirklichkeit den Charakter Athenas. Dagegen scheint ihr der Rausch der Betäubung und die Feier des Unbewussten, kurz das Dionysische abzugehen; stattdessen ist es contenance, die jedoch nicht ohne Gerissenheit bleibt, wenn es darum geht, gegen alle Unwägbarkeiten zum gesetzten Ziel durchzu stoßen. Das wird zuletzt daran am deutlichsten, wie Athena als Kriegsgöttin ihren Konkurrenten Ares auf seinem eigenen Feld aussticht. Was hier triumphiert, ist ein vorausschauendes Vorgehen, der die blutrünstige Raserei zuletzt ins Messer läuft, ein Können also, das sie – wie bei ihrem Liebling Odysseus im Unterschied zu Ajax – durch Rat und Klugheit bis zur Kunst steigert, statt bloß eine talentierte Natur walten zu lassen. Erst ihre Besonnenheit behält den Überblick und erkennt Gelegenheiten, die sie zu nutzen weiß, um stets einer mehr oder weniger vernünftigen Ordnung zum Sieg über das Chaos zu verhelfen.
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(Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes, Frankfurt a. M. 1987, S.75 f.) beschreibt diesen ›Augenblick‹ der Athene treffend: »Wenn wir uns das Wesen der Göttin vergegenwärtigen – diesen Geist hellsten Wachseins, der blitzschnell erfaßt, was vom Moment erfordert wird, der mit nie getrübter Klarheit immer Rat findet und den schwersten Aufgaben mit der schlagfertigsten Bereitschaft entgegengeht – läßt sich ein besseres Erkennungszeichen und Symbol für dieses Wesen erdenken als der helle, leuchtende Blick des Auges?« – Und gemeint ist damit zugleich ihr Attribut, die Helläugige, glaukōpis zu sein sowie indirekt ihr Vogel, der glauks. 10 Vgl. etwa Homer:
Illias 5, 61 und 15, 412; Odyssee 6, 233 oder auch Hesiod: Erga 430. 11 Vgl. Ovid: Metamorphosen, V, 269 – 70. – Zitiert nach Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, übers. u. hrsg. v. Erich Rösch, München/Zürich 1952, S. 177. 12 Platon, Nomoi 817a-c.
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Mehr göttliche Intuition als animalischer Instinkt, ist sie also »weder ein wildes noch ein beschauliches Wesen. […] Ihr Kampfwille ist kein Draufgängertum, ihr heller Geist keine reine Vernunft. Sie vertritt eine Welt der Tat, aber nicht der unbedachten und rohen, sondern der besonnen, die durch ihre klare Bewußtheit am gewissesten zum Siege führt.« Im Ganzen könnte man also mit Walter F. Otto sagen, dass sie sich als »die tapfere Unmittelbarkeit, die erlösende Geistesgegenwart, die rasche Tat« erweist und als beflissene Helferin ihren Helden (Odysseus, Achilles, Perseus) stets zur Seite steht. Mit einem Wort, das später noch auf andere Weise zu uns sprechen wird, ist sie die »Immernahe«.13
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Angesichts ihrer vollentfalteten mythischen Gestalt scheint es umgekehrt eher schwierig, eine als abstrakt geltende Denkweise der Philosophie mit Athena zu vereinigen, wohingegen man ihre Wesensverwandtschaft mit den Genien und Geistern des Designs schon an ihren hellwachen und zugleich zupackenden Art ablesen zu können meint. Und doch lässt sich in der hiesigen Doppelperspektive einer Design-Philosophie an dem Charakter Athenas gerade ein Bildungs- und Gestaltungsparadigma wiedererkennen, das Philosophie und Design zu Komplementen vereint. Denn beide finden im Prozess des Entwerfens zusammen.14 Was ist damit gemeint? In der nicht nur für die neuzeitliche Kunst(-Geschichte) folgenrei chen Diskussion des disegno bei Giorgio Vasari kommen zwei Momente zum Tragen, die sich als disegno interno (Konzept) und disegno esterno (Ausführung) bis zu den heutigen Software- und Hardwarefragen dialektisch entfaltet haben. Die bereits etablierte Praxis seiner vorangegangenen Zunftgenossen, Künste und Wissenschaften zu einer artistic research avant la lettre zu vereinigen, sucht Vasari nicht nur theoretisch zu legitimieren, sondern erweist sich gleichzeitig als eine Art Initialzündung für einen ›zukunftsweisenden‹, autodynamischen Kreationsprozess, der sich in der gegenwärtigen Kreativwirtschaft gewissermaßen totläuft. Ein neuplatonischer Idealismus einerseits sowie ein neuempirischer Realismus andererseits wechselwirken dabei derart, dass Formung der Materie und Materialisation der Form zu treibenden Momenten eines virtuellunendlichen Prozesses des (Selbst-)Designs werden, mit dem Resul15
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13 Otto: Die Götter, a.a.O., S. 76 f. 14 Ausführlich entfaltet in Florian Arnold: Die Logik des
Entwerfens. Eine designphilosophische Grundlegung, Paderborn 2018.
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tat, dass sich himmelhohe Gedankenflüge und erdenschwere Gestaltbildungen im Zwischenreich menschlicher Kunstfertigkeit nunmehr auf unvorhersehbare Weise durchdringen und vermitteln können. Innovationszwang und wechselseitige Überbietung nehmen ihren Lauf. Ungeachtet der weiteren theoretischen sowie praktischen Ausdifferenzierung dieses Entwurfsprozesses in seiner Geschichte, eröffnet diese Doppelperspektive zugleich den Blick auf die buchstäbliche ›Schnittstelle‹ zwischen Design und Philosophie, die uns hier besonders interessiert. Gleichsam aus entgegengesetzten Richtungen kommend, treffen sich beide an genau jener Stelle, die durch einen wechselseitigen Umschlag von Gedanke und Gestalt gekennzeichnet ist und ihrerseits bereits eine Geschichte ihrer unterschiedlichen Gesichter kennt – vom künstlerischen disegno, über das industrielle Schema bis zum digitalen Interface. Skizzenhaft lassen sich dabei die Übergänge vom Gedanken zur Gestalt (qua Einbildungskraft) als Design und umgekehrt von der Gestalt zum Gedanken (qua Urteilskraft) als Philosophie begreifen, die damit beide jenen metabolischen Punkt durchlaufen, der Denken und Handeln seit jeher durcheinanderwirft, ohne dass wir wüssten, wie uns geschieht. Dass es aber geschieht, zeigt nicht nur die Geschichte, sondern entpuppt sich zusehends als folgenreiches Geschick, (sowohl philo sophisch als auch gestalterisch) sich die eigene Heimat selbst zu entwerfen. Spätestens seit Kant gibt es nicht nur Philosophie als transzendentale Theorie, sondern ebenfalls – zwar noch unbemerkt, doch bereits wirksam – Design als transzendentale Praxis: durch beide erkennen bzw. behandeln wir uns zunehmend selbst gekonnt als Bedingungen unserer eigenen Möglichkeiten. Das Resultat ist ein umfassendes Gestaltungsbewusstsein, dass wiederum mit Martin Heideggers Rede vom Dasein als Selbst- und Weltentwurf in Sein und Zeit erstmals indirekt ausgesprochen werden sollte: Dasein ist Design. Philosophen wie Designer erweisen sich jeweils auf ihre Art als Spezialisten für das Allgemeine, die mit allem zum Teil vertraut, aber mit der Sorge für das zugrundeliegende Ganze betraut sind und damit auch ihrer Matrone alle Ehre machen. Was hat das nun mit der Frage einer postfuturistischen Designphilosophie zu tun? – Die Antwort lässt sich wohl am kürzesten mit 05
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dem Gebaren einer anderen Gottheit, eines berühmt-berüchtigten Titanen beantworten, das Athena hingegen völlig fremd ist. Obwohl sie sich als Schirmherrin der unterschiedlichsten Geschäftigkeiten immer wieder auch in den Kompetenzbereich anderer Gottheiten einmischt, bleibt ihr doch alles Prometheische suspekt.
II. Darf man der mythischen Intuition der Moderne Glauben schenken, dann ist Prometheus der Berater der Berufsrevolutionäre. Ob Goethes (in vielerlei Hinsicht Brüche verursachende) Gedicht oder Hans Blumbergs monumentale Arbeit am Mythos, Prometheus gilt als Rollenmodell einer sich im Spiegelbild der polit-theo-technologischen Umwälzungen beliebäugelnden Neuzeit. Mit seinem Titanenstolz identifiziert sich, wer sich die Erde und nicht nur die Erde untertan zu machen sucht. Doch im olympischen Feuerraub versinnbildlicht sich nicht allein der Wagemut als Beihilfe der Aufklärung und Emanzipation des modernen Menschengeschlechts, sondern in seinen schrecklichen Folgen sowohl für die Sterblichen als auch den unsterblichen Vordenker selbst zugleich die Bestrafung jedweder Hybris, die es sich mit den Herrschenden verscherzt, ohne erfolgreich deren Sturz herbeiführen zu wollen. Wo dieser Umsturz gelingt, mithin die Revolutionspartei sich zu behaupten weiß, scheinen dagegen dem Wagemut und der Selbstermächtigung keine Grenzen mehr gesetzt. An die Stelle von athenischer Besonnenheit tritt nun vollends die Risikofreudigkeit als eine andere Art der Vorausschau, von der sich immer erst am Ende sagen lässt, wer das Nachsehen hat.
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»Vor dem geistigen Auge der vom letzten Krieg und von den revolutionären Erschütterungen gebeutelten Mensch- heit zeichnet sich bereits ein neuer Plan des Lebens ab, ein Maximalprogramm kosmischen Maßstabs. Und so, wie die Bolschewiki in der Geschichte des Kommunismus die Menschewiki hinter sich gelassen haben, weil ihnen die umgehende Verwirklichung des Maximalprogramms möglich schien, genauso lässt heute der kosmische Maximalismus den bürgerlich-spießigen wissenschaftlichen Liberalismus hinter sich, der das kühn Verwegene in das Reich der Utopie verweist, und setzt machtvoll die
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unverzügliche Proklamation der biokosmischen Ideale – des Immortalismus und Interplanetarismus – auf die Ta gesordnung.«15 Es gibt wohl kein moderneres, revolutionäreres, futuristischeres, im Ganzen ›prometheischeres‹ Projekt innerhalb der Menschheitsgeschichte als den großsprecherischen Maximalismus der Biokosmisten in der Aufbruchsphase des revolutionären Russlands. Was hier von Aleksandr Jaroslavskij programmatisch verdichtet am 25. 11. 1922 als Agenda eines »kosmischen Maximalismus« verkündet wurde, kann uneingeschränkt als Vollendung aller neuzeitlichen Sehnsüchte nach dem irdischen Paradies bezeichnet werden – und dies nicht nur deshalb, weil es bereits über die Erde hinauszielt. Auch wenn es bis heute noch nicht dazu kommen sollte, die Versprechungen eines »Immortalismus« und »Interplanetarismus« wahr zu machen, so wurde doch spätestens an dieser Stelle bereits ausgesprochen, wie die äußersten Konsequenzen aussehen müssten, die aus dem abendländischen Expansionsdrang zu ziehen wären. Repräsentativ für den futuristischen Wahrheitshorizont der Neuzeit entdeckt sich hier eine megalomane Utopie, die nicht nur die umfassende Kolonialisierung des Raumes, des Universums, in Aussicht stellt, sondern zugleich mit der Uchronie einhergehen soll, die Ewigkeit der Zeit auf dem Wege der Individual-Unsterblichkeit des Menschen herzustellen. Der Biokosmismus und seine Anhänger forderten nichts Geringeres als die Eroberung und Unterwerfung der Raumzeit für die Belange einer ›Neuen Menschheit‹. Diese Episode eines glühenden Prometheismus kulturgeschichtlich zu würdigen, verlangt gleichzeitig zu erkennen, dass der Zenit des Futurismus damit schon erreicht war, auch wenn sich das Treibhaus der Moderne erst einige Jahrzehnte später aufheizen sollte. So geht unter anderem der russische Vorsprung beim Wett lauf zum Mond auf Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski als biokosmistischen Raketenpionier zurück,16 und überhaupt scheint die Manipulationsmacht avancierter Technologien im 20. Jahrhundert nie stärker affirmiert worden zu sein als hier. Heute scheinen wir dagegen wieder in einem sich zunehmend abkühlenden Zeitalter 05
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15 Alekdandr Jaroslavskij: »Der kosmische Maximalismus«, in: Die Neue Menschheit. Biopoli-
tische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts , hrsg. v. Boris Groys u. Michael Hagemeister, Frankfurt a. M. 2005, S. 412 – 414, hier S. 412. 16 Neben
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der verheizten Verheißungen zu leben, das sich höchstens noch durch spekulative Renditen in der Gegenwart für das Kommende erwärmen mag. Was die versprochene Zukunft bringen sollte, kam bereits – und kommt heute nur noch als defuturisiertes und digitalisiertes Posthistoire. Die anfangs gestellte Frage, wie es wiederum dazu kam, wie also die Geschichte seit Kolumbusʼ Entdeckung des Meer- bzw. Mehrraums anlief, um mit letztlich ziellosen Navigationen im sogenann ten Cyberspace zu enden, diese Frage schien bis vor kurzem den Modernen noch ein Sphinx-Rätsel der Geschichte. Die Befragten mussten sich erst selbst als Antwort begreifen, um die Geschichte sich in ihren eigenen Abgrund stürzen zu sehen. Die Selbsterkenntnis der Moderne ist die bereits postmoderne ihrer Möglichkeitsund Unmöglichkeitsbedingungen, einer Moderne, deren eigene »self-destroying prophecy«17 sie dem schwindenden Glauben an die Zukunft der großen Geschichte(n) aussetzte und die sich dadurch zu guter Letzt selbst verunmöglichte. Damit es jedoch zu diesem Sturz überhaupt kommen konnte, brauchte es zuvor einen Anstieg des utopischen und uchronischen Meeresspiels, um die Überfahrten in die Zukunft zu gewährleisten. Mit dem Datum 1492 ist das Fanal für die später sogenannte »Globalisierung«18 gegeben und die Kartographierung des gekrümmten Raumes zum Abenteuer von Horizontstürmern geworden. Der lite rarisch gestützte Utopismus der Folgezeit malte sich darum nicht von ungefähr zunächst fremde Orte in der Jetztzeit aus, von denen die Rückkehrer in der Heimat zu berichten wussten. Was dabei einst als ehemalige Heimat zurückgelassen wurde, war vor allem ein lokal und ständisch gebundenes Diesseits, das allein von einem postmortalen Jenseits her seine eigenen Koordinaten erhielt. Das nunc stans bestand vorrangig in einem gleichförmigen Hier und Jetzt und stand damit zugleich für den festen Grund zweier getrenn ter Welten. So kannte die Ewigkeit weder Zeit noch Raum – wenn gleich erst jenseits der irdischen Zeit und des irdischen Raumes. Mit der fortschreitenden Erkundung und Rundung der Erde zum Globus trat jedoch die Zeitlichkeit der Bemühungen deutlicher in
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Ziolkowski sind es noch eine Reihe anderer Kosmisten, die den technologiebegleitenden Ideologie der Folgezeit vorgegriffen haben. Vgl. Michael Hagener, »Nikolaj Fjodorows Projekt der universellen Erlösung und der ›russische Kosmismus‹«, in: Kosmismus, hrsg. v. Boris Groys u. Anton Vidokle, Berlin 2018, S. 168 – 184. 17 Vgl. Ossip K. Flechtheim: Ist die
Zukunft noch zu retten?, Hamburg 1987, S. 72f.: »Einige einfache Beispiele: Der Schüler
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das Bewusstsein der Eroberer: das Land in Sicht, das Zukommende am Meereshorizont war zugleich das Künftige, auf das man auch kurze Zeit zuvor nur hoffen konnte, ohne es in diesem Leben viel leicht jemals zu sehen. Doch erst, wo eine derartige lokale wie temporale Zu-Kunft auch in der heimatlichen Gegenwart auf der anderen Seite des Atlantik erneut ankam, erweiterte sich das europäische Bewusstsein hin zur eigenen ›Geschichtlichkeit‹, einer Geschichte also, die mit gesteckten Zielen Fahrt aufnehmen konnte, statt sich nur im Kreise zu drehen, wie das Kommen und Gehen der Jahres zeiten. Erst mit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts – industriell bezeichnenderweise die größte Seemachte der damaligen Geschichte befeuernd und politisch folgerichtig am westlichen Rand der kartog raphierten Welt einsetzend, um über den Atlantik auf das europäische Festland zurückzuschlagen – erst im Zuge der totalen räumlichen Umwälzungen also entdeckte man im absolutistischen Frankreich die (vermeintliche) Machbarkeit der Geschichte selbst, sprich: die Herstellung von erwünschten Zukünften gegenüber einer überkommenen Gegenwart, die geradewegs darauf angelegt schien, sich allererst noch zur besten aller Welten entfalten zu müssen. Das philosophische Pendant hierzu, die kopernikanische Wende Kants, zählte entsprechend Raum und Zeit zu den transzendentalen Formen einer weltkonstituierenden Subjektivität. Das Ich befand sich nicht mehr einfach in Raum und Zeit, sondern setzte sich in sie und sie durch es selbst, wie der Kantianer Fichte behaupten sollte. Nach der Tilgung der letzten weißen Flecken auf der Landkarte gewahrte man nunmehr stattdessen dunkle Zeiten in einer selbstgesetzten Chronologie, die es im stetigen Voranschrei ten, in der Richtung einem unumkehrbaren Zeitpfeil folgend, aufzuklären galt. So waren es fortan vor allem Zeitreisen mit denen die dichterische Einbildungskraft das kollektive Gedächtnis auf neue Gedanken brachte. Diese zivilisatorisch avancierten Uchronien kündeten von Ankünften in fernen Zukünften – nicht mehr von einsamen Inseln, sondern einzigartigen Epochen, die die Revolutionen der eigenen Gegenwart in fiktiver Zukunft wie ein gewagtes Seeabenteuer fiktional glücken oder scheitern sahen.
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fallt knapp durch, da er sich so sehr auf die Prognose seines Erfolges verläßt, daß er nun zu wenig arbeitet. Eine Partie verliert den Wahlkampf, da ihre Siegesgewißheit sie allzu bequem und passiv macht.« 18 Vgl. eine ausführliche Darstellung des Themas bei Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisie-
rung, Frankfurt a. M. 2005.
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Doch erst wo beide Stränge, Utopie und Uchronie, sich erneut miteinander verwoben haben zur Science-Fiction einer nicht selten wundergläubig überhöhten Technologie, öffnete sich der Horizont gänzlich hin auf ein Hier, das bereits dort, und ein Heute, das bereits morgen war. Eine zukunftsorientierte Geschichte wandelte sich damit zusehends zu einer bloßen Metamorphose von technischen Potentialen, die letztlich aus sich selbst an Zukunftsvisi onen herausholen mussten, was ein erschöpfter Raum und eine abgelaufene Zeit schon lange nicht mehr aufbringen konnten. Die Gegenwart der modernen Maschinerie präsentierte sich selbst als real-existierende Raum-Zeitmaschine, deren Reisende seitdem als blinde Passagiere in den jeweils bereitgestellten Gegenwarten umherschweifen dürfen. Im Grund hatte sich die Eschatologie der Neuzeit damit bereits verwirklicht. Die Verlagerung des Jenseits ins Diesseits durch das Umschlagen der hierarchischen Vertikale in eine nivellierte und zerstreute Horizontale terminierte im biokosmischen Maximalismus. Dieser sollte zuletzt den Geist der Technik beschwören, in der Absicht, die lokale wie temporale Endlichkeit des Menschen hinter sich zu lassen und in das Äußerste des Raums sowie das Künftigste der Zeit vorzustoßen – wenn auch bis heute freilich vergebens. Angesichts der geschilderten Entwicklung nimmt der Gedanke jedoch kaum noch Wunder, sondern verlangt nur nach technischem support, dass die Realisierung einer umfassenden Unsterblichkeit des Menschengeschlechts in einem interplanetarisch vernetzten Universum jenen Zustand herbeiführen könnte, der den inhärenten Futurismus der Heilsgeschichte schlussendlich auch von sich selbst erlösen würde: die Apokalypse – in säkularisierter Version. Dass dieser Gedanke gleichsam als Leitmotiv die Narration der Neuzeit durchzieht, wird durch die biokosmistischen Prophezeiungen nur bis zur Kenntlichkeit verzerrt. Bereits der ungewollte Vordenker der kosmischen Revolutionäre, Nikolai Fjodorov, hatte als bekennender Zarist und häretischer Christ den göttlichen Heils auftrag darin erblickt, die individuelle Unsterblichkeit durch eine technische Wiederauferstehung auch auf die vergangenen Menschengeschlechter zu erweitern. Erst angesichts dieser technischen apokatastasis pantōn wäre der inhärenten Logik folgend das neuzeitliche Unternehmen, sein Glück zu machen in der Neuen Welt,
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durch eine Neue Menschheit, als Meisterin des Universums, vollendet – die Apokalypse also perfekt und die lang verheißene Zukunft letztlich eingetreten. Der Futurismus hätte sich bewährt und bewahrheitet, wenn auch instantan überholt. Und doch, schaut man noch weiter in die Zukunft, ist in Sachen Futurismus noch kein Ende in Sicht. Zieht man zum Vergleich mit den östlichen Biokosmisten des revolutionären Russlands die gegenwärtigen Umtriebe kalifornischer Transhumanisten heran, gewinnt man den Eindruck, dass der moderne Zukunftsglaube auch in Zukunft wohl unbelehrbar bleiben wird, weil diese soter iologische Erwartungshaltung mittlerweile gar zur allgemeinen Regel (eines ohnehin gesetzlich verbrieften pursuit of happiness) erhoben worden ist.19 Auffällig ist dabei vor allem zweierlei: Erstens, dass der Transhumanismus ein marktgerechteres Revival des Biokosmismus darstellt, wenn auch diesmal in der westkirchlichen, statt ostkirchlichen Variante. Und demzufolge zweitens, dass der Gott der Apokalypse eine andere Gestalt angenommen hat. Beide betreiben zwar die Fortführung der Metaphysik mit technischen Mitteln, doch gerade der aktuelle Stand dieser technischen Mittel nötig zu einer Korrektur an der soteriologischen Einstellung. War bei den Biokosmisten die Apokalypse gewissermaßen hausgemacht und der Übermensch das Resultat einer menschlichen Selbstüberwindung im Sinne einer kontrollierten Anthropotechnik, so scheint angesichts der neusten technischen Entwicklung bei den Transhumanisten vielmehr die Überzeugung vorzuherrschen, dass die Apokalypse erst mit einer »technologischen Singularität« erreicht sein würde, die zugleich den menschlichen Verständnishorizont endgültig übersteigen könnte.20 Aus dem Übermenschen wäre dann ein Übergangsmensch geworden, von dem letztlich nur noch Gott weiß, was aus ihm werden wird, falls es einmal so weit kommen sollte. Da man im Unterschied zur planwirtschaftlichen redemption je doch nicht absehen kann, wann und ob die unsichtbare Hand der 05
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19 Die Selbstaussagen, Publikationen und Drittdarstellungen sind bereits Legion. Zu den üblichen Verdächtigen zählen Ray Kurzweil, Nick Bostrom oder auch Max More, dessen Definition kanonisch geworden ist: »Transhumanism is a class of philosophies of life that seek the continuation and acceleration of the evolution of intelligent life beyond its currently human form and human limitations by means of science and technology, guided by life-promoting principles and values.« – Neuerdings erschienen Nick Bostrom: Die Zukunft der Mensch-
heit. Aufsätze, Berlin 2018 (wobei es sich um nunmehr übersetzte Texte aus den NullerJahren handelt). 20 Vgl. Zum Konzept der technologischen Singularität den klassischen
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Vergeltung zupackt, investiert die transhumanistische Gemeinde weiter eifrig mit Krediten in den technologischen Fortschritt und hält sich solange selbst mit geradezu chiliastischem Langmut fit, wie noch Aussicht auf Rendite besteht. Doch unter diesen Voraus setzungen weiß wiederum allein nur Gott selbst (oder wer auch immer ihm diesen Platz wird streitig machen), wann er kommt, ob er überhaupt kommt oder ob er nicht schon ein zweites Mal, diesmal jedoch unbemerkt gekommen ist. Im letzten Fall, freilich anders als stets erwartet, könnte das Ende der Geschichte gerade darin bestehen, dass die herbeigesehnte Ankunft allein darum für immer ausbleiben wird, weil die Zukunft bereits passé ist. Und ebenso dafür wie dagegen spricht, dass es keinen Anhaltspunkt geben könnte, dass der Moment der technologischen Singularität bereits erreicht ist, weil dabei ex hypothesi menschliches Verstehen und Begreifen gerade überstiegen werden sollen. Alles geduldige Warten würde einem Warten auf Godot gleichen. Alle Vorzeichen könnten ebenso gut gegenwärtige Symptome oder bloße Nachwirkungen sein, ohne dass wir je zu begreifen vermöchten, wie es aktuell um uns bestellt ist. Da dies selbstsprechend unentscheidbar ist (selbst das Eintreten einer anderen Apokalypse änderte nichts an der Möglichkeit einer ersten oder mehreren zuvor), lässt sich stattdessen nur beschreiben, wie eine Gegenwart aussehen könnte, die nicht mehr weiß, ob sie noch eine nennenswerte Zukunft hat oder ob sie überhaupt noch eine braucht – solange sich noch nicht enthüllt hat, dass sich überhaupt etwas enthüllen wird. Doch zumindest diese offene Frage ließe sich insofern noch als eine Enthüllung verstehen, als sie – bei aller Enttäuschung – dieser bestimmten Gegenwart ein Gepräge der Aussichtslosigkeit verliehe. Eine solche Situation wäre wohl von vagen Befindlichkeiten durchsetzt und es herrschte entsprechendes Unbehagen, nicht mehr sagen zu können, was Zukunft und was Vergangenheit für die Gegenwart noch bedeuten sollten, außer der Abstraktheit eines Andersseinkönnens. – Man kann sich diese Situation nur allzu leicht vergegenwärtigen. Dass wir in einer derart kontingenten Gegenwart leben, bliebe wohl bis auf weiteres bloß ein verzweifeltes Postulat angesichts der benannten Unentschieden-
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Aufsatz von Irvin John Good aus dem Jahr 1965 »Speculations Concerning the First Ultraintelligent Machine« (in: Advances in Computers , Vol. 6, 1965): »Let an ultraintelligent machine be defined as a machine that can far surpass all the intellectual activities of any
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heit sowie Unentscheidbarkeit, wäre da nicht eben diese Verwirrung der Zeitwahrnehmung, die sich heute zum einen allgegenwärtig registrieren und zum anderen in ihrer Herkunftsgeschichte bis zu ihrem Ende als Zukunftsgeschichte vergegenwärtigen lässt. Diese Geschichte nun ist zumindest im Schnelldurchlauf hier erzählt worden und zwar, wie sich bereits in der Einleitung angedeutet hat, als Genealogie der Virtualität: von einer mittelalterlichen Ewig keitskonzeption zweier Welten über die wechselseitige Durchdring ung dieser Welten im Zuge einer utopischen und uchronischen Expansionsgeschichte bis hin zum Auflaufen aller vergangenen paradiesischen Aussichten am Ende der Zukunft in einer ›breiten Gegenwart‹21 der Digitalisierung. Die sogenannte Virtualität lässt sich in diesem Sinn als Ende einer eschatologischen, zukunftsgerichteten Geschichte verstehen, die alle Enden der Geschichte in sich aufhebt und es dabei konstitutiv unentschieden lässt, ob als triumphale Enthüllung oder dröge Enttäuschung, ob als höhere Realität oder niedere Fiktion. Anders gewendet: Virtualität bedeutet die digitale Transfiguration der Allgegenwart des Mythos, seine technische Metamorphose nach einer millinaristischen Inkubationszeit von der Geburt des Erlösers bis zur Erlösung vom Erlöser (bei der nietzscheanischen Verkündung vom ›Tod Gottes‹ durch die industrielle Massenmedien, -waren und -menschen) sowie deren Warenerlös (durch die baudrillardschen Simulakren bei der Apokalypse der Neuen Medien). Mit anderen Worten hat sich der moderne Prometheimus mittler weile dahingehend überholt, dass Prometheus selbst nicht mehr zu wissen scheint, ob er bereits zu Epimetheus geworden ist – so als ob er unwillentlich eine andere Büchse der Pandora geöffnet hatte und nun von seinen zu frühen Hoffnungen in der Gestalt von zu späten Befürchtungen heimgesucht würde. Mit Blick auf den designphilosophischen Gestaltungsoptimismus hat Bruno Latour bereits vor Jahren das schreckliche oder heute schreckhafte Kind der Neuzeit beim Namen genannt und von einem »vorsichtigen Prometheues«22 gesprochen, der sich angesichts der ökologischen Herausforderungen eher einer reformistischen, denn revolutionären 05
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man however clever. Since the design of machines is one of these intellectual activities, an ultraintelligent machine could design even better machines; there would then unquestionably be an ›intelligence explosion‹, and the intelligence of man would be left far behind. Thus the first ultraintelligent machine is the last invention that man need ever make.« 21 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart, Berlin 2011.
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Agenda für die Zukunft verschreiben sollte. Doch womöglich ist die Rolle des Prometheus mit diesem Schritt bereits aufgegeben und einem neuen Rollenbewusstsein des Designs der Weg geebnet, das sich eher an die Gestalt der Athena hielte. Latours damaliges Fazit fiel jedenfalls eindeutig aus: Mit der endgültigen Durchsetzung des (digitalen) Designs im öffentlichen Bewusstsein sei gerade das Ende der Modernen und ihres Revoluzzergebarens erreicht.
III. Wie es dagegen um unsere Gegenwart steht, scheint kaum eindrücklicher als durch eine mythische Neuverortung angezeigt, die gleichfalls von Latour stammt: Diesmal ohne direkten Bezug auf den aufmüpfigen Titanen, doch in direkter Auseinandersetzung mit der Hybris seiner Nachfolger, erfährt die göttliche Tragikomödie um Aufstieg und Fall des Titanengeschlechts eine Erweiterung, indem von ihm ein Kampf um Gaia statuiert wird. In den Augen Latours ist es heute vorrangig eine globale Tendenz zur Reterretorialisierung23 im Zuge des Klimawandels, die die Gemüter seiner öffentlichen Verteidiger und Kritiker zunehmend aufwühlt und die auf dem ganzen Erdball stationierten Lager in immer tiefere Grabenkämpfe verstrickt. So verwundert es kaum, dass Latour neben anderen auch Carl Schmitt auf den Plan ruft, indem er den Nomos der Erde zitiert, um die neuen Freund-Feind-Verhältnisse zu eruieren. Wie sich zeigen wird, geht damit das post-prometheische Drama in seinen vierten Akt über, in dem sich erst noch entscheiden muss, ob die Moderne einer vernichtenden Katastrophe entgegensieht oder zu guter Letzt doch deren Verwindung und ihre eigene Selbstüberwindung bewerkstelligt: 10
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»Die bisherige, europa-zentrische Ordnung des Völkerrechts geht heute unter. Mit ihr versinkt der alte Nomos der Erde. Er war aus der märchenhaften, unerwarteten Entdeckung einer Neuen Welt hervorgegangen, aus einem unwiederholbaren geschichtlichen Ereignis. Eine moderne Wiederholung könnte man sich nur in phantastischen Parallelen denken, etwa so, daß Menschen auf dem
22 Ein Titel der im Deutschen wie ein Pleonasmus klingt, der Sache nach aber ein Paradox bedeuten soll. 23 Vgl. neuerdings auch Bruno Latour: Das terrestrische Manifest, Berlin 2018, als öko-geopolitische Kampfschrift gegen die US-amerikanische Ignoranz der Trump-
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Weg zum Mond einen neuen, bisher völlig unbekannten Weltkörper entdeckten, den sie frei ausbeuten und zur Entlastung ihres Erdenstreites benutzen könnten. Die Frage eines neuen Nomos der Erde ist mit solchen Phantasien nicht beantwortet. Ebensowenig wird sie durch weitere naturwissenschaftliche Erfindungen gelöst werden. Das Denken muß sich wieder auf die elementaren Ordnungen ihres terrestischen Daseins richten. Wir suchen das Sinnreich der Erde.«24
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Schmitts Überlegungen zufolge steuern wir wieder geradewegs auf eine neu zu entdeckende, aber altvertraute Heimat zu, nachdem wir den Erdball umsegelt und in einen durchkartographierten Globus verwandelt haben. Die Stadien des neuzeitlichen Eroberungswettlaufs, des »Erdenstreites«, scheinen abgelaufen und die polit-theo-technologische Apokalypse höchstens durch ein Ausweichen in interplanetare Sphären noch aufgeschoben werden zu können. Was Schmitt jedoch in den 1950er noch für eine Phantasie hielt, sollte knapp ein Jahrzehnt später bereits in ersten Ansätzen verwirklicht sein. Auch wenn die Mondbesiedlung nach der Landung aus offensichtlichen Gründen wieder in weite Ferne gerückt war, scheint heute mancher Erdenbürger immer noch davon zu träumen, den Weltraum, angefangen mit dem Mars zu kolonisieren. So stimmt Latour zwar auch in Schmitts Aufruf zur Erdentreue ein, sieht heute jedoch dieselbe ›neuzeitliche‹ Entwicklung noch immer im Gange, wenngleich verlagert und verschärft:
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»Der alte Nomos der Erde […] hing ab von der Entdeckung expandierender Welten, während der künftige Nomos von der Entdeckung einer sich intensivierenden Neuen Erde abhängt. Natürlich irrt sich Schmitt, wenn er sagt, die Menschen hätten keine neuen Welten gefunden. Sie wurden von ihnen ähnlich frenetisch, ähnlich gewaltsam wie die Neue Welt ausgebeutet, befanden sich jedoch nicht zwischen Erde und Mond und wurden nicht mittels Raketen erreicht; sie befanden sich vielmehr unter der Oberfläche der Erde, und um ihre Rivalitäten sowohl auszubauen
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Administration und für ein neu zu ›erdendes‹ Europa. 24 Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im
Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1950, S. 6.
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als auch anzuheizen, konnten die Staaten sich ihrer über Minenschächte, Fördertechniken, Bohrungen, Abbau und fracking bemächtigen.«25 – »Heute geht es immer noch um Raum, um Erde, um Entdeckung, aber um die Entdeckung einer neuen, in ihrer Intensität und nicht mehr in ihrer Ausdehnung wahrgenommenen Erde. Wir erleben nicht mehr verblüfft die Entdeckung einer uns überlassenen Neuen Welt mit, vielmehr werden wir gezwungen, völlig neu zu erlernen, wie wir die Alte zu bewohnen haben. […] Wenn die Menschen des modernen Typus definiert werden können als diejenigen, die sich immerzu von den Zwängen der Vergangenheit emanzipieren, die immerzu auf dem Weg sind, die unüberwindbaren Säulen des Herkules hinter sich zu lassen, dann haben die Erdverbundenen umgekehrt die Fragen ihrer Grenze zu lösen. Die Menschen hatten die Devise »Plus ultra«, die Erdverbundenen haben keine andere Devise als »Plus intra«.«
Von der extensiven zur intensiven Expansion erstrecken sich die Eroberungen eines nimmermüden Menschengeschlechts, dessen neuzeitliche Exemplare Latour mit dem leisen Unterton eines Retortenpreparateurs als »Menschen« anspricht und von denen er dagegen mit markiger Stimme die »Erdverbundenen« als Nach- bzw. Vormoderne absetzt. Die Definitionen fallen zwar etwas undeutlich aus und der Übergang bleibt entsprechend vage, doch eines scheint zumindest unmissverständlich: Die Devise des Plus ultra wird sich solange um die des Plus intra bloß erweitert, statt ersetzt sehen, wie auch die Intensivierung der Erde noch nicht als ökopolitische Reterretorialisierungsmaßnahme, sondern als erneute räumliche Ausbeutungsbewegung einer technisch zugerichteten Natur, nur diesmal unterhalb der Erdoberfläche, verstanden wird. Dabei beabsichtigt Latour mit der Wiedergewinnung der Erde freilich keine Rückkehr zu ›Blut und Boden‹ – eine Ideologie, die sich im Nachhinein vielmehr als mythisch getarnte Inbesitznahme von politischem Terrain entlarvt –, sondern bezeichnet damit umgekehrt und überraschend eine Wiedereroberungskampagne der 20
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25 Bruno Latour: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das Neue Klimaregime , Berlin 2017, S. 393 f. 26 Ebd., S. 487: »Das Novum ist um so größer und unsere Überraschung umso vollständiger, als diesmal nicht wir es sind, die andere Völker von ihrem Land verjagen, es
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Erde selbst gegen den »Menschen«.26 Diese, wo sie die Zivilisationen mit den unterschiedlichsten Krisen heimsucht, unterwirft sich jene gleichsam, indem sie sie als »Erdverbundene« und -verbündete verpflichtet. In dieser Quasi-Rolle einer politischen Eroberin wird sie von Latour (ausgehend von dem umstrittenen ›Wissenschaftsweisen‹ James Lovelock) mit der titelgebenden Gaia gleichsetzt. Dabei soll die Namensgebung diesen diskurspolitischen Akt mitnichten mythisch verschleiern, sondern als einen solchen gerade sichtbar machen: Gaia steht – im weiteren Kontext von Latours Akteur-Netzwerk-Theorie – für die Ur-Mutter Natur als politische Akteurin, gleichsam für die Parlamentspräsidentin, auf die sich alle Betroffenen berufen, die alle Betroffenen einberuft und die doch eine eigene Stimme besitzt im planetarischen Parlament der Dinge.27 Doch diesem Vergleich fehlte noch die mythische Schärfe, erwähnte Latour nicht gleichzeitig, zu welcher archaischen Grausamkeit Gaia fähig ist. Erst wo der moderne Begriff der Natur als ein getarnter Übergriff auf ihre althergebrachten Rechte erkannt wird, um sie präventiv zu entmachten, erst dort besteht im Sinne Latours noch Hoffnung darauf, sich mit der Erdengöttin erneut ins Vernehmen zu setzen, statt ihrer sonst drohenden, listigen und gewaltigen Rache ausgesetzt zu sein. Denn wie man bereits bei Athenas Geburt sehen konnte und wie sich auch in allen anderen Überlieferungen bestätigt, vermag man sich dem Walten der Allgebärenden zuletzt nicht zu entziehen.28 Allein in ihr, durch sie und mit ihr scheint alles Glück und Leid der Gläubigen und Ungläubigen, der »Menschen« und »Erdverbundenden« beschlossen: 05
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»Wo wären die für unseren Fortschritt und unsere Entwicklung erforderlichen ›vier Planeten‹29 zu finden, wenn 30
ist unser eigenes Land, auch unseres, das erobert wird. Genauer: Es sieht danach aus, daß alle ehemaligen Menschenvölker gleichzeitig Opfer einer umgekehrten Landnahme sind, die von der Erde selbst ausgeht.« 27 So der Titel von Latours polit-ökologischen Manifest. Zur Rolle von Gaia vgl. ders.: Kampf um Gaia, a.a.O., S. 474 f.: »Lange wurde behauptet, um sich als Mensch zu emanzipieren, müsse man die Natur hinter sich lassen; die Erdverbundenen aber streben die Emanzipation im Angesicht Gaias an. Wenn wir beginnen, uns als Erdverbundene Wesen zu versammeln, realisieren wir, daß wir von einer Macht einberufen wurden, die voll und ganz politisch ist, da sie alle Besitztitel, alle rechtlichen Ansprüche, Land zu besetzen und sich als dessen Eigentümer auszugeben, umkehrt. Angesichts einer solchen Verkehrung der Besitztitel verstehen die Erdverbundenen, daß sie – im Gegensatz zu dem, was die Menschen unablässig glauben – weder die Rolle eines Atlas noch die eines Gärtners der Erde jemals spielen werden, daß sie niemals die Funktion eines Chefingenieurs des Raumschiffs Erde wahrnehmen können, ja noch nicht einmal die eines bescheidenen und getreuen Wächters des Blauen Planeten. Es ist einfach so: Sie
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nicht in den Ausbuchtungen und Hohlräumen von Gaia selbst – also innerhalb der Grenzen des Planeten, innerhalb seiner multiplen Welten, und weil wir lernen werden, unsere Tätigkeit in willentlich und politisch fixierten Grenzen zu halten? Hier steckt die Transzendenz der Religion, nämlich im Innersten der menschlichen Seelen; hier sind die Wissenschaften und die Technologien zu Hause, nämlich im Innersten der zahllosen, mit allen Begebenheiten aller Akteure in allen Umwegen und Falten der Naturgeschichte verflochtenen Berichten; hier stecken die Ressourcen der Politik, nämlich im Innersten der Empörung und Revolte derer, die sich aufbäumen, weil sie sehen, daß sie den Boden unter den Füßen verlieren. In gewisser Weise weist die Devise Plus intra auch einen Weg für Fortschritt und Erfindung, einen Weg, der die Naturgeschichte des Planeten mit der Heilsgeschichte der Inkarnation verbindet und dem Anstand derer, die lernen sich niemals mit dem Gebot der Unterwerfung unter die Naturgesetze abfinden zu lassen. Immer noch gilt die alte und stolze Weisung: ›Vorwärts! Vorwärts!‹ – nicht in Richtung auf eine neue Erde, sondern auf eine Erde, deren Antlitz erneuert werden muß.«30
Am Ende seiner Vorträge über das Neue Klimaregime steht der Appell, einem neuen »Monogeïsmus«31 Folge zu leisten, ohne an dem ausbeuterischen Kreuzzug im Zeichen eines missverstandenen Plus intra teilzunehmen. Doch anstelle einer absoluten Transzendenz wird hier eine matrizenhafte Immanenz der Mutter Gaia propagiert, die unverkennbar deleuzianische Züge trägt.32 Latour 25
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haben nicht das alleinige Kommando. Eine andere Entität ging ihnen voraus, obwohl sie dessen Präsenz, Vortritt und Vorrang erst sehr spät wahrnahmen.« – Die Spitze etwa gegen das »Raumschiff Erde« lässt den von Latour favorisierten James Lovelock als Antipoden zu Richard Buckminster Fuller erscheinen: Politisierung, statt Gouvernementalisierung der Erde. 28 So gebiert sie in der kanonischen Überlieferung Hesiods nicht nur die ersten beiden Titanengeschlechter, sondern mischt sich auch bei ihren Geschwistern, Töchtern, Söhnen sowie olympischen Enkeln und Enkelinnen auf oft fatale Weise ein. 29 Fußnote bei 35
Latour: »Den – selbstverständlich nur annäherungsweisen – Berechnungen des Living Planet
Record 2014 zufolge wären nahezu vier Planeten erforderlich (in ›Globalhektar‹ gerechnet), um allen Menschen die Lebensweise der Nordamerikaner zu ermöglichen.« 30 Ebd., S. 489. 31 Vgl. ebd., S. 249 f.: »Monogeisten« sind diejenigen, die keinen Ersatzplaneten haben, die nur über eine einzige Erde verfügen, deren Form aber ebensowenig kennen wie das Antlitz ihres einstigen Gottes – und die auf diese Weise mit einer gewissermaßen ganz neuartigen Gattung von geopolitischer Theologie konfrontiert sind.« – Die Bezeichnung
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verwahrt sich zwar gegen einen spinozistischen Pantheismus, beschreibt aber eine Rhizomatik, die weder eigentlich Teile noch eine Totalität kennen soll, sondern nur einen heterogenen, doch kontinuierlichen Wucherungsprozess von Realitäten und Potentialen darstellt, die – und darauf kommt es Latour letztlich an – vorrangig politisch zu sehen seien. Der Kampf um Gaia beschreibt eine ökopolitische Gigantomachie, in der die Sieger nicht mehr allein unter den menschlichen Akteuren ausgemacht werden, seien es nun Klimakritiker oder -verteidiger, sondern unter allen auch nur entfernt Betroffenen. Kurzum: Wie in mythischen Vorzeiten, so geht es auch hier um die Errichtung einer neuen Weltordnung, um ein neues Klimaregime im Zeichen Gaias. Angesichts dieser engagierten Ermahnung zur Revision einer fehlgeleiteten Moderne stellt sich jedoch nicht von ungefähr die Frage, ob die ausgegebene Agenda nicht zuletzt für die Tragweite des gegenwärtigen Verhängnisses blind bleibt. Denn fraglich scheint weiterhin nicht nur gegen Schmitt, sondern gleichermaßen gegen Latour, ob der geschilderte Vorwärtsdrang der Expansion überhaupt jemals zum Erliegen kommen könnte und wenn ja, wo die innere Grenze dann zu ziehen wäre? Wie Latour selbst unwillentlich andeutet, gibt es gute Gründe dafür, dass die Devise Plus intra nicht nur die Frage des Außen- oder Innenraums Gaias betrifft, sondern bereits mit der transkontinentalen Expansionspolitik in den unbekannten Raum und spätestens mit den »multiplen«, virtuellen »Welten« auch die genuine Zeitlichkeit unserer Epoche zur Debatte steht. Wie also steht es letztlich um den Zeit-Raum einer »Neuen Erde«, einst hervorgegangen aus der »Neuen Welt« der Neuzeit? Oder in den Worten Schmitts: Was ist das »Sinnreich der Erde«?
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IV. Eine erste Antwort auf diese Frage gibt die Gestalt Gaias selbst, wie sie Latour als erneuerte Göttermutter einführt. Gaia als erste geht laut Latour auf Peter Sloterdijk zurück. 32 Ausführlich im dritten Vortrag: »Gaia, eine (endlich profane) Gestalt der Natur« dargelegt, ebd. S. 133 ff, etwa S. 187: »In diesem Sinne ist Gaia kein Organismus, und sie geht in keinem technischen oder religiösen Modell auf. […] Wäre sie eine Oper, dann würde sie ständige Improvisationen verlangen, hätte weder eine Partitur noch eine Auflösung der Intrige und fände nie zweimal auf derselben Bühne statt.« Oder wie es Philip Conway in »Back Down to Earth: Reassembling Latour’s anthropocentric geopolitics« (Global Discourse 6, Nr. 1 – 2, S. 43 – 71) formuliert: »There is only one Gaia, but Gaia is not One.«
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kosmische Ordnung im unvordenklichen Chaos, als chaosmische Immanenz alles Irdischen, als Göttin der kreativen Virtualität aller Akteure, Aktoren und alles Aktuellen, Gaia schafft auch Athena Rat, indem sie die Immernahe an der ihr eigenen raum- und zeitverdichtenden, immanenten Ewigkeit teilhaben lässt. Athenas Gedankenblitze speisen sich aus Gaias innersten Spannungen, wie sie sich seit ihrer uranfänglichen, reibungsvollen und mannigfaltigen Entfaltungen in die aus ihr entspringenden Göttergeschlechter auf- und entladen. Ihre hyperkomplexe Intensität gestaltet sich in Athenas ›Immernähe‹ zum erhellenden Kurzschluss. Als Versinnbildlichung des Gedanken-Blitzes aus himmlischen Höhen ist Athena nicht nur eine vorzeitliche Gewittergöttin,33 sondern ihr situativer Virtualitätssinn in eins erdverbunden. Und damit schließt sich der Kreis. Befragen wir abschließend erneut die Geburtsgeschichte Athenas, was unter einem Vorwärts in die Gewesenheit des Mythischen abseits einer bloßen Romantik der Rückkehr zu verstehen wäre, dann wird sich erst hinreichend deuten lassen, welche Funktion das Design in diesem Prozess bereits erfüllt hat und welche Rolle wiederum eine Designphilosophie fortan übernehmen könnte, die den futuristischen Eschatologien der Moderne entsagt. Mochte man aus moderner Perspektive wohl zunächst der Auffassung sein, dass mit dem Prometheus-Projekt einer umfassenden Gestaltung des menschlichen Daseins die mythischen Zeiten weit hinter uns lägen, so liegt uns heute umgekehrt die Einsicht voraus, dass die ›Arbeit am Mythos‹, die eigentlich nie ausgesetzt hatte, gerade in eine neue Hochphase übergegangen ist. Wie zuletzt die prominente Wiederaufnahme Gaias bei Latour (und Lovelock) nahelegt, handelt es sich nicht bloß um ein passendes Maskottchen für den diskursiven Wettkampf, sondern um eine Neuverortung bzw. eine Erörterung unserer heutigen Weltverhältnisse abseits ihrer modernen Entpolitisierung. Während der Futurismus sich nicht nur in seinen Extremen auf eine tendenziell passive Erwartung (etwa der Transhumanismus) oder tendenziell aktive Herstellung (etwa der Biokosmismus) der Apokalypse einschwor, scheint dieser letztlich menschenliebende Krypto-Christianismus 05
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33 Vgl. den Eintrag von Johann Michael Adolf Furtwängle, »Athene«, in: Ausführliches Lexikon
der griechischen und römischen Mythologie, hrsg. v. Wilhelm Heinrich Roscher u. Konrat Ziegler, 6 Bd., Bd. 1, Leipzig 1886, S. 675 – 704.
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in politicis mittlerweile ausgedient zu haben – sei es aus Gründen des Scheiterns oder umgekehrt der Vollendung. Jedenfalls liegt vor uns eine Welt, die denjenigen dazu auffordert, alle christlichen Hoffnungen fahren zu lassen, der in die inneren Kreise der virtuellen Ewigkeit einzutreten beabsichtigt. Die totale informatorische Durchdringung der Lebenswelt, das Plus intra, hat nicht nur die Erdoberfläche wieder in einen Kampfplatz verwandelt, auf dem sich die unterschiedlichsten Gestalten tummeln, getrieben von einer durchgehenden Immanenz unendlicher Metamorphosen. Dieses im Grunde heillose Umschlagen von Freunden und Feinden, Objekten und Subjekten, natürlichen und künstlichen Intelligenzen oder auch Erwartungen und Erinnerungen reanimiert ein mythisches Gegenwartsbewusstsein inmitten unserer posthistorischen, antiholistischen und hybriden Umwelten. So müssen wir in den zu Anfang zitierten Worten Berardis »unbedingt zurückschauen, um den Abgrund der Gewalt und des Horrors zu erinnern, die durch militärische Aggressivität und nationalistische Ignoranz jeden Moment heraufbeschworen werden können«; doch, wie man sich zugleich eingestehen muss, selbst der gesuchte ›singuläre Rhythmus‹ folgt letztlich noch dem Takt jener »allgegenwärtigen Geschwindigkeit«, die gerade das »Internet« bildet, das zwar vergessen werden kann, aber selbst nie vergisst. Dieses kulturelle Gedächtnis kennt keine Geschichte mehr, sondern nur noch Geschichten, die – gelegentlich erdacht oder systematisch zusammengetragen – darauf angelegt sind, fortgedichtet, vermehrt oder überschrieben zu werden. Die Folge davon ist die bereits zu Anfang geschilderte, dass diese in Silizium eingebrannte Vergangenheit, dieses digitale Orakel die Zukunft weniger vorhersieht, als vorsieht (im Sinne etwa von Googles Suchvorschlägen), indem es geschickt bis geschickhaft Bedürfnisse weniger befriedigt, als anbietet. Doch streng genommen bleiben auch hier sowohl die ›entwickelten‹ Bedürfnisse als auch die ›bereitgestellten‹ Angebote gewissermaßen die alten analogen, indem sich ›das Neue‹ bereits in der Digitalisierung ihrer Infrastruktur erschöpft (siehe AirBnB, Uber, Facebook, Amazon, etc.) – digitale Innovation als Renovation des Analogen. Dabei mag es kaum noch verwundern, dass Geschichten aus der Vorzeit im Postfuturismus wieder deutlicher zu uns sprechen. Es geht um Wiederholungen des Mythischen, gleichsam um explorato05
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rische Selbstversenkungen in den Orkus der Vergessenheit. Aus postfuturistischer Perspektive betrachtet, ist heute nichts aktueller als die Virtualität des Mythischen. Und dementsprechend erweist sich auch der Mythos von der Kopfgeburt der Athena nicht nur als Gedankenblitz, der Ideenhimmel und Erdengestalt verbindet, sprich: als Umschlagspunkt der Design-Philosophie, sondern birgt noch eine weitere zündende Idee, die heute mehr denn je auf fruchtbaren Boden fällt und die Erde befruchtet – durch eine Hierogamie zwischen Ouranos und Gaia. Mochte auch Zeus selbst in einer Art familiärem Wiederholungszwang die schlechten Gewohnheiten seines Vaters übernommen haben, denen er einst selbst entkam: nämlich seinesgleichen zu verschlingen – so schien die Tat das eine Mal jedoch zum Erfolg des Täters und gleichzeitig zum Segen aller Götter und Menschen ausgeschlagen zu sein. Erneut griff die List der Urmutter Gaia, doch Zeus gab seine Gattin (statt wie Kronos seine Kinder) nicht einfach wieder unverdaut frei, sondern vermochte sie sich derart einz uverleiben, dass er seine Tochter nicht nur selbst zur Welt brachte, sondern auch die durch die Geburt seines Sohnes drohende Entmachtung abwendete. Zeus wusste sich also um einiges klüger, nachdem er sich Metis leibhaftig verinnerlicht und damit die noch nicht ausgewachsene Kritik an seinem Regime von vorneherein integriert hatte. Indem Zeus derart vorging, gelang es ihm also, die Familientradition des Vatermords zu brechen und einer abermaligen Revolution nicht nur vorzubeugen, sondern sogar eine furchteinflößende Verbündete34 in seinem ureigenen Sprössling zu gewinnen. Denn so betrachtet, verkörpert Athena zugleich die Wohlberatenheit wie den vatergleichen »Mut und planenden Willen« einer vorausschauenden Konterrevolution, die es erst gar nicht zur Revolution kommen lässt. Alles RevolutionärPrometheische fordert dagegen die Un- und Umordnung und ist ihr fremd.35
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34 Die weiteren Verse im Homerischen Hymnus 28 zu den zu Anfang bereits zitierten Eröffnungs35
zeilen lassen keinen Zweifel daran, dass Athene gerade umgekehrt eine Bedrohung für etwaige Konspiranten unter den anderen Göttern darstellt. So heißt es just im Anschluss: »Die Unsterblichen alle erstaunten / ehrfurchtsvoll beim Anblick.« 35 Wie es überhaupt zum Abbruch der blutig-revolutionären Generationenübergänge kommen konnte, legt Martin Burckhardt in einer interessanten Ausdeutung des Mythos nahe: »Halten wir uns vor Augen, dass die Zeus vorausgehenden männlichen Götter in einer Ackerbaukultur figurierten und die Rolle von Fruchtbarkeitsgottheiten innehatten, versteht man, warum die Götter von
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Drei Aspekte des Mythos verdienen dabei abschließend Beachtung: Alles kommt in Gang auf Anraten der Urmutter Gaia und ihres Gemahls, mithin der Erde und des Himmels, zweitens durch die einzige List, die selbst die Klugheit noch auszustechen vermag: durch die Liebe, und drittens geschieht alles zuletzt in der eigentlichen Absicht, die Herrschaft über das All, mithin die Ordnung des Kosmos zu sichern. Alle drei Aspekte komplettieren nun das Bild, das wir bisher gewonnen haben: Innerhalb des Spannungsfeldes zwischen Gaia und Uranos oder kurz: in der realen Virtualität (nicht nur virtuellen Realität) in der – als einer hybriden Überwucherung des Analogen durch das Digitale – wir heute leben, ist es die hinterlistige Illusion einer allesverbindenden Liebe, die von den Bildschirmen und Werbeflächen des ein oder anderen IT-Titanen und Google-Gottes ausstrahlt und sogar die Klugheit selbst (in Gestalt rekrutierter Nerds) für sich zu vereinnahmen weiß, gerade wo es ihr allein um die Aufrechterhaltung der eigenen gesellschaftspolitischen Hegemonie (als global player des Digitalen) geht. Die Rolle des Designs ist hierin nur allzu ersichtlich. In den Worten Heraklits: »Alles steuert der Blitz«36 – insbesondere künstliche Intelligenzen, die darauf programmiert sind, die Entscheidungssuche zu übernehmen und die Entscheidungsfindung durch ein statistisches Zusammenstutzen auf den Durchschnitt (+ therapeutische Big Data Analyse) zu unterstützen. Auf diese und unzählige andere Weisen designen Athenas Gedankenblitze heute vor allem Dispositionen. Designer und Philosophen kommen auch hierin – gewissermaßen auf der transzendentalen Schattenseite – überein, indem sie sich den Kopf darüber zerbrechen, wie sie wiederum in die Köpfe ihresgleichen am leichtesten einbrechen, um gezielter Reflexe und Reflexionen auslösen zu können. Doch der all-steuernde Gedankenblitz, Athena, wird seinerseits gesteuert von ihrem Vater. Stünde das Design also allein im Dienste eines unverhohlenen Machtpragmatismus, dem letztlich jedes 05
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ihren Söhnen mit einer Sichel hingemäht werden: Wiederkehr der Jahreszeiten, Ernte und Saat. Wenn Zeus, anders als die Vatergottheiten vor ihm überlebt, so ist das ein Beleg dafür, dass der Gott aus der natürlichen Ordnung herausgetreten ist. Aber wohin? In das Reich der Maschine.« (ders.: Philosophie der Maschine, Berlin 2018, S. 43 f., 52 f.) – Damit verstünde sich auch die Wendung des deus ex machina als mehr denn eine bloß theatralische Offenbarung. Vor allem aber fände die hiesige Charakterisierung Athenas ihre endgültige Bestätigung: Sie ist Ausgeburt einer klugen, listigen, geistreichen Maschinenherrschaft, die seit diesem mythischen Tag nicht gebrochen wurde. 36 Vgl. Diels/Kranz 22, B 64: »ta de panta oiakizei keraunos«.
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Mittel lieb ist? Wie gesagt, die Zeiten eines kosmopolitischen Wohlwollens oder auch nur eines (über-)ambitionierten Wohlfahrtsausschusses scheinen mit der prometheische Moderne allemal vor über. Und vielleicht hatten sie auch niemals wirklich begonnen, stellt man in Rechnung, dass Prometheus nur durch List und Tücke in den Ruf kam, der Lichtbringer der Menschheit zu sein. – Doch wie dem auch sei, anstatt sich allzu sehr darüber zu grämen, täte man hingegen gut daran, die Herausforderung anzunehmen und den mittlerweile unersetzlichen, doch verlorenen Posten des Designs in der Gegenwart zurückzuerobern. Denn, um ein letztes Mal den Mythos der wehrhaften Kopfgeburten zu bemühen, auch Athena trägt irgendwo einen brüderlichen Anteil in sich… Ein erster Schritt scheint damit getan, die Zukunftsfixierung des Designs zu lösen, um falschen Hoffnungen und hinhaltenden Versprechungen entgegenzuwirken: Abgesehen von der Frage des Besitzes, können die eigene Gedankengestalt und der eigene Gestaltungsgedanke immer weniger als unser persönliches Eigentum beansprucht werden, sei es auf juristischer, politischer oder auch philosophischer Ebene. Das ist schlicht die Nachtseite des Kreativitäts- und Inspirationsdiskurses, wo es wie ein Blitz durch uns hindurchgehen soll… Ein möglicher zweiter Schritt bestünde dann darin, die gegebene Situation besonnen zu überblicken und sich darüber klar zu werden, was die postfuturistischen Potentiale des Designs innerhalb einer realen Virtualität sein könnten. Hier tut es manchmal auch schon die bloße Kompetenzverweigerung, um den vergeblichen Vorwärtstrott auszusetzen. – Halten wir uns darum ein letztes Mal an die praktische Vernunft Athenas und ihre Gedankenblitzen, um den eigentlichen Impact des Designs als Aktualisierungskompetenz des Virtuellen, wie umgekehrt der Philosophie als Virtualisierungskompetenz des Aktuellen in den Blick zu rücken und dabei den Hebelpunkt einer freisetzenden Selbst sabotage zu markieren. Athena als die Immernahe steht für ein Design, das heutzutage Entwürfe hervorbringt, die die Weite nicht einfach überbrücken, sondern regelrecht tilgen. Als derartige Ent-Würfe laufen sie – je 05
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37 Zu diesen Fragen ausführlicher: Florian Arnold, »Ästhetik als Prävention. Anthropologische Spekulationen im Ausgang von Hans Blumenberg – Medusa –«, in: Das ist Ästhetik!, Online-Akten zum X. Kongress (2018) der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, hrsg. v. Juliane Rebentisch (http://www.dgae.de/kongresse/das-ist-aesthetik/), letzter Zugriff am 5.11.2018. 38 Wobei die Unidirektionalität des (physikalischen) Zeitpfeils hierbei
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nach Medium in unterschiedlichen Graden – auf eine gekonnte Ent-Räumlichung und Ent-Zeitlichung unserer Verhaltensweisen hinaus (die urzeitliche Falle oder das Wurfgeschoss sind hierzu die ältesten Vorläufer).37 Radikaler als jemals zuvor bewerkstelligen sie eine tiefgreifende Ver-Gegenwärtigung qua Er-Innerung im Sinne des Plus intra. Tele-Präsenz und -Präsens einer virtuellen Ewigkeit treten an die Stelle einer Zu-Kunft im temporalen sowie lokalen Sinne und arbeiten so an einer weitergehenden Intensivierung des Hier und Jetzt, die den medialen Effekt des Hyperrealen erzeugt. Jeder heutige Ent-Wurf in seiner selbst zunehmend hybriden Verfassung, die die klassische Trennung zwischen ideellem Konzept und materieller Ausführung in sich aufhebt, synthetisiert dabei fast so schnell wie der (Gedanken-)Blitz die unterschiedlichsten Zeiträume und Gestalten zu neuen Metamorphosen unserer Lebenswelt. – Zukunft ist bloß eine Gestalt der Vergangenheit, eine Gestaltungsweise des Vergehens. War der moderne Ent-Wurf noch auf eine Zukunft hin ausgerichtet, auf die sich die Gegenwart präventiv einrichtete, um beängstigenden oder erfreulichen Ereignissen angemessen begegnen zu können, so scheint sich heute der Ereignishorizont selbst zu einer einzigen Gegenwart ausgedehnt zu haben, die alle Zeitdimensionen in sich vereint. Dementsprechend ist die Gegenwart kein Durchgangspunkt mehr, sondern ein Umschlagspunkt oder Kampfplatz, auf dem die Ereignisse im Grunde richtungslos (gleichgültig, ob aus der Vergangenheit oder Zukunft) aufeinandertreffen.38 Das bedeutet speziell für den Designer im Praktischen (wie den Philosophen im Theoretischen), sich und die Welt auf quasi alles hin entwerfen zu können, jedoch auch zu müssen. Wie der gestalterische Gedankenblitz gewissermaßen ›immernah‹ einschlägt aus der cloud, so muss sich der Gestalter ebenso zu jeder Zeit wappnen für alles aus der Zukunft oder Herkunft her Andrängende. – Gegenwart spielt Herkunft und Zukunft gegeneinander aus, sie bedeutet, warten zu können. Der Kreis schließt sich jedoch erst dort, wo die Einsicht zündet, dass dieser Blitz die freudigen oder drohenden Ereignisse nicht nur fortwährend mehrt, indem das Design seine üblichen Aufgaben erfüllt oder nicht, sondern dass dieser (Gedanken-)Blitz sich 05
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nicht geleugnet wird, sondern nur in seiner Bedeutung herabgestuft wird, indem er sich in eine unendlichen Mannigfaltigkeit von singulären Mikro-Zeitpfeilen zerstreut.
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selbst zu diesen Ereignissen zählt (etwa in der Selbstvermarktung des Design Thinking) und dadurch gleichermaßen Lösung wie Teil des Problems ist. Das Design tappt so gleichsam in eine selbstgestellte Falle: Diente der Ent-Wurf einer Gestalt bereits zu Urzeiten als passgenaues Gestell eines Ereignisses, etwa bei der gezielten Herstellung von Schnappvorrichtungen für bestimmte Beutetiere, so entgeht nur ein geistesgegenwärtiges Design der ständigen Gefahr, sich in seinen eigenen Schlingen zu verfangen, deren Herkunft man allzu leicht zu vergessen neigt. In den mittlerweile durchdesignten Gesellschaften der Gegenwart entpuppt sich die Gestaltung als das unverzichtbare Gestell aller Ereignisse und in diesem Sinne als eine transzendentale Praxis, die nicht umhinkommt, stets auch ihre historische Genese mit aufzuarbeiten – Vergangenheit meint Gewesenes, das im Wesentlichen fortwirkt, ohne erst noch werden zu müssen. Entsprechend kommt es gerade der Designphilosophie zu (bzw. von wo auch immer auf sie zu) diesen Gedankenblitz gleichsam in sich selbst einschlagen zu lassen, um »Einblick in das was ist« zu erhalten. Athenas blitzendes Auge, die ihr nachgesagte Helläugigkeit rührt zunächst von jenen Geistesblitzen her, die ihren protegierten Helden die jeweilige Situation für einen Augenblick im hellsten Lichte erscheinen lassen. Ebenso kennzeichnend ist jedoch, dass Athena wie ihr natürliches Pendant in diesem Augenblick selbst auch als Blitz sichtbar wird. So offenbart sich, dass ihre Gestalt selbst keine andere ist als die einer intensiven Verbindung, als die Entladung zweier spannungsreicher Potentiale der entferntesten Pole (Himmel und Erde) – die erwähnte coincidentia oppositorum von der als rasendem Stillstand bereits zu Anfang die Rede war. – Designphilosophie ist das Re-Entry des ›rasenden Stillstands‹ und damit die Ermöglichung der Innen- und Außenansicht des eigenen Gedankenblitzes. Alle anderen Ströme sind hingegen kleinere Ladungen, die alles andere zwischen Himmel und Erde durchzucken. In diesem kurzen Nachbild des stehenden Blitzes aber entdeckt sich das Wesen Athenas als postfuturistisches Ereignis: In dieser aufs Äußerste verdichteten, blendenden Gegenwart, die erst im Zerfall des Lichts sichtbar wird, scheint immer zu spät im Auge des Betrachters auf, was schon vergangen ist, bevor es sein wird: – Erleuchtung – irgendwo zwischen den unsichtbaren Spannungen der Gaia und dem lodernden Feuer des Prometheus. 05
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Ein Design, das nicht grundsätzlich relational oder holistisch ist, wird nur noch ein Design von gestern oder vorgestern, nicht aber ein Design unserer Gegenwart oder gar unserer Zukunft sein können.
Prof. em. Dr. phil. Wolfgang Welsch Lehrtätigkeit u.a. in Berlin, Jena und Stanford. Max-Planck-Forschungspreis 1992, Premio Internazionale d'Estetica 2016. Mensch und Welt – Philosophie in evolutionärer Perspektive, C.H. Beck 2012; Homo mundanus – Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne , Velbrück Wissenschaft 2012, 22015; Ästhetische Welterfahrung – Zeitgenössische Kunst
zwischen Natur und Kultur, Fink 2016; Transkulturalität: Realität – Geschichte – Aufgaben, New Academic Press 2017; Wahrnehmung und Welt – Warum unsere Wahrnehmungen welt-
richtig sein können, Matthes & Seitz 2018; Wer sind wir?, Aufbau Verlag 2018.
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I. Wirklichkeit als Produkt unserer Designtätigkeit Seit langem pfeifen die Spatzen es von den Dächern: Das Design ist die bestimmende Kraft des 21. Jahrhunderts. Alles ist heute designt: nicht nur Gegenstände, sondern auch Information und Kommunikation und letztlich die ganze Wirklichkeit, die uns umgibt. Wir haben allem unseren Stempel aufgedrückt. Wirklichkeit ist eine Konstruktion, ist ein Ergebnis unserer Designtätigkeit.
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In früheren Kulturen und Jahrtausenden gab es noch deutliche Grenzen. Die gestalterische Tätigkeit der Menschen bezog sich nur auf das soziale Leben – vom Körperschmuck über Geschlechterregeln bis zu Behausungen und Institutionen –, aber nicht auf die gesamte Natur. Die Berge waren ein unantastbarer Sitz der Götter, Klima und Wetter beherrschten die Lebensweise der Menschen, Flüsse und Bäche nahmen unreguliert ihren Weg, und Fauna und Flora taten, was sie wollten. Nur im schmalen Bereich agrarischer Tätigkeit gab es auch Umgestaltungen der Natur durch den Menschen (Landbebauung, Züchtung etc.).
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In der Moderne hingegen hat in großem Stil die Industrialisierung nicht nur die menschliche, sondern auch die natürliche Welt verändert. Die technische Domestizierung der Natur zählte zu den Heilsversprechen der frühen Moderne. Das moderne Design schloss daran nahtlos an. Zum einen hat es gegenüber der industriellen Massenproduktion die »gute Gestalt« durchgesetzt. Zum anderen hat es Visionen von einer designerischen Verbesserung der Natur entworfen – man denke nur an Bruno Tauts Alpine Architektur, wo die Gipfel der Viertausender um Zermatt zu Edelsteineffekten zugeschliffen werden sollten.1 Heute ist alles in der menschlichen wie der natürlichen Welt (aber welchen Sinn macht diese Unterscheidung noch?) redesignt – die Umgangsformen wie das Blumenangebot, die Lidschatten wie die Sonnenstrände, die Wellnessoasen wie die großen Summits mit ihren Fixseilen. 25
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1 »Da soll die Schönheit erstrahlen – Der Monte Rosa und sein Vorgebirge bis zur grünen Ebene soll umgebaut werden« (Bruno Taut: Alpine Architektur, Hagen 1919, 16).
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Übersehen wir aber auch nicht, dass das Design nicht nur auf der Ebene der Hardware (der Objekte) immer mehr Raum gewonnen hat, sondern ebenso auf der Ebene der Software (der Interpretationen). Zunehmend hat man in der Moderne erkannt, dass die Wirklichkeit nicht etwas unverrückbar Vorgegebenes ist, sondern weithin unser Konstrukt und durch menschliche Auffassungen bestimmt ist. Man könnte dafür schon auf Kant verweisen, dessen theoretische Philosophie besagt, dass die Wirklichkeit ihrer Grund st ruktur nach ein Produkt unseres Designs ist. Mittels unserer Anschauungsformen und Kategorien prägen wir der Wirklichkeit die Formen auf, unter denen wir sie kennen: als eine Wirklichkeit, die aus Substanzen besteht, durch Kausalität bestimmt ist und räumliche und zeitliche Struktur besitzt. Nietzsche hat diesen Gedanken im 19. Jahrhundert rhetorisch glänzend reformuliert und populär gemacht. »Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fließendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt; freilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden. Als Baugenie erhebt sich solcher Maassen der Mensch weit über die Biene: diese baut aus Wachs, das sie aus der Natur zusammenholt, er aus dem weit zarteren Stoff der Begriffe, die er erst aus sich fabriciren muss.«2 Im 20. Jahrhundert hat Nelson Goodman Kants und Nietzsches Einsicht in den Konstruktionscharakter der Wirklichkeit fortgesetzt und darauf hingewiesen, dass alle Welt-Versionen – die der Wissenschaft ebenso wie die der Wahrnehmung oder der Lebensformen – nicht einfach Entdeckungen, sondern Erzeugungen darstellen.3 Gerade auch in der Wissenschaft (die einst als Königsweg zur wahren Erfassung der Realität angesehen wurde) drang zunehmend die Auffassung durch, dass unsere Theorien ingeniöse Konstruktionen sind, die Wirklichkeit eher imaginieren als abbilden – wie sollte es angesichts fantastischer Konstrukte wie Quarks, Strings und dunkler Materie auch anders sein? Schließlich haben die Erfahrungen des digitalen Zeitalters all diese Züge noch verstärkt und geradezu für jedermann selbstver05
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2 Friedrich Nietzsche: »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, in: ders.:
Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino
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ständlich gemacht. Nichts ist mehr von digitaler Steuerung aus genommen, weder die persönliche Gesundheit und Fitness noch unsere Beziehungen und Kontakte oder das Sportgeschehen, die Verkehrsflüsse, die Versorgung von Zuchttieren oder die Bewässerung von Grünflächen. Kaum kann, wie früher, noch der Gedanke aufkommen, dass irgendetwas einfach naturwüchsig geschehe – stets vermutet man gleich schon eine Inszenierung, einen Design trick, einen digitalen Gag. Heute gilt generell für Wirklichkeit, was medial als solche angeboten wird. (Schon seit längerem machten Touristen von ihren Urlaubsorten genau die Fotos, deren in der Werbung platzierte Originale sie dorthin gelockt hatten.) Noch das »Unmittelbare« wird erst als von den sozialen Medien Dargebotenes zum Renner. Realität ist nicht mehr ein Privileg der Wirklichkeit, sondern von Medien und Design absorbiert worden.
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Tatsächlich sind ja auch die Auswirkungen unseres Tuns auf die nicht-menschliche Welt inzwischen so gigantisch geworden, dass man sie nirgendwo mehr subtrahieren kann, sondern es überall mit einer vom Menschen infizierten Welt, mit Mensch-Welt-Fusionen zu tun hat. »Anthropozän« ist der Name dafür. Er bezeichnet die Tatsache, dass der Einfluss des Menschen auf die Erde seit circa 250 Jahren so groß geworden ist, dass er nun das Gesicht und die Entwicklung des Planeten maßgeblich bestimmt – so wie früher, im Mesoproterozoikum, das Aufkommen der Eukaryoten oder im Jura das der Säuger für diese Erdepochen bestimmend war. »Anthropozän« signalisiert die zunehmende Universalität menschlichen Designs.4
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II. Design als eine Strategie schon der Natur Aber andererseits: Design ist doch kein menschliches Privileg! Design gibt es längst vor aller menschlichen Tätigkeit in der Natur – und das im größten Umfang und mit den bewundernswertesten Ergebnissen. Sind die Millionen von biologischen Arten nicht Wunderwerke des Designs? Wenn man sich ihren Feinstrukturen und Umweltanpassungen im Detail zuwendet, kann man kaum glauben, wie ingeniös sie sind.
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Montinari, München 1980, Bd. 1, S. 873 – 890, hier S. 882. 3 Vgl. Nelson Goodman: Wei-
sen der Welterzeugung , Frankfurt a. M. 1984. 4 Schon 1990 habe ich die Prognose gewagt, dass das 21. Jahrhundert eines des Designs sein werde (Wolfgang Welsch:
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Schon Aristoteles hat dies konstatiert. Er wies darauf hin, dass »auch bei solchen Wesen, die unseren Sinnen weniger schmeicheln, die Natur, die sie gemacht hat, der Betrachtung unausdenkbare Freuden bereitet, wenn man den Ursachen nachspüren kann und Naturforscher ist«.5 Vielleicht gefallen einem Frösche nicht, aber wer könnte sich der Faszination entziehen, die einem das Studium eines Froschauges vermittelt? Der Naturforscher, der den Bau und die Funktionsweise sowie die Lebensformen von Lebewesen studiert, wird erkennen, dass »in allem Natürlichen Wunder stecken«.6 Und mit solchen Wundern meinte Aristoteles natürlich nicht mystische Eingriffe, sondern die mirakulöse Präzision und Findigkeit der Natur. In neuerer Zeit hat Ernst Haeckel in ähnlichem Geist die »Kunstformen der Natur« gepriesen. Er sah in Radiolarien oder Quallen absolut ingeniöse Designprodukte der Natur, und seine umfangreiche Publikation Kunstformen der Natur7 hat ihrerseits wiederum das Design um 1900 inspiriert – etwa die Jugendstilkünstler Obrist, Olbrich, Endell, Tiffany und Gallé, und René Binet gelangte durch Haeckels Darstellungen zum Entwurf seiner berühmten Eingangspforte für die Pariser Weltausstellung von 1900.
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Design – das gilt es einzusehen – findet sich auf eindrucksvollste Weise schon in der Natur. Design kann also der Natur nicht pauschal entgegengesetzt werden (etwa in dem Sinn, dass die menschliche Designtätigkeit die Selbsttätigkeit der Natur untergrabe), sondern natürliches und menschliches Design sind irgendwie vom gleichen Stamm. Design ist eine schier allgegenwärtige Strategie bereits der Natur, und die menschliche Designtätigkeit ist möglicherweise nur deren humanspezifische Fortsetzung.
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Auch heute lehnt sich das Design vielfach wieder explizit an Vorbilder der Natur an. Das Stichwort dafür lautet »Bionik«. Es geht darum, Erfindungen der Natur als Vorbilder für technische Innovationen zu nutzen.8 Das bekannteste Beispiel ist die Lotospflanze, von der alle wasserlöslichen Substanzen abperlen, so dass hier eine geniale Kombination von Unbenetzbarkeit und Selbstreinigung vorliegt. Ein anderes Beispiel sind Profile von Autoreifen, die 30
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Ästhetisches Denken, Stuttgart 2017, S. 232). 5 Aristoteles: De partibus animalium, I 4, 645 a 7–10. 6 Ebd., 645 a 16 f. 7 Das Werk erschien von 1899 – 1904 in 10 Einzelbänden und 1904 in Komplettausgabe. 8 Als frühester Exponent eines solchen Verfahrens gilt
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nach dem biologischen Vorbild von Katzenpfoten designt werden, die sich bei Richtungswechseln verbreitern und dadurch mehr Kontaktfläche zum Untergrund bieten.9 Während sich die ältere Technologie durch Potenzierung genuin technologischer Erfahrungen voran bewegte, sucht die neuere Technologie von der Natur zu lernen, also natürliche Erfindungen zu kopieren und in technische Innovationen umzusetzen.10 Diese naturinspirierte ist die intelligentere Technologie. Auf diese Weise profitieren heute Architektur,11 Textilindustrie und etliche andere Sparten vom Studium biolog ischer Prozesse, sie orientieren sich an der perfekten Funktionalität der Naturgebilde.12
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Auf diese Weise ist die Designmacht par excellence, die Evolution, erneut in den Blickpunkt der humanen Designtätigkeit gerückt. Die Evolution hat fürwahr (in ihrer kosmischen wie in ihrer biotischen Dimension) die unglaublichsten Produkte hervorgebracht. Sie reichen von unvorstellbaren kosmischen Dimensionen (manche Galaxien weisen einen Durchmesser von gut 100 000 Lichtjahren und eine Dauer von bis zu 13 Milliarden auf) bis zu den Wunderwerken minimaler und ephemerer Mikroorganismen. Sollte dieser evolutionäre Fundus nicht fürwahr reich und groß genug sein, um für alle menschlichen Designvorhaben Anregungen und vielleicht auch Vorbilder zu bieten?13 15
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Aber Halt! Der Produktionsmodus ist in beiden Fällen doch völlig unterschiedlich. Das humane Design ist zielgerichtet. Man weiß, was man erreichen will. Humanes Design ist eine intentionale Tätigkeit. Ganz anders in der Evolution. Hier ist der Zufall der erste
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Leonardo da Vinci, der 1505 in seinem Manuskript Über den Vogelflug Analysen des Vogelflugs für die Konstruktion von Flugmaschinen nutzbar zu machen versuchte. 9 Weitere Beispiele
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sind der Querschnitt hochbelastbarer Flugzeugflügel oder die Beschichtung schmutzabweisender Dachziegel, die sich an Vorbildern aus der Pflanzen- und Tierwelt orientieren. 10 Übrigens hat Moholy-Nagy schon in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts den Designern geraten, nach Prototypen in der Natur Ausschau zu halten. Er griff dabei Anregungen von Raoul Francé auf, einem Biologen, der dafür plädierte, dass die Menschen von den Erfindungen der Natur lernen sollten und der dafür die Ausdrücke »Bionik« und »Bio-Technik« prägte. 11 Vgl. dazu Wolfgang Welsch: »Physeotektur – Betrachtungen zum Verhältnis von Architektur und Natur«, in: ders.: Immer nur der Mensch? – Entwürfe zu einer anderen
Anthropologie, Berlin 2011, S. 323–332. 12 Viele Inspirationen wurden durch die Expo 2005 in Aichi (Japan) angeregt, die unter dem Motto »Die Weisheit der Natur« stand. 13 Vgl. Wolfgang Welsch: »Kreativität durch Zufall – Das große Vorbild der Evolution und einige künstlerische Parallelen«, in: ders.: Blickwechsel – Neue Wege der Ästhetik, Stuttgart 2012, S. 252 – 291.
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Regent allen Designs.14 Nichts Neues kann ohne zufällige Mutation entstehen. Dann erst greifen Selektion (Umweltpassung), Gendrift und andere Faktoren. Insofern mögen zwar die Produkte des natürlichen Designs Vorbilder für humanes Design darstellen, aber die Vorgehensweise ist und bleibt hochgradig unterschiedlich. Es gibt zwar in der neueren Kunst Formen, die ebenfalls primär auf Zufall setzen (Duchamp, Cage, etc.), aber für das humane Design ist das keine mögliche Strategie. Da schlägt der Unterschied zwischen Zweckmäßigkeit (Design) und Zweckfreiheit (Kunst) durch. Design muss intentional verfahren, Kunst kann dies umgehen. Das Design der Natur aber verfährt allenthalben nicht-intentional.
III. Wirklichkeit und Design bilden keinen simplen Gegensatz – und Konstruktivismus und Realismus ebenso wenig Bedeutet dies nun eine harte und unüberschreitbare Grenze für eine mögliche Vorbildlichkeit natürlichen Designs für humanes Design?
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Noch einmal Vorsicht! Denn der Unterschied zwischen nicht-intentionalem natürlichem und intentionalem humanem Design kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch große Gemeinsamkeiten gibt. Jedes Mal werden neue Funktionen, neue Formen und neue Passungen hervorgebracht. Überlegung spielt beim natürlichen Design gewiss keine Rolle, und der Anteil unbewusster Vorgänge steht beim menschlichen Design zumindest nicht im Vordergrund. Aber beide bringen ingeniöse Objekte und Kontexte hervor.
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Vor allem bedarf die übliche Auffassung des Verhältnisses zwischen Design und Wirklichkeit einer grundlegenden Revision. Anfangs war ich der gängigen Einschätzung gefolgt und hatte davon gesprochen, dass in der Moderne und Gegenwart designerische Aktivitäten zunehmend die Wirklichkeit infiltrieren und absorbieren. Einer solchen Redeweise liegt aber immer noch die Auffassung zu Grunde, dass Wirklichkeit und Design basal in einem Gegensatz stehen: die Wirklichkeit ist, wie sie ist, und das Design, das aus einer 30
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14 Die Theorie des »Intelligent Design« sucht den nicht-intentionalen Produktionsmodus der Evolution noch einmal durch den intentionalen zu ersetzen, wie er für rationale Wesen charakteristisch ist. Auf diese Weise will man sozusagen durch die Hintertür Gott noch einmal in den Evolutionsprozess einschmuggeln. Aber dieser Versuch, Planung an die Stelle von Zufall zu setzen, erweist sich, wie Simulationen zeigen, gerade bei der Entstehung von Komplexi-
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anderen Ordnung stammt, verändert die Wirklichkeit. Inzwischen haben wir uns aber klargemacht, dass die Wirklichkeit selber schon vor aller menschlichen Designtätigkeit weithin ein Designprodukt ist – ein Produkt evolutiven, natürlichen Designs. Damit ist der Gegensatz von Wirklichkeit und Design in seiner schlichten Form hinfällig. Die menschliche Designtätigkeit kann der Wirklichkeit nicht einfach gegenübergestellt werden, als würde sie einer designfreien Wirklichkeit das Unrecht einer designerischen Umgestaltung antun. Vielmehr ist die Wirklichkeit selbst schon durch mannigfache Designprozesse zu dem geworden, was sie ist, und die menschliche Designtätigkeit ist eine der Weisen, wie das seine Fortsetzung findet.
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Oder anders gesagt: der gängige Gegensatz von Realität und Konstruktion ist so vordergründig wie der von natürlichem und menschlichem Design. Die Realität selbst ist längst durch und durch von konstruktiver Art. Sie ist nicht einfach eine Gegebenheit, sondern allenthalben ein Ergebnis von Prozessen, die der Realität immanent sind und deren jeweilige Zustände hervortreiben. Konstruktivismus ist ein Prinzip der Wirklichkeit selbst. Deshalb ist die geläufige Rede davon, dass die Wirklichkeit bloß unsere Konstruktion sei, ob ihres anti-realistischen Zungenschlages verfehlt. Da wird noch immer die alte Denkform eines harten Gegensatzes zwischen Wirklichkeit und Konstruktion zu Grunde gelegt, um dann zu erklären dass die Wirklichkeit, die wir kennen, gar nicht wirklich sei, sondern bloß unsere Konstruktion darstelle.15 Dieser Dualismus von Wirklichkeit und Konstruktion ist obsolet. (Und wir leben in einer Phase, wo alle althergebrachten Dualismen sich als unhaltbar erweisen.) Die Wirklichkeit ist selbst konst ruktiv verfasst. Das gilt schon auf der kosmischen Ebene, wo Prozesse der Selbst organisation zur Strukturbildung führen, und es gilt weiterhin im organischen Bereich, wo zunehmend mentale Konstruktionen der Welt zur Welt gehören und deren Gefüge mitbestimmen. Wie Tiere ihre Umwelt auffassen, ist eben nicht einfach ihre Sache, sondern ist für die Umwelt eminent folgenreich. Denn die Tiere agieren im Duktus ihrer Wahrnehmungen und Einschätzungen und beeinflussen
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tät als Irrweg. 15 Bezeichnend für dieses anti-realistische Selbstverständnis des Konstruktivismus sind Buchtitel wie »Wie wirklich ist die Wirklichkeit?« oder »Die erfundene Wirklichkeit« (Watzlawick).
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und modifizieren so die Verfassung ihrer Umwelt.16 Die Wirklichkeit ist nicht eine vorgegebene Größe, sondern ein Produkt vielfacher Aktivitäten. Konstruktion ist schon im anorganischen und organischen Bereich wirklichkeitsbildend. Konstruktion und Wirklichkeit bilden ein Paar. Sie können nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es gilt, ihre wechselseitige Verwobenheit zu begreifen.17
IV. Das menschliche Design ist gegenüber dem wirklichkeitsimmanenten Design nichts kategorial Anderes Die menschliche Welteinwirkung ist nichts kategorial anderes als die Umwelteinwirkung anderer Lebewesen. Man hat ja allen Anlass, schon deren Bedeutung nicht zu unterschätzen. Es waren Lebewesen, die bald nach dem Beginn des Lebens durch ihre Methanproduktion dafür gesorgt haben, dass die Erde ob der damals noch geringen Sonnenstrahlung (sie betrug nur ein Viertel des heutigen Wertes) nicht vereiste und das Leben sich so weiter entwickeln konnte. Und es waren Lebewesen, die überhaupt erst den Sauerstoffgehalt der Erdatmosphäre erzeugt und dadurch die Entwicklung allen höheren Lebens, einschließlich der Säuger und von uns Menschen, ermöglicht haben. Oder Lebewesen haben die Selektion neuer Arten veranlasst und die körperliche und psychische Modifikation bestehender Arten bewirkt. Die von Darwin beschriebene sexuelle Selektion beispielsweise war eine extrem wirkungsvolle Designstrategie – sie hat zu den natürlichen Erscheinungsformen geführt, die wir heute kennen.18
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Das setzen wir Menschen mit unserer Umgestaltung der Wirklichkeit – mit unserem Wirklichkeitsdesign – fort. Kategorial besteht, wie gesagt, kein Unterschied. Im Ausmaß hingegen doch. Keine andere (höhere) Art hat sich auf diesem Planeten so global verbreitet wie Homo sapiens, und vor allem hat keine der heute noch existie-
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16 Der alte Gegensatz von Lebewesen und Umwelt (wo, allzu einseitig, die Umwelt als fixe Größe gilt und die Lebewesen sich an diese anpassen sollen) ist einer der Dualismen, die sich 35
inzwischen als falsch erwiesen haben. Denn tatsächlich prägen und verändern die Lebewesen das Biotop, in dem sie leben. Die Umwelt, an welche sie sich angeblich anpassen, ist in vielem bereits ein Effekt ihrer Aktivität. 17 Vgl. dazu ausführlicher Wolfgang Welsch:
Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, Weilerswist 2016, insbes. S. 858 – 897. 18 Vgl. dazu meine detaillierte Darstellung Wolfgang Welsch: »Der animalische Ursprung der Ästhetik«, in: Wolfgang Welsch: Blickwechsel – Neue Wege der
Ästhetik, a.a.O., 211 – 251.
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renden Arten (man bedenke freilich auch, dass mehr als 99 % der jemals entstandenen Arten im Verlauf der Evolution wieder ausgestorben sind) vergleichbar universale Umwelteinflüsse gehabt. Die Rede vom »Anthropozän« ist absolut berechtigt. Wir sind die Erdveränderer par excellence.
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V. Aber ergeben sich nicht gerade so auch einschränkende Maximen für unser Tun? Aber nirgendwo in der Natur finden wir einen Fall, wo Lebewesen dadurch erfolgreich wären, dass sie sich die eigenen Lebensgrundlagen abgraben. Umgestaltungen sind möglich, ja sie geschehen ständig und können vielversprechend sein. Aber die Modifikationen können dafür nicht in irgendeine beliebige Richtung gehen, sondern müssen erneut eine Passung zwischen Art und Umwelt erzielen – idealerweise eine optimalere, minimalerweise eine immer noch ausreichende Passung. Was hingegen schlechthin kontraproduktiv wäre, ist eine Veränderung der Art-Umwelt-Relation, welche die Überlebenschancen der Art minimiert oder gar terminiert. Das aber ist der Scheideweg, an dem wir Menschen heute mit unseren planetaren Wirkungen zu stehen scheinen. Ökologisches Bewusstsein und ökologische Bewegung haben darauf seit langem hingewiesen.
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Genauer betrachtet, ergeben sich an dieser Problemstelle jedoch mindestens drei verschiedene Sichtweisen: eine neutralistische, eine zynische und die ökologische.
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Die neutralistische besagt: Wir Menschen sind letztlich ein Stück Natur. Nicht besser, nicht schlechter, nicht anders als all die anderen Bestandteile der Natur. Die Natur hat unzählige Arten mit unter schiedlichen Handlungsweisen hervorgebracht, darunter eben auch uns. So gesehen, ist auch unser Handeln – was immer wir tun, welche Richtung immer wir einschlagen mögen – ein Handeln der Natur. Technik gibt es bekanntlich vielfach schon im Tierreich, und so ist auch unsere Technik nur eine der Weisen, wie Natur Technik hervortreibt. Noch unsere Anthropotechniken sind Physeotechniken. Die Natur ist eben nicht eine gegenüber der Kultur geschlossene Sphäre, sondern sie begreift die tierische wie die menschliche Kultur ein, die Kulturen sind sozusagen eine Selbstfortsetzung der Natur mit neuartigen Mitteln. Und es gibt kein
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externes Maß, keine Grenze, keinen Vorschriftenkatalog für die Produktivität der Natur. Offensichtlich ist auch Destruktion eine der Formen natürlicher Schöpferkraft. Im Anorganischen wie im Organischen sehen wir ein ständiges Werden und Vergehen, und wenn, wie zuvor gesagt, 99 % der jemals entstandenen Arten wieder untergegangen sind, so ist das eben nicht durch einen Einfluss von außen geschehen (es gibt kein Außerhalb der Natur), sondern durch Vorgänge in der Natur selbst. Destruktive Wirkungen der menschlichen Technik sprechen daher keineswegs gegen deren Natürlichkeit. Naturzerstörung gehört zur Natur. Kurzum: Wie immer das menschliche Weltdesign voranschreiten mag, es kann nicht namens irgendwelcher externer Instanzen schlechtgeredet werden, es ist ganz einfach eine der vielen Facetten und Strategien und möglicherweise auch Verrücktheiten der Natur.
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Die zweite Betrachtungsweise ist zynisch. Sie ergibt sich dann, wenn man (im Unterschied zur soeben geschilderten neutralistischen Haltung) der Natur im Konfliktfall mit der menschlichen Technik einen Eigenwert zuschreibt und für die Respektierung und den Erhalt der Natur plädiert. Dann mag man dieser Perspektive folgend (auch wenn dies zunächst irritierend erscheinen mag) einen ungebremsten, ja gar gesteigerten Fortgang der menschlichen Interventionen begrüßen. Und zwar deshalb, weil man annimmt, dass dieser Fortgang nicht nur zu allerlei Destruktion in der Natur, sondern – und das ist entscheidend – zur vollständigen Vernichtung der Lebensmöglichkeiten des Menschen und zur Extinktion der Spezies Mensch führen wird. Dann wird die Natur endlich, nachdem sie sich in (nach Naturmaßstäben) relativ kurzer Zeit erholt haben wird, ohne weitere Störungen durch ihren Hauptfeind, den Menschen, florieren können.
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Die dritte Betrachtungsweise ist die ökologische. Sie geht erstens davon aus, dass die Erhaltung von Arten wünschenswert ist. Artenvielfalt (Biodiversität) gilt ihr als Positivum. Dabei spielt schon der zweite Aspekt herein, der Aspekt der Umwelt. Jede Art ist für ihren Erhalt auf eine Reihe anderer Arten angewiesen. Nur so kann das Biotop, in dem sie lebt, intakt bleiben. Insofern bilden Selbsterhaltung und Umwelterhaltung ein Paar.
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Zu den bewahrenswerten Arten gehört für das ökologische Denken auch der Mensch. Eine seiner Besonderheiten besteht darin, dass er (anders als andere Arten) imstande ist, seine Umweltabstimmung selber bewusst zu steuern und zu optimieren. Angesichts dessen erscheint es geradezu grotesk, dass sich ausgerechnet der Mensch derzeit anschickt, sich in eine Extinktionsfalle hineinzusteuern. Durch Wissenschaft und Technik hätte er alle Möglichkeiten, das Gegenteil zu bewirken – wenn nur der Wille dazu da wäre. Aber dafür fehlt anscheinend noch das nötige Bewusstsein, nämlich eine grundsätzlich ökologische Einstellung, die erkannt hat (und sich auch danach richtet!), dass wir Menschen uns nur im Verbund mit unserer Umwelt wohl befinden können. Würde dieses Bewusstsein die Oberhand gewinnen, dann könnte unser darauf fußendes Weltdesign sowohl uns als auch der Welt gut tun, anstatt, wie gegenwärtig, beides absehbar zu zerstören.
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Wie sind diese drei Positionen zu bewerten? Die erste, die neutralistische, sucht sich allen Bewertungen zu entziehen. Egal, was wir tun, ob wir lieben oder morden, fördern oder zerstören – jedes Mal handelt es sich, so erklärt man da, um Akte, die letztlich einfach natürlich sind. Diese Position gibt keinerlei Kriterien an die Hand, die erlauben würden, zwischen unterschiedlichen Optionen zu wählen. 20
Die zweite, die zynische Denkweise ist grundlegend anti-humanistisch. Sie hält es von vornherein für ausgemacht, dass der Mensch nur ein Teufel sein kann, der die Natur mit Zerstörung bedroht. Während die erste Position einem simplen Monismus huldigt (der Mensch ist ein natürliches Wesen wie alle anderen Wesen auch), basiert diese zweite Position auf einem ebenso simplen Dualismus (der Mensch ist ein Weltfremdling, er steht Natur und Welt gegenüber und entgegen). Diese Position erwägt gar nicht, ob der Mensch nicht auch ein anderes Naturverhältnis aufweisen oder einnehmen könnte: ein nicht oppositionelles, sondern vergleichsweise symbiotisches. 25
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Eben das ist die Intuition der dritten, der ökologischen Position. Sie sieht den Menschen (wie die erste Position) als ein grundlegend natürliches Wesen an, hält seine Bestimmung aber damit
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nicht schon für erschöpft, sondern traut dem Menschen als bewusstem Akteur (ihm insofern, ähnlich wie die zweite Position, eine besondere Rolle zuerkennend) eine Steuerung seines Naturverhältnisses zu, insbesondere eine Gegensteuerung, wenn dieses Verhältnis anthropozentrisch aus dem Ruder gelaufen ist, so dass die Aufgabe darin besteht, über eine Veränderung des Bewusstseins, der Technik und der Lebensweise gewissermaßen eine zweite Natürlichkeit – einen neuen Bund mit Natur und Umwelt – zu erreichen.
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VI. Mensch-Umwelt-Design Ich neige, das wird dem Leser nicht verborgen geblieben sein, dieser dritten Position zu. Sie kommt allerdings nicht uniform, sondern in recht unterschiedlichen Versionen daher. Ich will daher die meine etwas näher umreißen.
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Es ist vernünftig, am Fortbestand der Spezies Mensch interessiert zu sein und das dafür Nötige zu tun. Damit stellt man sich nicht außerhalb des Rahmens der Natur, sondern eher in diesen. Arterhaltung oder jedenfalls die Bemühung darum ist ein vielfach bekanntes Prinzip der Natur selbst. Es gibt keinen Grund, warum der Mensch da eine Ausnahme machen sollte.
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Aber heißt das nicht, dass unsere ökologischen Interessen letztlich nur spezies-egoistische Interessen sind? Ja, es scheint so zu sein. Aber weder sehe ich, was dagegen spricht, noch warum dies verwerflich sein sollte. Allerdings läuft dies in der Tat einer gäng igen ökologischen Rhetorik diametral entgegen. Diese verkündet, dass wir uns nur retten könnten, wenn wir gerade nicht bloß an uns, sondern in erster Linie an die anderen Naturwesen denken – an die bedrohten Arten, von den Eisbären über die Kreuzkröten bis hin zu Walen und Delfinen, oder an die Reinheit des Wassers und der Luft oder an die klimatische Bedrohung von Küstenzonen und ganzen Landstrichen. Nicht Egoismus, sondern Altruismus sei das Gebot der Stunde. 25
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Gut gebrüllt, ihr Löwen und Löwinnen! Aber vielleicht noch zu dualistisch gedacht? Denn wir dürfen in der Tat ebenso sehr an uns wie an die anderen Arten denken, aber eben weder nur an die
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eine oder die andere Seite. Modernisten sehen oft nur die Seite des Menschen, Ökologisten nur die der anderen Wesen. Die eine Einseitigkeit ist so fehlerhaft wie die andere. Oder sagen wir es zuletzt so: wenn man einen zureichenden und nicht bloß einen eingeschränkten Begriff des Menschen hätte, dann wäre alles gewonnen. Der eingeschränkte Begriff meint, dass der Mensch einfach der Mensch sei. Der zureichende Begriff hingegen stellt darauf ab, dass der Mensch, seiner evolutionären Herkunft und Konstitution entsprechend, grundsätzlich ein multiples Wesen ist. Wir Menschen sind allein schon biologisch Wanderer durch das gesamte Reich des Lebendigen. Der menschliche Embryo beginnt bekanntlich nicht wie ein Menschlein, sondern er sieht zunächst wie ein Fisch aus, dann wie ein Amphibium, daraufhin wie ein Molch oder Salamander, anschließend wie ein säugerähnliches Reptil, und erst Ende der achten Woche lässt sich erahnen, dass ein Mensch im Entstehen ist. Der menschliche Embryo durchläuft in seiner Entwicklung den ganzen Weg, der evolutionär zu uns Menschen geführt hat – den Weg von den Fischen über die Amphibien und die Reptilien bis zu den Säugern – noch einmal. Wir Menschen tragen all diese Stadien der Evolution in uns. Und wir sind dank zahlloser Erfindungen der Evolution die Wesen, die wir sind. Wir bergen in uns die Hox-Gene von Drosophila, das Kollagen der Quallen, die Lernmechanismen der Schnecken, das Objektwissen der Primaten usw., usf. Wir sind mit all diesen anderen Wesen verwandt, wir zehren von dieser unserer evolutionären Erbschaft, basieren auf ihr. Wir sind grundlegend mit dem ganzen Reich der Natur verbunden.
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Und so bedürfen wir weiterhin des Vorhandenseins von Bedingungen, die wir nicht aus uns selbst bereitstellen können. Wie alle Organismen sind wir auf Beiträge der Umwelt angewiesen, von der Ernährung über die Atmung bis hin zu klimatischen Bedingungen. Wir sind nicht autonome, sondern interdependente Wesen. 30
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Und wir können – das haben wir gelernt – diese externen Bedingungen sowohl zerstören und uns dadurch selber die Lebensgrundlagen abgraben, oder dafür sorgen, dass diese Bedingungen weiterhin oder aufs neue gegeben sind. Aber diese neue Abstimmung mit
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der Umwelt wird nicht ohne Veränderungen unserer Lebensweise gelingen können. Man darf nicht meinen, dass man sozusagen bloß an den Schrauben auf der Seite der Natur bzw. der Umwelt drehen müsste, um wieder zu einem Gleichgewicht zu gelangen. Nein, man wird ebenso die Lebensformen verändern müssen, damit ein neues Gleichgewicht entstehen kann. Das ist noch einmal ein Beispiel dafür, dass das alte, das dualistische Denken überwunden werden muss, dass wir stattdessen zu einem grundsätzlich relationalen Denken, einem Denken in Mensch-Umwelt-Beziehungen übergehen müssen. Und das bedeutet zugleich: zu einem grundsätzlich relationalen Design. In all unserer Designtätigkeit müssen wir begreifen und befolgen, dass es nicht einfach um Selbstgestaltung oder Objektgestaltung oder Weltgestaltung geht, sondern um die Gestaltung von Zusammenhängen von Ich und Ich, von Ich und Gegenstand, von Ich und Wir und Wir und Welt. Ein Design, das nicht grundsätzlich relational oder holistisch ist, wird nur noch ein Design von gestern oder vorgestern, nicht aber ein Design unserer Gegenwart oder gar unserer Zukunft sein können. Der Übergang vom Objektdesign zum Interfacedesign hatte schon eine Ahnung davon gegeben. Künftig wird sich das Design ganz entschieden der Neugestaltung und Optimierung von Umweltbeziehungen widmen müssen.
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Design und Kunst sind kulturelle Manifestationen in geschichtlichen Kontexten; in ihnen gestalten sich immer auch Beziehungen von Menschen zu Menschen sowie von Menschen und Dingen.
Prof. Dr. phil. Judith Siegmund lehrt Gegenwartsästhetik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Sie kommt aus der Philosophie und der bildenden Kunst und war von 2011 bis 2018 Juniorprofessorin für Theorie der Gestaltung / Ästhetische Theorie / Gendertheorie an der Universität der Künste Berlin, wo sie 2017 das Einstein-Forschungsvorhaben »Autonomie und Funktionalisierung« installiert hat. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen klassische und rezente ästhetische Theorien und ihr Beitrag zur gegenwärtigen Theoriebildung der Kunst, produktionsästhetische Theoriebildung, Philosophie des Design, Zukunft, Autonomie und Autonomieverlust der Kunst; sozialwissenschaftliche Theorien der Arbeit, ›Kreativität‹, Ökonomisierung und Prekarisierung, Künste und Politik: Modelle von Intervention und Partizipation sowie Musikästhetik. (www.judithsiegmund.de)
Design und Kunst – eine philosophische Geschichte ihres Verhältnisses in der Moderne Judith Siegmund
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Einleitung Auch wenn Design als Thema in der philosophischen Ästhetik seit dem 20. Jahrhundert so gut wie nicht explizit behandelt worden ist, hat es in der europäischen Philosophie der Moderne implizit sehr lange eine ästhetisch bzw. kunstphilosophisch inspirierte Platzierung des Designbereichs im Verhältnis zur Kunst gegeben. Diese These soll in diesem Beitrag ausgearbeitet und weiterentwickelt werden.
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Autonomieästhetische Theorien des 20. Jahrhunderts gehen in vielen Fällen von einer kategorialen Trennung von Kunst und Design aus, die sie mit der Differenz von ästhetischer Erfahrung von Werken der Kunst und funktionaler Benutzung von anderen Gegenständen begründen. Auf dieses Phänomen gehe ich im ersten Abschnitt ein, der sich als historische Fundierung versteht. In diesem Zusammenhang weise ich auf eine bestimmte Paradoxie hin: Das autonomieästhetische Programm ist in der deutschsprachigen Debatte zunächst von der Bestimmung eines Urteils- und Erfahrungstyps – des Typs des ästhetischen Urteils bzw. der ästhetischen Erfahrung – hergeleitet worden; diese Kategorie wurde dann aber verwandelt in eine viel weiter greifende Kategorie, innerhalb deren sowohl verschiedene Praxis-Felder (der Kunst und des Designs) als auch verschiedene ästhetische Gegenstände (Kunstwerke und designte Artefakte) strikt voneinander unterschieden worden sind. Die Trennung von Design und Künsten war im Zuge dieser Theorieentwicklung viel radikaler, als eine Explikation aus ästhetischen Urteilsund Erfahrungstypen es nahegelegt hätte. Aus dem Auge verloren wurde dabei die Tatsache, dass ästhetische Erfahrungen immer auch an Design-Gegenständen gemacht werden können.
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Es gibt auf der anderen Seite aber auch Theoriemodelle, in denen die Differenz von Design und Künsten nur graduell gedacht wird; diese kommen im dritten Kapitel zur Sprache. Der Begriff des Designs ist in diesen Modellen auf je verschiedene Weise eher prozessual gedacht. Design und Kunst sind kulturelle Manifestationen in
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geschichtlichen Kontexten; in ihnen gestalten sich immer auch Beziehungen von Menschen zu Menschen sowie von Menschen und Dingen. »Artefakte werden begreiflich als komplexe Versammlungen widersprüchlicher Sachverhalte«1, wie es etwa bei Bruno Latour heißt. Und der technische Fortschritt in der Verwendung neuer Materialien der Industrialisierung im 20. Jahrhundert zeigt sich auch in der Kunst, die an diesem Fortschritt qua Materialverwendung teilnimmt. Der Verschränkungsgedanke hebt allerdings nicht das Nebeneinander von Design und Kunst auf, so die These. Im zweiten Abschnitt soll danach gefragt werden, inwiefern die reflexive Arbeit von Designer*innen relevant für eine Philosophie des Designs sein sollte.
I. Zur impliziten Abgrenzung von Kunst und Design in ästhetischen Modellen der Moderne und zu den expliziten Folgen dieser Abgrenzung Die Entstehung einer philosophischen Bewertung von Design im 20. Jahrhundert ist eng an eine paradigmatische theoretische Erhöhung bzw. Aufladung eines Praxisfeldes gekoppelt, das mit dem Kollektivsingular »Kunst« bezeichnet worden ist bzw. bezeichnet wird. Design war oft »etwas Anderes« im Verhältnis zur Kunst, und es empfiehlt sich daher, gedanklich noch einmal an den Zeitpunkt der Entstehung der Ästhetik als europäischer philosophischer Disziplin zurückzukehren, um der Frage nachzugehen, wie und warum sich diese Abgrenzung der Kunst vom Design entwickelt hat. Der Entstehungsepoche der Ästhetik als akademischer Disziplin ist das 18. Jahrhundert. Im Gegensatz dazu ist der Begriff des Designs erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Verbindung mit der Entstehung des Monopol- oder Finanzkapitalismus2 aufgekommen. In dieser Zeit des starken Wachstums des industriellen Finanzkapitals wachsen zugleich die – auch philosophisch formulierten – Erwartungen an die Künste. Andererseits liegen in diesem historischen
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1 Bruno Latour: »Ein vorsichtiger Prometheus? Einige Schritte hin zu einer Philosophie des 35
Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk«, in: Die Vermessung
des Ungeheuren, hrsg. v. Sjoerd van Tuinen u.a., Paderborn 2009, S. 357 – 374, hier S. 360. 2 Ich beziehe mich in dieser Formulierung auf eine Marxsche Perspektive. Daniel Martin Feige macht darauf aufmerksam, dass der Begriff des Designs, wenn auch im 20. Jahrhundert gesetzt, von daher auch retrospektiv anwendbar wird: »[D]urch die Entstehung des Designs als kategorial neuer Art von Gegenständen [werden] auch an Gegenständen der Vergangenheit neue Aspekte entdeckbar.« Daniel Martin Feige: Design. Eine philosophische
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Transformationsgeschehen die ökonomischen und technischen Ursachen dafür, dass neue Materialien zum Bauen und Gestalten in einem vorher nicht gekannten Ausmaß zur Verfügung stehen.3 Sowohl Kunst als auch Design sind zuvor unter einem anderen Paradigma – dem des Handwerks – begriffen und beschrieben worden, und es ist offensichtlich, dass Selbstverständnis, Praxis und Begriff des Handwerks nicht mehr ausreichen, um die neuen Herausforderungen verschiedener Formen des Gestaltens, die seit dem 18. Jahrhundert aufkommen und sich fortlaufend entwickeln, zu fassen.4
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Die subjektiven Urteilsformen, deren Bestimmung Kant in der Kritik der Urteilskraft entwickelt, sind einerseits eine Konsequenz aus der philosophischen Geschichte und den zu seiner Zeit diskutierten Fragen, z.B. nach der Stellung des Menschen im Weltganzen und im Verhältnis zur Spannung, die sich auftat zwischen Mechanik (Technik) und Biologie.5 Andererseits artikuliert sich in den Kantischen Setzungen der Kritik der Urteilskraft ein neuer Erfahrungstyp, der des bürgerlichen Geschmacks, in dem das Bemühen des Bürgertums theoretisch Ausdruck findet, sich angesichts der stattfindenden Umwälzungen in der Welt zurechtzufinden.6 Die Theorien des subjektiven Geschmacksurteils, aber auch die des Reflexionsurteils teleologischer Weltbestimmung reagieren sowohl auf koloniale als auch mit ihnen verbundene ökonomische Entwicklungen, indem sie den subjektiven Anteil ordnungsbildender Urteilsstrukturen betonen. Das ästhetische Geschmacksurteil lässt sich in diesem Zusammenhang als ein Sich-Verhalten in der Welt verstehen; ein Verhalten, das sich auf den eigenen Zustand derjenigen Person, die urteilt, und auf ihr Bedürfnis, »in die Welt zu passen«7, zurückbesinnt. Es ist verstehbar als eine Art von Konzentration auf sich selbst, bei der man qua Sensus communis lose mit anderen verbunden bleibt. In der philosophischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts wurde
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Analyse, Berlin 2018, S. 57. 3 Vgl. dazu Claudia Mareis: Theorien des Designs, Hamburg 2014, S. 76: »Die Konstruktion der ersten Wolkenkratzer im Amerika des 19. Jahrhunderts ging mit einer Reihe von technischen und das Baumaterial betreffenden Neuerungen einher, wie der Erfindung des Stahlskelettbaus, dem Einsatz von Stahlbeton oder der Konstruktion von Liften.« 4 Die Werkbundbewegungen, die in dieser Zeit entstanden, versuchten aktiv, Handwerk, Industrialisierung und Kunst zusammendenken. Dies kann man auch als eine Reaktion auf ihr Auseinanderfallen auffassen, das damals als aktuelles Phänomen zur Debatte stand. 5 Vgl. Peter MacLaughlin: Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, Bonn 1989, S. 43. 6 Vgl. Christoph Menke: »Ein anderer Geschmack«, in: Kreation und
Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, hrsg. v. Christoph Menke u. Juliane Rebentisch, Berlin 2010.
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das ästhetische Urteil dann jedoch zum Garant einer autonomen Erlebnisform, die sich immer mehr in Abgrenzung zu üblichen Erfahrungen und Handlungen vollziehen soll. Aus dem »In-die-WeltPassen« wurde unter Zuhilfenahme derselben Denkfigur nun ein Szenario des Ausstiegs aus der Welt. Zum Statthalter eines solchen ›Aussetzens oder Aussteigens aus üblichen bzw. alltäglichen Praxen‹ wurde insbesondere die Kunst erklärt. Aus heutiger Perspektive lässt sich die Frage formulieren: Warum ist gerade der Kunst der Moderne im 20. Jahrhundert diese Rolle zugesprochen worden, nicht aber in dem Maße der ästhetischen Erfahrung des Designs? Dieser Frage möchte ich anhand einiger Beispiele aus der deutschsprachigen Ästhetik nachgehen. Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Heraushebung der Kunst in der Art einer Sonderstellung, die sie gegenüber allen anderen Bereichen einnimmt. Einer solchen Heraushebung der Kunst wurden andere Denkmodelle ihrer Ganzheitlichkeit und Verschmelzung mit dem Sozialen und Politischen entgegengesetzt, beispielsweise im Faschismus. Abgeschreckt durch die »Ästhetisierungen der Politik im Faschismus«8 bildeten sich in der Nachkriegszeit philosophische Theorien, in denen einerseits aus verständlichen Gründen gedanklich die direkte und uneingeschränkte Verbindung des ästhetischen Erlebens mit gesellschaftlichen und politischen Funktionen vermieden wurde. Es kam aber auch darauf an, die Konstellation des Ästhetischen im Verhältnis zu Alltag und Politik grundsätzlich neu zu bestimmen. Im Kompensationsgedanken von Joachim Ritter sind es zunächst die Geisteswissenschaften, die im Rahmen einer immer abstrakter werdenden modernen Welt, die von Ritter durch das Stichwort der »Entzweiung des Menschen« charakterisiert wird, überhaupt die Möglichkeit geben, sich (noch) als geschichtlich und nicht allein als »durch Bedürfnis und Arbeit vermittelt« zu verstehen.9 Neben der ›abstrakten‹ Existenz des modernen Menschen als »Subjekt des Rechts und des Staats« sowie der genannten Vermitteltheit durch Zusammen-
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7 »Die Schöne[n] Dinge zeigen an, daß der Mensch in der Welt passe und selbst seine Anschau35
ung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme.« Immanuel Kant: »Handschriftlicher Nachlass. Logik«, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften [Akademie – Ausgabe], Berlin 1900 ff., Band XVI, S. 127 [Reflexion 1820a]. 8 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1977, S. 42. 9 Joachim Ritter: »Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft«, in: ders., Metaphysik
und Politik, Frankfurt a.M. 1963, S. 397. 10 Joachim Ritter: »Landschaft. Zur Funktion
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hänge des Arbeitens und Konsumierens gibt es laut Ritter eine zweite menschliche Seite, die er durch den Begriff des Geistigen, des Erinnerns und der Innerlichkeit bestimmt sieht. Bereits dieses Narrativ ist das Narrativ einer Spaltung. Es werden Lebensbereiche voneinander getrennt. Das Kriterium dieser Trennung ist das Verhältnis der einzelnen Bereiche zur Geschichtlichkeit des Menschen als einer anthropologischen Tatsache. Als Hermeneutiker sieht Ritter keinen grundsätzlichen Unterschied darin, ob man sich einem philosophischen Text verstehend nähert, einer Landschaft oder einem Kunstwerk.10 Dennoch entwickelt er seinen Gedanken der Entzweiung nicht allein anhand der Differenz von Einstellungen, mit denen man sich etwas nähert. Es sind auch die Gegenstände der Entzweiung, die entweder der modernen Versachlichung oder dem Innerlich-Geistigen zugeordnet sind und so einander gegenübergestellt werden. Kunst und Landschaft gehören hierbei zu den Gegenständen bzw. Bereichen, denen man sich am besten in einem bestimmten ästhetisch-geistigen Modus nähert. Sie sind dann nicht »unvermittelt in Beziehung zur Gesellschaft« und »dem Druck einer Bestimmung ausgesetzt, die […] dem eigenen Wesen zu entfremden droht«.11 Die Grenze wird hier zwischen einer »spekulativen« ästhetischen Welt und einer technisch-gestaltenden Welt gezogen, die dem abstrakt erkennenden Modus verbunden bleibt.12 Angewandte Gestaltung und Design verbleiben auf der Seite der »versachlichten und verdinglichten Welt«. Ihre Einordnung ist dabei aber eher implizit geschehen, als dass sie aktiv vollzogen würde. Zu vermuten ist, dass z.B. der technische Materialfortschritt im Rahmen der Industrialisierung, das funktionale Denken in der Technik, aber auch die menschliche Bedürftigkeit bei der Benutzung von funktionierenden Dingen und von Werkzeugen den Ausschlag gegeben haben. Bereits anhand dieser gedanklichen Entscheidung, »Entzweiung« zu denken, erscheint eine zweite Möglichkeit als nicht gedachter Einwand: Objektiviert wird ebenfalls laut Ritter die Natur in den Naturwissenschaften, dieselbe Natur kann aber auch als Landschaft
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des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft«, in: ebd., S. 407 – 434. Auch der RitterSchüler Odo Marquard schlägt im Rahmen seines Kompensationsgedankens den Bogen von den Geisteswissenschaften bis zu den Künsten. Odo Marquard: Aesthetica und Anaes-
thetica.Philosophische Überlegungen, Paderborn u.a. 1989, S. 9. 11 Ritter: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, a.a.O., S. 401. 12 Vgl. Joachim Ritter: »Subjektivität und industrielle Gesellschaft«, in: ders., Metaphysik und
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ästhetisch vergegenwärtigt werden. Analog dazu wäre es möglich, gestaltete Dinge einerseits im Rahmen funktionaler Abläufe zu begreifen, andererseits dieselben Dinge auch ästhetisch zu vergegenwärtigen. Und eine Vergegenwärtigung stünde laut Ritter für die subjektive Perspektive, die das Wahrgenommene in geschichtliche Zusammenhänge setzt. Das Technische scheint aber bei Ritter für das an sich Geschichtslose zu stehen, für das Unvermittelte, das abstrakt Gedachte; Funktionalität sei geschichtslos, so die These. Das Funktionierende entfernt – so könnte man reformulieren – die geschichtlichen Zusammenhänge vom so gestalteten Gegenstand. Der technisch zugewiesene Platz verhindert die »Möglichkeit eines Wissens von seinem nicht mit der Gesellschaft identischen Sein«.13 Das zu benutzende Ding wird auf seine Benutzung reduziert.
Einen verwandten Gedanken im Hinblick auf die vorgelegte Frage stellung findet man bereits bei Heidegger in seinem Kunstwerkaufsatz von 1935.14 Heidegger unterscheidet hier Gegenstandsbegriffe und die zu diesen Gegenständen gehörenden Praxen, er unterscheidet das Zeug, das Ding und das Kunstwerk. Das Zeug ist ausgezeichnet durch seinen Gebrauch bzw. durch seine Dienlichkeit. Die Dienlichkeit des Zeugs ist ausschlaggebend für die Weise seiner Herstellung. »In solcher Dienlichkeit gründen sowohl die Formgebung als auch die mit ihr vorgegebene Stoffwahl […]. Das Erzeugnis wird verfertigt als ein Zeug zu etwas.«15 Die Zweckdienlichkeit der angefertigten Gegenstände wird durch dieses »zu« charakterisiert, sie sind da, um etwas mit ihnen zu machen. Während das Kunstwerk in diesem Aufsatz als Ort der Entbergung von Wahrheit ausgezeichnet wird (es ereignet sich etwas), wird dem dienlichen Zeug sein Platz innerhalb der philosophischen Theorie anhand der Tatsache gegeben, dass es benutzt wird. Das Zeug ist also irgendwie gestaltet, seine Gestaltung ergibt sich aus seiner Funktion in alltäglichen Zusammenhängen. Alles weltanschaulich Wertvolle sowie Geschichtliche hingegen wird durch das Kunstwerk repräsentiert, dem Heidegger am Ende des Aufsatzes die Tätigkeiten des Dichtens und Denkens zuordnet. Die Spaltung verläuft – ähnlich wie später bei Ritter – zwischen dem Geisteswissenschaftlich-Künstlerischen als etwas Geistigem und dem Technisch-Funktionalen als dem, das
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Politik, a.a.O., hier S. 359. 13 Ritter: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, a.a.O., S. 401. 14 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes,
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nah an der Gesellschaft bleibt, wie Ritter es formulieren würde. Heidegger nennt die dem Zeug zugeordnete Tätigkeit das alltägliche Besorgen. Befindet man sich in diesem Zustand des Besorgens, finden weder Entbergung von verstellter Wahrheit noch das Ereignis der Geschichte statt. Verwandt damit ist der Gedanke des späten Heidegger, dass technischer Fortschritt in die Seinsvergessenheit führe.16 Die These, die ich vertreten möchte, ist, dass die im 18. Jahrhundert durch Kant gesetzte Bestimmung des Ästhetischen, die von einer Einstellungsdifferenz ausgeht, im 20. Jahrhundert übertragen worden ist auf die Gegenstände und Tätigkeiten der Kunst, damit sogar auf ganze Praxisfelder. Es kam dabei zu einer Verabsolutierung des Spaltungsgedankens in der Weise, dass die Kunst immer etwas anderem – und so auch funktionalem Denken und Handeln sowie seinen Ergebnissen und Produkten – gegenübersteht. Kunst wurde derart herausgehoben, dass sie sich unterschied von allen anderen Handlungsformen und Rezeptionspraxen.17 Ihr Sonderstatus ist dann wiederum in sehr verschiedenen Denkmodellen herausgearbeitet und bearbeitet worden. Ging dabei vielleicht etwas verloren? Mit dem ästhetischen Herausgehobensein der Kunstpraxen sowie ihrer Gegenstände ging eine Vorstellung nicht zufällig einher: die Vorstellung der Kunst als funktionslos. Das, was ursprünglich als eine Theorie der Hinwendung der bürgerlichen Subjekte zu sich selbst begonnen hatte, entwickelte sich gedanklich weiter zu einem gesellschaftlichen »Kunstsystem«, das in seinen Regeln, Handlungsweisen und Bewertungen eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und zu folgen hat.18 Verloren für die philosophische Ästhetik wurde beispielsweise der Gedanke, dass auch die Kunst bzw. verschiedene Künste auf verschiedene Weise über ökonomische Tatsachen in verschiedene gesellschaftliche Bereiche wie Privatwirtschaft und 05
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Stuttgart 1960. 15 Ebd., S. 21. 16 Martin Heidegger: »Vier Seminare«, in: ders., Gesamt-
ausgabe, Band 15, hier S. 388. »Je weiter sich nun die moderne Technik entfaltet, umso mehr verwandelt sich die Gegenständlichkeit in Beständlichkeit (in ein sich-zur-Verfügung-Halten). […] Alles […] reiht sich ohne weiteres in den Horizont der Nutzbarkeit, der Beherrschung oder besser noch der Bestellbarkeit dessen ein, dessen es sich zu bemächtigen gilt.« 17 Eine ähnliche Kritik am »Autonomieparadigma« hat auch Georg Bertram geäußert, dem es darum geht, durch den Begriff der Praxis der Kunst eine wieder mehr an Hegel orientierte Version ästhetischer Theoriebildung einzuführen. Zum Verhältnis der Kunsthandlung zu anderen Handlungsformen vgl. auch Judith Siegmund, »Gedanken zu einer sozialen Handlungstheorie der Kunst«, in: Kunst und Handlung. Ästhetische und
handlungstheoretische Perspektiven, hrsg. v. Daniel Martin Feige u. Judith Siegmund,
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Politik verwickelt waren und sind.19 Ebenso ist es im Sinne der theoretischen Spaltung, die sich vollzogen hat, schwieriger geworden, von einer Funktionalität der Künste zu sprechen. Und die Ursache dieser Schwierigkeit ist der schon oben angesprochene falsche Umkehrschluss: Aus der Tatsache ästhetischer Rezeptionen lässt sich logisch nicht das Faktum eines ›Funktionsverbotes‹ für die Kunst ableiten. Das zentrale Unterscheidungskriterium der Funktionalität wurde im Zuge einer Herausstellung der Kunst gegenüber anderen Praxen innerhalb der deutschsprachigen ästhetischen Theorie auf den im 20. Jahrhundert entstandenen und noch jüngeren Bereich des Designs rückangewendet. Auch hier handelt es sich um einen Umkehrschluss, der dem eben genannten spiegelbildlich entspricht. Das implizite Argument ist nämlich folgendes: Weil die Protagonisten des Designs für die Herstellung, Nutzung und Verbreitung gestalteter Situationen und designter Gegenstände funktionalen und ökonomischen Kriterien zu folgen haben, kann es sich bei Design nicht um Kunst handeln. Die Berührung bzw. Zusammenarbeit des Designs mit anderen Bereichen wie dem der Ökonomie bzw. die tägliche Benutzung designter Gegenstände im Alltag schließe automatisch die Zuordnung des Designs zur Kunst aus. Aber Designpraxen sind nicht allein funktionale Praxen, so die These, sondern es sind Praxen eines Weltbezugs in vielerlei Hinsicht. Ein funktionales Denken und Handeln schließt ästhetische (wie auch ethisch orientierte) Praxisformen keineswegs kategorisch aus, sondern ist mit diesen zusammen denkbar.
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II. Zum Stellenwert der Perspektive der Designer*innen in der Philosophie des Designs Generell teilt sich die Gruppe der Designer*innen ein in diejenigen, die Design eher dem künstlerischen Arbeiten zuordnen, und diejenigen, die den direkten Zusammenhang zwischen Design und Kunst bestreiten. Es soll hier daher nicht um die Frage gehen, welche Selbstverständnisse von Designer*innen in Bezug auf die Stellung des Designs im Verhältnis zur Kunst verbreitet sind. Schaut man sich
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Bielefeld 2015, S. 119 – 142. 18 Luhmann, dessen Terminus ich hier benutze, spricht auch von der Funktion der Kunst, benutzt jedoch für Funktionen der Kunst im Gesellschaftlichen den Begriff der Leistung. 19 Auf diesen Sachverhalt hat z.B. Nina Tessa Zahner im Rahmen ihrer kritischen Lesart der Kunstfeldtheorie von Pierre Bourdieu hingewiesen. Nina Tessa Zahner: Die neuen Regeln der Kunst. Andy Warhol und der Umbau des Kunstbetriebs
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die jeweiligen Positionen in ihren historischen Kontexten an, dann zeigt sich, dass Gestalter*innen, Architekt*innen und Designer* innen der Industrialisierung zum Beginn des 20. Jahrhundert zunächst von der Überzeugung beseelt waren, dass sich künstlerische, ingenieurstechnische und an der Natur orientierte Konzepte und Handlungen synthetisieren lassen. Eine solche Position der Amalgamierung vertraten – trotz ihrer Kritik an der Industrialisierung – z.B. die damals gegründeten Werkbünde. Den Synthesegedanken prägten auch einige Künstler*innen des Bauhauses wie z.B. Paul Klee sowie die Architekten der Chicagoer Schule wie Peter Behrens, der in seinem Beitrag Kunst und Technik schreibt: »Die Technik kann nicht dauernd als Selbstzweck aufgefaßt werden, sondern sie gewinnt gerade an Wert und Bedeutung, wenn sie als vornehmstes Mittel zu einer Kultur erkannt wird. Eine reife Kultur aber redet nur durch die Sprache der Kunst.«20 Nach dem Zweiten Weltkrieg, in einer Phase der Verwissenschaftlichung des Designs, verband sich dann tendenziell der Fokus auf soziale und gesamtgesellschaftliche Problemlösungen, welche in Zusammenarbeit mit der Industrie entwickelt wurden, mit einer Distanzierung der Designer*innen von den Künsten, wie z.B. an der Hochschule für Gestaltung in Ulm zu beobachten war. Für diese Position steht etwa Tomás Maldonado, der als Rektor der Ulmer Hochschule vorstand. Maldonado sagt 2008 in einem rückblickenden Gespräch: »Als ich 1954 nach Ulm kam, sagten uns Industrievertreter: ›Wir brauchen keine künstlerische Spinnerei, wir müssen die Probleme des Wiederaufbaus der Industrie in Deutschland lösen.‹ […] Natürlich gab es Nuancen in dieser ganzen Geschichte. Otl Aicher und andere hatten wirkliche Ressentiments gegen Kunst überhaupt, womit ich nicht überein ging.«21 Seit den 1970er Jahren wiederum wurden die Resultate der seriellen Massenproduktion, die u.a. durch die lösungsorientierten Ansätze der Nachkriegszeit entstanden waren, auch innerhalb der designerischen Praxis hart kritisiert. Fragen wie die nach der Humanität, dem Sinn oder Unsinn von Konsum und Wohlstand veränderten wiederum das Selbstverständnis der Profession. Einer 05
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im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2006. 20 Peter Behrens: »Kunst und Technik (1910)«, in: Theorien der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design Band 1, hrsg. v. Volker Fischer u. Anne Hamilton, Frankfurt a. M. 1999, S. 21 – 30, hier S. 25. 21 »Planung und Demokratie. Ein Interview mit Tomás Maldonado von Jesko Fezer«, in: Texte zur Kunst 72 (2008), S. 46.
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der ersten Protagonisten dieser Bewegung war Victor Papanek. Er schreibt 1972 in der Einleitung zu seinem weltweit bekannt gewordenen Buch Design for the Real World: »In the age of mass production when everything must be planned and designed, design has become the most powerful tool with which man shapes his tools and envi ronments (and, by extension, society and himself).«22 Die Aufgaben der Designer*innen haben sich nach diesem Verständnis vervielfältigt und die Frage nach einer möglichen Nähe zur Kunst stellt sich in solch einem universalistischen Selbstverständnis nicht mehr explizit. Lediglich die Innovationskraft und Kreativität, die laut Papanek für das Designen als reflexive Praxis benötigt werden, erinnern noch entfernt an ein Leitbild, das vielleicht ursprünglich aus der Kunst stammte, die einmal für den bewussten Umgang mit Unvorhergesehenem stand. Eine solche Modifikation des Selbstverständnisses geht einher mit der Abwendung von einem Verständnis gestalterischer Praxis, das sich auf die Fertigung von Produkten konzentriert, und orientiert auf eine Reflexion der Prozesse des Entwerfens und Kommunizierens sowie die Problematisierung von gesellschaftlichen Konsequenzen designerischer Entscheidungen. Eine der Weiterentwicklungen dieses Gedankens der sozialen Verantwortlichkeiten findet sich in einem Statement der Designer*innen Anthony Dunne und Fionna Raby zum »Design as Critique«, die davon sprechen, dass im sogenannten ›Spekulativen Design‹ kritische Gedanken in Materialität übersetzt werden sollen.23 Hier ist die von den beiden Designer*innen favorisierte Arbeitsweise nach ihrer eigenen Auskunft wieder eine künstlerische. Die innerhalb konkreter historischer Kontexte entstandenen, hier nur sehr oberflächlich skizzierten Bewegungen hin zur Kunst bzw. weg von der Kunst zeigen meines Erachtens ein wesentliches Merkmal von Design, das bei der philosophischen Fragestellung nach dem ›Wesen‹ des Designs mehr Beachtung finden sollte: Der Weltbezug designerischen Handelns und Rezipierens sowie der Weltbezug gestalteter Gegenstände, Beziehungen und Situationen ist keineswegs geprägt von einem ausschließlich funktionalen Denk- und Handlungsmuster im Sinne einer rein pragmatischtechnizistischen Lösungsorientiertheit oder Zweckrationalität von
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22 Viktor Papanek: Design for the Real World, London 1971, S. ix. 23 Anthony Dunne / Fionna Raby: Speculative Everything, Design, Fiction, and Social Dreaming , Cambridge MA 2013, S. 35.
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Design, wie die oben behandelte Entzweiungsthese es nahelegt. Weltbezüge designerischen Entwerfens, Handelns und Benutzens sind vielmehr immer auch soziale, ethische und ästhetische Weltbezüge. Eine solche Komplexität des Verständnisses von Design, auch von der Seite der Designer*innen aus, ermöglicht erst ihren Streit über Differenzen, den sie in Bezug auf soziale, ethische, materialtechnische, ökonomische, funktionale und andere Relevanzen ihrer Arbeit austragen. Dies müsste meines Erachtens philosophisch angemessen konzeptualisiert werden, wenn es darum geht, eine Philosophie des Designs zu entwerfen. So bleibt z.B. Heideggers Szenario des gebrauchenden Benutzens von Zeug in der Zuhandenheit und des Besorgens als philosophische Kategorie zur ontolo gischen Bestimmung menschlichen Daseins unbestritten ein genuiner und philosophisch wichtiger Denkansatz; jedoch ist fraglich, ob in dieser Perspektivierung einer Phänomenologie des Gestaltens den entsprechend unterschiedlichen Praxen der Gestalter* innen sowie der Benutzer*innen genügend Rechnung getragen wird. Denn es reicht nicht aus, den Gebrauch hergestellter (oder gefertigter, wie Heidegger sich ausdrückt) Dinge zu beschreiben; auch die Fragen, wie und wozu diese benutzt werden sollen, wie sie hergestellt wurden und wie und wozu sie schlussendlich benutzt werden, sind für eine Philosophie des Designs von Bedeutung.24 Darüber hinaus spielt das ›Wie des Gestaltetseins‹ eines designten Gegenstandes eine wesentliche »Rolle im Gesamtgewebe der Lebens geschichten und des Lebensteppichs der ihn gebrauchenden Menschen«. In dieser Formulierung von Kai Buchholz erscheint der Begriff der Geschichte diesmal in Verbindung mit dem Gebrauch von gestalteten Gegenständen und Situationen – und nicht abgespalten von technischen und funktionalen Verfahren und Lösungen wie in der zuvor dargelegten Spaltungsthese von Joachim Ritter. Eine Auffassung von Design als ein Umgehen mit Situationen und Gegenständen, denen eine Geschichtlichkeit innewohnt, ermöglicht es meines Erachtens, designerisches Handeln als ein SichVerhalten innerhalb geschichtlicher Kontexte zu begreifen und nicht als ein Fertigen zum Zweck einer feststehenden Benutzung,
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24 Daniel Martin Feige bespricht diese Frage in seinem Kapitel »Waffen und Werbung«, in dem er die Produkte ethisch fragwürdiger Zwecke von Design als ›schlechtes‹ oder nicht gelungenes Design bestimmt. Die Herausforderung wäre meines Erachtens, zwischen schlechtem Design aus ethischen Gründen und schlechtem Design aus ästhetischen Gründen zu differenzieren. Feige: Design,a.a.O., S. 205 – 212.
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aber auch nicht als ein (zwar heroisches, aber doch eher passives) »Denken und Dichten«, in dem sich der Einzelne der Geschichte gegenüber lediglich öffnen oder verschließen kann, wie es der Geschichtsbegriff in Heideggers Aufsatz »Vom Ursprung des Kunstwerks« als alternative Option zum bloßen Gebrauch von Gegenständen nahelegt.25 Natürlich will ich damit nicht sagen, dass es nicht auch geschichtsvergessenes oder Geschichte leugnendes Design gibt oder dass Entwürfe nicht auch technizistisch lösungsorientiert sein können und dadurch einfach zu vieles ausgeblendet wird. Es gibt sicher auch ›unmenschliches Design‹. Allein die Möglichkeit, solche Entwürfe oder Realisierungen zu kritisieren – und zwar auch aus der Perspektive des Designs selbst –, führt uns hin zu dem Verständnis, dass es sich hierbei um eine komplexe Praxis handelt, in der nicht die einen Aspekte der designerischen Tätigkeiten zugunsten anderer vernachlässigt werden dürfen. Wenn es aber im Design immer um gestaltete Weltverhältnisse geht – sowohl der Entwerfer*innen als auch derjenigen, die in Herstellungs- und Realisierungsprozesse einbezogen sind, als auch derjenigen, durch die in der Benutzung Situationen und Gegenstände erfahren und beurteilt werden –, spricht einiges für eine Bestimmung von Design als etwas Prozessualem. Dem würde die Überzeugung vieler Praktiker*innen entsprechen, dass es nicht allein um eine Gestaltung von Materialien und Gegenständen, sondern immer auch um eine Gestaltung von historisch verstandenen Kontexten, Abläufen und Beziehungen geht und gehen sollte. Erst eine solche Bestimmung des Designs ermöglicht es, die verschiedenen Verhältnisbestimmungen im Bezug und eventuell im Unterschied zur Kunst zu begründen. 05
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III. Philosophische Positionen der ›Verwandtschaft‹ von Kunst und Design Im Sinne der bis hierher vorgetragenen Intuition, dass dem Design selbst ästhetische und ethische Dimensionen eingeschrieben
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25 Vgl. dazu: Judith Siegmund: Die Evidenz der Kunst. Künstlerisches Handeln als Kommuni35
kation, Bielefeld 2007, S. 52 – 82. Die Handlungsdimension von Design in einer Philosophie des Designs darstellbar zu machen fordert in einer Auseinandersetzung u.a. mit Heidegger auch Hyun Kang Kim, die zum Social Design schreibt: »Denn Social Design beginnt dort, wo Dasein als ›geworfener Entwurf‹ aufgefasst wird, welcher sich nicht in passiver Faktizität erschöpft, sondern stets auch im Begriff ist, die Welt neu zu gestalten.« Hyun Kang Kim: »Vom Dasein zum Design«,in: Design und Philosophie. Schnittstellen und Wahlver-
wandtschaften , hrsg. v. Julia Constance Dissel, Bielefeld 2016, S. 59 – 73, hier:
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sind – genauso wie Funktionalität und Wissen eine Rolle für seine Bestimmung spielen –, möchte ich abschließend die Überlegungen von Autor*innen vorstellen, die diese Annahme auf verschiedene Weise teilen. In Auseinandersetzung mit dem Gedanken von Albrecht Wellmer, dass die Funktionalität von Designgegenständen einerseits für ethisch wertvolle und andererseits für ethisch nicht zu vertretende Zwecke verwendet werden kann, möchte ich noch einmal meinen eigenen Gedanken schärfen.26 Wellmer trennt einen entfremdungstheoretischen »mechanischen« Begriff des Funktionalismus von einem zweiten, quasi menschlichen27 und damit als reflexiv gedachten »Geschichte reflektierende[n] und in sich aufbewahrende[n]« 28 Funktionalismus. Diese Unterscheidung kann auf zweierlei Weise verstanden werden. Die eine Lesart behält die Bestimmung des Designs als eine Praxis, in der es um die Funktionalität von Gegenständen geht, bei und verlegt die ethischen Fragen (der Geschichtlichkeit und Humanität) in den Bereich der Nachvollziehbarkeit von Zwecken. Menschlich oder unmenschlich wären hier also die Zwecke, über die in ethischen Kategorien gestritten wird. Die Bestimmung des Designs wäre damit das Funktionale, das Zwecke erfüllt, egal wie gut oder schlecht diese Zwecke sein mögen. Eine zweite Lesart von Wellmers Vorschlag hingegen verlegt die ethische Dimension bereits in die Art und Weise, wie der entsprechende Gegenstand, aber auch, wie die Beziehungen zwischen den Menschen, die ihn herstellen, produzieren und benutzen, insgesamt gestaltet werden. Hier gehört das Ethische und auch das Soziale untrennbar zum Begriff des Designs, in dem sich historisch gesehen ethische, soziale, funktionale und Wissensfragen immer wieder auf neue Weise reflektieren und kombinieren lassen – je nach den Anforderungen der Zeit.29 Die zweite Lesart scheint mir die plausiblere zu sein. Worin unterscheidet sich Design von Kunst, wenn Design nicht mehr ausschließlich durch seine Funktionalität bestimmt ist? Mit Hannah Arendt möchte ich noch einmal an Heideggers Szenario einer Zuhandenheit des Zeugs anknüpfen. Wie Heidegger 05
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S. 73. 26 Albrecht Wellmer, »Kunst und industrielle Produktion«, in: ders., Zur Dialektik von
Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno , Frankfurt a.M. 1993, S. 115 – 134. 27 Bei Wellmer heißt es: »bei der die Menschen ihre Subjektivität […] wiederzufinden vermöchten«, Ebd., S. 123. 28 Ebd., S. 120. 29 Als einen Beitrag zu solcherart Fragen verstehe ich auch die Kritik, die Lucius Burckhardt am Beispiel der Architektur, seiner eigenen Profession, vorführt. Es kommt nicht darauf an, ein Gebäude als
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unterscheidet Arendt zunächst Gegenstände des Gebrauchs von Kunstwerken, und auch sie erklärt im Sinne der Idee einer Zuhandenheit, dass das, was wir in der Welt benutzen, uns Menschen vorgängig ist.30 Gebrauchsdinge sowie Kunstwerke sind bei ihr unterschieden von Konsumgütern, Letzteren attestiert sie die Eigenschaft, sofort wieder ganz zu verschwinden, während Gebrauchsdinge während des Gebrauchs zwar ebenfalls verschwinden (indem sie sich abnutzen), sich aber in ihrem Gebrauch nicht erschöpfen, sondern als Kulturträger noch eine andere wesentliche Rolle spielen. Der Begriff ›Welt‹ bei Arendt ist dem Heideggerschen Weltbegriff verwandt, jedoch nicht mit diesem identisch. Während Dinglichkeit und Zeughaftigkeit der Welt bei Heidegger primär nach der Einstellung des individuellen Bewusstseins unterschieden sind (im Benutzen der Gegenstände bin ich in einem anderen Modus der Bewusstheit, als wenn ich sie als Ding anstarre)31, ist Welt als eine Ansammlung von Gebrauchsdingen und Kunstwerken bei Arendt zuerst eine Bestimmung vieler Objekte, auf die wir uns als einzelne Wahrnehmende in je verschiedener Weise beziehen können. Der Weltbegriff erhält dadurch bei Arendt eine Konnotation kollektiver Verbindlichkeit: Welt wird bei ihr zur Stiftung eines möglichen Öffentlichen, ohne dass Arendt behaupten müsste, es gebe keine individuellen Differenzen in der Art und Weise, Welt wahrzunehmen. Durch die spezifische Gestaltung von Gebrauchsdingen und von Kunstwerken im Rahmen von deren Hergestelltsein manifestiert sich eine geschichtliche Dimension in der Ästhetik von Objekten. Letztere werden zwar nicht von allen als gleich angesehen bzw. interpretiert, sie bleiben aber als gleicher Bezug für verschiedene Interpretationen stetig – in dem Sinn, dass sie immer den Moment ihrer Auslegung überdauern bzw. übersteigen.32 Damit markiert Arendt etwas an den hergestellten und Gebrauchsdingen, das die reine Um-zu-Struktur des Zeugs, seine Funktionalität für die Menschen übersteigt. Zeug hat laut Heidegger eine Verweisungsstruktur, es verweist uns auf anderes Zeug. Jedoch
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eine Antwort auf ein Problem zu schaffen, sondern es kommt darauf an, sich den Background 35
des eigenen Verständnisses sowie dasjenige der Auftraggeber und der Nutzer, der Politik usw. kritisch zu vergegenwärtigen. Vgl. Lucius Burckhardt: Wer plant die Planung?, Berlin 1980. 30 Hannah Arendt: »Kultur und Politik«, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und
Zukunft, München 1994, hier S. 289. 31 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 69. 32 Arendt spricht hier von »Dauerhaftigkeit«. Arendt: Kultur und Politik, a.a.O., S. 289. 33 Heidegger: Sein und Zeit, a.a.O., S. 72 ff., vgl. S. 84. 34 Ergänzend ist hier zu bemerken, dass der Geschichtsbegriff von Heidegger sich von dem
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verweist das Zeug uns nicht auf uns selbst zurück.33 Etwas zugespitzt formuliert, kann ein Hammer nach Heideggers Darstellung mich nicht kulturgeschichtlich kontextualisieren; einem Kunstwerk hingegen kommt, indem es Wahrheit eröffnet, eine kulturelle und damit menschheitsgeschichtliche Dimension zu.34 Denn im Kunstwerk eröffnen laut Heidegger Gegenstände für uns eine Welt.35 Während Heidegger also die entscheidende Grenze zwischen dem Kunstwerk und einem Gebrauchsobjekt konstruiert, liegt der Fokus von Arendts Bestimmung von Kunstwerken und Gebrauchsdingen in der durch sie evozierten kulturellen Kontextualisierung derjenigen, die mit ihnen umgehen, und damit in dem Vermögen der Gegenstände, durch die Pluralität der Bezugnahme auf sie Öffentlichkeit zu evozieren. Indem die Gegenstände und Kunstwerke für uns das Sprechen und Handeln anderer Menschen verkörpern, ist ihnen stets eine kulturell-geschichtliche Dimension eingeschrieben. Die Beurteilungen aber, die wir abgeben, sind laut Arendt – neben der Beurteilung ihres Gebrauchswertes – ästhetische Urteile: Wir beurteilen die Gegenstände nach ihrem Aussehen. Letzteres können wir nie ganz durch die Einschätzung des Gebrauchs ersetzen, immer geht es also auch um die Frage, ob der Gegenstand für uns »schön ist oder häßlich, oder etwas dazwischen«.36 Es ist nun aber gerade unser ästhetisches Urteil, welches laut Arendt die Parallele bzw. Verbindung zum politischen Urteil in der Öffentlichkeit herstellt. Mit einer originellen Kant-Interpretation schlägt Arendt einen Bogen von der Kultur zur Politik. Ihre Auslegung läuft hinaus auf die Pointe, dass wir weder in der Politik noch in ästhetischen Urteilen sicher sein können, ob wir uns nicht letzten Endes irren. »Das Urteil entspringt hier der Subjektivität eines Standortes in der Welt!«37 Diese Unsicherheit ist konstitutiv für jene Beziehungen innerhalb einer öffentlichen Welt, die nicht allein durch andere Menschen, sondern ebenso durch die Gegenstände, mit denen wir uns beschäftigen, konstituiert werden. Durch diese Unsicherheit bekommt das Urteil den Status einer Entscheidung im Hinblick auf etwas Konkretes.
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bei Arendt wesentlich unterscheidet. Verstellungen aus der Geschichte der Philosophie sollen aufgehoben und das Denken wieder seinen frühen antiken Ursprüngen zugeführt werden. 35 Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, a.a.O. So eröffnen die Schuhe der Bäuerin auf dem Bild von Van Gogh uns die bäuerliche Welt. 36 Arendt: »Kultur und Politik«, a.a.O., S. 297. 37 Ebd., S. 300.
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»Immerhin dürfte auch in dieser Kürze evident sein, daß hier das spezifisch kulturelle Verhalten des Menschen als eine im ausgezeichneten Sinne politische Tätigkeit verstanden wird. Im Geschmacks- wie im politischen Urteil wird etwas entschieden, und diese Entscheidung hat einen ›Bestimmungsgrund‹, der ›nicht anders als subjektiv sein kann‹ und doch unabhängig bleiben muß von allen direkten subjektiven Interessen«,
so Arendt mit Bezug auf Kant. Arendt beansprucht für Design letztlich beides: den Gebrauch im Rahmen subjektiver Interessen und zugleich die Unabhängigkeit der Gegenstände und Beziehungen von allen subjektiven Interessen, die diese Gegenstände schaffen. In der Beschreibung der Gestaltungsprozesse selbst bleibt sie dem von ihr in Vita activa entworfenen Bild des Homo faber verbunden. Sie schafft zwar eine Phänomenologie des Herstellens von Gebrauchsdingen, dieses ist – bezogen auf das Politische der Öffentlichkeit – aber eine negativ konnotierte Phänomenologie. Weil der Homo faber, als der herstellende Mensch, immer alles – Materialien und Beziehungen – instrumentalisiert, diese nämlich allein als Mittel zur Herstellung betrachtet, verbleibt er gerade im funktionalen Denken und Handeln, d.h. die Möglichkeit eines ästhetischen und zugleich politischen Urteils ist ihm, insoweit er eben nur Hersteller ist, Arendt zufolge nicht gegeben. Insofern könnte man auch sagen, dass die Haltung der Künstler*innen und Designer*innen, Kontrolle über Abläufe, Kommunikation und Zusammenarbeit – notfalls mit Gewalt, wie Arendt sagt – zu behalten, von ihr als kritisch gesehen wird. Andererseits stellt sie ein solches Vorgehen als notwendig heraus, um qualitätvolle Ergebnisse im Sinne einer Kulturalisierung von Geschichte zu erzielen. Die Selbstreflexion der Designer*innen, die oben im zweiten Abschnitt skizziert wurde, setzt an diesem Punkt an und fragt nach der Notwendigkeit oder Vermeidbarkeit einer Gewaltausübung gegenüber der Natur und ihren Materialien sowie gegenüber anderen Menschen. Insofern wäre es produktiv, die Systematisierung des Homo faber durch Hannah Arendt selbst als eine historisch gewordene Denkfigur der Theorie zu betrachten, an der seitdem die Gestal-
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38 Bruno Latour, »Ein vorsichtiger Prometheus?«, a.a.O., S. 359. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 361. 42 Ebd., S. 359. 43 Ebd., S. 362.
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ter*innen selbst weitergearbeitet haben, wenngleich die Einwände Arendts, die sich auf Kontrolle, Gewaltbereitschaft und Herrschaft in poietischen und technischen Innovationen beziehen, bis heute ernst zu nehmende Einwände in Bezug auf ein sich selbst als ethisch richtig verortendes Selbstverständnis von Gestalter*innen darstellen.
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Bei der Normativität designerischen Handelns, der Frage also, wie und was designerisches Handeln sein soll und wie sich Beziehungen darin gestalten, setzt auch der Wissenschaftssoziologe und Philosoph Bruno Latour an. Er macht dazu einen Vorschlag, der in der letzten Zeit viel Beachtung erfahren hat – er spricht von der Vorsicht des Designens.38 In Latours polemisch bestimmtem Begriff der Moderne bündeln sich zunächst die Kritikpunkte, die auch Arendt angeführt hatte: Latour sieht die Moderne in einem negativen Sinne charakterisiert durch ein Phantasma der Beherrschung, durch einen »prometheischen Traum von Handlung«, der sich in der Handlungsfolge »bauen, konstruieren, zerstören« zeige.39 »Gehe vorwärts, breche radikal mit der Vergangenheit und überlasse die Konsequenzen sich selbst!« Das war der alte Weg […].«40 Die Hybris vollständiger Beherrschung dessen, was man tut, oder die absolute »Neuerschaffung als Schöpfung« sind die Modelle, von denen er sich distanziert, in dem Sinn, dass er sie für überholt erklärt. Auch den politischen Begriff der Revolution ordnet er in diesen Zusammenhang ein. Als Gegenmodell zum Gedanken des revolutionären Bruches entwirft er einen »transitorischen« Design begriff, »auch deshalb, weil Design stets etwas leicht Oberfläch liches hat«.41 Die ›Ethik‹ dieses Designbegriffs ist bestimmt durch die Vorsicht der Handelnden. Bescheidenheit und »Aufmerksamkeit für Details« sowie Geschicklichkeit sind die Maßstäbe des Handelns und seiner Beurteilung.42 Dieses gestalterische Handeln »ist ein Gegengift gegen Hybris und die Suche nach absoluter Gewissheit, ein Gegenmittel gegen radikale Abschiede und absolute Neuanfänge«.43 In seiner Vermitteltheit dringt Design – so könnte man Latour weiterdenken – in alle gesellschaftlichen Bereiche ein, und so wäre auch die Grenzziehung zur Kunst nicht mehr dieselbe, wie sie die radikale Moderne im Rahmen einer Autonomieästhetik gezogen hat, welche die Kunst als Antipoden zu innerweltlicher Beherrschung verstand. 10
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Eine Verschränkungsfigur von Kunst und Design, die – das sei angemerkt – nicht die Existenz beider als unterschiedlicher Handlungs-, Wahrnehmungs- und Gebrauchsformen in Abrede stellt, findet man auch bei Adorno.44 Adorno greift den Gedanken des Ineinanderseins von Künstlerischem und Funktionalem in einer ähnlichen Weise wie Arendt auf und begründet ihn historisch als Geschichte der Sublimierung von Zwecken für die Kunst einerseits und als ästhetisch-künstlerische Fundierung des Zweckhaften andererseits.
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»Zweckfreies und Zweckhaftes in den Gebilden sind darum nicht absolut voneinander zu trennen, weil sie geschichtlich ineinander waren. Sind doch, wie bekannt, die Ornamente, die Loos mit einer Berserkerwut ächtete, die sonderbar absticht von seiner Humanität, vielfach Narben überholter Produktionsweisen an den Dingen. Umgekehrt sind noch in die zweckfreie Kunst Zwecke wie die von Geselligkeit, Tanz, Unterhaltung eingewandert, um schließlich in ihrem Formgesetz zu verschwinden. Die Zweckmäßigkeit ohne Zweck ist die Sublimierung von Zwecken. Es gibt kein Ästhetisches an sich, sondern lediglich als Spannungsfeld solcher Sublimierung. Deshalb aber auch keine chemisch reine Zweckmäßigkeit als Gegenteil des Ästhetischen. Selbst die reinsten Zweckformen zehren von Vorstellungen wie der formaler Durchsichtigkeit und Faßlichkeit, die aus künstlerischer Erfahrung stammen, keine Form ist gänzlich aus ihrem Zweck geschöpft.«45
Wie Arendt betont Adorno, dass sich das Postulat reiner Zweckmäßigkeit vielleicht in der Theorie, nicht aber in der Realität umsetzen lässt. Dies hat auch damit zu tun, dass wir immer auch ästhetisch urteilen, auch über Gebrauchsdinge (wenn wir uns nicht die Augen ausreißen, wie Arendt in metaphorischem Expressionismus sagt). Dies lese ich als eine Gegenthese zu den Spaltungsthesen der Philosophie im 20. Jahrhundert, wie z.B. der Entzweiungsthese von Joachim Ritter, in der das Technisch-Funktionale als Gegen30
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44 Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute«, in ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I.
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teil oder gar als Bedrohung der Kunst bzw. eines Verständnisses menschlicher Geschichte verstanden worden ist. Adornos These vom Materialfortschritt der Kunst integriert insoweit folgerichtig den technischen Fortschritt in die Kunst selbst.46 05
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46 Vgl. z.B. Theodor W. Adorno: Ästhetik, Frankfurt a.M. 2017, S. 85ff.
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Design gestaltet Praxis, wohingegen Kunst eine Praxis der Thematisierung von Praxis ist.
Prof. Dr. phil. Daniel Martin Feige geb. 1976, lehrt an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart Philosophie und Ästhetik unter besonderer Berücksichtigung des Designs. Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle zwischen philosophischer Ästhetik und theoretischer Philosophie. Veröffentlichung u.a.: Design. Eine philosophische Analyse, Suhrkamp 2018 (2. Auflage 2019); Computerspiele. Eine Ästhetik, Suhrkamp 2015; Philosophie des Jazz, Suhrkamp 2014 (3. Auflage 2014).
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Einleitung Die Nähe wie Distanz zur Kunst beschäftigt die Praxis und Theorie des Designs seit seiner Entstehung im Gefolge der industriellen Revolution. Noch scheinbar diametral entgegengesetzte Positionen haben sich in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts dabei in ihrem Nachdenken über das Verhältnis von Kunst und Design in einen gemeinsamen theoretischen Rahmen bewegt. Das lässt sich exemplarisch anhand der Arbeiten Peter Behrens und Naum Gabos ausweisen. Peter Behrens, nicht allein in seiner Funktion als künstlerischer Berater für die AEG ein Wegbereiter des modernen Designs, hat dabei die Nähe zwischen Kunst und Design betont.1 Das, was wir heute Design nennen, sei eine zeitgemäße Fortführung der Kunst mit anderen Mitteln. Demgegenüber hat Naum Gabo, seines Zeichens konsequenter Anhänger der Schule des Konstruktivismus, die Distanz zwischen Kunst und Design dadurch betont, dass er mögliche ästhetische Aspekte des Designs als bloßes Nebenprodukt des angemessenen Funktionierens solcher Gegenstände bestimmt hat.2 Peter Behrens schreibt in seinem 1907 veröffentlichten Aufsatz »Kunst und Technik«, dass die Ingenieursprodukte der Zukunft »neben praktischem Nutzen einer Vollendung der Form zugeführt werden« müssen. Das soll mit Blick auf Gebäude etwa so geschehen, dass »der innere Organismus eines industriellem Zwecke dienenden Gebäudes […] klar erhalten bleiben [muss], und [dieser] die Ursache zu einer neuen, den Geist unserer Zeit bezeichnenden Schönheit werden« soll.3 Die ästhetische Form drückt hier derart einen neuen Geist der Schönheit aus, dass sie letztlich eine angemessene Kommunikation der funktionalen Rolle des Gegenstandes und seiner Teile werden soll. Behrens schreibt entsprechend: »Bei allen Gegenständen, die auf maschinellem Wege hergestellt werden, sollte man nicht eine Berührung von Kunst und Industrie, 05
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1 Vgl. v.a. Peter Behrens: »Kunst und Technik«, in: Gestaltung Denken. Grundlagentexte zu
Design und Architektur, hrsg. v. Klaus T. Edelmann u. Gerrit Terstiege, Basel 2006, S. 23 – 27. 2 Naum Gabo: »Gestaltung?«, in: Bauhaus 4 (1928), S. 2 – 6. Ich danke Johannes Lang, der mich auf Gabos Text aufmerksam gemacht hat. 3 Behrens: »Kunst und Technik«, a.a.O., S. 8.
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sondern eine innige Verbindung beider anstreben. Eine solche innige Verbindung wird [dadurch erreicht, dass] die exakte Durchführung der maschinellen Herstellungsart […] angewandt wird und künstlerisch zum Ausdruck kommt, um so in jeder Beziehung das Echte hervorzuheben und vor allen diejenigen Formen künstlerisch zu verwenden und auszugestalten, die aus der Maschine und der Massenproduktion gewissermaßen von selbst hervorgehen und ihnen adäquat sind.«4 Fast zwei Dekaden später kommt Naum Gabo zu einer scheinbar gegenteiligen Diagnose, wenn er den Begriff der Gestaltung insgesamt verabschiedet und ihn zu einer bloß äußerlichen Zutat erklärt: »In [gestalteten Gegenständen] bleibt der Kern immer unverändert derselbe. Das Wesen des Gegenstandes hat sich nicht geändert, es hat sich nur in andere Formen verkleidet.«5 Der Gestalter muss für Gabo durch den Ingenieur ersetzt werden, der »nicht mit »gestalterischen«, sondern mit rein konstruktiven Absichten an diese Dinge herantritt«.6 Gestaltung ist keine eigenständige Aufgabe, sondern vielmehr etwas, das mit dem soliden Arbeiten des Ingenieurs bereits erledigt ist: »Die Neukonstruktion allein bedingt schon die neue Gestaltung. Der Ingenieur braucht lediglich den Gegenstand so folgerichtig zu konstruieren, dass alle seine Teile ihre Funktionen streng präzise erfüllen. Die gute Gestaltung des Gegenstandes ergibt sich dann aus der Konstruktion von selbst, sie ist mit ihr zwangsläufig verbunden.«7 Im Unterschied zu Behrens plädiert Gabo dann auch konsequenterweise für eine kategoriale Trennung von Kunst und Design: »Die allgemein nützlichen Gebrauchsgegenstände sind nicht dazu da, um bewundert, sondern um benutzt zu werden. Die wahre Ästhetik des Gebrauchsgegenstandes liegt nicht in seinem Aussehen, sondern in seiner Verwendung. Unseren psychischen Bedarf an geistigen Erregern, an ideellen Werten, an gesteigerten Erlebnissen hingegen kann und soll in vollem Maße die »Kunst« besorgen, die dazu da ist.«8 Behrens und Gabos Grundgedanken sind scheinbar diametral entgegengesetzt. Auf der einen Seite Erweiterung und Neuerfindung der Kunst, auf der anderen Seite radikale Trennung von Kunst und Design und zugleich Verabschiedung der Gestaltung als eigenständiger ästhetischer Leistung. Beide kommen aber in einem
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4 Ebd., S. 2 f. 5 Gabo: »Gestaltung?«, a.a.O., S. 4. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 5. 9 Zentrale Kritikpunkte am klassischen Funktionalismus haben u.a. formuliert: Hartmut
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Gedanken überein. Design unterscheidet sich von dem, was vormals unter Kunst verstanden worden ist, dadurch, dass es sich bei ihm um funktionale Gegenstände handelt. Sei es, dass man die Kunst wie Gabo aus dem Design heraushält oder Design zur neuen Leitkunst erklärt wie Behrens: In beiden Fällen hat man sich dann auf eine funktionalistische Bestimmung von Design verpflichtet. Historisch in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen, steht es heute um den designtheoretischen Funktionalismus denkbar schlecht.9 Nicht erst im Rahmen der Diskussionen der Postmoderne ist eine funktionalistische Bestimmung von Design in Misskredit geraten. Was Studierende im Rahmen von Designstudiengängen heute in ihren Kursen tun, ist in vielen Fällen in seinem offenen wie forschenden Charakter mitunter ununterscheidbar von dem, was an benachbarten Kunstdepartments geschieht. Zudem kann man Gegenständen des Designs nicht immer und ohne weiteres Wissen ansehen, wozu sie da sind – und manchmal noch nicht einmal, dass es sich bei ihnen um Designgegenstände handelt. Nicht zuletzt ist der Funktionalismus heute im Zuge der Debatten im Kontext der Designforschung durch ein deutlich komplexeres Bild dessen ersetzt worden, was Design ist. Dennoch möchte ich im Folgenden eine grundsätzliche Intuition des Funktionalismus verteidigen: Designgegenstände sind jeweils zu etwas Bestimmtem da, sie erfüllen bestimmte Zwecke. Wenn ich in dieser Formulierung die Begriffe Zweck und Funktion äquivalent benutze, so zeigt das bereits an, dass ich die Spielart eines designtheoretischen Funktionalismus, die ich im Folgenden verteidigen werde, eben nicht länger als Ausdruck – um mit Karel Teige zu sprechen – einer »Ästhetik der Maschine« verstehe:10 Im Design geht es um eigenlogische Gestaltungen in der Welt menschlicher Zwecke und sogar um Gestaltungen *der* Welt menschlicher Zwecke. Ich bin natürlich nicht der einzige, der derart den Funktionalismus anders als die Tradition zu deuten versucht; schon Albrecht Wellmer hat im Geiste eines verwandten Gedankens den Funktionalismus vor seinen Kritikern wie Apologeten in Schutz genommen, indem er dem
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Seeger: »Funktionalismus im Rückspiegel des Designs«, in: Theorien der Gestaltung. Grund-
lagentexte zum Design. Band 1, hrsg. v. Volker Fischer und Anne Hamilton, Frankfurt a. M. 1999, S. 216 – 218. Andreas Dorschel: Gestaltung. Zur Ästhetik des Brauchbaren, Heidelberg 2003. 10 Karel Teige: »Der Konstruktivismus und die Liquidierung der Kunst«, in: Theorien der Gestaltung. Grundlagentexte zum Design. Band 1, hrsg. v. Volker Fischer u. Anne Hamilton, Frankfurt a. M., S. 152 – 158, hier: S. 158.
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»mechanischen« einen »historischen« Funktionalismus gegenübergestellt hat.11 Entsprechend verstehe ich Designgegenstände als kategorial andere Arten von Gegenständen als Kunstwerke. Dabei möchte ich im Folgenden positiv an Gabos Gedanke anschließen, dass die »wahre Ästhetik des Gebrauchsgegenstandes nicht in seinem Aussehen [liegt], sondern in seiner Verwendung«.12 Die Ästhetik von Designgegenstände sollte also – anders als weite Teile der Designtheorie glauben – nicht so verstanden werden, dass sie sich ausschließlich oder auch nur vornehmlich mit dem Aussehen von Gegenständen beschäftigt. Den Unterschied zwischen Kunst und Design werde ich genauer anhand der Rolle von Kunstwerken und Designgegenständen bestimmen, die diese in menschlichen Lebensformen erfüllen. Meine Grundthese zu diesem Unterschied lautet dabei wie folgt: Kunst ist als eine Reflexionspraxis zu verstehen, während Design als praktisch-ästhetische Form der Welterschließung zu verstehen ist. Erfüllen damit gelingende Kunstwerke in ihrer Funktionslosigkeit gegenüber praktischen Zwecken selbst eine bestimmte Rolle für diejenigen, die sie erfahren, so bestimmen gelingende Designgegenstände ihre Funktionen im Medium ästhetischer Prozesse der Formgebung neu und weiter. Der jeweiligen Bestimmung widme ich mit einem Seitenblick auf die andere jeweils einen Teil dieses Beitrags. In einem ersten Teil (I) werde ich entsprechend eine Rekonstruktion der Rolle der Kunst vorschlagen, die diese als Reflexionspraxis bestimmt. Im zweiten Teil (II) werde ich dann eine Rekonstruktion des Designs vorschlagen, dass dieses als praktisch-ästhetische Form der Welterschließung bestimmt. Bevor ich mich in medias res begebe, noch eine Vorbemerkung zur logischen Struktur der Begriffe Kunst und Design, um deren Klärung es mir im Folgenden geht. Der Anspruch der folgenden Überlegungen zum Begriff der Kunst und dem Begriff des Designs ist nicht so zu verstehen, dass ich auf eine herkömmliche Definition im Sinne der Angabe jeweils notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen abziele. Mehr noch: Ich glaube, dass diejenigen, die Kunst und Design in herkömmlicher Weise definieren wollen, einen Fehler machen – zumindest dann, 05
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11 Albrecht Wellmer: »Kultur und industrielle Produktion. Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne«, in: Merkur 37 (1983), S. 133 – 145, hier: S. 135. 12 Gabo: »Gestaltung?«, a.a.O., S. 5. 13 Vgl. dazu systematisch auch Daniel M. Feige: Design. Eine
philosophische Analyse, Berlin 2018, Kapitel 3. Sowie Daniel M. Feige: Computerspiele. Eine Ästhetik, Berlin 2015, Kapitel 2.
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wenn sie Kunstwerke und Designgegenstände als ästhetische Gegenstände verstanden wissen wollen. Dazu zumindest kurz einige Überlegungen, die ich an anderer Stelle ausführlicher systematisch entwickelt und verteidigt habe.13 Eine herkömmliche Definition macht den Fehler, dass sie sich subsumierend auf ästhetische Gegenstände bezieht und sie damit als bloße Fälle behandelt. Jenseits etablierter Alternativen zu einem solchen Verständnis im Sinne clustertheoretischer oder auch disjunktivistischer Bestimmungen der Kunst, des Designs und / oder des Ästhetischen – Alternativen, von denen man m.E. zeigen kann, dass sie allesamt dialektisch auf die Probleme der herkömmlichen Definition bezogen bleiben – sind die folgenden Erläuterungen als begriffliche Bestimmungen zu verstehen,14 die von unbestimmter Bestimmtheit sind. Unbestimmt sind sie nicht dahingehend, dass die Gegenstände, die sie adressieren, irgendwie so heterogen wären, dass sie mit Begriffen gar nicht erfasst werden könnten. Unbestimmt sind sie vielmehr darin, dass die Begriffe der Kunst oder des Designs nichts anderes als die Reihe der bisherigen Gegenstände der Kunst oder des Designs in ihrer historischen Unabgeschlossenheit meinen. Anders gesagt: Begriffliche Bestimmungen sind m.E. nicht externe Kategorisierungen oder Annäherungen im Sinne empirischer Theorien. Vielmehr meinen sie im Geiste Hegels eine Dimension der Gegenstände selbst. »Kunst« ist nichts anderes als die bisherige Reihe von Kunstwerken sowie die Offenheit für immer neue und erneute Bestimmungen des Begriffs durch zukünftige Kunstwerke. »Design« ist nichts anderes als die bisherige Reihe von Designgegenständen sowie die Offenheit für immer neue und erneute Bestimmungen des Begriffs durch zukünftige Gegenstände des Designs. Das genuin Ästhetische beider sehe ich also nicht darin, dass sie sich uns irgendwie immer sinnlich darbieten würden, noch darin, dass es eine einheitliche Art von Erfahrung exemplifizieren würde – etwas, was die deutsche Ästhetik in den letzten Dekaden anhand des Begriffs der »ästhetischen Erfahrung« versucht hat.15 Ebenso wenig sehe ich das Ästhetische darin, dass es irgendwie eher unsere Emotionen als unsere Rationalität ansprechen würde – zumal erstere wohl eine Unterkategorie
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14 Vgl. Berys Gaut: »Kunst als Clusterbegriff«, in: Kunst und Kunstbegriff. Der Streit um die
Grundlagen der Ästhetikhrsg. v. Roland Bluhm u. Reinold Schmücker, Paderborn 2002, S. 140 – 165. Grant Tavinor: The Art of Videogames , New York 2009. 15 Vgl. als wesentlichen Einsatzpunkt dazu Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989.
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letzterer sein dürften. Es besteht vielmehr darin, dass wir uns auf solche Gegenstände nicht als bloße Fälle eines Allgemeinen beziehen, sondern sie als jeweils besondere Neu- und Weiterbestimmungen eines solchen Allgemeinen begreifen müssen. Damit aber bestimmen die Gegenstände der Kunst und des Designs in ihrer Unterschiedenheit jeweils zugleich auch den Sinn des Unterschieds zwischen beiden neu und weiter. Man könnte auch sagen: Ich interessiere mich im Folgenden für zwei verschiedene Formen des ästhetischen Urteilens und damit Wendungen, die unser Denken, Wahrnehmen und Handeln angesichts von Kunstwerken einerseits und Designgegenständen andererseits nimmt – ohne diese Gegenstände damit inhaltlich auf eine Definition bringen zu wollen.16 Nach diesen Vorbemerkungen komme ich damit zum ersten Teil meiner Überlegungen.
I. Kunsterfahrung als Reflexionsgeschehen Eine Bestimmung der Kunsterfahrung als Reflexionsgeschehen greift eine besondere Leistung der Kunst gegenüber anderen Leistungen heraus, die Kunstwerke potentiell auch noch erfüllen können.17 Man kann natürlich alles Mögliche mit Kunstwerken machen – ich könnte einen Roman von Fontane nur deshalb lesen, um etwas über den Sprachgebrauch der damaligen Zeit zu erfahren; ich könnte eine Beethoven Klaviersonate nur deshalb hören, um in eine bestimmte Stimmung zu kommen; ich könnte eine Performance der Neuen Musik nur deshalb hören, um als Soziologe mir die sozialen und nicht ästhetischen Interaktionen während einer solchen Performance anzuschauen; ja, ich könnte mit einer handlichen Skulptur einen Einbrecher bewusstlos schlagen, der sich gerade an den Werken des Museums zu schaffen macht, in dem ich als Nachtwärter arbeite. Aber: Solche Verwendungsweisen bestimmen nicht den Begriff der Kunst. Lassen wir einmal komplizierte Gedankenexperimente im Geiste Arthur C. Dantos beiseite wie z.B., dass der im letzten Jahr verstorbene Performance Artist Chris Burden nicht nur 1971 die Performance Shoot abgehalten hätte, sondern einige Jahre später auch eine Performance namens Hit, bei der er sich von Museumbesuchern Skulpturen auf den Kopf hätte schlagen lassen: Es hat zumindest mit einer konventionellen Skulptur als Skulptur nichts zu tun, dass ich damit einen
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16 Genauer ausgearbeitet habe ich diesen Gedanken mit Feige: Design, a.a.O., Kapitel 4. 17 Vgl. ausführlicher für das Folgende auch Feige: Computerspielea.a.O., Kapitel 4.1.
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Einbrecher ins Reich der Träume schicken kann. Das Gelingen einer herkömmlichen Skulptur als Skulptur bemisst sich nicht daran, inwieweit sie als Waffe taugt – und Reuterswärds Skulptur einer Waffe ist natürlich nicht selbst eine Waffe. Das heißt zugleich: In der Kunst geht es nicht um ein Gelingen in einem unqualifizierten Sinne. Kunstwerke sind nicht irgendwie Mittel zu irgendwelchen Zwecken. Eine Bestimmung der Kunsterfahrung als Reflexionsgeschehen verpflichtet sich demgegenüber darauf, dass sie eine Explikation der besonderen Leistung bzw. Rolle darstellt, die Kunsterfahrungen als Kunsterfahrungen für uns haben. Über andere mögliche Verwendungsweisen von Kunstwerken sagt sie nichts. Das impliziert auch: Wer einem bestimmten Film oder einem bestimmten Videospiel oder einem bestimmten Popsong den Kunststatus abspricht, hat damit noch nicht gesagt, dass dieser Film, dieses Spiel und dieser Song schlecht sind. Denn sie könnten ja in anderen Hinsichten ausgesprochen gut sein, letzterer etwa als Animation zum Tanzen. Dass etwas als Kunstwerk gelingt, heißt also nicht, dass es von größerer Güte wäre gegenüber Gegenständen, die keine Kunstwerke sind. Es heißt, dass hier anderes gelingt als bei anderen Arten von Gegenständen – und wie ich zeigen werde, dass es sich dabei zugleich um eine andere Form des Gelingens handelt. Wenn wir es mit Kunstwerken zu tun haben, haben wir es nicht mit Gegenständen zu tun, die im Sinne einem quantitativen Sinne besonders wertvolle Gegenstände sind. Wir haben es vielmehr mit Gegenständen zu tun, die in einer besonderen Hinsicht und in besonderer Weise für uns sinnvolle Gegenstände sind. Was aber besagt der Begriff des Reflexionsgeschehens genau? Versteht man die Kunsterfahrung als Reflexionsgeschehen und damit die Kunstpraxis als eine Reflexionspraxis, so versteht man sie als selbstbezügliche Praxis: Im Lichte von Kunsterfahrungen erkennen wir nicht die Welt, noch bilden wir uns durch diese Erfahrungen ethisch weiter. Vielmehr lassen Kunsterfahrungen uns etwas über uns selbst als erkennende Wesen und über uns selbst als ethische Wesen verständlich werden. Kunst handelt nicht von Erkenntnissen oder ethischen Orientierungen, sondern sie verhandelt unsere Erkenntnisfähigkeit und unsere Ansprechbarkeit für ethische Gesichtspunkte. Gewichtige Philosophen wie Nelson Goodman und Richard Rorty haben Kunst entweder als besondere Form der Erkenntnis oder als besondere Form der Schulung unserer 05
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ethischen Sensibilitäten bestimmt.18 Kunst als Reflexionsgeschehen zu deuten heißt nicht, zu bestreiten, dass Kunsterfahrungen auch Erkenntnisse über die Welt befördern oder auch unsere Ansprechbarkeit für ethische relevante Aspekte der Welt befördern können. Schon Hegel hat aber pointiert festgehalten: »Zwecke […] wie Belehrung, Reinigung, Besserung, Gelderwerb, Streben nach Ruhm und Ehre […] gehen das Kunstwerk als solches nichts an und bestimmen nicht den Begriff desselben.«19 Wer einen historischen Roman nur deshalb schätzt, weil er etwas über eine vergangene Lebensform lernen kann, hätte besser in ein Geschichtsbuch schauen sollen; wer einen Spielfilm nur deshalb liebt, weil dieser ihn ermutigt, sein Leben ethisch anders anzugehen, benutzt den Film nur als ethisches Aphrodisiakum. Können Kunstwerke Erkenntnisse vermitteln oder ethische Sensibilitäten schulen, so machen solche Leistungen sie nicht als Kunstwerke aus. Gegenüber epistemischen und ethischen wie weiteren Zwecken ist die Kunst autonom. In ihrer Autonomie erfüllen Kunstwerke gleichwohl eine bestimmte Leistung in der menschlichen Welt: Sie erlauben eine Selbstthematisierung derjenigen, die sie erfahren. Dass wir in der Kunsterfahrung uns selbst gegenübertreten, darf nun selbst wiederum nicht epistemisch gedeutet werden: Wir treten hier keinem vorhandenen Gegenstand gegenüber. Dazu einige knappe Festlegungen: Der Mensch unterscheidet sich von der unbelebten wie auch der sonstigen belebten Natur dadurch, dass es für das, was er ist, einen Unterschied macht, wie er sich versteht. Nicht etwa das Feuern von Neuronen, ein genetischer Fingerabdruck oder gar unsere molekulare Beschaffenheit beschreibt das, was wir sind. Eine Bestimmung dessen, was wir sind, muss berücksichtigen, wie wir uns verstehen, denn unsere Selbstverständnisse machen einen Unterschied für das, was wir sind und sind damit mindestens ein Baustein in einem angemessenen Bild unserer selbst als rationaler Lebewesen. Das heißt natürlich nicht, dass wir uns nicht in vielfältiger Weise darüber täuschen können, was wir sind. Aber selbst wenn wir uns über uns täuschen, setzt noch die Täuschung die Ebene eines Selbstverständnisses voraus. Kunsterfahrung als Reflexionsgeschehen zu deuten darf also nicht so verstanden werden, dass wir uns selbst in einem höherstufigen Sinne
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18 Vgl. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 1997, v.a. Kapitel 6. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M.
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repräsentational auf uns beziehen. Kunsterfahrung als Reflexionsgeschehen zu deuten heißt vielmehr, sie zugleich als ein Transformationsgeschehen zu deuten. Der Erfahrungsbegriff sollte mit Blick auf die Kunst entsprechend nicht ausgehend von einer sensualistischen Tradition erläutert werden, die in weiten Teilen der Debatten der Ästhetik leider mit dem Kunstbegriff amalgamiert worden ist. Er sollte vielmehr in der Tradition Gadamers so erläutert werden, dass Erfahrungen etwas sind, was man nicht einfach macht, sondern was vielmehr zugleich mit einem gemacht wird:20 Sie haben ein wesentlich passives wie nicht antizipierbares Moment. Jede starke Kunsterfahrung verändert das, was wir sind; wir entdecken in und durch sie etwas über uns, was wir vorher nicht wissen konnten, und machen uns dadurch zu anderen bzw. werden dadurch zu anderen gemacht, als wir vormals waren. Zwar können wir so etwas sagen, wie dass Schönbergs Verklärte Nacht eine Art angespannter und sich zugleich nicht auflösender Erwartung ausdrücke oder Antonio Lobo Antunes Roman Die Vögel kommen zurück eine besondere Oszillation zwischen Melancholie und Selbsthass ausdrücke. Aber solche Aussagen dürfen nicht so gedeutet werden, dass das Kunstwerk hier einfach einen Zugang zu entsprechenden Erwartungen und Stimmungen bereitstellen würde. Vielmehr müssen wir sagen, dass die Erfahrungen dieses musikalischen Werks bzw. des Romans entsprechende Erwartungen und Stimmungen an ihnen etwas herausarbeitet, was ohne sie gar nicht thematisch werden kann. Kunsterfahrungen als Reflexionsgeschehen zu deuten heißt entsprechend, sie als performative Transformationen unserer selbst zu deuten; Transformationen deshalb, weil Kunsterfahrungen eben einen Erfahrungscharakter haben und uns entsprechend zu anderen machen als wir vormals waren; performativ deshalb, weil solche Transformationen nur in und durch die Erfahrung selbst zu haben sind bzw. mit dieser identisch sind. Die Art und Weise, wie Kunst ein Reflexionsgeschehen ist, ist dabei bislang noch unterbestimmt. Hegel hat unter funktionalem Gesichtspunkt der Kunst die Religion und die Philosophie an die Seite gestellt und ich folge ihm in diesem Gedanken.21 Wenn es richtig ist, dass auch die Philosophie und die Religion eine Reflexionspraxis sind, so unterscheiden sich Philosophie, Religion und
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1991, v.a. Teil 3. 19 Georg W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Frankfurt a. M. 1986 (= Band 1), S. 58. 20 Vgl. dazu Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode.
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Kunst doch kategorial in der Art und Weise, wie sie das jeweils sind: Im Medium begrifflicher Artikulation einerseits, im Medium der Vorstellung andererseits und schließlich im Medium von Formgebungsprozessen in der Kunst. Ich möchte als Abschluss dieses ersten Teils meiner Überlegungen deshalb die Art und Weise, in der die Kunst ein Reflexionsgeschehen ist, von derjenigen, in der die Religion und die Philosophie ein solches sind, kontrastiv bestimmen. Zunächst einige Bemerkungen zum Kontrast von Kunst und Religion. Für die Religion ist charakteristisch, dass ihr Gehalt eine gewisse Autonomie gegenüber seinen Verkörperungen in Form etwa von Erzählungen, Liedern, Ritualen usf. gewinnt. Den religiösen Gehalt zu verstehen heißt nicht, an der Oberfläche solcher Verkörperungen stehen zu bleiben; eine Predigt zu verstehen heißt nicht, nur dem Klang der Worte zu lauschen oder den Permutationen der Wortkombination zu folgen. Die ästhetischen Aspekte religiöser Praxis sind nicht selbstgenügsam; sie sind Zeichen von etwas anderem und weitergehendem. Erschließt sich der religiöse Gehalt eines Sakraments oder geistlichen Liedes nicht für diejenigen, die nur auf der Oberfläche der Gesten und Klänge bleiben, so ist das in der Kunst anders: Seit ihrer Autonomisierung zur Zeit der Genese des Bürgertums gegenüber religiösen, repräsentationalen und sonstigen Zwecken sind Kunstwerke selbstgenügsam geworden: Gesten, Bewegungen, Geräusche, Schnitte, Schritte, Töne, Pixel, Worte, Kapitel, Passagen, Melodien, Sequenzen, Farben und Klänge gewinnen in der Kunst derart Eigensinn, dass sie nicht länger Ausdruck von etwas anderem sind als sie selbst. Anders als das Verstehen eines bzw. des Partizipierens bei einem religiösen Ritual heißt das Verstehen bzw. das Erfahren eines Kunstwerks, dass man sich konsequent auf der Ebene seiner eigensinnigen Formen hält. Kunstmusik ist, anders als geistlich gebrauchte Musik, geformter Klang als geformter Klang, künstlerische Romane sind, anders als die Heilsgeschichte, die Form des Erzählens als Form des Erzählens selbst. Das heißt nicht, dass Romane keinen Gehalt haben würden. Es heißt aber sehr wohl, dass ein solcher Gehalt nicht in der »Handlung« oder dem »Plot« besteht, sondern vielmehr nichts anderes ist als das, was sich im Nachvollzug der Form des Erzählens
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Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 352 ff. 21 Vgl. dazu ausführlicher Georg W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Frankfurt
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selbst zeigt.22 Bei solchen Nachvollzügen handelt es sich trotz allem um ein Verstehen schon dadurch, dass jede Kunsterfahrung explizit oder implizit immer schon von Gewichtungen von Elementen des Kunstwerks geprägt ist. Das Interpretieren eines Kunstwerks heißt nicht, nach einem tieferen Sinn hinter solchen Elementen zu suchen, sondern vielmehr die Struktur der Elemente nachzuvollziehen – und damit immer schon zu gewichten und auch zu entscheiden, was Teil des Kunstwerks ist und was nicht.23 Ist der Gehalt in der Kunst nichts anderes als das, was sich im Nachvollzug der Form des Werks zeigt und ist damit irreduzibel an das jeweilige Werk gebunden, so gewinnen in der Philosophie und das heißt im Medium begrifflichen Denkens die Gehalte eine Autonomie gegenüber ihren Verkörperungen. Philosophisches Verstehen beginnt dort, wo man einen Gedanken und Thesen in eigenen Worten wiedergeben kann; es drückt sich in Paraphrasen und Übersetzungsleistungen aus. Ganz anders ist das in der Kunst: Ein Kunstwerk zu verstehen heißt, seinen Elementen und ihrer Form mit dem Geist und das heißt hier häufig auch mit jeder Faser des Körpers mimetisch nachzufahren. In einer Variante eines Gedankens von Adorno muss man sagen: Kunstwerke kann man nicht übersetzen, sondern bloß nachbuchstabieren.24 In der Kunst ist damit wie in Religion und Philosophie Sinn nicht allein immer verkörperter Sinn. Er zeigt sich in der Kunst anders als in Religion und Philosophie immer auch als verkörperter Sinn. In der vorangehenden kontrastiven Gegenüberstellung von Kunst, Religion und Philosophie als Spielarten eines Reflexionsgeschehens spielen die Begriffe der Form und des Elements des Kunstwerks eine wichtige Rolle. Ich möchte sie entsprechend kurz genauer explizieren. Die Form eines Kunstwerks ist so zu erläutern, dass der Zusammenhang der Elemente in Begriffen der Notwendigkeit zu erläutern ist – aber im Sinne einer Notwendigkeit, die keine kausale oder logische meint. Die Elemente eines Kunstwerks
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a. M. 1986 (= Band 3), S. 366 ff. 22 Vgl. dazu ausführlicher Daniel M. Feige: »Musik als Paradigma ästhetischen Erzählens«, in: Musik und Narration, hrsg. v. Frederic Döhl u. Daniel M. Feige Bielefeld 2015, S. 59 – 84. 23 Diese Lektion lässt sich von solch unterschiedlichen Ästhetikern wie Adorno und Danto lernen. Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetik
(1958 / 59) , Berlin 2017, etwa Vorlesung 11. Ar thur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a. M. 1991, v.a. Kapitel 5. 24 Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1973, etwa S. 190: »Machen Kunstwerke nichts nach als sich, dann versteht sie kein anderer, als der sie nachmacht.«
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stehen nämlich in einem Verhältnis wechselseitiger Konstitution: Kunstwerke sind nicht aus gegebenen Elementen aufgebaut, sondern handeln aus sich heraus ihre Elemente aus. Autonom ist Kunst im Sinne ihrer Zweckfreiheit gemessen an praktischen Zwecken just deshalb, weil jedes gelungene Werk eine eigenlogische Konstitution aufweist. Die Zweckfreiheit der Kunst besteht in nichts anderem als ihrer autonomen Formgebung, die zugleich den ganzen Inhalt der Kunst ausmacht. Im Sinne des Gedankens der wechselseitigen Konstitution der Elemente eines Kunstwerks muss man entsprechend sagen: Mit Bach, Beethoven, Brahms, Mahler und Stockhausen werden jeweils nicht allein inhaltlich neue Klänge in die Musik eingetragen. Vielmehr bestimmen ihre Werke aus sich heraus damit auch jeweils neu- und weiter, was überhaupt ein musikalischer Klang ist. Kunst als Reflexionsgeschehen zu bestimmen heißt entsprechend, weder zu behaupten, dass alle Kunstwerke selbstreflexiv verfasste Gegenstände wären, noch zu behaupten, dass man angesichts von Kunstwerken auf irgendetwas reflektieren würde. Vielmehr ist der Nachvollzug der eigenlogischen Konstitution des Kunstwerks selbst das Reflexionsgeschehen. Kunstwerke haben keine Tiefe darin, dass sie tiefe Themen ausdrücken würden. Die Tiefe der Kunst ist nichts anderes als das, was sich auf und an der Oberfläche ihrer Werke selbst zeigt. Ihre Tiefe zeigt sich nur für diejenigen, die ihre Oberfläche im Sinne ihrer eigenlogisch konstituierten Elemente nachvollziehen. Indem sie jeweils individuelle Gegenstände des Verstehens sind; indem man eben nicht aus dem Lesen beliebig vieler Romane deduzieren kann, was der nächste Roman sein wird, den man nun liest; indem man selbst wenn man alle Fugen Bachs bis auf eine kennt, sich das Hören der letzten Fuge keineswegs sparen kann, erweisen sich Kunstwerke als Gegenstände eines Verstehens, das gegenüber dem außerästhetischen Verstehen ein gegenwendiges Moment zeitigt.25 Wir kommen mit einem gelungenen Kunstwerk somit nicht allein deshalb nie an ein Ende, weil es sich im Lichte der Bezüge zu und Erfahrungen mit anderen Kunstwerken jeweils neu zeigt und die Form des Kunstwerks damit in Bewegung ist. Wie man im Geiste Adornos – und auch Menkes – sagen kann, kommen wir vielmehr auch deshalb
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25 Diesen Gedanken hat Christoph Menke konsequent ausbuchstabiert im Rahmen der Beiträge in Christoph Menke: Die Kraft der Kunst, Berlin 2013.
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nicht an ein Ende mit ihm, weil es eine Art von Gegenrationalität zu der außerästhetischen Rationalität exemplifiziert. Und das ist gänzlich anders, wenn wir es mit Design zu tun haben. II. Design als praktisch-ästhetische Welterschließung In anderer Weise ist auch Design Ausdruck unserer Rationalität: Es arbeitet an den praktischen Zwecken mit, die wir verfolgen. Dabei greift es heute in fast alle gesellschaftlichen Bereiche ein. Es ist so omnipräsent, dass es Theoretiker wie Michael Erlhoff zu der These veranlasst hat, dass »alles um uns herum gestaltet, also Design« sei.26 Friedrich von Borries sekundiert diesem Gedanken implizit, wenn er noch die Luft als Produkt von Designentscheidungen erläutert.27 Dabei tritt es häufig mit einer derartigen Beiläufigkeit auf, dass es Theoretiker wie Lucius Burckhardt dazu bewogen hat, davon zu sprechen, dass Design unsichtbar sei.28 Die Thesen von Erlhoff und von Borries sind natürlich schon deshalb problematisch, weil die These, dass alles Design ist, dialektisch identisch ist mit der These, dass nichts Design ist: Der Begriff des Designs wird völlig leer, wenn er nicht so gebraucht wird, dass er etwas meint, was sich von anderem unterscheidet.29 Und Design unterscheidet sich als ästhetische Praxis unter anderem und vor allem von der Kunst. Der Grundgedanke, den ich in diesem zweiten Teil des Beitrags entwickeln möchte, lautet: Designgegenstände haben keinen Eigensinn, sondern bestimmen den Sinn unserer Praxis im Medium der Gestaltung jeweils neu und weiter. Wer sie als eigensinnige Gegenstände behandelt und z.B. die Objekte des Industriedesigns wie Skulpturen und die Plakate des Graphikdesigns wie Gemälde anstarrt, macht hier etwas falsch. Stefan Sagmeister hat behauptet: »You can have an art experience in front of a Rembrandt… or in front of a piece of graphic design.«30 Ich möchte ihm hier dezidiert widersprechen. Denn eine solche These beruht auf dem problematischen Gedanken, dass es eine einheitlich Art des ästhetischen Erfahrens und letztlich wohl des Wahrnehmens gibt, die bloß sekundär noch Unterschiede kennt. Zudem verpflichtet sie
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26 Michael Erlhoff: Theorie des Designs, München 2013, S. 17. 27 Friedrich von Borries:
Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie , Berlin 2016, S. 39ff. 28 Vgl. Lucius Burckhardt: »Design ist unsichtbar«, in: Gestaltung Denken. Grundlagentexte zu Design
und Architektur, hrsg. v. Klaus T. Edelmann u. Gerrit Terstiege Basel 2010, S. 211 – 217. 29 Vgl. weitergehend in diesem Sinne Feige: Design, a.a.O., Kapitel 1. 30 Debbie Millman: How to Think like a Great Graphic Designer, New York 2001, S. 53.
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sich auf einen heillosen Subjektivismus gemäß des Mottos: Die Dinge schauen mich so an, wie ich sie anschaue. Auch wenn Kunstwerke und Designgegenstände ästhetische Gegenstände sind, sind sie eben nicht ästhetische Gegenstände in demselben Sinne. Der klassische Funktionalismus, mit dem ich diese Überlegungen begonnen habe, ist dabei einer wichtigen Einsicht verpflichtet: Designgegenstände als Designgegenstände sind zu etwas da, sie dienen bestimmten Zwecken. Stühle sind zum Sitzen da, Automobile zur Fortbewegung wie oftmals als Statussymbol, Plakate zur Verbreitung von Informationen für eine anonyme und doch zumeist bestimmte Rezipientenschaft, typographische Entscheidungen zur Gestaltung von Schrift, Eingabegeräte von Computern zum Interagieren mit Maschinen, Stoffe als Material für Haute Couture oder Funktionskleidung. Dass uns manchmal das angemessene Wissen fehlt zu entscheiden, ob es sich bei einem Gegenstand um Kunst oder Design handelt und dass Gegenstände durchaus ihren kategorialen Status geschichtlich ändern können und sogar im Museum Bewohner beider Welten sein können, spricht noch nicht dagegen, dass ein kategorialer Unterschied zwischen Kunst und Design besteht. Die These der kategorialen Unterschiedenheit von Kunst und Design trifft wohl gemerkt nicht unbedingt auf der Ebene des Prozesses des Erwerbs der Fähigkeit zum Gestalten zu. Dieser mag in seinem oft spielerischen, improvisatorischen, offenen wie zugleich forschenden Charakter durchaus mit Prozessen der Erarbeitung von Kunstwerken verwandt sein. Aber die Ausübung der Fähigkeit zu Gestalten und nicht so sehr ihr Erwerb im Sinne eines immer auch praktischen Wissens gehört in ein anderes Register ästhetischer Praktiken als die Ausübung der Fähigkeit des Erarbeitens von Kunstwerken. Hat der klassische Funktionalismus recht in der These, dass Designgegenstände praktischen Zwecken dienen, täuscht er sich darin, wie er diese Zwecke ausgehend von der Formbestimmtheit der Gegenstände, die sie erfüllen, denkt. Die vielzitierte Formel des Funktionalismus hat Louis Sullivan in seinem Aufsatz zur Ästhetik des Bürogebäudes 1896 geprägt, dass nämlich die Form aus der Funktion folgen solle. Sullivan schreibt: »It is the pervading law of all things organic and inorganic, of all things physical and
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31 Louis Sullivan: »The Tall Office Building Artistically Considered«, in: Lippincotts Magazine 3 (1896), S. 403 – 409, hier: S. 407f. 32 Vgl. Dorschel: Gestaltung – Zur Ästhetik des
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metaphysical, of all things human and all things superhuman, of all true manifestations of the head, of the heart, and of the soul, that the life is recognizable in its expression, that form ever follows function. This is the law. Shall we, then, daily violate this law in our art?«31 Er täuscht sich aber natürlich darin zu behaupten, dass es sich bei der These, dass die Form aus der Funktion folgen solle, um ein Gesetz handelt. Worum es sich bei seiner These in Wahrheit handelt, ist eine präskriptive ästhetische Agenda, die nicht beschreibt, was der Fall ist, sondern was der Fall sein sollte; sie vermischt deskriptive mit normativen Aussagen in problematischer Weise. Mehr noch: Obwohl die Begriffe Funktion und Form relevant sind für eine Bestimmung dessen, was Design ist, ist sein Gedanke schlichtweg unverständlich, dass letztere aus ersterer folgen solle. Wie Andreas Dorschel treffend festgehalten hat,32 schließt Sullivan Quantitatives und Qualitatives kurz: Form ist nicht die Verlängerung von Funktion, sondern vielmehr eine Interpretation von Funktion – ich würde alternativ sagen: eine je spezifische Erarbeitung von Funktion. Die Form ist also nicht selbst schon in der Funktion angelegt. Mit dem klassischen Funktionalismus sollte man durchaus sagen, dass Designgegenstände wesentlich funktionale Gegenstände im Sinne der Zwecke sind, zu denen sie da sind. Aber anders als der klassische Funktionalismus muss man darauf pochen, dass die Gestaltung solcher Gegenstände eben nicht gewissermaßen mechanisch aus den funktionalen Anforderungen abgeleitet werden kann. Um nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich ist es gerade nicht so, dass ein gelungener Designgegenstand Funktion plus Form ist. An der wirkmächtigen Kritik des Ornaments von Adolf Loos ist zumindest überzeugend,33 dass ein Designgegenstand tendenziell misslungen ist, wenn er ästhetische Aspekte aufweist, die eine bloß äußerliche Zutat darstellen. Es ist aber falsch zu glauben, dass die Ästhetik des Designs derart zu erläutern wäre, dass sie solch der Funktion äußerliche Zutaten meinen würde. Demgegenüber sollte der Zusammenhang von Form und Funktion wie folgt bestimmt werden: Design ist die Neuerfindung der Funktion im Medium von Prozessen der Formgebung.34 Design ist der Name einer Praxis, der eine ästhetische Neuerfindung der Funktion in und durch
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Brauchbaren, a.a.O, §15. 33 Vgl. Adolf Loos: »Ornament und Verbrechen«, in: Grundlagentexte zum Design. Band 1, hrsg. v. Volker Fischer u. Anne Hamilton, Frankfurt a.
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Formgebungen meint. Ist die Form in der Kunst eine eigenlogisch konstituierte Form derart, dass die Elemente eines Kunstwerks sich wechselseitig konstituieren, so sind Designgegenstände Formungen von Funktionen bzw. funktional zu beschreibende Formen. Ästhetisch sind Designgegenstände nicht ausschließlich oder an erster Stelle darin, dass sie uns visuell, akustisch oder haptisch affizieren, noch Gegenstand einer primär kontemplativen Wahrnehmung sind. Im Anschluss an eine Überlegung Lambert Wiesings könnte man vielmehr sagen:35 Die Ästhetik des Designs ist weder eine Ästhetik der Kontemplation, noch eine Ästhetik des Besitzens, sondern vielmehr eine Ästhetik des Gebrauchens. Ästhetisch sind Designgegenstände also darin, dass sie nicht Ausdruck einer vorgängig gegebenen »mechanischen« Regel, eines Algorithmus sind. Stühle von Frank Gehry ebenso wie Plakate von David Carson oder Stoffe von Leo Wollner, klassische wie interaktive multimediale Typographien, sogenannte intelligente Kleidung, Interfaces, Gegenstände des Corporate Designs – entsprechende Gegenstände erfinden jeweils die Funktionen im Rahmen von Prozessen der Formgebung neu bzw. bestimmen das, was ihr Sinn vormals war, neu und weiter, wenn sie ästhetisch tatsächlich überzeugend sind. Um wiederum nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich ist der Herstellungsprozess etwa eines industriell gefertigten Stuhls mechanischer Art; wenn hier etwas schief geht, liegen keine ästhetischen Fehler vor, sondern technische Probleme.36 Und natürlich ist das Drucken eines Plakatentwurfs üblicherweise eine technische und keine ästhetische Frage. Aber die Gestaltung eines solchen Stuhls oder Plakats selbst kommt natürlich nicht mechanisch zustande. Das Ergebnis von Prozessen des Gestaltens ist deshalb nicht selbst ein raumzeitlicher Gegenstand, wenn auch in den meisten Fällen eine Blaupause zur Erstellung raumzeitlicher Gegenstände erstellt wird. Wenn ich bestreite, dass Gestaltung mechanisch ist, so bestreite ich nicht, dass die tatsächliche Produktion von Designgegenständen selbst natürlich durchaus mechanisch sein kann. 05
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M. 1999, S. 114 – 120. 34 Vor allem in dem Gedanken, dass jeder gelungene Designgegenstand eine Neuerfindung der Funktion meint, unterscheiden sich meine Überlegungen von Glenn Parsons jüngst vorgelegter Verteidigung einer modernistisch ausgerichteten Designtheorie. Vgl. Glenn Parsons: The Philosophy of Design, Cambridge 2016, v.a. Kapitel 6. 35 Vgl. Lambert Wiesing: Luxus, Berlin 2015. 36 Ich appropriiere hier ein Argument aus der Philosophie des Films. Vgl. Noël Carroll: »Auf dem Weg zu einer Ontologie des
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Die bislang entwickelten Gedanken behandeln Designgegenstände derart als ästhetische Gegenstände, dass sie nicht austauschbar sind hinsichtlich der Rolle, die sie in unserer Praxis spielen. Anders gesagt: Wer sie so behandelt, behandelt sie eben nicht unter ästhetischer Perspektive und gar nicht als Designgegenstände. Man hat die Ebene des Designs noch gar nicht erreicht, wenn man bloß festhält, dass Stühle zum Sitzen und Plakate zum Vermitteln von Informationen in öffentlichen Räumen da sind. Denn solch abstrakte Bestimmungen ihrer Funktionen überspringen just die Ebene der Gestaltung. Wer über Stühle, Bekleidungen und Plakate als Gegenstände des Designs spricht, muss auch über eine Geschichte des Sitzens, Kleidens und Betrachtens sprechen; nur ausgehend von einer solchen Perspektive wird die spezifische Leistung von Designgegenständen verständlich. Anders gesagt: Die Ebene des Designs wird überhaupt erst dort in den Blick genommen, wo solche Gegenstände eben nicht als austauschbare und letztlich identische Gegenstände adressiert werden. Erst wenn man das nicht tut, hat man überhaupt das Reich einer Ästhetik des Designs betreten. Als spezifisch geformte Funktionen müssen Designgegenstände als ästhetische Formung unserer Praxis verstanden werden und damit als ästhetisch-praktische Welterschließung. Im Medium der Formgebung erarbeitete Funktionen geben unserer Welt selbst wiederum eine bestimmte Form. Diesen Gedanken möchte ich abschließend derart genauer erläutern, dass ich ihn in den Kontext einer hermeneutischen Theorie der Welt stelle. Es ist eine grundsätzliche Einsicht der Tradition der philosophischen Hermeneutik, die mit den Positionen Heideggers, Gadamers und auch John McDowells verbunden ist,37 dass wir einen verarmten wie einseitigen Begriff der Welt vertreten, wenn wir Welt auf das reduzieren, was unter der Perspektive einer naturwissenschaftlichen Beschreibung der Fall ist. Die drei genannten Autoren verbindet vielmehr die Einsicht, dass es mehr und anderes in der Welt gibt als das, was die Naturwissenschaften zu beschreiben in der Lage sind. Die Zwecke, zu denen Designgegenstände in Praktiken da sind, gibt es offensichtlich nur ausgehend von einer menschlichen Perspektive auf die Welt. Aber die Lektion der drei genannten Autoren lautet, dass sie nicht schon deshalb im Rahmen einer antirealistischen Agenda 05
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bewegten Bildes«, in: Philosophie des Films: Grundlagentexte , hrsg. v. Dimitri Liebsch, Paderborn 2005, S. 155 – 176. 37 Vgl. v.a. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen
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auszubuchstabieren sind: Entsprechende Praktiken sind erschließend und nicht projizierend; sie geben der Welt ein spezifisch menschliches Gesicht, insofern sie sie im Rahmen von praktischen Zwecken erschließen; im Rahmen unserer Praktiken sind wir in Kontakt mit der Welt und nicht mit einem Schattenreich der Dinge. Ein guter Ausgangspunkt, diesen Gedanken für eine Philosophie des Designs zu konkretisieren, scheint mir in Martin Heidegger bekannter Zeuganalyse zu liegen.38 Die Gegenstände, mit denen wir täglich hantierend umgehen, sind in weiten Teilen Artefakte. Die meisten dieser Artefakte sind heute dem Design und nicht etwa länger dem Handwerk zuzuschlagen.39 Solche Gegenstände sind nicht etwas Vorhandenes, auf das wir als Subjekte treffen und es dann noch mental wiederspiegeln würden. Es handelt sich vielmehr um Gegenstände, in die ihre Gebrauchsweisen gewissermaßen eingeschrieben sind. Das geht mit einer anderen Art der Aufmerksamkeit einher als derjenigen, die für einen epistemischen Weltbezug im Sinne des Wiederspiegelns der Welt in einem subjektiv gedeuteten Geist charakteristisch wäre. Heideggers Lieblingsbeispiel ist der Hammer:40 Einen Hammer als Hammer zu verstehen heißt, mit ihm praktisch-hantierend umzugehen und keineswegs ihn bloß anzugaffen oder im Labor auf der Ebene seiner molekularen Beschaffenheit zu analysieren; beides erhellt nicht den Hammer, sondern führt von ihm weg. Der Hammer wird dort »erkannt« bzw. verstanden, wo er gebraucht wird; es handelt sich hier um ein praktisches Verstehen im Sinne eines Könnens. Und der Hammer ist dabei immer schon eingelassen in einen holistischen Zusammenhang mit anderen Gegenständen des praktischen Gebrauchs – Nägel, Wände usf.; sie bilden, wie Heidegger sagt, ein »Zeugganzes«.41 Jedes Zeug ist dadurch das Zeug, das es ist, dass es anderes Zeug gibt, auf das es praktisch bezogen ist; es ist niemals ein Atom dieser Ganzheit, sondern etwas, das intern in seinem Sinne bereits auf andere Elemente der Ganzheit bezogen ist.
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2001. Gadamer: Wahrheit und Methode, a.a.O. John McDowell: Mind and World, Cambridge MA / London 1996. 38 Mir ist klar, dass der Rückgriff auf Heidegger in der Philosophie des 35
Designs keineswegs originell ist. Vgl. jüngst etwa Hyun Kang Kim: »Vom Dasein zum Design. Heideggers Zuhandenheit und Mitsein als philosophische Grundlagen des Social Design«, in: Design & Philosophie. Schnittstellen und Wahlverwandtschaften, hrsg. V. Julia-Constance Dissel, Bielefeld 2016, S. 59 – 74. 39 Auch wenn ich ihre Rekonstruktion in Teilen für polemisch halte, scheint mir Melanie Kurz zu Recht auf eine strikte Unterscheidung zwischen beiden zu pochen. Vgl. Melanie Kurz: Handwerk oder Design. Zur
Ästhetik des Handgemachten , Paderborn 2015. 40 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit ,
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Heidegger interessiert sich natürlich nicht für Design und mehr noch: Wahrscheinlich würde er es verschwistert mit der Technik sehen und entsprechend meine Appropriation seiner Überlegungen zurückweisen. Dennoch trifft seine Analyse ein Moment dessen, was es heißt, dass Designgegenstände zu bestimmten Zwecken dienen. Die partielle Unsichtbarkeit von Zeug, die Heidegger behauptet – genauer sagt Heidegger, dass Zeug als Zeug nur dort thematisch wird, wo entsprechende praktische Zusammenhänge gestört sind, indem es etwa fehlt oder kaputt ist oder nicht passend ist –, findet sich auch in designtheoretischen Diskussionen artikuliert; ich habe vorhin in dieser Frage schon Lucius Burckhardt erwähnt. Natürlich gilt Heideggers Analyse für unser Weltverhältnis insgesamt. Aber meines Erachtens bietet sie eine produktive Hintergrundfolie, vor der sich Design verständlich machen lässt, wenn man sie dahingehend von Heidegger abweichend erläutert, dass in die Bestimmung dessen, wozu die Gegenstände jeweils da sind, ihre Formbezogenheit eingeht; wenn man sie kurz gesagt um die Einsichten einer Ästhetik des Designs derart erweitert, dass man Design nicht als Funktion plus Form versteht. Und wenn man unter Ästhetik eben nicht, wie Teile der Tradition sie verstanden haben, das Aufmerken auf Aspekte, die sich primär der sinnlichen Wahrnehmung darbieten würden, versteht.42 Treten wir uns im Lichte der eigensinnigen Formen von Kunstwerken selbst gegenüber und werden dadurch andere, als wir waren, so sind Formaspekte eines Designgegenstandes auf dessen Funktion bezogen und der Gebrauch eines solchen Gegenstandes erschließt die Welt jeweils in bestimmter Weise. Kurz gesagt: Design gestaltet Praxis, wohingegen Kunst eine Praxis der Thematisierung von Praxis ist. Design ist in seinen Formen welterschließend, Kunst reflektiert im Medium eigensinniger Formen, dass wir welterschließende Wesen sind. Ästhetisch sind Kunst und Design darin, dass sie niemals Ausdruck einer mechanischen Regel sind: Sich auf Kunstwerke als Kunstwerke zu beziehen und sich auf Designgegenstände als Designgegenstände zu beziehen heißt, sie niemals als Ausdruck einer gegenstandsübergreifenden Regel, eines kausalen Gesetzes, als bloßen Fall eines Allgemeinen zu behandeln, sondern sie vielmehr 05
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a.a.O., etwa §18. 41 Ebd., §15. 42 Hier berühren sich meine Überlegungen mit denen von Jakob Steinbrenner. Vgl. Jakob Steinbrenner: »Wann ist Design? Design zwischen Funktion und Kunst«, in: Design & Philosophie. Schnittstellen und Wahlverwandtschaften ,
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als jeweils neue wie irreduzible Bestimmungen von Regel, Gesetz, Fall und Allgemeinem zu begreifen. Mit Hegel gesprochen: Sie sind als konkrete Allgemeinheit zu begreifen. Sind Kunst und Design kategorial unterschieden, so sind sie gleichwohl darin geeint, dass sie ausgehend von dieser kategorialen Differenz jeweils eigenständige ästhetische Formen sind. Ich hatte am Schluss der Einleitung freilich darauf verwiesen, dass es sich bei allem, was ich hier entwickele, nicht um ein definitorisches Projekt handelt. Wenn Designgegenstände und Kunstwerke jeweils nichts anderes sind als die Reihe der bisherigen Designgegenstände und Kunstwerke und ihre Offenheit im Lichte zukünftiger Designgegenstände und Kunstwerke, so ist auch der Unterschied zwischen ihnen nicht positiv zu definieren. Auch wenn es sich in einem Fall um Gegenstände handelt, deren Pointe in einer ästhetisch-praktischen Welterschließung besteht, wohingegen es sich im anderen Fall um Gegenstände handelt, deren Pointe in einer Reflexion unserer selbst etwa als welterschließender Wesen besteht, so lässt sich von dieser Bestimmung aus die Gesamtheit der Gegenstände natürlich nicht sauber in die eine oder andere Klasse einsortieren. Ich habe hier mit anderen Worten keinen epistemischen »Test« für die kategoriale Zugehörigkeit von Gegenständen formuliert. Die Differenz zwischen Design und Kunst ist, obzwar kategorial, inhaltlich in Bewegung und niemals stillzustellen.43 Ins Verhältnis setzen sich Kunstwerke und Designgegenstände in ihrer Differenz freilich vor allem dann, wenn Kunstwerke ihren Status als Kunstwerke im Kontrast zum Design selbst reflektieren, wie in dem Fall, in dem Designgegenstände Verfahrensweisen der Kunst inkorporieren. Aber noch einmal im Geiste Hegels gesprochen: Eine Grenze überschreiten heißt sie zugleich anzuerkennen und damit erneut zu setzen.
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hrsg. v. Julia-Constance Dissel, Bielefeld 2016, S. 89 – 105. 43 Vgl. dazu ausführlicher Feige: Design, a.a.O., Kapitel 4.1.
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Eine Funktion ist ein kausaler Zusammenhang von bereits Wahrnehmbarem, der zuvor bloß möglich war.
Dr. phil. Johannes Lang studierte Kunstgeschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin, der University of Leicester und der Universität Potsdam. Von 2011 bis 2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem Sonderforschungsbereich 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste«, wo er ein Forschungsprojekt zur Ästhetik des ökologischen Produktdesigns bearbeitete, dessen Ergebnisse in dem Buch Prozessästhetik – Eine ästhetische Erfahrungstheorie des ökologischen Designs im Birkhäuser Verlag erschienen sind. Von 2014 bis 2017 lehrte er schwerpunktmäßig Designtheorie an der Bauhaus-Universität Weimar und promovierte 2019 mit der Arbeit Gestaltete Wirklichkeit – Eine Theorie der Gestaltung, die epistemische, technische, mediale und ästhetische Grundfragen des Gestaltens in eine einheitliche Theorie integriert. Gegenwärtig lehrt er zu unterschiedlichen gestaltungstheoretischen Fragen an der Bauhaus-Universität Weimar und arbeitet an einer Habilitation zur sozialen Gestaltung im Spannungsfeld von Design und Kunst.
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In der Theoriebildung des Design und insbesondere im engeren Feld des Produktdesign spielt und spielte der Funktionsbegriff eine entscheidende Rolle. Statt jedoch als Begriff reflektiert worden zu sein, ist der Funktionsbegriff meist als selbstverständlich vorausgesetzt worden und man hat sich im Wesentlichen auf die Thematisierung des Verhältnisses von Funktionen zu anderen Fragen der Gestaltung, insbesondere der Ästhetik, beschränkt. Besonders bekannt wurde diese Art der Thematisierung unter dem Slogan »form follows function«, der für die unterschiedlichsten Auffassungen dessen instrumentalisiert wurde, wie funktionelle Fragen mit ästhetischen Fragen zusammenhängen.1 Was jedoch Funktionen sind, ist in diesen Auseinandersetzungen kaum thematisiert worden. So ist bemerkenswert, dass der Funktionsbegriff seit seiner Einwanderung in Gestaltungsdiskurse in der Mitte des 19. Jahrhunderts – anfänglich durch Semper2 – nach und nach den Zweckbegriff verdrängt und nahezu ersetzt hat.3 Besonders auffällig wird dies daran, dass wir die Frage nach der Funktion oder nach dem Zweck eines Gebrauchsgegenstandes heute für mehr oder weniger synonym halten.4 So etwa Peter McLaughlin in seinem Aufsatz über Funktionen: »Ein Schraubendreher ist ein Mittel zum Schraubendrehen; dies ist sein Zweck bzw. seine Funktion.«5 Oder
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1 Vgl. beispielsweise die unterschiedlichen Auffassungen in dem Reader: Volker Fischer/Anne Hamilton (Hg.): Theorien der Gestaltung, Grundlagentexte zum Design. Band 1, Frankfurt a. M. 1999. 2 Vgl. etwa: »Der Stil, soweit er von dem Zwecke einer Sache abhängig ist, kann freilich in Gesetzen leichter formuliert werden, als sich die Theorie der Formenlehre in demjenigen Theile, wo die Form als Funktion der technischen Mittel die in Frage kommen, betrachtet werden muss, feststellen lässt.« Gottfried Semper: Der Stil
in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Bd. 1, Frankfurt
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a. M. 1860, S. 191. 3 Vgl. zur Geschichte der zunehmenden Identifikation von Zwecken mit Funktionen: Ute Poerschke: Funktionen und Formen, Architekturtheorie der Moderne, Bielefeld 2014, S. 121 ff. und Heinz Hirdina: »Funktionalismus«, in: Ästhetische
Grundbegriffe. Bd. 2 , hrsg. Von Karlheinz Barck u.a., Stuttgar t/ Weimar 2001, S. 588 – 608, hier S. 598 f. 4 Darauf macht Robert King Merten schon 1949 aufmerksam, indem er die latente Gleichsetzung von Funktionen mit »Gebrauch, Nützlichkeit, Zweck, Motiv, Intention, Ziel, Konsequenzen« kritisiert. Ganz im Sinne meiner Ausführungen nennt er Zwecke eine »subjektive Kategorie« und Funktionen eine »objektive Kategorie«: Robert King Merton: »Manifest and Latent Functions« (1949), in: ders.:
On Theoretical Sociology, Five Essays, Old and New , New York 1967, S. 73 – 138, hier S. 79. Vgl. zu Mertens Kritik auch: Ute Poerschke, Funktionen und Formen. Architektur-
theorie der Moderne, Bielefeld 2014, S. 67. 5 Peter McLaughlin: »Funktion«, in: Philosophie der Biologie, Eine Einführung, hrsg. Von Ulrich Krohs/Georg Toepfer, Frankfurt a.
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bereits Gropius in seinem berühmten Satz: »[Ein Ding] soll seinem Zweck vollendet dienen, d.h. seine Funktion praktisch erfüllen, haltbar, billig und ›schön‹ sein«.6 Andreas Dorschel weist zu Recht darauf hin, dass »Funktion« in dieser inflationären Verwendung Unterschiedliches bedeuten kann. Er schreibt: »Der Begriff der Funktion enthält eine grundlegende Zweideutigkeit. Zum einen bedeutet Funktion soviel wie Aufgabe. Die Aufgabe eines Gegenstandes ist aber sein Zweck, das heißt diejenigen Bedürfnisse der Menschen, die diese zu Zielen ihres Handelns erhoben haben, und deren Erfüllung sie nun vom Gebrauch des Gegenstandes erwarten. Zum anderen aber bezeichnet Funktion die Art und Weise, in der eine Sache, wie man sagt, ›funktioniert‹, also ihr technisches Prinzip.«7 Wir haben es demnach mit zwei unterschiedlichen Phänomenen zu tun, auf der einen Seite den Absichten, die wir im Gebrauch von Gegenständen verfolgen, also den Zwecken unseres Handelns und auf der anderen Seite dem Funktionieren dieses Gegenstandes, wie beispielsweise seine ganz konkreten Mechanismen, die eine wesentliche Bedingung dafür sind, dass er in einer bestimmten Weise zu gebrauchen ist. Dadurch, dass nun beide Phänomene einheitlich als »Funktion« bezeichnet werden, entstehen zwei Probleme. Je nachdem, mit welcher Vorstellung das Wort assoziiert wird, behandelt man entweder Phänomene, die eigentlich Zwecke sind, so als seien sie Funktionen oder Phänomene, die eigentlich Funktionen sind so, als seien sie bloß Zwecke. Im ersten Fall werden die Gebrauchsabsichten, also die im Gebrauch verfolgten Zwecke, gleichgesetzt mit dem Funktionsprinzip, das auf der Gegenstandsseite bereits realisiert ist, wodurch das Gebrauchen mit der kausalen Determiniertheit technischen Funktionierens identifiziert wird. Das Gebrauchen scheint dann gänzlich in derselben Weise zu funktionieren, wie auch technische Abläufe funktionieren. 8 Im zweiten Fall wird stattdessen umgekehrt der kausalen Determiniertheit funktioneller Abläufe nicht Rechnung getragen, wodurch diese als bloße Mittel 05
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M. 2005, S. 19 – 35, hier S. 19. 6 Walter Gropius: »Grundsätze der Bauhausproduktion«, 35
in: Neue Arbeiten der Bauhauswerkstätten, hrsg. von Walter Gropius, München 1925, S. 5 – 8, hier S. 5. 7 Andreas Dorschel: Gestaltung, Zur Ästhetik des Brauchbaren , Heidelberg Universitätsverlag Winter 2002, S. 38. Allerdings verwendet auch er den Funktionsbegriff für Phänomene, die eigentlich Zwecke sind. Vgl. hierzu auch: Johannes Lang: Prozessästhetik, Eine ästhetische Erfahrungstheorie des ökologischen Designs, Basel 2015, S. 69 f. 8 Entgegen der Ansicht von Dorschel funk tionieren auch Gebrauchsvorgänge und können sogar kausal determ iniert sein, letzteres jedoch nur
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erscheinen, die sich bedingungslos unseren Zwecken fügen. Der gegenwärtig in den Kulturwissenschaften verbreitete Eindruck, man müsse den Begriff der Funktion substituieren durch Begriffe wie »Aktionsprogramm«9, »Skript«10, »Akteur-Netzwerk«11 oder auch »Mediation«12, um dem Wirkungsgefüge von Artefakten und Praktiken Rechnung zu tragen, hängt unmittelbar mit der ungenügenden Abgrenzung des Funktionsbegriffs vom Zweckbegriff zusammen. Denn hierdurch werden Funktionen tendenziell so aufgefasst, als seien sie bloß Zwecke, die für ein Begreifen technischer Zusammenhänge im Gegensatz zu Funktionen tatsächlich nicht ausreichend sind. Im Folgenden werde ich nun versuchen, eine möglichst trennscharfe Unterscheidung zwischen Funktionen und Zwecken zu vollziehen und zugleich zeigen, dass beide Phänomene, obwohl sie unterscheidbar sind, in einer bestimmten Weise zusammenhängen. Zunächst werde ich anhand einer kritischen Auseinandersetzung mit Martin Heidegger die Frage behandeln, was Funktionen sind, um anschließend anhand einer ebenfalls kritischen Auseinandersetzung mit Umberto Eco die Frage zu behandeln, was Zwecke sind. In einem dritten Schritt werde ich anhand von Beispielen zeigen, wie Funktionen und Zwecke zusammenhängen und wie durch diese Unterscheidung sich bestimmte Probleme im Diskurs über Funktionen auflösen. Warum bezeichne ich diese Auseinandersetzung als kritisch? Dies deshalb, da schon bei Heidegger und bei Umberto Eco eine Verwechslung bzw. Identifizierung von Funktionen mit Zwecken vorliegt, jedoch in diametral entgegengesetzter Weise. Während Heidegger Funktionen für Zwecke hält bzw. Zwecke auf Funktionen reduziert, hält Umberto Eco Zwecke für Funktionen bzw. reduziert Funktionen auf Zwecke. Beide wollen gewissermaßen aus der Dialektik zweier unterscheidbarer Phänomene ein einziges Phänomen machen, indem sie jeweils das eine auf das andere reduzieren. 05
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dann, wenn das Gebrauchen ohne Absicht ges chieht, also nicht zweckgeleitet ist und gewissermaßen als reiner Reiz-Reaktions-Prozess abläuft. Diese Verhaltens- und Gebrauchsgewohnheiten können strukturell in derselben Weise erläutert werden, wie hier an späterer Stelle Funktionen erläutert werden. Ihre Thematisierung würde jedoch den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 9 Vgl. Bruno Latour: »Der Berliner Schlüssel«, in: ders.: Der Ber-
liner Schlüssel, Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften , Berlin 1996, S. 37 – 52. 10 Vgl. Madeleine Akrich: »The De-Scription of Technical Objects«, in:
Shaping Technology/Building Society, Studies in Sociotechnical Change, hrsg. Von Wiebe E. Bijker/ John Law, Cambridge MA 1992, S. 205 – 224. 11 Vgl. Bruno Latour: Eine
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Diese kritische Auseinandersetzung wird anhand einer erkenntnistheoretischen Methode erfolgen. Als erkenntnistheoretische Methode bezeichne ich einen Verstehensversuch zweiter Ordnung, nämlich eine Reflexion auf die Bewusstseinsbedingungen, die vorliegen, wenn wir das Urteil fällen, irgendetwas sei dies oder jenes. Erkenntnistheoretisch betrachtet ist die Welt gewissermaßen ein Zweikomponentendesign. Sie besteht einerseits aus dem, was wir wahrnehmen oder wahrgenommen haben und andererseits aus dem, wie wir über das Wahrgenommene – selbstverständlich auch angeleitet durch die Gedanken anderer – nachdenken. Eine erkenntnistheoretische Erörterung von Funktionen und Zwecken hat demnach das Verhältnis zu bestimmen, wie Wahrgenommenes und Gedachtes in dem einen wie dem anderen Fall zusammenhängen. Obwohl dieser erkenntnistheoretische Ansatz hier nicht im einzelnen behandelt werden kann, so wird sich doch hoffentlich im Folgenden zeigen, dass er zu einigen Klärungen beiträgt.
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Funktionen als wahrnehmbare Zusammenhänge Wenn wir verstehen wollen, was Funktionen sind, so müssen wir uns fragen, auf welche Weise wir zu dem Urteil gelangen, dass irgendetwas Wahrgenommenes – wie beispielsweise ein Stuhl, ein Zahnrad oder ein beobachtbares Verhalten – diese oder jene Funktion hat. Obwohl Heidegger weder den Begriff des Zwecks noch den Begriff der Funktion verwendet, sondern stattdessen lieber seine eigenen metaphysisch aufgeladenen metaphorischen Wortschöpfungen wie »Zuhandenheit«, hat er doch relativ früh Beobachtungen gemacht, die für das Verständnis von Funktionen wesentlich sind. So stellt er beispielsweise fest, dass die zusammenhangslose Wahrnehmung eines einzelnen Dinges nicht ausreicht, um dessen funktionalen Sinn zu verstehen. In seiner Terminologie wäre das die Auffassung des Wahrgenommenen als bloßes Ding.13 Er schreibt treffend: »Das schärfste Nur-noch-hinsehen auf das so und so beschaffene ›Aussehen‹ von Dingen vermag Zuhandenes nicht zu entdecken«.14 Wenn wir also durch die bloße Dingwahrnehmung deren Funktion nicht verstehen, stellt sich die Frage, wodurch wir diese stattdessen verstehen. Nach Heidegger ist dies der Fall, wenn 20
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Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2010. 12 Vgl. Peter-Paul Verbeek: What Things Do, Philosophical Reflections on Technology, Agency, and Design, Pennsylvania 2005. 13 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1972, S. 67 f. 14 Ebd.,
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wir sie nicht als Dinge, sondern als »Zeug« auffassen, was so viel bedeutet, dass wir sie als Teil eines Verweisungszusammenhangs verstehen, den er »Zeugganzheit« 15 nennt: »Zeug ist seiner Zeughaftigkeit entsprechend immer aus der Zugehörigkeit zu anderem Zeug: Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch, Lampe, Möbel, Fenster, Türen, Zimmer.«16 Wir verstehen also die Funktion eines Dinges, wenn wir verstehen, auf welche anderen Dinge es verweist. Aber woher wissen wir, auf welche anderen Dinge irgendein wahrnehmbares Ding verweist? Woher wissen wir, dass die Feder auf das Papier, aber nicht auf die Tür verweist, da doch wie bereits festgestellt die Wahrnehmung der Feder selbst davon nichts verrät? Heideggers Antwort ist eindeutig, wir wissen es, weil wir es für diese anderen Dinge verwenden: »Das Hämmern hat nicht lediglich noch ein Wissen um den Zeugcharakter des Hammers, sondern es hat sich dieses Zeug so zugeeignet, wie es angemessener nicht möglich ist. In solchem gebrauchenden Umgang unterstellt sich das Besorgen dem für das jeweilige Zeug konstitutiven Um-zu; je weniger das Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es gebraucht wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm, um so unverhüllter begegnet es als das, was es ist, als Zeug.«17 Sehen wir mal davon ab, was es heißen soll, dass etwas »unverhüllt begegnet« und dann auch noch »als das, was es ist«, so lautet die These Heideggers: Wir verstehen, was die Funktion eines Dinges ist, wenn wir dieses für anderes Wahrnehmbares verwenden. Hieraus folgt, dass das Verwenden eines Dinges eine notwendige Bedingung für das Verständnis seiner Funktion ist: ohne Gebrauchen kein Funktionsverstehen. Wie wir diese logische Konsequenz interpretieren, hängt ganz davon ab, ob sich das Verwenden auf dasselbe Subjekt bezieht, das auch versteht, oder ob das Verwenden sich auf ein beliebiges Subjekt bezieht, das nicht mit dem verstehenden Subjekt identisch sein muss. Im ersten Fall lautet die These: Ein Subjekt versteht die Funktion eines Dinges erst, wenn es dieses verwendet. Im zweiten Fall lautet die These: Ein Subjekt versteht die Funktion eines Dinges erst, wenn es wahrgenommen hat, wie dieses verwendet wird. 05
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S. 69. 15 »Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft ›etwas, um zu…‹. Die verschiedenen Weisen des ›Um-zu‹ wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit.« Ebd., S. 68. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 69.
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Schauen wir uns zunächst die erste Variante der These an. Ist es so, dass die Verwendung eines Dinges, z.B. eines Hammers eine notwendige Bedingung für dessen Funktionsverständnis ist, nämlich davon, wofür dieses ist? Solange wir unter Verwenden etwas verstehen, was mit dem Subjekt desjenigen zusammenhängt, der versteht, also uns selbst, nämlich die mehr oder weniger erfolgreiche Beherrschung eines Gebrauchs, ist die These offensichtlich falsch. Wofür ein Hammer ist, also auf welche anderen Dinge die Hammerwahrnehmung verweist, kann ich ebenso verstehen, wenn ich noch nie einen Hammer in die Hand genommen habe. Ich kann ihn dann vielleicht noch nicht verwenden, aber ich kann ihn durchaus soweit verstehen, soweit auch die Erläuterung von Heidegger reicht, nämlich in seiner Zeugganzheit, in dem worauf er verweist. Dies ist nicht etwa eine Ausnahme, sondern geradezu die Regel. Wir verstehen, wofür ein Flugzeug ist, auch wenn wir noch nie eines verwendet, also geflogen haben, noch wenn wir jemals in einem Flugzeug gesessen haben. Ich kann verstehen, wofür eine Haarspange oder ein Rasierapparat ist, auch wenn ich weder das eine noch das andere jemals verwendet habe. Wir verstehen, wofür Bagger, Kräne, Regenrinnen, Staudämme, Schreibfedern, Kinderwägen, Funktionskleidung, Möbel usw. sind, auch wenn wir niemals diese verwendet haben. Wäre das Verwenden von etwas tatsächlich eine notwendige Bedingung, um zu verstehen, wofür es ist, so würden unsere Kaufprozesse von noch nicht Verwendetem stets in völliger Unkenntnis dessen geschehen, was wir da erwerben. Schon diese alltäglichen Vorgänge zeigen das genaue Gegenteil: 1. Wir verstehen die Funktionen von Dingen, auch ohne sie selbst verwendet zu haben und 2. Wir verwenden Dinge aufgrund eines bestimmten Verständnisses, was man mit ihnen tun könnte. Damit haben wir allerdings bloß die erste Variante der These widerlegt: Wir müssen den Gebrauch eines Dinges nicht erst beherrschen, um zu verstehen, wofür wir es verwenden könnten. Wie steht es allerdings um die zweite Variante der These, nämlich, dass wir die Funktion eines Dinges verstehen, wenn wir wahrgenommen haben, wie ein beliebiges Subjekt dieses verwendet? Wenn wir das Verwenden in dieser allgemeinen Weise auffassen, können wir dieses jedoch nicht mehr als Verwenden für etwas verstehen, sondern wir können dieses sachlich nur noch als die Beobachtung bestimmter wahrnehmbarer Folgen von Subjekten erläutern. Warum? Weil
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die Rede vom Verwenden für etwas unterstellt, dass die Folge dieses Verwendens nicht eine beliebige Folge ist, sondern eine beabsichtigte, dass nämlich das Ding in der Absicht, etwas Bestimmtes folgen zu lassen, verwendet wurde. Diese Absicht liegt jedoch für das bloß wahrnehmbare Verfolgen des Subjektverhaltens nicht vor. Ebenso wenig, wie wir bei dem wahrnehmbaren Geschehen von Naturvorgängen von einem »Verwenden« sprechen – die Sonne verwendet ihr Licht nicht für das Wachstum von Pflanzen, sondern das Wachstum ist eine Folge des Sonnenlichtes – ebenso wenig können wir dann bezogen auf die wahrnehmbaren Folgen des Verhaltens von Subjekten von einem »Verwenden« sprechen. Dasselbe gilt für Ausdrücke wie »Gebrauchen«, »Umgehen« oder »Handeln«. Alles, was an Absichten, Willens- und Ich-Empfindungen das Verwenden durch uns selbst begleitet, müssen wir dann vollständig ausklammern und können nur noch von einem Wahrnehmungsgeschehen sprechen, das wir als die Folge von Subjekten interpretieren, im Unterschied zu den wahrnehmbaren Folgen von Dingen, an denen Subjekte unbeteiligt sind. Die korrigierte These von Heidegger würde dann lauten: Ein Subjekt versteht die Funktion eines Dinges, wenn es die wahrnehmbaren Folgen des Zusammentreffens eines Subjektes mit diesem Ding beobachtet hat. Nach dieser Ansicht verstehen wir die Funktion der unterschiedlichsten Artefakte um uns herum, da wir stets wahrnehmen, was auf diese durch das wahrnehmbare Verhalten anderer Subjekte folgt. Ihre Funktion ist dann genau dies, dass eben dieses oder jenes folgt. Heidegger macht darauf aufmerksam, dass es für das Verständnis dessen, was Funktionen sind, notwendig ist, dass wir die bereits wahrnehmbaren Zusammenhänge dieser Funktion kennen lernen. Wir müssen beobachten, was die wahrnehmbare Folge einer Säule ist, um zu verstehen, was ihre Funktion ist. Die isolierte Säulenwahrnehmung gibt darüber gar keinen Aufschluss, wenn wir nicht beobachten, was diese tut, was durch diese geschieht, wie zum Beispiel das Tragen eines schweren Materials. Dasselbe gilt für Gebrauchsvorgänge, also das wahrnehmbare Subjektverhalten mittels Dingen. Wenn wir verstehen wollen, was die Funktion eines Hammers in einem konkreten Gebrauchsvorgang ist, müssen wir darauf achten, was dessen wahrnehmbare Folge ist. Die Funktion ist dann der Zusammenhang zwischen dem Hammer und seiner wahrnehmbaren Folge. Ist die Folge des Hammers das 05
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Beschweren von Briefen, so besteht die Funktion eben in diesem Zusammenhang, ist die Folge hingegen ein versenkter Nagel, so besteht die Funktion eben in diesem gänzlich anderen Zusammenhang. D.h. wir nehmen ständig war, dass auf Dinge anderes Wahrnehmbares folgt. Und wenn wir wissen, was auf diese folgt, so scheinen wir auch die Funktion dieser Dinge zu verstehen. Wie weit die so beobachteten Folgen für ein Verständnis der Funktionen schon ausreichen, lassen wir zunächst dahingestellt. Wir können jedoch festhalten, dass unser Verständnis der zunächst unverständlichen Funktionen der Dinge in dieser Weise beginnt, nämlich durch das Beobachten ihrer wahrnehmbaren Folgen. Ganz entgegen der Ansicht Heideggers ist für dieses Konstatieren der beobachtbaren Folgen zunächst keinerlei Verwendung durch uns selbst und auch nicht der Begriff der Verwendung, des Umgangs, des Gebrauchs, des Besorgens, der Praxis oder sonstiger metaphorischer Umschreibungen von Handlungen nötig. Heideggers Fehler besteht darin, die Frage, was etwas bewirken könnte mit der Frage, was etwas bewirkt oder bewirkt hat zu identifizieren. Er versucht die Zwecke der Dinge aus ihren beobachteten Folgen, also ihren Funktionen abzuleiten. Es macht jedoch einen Unterschied, ob wir die Folgen von Dingen beobachten und dann fragen, was wir da wahrnehmen oder ob wir in Anbetracht eines Dinges uns fragen, was auf dieses durch unser Verwenden folgen könnte. Im ersten Fall versuchen wir ein Verständnis dessen zu erlangen, was bereits wahrnehmbar geschieht, im zweiten Fall versuchen wir ein Verständnis dessen zu erlangen, was erst mittels unseres Subjektes wahrnehmbar geschehen könnte und noch nicht geschehen ist. Das eine Verständnis tritt auf, nachdem wir einen Vorgang wahrgenommen haben, das andere Verständnis bevor wir einen Vorgang wahrnehmbar machen. Die Frage, wofür etwas ist lässt sich deshalb auch nicht als das Resultat einer Verwendung erläutern, die bereits geschehen ist, da aus dem, wofür etwas verwendet wurde oder wird, nicht folgt, wofür es verwendet werden könnte. Die Verwendungsmöglichkeiten sind etwas grundsätzlich anderes, als ein beobachteter Verwendungsvorgang. Oder anders ausgedrückt: die Zwecke, die wir uns zu einem Ding vorstellen, sind etwas völlig anderes als die Funktion, die wir im Moment der Verwendung eines Dinges wahrnehmen. In dem einen Fall haben wir es mit noch nicht Wahrnehmbaren und in dem anderen Fall mit bereits Wahrgenommenen zu tun.
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Mit Heidegger können wir deshalb festhalten: Funktionen sind zunächst immer die Zusammenhänge der Dinge mit ihren konkreten bereits wahrnehmbaren Folgen. Zwecke als denkmögliche Zusammenhänge Aus dem bisher Dargestellten geht hervor, dass wir Zwecke niemals aus den bereits beobachteten wahrnehmbaren Folgen von irgendetwas – seien es nun die Folgen eines Subjekverhaltens oder eines Dinges – ableiten bzw. mit diesen identifizieren können. Dies können wir aus dem einfachen Grund nicht, weil das so Beobachtete bereits wahrnehmbar ist und das heißt, bereits der Fall ist. Zwecke sind ganz im Gegenteil das, was der Fall sein könnte und noch nicht wahrnehmbar ist. Zwecke, die wir uns vornehmen, sind nur solange Zwecke, als das, was wir da bezwecken noch nicht eingetreten ist. Sobald das Bezweckte eingetreten ist, ist es sinnlos, dieses Eingetretene zu bezwecken oder als Zweck zu bezeichnen, da es bereits der Fall ist, bereits wahrnehmbar vorliegt. Wäre dieses ehemals Bezweckte und nun Wahrnehmbare immer noch ein Zweck, so müssten wir konsequenterweise auf die Frage, was dieses oder jenes Artefakt sei stets antworten, dass es der Zweck von diesem oder jenem sei. Auf die Frage, was denn die so und so wahrgenommene Straße ist, müssten wir dann antworten: sie ist der Zweck einer bestimmten Asphaltiermaschine. Auf die Frage, was denn dieses Ding sei, das wir Regenrinne nennen, müssten wir dann antworten: sie ist der Zweck verschiedener Werkzeuge, wie dieser Bohrmaschine, diesem Schraubenschlüssel, dieser Leiter, verschiedener Arbeitshandschuhe, verschiedener Hände und Körper und verschiedener anderer Dinge. Ganz in derselben Weise müssten wir auf die Frage, was dieser oder jener Weinkorken sei antworten, dass er der Zweck der Korkrinde ist. Statt in dieser absurden Weise zu antworten, würden wir das fragliche Ding eben nicht mehr als Zweck von irgendetwas erläutern, sondern als Wirkung bestimmter in die Entstehung involvierter Dinge oder anderer Wahrnehmbarkeiten. Das ehemals Bezweckte ist bewirkt worden und hört damit auf, ein Zweck zu sein. In diesem Sinne ist auch die wahrgenommene Drehung der Räder eines Fahrzeuges nicht der Zweck des Motors, sondern dessen konkrete Wirkung. Die Drehung mag zwar zu einem bestimmten Zeitpunkt bezweckt worden sein, weil sie eben noch nicht wahrnehmbar bewirkt wird, 05
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sobald der Motor aber tatsächlich eine Drehung der Räder bewirkt, hat sich das Bezwecken und damit auch der Zweck erübrigt. Wenn wir hingegen auf die Frage, was dieses oder jenes Ding sei, antworten, dass es den Zweck habe, mit ihm dieses oder jenes zu bewirken, uns also auf die Gebrauchszwecke beziehen, so bezeichnen wir eben wiederum etwas, das noch nicht wahrnehmbar ist, nämlich die mögliche Wirkung und wir bezeichnen nichts, was am Ding oder als dessen Folge bereits wahrnehmbar vorliegt oder notwendig wahrnehmbar vorliegen wird. Sich zu etwas Wahrnehmbaren einen Zweck vorstellen ist etwas völlig anderes, als etwas Wahrnehmbares als Zweck zu bezeichnen, bzw. mit einem Zweck zu identifizieren. Zwecke sind also notwendig etwas noch nicht Wahrnehmbares, das bloß vorgestellt wird. Von allem, das bereits wahrgenommen wird oder wahrgenommen wurde, können wir demnach ausschließen, dass es ein Zweck ist, obgleich es möglicherweise bezweckt wurde. Eine erste notwendige Bedingung für Zwecke ist deshalb, dass sie unwahrnehmbar sind. Zwecke in dieser Weise zu definieren, reicht jedoch ganz offensichtlich nicht aus. Denn nicht jede Vorstellung würden wir als Zweck bezeichnen. Des Weiteren wollen wir uns hier mit Gebrauchszwecken beschäftigen und für diese ist charakteristisch, dass sie auf etwas Wahrnehmbares bezogen werden. Dieses Wahrnehmbare müssen nicht Artefakte sein, sondern können auch Naturgegenstände sein, wie ein Stein, auf den wir den Zweck des Sitzens beziehen oder ein See, auf den wir den Zweck des Badens beziehen. Gebrauchszwecke können wir also zunächst ganz allgemein definieren als unwahrnehmbare Vorstellungen, die sich auf etwas Wahrnehmbares beziehen. Es hängt nun alles davon ab, auf welche Weise sich Zweckvorstellungen auf Wahrgenommenes beziehen. In welcher Weise hat etwas Wahrgenommenes einen Gebrauchszweck? Die schlichteste Position erläutert die Beziehung zwischen der Zweckvorstellung und der Dingwahrnehmung als eine konventionelle Beziehung, also in derselben Weise, in der wir für gewöhnlich die Beziehung zwischen einem Zeichenträger und dessen Bedeutung erläutern würden. Diese Position hat prominent Umberto Eco vertreten. Er schreibt: »Gemäß einer tausendjährigen architektonischen Codifikation denotieren mir Treppe oder schiefe Ebene die Möglichkeit des Hinaufsteigens […]«.18 In unsere Terminologie übersetzt bedeutet dies, dass die wahrgenommene Treppe oder
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schiefe Ebene aufgrund einer tausendjährigen Konvention mit der Vorstellung des Hinaufsteigens verknüpft ist bzw. diese hervorruft. Dass die Treppe für die meisten Menschen mit dieser Vorstellung verknüpft ist, brauchen wir nicht zu bezweifeln. Fraglich ist allerdings, ob wir allein aufgrund einer Konvention die Vorstellung des Hinaufsteigens mit der Wahrnehmung »Treppe« verknüpfen. Dass die Verknüpfung einer Zweckvorstellung mit irgendetwas Wahrgenommenem niemals bloß konventioneller Art ist, verrät schon der Umstand, dass sich Eco genötigt sieht, von der »Möglichkeit des Hinaufsteigens« zu sprechen, statt einfach von der Bedeutung oder Vorstellung »Hinaufsteigen«. Zu dem wahrgenommenen Wort »Treppe« stellen wir uns nicht die Möglichkeit des Hinaufsteigens vor, wir stellen uns nicht vor, dass man auf dieses Wort hinaufsteigen kann, so wie man auf eine Treppe hinaufsteigen kann, dass es also dieses Hinaufsteigen ermöglicht. Warum machen wir das nicht? Genau deshalb, weil hier tatsächlich die Vorstellung mit der Wahrnehmung bloß durch eine Konvention verknüpft ist und das wahrgenommene Wort mit dem, was wir uns vorstellen gar nichts zu tun hat bzw. es keinen irgendwie sinnvollen Zusammenhang zu geben braucht, außer eben den einer konventionellen Zuordnung. Eine bloß konventionelle Beziehung zwischen etwas Wahrnehmbarem und einer Vorstellung ist niemals derart, dass wir der Meinung sind, das Vorgestellte könnte durch das Wahrgenommene ermöglicht werden. So stellen wir uns beispielsweise, wenn wir jemanden »Feuer« sagen hören oder irgendwo »Feuer« lesen oder irgendwo ein Feuersymbol sehen, nicht die Möglichkeit von Feuer vor, dass also durch dieses Wahrgenommene eine Brandgefahr besteht, sondern wir stellen uns eben einfach »Feuer« vor, ohne dieses Vorgestellte in einer bestimmten Weise auf das Wahrgenommene zu beziehen.19 Eine bloß konventionelle Beziehung zwischen der wahrgenommenen Treppe und einer Vorstellung würde beispielsweise dann vorliegen, wenn wir eine Treppe wahrnehmen und uns »gesellschaftlicher Aufstieg« vorstellen. Hier würden wir uns niemals genötigt fühlen, zu sagen, dass wir angesichts der Treppe uns die Möglichkeit gesellschaftlichen Aufstiegs vorstellen, einfach deshalb, weil sie diesen Aufstieg gar nicht ermöglicht, ganz im Unter-
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18 Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 308. 19 Das magische Zeichenverständnis ist dieser Art. Hier besteht der Glaube, dass mit dem Zeichen auch eine kausale Bedingung für das wahrnehmbare Eintreten dessen geschaffen ist, was angesichts des Zeichens vorgestellt wird, was also dessen Bedeutung ist.
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schied zum vorgestellten Hinaufsteigen, das sie irgendwie zu ermöglichen scheint. Würde die Zuordnung einer Zweckvorstellung zu etwas Wahrnehmbarem bloß in einer Konvention bestehen, so hätte das, was wir uns hierbei zum Wahrnehmbaren vorstellen und das, was wir wahrnehmen gar nichts miteinander zu tun. Jede Zweckvorstellung wäre ebenso sinnvoll wie jede andere Zweckvorstellung. Es wäre ganz gleichgültig, was wir uns zu dem Wahrgenommenen vorstellen, solange sich alle Teilnehmer einer Kommunikationsgemeinschaft möglichst dasselbe vorstellen. Während wir uns widerspruchsfrei vorstellen können, dass die wahrgenommene Lautfolge »Treppe« in einer anderen Kommunikationsgemeinschaft mit anderen Konventionen die Vorstellung »Feuer« hervorruft, so können wir uns jedoch nicht widerspruchsfrei vorstellen, dass in irgendeiner Kommunikationsgemeinschaft ein und dieselbe wahrgenommene Treppe mal die Zweckvorstellung »Fliegen«, mal die Zweckvorstellung »Schwimmen« und mal die Zweckvorstellung »Hinaufsteigen« hervorruft. Wir können uns zwar mehrere Zwecke zu irgendetwas Wahrnehmbaren vorstellen – beispielsweise angesichts einer Treppe auch »Hinsetzen« – aber nicht beliebige. Dies hängt damit zusammen, dass wir bei einer Zweckvorstellung, anders als bei einer Zeichenvorstellung, das Vorgestellte an dem Wahrgenommenen prüfen. Wir prüfen nicht, ob wir uns auch das vorstellen, was der Konvention entspricht, also ob wir uns dasselbe vorstellen, was sich auch andere vorstellen, sondern wir prüfen, ob das Vorgestellte durch das Wahrgenommene wahrnehmbar eintreten könnte, ob es also diesen vorgestellten Zweck wahrnehmbar ermöglichen könnte. Nur genau solche Vorstellungen, deren wahrnehmbares Eintreten wir durch das wahrgenommene Ding für möglich halten, bezeichnen wir als dessen Zweck. Auch das vorgestellte »Hinaufsteigen« betrachten wir genau deshalb als Zweck der wahrgenommenen Treppe, weil wir diese als eine Bedingung für das wahrnehmbare Eintreten des »Hinaufsteigens« betrachten. Wäre die Treppe nur eine Bedingung für die Vorstellung des Hinaufsteigens, so wäre sie bloß ein Zeichen, da sie aber überdies auch eine Bedingung für die Wahrnehmbarkeit des Hinaufsteigens ist, wird sie zu einem Handlungsmittel. Dies bedeutet: Gebrauchszwecke sind die vorgestellten möglichen Wirkungen des Wahrnehmbaren. 05
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Wir haben nun schon soviel verstanden, dass die vorgestellten Gebrauchszwecke nicht in beliebiger Weise mit etwas Wahrgenommenem verknüpft werden. Sie werden nicht einfach mit diesem Wahrnehmbaren assoziiert oder diesem konventionell beigelegt, sondern sie werden nur genau dann mit diesem verknüpft, wenn es als eine Bedingung für das wahrnehmbare Eintreten des Vorgestellten betrachtet wird. So formuliert ist die Art und Weise, wie sich vorgestellte Zwecke auf Wahrnehmbares beziehen allerdings noch zu allgemein. Denn auch für die vorgestellten naturgesetzlichen Wirkungen des Wahrnehmbaren gilt, dass dieses bereits Wahrnehmbare als eine Bedingung für das wahrnehmbare Eintreten des Vorgestellten betrachtet wird. Von dem angesichts einer bereits wahrnehmbaren Gewitterwolke vorgestellten Regen würden wir niemals sagen, dass er ein Zweck ist, obwohl die Gewitterwolke eine Bedingung für das wahrnehmbare Eintreten des vorgestellten Regens ist. Worin unterscheiden sich also die vorgestellten naturgesetzlichen Wirkungen von den vorgestellten Zwecken? Dieser Unterschied wurde oben bereits angedeutet, indem wir Gebrauchszwecke nicht als die vorgestellten notwendigen Wirkungen des Wahrnehmbaren, sondern als die vorgestellten möglichen Wirkungen des Wahrnehmbaren definierten. Es ist der Unterschied zwischen der Vorstellung, was wahrnehmbar geschehen wird und der Vorstellung, was wahrnehmbar geschehen könnte. In dem einen Fall haben wir es mit einer Vorstellung zu tun, deren Wahrnehmbarkeit notwendig eintreten wird und in dem anderen Fall mit einer Vorstellung, deren Wahrnehmbarkeit möglich ist, aber nicht notwendig eintreten wird. Diesen Unterschied kennen wir sehr gut, nämlich als die Vorstellung davon, was von selbst eintreten wird und die Vorstellung davon, was nicht von selbst eintreten wird, aber gleichwohl möglich ist. So stellen wir uns vor, dass der Blumenkübel auf der Terrasse von selbst rosten wird, aber nicht, dass er von selbst Blumen pflanzt. Während die vorgestellten gepflanzten Blumen in diesem Beispiel ein Zweck sind, ist der vorgestellte Rost es nicht. Auch der vorgestellte Rost kann allerdings ein Zweck sein, weil der Blumenkübel beispielsweise im Wohnzimmer steht und wir wollen, dass der Blumenkübel einen »Vintage-Look« erhält. Aber ein Zweck ist der vorgestellte Rost nur so lange und nur genau dann, wenn er noch nicht von selbst eintreten wird, weil der Blumenkübel beispielsweise noch im Wohnzimmer steht.
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Dass die im Zweck vorgestellten Wirkungen bloß möglich sind, heißt nicht, dass sie wahrscheinlich sind. Wahrscheinlich sind Wirkungen, deren Eintreten wir bloß aufgrund einer Häufigkeit oder Gewohnheit erwarten, deren kausale Zusammenhänge wir jedoch nicht verstehen. Möglich sind hingegen solche Wirkungen, deren kausale Zusammenhänge wir bereits denken, deren wahrnehmbare Ursachen aber noch nicht oder noch nicht vollständig vorliegen. Die Zweckvorstellungen sind das Resultat eines Nachdenkens darüber, was wahrnehmbar bewirkt werden könnte, was also wahrnehmbar eintreten könnte, wenn bestimmte Ursachen da wären. Diese noch nicht vorhandenen Ursachen, sind nicht etwa in dem Sinne nicht vorhanden, dass sie bloß gegenwärtig nicht wahrnehmbar sind, jedoch irgendwann wahrnehmbar werden, sondern sie sind in dem grundsätzlichen Sinne nicht vorhanden, dass sie unter den gegebenen Bedingungen niemals eintreten, sofern sie nicht allererst hergestellt werden. Diese Ursache, die noch nicht da ist, die erst hergestellt werden muss, ist letztlich immer das handelnde Subjekt, ist dessen wahrnehmbares Verhalten. Die angesichts irgendetwas Wahrnehmbaren vorgestellten Zwecke sind also nicht irgendwelche Vorstellungen, irgendwelche beliebigen Phantasiegebilde, sondern die vorgestellten Wirkungen dieses Wahrnehmbaren, die eintreten würden, würden wir allererst einen bestimmten Zusammenhang zwischen unserem eigenen wahrnehmbaren Subjekt und bestimmtem anderen Wahrnehmbaren herstellen. In den Zwecken stellen wir uns die Wirkungen solcher kausaler Zusammenhänge vor, die zwar denkbar sind, die aber dem Wahrnehmbaren noch nicht zugrundeliegen und genau deshalb auch noch etwas Unwirkliches sind, das erst verwirklicht werden muss. Eine notwendige Wirkung ist das Resultat eines kausalen Zusammenhangs, der bereits wahrnehmbar realisiert ist und die deshalb auch »von selbst« eintreten wird, eine mögliche Wirkung ist das vorgestellte Resultat eines kausalen Zusammenhangs, der bloß denkbar vorliegt und noch nicht wahrnehmbar realisiert ist und die deshalb auch nicht »von selbst« eintreten wird. Zwecke sind nichts anderes als diese vorgestellten möglichen Wirkungen. Aus diesem Grund ist jede Untersuchung über die Gültigkeit von Zweckaussagen zum Scheitern verurteilt. Es ist niemals wahr, dass etwas einen Zweck hat, es kann immer bloß wahr sein, dass wir uns diesen oder jenen Zweck vorstellen oder dass dieses etwas eine 05
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Funktion hat, die dann allerdings kein Zweck mehr ist. So übersieht beispielsweise John R. Searle vollständig, dass es einen Unterschied zwischen Zweckaussagen, die er »Funktionszuweisung«20 nennt, und Funktionsaussagen gibt, die er gar nicht behandelt.21 Während eine Funktionsaussage tatsächlich eine wahre Aussage über einen wahrnehmbaren Zusammenhang sein kann, gilt das für eine Zweckaussage niemals, da sie eine Aussage über etwas ist, das noch gar nicht existiert und auch nicht notwendiger Weise existieren wird. Durch das fehlende Unterscheiden zwischen Zwecken und Funktionen kommt er zu so abenteuerlichen Aussagen wie: »es ist die Funktion von Sicherheitsventilen, Explosionen zu verhindern, und das ist wahr sogar für Ventile, die so schlecht gemacht sind, dass sie in Wirklichkeit Explosionen nicht verhindern, das heißt nicht oder schlecht funktionieren.«22 Stattdessen müsste es heißen: Es ist der Zweck von Sicherheitsventilen, Explosionen zu verhindern und dieser wird erst wahr, wenn sie diese auch verhindern, also funktionieren. Oder an anderer Stelle über einen Schraubendreher: »Es ist eine objektiv feststellbare Tatsache, dass es ein Schraubendreher ist«.23 Es ist zwar wahr, dass wir uns zu einem Schraubendreher die Möglichkeit gedrehter Schrauben vorstellen, deshalb ist das Vorgestellte aber noch keine objektiv feststellbare Tatsache. Das würde nämlich bedeuten, dass es objektiv feststellbar sei, dass ein Schraubendreher eine Schraube drehen wird. Ein solches Kriterium weisen ausschließlich Funktionen und nicht Zwecke auf, beispielsweise eine Schraubendrehmaschine, die vollautomatisiert in Betrieb ist oder ein Gebrauchsvorgang, in dem eine Schraube gedreht wird. Für Zwecke gilt gerade per definitionem, dass sie keine oder noch keine Tatsachen sind, sonst bräuchte man sie ja gar nicht zu verwirklichen, es würde ausreichen, sich bloß vorzustellen, dass ein Schraubendreher den Zweck hat, Schrauben zu
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20 John R. Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, Zur Ontologie sozialer
Tatsachen, Berlin 2011, S. 22. 21 Sowohl seine Beispiele, als auch seine Aussagen zeigen, dass er zwar von »Funktionen« redet, jedoch ausschließlich Zwecke im Blick hat. Auch seine These, dass Funktionen immer beobachterrelativ seien, gilt ausschließlich für Zwecke, jedoch nicht für Funktionen: »Wir sagen ›Dieser Fluß ist gut zum Schwimmen‹ oder ›Diese Art Baum ist gut für Bauholz‹. Es kommt an diesem Punkt darauf an, zu sehen, dass Funktionen niemals der Physik eines beliebigen Phänomens immanent sind, sondern ihm von außen von bewußten Beobachtern und Benutzern zugewiesen werden. Funktionen sind, kurzum, niemals immanent, sondern immer beobachterrelativ.« Ebd. S. 23. Alle diese Aussagen sind Zweckaussagen und keine Funktionsaussagen. Eine Funktionsaussage wäre: »Jemand schwimmt im See« oder »Aus dieser Baumart entsteht Bauholz«. 22 Ebd., S. 29 23 Ebd., S. 19
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drehen und damit wäre die Tatsache einer gedrehten Schraube bereits vorhanden, man hätte also durch diesen Vorstellungsakt schon eine »objektiv feststellbare Tatsache« geschaffen. Zweckaussagen sind noch nicht wahr, sie müssen erst wahr gemacht werden. Ganz im Gegensatz dazu ist eine Funktionsaussage, also eine Aussage über einen realisierten Zweck, der nicht mehr möglich ist, sondern tatsächlich stattfindet – wie beispielsweise einen Deich, der bewirkt, dass ein Landstrich nicht überflutet wird – nicht mehr teleologischer Art, sondern identisch mit einer naturgesetzlichen These. Es wird dann ein Kausalzusammenhang zwischen dem wahrnehmbaren Deich und dem wahrnehmbaren Landstrich ausgesagt: der Deich bewirkt die Trockenheit ganz in derselben Weise, in der sonstige »natürliche« topographische Wahrnehmbarkeiten irgendetwas bewirken. Unterscheiden tut sich ein solcher funktionaler Zusammenhang von natürlichen kausalen Zusammenhängen allein hinsichtlich seiner Entstehung, nicht jedoch in seiner Wirkungsweise, nämlich allein darin, dass er zuvor bloß möglich war und nicht von selbst entstanden wäre. Aus diesem Grund brauchen wir zum Verständnis von Funktionen auch in keiner anderen Weise vorzugehen, als wir zum Verständnis sonstiger kausaler Zusammenhänge vorgehen. Ebenso wie dort, so versuchen wir auch hier bloß zu verstehen, durch welches Wahrnehmbares anderes Wahrnehmbares nach welchem Prinzip bewirkt wird und das heißt: wir versuchen zu verstehen, wie das Wahrgenommene funktioniert. Allein, um wiederum zu verstehen, wodurch der funktionelle Zusammenhang als solches entstanden ist, wie also eine Veränderung kausaler Zusammenhänge geschehen konnte, müssen wir ein zweckgeleitetes Tun in Betracht ziehen, nicht jedoch, um zu verstehen, was der funktionelle Zusammenhang gegenwärtig ist.24 Funktionen sind Zusammenhänge von Wahrnehmbarem, in denen die zuvor im Zweck vorgestellte mögliche Wirkung zu einer notwendigen Wirkung geworden ist. Aus diesem Grund lassen sich weder Funktionen mit Zwecken gleichsetzen, noch Zwecke aus Funktionen ableiten, da Funktionen bereits wirklich sind: ein notwendiger Zusammenhang, Zwecke hingegen noch unwirklich sind: ein möglicher Zusammenhang. Bei Funktionen liegen die
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24 Das Verständnis der Entstehung von Funktionen setzt ein Verständnis des Handelns voraus. Dieses wird in diesem Beitrag nicht geleistet, da es mir zunächst um die grundsätzliche Unterscheidbarkeit von Funktionen und Zwecken geht.
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Ursachen und Wirkungen bereits vor, auch wenn sie zum Zeitpunkt des Zweckdenkens noch nicht vorlagen, bei Zwecken liegen weder die vorgestellten Wirkungen, noch die dafür nötigen Ursachen vollständig vor. Zwecke sind denkbare Möglichkeiten, Funktionen wahrnehmbare Wirklichkeiten.
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Funktionen als bezweckte kausale Zusammenhänge Im Folgenden werde ich auf dieser Grundlage die Zusammenhänge von Funktionen und Zwecken anhand von Beispielen erläutern und zeigen wie durch diese Differenzierung bestimmte Probleme im Nachdenken über Funktionen aufgelöst werden können. Wenn wir von etwas sagen, dass es eine Funktion habe, so beziehen wir uns auf das »Funktionieren« von Wahrnehmbarem, auf das Prinzip nachdem etwas Wahrnehmbares bereits geschieht und nachdem wir uns dieses Wahrnehmbare erklären. So haben beispielsweise die Elemente einer Konstruktion immer eine Funktion und keinen Zweck, obwohl sie bezweckt wurden: sie funktionieren und sie bezwecken nicht. Die Funktion eines Tischbeins ist die Art und Weise wie dieses die Stabilität der Tischplatte in einer bestimmten Höhe verursacht. Das Tischbein hat dann und nur dann eine Funktion, also funktioniert, wenn es das ehemals Bezweckte auch bewirkt und das heißt, wahrnehmbar folgen lässt. Von einem Tischbein, das das Bezweckte nicht bewirkt, würden wir niemals sagen, dass es funktioniert, sondern wir würden das genaue Gegenteil sagen, nämlich dass es funktionslos ist. Wenn wir hingegen von etwas sagen, dass es einen Zweck habe, so beziehen wir uns auf eine bloß denkbare Funktion, die dieses Wahrgenommene haben könnte, die dieses aber noch nicht hat, da hierfür die Bedingungen noch gar nicht hinreichend existieren. Das Tischbein hat beispielsweise nur genau solche Zwecke, für die es noch keine hinreichende Ursache ist. Dies wäre der Fall, wenn das Tischbein noch nicht montiert wurde oder abbricht, d.h. entscheidende wahrnehmbare Eigenschaften noch nicht hat oder verlor, die eine ursächliche Bedingung für das in der Funktion Bewirkte sind. In beiden Fällen verursacht es das Bezweckte noch nicht, weshalb es bloß einen Zweck hat, aber noch keine Funktion. Auch das in einer Hinsicht funktionierende Tischbein – nämlich das Bewirken der stabilen Tischplattenposition – kann in einer anderen Hinsicht einen Zweck haben, wenn wir uns beispielsweise vorstellen, dass 10
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es die Fixierung einer Hundeleine bewirken könnte, dieses aber noch nicht bewirkt. Auch hier ist der Zweck wiederum etwas bloß Mögliches, Vorgestelltes, das noch nicht funktioniert und deshalb auch noch nicht zur Funktion des Tischbeins gehört, sondern eben bloß dessen mögliche Wirkung ist, für die entscheidende Bedingungen noch fehlen: das Anheben des Tisches oder das Umschnallen der Hundeleine usw. Wir sehen hier, dass Zwecke immer über das bereits realisierte Funktionieren hinausgehen, gleichwohl sie zu Funktionen werden könnten, dann aber keine Zwecke mehr sind, sondern Funktionen. Etwas Wahrnehmbares hat genau dann eine Funktion, wenn es eine hinreichende Bedingung für das ehemals Bezweckte ist und etwas Wahrnehmbares hat genau dann einen Zweck, wenn es zwar eine Bedingung, aber noch keine hinreichende Bedingung für das Bezweckte ist. Die verschiedenen Prädikate, die wir einmal für die Zwecke und einmal für die Funktionen von Wahrnehmbarem aussagen, können wir deshalb wie folgt definieren: Als »zwecklos« bezeichnen wir solches Wahrnehmbares, zu dem wir uns keine sinnvolle mögliche Wirkung vorstellen können. Statt »zwecklos« verwenden wir auch häufig die Bezeichnung »nutzlos« und meinen damit Ähnliches. Müll ist beispielsweise so etwas Wahrnehmbares, zu dem wir uns zwar vorstellen können, was es notwendig bewirken wird, wie beispielsweise eine überfüllte Mülltonne oder eine Grundwasserbelastung, angesichts dessen uns aber die Phantasie fehlt, uns vorzustellen, was es unter anderen Bedingungen bewirken könnte. Würden wir bloß denken können, was bereits wahrnehmbar der Fall ist, wären wir also nicht in der Lage, die kausalen Zusammenhänge des bereits Wahrgenommenen dahingehend weiterzudenken, welche Zusammenhänge möglich sind, so wäre alles und jedes in der Welt zwecklos.25 Das Kriterium für das Prädikat »zwecklos« ist die fehlende Denkbarkeit einer möglichen Wirkung und ihrer ursächlichen Bedingungen. Als »zweckvoll« bezeichnen wir hingegen solches, zu dem wir uns sehr gut eine oder mehrere mögliche Wirkungen vorstellen können, die es aber noch nicht bewirkt, zu der also noch die Funk05
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25 Aus diesem Grund ist auch die Art und Weise, wie Heidegger das Gebrauchen erläutert ein Gebrauchen ohne Zweck. Es ist präzise das gedankenlose Verhalten von Gewohnheitstieren, das sich stets wiederholen würde und niemals in der Lage wäre, auch nur ansatzweise über das bereits wahrgenommene eigene oder fremde Verhalten hinauszugelangen.
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tion fehlt. In diesem Sinne sind alle Gebrauchsprodukte zweckvoll, aber auch Naturgegenstände und Naturgegebenheiten, bei denen es uns einfach fällt, vorzustellen, was mit diesen unter welchen Bedingungen bewirkt werden könnte. Ob etwas als zweckvoll beurteilt wird hängt auch davon ab, ob wir die Bedingungen für die mögliche Wirkung für einfach realisierbar halten. Das Kriterium für das Prädikat »zweckvoll« ist die Denkbarkeit der möglichen Wirkung und ihrer ursächlichen Bedingungen. Als »funktional« bezeichnen wir hingegen solches Wahrnehmbares, das bereits wahrnehmbar bewirkt, was wir uns als dessen Zweck vorstellen. Ob etwas funktional ist oder nicht, wird anhand dessen beurteilt, ob es auch tatsächlich bewirkt, was zuvor bloß als mögliche Wirkung bezweckt wurde. Funktional sind gewissermaßen Dinge, die bewirken, was sie bewirken sollen, die also ihren Zweck erfüllen. So bezeichnen wir beispielsweise alle technischen Zusammenhänge als funktional, sofern sie bewirken, was bezweckt wurde. Bezogen auf Gebrauchsprodukte bezeichnen wir strenggenommen ausschließlich den Gebrauchsvorgang als funktional, wenn wir nämlich erfahren haben, dass wir den vorgestellten Gebrauchszweck tatsächlich auch bewirken können. So können wir beispielsweise eigentlich nicht sagen, dass ein Werkzeug als solches funktional ist, sondern wir können nur sagen, dass der Werkzeuggebrauch von dieser oder jener Person unter diesen oder jenen Bedingungen funktional ist, weil nämlich in diesem Werkzeuggebrauch genau das bewirkt wird, was diese oder eine andere Person sich als Zweck vorstellt. Das ungebrauchte Werkzeug ist hingegen im obigen Sinne bloß zweckvoll, da das Kriterium fehlt, anhand dem überhaupt entschieden werden kann, ob es funktional ist. Das Kriterium für das Prädikat »funktional« ist die Wahrnehmbarkeit der bezweckten Wirkung und ihrer ursächlichen Bedingungen. Als »funktionslos« bezeichnen wir wiederum solches Wahrnehmbares, das ehemals funktional war, es aber nicht mehr ist. »Funktionslos« ist nicht dasselbe wie »zwecklos«, da etwas nur unter der Voraussetzung funktionslos sein kann, dass wir uns weiterhin einen Zweck, also eine mögliche Wirkung vorstellen können, für deren Eintreten aber die entscheidenden Bedingungen nicht mehr vorhanden sind, weshalb es funktionslos geworden ist. Dies ist beispielsweise bei allen defekten Geräten der Fall: sie sind funktionslos, aber deshalb nicht zwecklos, sonst würden wir gar nicht 05
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auf die Idee kommen, diese zu reparieren. Sie wechseln erst ihren Status von funktionslos zu zwecklos, wenn wir uns keine realisierbaren Bedingungen mehr vorstellen können, unter denen die bezweckte und ehemals verursachte Wirkung eintreten könnte. Genau dann wandern diese in den Müll. Etwas Funktionsloses ist also immer auch notwendig zweckvoll. Das Kriterium für das Prädikat »funktionslos« ist die ehemalige Wahrnehmbarkeit der bezweckten Wirkung und ihrer ursächlichen Bedingungen. Wir sehen also, dass allein schon in der Sprache feine Differenzierungen bestehen, welche Phänomene wir eher mit Zwecken und welche wir eher mit Funktionen in einen Zusammenhang bringen würden. Die Diskussion um Funktionen erzeugt hingegen unzählige Scheinprobleme, da zwischen Zwecken und Funktionen häufig nicht unterschieden wird, sondern beides so behandelt wird, als würde es sich um ein und dasselbe handeln. Dieses stillschweigende Ineinssetzen von Funktionen und Zwecken zeigt sich insbesondere in der englischsprachigen Literatur, in der eigentlich nur noch von »function«, aber nicht mehr von »purpose« gesprochen wird. Gebrauchszwecke werden ebenso als »function« bezeichnet wie auch ein tatsächlich funktioneller Zusammenhang beispielsweise einer Maschine oder sonstiger Konstruktionen. So ist etwa Peter Kroes der Ansicht, das erfolgreiche Gebrauchen eines Gegenstandes könne nicht das Kriterium für dessen »function« sein, da auch unerfolgreich gebrauchte Gegenstände wie ein Fernseher mit defektem Schalter weiterhin eine »function« hätten, nämlich es sich weiterhin um einen – obgleich defekten – Fernseher handele.26 Er bemerkt schlicht nicht, dass das, was er in dem einen Fall mit »function« bezeichnet etwas anderes ist, als das, was er in dem anderen Fall mit »function« bezeichnet. Der Fernseher hat keine Funktion mehr, da er nicht mehr das Bezweckte, nämlich ein Fernsehbild, bewirkt, also defekt ist, was nichts anderes heißt, als dass er funktionslos ist, er hat aber durchaus noch einen Zweck, nämlich solange, als ich die Möglichkeit erkenne, dass der Schalter wieder funktional werden könnte. Dieses Scheinproblem löst sich ganz einfach auf, wenn wir wie oben bereits geschehen, das Kriterium des Erfolges – das nichts anderes ist, als das wahrnehmbare Eintreten dessen, was bezweckt wird – allein für die Funktion in Anspruch nehmen, jedoch 05
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26 Peter Kroes: »Theories of Technical Functions: Function Ascriptions vs. Function Assignments«, Part 2, in: Design Issues 4 (2010), S. 85 – 93, hier: S. 87.
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nicht für den vorgestellten Zweck irgendeiner Sache, wie z.B. die mögliche Wirkung »Fernsehbild«. Für Zwecke ist der Erfolg selbstverständlich nicht maßgeblich, denn um mir vorstellen zu können, was etwas unter bestimmten Bedingungen bewirken könnte, muss dieses trivialerweise nicht schon bewirkt worden sein, sonst wäre überhaupt kein vorstellungsgeleitetes Handeln möglich. Einfach aus dem Grund, dass Kroes glaubt, ein vorgestellter Zweck und ein bewirkter Zweck, also eine Funktion seien dasselbe, seien also beides »functions«, ist er genötigt, sich ganz komplizierte Kriterien auszudenken, die am Ende weder Zwecke, noch Funktionen angemessen erfassen. Ebenso gelangt Daniel Martin Feige durch das fehlende Unterscheiden zwischen Zwecken und Funktionen zu dem Problem, wie es denn sein kann, dass die Funktion von Gebrauchsgegenständen im Erfüllen dieser Funktion, also in einem bestimmten Gebrauch besteht, diese jedoch »nicht zu bloßen Gegenständen ohne Funktionen herab[sinken], wenn sie gerade nicht gebraucht werden«.27 Oder warum ein Stuhl, der als Leiter benutzt wird, dadurch nicht zu einer Leiter wird, sondern ein Stuhl bleibt, der zweckentfremdet benutzt wird.28 Auch hier entsteht das Problem allein dadurch, dass zwei ganz unterschiedliche Phänomene einfach einheitlich als »Funktionen« bezeichnet werden. Gebrauchsgenstände haben nicht die Funktion, eine Funktion zu erfüllen, das wäre tautologisch, sondern Gebrauchsgegenstände haben den Zweck zu funktionieren und wenn sie funktionieren, erfüllen sie nicht eine Funktion, sondern erfüllen einen Zweck. Das Erfüllen eines Zweckes ist die Funktion eines Gebrauchsgegenstandes, und wenn sie einen Zweck nicht erfüllen, haben sie eben bloß einen Zweck und keine Funktion. Die Funktion ist gewissermaßen ein Zweck, der in Erfüllung gegangen ist oder in Erfüllung geht. Das bedeutet in unserer Terminologie: Gebrauchsgegenstände sind mit der Vorstellung einer möglichen Wirkung, die unter gewissen Bedingungen eintritt, verbunden und wenn diese Wirkung eintritt, funktioniert der Gegenstand, hat also eine Funktion. Wenn also ein Gegenstand gerade nicht gebraucht wird, sinkt er tatsächlich zu einem Gegenstand ohne Funktion herab, verliert deshalb aber nicht zugleich auch seinen Zweck. Es ist dann ein Gegenstand ohne Funktion, aber mit Zweck. 05
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27 Daniel Martin Feige: Design, Eine philosophische Analyse, Berlin 2018, S. 140. 28 Ebd., S. 141.
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Auch bezogen auf das Beispiel einer zweckentfremdeten Benutzung eines Stuhles löst sich das Problem ganz einfach auf, wenn wir uns fragen, was in diesem Vorgang eigentlich ein Zweck ist und was eine Funktion ist. Die Vorstellung des Sitzens ist ein Zweck, die Vorstellung des Hinaufsteigens ist ein weiterer Zweck und das Benutzen als Leiter ist eine Funktion. Der Stuhl erfüllt den Zweck einer Leiter, nämlich die vorgestellte Wirkung des Hinaufsteigens, hat also in diesem Moment tatsächlich die Funktion einer Leiter oder funktioniert als Leiter, verliert aber deshalb nicht notgedrungen den vorgestellten Zweck, zu einem späteren Zeitpunkt eine Bedingung für die mögliche Wirkung des Sitzens zu sein. Wenn wir das Beispiel auf diese Weise entwirren wird auch deutlich, dass zwar die Zweckvorstellung »Sitzen« womöglich bleibt, dass die Funktion aber gerade nicht die eines Stuhles bleibt, wenn er als Leiter benutzt wird, sondern der Stuhl tatsächlich zu etwas wird, was wir bezogen auf andere Gegenstände »Leiter« nennen. Erst die Unterscheidung in Zwecke und Funktionen bietet auch die Möglichkeit, zu erkennen, wo wir es bezogen auf Gebrauchsvorgänge eigentlich mit etwas Wirklichem und wo wir es mit etwas noch nicht Wirklichem zu tun haben. Das Wirkliche ist die Funktion und das noch nicht Wirkliche ist der Zweck. Aus diesem Grund ist es auch falsch, zu behaupten, der Stuhl würde nicht zur Leiter werden, wenn er als Leiter benutzt wird. Er ist in diesem Moment tatsächlich eine Leiter, denn wenn er das nicht wäre, könnte er ja gar nicht dasselbe bewirken, das auch eine Leiter bewirkt. Es wäre ausschließlich mit Leitern möglich hinaufzusteigen und es wäre mit Stühlen ausschließlich möglich, zu sitzen. Wenn die Gebrauchsgegenstände ihrer Wirklichkeit nach das wären, was wir uns als ihren Zweck vorstellen, dann wäre es schlicht nicht möglich, irgendetwas umzunutzen oder zweckzuentfremden. Oder anders ausgedrückt: das für andere Zwecke Gebrauchte müsste immer dasselbe bleiben, nämlich, das, was man sich ursprünglich unter seinem Zweck vorstellte. Eine als Vase verwendete Mineralwasserflasche wäre keine Vase, sondern immer noch eine Mineralwasserflasche, die Milchkanne, die als Schirmständer verwendet wird, wäre kein Schirmständer, sondern immer noch eine Milchkanne, ein Ölfass, das als Feuerstelle verwendet wird, wäre immer noch ein 05
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29 Vgl. Louis H. Sullivan: »Das große Bürogebäude, künstlerisch betrachtet«, in: Louis H.
Sullivan, Ein amerikanischer Architekt und Denker, hrsg. v. Sherman Paul, Berlin/Frank-
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Ölfass und keine Feuerstelle, der Essig, der zum Entkalken verwendet wird, wäre immer noch ein Salatdressing und kein Entkalkungsmittel usw. Wenn schon die Zwecke und nicht erst die Funktionen etwas Wirkliches wären, also die Wirklichkeit des Stuhles im Zweck des Sitzens bestünde und nicht erst in der Funktion des Sitzens oder eben Hinaufsteigens oder Kleiderablegens, dann müssten konsequenterweise auch die Zwecke, die wir uns angesichts von Naturgegebenheiten vorstellen, deren Wirklichkeit ausmachen. So wäre beispielsweise die Zweckvorstellung eines Weinkorkens angesichts einer Korkrinde teil der Wirklichkeit der Korkrinde. Wenn wir allerdings verstehen, dass erst die Funktion etwas Wirkliches ist, dann ist es auch gegenüber Naturgegebenheiten widerspruchsfrei denkbar, dass eben erst der Weinkorken der verwirklichte Zweck ist und nicht schon der vorgestellte Zweck »Weinkorken« angesichts der Korkrinde etwas Wirkliches ist. Dieses Identifizieren von Zwecken mit Funktionen beginnt schon mit dem von Sullivan formulierten und dann vom Funktionalismus zum Slogan instrumentalisierten Ausspruch »form follows function«.29 Ganz abgesehen von den unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten, was das »follow« zu bedeuten habe30, muss zugegeben werden, dass es einen gravierenden Unterschied macht, ob man unter »function« »Funktion« versteht oder ob man darunter »Zweck« versteht.31 In dem einen Fall würde es bedeuten: auf eine Funktion folgt etwas Wahrnehmbares, also eine Form und in dem anderen Fall würde es bedeuten: auf einen Zweck folgt etwas Wahr nehmbares. Während das eine etwas ist, das von selbst geschieht und das wir nur zu beobachten brauchen, ist das andere etwas, das nicht von selbst geschieht und das durch Beobachtung niemals eintritt. Bei Zwecken müssen wir allererst dafür sorgen, dass sie eintreten, dass also der ausgesagte Zusammenhang, nämlich dass etwas auf etwas folgt, wahr wird. In dem Moment, in dem wir zwar »Funktion« verstehen, es aber unter der Hand auf solche Phänomene anwenden, in denen wir es nicht nur mit Funktionen, sondern auch mit Zwecken zu tun haben, wie zum Beispiel im zweckgeleite-
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furt a. M. 1963, S. 144 – 148, hier S. 148. 30 Vgl. zu den unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten des Slogans »form follows function«: Feige: Design , a.a.O., S. 127 – 136; Dorschel, Gestaltung, a.a.O., S. 24 – 49; Jan Michl: »Form follows what?, The modernist notion of function as a carte blanche«, in: 1:50 – Magazine of the
Faculty of Architecture & Town Planning 10 (1995), S. 31 – 20. 31 Vgl. zu diesem Unterschied auch: Jan Michl, a.a.O.
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ten Gestalten oder im zweckgeleiteten Gebrauchen, sagen wir de facto aus, dass das Resultat des Gebrauchens oder Gestaltens von selbst aus den wahrnehmbaren Bedingungen folgt. Dadurch entsteht bezogen auf die Gestaltung die Vorstellung, als ob Gestalten einfach nur das Befolgen der Gestaltungsmittel sei und bezogen auf das Gebrauchen die Vorstellung, als ob Gebrauchen einfach nur das Befolgen der Gebrauchsmittel sei. So, als ob die Funktion schon existieren würde und nicht allererst geschaffen wird. Während Funktionen tatsächlich darin bestehen, dass auf etwas Wahrnehmbares etwas anderes Wahrnehmbares notwendig folgt, ist das bei Zwecken allerdings nicht so, sondern diese sind gerade das kreative Erkennen einer möglichen Folge, die allererst zu einer notwendigen Folge von etwas Wahrnehmbarem gemacht werden muss. Diese hergestellte Notwendigkeit ist dann die Funktion. Zwecke sind genau solange keine Funktionen, als das Bezweckte aus den wahrnehmbaren Bedingungen noch nicht von selbst folgt. Damit haben wir gezeigt, wie sich viele diskutierte Probleme bezüglich Funktionen schlicht auflösen, wenn bemerkt wird, dass nicht alles, was als Funktion bezeichnet wird, auch eine Funktion ist, sondern manches eben bloß Zwecke sind. Diese Verwirrungen sind auch ein sehr gutes Beispiel dafür, wo die Grenzen stark sprachlich orientierter Untersuchungen liegen. Denn, um zu bemerken, was das ist, was die Sprache zum Teil mit denselben Ausdrücken belegt, müssen wir notgedrungen über die Sprache hinausgehen und beobachten, ob wir das einheitlich Benannte auch wirklich in derselben Weise wahrnehmen und denken, ob also überhaupt dasselbe vorliegt. Die Unterschiede, die wir dann bemerken, können wir in dreierlei Weise gliedern. Der erste Unterschied zwischen Zwecken und Funktionen ist erkenntnistheoretischer Art, der zweite ist wirklichkeitstheoretischer Art und der dritte ist handlungstheoretischer Art. Das Verwechseln von Zwecken mit Funktionen basiert unmittelbar auf einem mangelnden Bewusstsein dieser Unterschiede. Der erkenntnistheoretische Unterschied besteht in der Art und Weise wie wir Zwecke und Funktionen jeweils verstehen. Erkenntnistheoretisch betrachtet sind Zwecke etwas Denkbares, während Funktionen darüber hinaus etwas Wahrnehmbares sind. Der wirklichkeitstheoretische Unterschied besteht in dem, was Zwecke und Funktionen in diesem Verstehensprozess sind. Wirklichkeitstheo-
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retisch betrachtet sind Zwecke etwas Mögliches, während Funktionen etwas Notwendiges sind. Der handlungstheoretische Unterschied besteht schließlich darin, wie Zwecke und Funktionen entstehen. Handlungstheoretisch betrachtet sind Zwecke etwas Erdachtes, während Funktionen etwas Getanes sind. Das Bemerken dieses letzteren Unterschieds wird dadurch erschwert, dass Zwecke und Funktionen nicht etwa ganz unabhängig voneinander entstehen, sondern in ihrer Entstehung zusammenhängen. Man hat es also nicht einfach mit zwei unterschiedlichen Phänomenen zu tun, die immer schön getrennt bleiben, sodass ein Zweck immer ein Zweck bleibt und eine Funktion immer eine Funktion, sondern das eine wird zum anderen: anhand bereits wirklicher Funktionen erdenken wir noch nicht wirkliche Zwecke und die noch nicht wirklichen Zwecke verwirklichen wir in einer Funktion. Dieser genetische Zusammenhang zwischen Zwecken und Funktionen ist der hartnäckigste Grund, warum zwischen beidem häufig nicht unterschieden wird. Es besteht dann der Glaube, dass der mögliche Zweck, der einem anhand einer bereits wirklichen Funktion aufgeht, bereits in dieser enthalten sei oder umgekehrt der Glaube, dass die wirkliche Funktion, die man aufgrund einer Zweckvorstellung realisiert, ebenso im Zweck bereits enthalten gewesen sei. Funktionen sind wirkliche Relationen von Ursache und Wirkung, die erst durch denkendes, d.h. zweckgeleitetes Tun möglich waren. Die Unterschiede zwischen Zwecken und Funktionen lassen sich auch wie folgt ausdrücken: Ein Zweck ist ein denkmöglicher kausaler Zusammenhang von noch nicht Wahrnehmbarem. Eine Funktion ist ein kausaler Zusammenhang von bereits Wahrnehmbarem, der zuvor bloß möglich war.
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[…] sollte die Designtheorie als eine kritische Theorie reagieren und die historischen, gesellschaftlichen und begrifflichen Kontextualisierungen dessen vornehmen, was als die neue Signatur des Designs präsentiert wird.
Prof. Dr. phil. Anke Haarmann ist promovierte Philosophin, Künstlerin, manchmal Kuratorin und derzeit Professorin für Designtheorie und Designforschung am Department Design der HAW Hamburg, wo sie auch das Zentrum für Designforschung leitet.
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Design ist nicht mehr das, was es mal war. Im Zuge der informationellen Revolution haben sich das Selbstverständnis und die Aufgabenfelder sowie die Tätigkeitsformen des Designs verändert – so scheint es. Doch auf diese verbreitete Diagnose zu Aktualität des erweiterten Designbegriffs im Zeitalter der Informatisierung und Digitalisierung sollte die Designtheorie als eine kritische Theorie reagieren und die historischen, gesellschaftlichen und begrifflichen Kontextualisierungen dessen vornehmen, was als die neue Signatur des Designs präsentiert wird. Es stellt sich nämlich die Frage: Wie ist das, was wir zunehmend geneigt sind, erweitertes Design zu nennen, zu eben diesem geworden? Oder anders betrachtet: Wie kommt es, dass wir gegenwärtig am Design dessen Erweiterung entdecken? 05
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Da wir es hier mit einer genealogischen Fragestellung zu tun haben, beginnen wir mit einem kurzen wegweisenden Rückblick. Den meisten von uns sind die historischen Analysen bekannt, denen zufolge die Geschichte des Designs eng verwoben ist mit gesellschaftlichen, technischen, ökonomischen und kulturellen Transformationen. Das beginnt mit der Geburt des Designs im ausgehenden 19. Jahrhundert. Was damals noch Kunsthandwerk war, maßgefertigte Einzelstücke erzeugte und in zahlreichen Werkstätten und Ateliers als praktische Fertigkeit von Meisterinnen und Meistern von statten ging, wurde im Zuge der Industrialisierung zum Design. Mit der zunehmenden Massenproduktion von Waren und Kommunikationsmitteln traten die Grafik– und die Produktdesignerinnen und -designer auf die Bühne der Kulturgeschichte. Sie fertigten und formten dann keine kompletten Einzelstücke mehr, sondern gestalteten Blaupausen für Oberflächen oder Muster zur Vervielfältigung von Formen. Wir müssen an dieser Stelle nicht weiter auf die Geburt der Designprofession aus dem Zeitalter der Industrialisierung eingehen. Hier geht es vielmehr darum, den genealogischen Hinweis hervorzuheben, den die historische Entwicklung uns gibt: dass nämlich gesellschaftliche, ökonomische, technologische und kulturelle Veränderungen auch
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zu fundamentalen Veränderungen im Design führen. Oder man sollte besser sagen, dass veränderte gesellschaftliche, ökonomische, technologische und kulturelle Rahmenbedingungen auch zu Veränderungen im Feld dessen führen, was wir ab einem bestimmten Zeitpunkt begannen, Design zu nennen, oder auch bis vor kurzem noch gewohnt waren, als Design zu bezeichnen. Denn so, wie das Kunsthandwerk sich inmitten der industriellen Revolution zunächst noch als Kunsthandwerk verstand, bevor dieser Begriff von der neu auftretenden Designprofession ins historische Abseits gestellt wurde, so verstehen sich die industriellen Designerinnen und Designer möglicherweise auch gegenwärtig noch als wesentliche Akteure im Gestaltungsprozess – sind es aber vielleicht gar nicht mehr, weil die neuen informationellen Akteure und ihr erweiterter Designbegriff ins Zentrum der kulturgeschichtlichen Bühne gerückt sind – oder zumindest dabei sind, sich dort auszubreiten.
Der industriellen Revolution folgte nämlich – auch das wissen wir – eine informationelle Revolution und diese informationelle Revolution geht einher mit neuen Technologien, der Digitalisierung aller Lebensbereiche, der Individualisierung von Produktionsund Kommunikationsprozessen und der Vernetzung aller Akteure und Dinge. Was macht diese Transformation der gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen mit dem, was wir Design nennen oder gewohnt waren als Design zu verstehen? Don Norman, Direktor des Design Lab an der UC San Diego formuliert es 2010 folgendermaßen: »In the early days of industrial design, the work was primarily focused upon physical products. Today, however, designers work on organizational structure and social problems, on interaction, service, and experience design. Many problems involve complex social and political issues. As a result, designers have become applied behavioural scientists, but they are woefully undereducated for the task.«1 Die Aufgaben und Praktiken der Gestaltung haben sich verändert aber die Designerinnen und Designer – so Normans Sorge – sind möglicherweise die alten geblieben. Unterinformiert oder nicht angemessen ausgebildet sind sie angesichts der komplexen organisatorischen, strukturellen, sozialen und politischen Herausforderungen, mit denen sie zu tun haben,
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1 Don Norman: »Why Design Education must Change«, in: Core77, Nov. 26, 2010. 2 Joyce Yee, Emma Jefferies: Design: Transitions: Inspiring Stories. Global Viewpoints. How
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überfordert oder ins Abseits gedrängt. Die Designerinnen und Designer vom alten, industriellen Schlag sind nicht die »angewandten Wissenschaftler«, die sie im erweiterten Designfeld sein sollten. Auch in der Publikation »Design Transitions« von 2013 diagnostizieren die Autorinnen eine ganze Reihe neuer Designarten der Gegenwart. Man habe es zunehmend mit ›Interaction Design‹ ›Daten Design‹ ›Service Design‹ ›Partizipativem Design‹ ›Social Design‹ sowie der ›Designforschung‹ zu tun2. Die Londoner Gestalter Anthony Dunne und Fiona Raby bringen 2013 mit dem ›Speculative Design‹ einen neuen, als kritische Forschung verstandenen Design ansatz ins Gespräch3. Der Medien- und Designtheoretiker Carl DiSalvo proklamiert 2012 die Aktualität und Notwendigkeit eines ›Adversarial Design‹4, dessen Ziel die kontroverse Intervention in gesellschaftliche Problemfelder sei, und geht davon aus, dass es zum Charakteristikum des Designs gehöre, dass dessen Praxis generell die Profession erweitere. »Anytime a deliberate and directed approach is taken to the intervention and making of products or services to shape the environment through the manipulation of materials and experiences, this is design.«5 Eine Fülle neuer Designverständnisse und Designformen scheint sich ausgebildet zu haben. Design ist anders geworden – umfassender. Oder anders formuliert, die Gegenstandsbereiche und Aufgaben haben sich erweitert. Die Designerinnen und Designer der Gegenwart gestalten nicht mehr nur Muster, Formen und Produkte, sondern Datenflüsse, Unternehmensstrukturen, humane Selbstverhältnisse, Kommunikationsplattformen, soziale Prozesse sowie politische Kontroversen und erforschen darüberhinaus mit den Mitteln ihrer spekulativen Expertise und Intelligenz die gestaltete Welt. Wir haben es angesichts der Informatisierung und Digitalisierung der Gegenwart mit einem transformierten Designverständnis zu tun sowie mit neuen Arbeitsweisen und veränderten Tätigkeitsfelder. Design hat sich möglicherweise überlebt als Gestaltung von Blaupausen für Oberflächen und Mustern zur Vervielfältigung von Formen. Design ist zu einer Fundamentalaktivität geworden, welche die informationell gewordene Welt der Gegenwart materiell und imaginär, sozial und politisch organisiert, provoziert und untersucht. 05
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Design is Changing, 2013. 3 Anthony Dunne, Fiona Raby: Speculative Everything. Design, Fiction, and Social Dreaming, Cambridge MA 2013. 4 Carl DiSalvo: Adversarial Design,
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Das klingt vielversprechend. Aber wir fragen uns zweierlei: Findet all das Neue eventuell unter anderem Namen schon jenseits des Designfeldes statt – so wie die Produkt- und Grafikdesignerinnen seinerzeit die Kunsthandwerker nicht transformiert, sondern als Nischenakteure historisch hinter sich zurückgelassen haben? Wo also etablieren sich die informationellen Akteure? Eine gleichsam ethnologische Suche nach dem neuen, noch unerkannten ›tribe der digital nerds‹ müsste hier beginnen. Oder – und das wäre die andere, die designtheoretische Frageperspektive – ist die Diagnose vom erweiterten Designfeld in ihrer radikalen Novität gar nicht zutreffend und das Design war eigentlich schon immer erweitert, ohne dass wir es bisher bemerkt haben oder bemerken konnten, weil die erweiterten Rahmenbedingungen fehlten? Eine aktuelle Philosophie des Designs kann sich hier als eine kritische Theorie begreifen, das heißt als aufmerksam-reflektierendes Verfahren verstehen, das historische, gesellschaftliche und begriffliche Kontextualisierungen dessen vornimmt, was gegenwärtig mitunter allzu selbstverständlich und schnell als die neue Erweiterung des Designs angenommen wird. Haben wir es tatsächlich mit einem neuen Designverständnis und erweiterten Designbegriff zu tun oder vielleicht mit einer Sichtbarwerdung inhärenter Designqualitäten? Verändert sich das Design mit den neuen gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen fundamental oder kehren wir Facetten dessen hervor, was sich in traditionellen Verständnissen vom Design schon finden lässt? Haben wir es mit einem neuen Designfeld und erweiterten Designbegriff zu tun oder einem aktuellen Hervortreten genuin designerischer Charakteristika, welche im Zuge der informationellen und digitalisierten Gegenwart erst offenbar werden?
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Daseinsdesign »Design is what we do to shape the world around us« diagnostizieren die britischen Autoren der erwähnten Publikation »Design Transitions«. Design sei jene Tätigkeit, welche die ganze Welt forme. Hat Design dies immer schon getan oder beginnt es das erst mit der informationellen Revolution in vollem Umfang zu tun, weil D-e-sign und D-a-sein gleichermaßen informationell geworden sind? In »Design Transitions« behaupten die Verfasser den erweiterten Charakter des Designs als Grundzug der Gestaltung und 35
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beschreiben zugleich die Besonderheit eines erweiterten Designs als spezifische Signatur der Gegenwart. Design wird gleichermaßen als Fundamentalaktivität verstanden: zeitlos allgemein und zeitgenössisch neu. Wie kommen historische Kontinuität und aktuelle Modifikation zusammen? Wie kann beides gemeinsam gedacht werden? Ist Design seit je schon erweitert weltgestaltend oder aktuell dabei dazu erst zu werden?
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Der us-amerikanische Sozialwissenschaftler Herbert Simon bestimmt schon 1969 das Design als eine Fundamentalaktivität, die generell weltverändernd wirkt: »Everyone designs who devises courses of action aimed at changing existing situations into preferred ones.«6 Jedes Handeln, das verändern will, sei Design. Ewas spezifischer auf menschliche Bedürfnisse ausgerichtet aber nicht weniger grundsätzlich erklärt auch der Designtheoretiker Richard Buchanan 2001, »Design is the human power of conceiving, planning, and making products that serve human beings in the accomplishment of any individual or collective purpose.«7 Gegenüber diesen Bestimmungen des Designs als je schon umfassender humaner Kraft, die weltgestaltend wirkt und nicht nur oberflächlich figuriert, behauptet der französische Theoretiker Bruno Latour in seinem Aufsatz »Ein vorsichtiger Prometheus – Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs«8, dass sich der Gehalt des Begriffs vom Design tatsächlich erst in den letzten Jahrzenten verändert habe. Latour verfolgt die These, dass sich vor dem Hintergrund der jüngsten informationellen Veränderungen des Wissens und des Verstehens von Welt das Design zu einer weltgestaltenden Kraft erweitert habe. Es wurde von einer Vokabel, die das Gestalten der Oberfläche in der industriellen Produktion bezeichnete, zu einem Fundamentalbegriff des Gestaltens von Dasein. Denn erst, so Latour Überlegung, mit dem Fortschreiten von Informationstechnologie und Biowissenschaft würden tatsächlich alle Bereiche des Daseins – die Natur und der Geist, humane und nicht-humane Akteure sowie deren Beziehung– zum Gegenstand der Gestaltung. Entsprechend denken wir die Natur oder die Rationalität nicht 10
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Cambridge MA 2012. 5 Ebd. S. 16. 6 Herbert Simon: The Sciences of the Artificial, Cambridge MA 1996, S. 111 (Erstveröffentlichung 1969). 7 Richard Buchanan: »Design and the New Rhetoric: Productive Arts in the Philosophy of Culture«, in: Philosophy and Rhetoric 34 (3), S. 119. 8 Vgl. Latour Bruno: »Ein Vorsichtiger Prometheus. Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk«,
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mehr als etwas Gegebenes und wir trennen nicht mehr zwischen dem Stabilen und dem Veränderlichen, zwischen der Form und der Substanz, dem Inhalt und dem Vehikel der Kommunikation, der Materie und der Oberfläche. In unserem aktuellen Verständnis von dem, was Dasein ausmache, fusionieren die Körper und die Codes. Wir situieren das Dasein selber in einem Netzwerk von aktiven informationellen, veränderlichen, gestaltbaren Bezügen. Das, so Latour, war nicht immer so. Weil wir aber eben jüngst nicht mehr trennen zwischen substantieller Materie und der akzidenteller Oberfläche, zwischen gegebener Natur und künstlicher Kultur, meinen wir, in der Lesart des französischen Theoretikers, mit dem Begriff des Designs inzwischen die Gestaltung der Materie, der Natur, der Körper als informationeller Wesen, der Information als substantieller Materie. Wir gestalten nicht mehr nur Plakate, um der vorhandenen Information eine Form zu geben, oder Kleidung, um die Physis zu verschönern, sondern wir gestalten die ganze Natur als Kultur, weil diese Natur als informationell und damit als re-designbar erkannt wurde. Der Körper eine Mode der Natur, die Informationen eine Substanz. Die Physis ist in-Formation gebracht. »Da-sein wird zum Design« so Latours Topos – oder umgekehrt – Design macht Dasein. Das Gestalten avanciert zur welterschaffenden, informationsgenerierenden, materieerzeugenden Kraft der Realität. Man könnte auch genauer formulieren: Es ist das neue Verständnis vom Begriff des Designs im Verhältnis zum Begriff des Daseins, das dazu führt, dass dem Design diese Dimension zugetraut wird. Der Resonanzraum dessen, was wir meinen, wenn wir vom Design sprechen, hat sich erweitert und in diesem erweiterten Verständnis vom Designbegriff halten sich jene sozialen, technologischen, wissenschaftlichen oder kommunikativen Dimensionen auf, die dann mit den neuen Bezeichnungen des ›Interaction Design‹ ›Daten Design‹ oder ›Service Design‹ nun auch eigens angesprochen werden. Design ist daseinsgestaltend geworden und daher ist Design – aktuell verstanden – notwendig auch daten- und damit weltbildend und welterforschend. Hat sich nun also – im Sinne Latours – der Begriff vom Design und damit das Verständnis vom Design verändert, weil sich die Welt geändert hat? Oder hat sich – ganz im Sinne von Simon – das Design als das gezeigt, was es als verändernde Handlung immer schon war?
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Die Klugheit der Begriffsgeschichte Die Baseler Designtheoretikerin Claudia Mareis bietet eine Begriffsgeschichte des Designs an, die das Spektakel des Neuen am erweiterten Designbegriff kontextualisieren hilft: Nach ihren Recherchen9, wird der Begriff Design zum ersten Mal 1885 im Oxford English Dictionary aufgeführt und dort als ein Plan oder eine Zeichnung bestimmt, die erzeugt wird, um das Aussehen oder die Funktion von etwas zu zeigen, was gebaut werden soll, dann zweitens als der Akt des Erzeugens dieses Plans, darüber hinaus drittens als die Absicht, die hinter der Planung liegt, und schließlich viertens als dekoratives Muster. Wir haben es beim Design im englischsprachigen Raum im ausgehenden 19. Jahrhundert also mit einer strategisch absichtsvollen Aktivität des Planens und Zeichnens zu tun – weswegen im übrigen der Essayist Vilém Flusser provokativ davon schreibt, dass ein Designer »ein hinterlistiger, Fallen stellender Verschwörer«10 sei – eben einer, der das Gegebene nicht einfach hinnimmt, sondern mit Plan und artistischer Raffinesse die Welt so gestaltet, dass deren natürlich vorkommende Formen und Gesetze transformiert, überwunden – eben ausgetrickst werden. Das Design verändert den Naturzustand. Es ist im englischsprachigen Raum – auch weniger provokativ ausgedrückt – eine strategisch planvolle und dabei produktive Aktivität, ein instrumentelles Tun und darüberhinaus auch das Produkt dieser Aktivität und schließlich dessen Musterhaftigkeit. Mit diesem englischsprachigen semantischen Feld hält sich das Design tatsächlich schon im Bereich der Welterzeugung und Veränderung auf. Im deutschen etymologischen Wörterbuch wird Design – durchaus etwas anders – als ein Entwurf oder eine Gestalt bzw. ein Aussehen bestimmt und rückgeführt auf das französische dessein und italienische disegno, die ihrerseits vom lateinischen designare abgeleitet wurden, welches wiederum das Beabsichtigen aber auch das Bezeichnen bedeutet. Wir können mithin im deutschen Sprachkontext einen Bedeutungsraum von Design konstatieren, der auf die humane Absicht eines gestaltenden Tuns abhebt, aber darüber hinaus auch stark auf den Zeichencharakter des Designs verweist. Das deutschsprachige 05
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in: Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, hrsg. v. Marc Jongen, Sjoerd van Tuinen u. Koenraad Hemelsoe, München 2009, S. 356 – 373. 9 Vgl. Claudia Mareis: Design als Wissenskultur, Bielefeld 2011, insbesondere S. 24ff. 10 Vilém Flusser: »Vom Wort Design«, in: Design Report. Mitteilungen über den Stand der Dinge, Nr. 15 Dez. 1990 (zitiert nach: Flusser: Vom Stand der Dinge, Göttingen 1993), S. 9.
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Begriffsfeld betont mithin nicht den materieformenden, sondern einen ästhetisch aussagenden Charakter des Designs. Was wir hier aus der Begriffsgeschichte ablesen können, sind unterschiedliche Konnotationen ein und desselben Begriffs, der einmal mehr das absichtsvoll planende Entwerfen einer Sache bedeutet, auf der anderen Seite aber den kommunikativen Zeichencharakter des Gestalteten meint. In beiden Fällen ist Design sowohl das Tun wie auch das Ergebnis dieses Tuns als eine Gestalt. Interessant wird es nun, wenn man sich klar macht, dass zumindest die aktuelle deutschsprachige Interpretation des Designbegriff auf beiden Bedeutungsräumen beruht. Sie ist der semantische Effekt der Übernahme des englischen Begriffs Designs in den deutschen Sprachraum der Gestaltung, wodurch sich begriffsgeschichtliche zwei kulturelle Traditionen überlagerten: Das englische Design als absichtsvolles Planen trifft historisch gesehen auf einen deutschen Begriff der Gestaltung, der sich weniger technisch-konstruktiv im Vorstellungsraum der Entwickler und Ingenieure aufhält, wie beim Englischen, als vielmehr ästhetisch-formal am Kunsthandwerk und dessen Ornamentik orientiert ist. Planungslogik trifft Oberflächenstyling. Techne stößt auf ars. Während das deutsche Gestalten eine eher künstlerische symbolgenerierende Aktivität meinte, signifiziert das englische Design eine Tätigkeit, die Dinge und damit Umwelt plant und erzeugt (und es ist dieses erzeugende Verständnis von Design, das auch die erwähnten, ins Fundamentale tendierenden Designbestimmungen aus dem angelsächsische Raum imprägniert). Im heutigen, fusionierten, ›kontinentalen‹ Begriff des Designs aber klingen beide Dimensionen zusammen: die Designqualität der planvollen Umwelterzeugung und die Designebene der symbolischen Gestaltformung. Beide semantische Felder verschränken sich zu jener aktuellen Dimension des erweiterten Designbegriffs als einer Aktivität der informationellen Welterzeugung – angeregt durch eine aktuelle Welt, die tatsächlich in ihrer Substanz zeichenhaft artifiziell geworden ist, weil technologisch lanciert. 05
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Während sich also schon in den 1960er Jahren auf der Ebene der Semantik (noch unbemerkt) welterzeugende Technik und symbolische Ästhetik durch die Übernahme des englischen Designbegriffs
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in den deutschen Sprachraum treffen, trifft diese Designbegriffsfusion im 21. Jahrhundert auf eine Gegenwart, in der durch die informationelle Revolution auch auf der Ebene des Realen welterzeugende Technologie und symbolische Ästhetik fusionieren. Seit den 1960er Jahren haben sich – zumindest im deutschen Sprachraum – aber im Designbegriff schon jene beiden Momente versammelt – das Moment der ästhetischen Gestaltung und das Moment der Welterzeugung – die jetzt im Zeitalter der Technologisierung und Digitalisierung zusammenkommen. Indem wir gestalterisch Artefakte in Form bringen, gestalten wir nunmehr auch Welt. Es eignet sich offenbar insbesondere der vielbedeutsame, zeichenhaftphysische Begriff vom Design, um auf dieses neue, informationelle Verständnis von Welt zu reagieren. Im Begriff und damit im kulturellen Verständnis von Design sind schon Artifizielles und Substantielles aufgehoben. Design wäre also eigentlich schon seit der Fusion des deutschen mit dem englischen Designbegriff im Sinne des Daten Designs oder Interaction Designs kommunikations- und datengenerierend und dabei auch weltbildend. Wir müssen uns gewissermaßen nur daran erinnern, dass es diese Verschränkung der Konnotationen in der Geschichte des Begriffs schon gibt. Das Zeichenhafte und das Produktive liegen beide in der semantischen Natur der Gestaltung. Das Informationszeitalter als aktueller Horizont des Designs belichtet diesen Zweiklang neu. Neben dieser semantischen Aufschlüsselung des Designbegriffs hilft nun auch eine praxeologische Betrachtung, sich das erweiterte Designfeld vor allem als eine Präzisierung des Designverständnisses klar zu machen. Das gestalterische Tun ist ein genuin politisch-partizipatives und die Erweiterung des Designbegriffs ins Social Design, Adversial Design oder Service Design möglicherweise eine Wieder entdeckung einiger praxischer Grundeigenschaften der Gestaltung.
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Versammelnde Praktiken Aufmerksame Analysen des gestalterischen Tuns legen den – vielleicht im Zuge der Industrialisierung zwischenzeitlich verdrängten – generell partizipativen, sozialen und politischen Grundzug der Gestaltung als ein versammelndes Verfahren nahe: Der schwedische Designtheoretiker Pelle Ehn hat in seinem wegweisenden Text über »Participation in Design Things«11 herausgearbeitet, dass es keinen Sinn macht, den Prozess der Gestaltung als etwas zu 35
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verstehen, wo tätige Subjekte bloß passive Objekte formen. Design prozesse sind Aktivitäten, die sich zwischen den Gestaltern, den Nutzern und den Dingen der Gestaltung abspielen und im Zuge derer sich alle Beteiligte verändern und beteiligen. Design ist für Ehn nicht die intentionale Formung eines Objekts, sondern die Auseinandersetzung zwischen den Objekten, den Gestalterinnen und Gestaltern sowie den Nutzenden der Dinge der Gestaltung. Im Grund gestalten also Designer nicht etwas, sondern sie begeben sich in einen Prozess, in dessen Folge sie selber, die Dinge der Gestaltung und die Nutzenden gestaltet werden. In diesem Verständnis von Design als einem Aushandlungsprozess zwischen Sachen, Subjekten und Sachverhalten ist die Gestaltung immer schon partizipativ sowohl hinsichtlich der Nutzenden, wie auch der Dingwelt. Insbesondere mit Blick auf die Dinge der Gestaltung hält Ehn fest, dass diese – wie er es nennt – »Anlässe zu Überlegungen und Möglichkeiten zu Erfahrungen«12 seien, also je schon human imprägnierte »Grenzobjekte« (boundary objects) und mithin in ihrem Wesen partizipativ, wie auch die Gestalterinnen und Gestalter sich durch den Designprozess und die gestalteten Grenzobjekte im partizipativen Austausch mit der sozialen Welt befinden. Auch hier kehrt – aus der Perspektive Ehns gedacht – das neue Vokabular etwa des erweiterten partizipativen oder sozialen Designs gewissermaßen eine grundsätzliche Designrealität hervor und betont mittels der neuen Praktiken eine substantielle Einsicht. ›Social Design‹ provoziert vor diesem Hintergrund, als Programm, die Sichtbarmachung der fundamentalen Verwicklung von Dingen und Akteure und deren vergesellschaftender Dimension. Wir haben es beim erweiterten Designbegriff offenbar mit einer besonderen Betonung des Verständnisses als Selbstverständnis zu tun: Was am Design grundsätzlich verstanden werden kann, wird im informationellen Zeitalter besonders sichtbar, drängt sich als neues Selbstverständnis des Designs in den Vordergrund und positioniert sich als Erweiterung. Die erweiterten Designfelder belichten und betonen genuine Charakteristika der Gestaltung neu und eben diese Verschränkung eines neuen Designfeldes mit einer Grundbestimmung des Designs lässt sich auch bei DiSalvo an seinem Tops des politisch gemeinten
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11 Pelle Ehn: »Participation in Design Things«, in: Proceedings of Participatory design Confe-
rence, Bloomington, Indiana, 2008 bzw. in deutscher Übersetzung vorliegend in: Wer
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›Adversarial Design‹ beobachten: »Adversarial Design is a kind of cultural production that does the work of agonism through the conceptualization and making of products and services and our experiences with them.«13 Das so von DiSalvo neu benannte »Adversarial Design« provoziert durch Gestaltung Kontroversen, um die verwickelte Widersprüchlichkeit des Sozialen zu provozieren und damit spürbar und diskutabel zu machen. Oder in den Worten DiSalvos: »Through designerly means and forms, adversarial design evokes and engages political issues.«14 Zugleich entspringt diese Erweiterung des traditionellen Designfeldes bei DiSalvo ins Politische eben den beiden Einsichten, dass die Designpraxis generell normativ sei und grundsätzlich Ideen oder Ansichten sichtbar mache. Der Grundzug des Normativen durch die unvermeidbare Hervorkehrung von Inhalten, die in der Designpraxis artikuliert sind, macht die Akzentuierung und damit Hervorkehrung dieser genuin ethisch-politischen Dimension des Designs im dann ausdrücklich so benannten Adversarial Design dringlich, so die Position DiSalvos. Die politisch konnotierte, neu und provokativ ins Feld geführte kontroverse Designform ist für ihn ein Grundzug der Gestaltung und zugleich oder deswegen eine neue Designaktivität als eine als aktualisierte Sichtbarmachung gestalterischer Grundcharakteristika. Dabei wird auch im Falle des Adversarial Design dessen Positionierung gerade in der technologisierten und informatisierten Gegenwart notwendig. DiSalvo exemplifiziert entsprechend das kontroverse Design nicht zufällig anhand digitaler und interaktiver Designprodukte, sondern weil die Technologieentwicklung verwickelt mit der Designentwicklung verläuft, vor allem aber auch, weil das Politische sich im Zeitalter der Digitalisierung und Informatisierung in interaktiven und digitalen Formaten artikuliert und realisiert. Die Normativität des Digitalen, verwirklicht in der impliziten Positionierung von Inhalten, Wissenstypen und Weltinterpretationen aller aktueller Kommunikationsmedien korrespondiert mit dem Grundzug des Designs als einer normativen, Inhalte artikulierenden Praxis. Anders formuliert: Das digitale Zeitalter kehrt das Politische im Design hervor, weil das Politische Gegenstand der Informatisierung geworden ist und damit originärer Gegenstand der Gestaltung. Die Erweiterung des
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gestaltet die Gestaltung, hhrsg. v. Matthias Held, Gesche Joost u. Claudia Mareis, Bielefeld 2013. 12 Ebd. S. 80 13 DiSalvo: Adversarial Design, a.a.O., S. 2. 14 Ebd.
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Designbegriffs ins agonistisch-politische oder sozial-partizipative stellt sich als historische naheliegende Wiederentdeckung design erischer Charakteristika heraus. Gestaltende Forschung Schließlich können wir noch einen designtheoretischen Blick auf das vielleicht irritierendste Feld neuer Designtypen werfen: Neben dem Data Design oder Interaktion Design, die im informationellen Verständnis die neue technologisierte Welt gestalten, sowie dem partizipativen, kontroversen und sozialen Design, die den Designprozess als Kollaboration oder Konfrontation mit den humanen und nicht-humanen Akteuren herauskehrt, haben wir es gegenwärtig auch mit dem neuen Anspruch zu tun, dass das Design mittels der Gestaltung forschen würde. Und auch hier wird es darum gehen, nachzufragen, inwiefern es sich bei der Designforschung um ein Phänomen handeln könnte, dessen Neuheit vielleicht darin besteht, dass gewisse bekannte Verfahren im Design aktuell neu ernst genommen und damit hervorgekehrt werden. Auch Designforschung ist vermutlich nicht die Neuerfindung des Designs, sondern die Neu-Belichtung eines Aspekts des Gestaltens – nämlich dem Aspekt der gestalterischen Praxis als eines – spekulativ-epistemischen Verfahrens: einer Wissen generierenden und Zukunft entwerfenden Tätigkeit.
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Die Begriffsgeschichte von Mareis oder der Designbegriff von Ehn haben es schon betont: Design kann ganz wesentlich als eine Tätigkeit angesehen werden. Auch wenn ein Produkt das Ziel ist, geht es im Design um dieses Tun, dieses Ausprobieren, dieses Entwickeln und nicht nur um das Produkt. Es geht um Verfahren, Strategien, Handlungsweisen und Umgangsformen und damit um eine Praxis der Gestaltung im Entwurf. Diese Praxis des Entwerfens, die im Dazwischen von Menschen und Dingen stattfindet, kann für das Forschen fruchtbar gemacht werden. Indem wir gestalten, treten wir explorativ wirkend ins humane und nicht-humane Gewebe ein – wir nehmen gewissermaßen formend Tuchfühlung auf. Das tut das Design immer schon. Mit dem jungen Bereich der Designforschung wird nun betont, dass diese formende Tuchfühlung auch ein Prozess des Verstehens der humanen und nichthumanen Welt sein kann – eine epistemische Praxis. Denn, wie das
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Gestalten eine Tätigkeit ist, ist auch das Forschen ganz wesentlich eine Tätigkeit – ein Tun mit der Intention im Modus der erkennenden Erfahrung etwas herauszufinden. Forschung und Design treffen sich auf dem Feld der Tätigkeiten. Als ein zentrales Feld der Design forschung können wir also wahrnehmen, dass bestimmte Aspekte des Designs als forschende Praxis bedacht werden. Mit der Designforschung als Aufgabenfeld beginnen wir, diese forschende Dimension in der Praxis der Gestaltung ernst zu nehmen.
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Natürlich nehmen wir mit der geschärften Aufmerksamkeit für die epistemischen Praktiken nicht einfach nur als Forschung ernst, was das Design in der Gestaltung eigentlich immer schon getan hat, sondern wir speisen damit das Design als Forschungspraxis ein und zwar in ein, dem Design bisher fremdes System. Indem wir es forschen lassen oder den explorativen Anteil am Gestaltungsprozess ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, fordern wir das Design heraus, sich in diesem ihm bisher fremden System der Forschung mit dessen spezifischen Anforderungen zu behaupten. Hier erweitert sich das Design tatsächlich in ein ihm unbekanntes Terrain. Aber – und das ist der entscheidende Punkt – mit dem Forschen tut das Design nicht etwas anderes, als es immer schon getan hat – es gestaltet, und darin besteht der forschende Aspekt des Designs, auch wenn in der Designforschung diese forschende Gestaltung dann gerahmt wird von Methodik und Theorie. Zugleich – und das ist vielleicht ein tatsächlich neuer Aspekt für die Forschung, nicht so sehr für das Design – kommt mit dem Entwurfscharakter der forschenden Praxis im Design eine tatsächliche Erweiterung ins Spiel. Das schon erwähnte Londoner Design-Duo Dunne und Raby schlägt den Begriff des »Speculative Design« vor, um eine kritische, produktive und darin spezifisch designerische Forschungsstrategie hervorzukehren. Mit dem spekulativen Design wird eine Gestaltungspraxis angesprochen, die aktuelle gesellschaftliche, technologische, ökonomische oder politische Tendenzen bis in deren mögliche Zukunftsszenarios hinein antizipiert und wahrscheinliche Produkte für diese mögliche Zukunft gestaltet. Der projektive Gestaltungsakt untersucht dabei im Entwurfsprozess die Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit und damit Plausibilität der zukünftigen wie der aktuellen Realität. Zugleich werden durch die zuspitzende Radikalisierung von möglichen aktuellen Entwicklun-
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gen diese für einen provokativen Diskussionsprozess zugänglich gemacht. Speculative Design ist kritische Designforschung, die das Forschen als Verwirklichungsprozess auf Probe versteht. Dieser prospektive, nicht retrospektive Ansatz ist tatsächlich neu für die Forschung. Aber wurde die erweiterte Designstrategie des spekulativen Designs tatsächlich etabliert, um die Forschung herauszufordern? Oder gesellen sich spekulative Designtendenzen zu sozialen, interaktivem, organisatorischen oder partizipativen im Zuge der verbreiteten Vorstellung von einem erweiterten Designbegriff? Es bleibt also abschließend noch die Frage, wieso wir ausgerechnet jetzt beginnen, das Design in dieser seiner gestaltend forschenden Dimension zu erkennen und ernst zu nehmen? Hier können wir uns aber an die Ausgangsdiagnose erinnern, dass nämlich angesichts neuer Technologien, veränderter Arbeitsweisen, individualisierter Produktionsverhältnisse oder an Nutzer ausgelagerter Gestaltungsaktivitäten – also angesichts veränderter gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Rahmenbedingungen, wo wir die Welt nicht mehr als materiell gegebene Natur, sondern als technonatürlich lanciertes Dasein wahrnehmen, bestimmte Qualitäten der Gestaltung an Kontur gewinnen – gleichsam ins neue Licht der Aufmerksamkeit rücken. Die Designerinnen und Designer der Gegenwart gestalten nunmehr also auch Datenflüsse, Unternehmensstrukturen, humane Selbstverständnisse, Kommunikationsplattformen, soziale Prozesse sowie Konflikte und erforschen dabei die so gestaltete Welt, weil es zum Feld der Gestaltung gehört, mittels der designerischen Praxis in spekulativ-forschende und interagierende Kollaboration mit dem humanen und nicht-humanen Umfeld zu treten und dabei auch Welt zu erkennen, indem wir sie erzeugen – darauf hat uns nämlich die sich verändernde Welt erst richtig aufmerksam gemacht und um dies zu betonen, positionieren sich die erweiterten Designpraktiken als Sichtbarmachung übersehener Charakteristika und Qualitäten der Gestaltung.
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Die entwerfende Praxis der Entwurfsdisziplinen bringt etwas zur Erscheinung, und die deutende Praxis der Philosophie fragt nach dem, was zur Erscheinung kommt oder zur Erscheinung gebracht wird.
Clemens Bellut ist Philosoph, Gründer und Leiter des gemeinnützigen Instituts der »artes liberales – universitas« in Heidelberg und vormals zusammen mit Ruedi Baur und Stefanie-Vera Baur-Kockot Leiter des Instituts für Designforschung »Design2context« an der Zürcher Hochschule der Künste (ZhdK).
Philosophisches Deuten und entwerfendes Gestalten Ein Versuch mit Paul Valérys »Eupalinos«-Dialog Clemens Belut
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Die Entdecker- und Erkundungsfahrten zu Lande, zu Wasser und später in der Luft und im Weltraum verschoben allenthalben die Reichweite der »gemachten« Welten in die terra incognita der »gegebenen« Natur. »Die Natur ist gestaltet, die Elemente sind getrennt; aber irgend etwas mutet ihm [hier: dem Baumeister] zu, dieses Werk für unvollendet zu halten«.1 Frei nach Klopstocks Ode »Der Zürchersee«: »Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht / Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, / Das den großen Gedanken / Deiner Schöpfung noch Einmal [besser] denkt.«2 Aber kompensatorisch zur späten Melancholie über die schwindenden »weißen Flecken« auf der Landkarte der Entdecker und Pioniere traten die Schrecken auf über den Eigensinn der ›gemachten‹ Welten, die sich nun ihrerseits sozusagen als eine »terra incognita« zweiter Ordnung entpuppten.3
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Die alte Natur erstaunt, wenn sie aus der Tiefe der grauen Vorzeit auf die neuen Geburten emporschaut, die in ihrem Schoße entstanden sind – Daß der Mensch, von ihr gezeugt, in ihre Eingeweide herabstieg und das Eisen hervorgrub, womit er sie zu einer neuen Geburt beschwängerte; daß aus den Wäldern und Steinbrüchen Städte mit Palästen und Türmen sich erhuben, Schiffe auf dem Rücken des Meeres emporstiegen; der aufgerißnen Erde der Samen eingestreut und volle Ernten aus ihrem Schoße hervorgezwängt wurden; daß der zersägte Eichenstamm sich zum Stuhle krümmte und zum Tische erhub […]. Das mächtige Schloß verwahrt und schützt Eigentum und hat Gemeinschaft und Absondrung in des Menschen Willkür gesetzt. […] Aber ach, die Schärfe des Eisens wendet sich – die Geister der gefällten Eichenstämme seufzen durch die
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1 Paul Valéry: Eupalinos oder Der Architekt. Frankfurt am Main 1991, S. 116. (Eupalinos ou
l'Architect, 1927; von Rainer Maria Rilke 1927 ins Deutsche übertragen.) 2 Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke. München 1962, S. 53. 3 Karl Philipp Moritz:
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Lüfte und verkündigen Unheil über das Menschengeschlecht – […] Feuerschlünde eröffnen sich – die Bombe kracht – Schwerter wühlen in menschlichen Eingeweiden – Ketten klirren laut – Despoten lachen, Sklaven heulen –
Der ›Moloch‹ der neuen Stadtwelten, die undurchschaubaren Komplexitäten von Großgesellschaften, die Unbeherrschbarkeiten technischer Unzuverlässigkeiten, ohnehin schon längst die Bedrohlichkeiten der Kriege: In jeder Hinsicht traten, als nahezu alle unbekannten Landstriche und Meere befahren waren, die Kehrseiten des Schöpferaufrufs »Machet euch die Erde untertan!« hervor, denn die ›untertänige‹ Erde, d.h. die ›gemachten‹ Welten treten in saturnalischer Verkehrung hervor als unabschließbare Weiten und Tiefen, als »plus ultra!« der forschenden curiositas.
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Es durchziehen schon viel länger und heute auf neue Weise lösende Erwartungen einer endlichen terra cognita durch die verschiedenen Zeiten: jene Erwartungen, die »reine« Natur von der »rohen« scheiden zu können (z.B. bei Friedrich Schiller: »Über naive und sentimentalische Dichtung«), das ›Grobstoffliche‹ ins ›Feinstoffliche‹ zu erheben – überhaupt die Ära der vier Elemente, die aus der paradiesischen prima materia sozusagen vertrieben worden waren, zu transformieren in die alleinige, von Trägheit und Schwere befreite Quintessenz, die alchymistische quinta essentia. Die heutige Wirklichkeit der ›Feinstofflichkeit‹ und der quinta essentia tritt unter dem Namen des ›Digitalen‹ auf, unter welchem Namen neue ›gemachte‹ Welten geschaffen werden, die tatsächlich von aller Materialität absehen und andererseits jedes beliebige Materialattribut programmierbar machen können. Seitdem nun die ›gemachten‹ Welten tendenziell alle »weißen Flecken« auf den Landkarten eingenommen hatten, traten an die Seite der bisherigen Naturphilosophie, Metaphysik, Theologie und Naturwissenschaften die neuen Wissenschaften der Sozial- und Kulturwissenschaften. Und seitdem dieses Gemachtsein seinerseits zur beunruhigenden terra incognita geworden war, traten und treten heute Vergewisserungsanstrengungen auf, die unter den noch halb ungewohnten reflexiven Disziplinen der Designphilosophie und Designforschung geführt werden.
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Wenn es sich denn tatsächlich so verhält, daß der Inbegriff unseres Weltverhältnisses mehr und mehr die Sphäre des Gemachten ist, wenn das ›Gemachte‹ immer zugleich auch noch, in zweiter Ordnung, das Nicht-Gekannte, das Nicht-Gedachte und das NichtBegriffliche ist, dann – spätestens dann – treten die Erscheinungsweisen des Gemachten, des Machens, des Entwerfens, des Gestaltens und des Designs in den Fokus der philosophischen Art, Fragen zu stellen und die Erscheinungsweisen ›der Welt‹ nicht für selbstverständlich nehmen zu können. 05
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Das ›Gemachte‹ tritt aus dem Entwerfen hervor und nimmt darin eine immer wieder aufs Neue unbegriffene Gestalt an. Das jeweils unbegreiflich Gewordene des ›Gemachten‹ stellt die neuen Herausforderungen an das philosophische Fragen des Deutens. So treffen das Entwerfen und Deuten als die zwei Seiten derselben ›gemachten‹ Wirklichkeit unerwartet aufeinander – und insofern auch Design und Philosophie. Für dieses Aufeinandertreffen hat Paul Valéry im ›sokratischen‹ Dialog »Eupalinos oder Der Architekt« die subtilste und ergiebigste Konstellation geschaffen.
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Dort unterhalten sich Sokrates und sein Freund Phaidros in der Unterwelt über den antiken Architekten Eupalinos. Sokrates erzählt von einem »armselige[n] Gegenstand, ein gewisses Ding, das ich fand im Herumwandern«, das ihm die Überlegung aufrichtet, daß diese Begegnung in seiner Jugendzeit »mich ebensogut zu dem Philosophen machen [konnte], der ich war, wie zu dem Künstler, der ich nicht gewesen bin« (82). Das wurde zum »Ursprung eines Gedankens, der sich von selbst spaltete in Bauen und Erkennen« (»construire et connaître«):
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Ich habe eines dieser Dinge gefunden, die das Meer ausgeworfen hat; eine weiße Sache von der reinsten Weiße; geglättet, hat, zart und leicht. […] Wer hat dich gemacht, dachte ich. Du erinnerst an nichts, gleichwohl bist du nicht gestaltlos. (83)
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Alle Überlegungen, die er nun erzählt, daß er sie damals angestellt habe, geben ihm alle möglichen Hypothesen an die Hand, wie der Gegenstand hat entstehen oder gemacht werden könne, woher er hat kommen können und wozu er hat dienen sollen:
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Vielleicht war das ein Knochenstück von einem Fisch […] Vielleicht ein Stück Elfenbein zugeschliffen für einen unbekannten Gebrauch [… oder] war es die Arbeit eines lebenden Körpers [… aber ] vielleicht handelte es sich nur um die Frucht einer unendlichen Zeit [… durch] die ewige Arbeit der Wellen des Meeres« (85 f.).
Diese einander ablösenden Hypothesen, obwohl oder vielmehr weil sie zu nichts führen – »Ich fragte es aus, ohne mich bei einer Antwort aufzuhalten« (87) –, führen in Sokrates’ Erzählung gegenüber Phaidros, ohne zu benennen, ohne Begriffe zu bilden und ohne methodisch analytische Untersuchungen, die nach Allgemeinem und Besonderem unterscheiden, auf eine vergegenwärtigte Deutlichkeit einer Sache, die darin nichts anderes als seine wie umschmeichelnd verfahrende Deutung findet, eine Deutung, die gewissermaßen aus einer tendenziell unabschließbaren Häufung von tangentialen Berührungen hervorgeht und bei nichts anderem als dem Einzelnen bleibt, ohne es unter ein Allgemeines zu subsumieren und dadurch zu bestimmen. Sokrates und Phaidros unterscheiden im weiteren Gespräch einerseits zwischen dem Verhältnis des sokratischen Philosophen zu einer ›Sache‹ und demjenigen des Handwerkers – und man möchte hinzufügen: des Begriffswerkers – andererseits. Dazu bringt Sokrates das grundsätzliche Unterscheidungsmerkmal auf, mit dem Paul Valéry ihm diejenige Best immung in den Mund legt, die auf die Ausgangsfrage antwortet, was ihn, den Sokrates dieses Dialogs, zum Philosophen statt zum Architekten gemacht habe. Denn: »Der Mensch […] schafft durch Abstraktion; einen großen Teil der Eigenschaften dessen, was er verwendet, kennt er nicht oder vergißt es.«
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Der Handwerker ist überhaupt nicht fähig, sein Werk zu schaffen, ohne irgendeine Ordnung zu verletzen oder zu zerstören, durch eben die Kräfte, die er an den Stoff wendet, um ihn für die Idee, der er folgt, geeignet zu machen und nützlich für den Gebrauch, den er beabsichtigt. (92)
Was aber Sokrates selbst getan hat, als er staunend die weiße Sache aus dem Meer aufgegriffen und mit untersuchenden Sinnen
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und umkreisenden, unabschließbaren Hypothesen vor dem ab schließenden Begriff der Muschel geschützt hat, war die ›unverletzte‹ und ›unzerstörte‹ Bewahrung »einer Wahrheit, die zu zart ist, um die Strenge eines langen Verhörs auszuhalten« (88). Dieses ›unverletzt‹ bewahrende Verhältnis nennen wir hier Deuten im Gegensatz zum Entwerfen. So tritt die zentrale Unterscheidung zwischen dem praktischen Menschsein und der Praxis des Philosophen auf den Plan: Der Mensch bedarf nicht der ganzen Natur, sondern nur eines Teils von ihr. Philosoph heißt derjenige, der sich eine ausgedehntere Idee macht und Anspruch erhebt, alles zu brauchen. Aber der Mensch, der nur leben will, hat weder Eisen noch Erz ›an sich‹ nötig; ihm genügt eine bestimmte Härte und eine bestimmte Formbarkeit. (94)
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Sokrates’ Haltung dem ›Gegebenen‹ gegenüber geht gewissermaßen ›aufs Ganze‹, gerade durch eine Untersuchungsart, die es ›unverletzt‹ und ›unzerstört‹ beläßt. Der gestische Ausdruck dieser Haltung folgt der ganzen Erzählung auf den Fuß: »Und dann auf einmal warf ich es [dieses »eigentümliche Ding«] zurück ins Meer.« (87) Die reale restitutio, die den einzigen Eingriff in das ›Gegebene‹, die Herausnahme der »weißen Sache« aus seinem Herkommen, aus dem Meer, wieder zurücknimmt, bleibt nicht folgenlos. Sie führt zu einer neugewonnenen Bestimmtheit und Entschlossenheit der eigentlichen und leibhaftigen philosophischen Wendung desjenigen, der diese Begegnung erlebt hat und sie nun in der Unterwelt Phaidros erzählt: 20
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[…] so blieb ich eine gewisse Zeit auf demselben Platz […]; dann auf einmal setzte ich mich in Bewegung und ging sehr schnell landeinwärts wie einer, dessen Gedanken, nachdem sie lange nach allen Seiten hin und her getrieben worden waren, anfangen sich zurechtzufinden; wenn sie sich dann in einer einzigen Idee zusammenfinden, bringen sie zugleich für seinen Körper den Entschluss einer bestimmten Bewegung und einer entschlossenen Haltung mit sich.« (89)
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Es ist deutlich – und das ist wesentlich für die Konzeption der sokratischen Erzählung – keine »Entscheidung«, die ihn zum Philosophen hat werden lassen.4 Es ist überhaupt etwas, von dem sich nur in der Praxis des Erzählens Kunde geben läßt, weil es sich nicht auf vorgefaßte Begriffe, Ableitungen, Bestimmungen, Urteile und Schlußfolgerungen bringen läßt und alle seine Eigenart vielmehr in dem findet, was John Keats auf so bezeichnende Weise die »negative capability« genannt hat.5 Es handelt sich sozusagen um eine umgekehrte Abstraktion, gewissermaßen um die Abstraktion von derjenigen Praxis des Abstrahierens, die nach der Art des Bestimmens verfährt und Einzelmerkmale unter Allgemeinbegriffe subsumiert. Indem Paul Valéry für die Ausgangsfrage, warum sein in Dingen der Baukunst so kenntnisreiche Sokrates Philosoph und nicht vielmehr Architekt geworden sei, ihn in den Modus des Erzählens bringt – »einer [nach Hans Blumenberg] der schönsten Stücke Prosa, die ich kenne«6 –, offenbart er ›das Philosophische‹ in einer schier plastischen Präsenz: in der leibhaftigen »Haltung« der geklärten ›Entschlossenheit‹, die nicht aus einer abwägenden und abgerungenen Ent-Scheidung folgt, sondern schlackenlos als Ereignis aus dem Erzählten hervortritt. Die Erzählung ist keine Akkommodation an eine etwa beschränkte begriffliche Auffassungsgabe des Dialogpartners Phaidros. Die »Eule der Minerva«, die nach Hegels berüchtigtem Diktum »ihren Flug« ja »erst mit der einbrechenden Dämmerung« beginne, kommt doch, jedenfalls bei Valérys Sokrates, eben nicht zu spät, um den neugewonnenen anderen Blick, der die »weiße Sache« ›unverletzt‹ und ›unzerstört‹ läßt, davonzutragen.
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Phaidros ist begierig darauf, eine Beschreibung dieses Gegenstands zu erhalten, aber gerade die Möglichkeit einer Schilderung würde im Widerspruch stehen zu der Potentialität dieses Gegenstandes, in der allein seine Bedeutung lag. [Hans Blumenberg: a.a.O.]
Die durch jene »negative capability« allem Bekanntsein der Muschel abgewonnene Unbekanntheit der »weißen Sache« expliziert eine Art
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Andreas Hartkopf. Eine Allegorie, Berlin 1786, S. 105. 4 Siehe dagegen: Mai Wagner: »savoir – faire bei Lacan und Valéry«. In: anderes wissen, hrsg. v. Kathrin Busch, Paderborn 2016, S. 81: »Sokrates [wird] zu dem Moment zurückgeführt, an dem die Entscheidung, die ihn zum Philosoph hat werden lassen, noch nicht gefallen war.« 5 The Complete Poeti-
cal Works of John Keats, hrsg. v. Horace Elisha Scudder, Boston 1899, S. 277. – Ein
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der Neugier, die nicht dem sonst allgemeinen Prinzip folgt: »wir besitzen vor allem die Antwort, wissend, daß sie uns sicher ist, vernachlässigen wir, die Frage zu stellen« (Valéry: »Eupalinos«, S. 89) – oder nach dem pointierten Ausdruck von Walter Boehlich: »Die Antwort ist das Unglück der Frage«.7
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Die »Eule der Minerva«, die dem Fragestellen nicht durchs Antwortgeben voraus will, sondern ihren Flug erst mit der »Dämmerung« beginnt und der »weißen Sache« ohne ›Verletzung‹ und ›Zerstörung‹ begegnet, hat aber mit dem neugewonnenen anderen Blick gleichwohl ohne Zudringlichkeit selbst eine Veränderung im Gefolge – jedenfalls wie Valéry von Sokrates die veränderte Haltung der ›Entschlossenheit‹ erzählen läßt. Die Welt ist nicht mehr die gleiche. Eine Veränderung, die derjenigen ähnelt, die Ludwig Wittgenstein der Realisierung des Vexierbilds zuspricht in dem Moment, wo sich dem Blick unwillkürlich eine andere, zweite Lesart des Bildes eröffnet: »Wer in einer Figur (1) nach einer anderen Figur (2) sucht, und sie dann findet, der sieht (1) damit auf neue Weise.«8 Mit der Folgerung: »Deuten ist ein Denken, ein Handeln« (248). 10
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Wenn wir Sokrates’ Haltung der »weißen Sache« gegenüber als die philosophische Praxis der Deutung ansehen, dann genau in diesem Sinne. Aller oft nahegelegten Kritik, daß die Philosophen die Welt nicht bloß interpretieren, sondern verändern sollten, zum Trotz erscheint hier das gleichwohl aktive Moment, das der philosophischen Praxis der Deutung eigen ist, mit dem Selbstanspruch, »die eigene Deutungspraxis als Form einer ›Inventionskunst‹, des Entwerfens, des Machens einer Welt zu akzeptieren.«9 Die restitutio des objet ambigu hinterlässt für Valérys Sokrates eine erzählerisch vergegenwärtigte, leibhaftige Änderung der Welt. Und diese Änderung – dazu sollte schließlich die ganze Erzählung
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Hinweis, den ich aus anderen Zusammenhängen Gerhard Poppenberg danke. 6 Hans Blumenberg: »Sokrates und das ›objet ambigu‹. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstands«, in: ders.: Ästhetische und metaphorolo-
gische Schriften , Frankfurt a. M. 2017, S. 89. 7 Siehe unter dem gleichen Titel die Auswahlsammlung des Literaturkritikers und Übersetzers, herausgegeben von Helmut Peitsch und Helen Thein-Peitsch: Frankfurt a. M. 2011. 8 Ludwig Wittgenstein: Philo-
sophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1967, S. 233. 9 Susanna Lüdermann und Thomas Vesting, dort auf die Deutungspraxis der Jurisprudenz, der Philologie und der Psychoanalyse bezogen: »Einleitung. Vom Geheiß der Deutung. Eine Bestandsaufnahme«. In: Was heisst Deutung? Hrsg. v. Susanna Lüdermann u. Thomas Vesting, Paderborn 2017, S. 35.
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dienen – spricht sich darin aus, daß Sokrates Philosoph und nicht Architekt geworden ist. Und der Umgang mit der »weißen Sache« entpuppt sich darin als Sokrates’ absichtslos, d.h. unwillkürlich erfahrene philosophische Urszene. Entworfen ist damit keine in strumentelle, also ›verletzende‹ oder ›zerstörende‹ Manipulation an der Muschel, sondern eine philosophisch genannte Praxis, eine Haltung und Handlung, die, wo sie aufgerufen wird und sich aktualisiert, nichts so beläßt, wie es nach sonst mitgebrachten Begriffen und Selbstverständlichkeiten scheint.
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Eine solche deutende Praxis der Philosophie als Entwerfen angesehen unterscheidet sich fundamental von dem Entwerfen, das die Designer und Designtheoretiker nach Gui Bonsiepe und Tomás Maldonado in den sogenannten »Entwurfsdisziplinen« am Werke sehen – also z.B. Design, Architektur, Ingenieurswissenschaften usw. Florian Arnold markiert den Unterschied in seiner »Logik des Entwerfens«10 als die geradewegs disjunktive Entgegensetzung von Urteilskraft und Einbildungskraft, die beide, die philosophische und die entwerfende Praxis, enger miteinander »verzahnt [sind] als mit allen anderen Disziplinen«:
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Wie die spezifische Einbildungskraft des Designs (Übergang von Gedanke zu Gestalt) nicht ohne Urteilskraft auszukommen vermag, so auch die spezifische Urteilskraft der Philosophie (Übergang von Gestalt zu Gedanke) letztendlich nicht ohne Einbildungskraft. (23)
Man könnte zugespitzt paraphrasieren: Die entwerfende Praxis der Entwurfsdisziplinen bringt etwas zur Erscheinung, und die deutende Praxis der Philosophie fragt nach dem, was zur Erscheinung kommt oder zur Erscheinung gebracht wird. Seitdem die ›gemachte‹ Welt sich selbst in ihrem Gemachtwerden immer wieder aufs Neue als potenziell eigensinnige terra incognita, als ›gegebene‹ Welt zweiter Ordnung erweist, treffen beide, Philosophie und Entwurfsdisziplinen, immer wieder im entgegengesetzten Blick an den-
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10 Florian Arnold: Logik des Entwerfens. Eine designphilosophische Grundlegung, Paderborn 2018. – Mit dieser weit ausholenden Untersuchung wird Arnold dem titelgebenden Grundlegungs-Anspruch tatsächlich so weit gerecht, daß auf eine vorgängig nicht realisierte Weise eine neue Basis geschaffen ist, um das Design als philosophische Herausforderung ernstzunehmen.
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selben ›Sachen‹ aufeinander – auch wenn diese gewordene Symmetrie sich bis heute noch, nach Ausweis einschlägiger HochschulVeranstaltungsverzeichnisse und Lehrstuhlwidmungen, asymmetrisch verhält im wechselseitigen Miteinander-Beschäftigtsein. Aber die »Eule der Minerva«, wenn aus ihrem späteren Flug kein verspäteter werden soll, wird auf die Höhe ihrer Zeit kommen: Sie wird die Erscheinungen einer Welt, die sich im gestaltenden Zugriff der Entwurfsdisziplinen in unablässiger grundsätzlicher Erneuerung zeigt, ihre philosophische Frage danach, was sich jeweils auf neue Weise zeigt, ebenso unablässig neu stellen. Emanuele Coccia hat in seiner ungewöhnlichen philosophischen Schrift »Die Wurzeln der Welt«11 das atmosphärische und insofern unablässig bewegliche, veränderliche und ungreifbare Element der Pflanzenwelt in Analogie gebracht zum Philosophischen, unter der Überschrift »Wie eine Atmosphäre«: Das Aufkommen der Philosophie darf man nicht als historisches Ereignis verstehen, das ein für alle Mal stattgefunden hat. Die Philosophie ist weniger eine an ihren Gegenstand, der Methode oder an räumlich oder zeitl ich universell einheitlichen Fragen und Zielen erkennbare Disziplin, sondern eine Art atmosphärische Verfasstheit, die ganz plötzlich aufkommen kann – überall und jederzeit. (149)
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Im Gegensatz zum gestaltenden Zu- und Eingriff der Entwurfsdisziplinen aber verhält sich die deutende Praxis der Philosophie den Ausgeburten jenes Eingriffs gegenüber wie zu der »weißen Sache«, die sie bis zur restitutio beläßt, »ohne irgendeine Ordnung zu verletzen oder zu zerstören«. Denn sie ist nicht damit befaßt, sie zu instrumentellen Zwecken wie der Baumeister und Architekt zu manipulieren, sondern mit der Erfahrung einer anderen Art der Veränderung, mit der Erfahrung der ›Entschlossenheit‹, »wenn sie [die Gedanken] sich dann in einer einzigen Idee zusammenfinden, bringen sie zugleich für seinen Körper den Entschluß einer bestimmten Bewegung und einer entschlossenen Haltung mit sich« (Eupalinos, 89). 30
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11 Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen, München 2018 (treffender im französischen Original: La vie des plantes. Une métaphysique du mélange, Paris 2016).
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So wie die philosophische Praxis der Deutung insofern zugleich auch das Moment des Entwerfens in sich trägt, so eben umgekehrt auch die gestaltende Praxis des Entwerfens das Moment der Deutung, weil das Entwerfen mit dem Eingriff in das Vorfindliche zugleich eine Neudeutung realisiert.
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In einer anderen bemerkenswerten Schrift (»Das Gute in den Dingen« – im italienischen Original: »Il bene nelle cose«) folgt Emanuele Coccia seiner selbst aufgestellten Aufforderung: 10
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Versucht nur einmal für einen Moment, das Urteilen auszusetzen, schaut euch um, betrachtet die Mauern der Stadt. Ihr werdet entdecken, dass das Verhältnis von Waren und Mauern kein zufälliges ist und dass es sehr viel tiefer reicht, als man denken könnte.12
Eine Aufforderung, die alle ideologiekritischen Einübungen spätestens seit Horkheimers und Adornos Aufsatz in ihrer »Dialektik der Aufklärung« über die »Kulturindustrie« zu unterlaufen scheint, weil sie es zur Aufgabe macht, nicht bei den instrumentellen und manipulativen Motiven der Werbung und des Designs stehenzubleiben, die sich an dem gesellschaftskritischen Leitfaden des cui bono entlang bestimmen lassen. Denn hinter den jeweiligen Einzelmotiven ihrer Auftraggeber, der Geschäftsinteressen und der Personen- und Gruppenorientierungen vollziehe sich unter dem Blick dieser Aufforderung noch einmal eine ganz andere Wirklichkeit dieser ubiquitären Präsenz von Design und Werbung:
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Die Werbung ist ein riesiges Experiment des kollektiven, gegenwärtigen, moralischen Vorstellungsvermögens, und zwar das zugleich umfangreichste, durchdringendste und sichtbarste. Es ist eine immense ikonische und konzeptuelle Reflexion der Welt und ihrer Elemente und damit zugleich des menschlichen Glücks, seiner Formen und Möglichkeiten. (11)
12 Emanuele Coccia: Das Gute in den Dingen. Berlin 2017, S. 10. 13 Bruno Latour: Elend der
Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich / Berlin 2007. 14 Bruno Latour: Jubilieren. Über religiöse Rede, Frankfurt a. M. 2011. 15 Eupalinos: S. 94.
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Das muß man nicht als Lehre des erklärten Einverständnisses oder der gesellschaftstheoretischen Resignation oder Affirmation nehmen. Es ist eher im Geiste von Bruno Latours »Elend der Kritik« geschrieben.13 Denn das, was an der »Kritik« ins »Elend« führen kann, besteht in dem von Boehnisch bereits angeführten »Unglück der Frage« (Boehnisch), das Valérys Sokrates als den Vorgriff der Antwort auf die allererst zu stellende Frage diagnostiziert: »wir besitzen vor allem die Antwort, wissend, daß sie uns sicher ist, vernachlässigen wir, die Frage zu stellen« (89).
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Wenn Kritik zu einem sich immer bereits selbst gewissen Vorauswissen verfällt, das seine urteilenden Kriterien auf die Bestätigung des Vorausw issens hin anlegt, dann ist es umgekehrt die Kritik, die dem Verdikt der Affirmation – der sie sich doch allemal programmatisch entgegenstellen will – und der paradoxen Bestätigung ›der Verhältnisse‹ verfällt. Neben der genannten kleinen Schrift »Elend der Kritik« von Bruno Latour steht auf ähnliche Weise die Schrift »Jubilieren«,14 die beide als Versuche einer intellektuellen Selbstkritik angesehen werden können im Angesicht einer über Jahrzehnte habitualisierten ›kritischen‹ Praxis, gegen die sich heute der begriffslose Aggressionsstau als Kampf gegen die vermeintlich »linksgrün versiffte« Vorherrschaft entlädt. 15
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So deuten sich womöglich bemerkenswerte Beziehungen an zwischen dem emphatischen philosophischen Selbstverständnis, das Paul Valéry, in Folge der restitutio, an der unverhofft erfahrenen »Entschlossenheit« seines Sokrates expliziert, und den unorthodoxen Versuchen der genannten Schriften von Bruno Latour und Emanuele Coccia. Ihr Verbindendes wäre etwa mit der »negative capability« (John Keats) anzusprechen, die in dieser Hinsicht der Praxis des Entwerfens und Gestaltens wie kompensatorisch gegenübertritt und dem verändernden Eingreifen gegenüber die andere Praxis des Deutens vorstellt, die sich aus der anders gearteten Veränderung von Sokrates’ unwillkürlich erfahrenen »Entschlossenheit« versteht. Die »negative capability« übt eine Abstraktion ein, die absieht von den instrumentellen Nutzbarkeiten besonderer Eigenschaften der Dinge, deren sich das entwerfende Gestalten bedient, und damit ihrerseits abstrahiert von dem Eigencharakter der Dinge und »sich befriedigen kann mit einem Teil des Wissens«.15 25
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Mit dieser Dekonstruktion erlangt das Gestalten die Kapazität des zielstrebigen Eingreifens in die Welt, das alles ›Gemachte‹ immer wieder neu als Vorwurf neuer Formbarkeiten aufnimmt. Die philosophische Urszene, die Paul Valéry seinen Sokrates erzählen läßt, entwickelt sich solchermaßen zu einer vollständigen disjunctio zwischen dem philosophischen Deuten und dem entwerfenden Gestalten. Diese disjunctio ist dann jedenfalls auch der Hintergrund, vor dem das philosophische Deuten und das entwerfende Gestalten einander zugleich so fremd und so verwandt sind und so unausweichlich aufeinander verwiesen sind – was zu entdecken und zu praktizieren beidem aber, wenn der noch vorherrschende Eindruck nicht trügt, weiter erst noch anzutragen zu bleiben scheint.
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Design ist nicht einfach Planung oder Entwurf, sondern vielmehr ein Geschehen.
Prof. Dr. phil. Hyun Kang Kim lehrt Designphilosophie und Ästhetik an der Peter Behrens School of Arts der Hochschule Düsseldorf. Studium der Germanistik und Philosophie an der Yonsei-Universität in Seoul, der Universität Düsseldorf und der Universität Bonn. Promotion 2004 in Germanistik an der Universität Bonn, Habilitation 2014 in Philosophie an der Universität Bonn. 2006 – 2015 Lehrtätigkeit am Institut für Philosophie der Universität Bonn. Publikationen zur Ästhetik, Philosophie der Moderne, Gegenwartsphilosophie, Medienphilosophie und Designtheorie.
Design ist unterwegs. Design als dialektischer Prozess von Gestaltung und Entstaltung Hyun Kang Kim
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Design lässt sich als offener Gestaltungsprozess auffassen,1 in dem die strikte Trennung zwischen Subjekt und Objekt aufgelöst wird. Design ist nicht einfach Planung oder Entwurf, sondern vielmehr ein Geschehen. Design ist keine Umsetzung eines Plans, keine Einbahnstraße von A nach B. Design ist stets im Wandel begriffen. Design ist unterwegs. Design ist immer dazwischen. Design findet statt. Design ist eine Praxis, die mit dem Geschehen zusammenfällt. Sein Ergebnis enthält daher mehr als die ursprüngliche Absicht. Denn es ist nicht die Verwirklichung der gegebenen Möglichkeit. Im Design geschieht durchaus Unbeabsichtigtes oder Unvorhersehbares. Denn kreatives Design kommt durch Experimente zustande. Für ein Experiment ist zwar eine durchdachte Versuchsanordnung vonnöten. Es lässt sich aber dennoch niemals exakt vorhersehen, was daraus entstehen wird. Es gibt daher immer einen unerklärlichen Rest im gelungenen Design. Für das Design ist nicht nur die Gestaltung, sondern auch die »Entstaltung«2 essentiell. Entstaltung ist die Phantasie, die der Gestaltung vorausgeht und daher in einem konstitutiven Zusammenhang mit der Gestaltung steht. Design lässt sich daher als ein dialektischer Prozess von Gestaltung und Entstaltung verstehen. Gestaltung bedeutet die Konstruktion einer neuen Gestalt durch die kreative Behandlung des Materials. Konstruktion setzt jedoch stets Destruktion voraus.3 Denn eine schöpferische Handlung verlangt einen leeren Platz, an dem Neues entstehen kann. Die vorliegende Studie geht diesem unentbehrlichen Zusammenhang zwischen Konstruktion und Destruktion, Gestaltung und Entstaltung im Design nach. Ihre zentrale These lautet: Design ist ein »entstaltendes Geschehen«,4 das durch die Dialektik von Gestaltung und Entstaltung zustande kommt. Dabei spielt die Phantasie als Kraft der Entstaltung eine grundlegendere Rolle als die Einbildungskraft.
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1 In seiner Monografie zum Design betont auch Daniel Martin Feige den »prozessualen Charakter des Entwerfens und Gestaltens«. Entwerfen und Gestalten können demzufolge »nach dem Vorbild einer improvisatorischen Logik« begriffen werden. Daniel Martin Feige: Design. Eine
philosophische Analyse, Berlin 2018, S. 157f. 2 Entstaltung ist ein Begriff, der Walter Benjamin in seiner Schrift über die Phantasie verwendet. Siehe Walter Benjamin: Gesammelte
Schriften (=GS. VI, Frankfurt a.M. 1980, S. 114. 3 Ebd., IV, S. 587. 4 Ebd., III,
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Die vorliegende Studie untersucht zunächst das Verhältnis zwischen Gestalt, Gestaltung und Entstaltung. Dabei wird v.a. der prozessuale Charakter der Gestaltung hervorgehoben. Danach wird in Anlehnung an Walter Benjamin die Bedeutung der Phantasie als Kraft der Entstaltung untersucht. Im Anschluss wird der Gegensatz von Gestaltung und Entstaltung in einen Zusammenhang gebracht zum Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Phantasie. Des Weiteren wird die eminente Bedeutung der Leere in TaoTe-King für das Design thematisiert. Die Studie schließt mit einer prospektiven Betrachtung über die Gestaltung der Zukunft ab.
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Gestalt, Gestaltung und Entstaltung Eine authentische Gestalt lässt sich nicht als eine statische Form, sondern als dialektischer Prozess von Gestaltung und Entstaltung erkennen. Die Konzeption der Gestaltung basiert auf einem triadischen Modell, das aus Gestalt, Gestaltung und Entstaltung besteht. Gestalt ist demnach das Gestaltete, Gestaltung die gestaltgebende Kraft und Entstaltung die gestaltzerstörende Kraft. Gestalt entspricht folglich dem Gesetzten, Gestaltung der setzenden Macht und Entstaltung der entsetzenden Macht. Gestalt, Gestaltung und Entstaltung bedeuten daher jeweils Gesetztes, Setzung und »Entsetzung«.5 Gestalt ist nicht die Verwirklichung einer fertigen Idee. Sie ist vielmehr ein Produkt vom immanenten Prozess der Gestaltung und Entstaltung. Daher ist sie nicht als eine Entität, sondern als ein intrinsisch Prozessuales zu verstehen. Eine prozessuale Zeitlichkeit wohnt ihr inne: Sie ist daher nicht statisch, sondern dynamisch. Sie ist im permanenten Werden. Sie ist eine »festgelegte Bewegung« und wird »aufgenommen in der Bewegung«.6 Deshalb ist sie kein bloß räumlicher, sondern ein zeitlicher Begriff. Da »Bewegung […] allem Werden zugrunde [liegt]«,7 ist die Ruhe in einer Gestalt nur eine »zufällige Hemmung der Materie«.8 Gestalt ist ein Gestaltetes im Prozess der Gestaltung und Entstaltung. Sie ist mit diesem Prozess konstitutiv verbunden dergestalt, dass sie selbst prozessual und unabgeschlossen ist. Dieser dialektische Prozess
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S. 416. 5 Ebd., II, S. 202. Benjamin verwendet den Begriff der Entsetzung in seinem Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt«. Demnach bedeutet die Entsetzung die Vernichtung der setzenden Gewalt. 6 Paul Klee: »Schöpferische Konfession«, in: ders.: Kunst-Lehre. Aufsätze,
Vorträge, Rezensionen und Beiträge zur bildnerischen Formlehre, Leipzig 1987, S. 60 – 66, hier S. 63. Klee, der die Gestaltungslehre des Bauhauses geprägt hat, fasst die Gestalt
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ist letztlich die Zeit: die Zeit als Prozess der permanenten Transformation. Gestalt ist daher ein in der prozessualen Zeit Gewordenes, während die Zeit die konstitutive Rolle für den Prozess selbst spielt. Warum sind denn in diesem Prozess Gestaltung und Entstaltung untrennbar miteinander verbunden? Weil es kein Außen des Prozesses gibt. Entstehen und Vergehen, Gestaltung und Entstaltung gehören daher streng zusammen. Entstaltung ist das Andere der Gestaltung in diesem dialektischen Prozess selbst und nicht dessen Außen. Sie ist das konstitutive Moment für die Gestaltung innerhalb dieses Prozesses. Sie ist die negative Bedingung der Möglichkeit der Gestaltung, während Gestaltung die positive Bedingung der Möglichkeit der Gestalt ist. Mit anderen Worten: Gestaltung ist die konstruktive Kraft im dialektischen Prozess, während Entstaltung die destruktive Kraft darstellt. Entstaltung kommt aber nicht erst nach der Gestaltung, um die bestehende Gestalt zu zerstören. Sie geht vielmehr der Gestaltung voraus. Sie eröffnet erst den Raum der Gestaltung, indem sie den Platz für die neue Gestaltung freimacht. Denn sie sieht überall in den ausgeformten Gestalten Lücken. Die Welt in ihrer ausgeformten Gestalt kann für sie nicht die einzige aller möglichen Welten sein. Denn für sie ist der Schöpfungsprozess noch nicht abgeschlossen. Sie erkennt daher in jeder Gestalt ihre grundlegende Kontingenz: ihr Anders-sein-Können im permanenten Prozess der Gestaltung und Entstaltung. Gestalt bezeichnet in der abendländischen Philosophie Idee (idea) bzw. Form (morphē ).9 Gestalt im dialektischen Prozess der Gestaltung und Entstaltung zu begreifen bedeutet, sie von der Idee und Form zu trennen. Sie ist daher nicht mehr erkennbar, definierbar oder identifizierbar. Folglich ist sie nicht mehr von der Herrschaft der Bedeutung und des Diskurses bestimmt. Sie entsteht vielmehr an der Schnittstelle zwischen Sinn und Nicht-Sinn. Gestalt ist ein strukturelles Moment im dynamischen Gestaltungsprozess. Gestaltung als gestaltende, formierende Kraft geht der Gestalt voraus. Entstaltung als deformierende Kraft wiederum geht der Gestaltung voraus.
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als Einheit von Ruhe und Bewegung auf. 7 Ebd., S. 62. 8 Ebd., S. 63. 9 Zum Begriff der Gestalt und der Entstaltung siehe Hyun Kang Kim: »Die Politik der Entstaltung bei Benjamin«, in: Weimarer Beiträge, 61. Jahrgang, 3 / 2015, S. 342 – 363, hier S. 343ff.
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Da Gestalt mit dem Prozess der Gestaltung und Entstaltung untrennbar verbunden ist, ist sie nicht das Gegenteil vom Gestaltlosen. Das Gestaltlose ist vielmehr als Potenz der Gestalt in dieser immanent. Es ist der Grund der Gestalt, ohne den diese gar nicht in Erscheinung treten kann. Es ist der Malgrund, Gestalt hingegen ist das Bild. Es ist daher nicht die Negation oder die Abwesenheit der Gestalt, sondern deren Bedingung. Es ist jedoch kein metaphysischer oder logischer Grund. Denn es ist ebenso wie Gestalt dem Prozess der Gestaltung und Entstaltung immanent. Während jedoch Gestalt ein durch den Prozess Gewordenes ist, ist das Gestaltlose das Werden selbst, das die gestaltende und die entstaltende Kraft in sich vereinigt. Es bezeichnet daher den dialektischen Prozess von Gestaltung und Entstaltung selbst. Gestalt lässt sich keineswegs als statische Form verstehen, da sie in einem konstitutiven Zusammenhang mit dem Gestaltlosen steht. Sie ist vielmehr ein momentaner Einschnitt im permanenten Prozess des Wandels. Denn das Gestaltlose setzt sie unablässig in Beziehung zum Unabgeschlossenen. Gestalt ist daher keine Substanz, die mit sich selbst identisch ist, sondern vielmehr ein Subjekt, das permanent dem Wandel unterworfen ist. Sie ist selbst unabgeschlossen und daher für die zukünftige Transformation offen. Dieser Begriff der Gestaltung als dialektischer Prozess liegt im Zentrum der vorliegenden Überlegung zum Design. Design lässt sich demnach nicht als Gestaltung einer abgeschlossenen Form verstehen, sondern als Gestaltungsprozess, in dem das Geschehen im Mittelpunkt steht. Das Geschehen findet stets zwischen Subjekt und Objekt statt. Im Geschehen sind daher beide ununterscheidbar miteinander verwoben. Design ist ein Transformationsprozess, in dem der Gestalter, das Gestaltete und der Anwender in eine wechselseitige Beziehung treten. Je mehr Dinge eine konstitutive Rolle im Gestaltungsprozess spielen, desto mehr treten sie als aktive Teilnehmer im Gestaltungsprozess auf. Und je mehr der Anwender eine konstitutive Rolle im Gestaltungsprozess spielt, desto geringer wird der Unterschied zwischen ihm und dem Gestalter. Die Aufgabe des Gestalters liegt daher nicht einfach in der Gestaltung der fertigen Formen, sondern vielmehr in der Gestaltung des Transformationsprozesses. Dadurch erweitert sich sein Aufgabenbereich um die Gesellschaft und die Geschichte. Design verpflichtet sich nicht nur der Gestalt, sondern auch der Geschichte.
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Phantasie als Entstaltung Die Entstaltung bedeutet nicht einfach die Zerstörung und die Entstellung der Gestalt, sondern vielmehr die Kraft, die die Gestalt erst entstehen lässt. Die »Entstaltung des Gestalteten«10 ist Benjamin zufolge die Phantasie. Phantasie ist beweglich, fluid und instabil. Sie hat keine bestimmte Form, d.h. sie ist an sich gestaltlos, lässt aber gerade dadurch alle Gestalten entstehen. Unbestimmt und freischwebend macht sie die Gestaltung erst möglich. Sie ist stets im Werden, sie ist von der machtvollen Prozessualität nicht zu trennen, in welcher alles permanent entsteht und vergeht. In ihr ist daher nichts fest, dauerhaft und abgeschlossen. Sie führt letztlich zur Ablösung aller Formen und Bedeutungen. Sie ist deshalb die Basis jeder Kreativität, die stets mit neuen Formen und Bedeutungen experimentiert. Das Ergebnis dieses Experiments ist kein vollendetes Werk, sondern eine Gestalt als Dialektik von Gestaltung und Entstaltung. Der fluide Zustand der Phantasie bietet die Basis künstlerischer Kreativität. Was der Phantasie fehlt ist der Bezug zur begrifflichen Schärfe. Phantasie ist unbestimmt und beweglich und geht daher über die Begrifflichkeit und die Erkennbarkeit hinaus. Darum bezieht sie sich letztlich auf die Sphäre jenseits der Begrifflichkeit. In der Phantasie ist der Entwurf noch nicht fixiert, er ist in einem flüssigen Zustand von Möglichkeiten. Mit seiner Konzeption der Phantasie als »Entstaltung des Gestalteten« knüpft Benjamin an die Frühromantik an, die die Phantasie mit einem fluiden Zustand assoziiert hat. Im fluiden Zustand der Phantasie löst sich die sub stantielle Form zur relationalen Prozessualität auf. Das Bestimmte verwandelt sich daher in das Unbestimmte und die Wirklichkeit transformiert sich in die Möglichkeit, eine neue Wirklichkeit zu gestalten. Benjamin zufolge treibt die Phantasie um die Gestalten »ein auflösendes Spiel«.11 Die Phantasie ist die Kraft, die entstaltet, aber wo sie entstaltet, zerstört sie dennoch niemals.12 Vielmehr löst die Gestalt sich selbst in der Phantasie auf.13 Die Entstaltung hat nicht so sehr mit der Zerstörung, sondern mit dem Übergang zum anderen Zustand zu tun.14 Der Übergang findet nicht einmalig, sondern permanent statt. Die Permanenz der Übergänge ist die Vergängnis. Daher zeigt die Entstaltung »die Welt in unendlicher Auflösung 05
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begriffen, das heißt aber: in ewiger Vergängnis«.15 Benjamin folgt hier Jean Paul, der geschrieben hat: »Vor der Phantasie stehen nie bleibende, nur werdende Gestalten; sie schaut ein ewiges Entstehen, folglich ein ewiges Vergehen an.«16 Die Phantasie ist für Benjamin »der Sinn für werdende Entstaltung« und »kennt nur stetig wechselnden Übergang«.17 »Der Sinn für werdende Entstaltung« ist jedoch nicht einem aktiven, gestaltenden Vermögen gleichzusetzen. Im Gegenteil: Er ist »unkonst ruktiv, rein entstaltend – oder (vom Subjekt aus gesehen) rein negativ«.18 Die Entstaltung ist dennoch »notwendiger Weise grundlegend«19 und geht daher dem Gestalteten voraus. Benjamins Begriff der Phantasie, die stark von der Frühromantik geprägt ist, distanziert sich vom Kantischen Begriff der Einbildungskraft, die das aktive synthetische Vermögen des Geistes bezeichnet. Die Gestaltung ist die aktiv konstruierende Einbildungskraft, die Entstaltung hingegen ist die »Phantasieanschauung«,20 die im »Reich des Wandels«21 beheimatet ist. Die Entstaltung ist eine prozessuale Verwandlung, eine Formauflösung und -entstellung. In ihr sind daher Form und Bewegung eins. »In der Entstaltung [gehen] Formen […] ineinander über, entgrenzen sich gegeneinander, es bilden sich neue Affinitäten und Ähnlichkeiten«.22 Eine Gestalt entsteht im Prozess dieser Herausbildung neuer Konstellationen. Gestalt ist letztlich ein »entstaltendes Geschehen«.23 Sie ist ein mit der Bewegung vereinigtes Bild, eine Dialektik von Bild und Bewegung. Phantasie ist eine produktive Kraft. Sie ist die Kraft, die die Wirklichkeit auflöst und eine andere erscheinen lässt. Die phantasievolle Entstaltung ist die Kraft der Verwandlung, die das Abgeschlossene ins Unabgeschlossene, das Gestaltete ins Gestaltlose zurückführt. Friedrich Schlegel zufolge treibt die Phantasie »das Endliche ins Unendliche hinaus, wobey alles Gesetzliche aufhört«.24 Für Benjamin verkörpert die Dichtkunst der Romantik die freie Phantasie, welche »die Bewegung der Auflösung aller Erscheinungen ins Unendliche, in das absolut Freie und Religiöse« ist.25
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14 Die Entstaltung führt niemals »in den Tod, sondern verewigt den Untergang, den sie heraufführt, in einer unendlichen Folge von Übergängen«. Ebd. 15 Ebd. 16 Jean Paul: »Leben des Quintus Fixlein«, in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Norbert Miller, Abt. I, Bd. 4, München/Wien 1962, S. 200. 17 Benjamin: GS VI, S. 116, S. 117. 18 Ebd., S. 115. 19 Ebd. 20 Benjamin: GS III, S. 416. 21 Ebd., S. 417. 22 Heinz Brüggemann: Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, Würzburg 2011, S. 230. 23
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Einbildungskraft und Phantasie Phantasie bezeichnet das Vermögen, das zwischen der äußeren Sinneswahrnehmung und dem inneren Vorstellungsbild vermittelt. Sie übersetzt die Sinneswahrnehmung in ein Vorstellungsbild und umgekehrt. Sie ist folglich eine Übersetzungsleistung. In der abendländischen Geistesgeschichte wurde die Übersetzung von der Materialität in die Immaterialität höher eingeschätzt als die entgegengesetzte Richtung von der Immaterialität in die Materialität. Für das heutige Design gilt jedoch eine umgekehrte Prämisse. Die Funktion der Phantasie, das innere Bild ins äußere zu übersetzen, wird nun aufgewertet, da dadurch etwas Neues entstehen kann. Design ist eine Praxis, die die konkrete Materialisation von etwas Neuem anstrebt. Phantasie ermöglicht dabei die Materialisation des Nie-Dagewesenen. Die Funktion der Phantasie liegt daher nicht in der Vermittlung zwischen dem Geistigen und dem Materiellen, dem Allgemeinen und dem Einzelnen. Sie liegt vielmehr in der Übersetzung, die jedoch kein Original voraussetzt, sondern in deren Prozess selbst etwas Neues entstehen lässt.26 Im Übersetzungsprozess durch die Phantasie besteht kein Original-AbbildVerhältnis. Denn Phantasie ist frei und ungebunden. Dieser Übersetzungsprozess ohne Vorbild ermöglicht daher eine Erfindung. Die Übersetzung entsteht als Ergebnis eines Transformationsprozesses. Sie ist ein permanenter Übergang, eine endlose Metamorphose. Sie ist das endlose Gleiten eines Signifikanten zu einem anderen und kann daher niemals abgeschlossen werden. Die abendländische Philosophie hat die Übersetzung von unten nach oben als positiv, die Übersetzung von oben nach unten als negativ bewertet. Erstere wurde generell die Einbildungskraft, letztere die Phantasie genannt. Erst die Frühromantik kehrt dieses Verhältnis zwischen der positiv bewerteten Einbildungskraft und der abgewerteten Phantasie um. Für sie gilt die Einbildungskraft als passives, die Phantasie als aktives und kreatives Vermögen. Für Friedrich Schlegel liegt »der Anfang aller Poesie« darin, »den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das
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Benjamin: GS III, S. 416. 24 Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler u.a., Bd. 12, München 1964, S. 84. 25 Benjamin: GS II, S. 610. 26 Benjamin zufolge bringt die Übersetzung im medialen Übersetzungsprozess das zu Übertragende erst hervor. Sie ist keine Vermittlung, sondern eine eigenständige Form, die im medialen Übersetzungsprozess erst neu verkörpert wird. Siehe Benjamin: GS 4, S. 9ff.
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ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen«.27 Auch Hegel schließt sich der Frühromantik an, wenn er die Phantasie als »hervorstehend künstlerische Fähigkeit« höher bewertet als die »bloß passive Einbildungskraft«.28 Die Einbildungskraft schafft sichtbare Formen nach Gesetzmäßigkeiten. Die Phantasie hingegen geht den sichtbaren Formen voraus. Sie ist eine diffuse, wandelbare Kraft, die sich allein in der atemlosen Geschwindigkeit der Übergänge ausdrückt. Die Einbildungskraft gehört der Sphäre der Gestalt an, während die Phantasie der des Gestaltlosen angehört. Daher basiert die Gestaltung auf der Einbildungskraft und die Entstaltung auf der Phantasie. Die Rolle der Phantasie ist dabei für das Design zentraler als die Einbildungskraft. Die Einbildungskraft entfaltet sich in der Ordnung. Sie ist Teil der geordneten Realität. Sie verbleibt daher in der Endlichkeit. Sie kennt nur die Prämisse der Grenze und der Endlichkeiten. Die Phantasie hingegen »chaotisiert« den Verstand und die geordnete Realität.29 Dadurch geht sie über die Grenze des Verstandes hinaus. Für die Romantiker ist das Chaos durchweg positiv konnotiert und eröffnet letztlich einen Zugang zum Absoluten. Schelling schreibt daher: »Durch die Anschauung des Chaos […] geht der Verstand zu aller Erkenntniß des Absoluten […] über«.30 Das Absolute ist demnach nur durch das Chaos erreichbar. Die Einbildungskraft wird in der Philosophiegeschichte der Geistigkeit zugeordnet und die Phantasie der Körperlichkeit. Die Einbildungskraft wird als Vermögen des autonomen Subjekts und seiner Kreativität positiv bewertet, während die willkürliche Phantasie negativ besetzt ist. Dementsprechend wird die Einbildungskraft mit einem geordneten Ganzen und die Phantasie mit Willkürlichkeit in Verbindung gebracht.31 Die Einbildungskraft gilt des Weiteren als männlich, die regellose Phantasie hingegen als weiblich. Erstere ist demnach als geordnet und konzentriert angesehen und letztere als ungeordnet und zerstreut.32 Lacan zufolge ist das männliche Prinzip ein Prinzip der Totalität. Es repräsentiert eine Ontologie der Abgeschlossenheit. Das weibliche
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27 Friedrich Schlegel: »Gespräch über die Poesie (1800)«, in: ders.: Kritische Friedrich-Schle-
gel-Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler u.a., Bd. 2, München 1967, S. 319. 28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I , Frankfurt a.M. 1994, S. 363. 29 Friedrich Schlegel: Literarische Notizen, hrsg. v. H. Eichner, Frankfurt a. M. /Berlin / Wien 1980, S. 171. 30 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: »Philosophie der Kunst«, in: ders.: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 5, Stuttgart 1859, S. 110. 31
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Prinzip hingegen basiert auf der Logik des »Nicht-Alles«.33 Es ist die Verneinung der Totalität. Es steht dafür, dass die Totalität unmöglich ist, da nicht alles in die symbolische Totalität integriert werden kann. Es stellt daher eine Ontologie der Unabgeschlossenheit dar. Während die Ontologie der Abgeschlossenheit den Standpunkt der Neutralität annimmt, besteht die Ontologie der Unabgeschlossenheit auf der Anerkennung ihrer Nicht-Neutralität. Die Ontologie der Unabgeschlossenheit erkennt den Primat der Politik gegenüber dem Wissen an. Es gibt demnach kein neutrales Wissen. Dieses ist immer schon eine verfehlte Übersetzung der durch den verzerrten Blick wahrgenommenen Materialität in eine Bedeutung. Die Ontologie der Unabgeschlossenheit geht von der Annahme aus, dass alles auch anders sein kann. Die Ontologie der Abgeschlossenheit beruht auf der Notwendigkeit, die Ontologie der Unabgeschlossenheit hingegen auf der Kontingenz. Erstere befasst sich mit dem notwendigen Sein, das ist und nur so sein kann. Letztere befasst sich mit dem kontingenten Werden, das stets im Begriff ist, anders zu werden. Wissenschaft fragt nach dem Sein. Design hingegen fragt danach, ob es auch anders sein kann. Die Ontologie der Abgeschlossenheit ist eine Ontologie der Räumlichkeit. Sie hält den Ist-Zustand für notwendig gegeben. Die Frage nach Entstehung und Vergehen stellt sich dabei nicht. Die Ontologie der Unabgeschlossenheit hingegen schließt die Zeitlichkeit ein. Für sie erscheint der Zustand stets in einem Transformationsprozess. Für sie ist alles im Prozess des unablässigen Entstehens und Vergehens begriffen. Sie betrifft daher nicht einfach den Zustand, sondern vielmehr die transzendentale Bedingung für das Kommende. Die Einbildungskraft als männliches Prinzip verbleibt letztlich im Rahmen der symbolisch vermittelten Realität. Die Phantasie als weibliches Prinzip hingegen betrifft das nicht symbolisierbare Reale. Die Ontologie der Unabgeschlossenheit macht die Basis des Designs aus. Design muss in seiner Gestaltungspraxis nicht nur die Räumlichkeit, sondern auch die Zeitlichkeit miteinbeziehen. Denn Design hat nicht nur mit räumlichen Gestalten, sondern auch mit 05
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Ernst Platner: Anthropologie für Aerzte und Weltweise , Leipzig 1772, S. 262. 32 Jochen Schulte-Sasse: »Phantasie«, in: Ästhetische Grundbegriffe, hrsg. v. Karlheinz Barck u.a., Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 778 – 798, hier S. 784 f. 33 Jacques Lacan:
Encore, Das Seminar, Buch XX, Weinheim/Berlin 1991, S. 80, S. 106. Zur weiblichen Logik schreibt Lacan: »Es gibt nicht Die Frau, denn […] ihrem Wesen nach ist sie nicht
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den Gestalten in Aktion und Bewegung zu tun. Sein Gegenstand ist daher nicht einfach die Form, sondern vielmehr die Einheit von Form und Bewegung, Raum und Zeit. Die Leere im Design als Medium der Phantasie Das Medium der Phantasie par excellence ist für Benjamin »reine Farbe«. Benjamin schreibt: »Phantasieanschauung – der Gegensatz aller gestaltenden Einbildung – ist in der Welt der Farbe zu Hause. […] Reine Farbe ist das Medium der Phantasie […]. Ihre Wolkenheimat, in der Formen sich weniger gestalten als entstalten, ist das Reich des Wandels«.34 Nicht die Gestalt, sondern der Wandel kennzeichnet die treibende Kraft der »Phantasie, die die Gestalt der Umgestaltung zuführt. Dies nicht ohne sie zu entstalten«.35 Die Farbe ist für Benjamin keine Substanz, sondern ein fluides Medium, in dem die Bestimmtheit der Formen aufgelöst ist. Reine Farbe als »das Medium der Phantasie« ist aber gar keine Farbe. Sie ist die Farbe der Wolken. Sie ist Weiß, das es als solches nicht gibt und dennoch alle anderen Farben erst entstehen lässt. Denn Weiß ist an sich leer und fungiert dadurch als Potentialität aller möglichen Farben. Entspricht daher die Gestaltung der Sphäre der Farbe, so entspricht die Entstaltung der Sphäre der reinen Farbe, des Weiß. In seiner Schrift über Weiß stellt der japanische Gestalter Kenya Hara fest: »Weiß als solches gibt es nicht«.36 Denn: »Weiß manifestiert sich nicht in der realen Welt«.37 Es ist vielmehr »die ursprüngliche Form von Leben bzw. Information, die aus dem Chaos entsteht«.38 Es ist die »Möglichkeit des Noch-nicht-Seins«39 und »trägt die Möglichkeit in sich, sich zu einer anderen Farbe zu entwickeln«.40 Es ist die Potenz aller Farben und das reine Leben, das sich noch nicht entfaltet hat. Wenn das Leben entsteht, nimmt es eine konkrete Form an und vermengt sich mit den Farben. Haras Weiß-Begriff bezieht sich auf die Leere im Taoismus. In Tao-Te-King heißt es: »In ihrem Nicht-Sein liegt die Brauchbarkeit der Gefäße. […] In ihrem Nicht-Sein liegt die Verwendbarkeit der Räume« (Kap. 11). Ein volles Gefäß oder einen vollen Raum könnte man nicht mehr gebrauchen. Die Leere macht sie erst verwendbar. Sie ist daher kein Nichts, sondern die Potenz für die Verwendbarkeit überhaupt. Diesem Zustand der Leere entspricht der Weiß-Be-
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alle.« Ebd., S. 80. 34 Benjamin: GS III, S. 416f. 35 Ebd., S. 416. 36 Kenya Hara: Weiss, Zürich 2010, S. 2.
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griff Haras. Parallel dazu lässt sich der Leerraum als »Raum unermesslicher Möglichkeiten« verstehen.41 Denn gerade »ein Zustand, in dem nichts ist, bietet die Möglichkeit, ihn mit irgendetwas zu füllen«.42 Die Leere ist daher die materielle Grundlage, aus der alles andere entstehen kann. Am Anfang gibt es daher kein Nichts, sondern die Leere als Potentialität unermesslicher Möglichkeiten. Die Leere ist letztlich der Raum für die Phantasie und die Freiheit. Ein gutes Design bietet nicht die Fülle, sondern die Leere an. Ein Design ist gut, wenn es uns an den zahlreichen Möglichkeiten der Gestaltung teilhaben lässt. Der Gestalter stellt lediglich die Potentialität der Verwendbarkeit fest, indem er die Gestaltung so offen und flexibel wie möglich hält. Der Anwender avanciert dadurch selbst zum Gestalter, der die offene Gestaltung nach seinen Bedürfnissen anpasst und kreativ verwendet. Eine kreative Anwendung umfasst daher die Aktivität der Umgestaltung, die nicht von vornherein beabsichtigt wurde, deren Möglichkeit aber dennoch im offenen Entwurf selbst angelegt ist. Dadurch wird die Dichotomie zwischen Produzent und Anwender sowie zwischen Produzent und Produkt hinfällig. Ein Gestaltungsprozess endet nicht mit der Produktion eines Produkts oder eines Projekts. Er reicht von der freien Phantasie bis zur Anwendung, die eine kreative Entstaltung und Umgestaltung nach sich zieht. Denn die Leere der Gestaltung rührt gerade von der Unabgeschlossenheit der Wirklichkeit her. Design sollte jedoch im Unterschied zur Kunst die Leere nicht ins Unendliche führen, sondern versuchen, sie »funktionsfähig« zu verwenden.43 Denn Design muss funktionieren, was für die autonome Kunst nicht zutrifft. Design unterzieht sich einer Prüfung in der realen Praxis. Design soll das Potenzial, das durch die Leere der Gestaltung eröffnet worden ist, so verwenden, dass es »einer Sache zuträglich ist«.44 Das macht den Realitätsbezug von Design aus. Design ist nicht einfach eine beliebige Konstruktion, sondern in der Realität verankert und wächst aus den realen Bedürfnissen und Wünschen.
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Die Gestaltung der Zukunft Design geht heute weit über den Rahmen der industriellen Produktion und der Ökonomie hinaus und umfasst die Gestaltung der 35
37 Ebd., S. 12. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 42. 40 Ebd., S. 9. 41 Ebd., S. 45. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 71.
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Kommunikationsprozesse, des urbanen Raumes, der Öffentlichkeit etc. Da Design den gesamten Prozess der Kommunikation, Produktion, Verteilung, Verwendung und Vernichtung betrifft, kann der Gestaltungsprozess im Design als ein Modell für die Gestaltung gesellschaftlicher und politischer Aktivitäten fungieren. Die wichtigste Aufgabe des Designs ist demgemäß die Gestaltung der Gesellschaft der Zukunft. Denn Design gestaltet nicht nur die sichtbaren Gestalten, sondern auch die unsichtbaren gesellschaftlichen Prozesse mit.45 Die Gestaltung der Zukunft geht jedoch nicht gänzlich in der Aktivität des Gestaltens und des Entwerfens auf. Sie ist vielmehr eine performative Ausführung, die sich erst in ihrem Vollzug einstellt. Erst der performative Akt legt die Gestalt fest, die nicht im Voraus festgelegt werden kann. Die Zukunft ist an sich bild- und gestaltlos. Ihre Existenz ist rein negativ. Sie markiert lediglich die Grenze der symbolischen Darstellbarkeit. Sie ist abwesend, gleichzeitig aber stets im Kommen begriffen. Sie vollzieht sich allein im Modus des Partizips II. Irgendwann wird sie gewesen sein. Aber dieses Irgendwann ist immer nur im Kommen begriffen. Die Gestaltung der Zukunft ist von daher ein unmögliches Unternehmen. Die Zukunft ist nicht symbolisierbar und gehört daher dem unmöglichen Realen an. Das Reale kommt stets aus der Zukunft. Es ist nicht in der symbolisch vermittelten Realität als solches erkennbar. Es findet statt, d.h. das Unmögliche findet statt. Die Gestaltung der Zukunft basiert daher auf der Möglichkeit des Ereignisses des Unmöglichen. Denn es gibt etwas, das außerhalb der Möglichkeit liegt und sich dennoch ereignet. Die Kontingenz ist die Basis des Ereignisses des Unmöglichen. Das Sein ist unabgeschlossen, es ist offen. Es ist die Bühne für das Ereignis. Die Gestaltung der Zukunft kann daher niemals als Umsetzung eines Plans verstanden werden. Sie geht mit der Bereitschaft einher, Teil des Ereignisses zu sein. Sie vollzieht sich im performativen Akt der Gestaltung, in dem der Akteur ein Teil des Gestaltungsprozesses ist. Der Gestalter ist daher nicht das autonome Subjekt der Gestaltung, sondern ein Inter-Sein, ein Zwischen-
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44 Ebd. 45 Vgl. Lucius Burckhardt: »Design ist unsichtbar«, in: Gestaltung denken. Grund-
lagentexte zu Design und Architektur, hrsg. v. Klaus Thomas Edelmann u. Gerrit Terstiege, Basel 2010, S. 211 – 217. Burckhardt zufolge hat das Design eine »unsichtbare Komponente«, nämlich »die institutionell-organisatorische, über welche der Designer ständig mitbestimmt, die aber […] im Verborgenen bleibt« (S. 214). Design muss sich demnach zu einem »Soziodesign« öffnen (S. 216). 46 August Wilhelm Schlegel: »Die Kunstlehre
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Sein im Gestaltungsprozess, das immer schon mit anderen Dingen und Teilnehmern des Gestaltungsprozesses in einer Beziehung steht und mit ihnen interagiert. Für die Gestaltung der Zukunft spielt die Phantasie eine zentrale Rolle. Phantasie ist subversiv, da sie Unvorhergesehenes und NichtVorhandenes materialisiert. Sie übersetzt den Traum in die Wirklichkeit. Sie ist die Traumfabrik, die ihren Platz in der Wirklichkeit sucht. Sie ist die Fabrik der Kontingenz. Sie zeigt auf, dass die Welt anders sein kann als sie gegenwärtig ist. Phantasie macht darüber hinaus das Nicht-Übersetzbare in menschlicher Intelligenz aus. Die künstliche Intelligenz kennt nur die Ordnung. Sie funktioniert nach dem Regelwerk. Die menschliche Intelligenz hingegen kennt das Chaos. Phantasie ist gerade das Vermögen, das den Verstand chaotisiert. Allein das Chaos ist unendlich. Das Unendliche ist August Wilhelm Schlegel zufolge nur in unserer Vernunft und Phantasie erreichbar. Der Verstand und die Einbildungskraft hingegen kennen nur »ein beständiges Setzen von Endlichkeiten und Verneinen des Unendlichen«.46 Sie bleiben daher in ihrer Grenze und können nicht darüber hinaus gehen. Entsprechend nennt Novalis die Phantasie als »außermechanische Kraft«.47 Phantasie ist ein machtvolles Mittel im Kampf gegen die Instrumentalisierung des Denkens und für die freie Gestaltung der Zukunft. Denn sie bezeichnet das Vermögen, im Bekannten das Unbekannte, im Abgeschlossenen das Unabgeschlossene zu entdecken, indem sie die fertigen Formen an die Prozessualität der Gestaltung und Entstaltung heranführt. Kraft der Phantasie erweckt Design in den Dingen und Gestalten die Möglichkeit, anders zu werden. Design ist folglich die Aktualisierung der Virtualität, die den Dingen und Gestalten immanent ist. Design fängt nicht bei Null an. Design setzt vielmehr in der Mitte an und hört nicht auf, wieder zu gestalten und umzugestalten. Design ist stets unterwegs. 05
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(1800 – 1801)«, in: ders.: Kritische Schriften und Briefe, hrsg. v. Edgar Lohner, Bd. 2, Stuttgart 1963, S. 81. 47 Novalis: »Das allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik 1798 / 1799«, in: ders.: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs.
Historisch-kritische Ausgabe (HKA) , hrsg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz, Bd. 3, Stuttgart u.a. 1960, S. 430.
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Und genau dies – die überragende Be deutung der Maschine, die das Handwerk hinter sich lässt – ist der eigentliche Grund, warum wir nicht mehr von Kunst, sondern von einem Prozess des iterativen Designs sprechen.
Martin Burckhardt wuchs in einer ostwestfälischen Kleinstadt auf. Nach dem Studium Beginn der schriftstellerischen Arbeit, zunächst vor allem im Bereich des Hörfunks und der Klangkunst. Im Zusammenhang mit der Diskussion um sein erstes Buch (die Metamorphosen von Raum und Zeit, Campus 1999) kam es zu verstärkter Lehrtätigkeit, zunächst an der Humboldt-Universität, dann an der FU Berlin. Parallel kuratorische Arbeiten: wie z.B. die Interface V für die Kulturbehörde Hamburg, ein Symposion sowie eine Ausstellung zur Computerkultur. Neben Herausgebertätigkeiten und diversen Lehrverpfl ichtungen entstanden weitere Hörstücke, Essays, vereinzelt auch Übersetzungen. Im Jahr 2010 gründete er die Firma Ludic Philosophy, die im Jahr 2011 das transmediale Browser-Game TwinKomplex herausbrachte. Veröffentlichungen u.a.: Digitale Renaissance. Manifest für eine neue Welt, Metrolit-Verlag 2014; gemeinsam mit Dirk Höfer: Alles und Nichts, Matthes & Seitz 2015, Science-Fiction Roman: Score. Wir schaffen das Paradies auf Erden, Knaus 2015; Die Philosophie der
Maschine, Matthes & Seitz 2018; Eine kurze Geschichte der Digitalisierung , Penguin 2018.
Do it again! Zur Philosophie des iterativen Designs Martin Burckhardt
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Scrum, Agile, Test- und Data-driven-Development – seit einigen Jahren, genauer: seit der Veröffentlichung des »Manifesto for Agile Software Development« im Jahr 19961 geistert die Vorstellung durch die Öffentlichkeit, dass man es mit einer Revolution der Teamarbeit zu tun habe. Folglich bemüht sich jedermann darum, so schnell wie möglich agil zu werden. Nimmt man die Verheißungen der Big Data-Revolution hinzu, drängt sich der Eindruck auf, als könne sich Arbeit künftig überhaupt ganz von allein erledigen. Wie bei vielen Buzzwords überglänzt der Halo des Verheißenen die Realität, geraten Kategorien und Begrifflichkeit durcheinander. Dabei bleiben – und dies ist vielleicht das fatalste Begleitphänomen – die Gründe für die Veränderung weitgehend unerhellt. Die historische Rückschau verweist auf das Produktionssystem, das der japanische Ingenieur Taiichi Ōno in den frühen 1990er Jahren bei Toyota installierte. Ōno verfolgte zwei Absichten: zum einen ging es ihm darum, die Massenproduktion zu diversifizieren (womit unterschiedliche Autotypen an ein- und demselben Fließband zusammengesetzt werden konnten), zum anderen ging es ihm um die Verbesserung der Qualität. Tauchte ein Fehler auf, wurde das Band angehalten, und das gesamte Team beschäftigte sich eingehend mit der Fehleranalyse und den Möglichkeiten zur Abhilfe. Durch diese Technik der inkrementellen Verbesserung erreichte Toyota Qualitätssteigerungen, die bis dato unvorstellbar erschienen. Unabhängig von dieser Entwicklung in der Automobilindustrie stellte sich die Frage zeitgemäßen Projektmanagement im Bereich der Software-Entwicklung – nicht zuletzt deswegen, weil die Programme an Komplexität und byzantinischer Undurchsichtigkeit zunahmen. Hier kamen zwei unterschiedliche Aspekte zusammen: einmal das Prinzip des testgetriebenen Designs, das der amerikanische Software-Designer Kent Beck ausgab, dann die Fixierung auf eine möglichst effiziente Gruppenarbeit, welche Jeff Sutherland und Ken Schwaber zu ihrer Scrum-Logik führte (die man als Gruppenarbeit mit innovationsfreudiger Rollenverteilung auffassen
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1 Das häufig und missverständlich auch »Agile Manifesto« genannt wird. – Vgl. http://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html.
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könnte). Jedoch besteht das Ziel dieses Aufsatzes nicht darin, die Logik dieser verschiedenen Ansätze nachzuzeichnen – vielmehr soll es um das gehen, was diesen Ansätzen gemeinsam ist: die Frage des iterativen Designs. 05
Kunst des Vergessens Worin besteht das Novum? Appliziert man die Vorstellung der Iteration auf den Designprozess selbst, könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass nichts Neues unter der Sonne existiert: seit jeher nämlich kennt der Gestaltungsprozess, der mit einem natürlichen Material interagiert (dem Ton in der Hand, dem Farbklecks auf einer Leinwand, dem Wort auf einem Stück weißen Papiers), das Moment der Überarbeitung, mithin: das der Iteration. Markiert, von daher gesehen, der ästhetische Gestaltungsprozess nicht das Non-plus-ultra des iterativen Designs? Dieser Einwand freilich verkennt den Paradigmenwechsel, der sich mit dem Einbruch des Computers ergeben hat. Denn dieser kann, als Arbeitsspeicher, Prozesse speichern, die das Gehirn eines einzelnen Menschen, aber auch das einer Gruppe weit überfordern. Im Jahr 1955 schrieb der Harvard-Psychologe George A. Miller einen kleinen Aufsatz mit dem Titel »The Magical Number Seven«, der sich mit den Grenzen menschlicher Informationsverarbeitung beschäftigte (»Some Limits on Our Capacity for Processing Information«). Darin vertrat Miller die Ansicht, dass Menschen in actu kaum mehr als sieben Variablen im Blick behalten können – weswegen man es, bei steigender Komplexität, mit einer deutlichen Einschränkung des menschlichen Wahrnehmungs- und Reaktionsvermögens zu tun bekommt. Weil das Mängelwesen Mensch auch ein Mängelgedächtnis aufweist, kommen die Speichermedien ins Spiel, und zwar nicht im Sinne einer ars memoria, sondern im Sinne der ars oblivionis. So besehen ist der geschriebene Text nicht nur Erinnerungshilfe, sondern auch eine Form des Vergessens, eine black box, die verlässlich vor der Informationsüberladung schützt. Ist uns diese Logik in Gestalt von Büchern, Bibliotheken und Enzyklopädien wohlbekannt, kommt mit der elektromagnetischen Schrift unserer Computerkultur die Möglichkeit ins Spiel, dass alles, was elektrisierbar ist, Schriftcharakter annehmen kann. In diesem Sinn lässt sich jede Arbeit, die man analysiert und digitalisiert hat, in den Arbeitsspeicher überführen – und von dort wie10
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derum lässt sie sich an einen beliebigen Ort dieser Welt teleportieren, nach Belieben vervielfältigen und reaktivieren. Schon diese Beschreibung sollte klar machen, dass man es hier mit einem Paradigmenwechsel erster Ordnung zu tun. Und genau dies – die überragende Bedeutung der Maschine, die das Handwerk hinter sich lässt – ist der eigentliche Grund, warum wir nicht mehr von Kunst, sondern von einem Prozess des iterativen Designs sprechen.
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Ungeschehen gemacht Nichtsdestoweniger ist die Verwandtschaft zum ästhetischen Prozess überaus interessant. Sie hilft die Besonderheit und das Neue des Prozesses herauszuarbeiten. Aus diesem Grund werden die hier ausgebreiteten Gedanken den Gruppenaspekt des iterativen Designs aussparen und sich vornehmlich auf die Aspekte der Mensch-Maschine-Interaktion konzentrieren – als handelte es sich nicht um ein Team, sondern um eine Einzelperson. Der zweite Vorteil dieses Verfahrens ist, dass sich im Vergleich mit dem künstlerischen Prozess das genuin Neue herauspräparieren lässt, also das, was im künstlerischen Prozess bis dato unmöglich war. Fragt man den Prozess des iterativen Designs auf seine Grundlagen hin ab, so gibt es drei wesentliche Schritte: einen Gedanken (Design), eine Umsetzung (Prototyp), schließlich: eine Testphase, in der die Veränderung analysiert und auf ihre Wirksamkeit hin überprüft wird (Evaluierung). Was unterscheidet diesen Prozess nun von der Aktion des Malers, der, einer Intuition folgend, einen Pinselstrich vollzieht und mit einem schnellen Blick überprüft, ob das Resultat seinen Erwartungen entspricht? Der entscheidende Unterschied ist, dass nicht mehr der Künstler über den Erfolg seines Pinselstrichs befindet, sondern das Ergebnis vom Publikum evaluiert wird. Ganz im Sinne der Wittgensteinschen Bemerkung »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch« verschiebt sich der Schwerpunkt vom Objekt hin zu der Bedeutung, die dem Objekt beigemessen wird – damit aber: vom Produzenten zum Publikum. Dass diese Verschiebung überhaupt möglich ist, hat damit zu tun, dass das Publikum in der Benutzung des Objekts nun selber im Bilde ist – wie der Computerspieler, der, anstatt eine futuristische Zukunftsvision nur zu bestaunen, unmittelbar in sie einsteigen kann. Dieser Schwerpunktverlagerung wegen ist nicht die Intention des Urhebers die entscheidende Größe, sondern allein, ob seine Hinzu-
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fügung (der Pinselstrich) eine größere Akzeptanz des Produktes bewirkt oder nicht. Wie aber kann man dies messen? Dadurch, dass man dem Objekt ein Sensorium mitgibt, das die Form der Benutzung protokolliert. Ergeben die Daten, dass der erwünschte Effekt ausgeblieben ist, wird die Veränderung ungeschehen gemacht und durch eine alternative Lösung ersetzt. Die Forderung, dass ein Teil des Arbeitsprozesses ungeschehen gemacht und durch eine bessere Lösung ersetzt werden soll, verändert den Charakter des Werkes. Denn um einer solchen Undo-Forderung jederzeit entsprechen zu können, müssen sämtliche Arbeitsschritte verkapselt und modularisiert werden. Dieser Modularisierungsaspekt hat in Gestalt der Design Pattern2 eine lange Vorgeschichte. Haben die Design-Patterns zu Anbeginn die Aufgabe verfolgt, den Konstruktionsprozess zu erleichtern, geht es nun darum, das Werk nach Belieben dekonstruieren und in seine Einzelheiten zerlegen zu können – mit dem Ziel, es auf eine verbesserte Weise neu zusammensetzen zu können. Man könnte sagen: Mit der Einführung des Undo wird der Zweifel in das Objekt mit eingebaut, während umgekehrt der wissenschaftliche Blick in den Konstruktionsprozess einwandert. Das Objekt existiert gewissermaßen auf Vorbehalt. Selbstverständlich verändert dies nicht nur den Status des Objekts (das stets im Status der Vorläufigkeit bleibt), sondern auch den Status des Urhebers. Anders als der Künstler-Ingenieur, dessen Gestaltungsakt letztlich ein Mysterium bleibt (eine Art Instinkt, der sich im Laufe des Künstlerlebens immer weiter raffiniert), erfordert das Undo-Desiderat vollständige Transparenz, zudem eine gründliche Dokumentation des Gestaltungsprozesses. Pointiert gesagt, erschöpft sich die techne nicht mehr bloß in der Schaffenskraft, sondern beinhaltet die Möglichkeit, den Schöpfungsakt zu widerrufen. Weil ein so verstandenes Engineering den Prozess des Reverse-Engineering notwendig in sich trägt, vermählen sich Konstruktion und Dekonstruktion. Was wie eine coincidentia oppositorum erscheint, besitzt in Gestalt des Programmierobjekts seine prototypische Entsprechung. Kann man es mit der Hilfe eines Konstruktors in den Speicher einladen, wird es mit Hilfe eines Destruktors daraus entfernt. Dem Objekt entspricht, wenn man so will, immer
2 Vgl. Christopher Alexander / Sara Ishikawa / Murray Silverstein (Hg.): A Pattern Language:
Towns, Buildings, Construction, o.O. 1977. – Man könnte allerdings erste Tendenzen dazu bis in die Geschichte des Bauhauses zurückverfolgen.
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auch sein vollständiges, spurloses Verschwinden. Nimmt man es psychologisch, muss man die Tücke des Objekts um die Tücke des menschlichen Faktors erweitern, den Umstand also, dass nicht nur das Material, sondern auch die Art, wie es bearbeitet wird, eine Fehlerquelle ersten Ranges darstellt. Wenn Marx sagt, dass sich die Arbeit im Objekt vergegenständlicht, ja, zur »toten Arbeit« gerinnt, formuliert er das wohlbekannte ökonomische Trägheitsgesetz, das uns in Gestalt von Plastikresten, Müllbergen etc. entgegentritt. Demgegenüber beharrt die Logik des Ungeschehen-Machens auf der Möglichkeit, die verstorbene Arbeit in einen Jungbrunnen zu tauchen. Ist das klassische Produkt (als totes Kapital und abgestorbene Arbeit) eine letale Form, verheißt das mit einer solchen Reversibilitätsverheißung ausgestattete Objekt eine längere Lebensdauer, kann die im Objekt niedergelegte Arbeit jederzeit durch eine bessere Lösung, ein Upgrade ersetzt werden. Ob und inwieweit sich das Upgrade bewährt, hängt davon ab, ob es das, was es zu leisten verspricht, tatsächlich bewirkt. Hat man bei einem Upgrade die Qual der Wahl, ob man nun das Modul A oder B favorisiert, ist ein, ja, nicht selten das ausschlaggebende Verwendungs-Kriterium, dass sich das betreffende Modul leichter austauschen lässt. Folglich ist die Austauschbarkeit und Leichtgewichtigkeit einer Komponente ein Qualitätskriterium. Wie aber lässt sich ein Gegenstand, der aus Dutzenden, Hunderten oder Tausenden solch austauschbarer Module besteht, betrachten? Wo kann man hier noch von Objektbeständigkeit reden? Hat man hier nicht ein Ding vor sich, das wie das Schiff des Theseus sich im Laufe der Zeit vollständig regeneriert? Mag die Verschalung, aus Praktikabilitätsgründen, die alte bleiben, so unterläuft das Innenleben eine beständigen Erneuerungsvorgang, ja, könnte man geradezu von einer verkapselten Gedankenordnung sprechen. In Anbetracht dieser Verflüssigung ist fraglich, ob Begriffe wie Ding, Produkt oder dergleichen tatsächlich angemessen sind – oder ob man in diesen neuen Dingen nicht vielmehr Ephemeriden, transitorische Gegenstände oder Übergangsobjekte sehen sollte. Wie sagt der Künstler? Work in progress…
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Die Künstlichkeit der Welt Wo Design Patterns zu Software-Modulen werden, die in der Welt des Internets nach Belieben heruntergeladen werden, kommt ein zweites Moment hinzu: Denn der massenhafte, zudem globali-
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sierte Gebrauch eines Moduls erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass etwaige Konstruktionsfehler (Bugs) entdeckt und behoben werden können. Dies wiederum steigert die Resilienz und Güte der Objekte, die sich seiner bedienen. Lässt schon die beliebige Kopierbarkeit eines digitalen Objekts zweifeln, ob Begriffe wie Original oder Unikat Sinn ergeben, unterstreicht der Modularisierungsaspekt, dass mit der Digitalisierung eine Tendenz zur Vergesellschaftung einhergeht. Denn auch der individuelle Programmierer wird sich mit Open-Source-Programmbibliotheken und frei verwendbaren Modulen eindecken. Anders als das Künstler-Originalgenie, das eine Welt ganz aus sich selbst schöpft, ist der Programmierer per se Dividuum: ein Gesellschaftswesen, das auf die Logik des Sharing und den Allgemeinbesitz angewiesen ist. Nicht mehr die Kunst, sondern die Welt des Open Source ist hier der Bezugsrahmen. Man schöpft nicht mehr aus dem Nichts, sondern aus einem Pool frei flottierender und verwendbarer Bausteine. Nun muss diese Form der Einverleibung nicht als Argument gegen den künstlerischen Schöpfungsvorgang gewertet werden, sondern lässt sich ebensogut als seine Freisetzung feiern. Denn die Möglichkeit, die gespeicherte Arbeit anderer nach Belieben in das eigene Werk integrieren zu können, erhöht die Gestaltungsoptionen beträchtlich. Befreit davon, das »Rad neu erfinden zu müssen«, kann sich der Schöpfer auf genau jenen Entwicklungsschritt konzentrieren, der etwas genuin Neues in die Welt entlässt. Demgemäß ist seine Zugabe (wie die berühmte ready made-Markierung Duchamps) eine spezifische Iteration, die ein allgemein nutzbares Gut (das Urinoir im Falle Duchamps) zu etwas anderem verwandelt. In gewisser Hinsicht gewinnt die mittelalterliche Vorstellung, nach der jeder Zeitgenosse ein Zwerg ist, der auf den Schultern eines Riesen steht, an Bedeutung. Denn was im Prozess des iterativen Designs als individuelle Geste erscheint, beruht tatsächlich auf einer Vergesellschaftungslogik. Demgemäß ist die individuelle Geste der Versuch, der Enzyklopädie des Brauchbaren ein neues Objekt oder eine neue Verwendung hinzuzufügen. Gelingt dies, d.h. wird eine gesellschaftliche Usance modifiziert, geht dies durchweg mit einem Zuwachs an Intelligenz einher. Wie im Falle der Computerchips ein gegebenes Quantum Silizium eine immer größere Informationsdichte aufweist, steigert sich die Geistigkeit der Objekte, wird Hardware zunehmend durch Software ersetzt.
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Dies führt zu einem merkwürdigen Paradox. Denn obzwar der klassische Handwerker-Künstler einer untergehenden Epoche angehört, bleiben die kulturellen Artefakte von diesem Bedeutungsschwund ausgenommen. Ganz im Gegenteil: hier lässt sich eine massive Steigerung an Künstlichkeit und Geistigkeit festhalten. Insofern ließe sich sagen, dass das iterative Design in eine Kunst ohne Künstler hineinführt, in eine Gesellschaftsform, die sich ihrerseits zum Kunstwerk verwandelt.
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Von der Nachwelt Man könnte sagen, dass jede Arbeit, die digitalisiert worden ist, ins Museum der Arbeit eingegangen ist. Weil eine solche Arbeit jederzeit abrufbar ist (und zwar ohne dass sie Patina angesetzt oder sonstige Alterungsprozesse erlebt hätte), haftet ihr etwas Zeitloses an. In diesem Sinn ist das welterprobte Arbeitsmodul immer auch ein Ding für die Nachwelt. Weil die Zeit stillgestellt ist, bedeutet dies umgekehrt, dass ein Schöpfer, der sich eines Objekts aus dem Thesaurus bedient, nicht nur mit Zeitgenossen, sondern auch mit den Geistern längst Verstorbener kommuniziert. Mag diese Aussicht befremdlich anmuten, ist sie als gesellschaftlicher Prozess unabwendbar. Will man einen Vorschein dieser Zukunft erleben, muss man sich nur auf YouTube umtun, wo die Vorträge und Vorlesungen Verstorbener unvermittelt neben denen der Zeitgenossen stehen. Grundsätzlich bedeutet ein solches Do-it-again, dass man in einen Zustand der Geschichtlichkeit hineintritt, der mit post-histoire nur höchst unzutreffend beschrieben ist. Denn der Thesaurus ragt, als gespeicherte Arbeit, durchaus in die Gegenwart hinein – und zwar nicht bloß als totes (oder als geschichtlich überwunden geglaubtes) Symbol, sondern als reanimierbare, wirkende Gegenwart. Gewissermaßen vermählen sich Geschichte und Gegenwart auf eine schwer fassbare Weise. Gegenwärtige Prozesse, die digital überwacht werden, schreiben sich in eine Chronik der laufenden Ereignisse ein, während umgekehrt ein historischer Prozess als gelungene Lösung in eine Allgegenwart überführt wird – oder wie der schöne Filmtitel annonciert hat: »Unsere Leichen leben noch«. Weil jede Gegenwart wie ein strahlender Reaktor weit über sich hinausweisen kann, wird man sich im Zeichen des iterativen Design auf überaus sorgsame Weise mit der Vergangenheit beschäftigen müssen. Wenn Wirklichkeit das ist, was wirkt, gilt es die Wirkkräfte 10
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im Auge zu behalten – ist die Archäologie des Wissens nachgerade eine Lebensnotwendigkeit. Intersubjekt – Work in progress Was aber bedeutet all dies für den Designprozess selbst? Fassen wir zusammen, können wir zunächst die De-Zentrierung des Desig ners festhalten, dann die Reversibilität des Designprozesses, schließlich, dass ein Objekt ein Kompositum aus verschiedenen Zeitschichten sein kann. Es ist evident, dass der Designer, der in einem solchen Umfeld antritt, eine strukturell neuartige Position einnimmt. Zwar verrät vieles eine große Verwandtschaft zu bislang praktizierten künstlerischen Techniken, was das iterative Design jedoch unterscheidet, ist, dass die Arbeit in der Regel nicht beendet ist, sondern dass man es mit einem Work in progress zu tun hat, dass von anderen a) verstanden, b) fortgeführt werden soll. Schon von daher ist der Designer genötigt, sich nicht als selbstgenügsames, autonomes Subjekt zu gebärden, sondern sich mit einem fremden Blick zu betrachten. Dieser skeptische Blick, der von vorneherein davon ausgeht, dass das eigene Tun reversibel und verbesserungswürdig ist, überführt den künstlerischen Prozess in ein post-narzisstisches Stadium. Mag dieses Diktum irritieren, so ist es, als unmittelbare Fremdheits-Erfahrung, in der Auseinandersetzung mit dem Arbeitsspeicher selbst angelegt. Denn insofern der Programmierer schon bei einer überschaubaren Zahl von Variablen (Millers magischer Sieben-Zahl), an die Grenzen seiner Konzentrationsfähigkeit stößt, bedarf es keiner großen Phantasie, um sich auszumalen, dass ein Programm, das letztlich auf Hunderten, ja Tausenden von Variablen beruht, sich zu einer undurchdringlichen Fremde anwächst, ja, irgendwann das Bild einer heillosen Geistesverwirrung abgibt. Gelingt es dem Programmierer, sich in der unmittelbaren Arbeit noch mühelos durch dieses Labyrinth zu bewegen, wird er, wenn er seinen eigenen Code nach Monaten wieder in Augenschein nimmt, mit der irritierenden Einsicht geschlagen, dass ihm große Teile daran selbst fremd und rätselhaft erscheinen. Günter Anders Formel von der Prometheischen Scham (»Ich habe es gemacht, aber ich bin’s nicht gewesen«) trifft hier mit voller Wucht. Denn fehlt der fremde Blick (der rote Faden der Dokumentation, die Überschaubarkeit des modularen Design), läuft die Intuition Gefahr, sich im selbst05
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errichteten Labyrinth zu verlaufen – eine Erfahrung, die man auch als eine Form der Veralzheimerung zu Lebzeiten auffassen kann. Um einen solchen Gau nicht eintreten zu lassen, muss der Schöpfer seinen Code so gestalten, dass jeder andere, der seiner ansichtig wird, ihn nachvollziehen, reproduzieren, im Zweifelsfall auch modifizieren oder einer gründlichen Überarbeitung unterziehen kann. Dies aber heißt: der Code muss modular und selbstbeschreibend sein. Jede einzelne Zeile, jeder Gedankenschritt muss dokumentiert, nachvollziehbar und austauschbar sein. Abermals also die Gleichzeitigkeit von Konstruktion und Dekonstruktion – nur dass sie sich diesmal nicht nur auf die Sache, sondern auf die Perspektive des Schöpfers bezieht. Paradox formuliert besteht das künstlerische Genie fortan darin, sich selbst überflüssig zu machen. Wie wenig dies eine Übertreibung ist, wird sichtbar, wenn man sich die Selbstdisziplinierungstechniken anschaut, die sich im Bereich der Programmierung ausgebreitet haben: etwa, indem der Programmierer seine eigene Syntax strengen Notationsregeln, Qualitätskontrollen und Dokumentationserfordernissen unterwirft. In diesem Sinn wird das Programm, das die Einspeisung des Codes überwacht, zum eigentlichen Souverän, zum maitre absolu, der sicherstellt, dass der Beitrag des Einzelnen der Vergesellschaftungslogik nicht im Weg steht. Versuchen wir die Position des Designers hier zu beschreiben, könnte man den Begriff des Intersubjekts benutzen: also einer Subjektivität, die sich von vorneherein als individuell, aber zugleich auch als austauschbar erlebt, als unabdingbares, gleichwohl arbiträres Glied in einem Kommunikationsgewebe. Ich, insofern ich ein anderer sein könnte.
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Nach der Autorität Die Frage stellt sich: Geht ein solch radikal gewandelter Subjektbegriff überhaupt mit alten Gesellschaftskonzepten zusammen? In Anbetracht der Resonanz, die iterative Designprozesse im Wirtschaftsleben haben, lässt sich sagen, dass man es fast durchweg mit einer Erschütterung hierarchischer Prozesse und Planungshoheiten zu tun, ja, dass nicht wenige Stimmen den Einbruch von Anarchie, Chaos und Planlosigkeit befürchten. Unzweifelhaft operiert ein Team, das Hierarchiefragen der Teamarbeit unterordnet, anders, als man dies im business as usual gewohnt ist – von daher sind Autoritätskonflikte geradezu programmiert. Andererseits: 30
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Dort, wo die Arbeitsweise des iterativen Designs erfolgreich ist, machen sich Produktivitätsfortschritte ungeahnten Ausmaßes bemerkbar. Dass ein besonders gut gearbeitetes Produkt ins Unermessliche hinein skaliert, muss nicht einmal im Beitrag selbst liegen – sondern kann auch daran liegen, dass jedes digitalisierte Objekt weltläufig ist und nach Belieben skaliert (ein Umstand, der dem Regiment der Fabrik und der Massenproduktion den Garaus bereitet). Insofern greift der Paradigmenwechsel die Gesellschaftsfundamente selbst an. Was Arbeit ist, wie sich das Subjekt konstituiert, worin schließlich die Autorität besteht – all dies wird fragwürdig. Will man dieses Paradox auflösen und spürt dem Autoritätsbegriff nach, sieht man, dass Autorität sich nicht nur von der Autorschaft (auctoritas) herleitet, sondern auch auf das augmentare zurückgeht, also auf die Mehrung und Förderung (wir fügen hinzu: des Gemeinwohls). So besehen markiert das iterative Design eine neuartige, gleichermaßen kopflose wie intersubjektive Form von Autorität. Dabei leitet sich die Machtposition nicht aus einem Machtanspruch ab, sowenig wie sie mit einer bestimmten Person oder Gruppe assoziiert werden kann. Autorität basiert auf der Sache selbst, die als »res publica« oder soziale Plastik allgemeine Akklamation findet. In diesem Sinne ließe sich das WittgensteinZitat auch auf die Autorität anwenden: Die Bedeutung von Autorität ist ihr Gebrauch (nämlich dass sie Lösungen anbietet, die gesellschaftlich akklamiert und valorisiert werden). Wie aber passt dies zusammen mit dem Eindruck von Anarchie, Chaos und Planlosigkeit, den die Prozesse des iterativen Designs oft erwecken? Um diese Frage zu beantworten, gilt es, sich nochmals vor Augen zu führen, wie sich ein Iterationszyklus vollzieht. Man entwickelt eine modular eingegrenzte Hypothese und fügt sie dem Programm zu. Anschließend evaluiert man, wie die Gesellschaft auf das neue Feature reagiert. Gibt die Reaktion Anlass zur Hoffnung, verfolgt man den Ansatz weiter; löst sie hingegen die Erwartungen nicht ein, verwirft man die Lösung und versucht einen neuen Ansatz. Zwar liegt hier ein Akt der Autorschaft vor, dennoch wird die Entscheidung, ob man die gegebene Lösung weiterverfolgt, an die Nutzer delegiert – ein Umstand, der sich auch darin niederschlägt, dass im Designprozess die »User-Story« im Vordergrund steht (und nicht, was der Autor damit hat sagen wollen). Dieses Dezen trierungsmoment markiert eine Abrüstung der Planungshoheit.
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Denn der Designer verfährt wie ein Wissenschaftler, dessen Hypothese entweder validiert oder falsifiziert wird, er agiert also im Modus ständiger Selbstkritik und Selbsthinterfragung. Nun gibt es in Fragen des Geschmacks oder der sozialen Usancen keine letzte Instanz. Kann der Naturwissenschaftler auf die Natur als Schiedsrichter bauen, operiert der Designer im Feld der sozialen Plastik. Dies schmälert jedoch die Resultate keineswegs. Denn was sich herausschält, sind Einsichten in soziale Prozesse – psychologischer sowohl als soziologischer Natur. Die Realität, wenn man so will, verwandelt sich zu einem Laboratorium. Im Kontext dieses sozialen Freilandversuchs mögen sich Einsichten ergeben, die in der ursprünglichen Planung nicht vorgesehen waren. So besehen besorgt jede Iteration nicht nur die Validierung oder Falsifizierung einer Logik, sie kann darüber hinaus gänzlich neue Denkräume und -möglichkeiten auftun. Diese Offenheit verbindet die soziale Plastik mit der Kunst, sie löst sie andererseits aus der der Welt der geschlossenen Weltbilder heraus. Anything goes? Vielleicht. Aber bleiben tut nur, was gefällt. Und weil gutes Design nur der Vorschein des Besseren ist: Do it again!
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Wenn Graphikdesign mehr ist, als bloße Unterstützung der Lesbarkeit eines Textes, d.h. wenn sie dem Leser eine Struktur zur Hand gibt, die er über den Text legt […], dann sortiert Graphikdesign.
Apl.-Prof. Dr. phil. Jakob Steinbrenner ist 1959 in Frankfurt geboren. Von 1976 – 1982 Mitarbeit an den Städtischen Bühnen Frankfurt u.a. als Regieassistent bei Hans Neuenfels. Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Frankfurt und München. Promotion 1994. Habilitation im Fach Philosophie in München 2002. Professurvertretungen an der LMU München, der Universität Stuttgart und der Universität Münster, seit Oktober 2012 akademischer Rat am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart. Er ist Verfasser von Kognitivismus in der
Ästhetik; Königshausen & Neumann 1996; Zeichen über Zeichen, Synchron 2004 und Mitherausgeber von Kunst und Philosophie: Ästhetische Werte und Design: Stuttgart, Hatje-Cantz, 2010 (zusammen mit J. Nida-Rümelin). Seine Forschungsschwerpunkte sind Theoretische Philosophie, Kunst- und Zeichentheorie.
»I« »N« »F« »O« »S« sortieren oder Grundsätzliches zum Graphikdesign Jakob Steinbrenner
1. Graphikdesign im weiteren Sinne ist Sortieren. 2. Graphikdesign im engeren Sinne sind Werke innerhalb ästhetischer Zeichensysteme, die Ausdruck oder Ergebnis von Sortierhandlungen sind. 3. Diese Werke bestehen in der Regel aus mehreren Exemplaren, die zusammen das Werk bilden. 4. Ein ästhetisches Zeichensystem ist analog, exemplifizierend und (metaphorisch) projizierbar. 5. »Analog« heißt, kein Exemplar eines Werks kann durch ein nicht legitimiertes unbeschadet seiner syntaktischen und semantischen Merkmale ausgetauscht werden. 6. »Exemplifizierend« heißt, jedes Exemplar verweist innerhalb eines bestimmten Kontextes auf bestimmte Sortierungen. 7. »Projizierbar« heißt, ästhetische Zeichen erlauben eine neue (metaphorische) Sortierung bereits bekannter Gebiete bzw. sind durch andere Zeichen fortsetzbar.
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Für diese Thesen möchte ich im Folgenden argumentieren. Ausgangspunkt ist dabei die unleugbare Tatsache, dass wir von früh an lernen, Dinge zu sortieren und dies zu den grundlegenden menschlichen Fähigkeiten gehört. Hierzu gehört auch unsere Arbeit als Wissenschaftler, die im Wesentlichen darin besteht, dass wir Texte und Informationen sortieren. Systeme, in denen dies geschieht, bei der Manuskriptgestaltung, dem Ordnen von längeren Texten, Zettelkästen, Powerpointfolien etc., sind Legende. Diese Beobachtungen sollen meine Thesen stützen, dass Graphikdesign, Anfertigung von wissenschaftlichen Postern etc. zum großen Teil nichts anderes wie eine spezielle Form des Sortierens ist. Ich werde im Folgenden unterschiedliche Formen des Sortierens vorstellen, daran anzuschließend einige grundlegende Gedanken zum Sortieren darlegen und abschließend versuchen, die vorgestellten Sortierungen zur Motivation meiner Thesen heranzuziehen. 25
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I. Gegenstände sortieren I.I. Künstler sortieren Spätestens mit der Britischen Landart fand augenscheinlich das Sortieren von Fundstücken Eingang in die bildende Kunst. Erinnert sei beispielhaft an Richard Long. In vielen seiner Arbeiten handelt es sich um ortspezifisches Sortieren ähnlicher Gegenstände an einem bestimmten Platz und in einer gewählten Form (Kreis, Rechteck etc.). Das Auslegen der Form wird durch die Größe der einzelnen Gegenstände bestimmt, die obwohl von derselben Art (Schwemmholz, Steine eines Feldes etc.) sich in ihrer Größe und Form unterscheiden. Daher könnten die Gegenstände nicht einfach ohne Änderung des Gesamteindrucks durch Gegenstände der gleichen Art innerhalb der gewählten Form ersetzt werden.1 Hierin unterscheiden sich diese Gegenstände von Buchstabenvorkommnissen, die innerhalb von Texten durch typgleiche unbeschadet syntaktischer und semantischer Verschiebungen ausgetauscht werden können.2 Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass es sich bei den Gegenständen um ganz bestimmte handelt, die nicht durch andere nichtausgewählte ersetzt werden dürfen. Gleichwohl besteht innerhalb der Formen keine weitere Sortierung. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Arbeiten von Tony Cragg. Bei ihm werden die Fundstücke (farbiger Plastikmüll) ähnlich wie bei Long dazu benutzt, eine Form auszulegen.3 Die Formen haben aber im Gegensatz zu Longs Arbeiten eine weitere Binnenst ruktur. Beispielsweise gilt das für Craggs Arbeit New Stones – Newton’s Stones (1979). In dieser Arbeit werden Gegenstände, nämlich Fundstücke gleichen Materials (PVC), aber unterschiedlicher Farbigkeit, in einem Rechteck zwischen zwei Farbpolen ausgelegt. Eine noch differenziertere Binnenstruktur besitzt Craggs Arbeit Palette (1985). In dieser Arbeit bekommen die einzelnen Plastikabfälle einen »semantischen Wert«, da sie für unterschiedliche Farben einer Palette stehen. Wenn auch die einzelnen Gegenstände in den Arbeiten von Long und Cragg – wenn man so will – eine individuelle Geschichte haben, exemplifizieren sie nicht individuelle Ge-
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1 Vgl. dazu das Video Richard Long Arnolfini 2015 (http://www.richardlong.org/Documentations/documentations.html), in dem u.a. zu sehen ist, wie sorgfältig und präzise Long eine Form auslegt. 2 Daher reserviere ich die Ausdrücke »Vorkommnis« und »Typ« im Folgenden für sprachliche Zeichen (Buchstaben, Ziffern, Noten etc.), da bei ihnen spezielle Praktiken der Identifikation vorliegen, (vgl. Jakob Steinbrenner: Zeichen über Zeichen.
Grundlagen einer Theorie der Metabezugnahme, Heidelberg 2004, Kap. I). 3 Der Ort des
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schichten von Personen. Dies trifft hingegen auf die Arbeit Raffael Rheinsbergs Hand and Foot (1980) zu. Die Schuhe in Rheinsbergs Installation gehörten Zwangsarbeitern im »Dritten Reich«. Jedes dieser Schuhpaare erinnert somit an ein bestimmtes Schicksal einer Person.4 Zudem erinnert die Sortierung an die Aufstellung während eines Apells, der zum täglichen Rhythmus des Tages eines Zwangsarbeiters gehörte. Die Form der Reihen (Abstand, Länge etc.) ist somit für die Arbeit wesentlich und damit nicht (oder höchstens durch den Künstler) veränderbar. Wie Rheinsberg die Gegenstände gefunden hat, scheint für die Arbeit Rheinsbergs nicht konstitutiv zu sein. Vor allem bei Long, aber auch bei Cragg gehört das Wandern bzw. Gehen durch bestimmte Gebiete der Welt in gewisser Hinsicht zum Werk, das als ein Ergebnis dieser Bewegungen gelten kann. An dieser Stelle ist es wichtig, auf eine Ambiguität hinzuweisen: Das Werk ist ein Gegenstand, der aus weiteren Gegenständen oder Teilen an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit zusammengesetzt ist. Für Werke der Bildenden Kunst gilt, dass kein Teil durch ein anderes ersetzt werden kann, ohne dass dies zu Veränderungen des Werks führt. Für Werke der Literatur gilt dagegen, dass deren Teile, also atomare Vorkommnisse (Buchstaben, Satzzeichen etc.) oder zusammengesetzte Vorkommnisse, durch typgleiche, unbeschadet der syntaktischen und semantischen Merkmale des Werks, ersetzt werden können.5 Werke der bildenden Kunst sind daher analog. (Wie zu sehen sein wird, nimmt das Graphikdesign m. E. eine Zwischenstellung zwischen Bildender Kunst und Literatur ein.) Halten wir die unterschiedlichen möglichen Kriterien der beschriebenen Sortierungen fest: Erstens sind Sortierungen gleichartiger Fundstücke in einer Form ortsgebunden, d.h. die Sortierung findet an einem bestimmten Ort (und zu einer bestimmten Zeit) statt. Damit ist das Werk Ausdruck einer orts- und zeitgebundenen Sortierung. Zweitens bestimmt die Form und Größe der einzelnen Gegenstände ihren Platz innerhalb der Form des Werks. Deshalb können die Gegenstände nicht untereinander ausgetauscht werden. 05
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Kunstwerkes ist aber nicht gleich zahlreicher Arbeiten Longs ortspezifisch, daher können sie in unterschiedlichen Räumen problemlos gezeigt werden. 4 Jedes Schuhpaar exemplifiziert seinen Träger und alle zusammen eine Klasse von Menschen. 5 Ich stütze mich hier und im Folgenden hinsichtlich der Bestimmungen von Kunstgattungen im Wesentlichen auf die Überlegungen von Nelson Goodman (vgl. Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach
to a Theory of Symbols, Indianapolis 1976.)
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Zumindest drei weitere Fälle sind hier möglich: (a) jeder Gegenstand liegt unverrückbar genau an seinem Platz; (b) eine bestimmte Anzahl von Gegenständen können mehr oder minder beliebig innerhalb einer Form angeordnet werden; (c) die Gegenstände können nach bestimmten, durch den Künstler vorgegebene Regeln durch »typgleiche« ausgetauscht werden. Innerhalb der Gesamtform sind Binnensortierungen nach zusätzlichen Merkmalen möglich. Hierzu müssen die gleichartigen Gegenstände eine weitere Dimension besitzen, die Sortierungen erlauben. Neben Sortierungen nach Eigenschaften (Qualitäten, Formen etc.) bieten sich zum Beispiel regelhafte Reihen an. Selbst bei relativ gleichartigen Gegenständen gilt es jedoch, den jeweiligen Status der einzelnen Gegenstände zu beachten. Das heißt, sehr ähnliche Gegenstände können nicht durch andere ersetzt werden (s.o.), auch wenn sie auf den ersten Blick ununterscheidbar erscheinen.6 Offensichtlich ist dies der Fall bei der Arbeit von Rheinsberg. Jeder Schuh hat eine individuelle Geschichte und kann nicht durch einen anderen ersetzt werden.7 Alle besprochenen Arbeiten einigt ein Grundzug: Fundstücke werden innerhalb einer Form oder eines Rahmens nach bestimmten Prinzipien sortiert. Die Fundstücke selbst sind auch Ergebnis einer bestimmten Sortierung (Qualität, Ort, Geschichte etc.).8 Für die künstlerische Relevanz der Werke ist zudem von größter Bedeutung, dass sie sich mehr oder minder aufeinander beziehen. So ist beispielsweise die Arbeit von Cragg ohne die Arbeit von Richard Long undenkbar. Das heißt die jeweils nachfolgenden Künstler beziehen sich mit ihren Arbeiten auf jene der Vorgänger und übernehmen und ändern auf eine oder andere Weise die Sortiervorgänge.9 Die Qualität und Relevanz der Arbeiten lässt sich in dem Sinne daran bemessen, inwiefern Sortiervorgänge von nachfolgenden Künstlern übernommen werden, sie also projizierbar und in Abwandlungen fortsetzbar sind. Projizierbarkeit kann beispielsweise darin bestehen, dass wir bei einer Wanderung Handlungen und Wahrnehmungen im Sinne der Arbeiten Longs 05
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6 Vgl. Jakob Steinbrenner: »Fälschung und Identität«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allge35
meine Kunstwissenschaft 53 (1998), S. 189 – 208. 7 In diesem Sinne sind die Schuhe autographisch, d.h. für jeden einzelnen Schuh ist seine Geschichte bedeutsam und daher kann kein Schuh durch einen »typgleichen« ausgetauscht werden (vgl. zum Ausdruck »autographisch« Goodman: Languages of Art, a.a.O.). 8 Die Werke sind dabei in dem Sinne abgeschlossen, dass sie nicht durch weitere Gegenstände ergänzt bzw. verändert werden können. 9 Vgl. Jakob Steinbrenner: »Übergänge«, in: In Bildern denken?, hrsg. v. Ulrich Nortmann u. Christoph Wagner, München 2010, S. 95 – 104. In diesem Text gehe
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machen, d.h. wir imitieren Longs Sortierungen oder wir lösen uns im Sinne Craggs von Longs romantischer Sortierung und wenden uns Industrieabfällen zu.10 Kommen wir nun zu Sortierungen, die einfacher aber gleichwohl grundlegender sind.
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I.II. Einfache und grundlegende Formen des Sortierens Kinder lernen von früh an Gegenstände nach Eigenschaften, bestimmten Orten, Anzahl und unterschiedlichsten Zusammenhänge zu sortieren. Eine der grundlegendsten Formen des Sortierens besteht sicherlich darin, Gegenstände zu benennen und sie dadurch zu klassifizieren.11 Gleichwohl kann die Klassifikation bildlich (erinnert sei an die Sortierungen in der bildenden Kunst) respektive nonverbal sein. So lässt sich bei Kindern auch ein Sortieren beobachten, das ohne jedwede sprachliche Begleitung bzw. dem Erzeugen von sprachlichen Vorkommnissen passiert. Häufig besteht jedoch der Anlass des Sortierens darin, dass den Kindern »explizit« vorgemacht wird, wie zu sortieren ist, oder sie machen mehr oder minder unbewusst nach, wie andere sortieren. Zu dem ersten Fall gehört, dass Kinder korrigiert werden, wenn sie die Gegenstände falsch sortieren.12 Das Lernen von Sortiervorgängen ist somit allgemein ein Fall des Vor- und Nachmachens (s.u.). Jemand macht vor, wie sortiert wird und das Kind imitiert dies. Hierunter fällt auch, dass das Kind die geeigneten Gegenstände oder Vorkommnisse selbst zu erzeugen lernt (bspw. lernt der Grundschüler, Vorkommnisse eines bestimmten Buchstabentyps zu schreiben) oder das Kind lernt selbständig, bestimmte (Zahlen) Reihen zu bilden. Eng verwandt mit letzterem ist der Fall, dass ein Kind sich durch Sortierungen in Reihen größere (zeitliche oder räumliche) Bereiche erfassbar macht.13 Wichtig ist mir bei all den unterschiedlichen Formen des Sortierens der Gedanke, dass Sor10
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ich zudem der Frage nach, inwiefern solche Übernahmevorgänge auch im Oeuvre jeweils einzelner Künstler zu finden sind. 10 Zur Projizierbarkeit von Kunstwerken vgl. Nelson Goodman: Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978, Kap. 7 und Jakob Steinbrenner: »ArtSamples: On the Connection between Art and Science«, in: From Logic to Art, hrsg. v. Gerhard Ernst u.a., Frankfurt a. M. 2009, S. 251 – 268. 11 Anstatt von »Sortieren« ließe sich auch von »Kategorisieren« sprechen. Letzteren Ausdruck möchte ich jedoch vermeiden, da zumindest in der Philosophie dies eine platonistische bzw. aristotelische Auffassung nahelegt (vgl. Abs. 2). 12 Gleichfalls beginnen Kinder sehr früh schon, andere zu korrigieren, d.h. beispielsweise Dinge wieder an »ihren Platz« zurückzulegen. 13 Einer der Lieblingsfragen meines Sohnes war z. B. »Und dann?«, wenn man sagte, was zunächst zu tun sei. Auf diese Weise ordnete er die für ihn vorstellbare künftige Zeit. Sor-
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tierungen Handlungen sind, die erlernt und gegebenenfalls weiterentwickelt werden.14 Gegen meine Auffassung lässt sich einwenden, dass Sortiervorgänge nicht prinzipiell erlernt werden müssen, sondern vielfach rein automatisch geschehen. Erinnert man sich an zahlreiche Sortiermaschinen in den unterschiedlichsten Bereichen, scheint es augenfällig zu sein, dass quantitative Sortierungen keiner kognitiven Fähigkeiten bedürfen. Eine Kartoffelsortiermaschine sortiert beispielsweise nach Größe mithilfe unterschiedlicher Siebe und auch in der Natur werden Dinge oft rein mechanisch sortiert (beispielsweise Steine nach Größe durch einen Fluss). Bei automatischen Sortiermaschinen sollte man jedoch nicht vergessen, dass sie in gewisser Hinsicht das Ergebnis einer langen Sortierpraxis sind. Ihre Sortierleistung kann sie nur in einem genau spezifizierten Kontext erbringen. So wird vorausgesetzt, dass nur gesunde Kartoffeln und keine anderen Gegenstände (z.B. Steine) sortiert werden und dass die »Kategorisierung« Kundenwünschen entspricht. Für automatische Sortierhilfen gilt allgemein, dass eine Vorsortierung stattfindet. Noch so einfache Sortiermaschinen bedürfen menschlicher Kontrolle und sind das Ergebnis höchst komplexer kognitiver Fähigkeiten innerhalb ganz unterschiedlicher kultureller Praxen. Im Fall des Flusses dagegen werden die Steine »zufällig« durch die Regeln von Naturgesetzen sortiert und es handelt sich dabei nicht um das Ergebnis einer Klassifikation, wie es beim Sortieren, um das es hier geht, der Fall ist.
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II. Vorstellungen sortieren oder das Problem der Abstraktion Kann aber gegen meinen Gedanken, dass Sortierung immer auf erlerntem Wissen beruht, nicht eingewendet werden, dass wir unsere Vorstellungen vielmals blind und unüberlegt sortieren? Ist es nicht ein naheliegender Gedanke, das menschliche Hirn bzw. den menschlichen Geist als raffiniertes Kartoffelsieb aufzufassen? Kurzum, was spricht gegen den Gedanken, dass unser Hirn bzw. Geist ein angeborenes Kategorisierungssystem, das unsere Eindrücke sortiert, enthält? Diese Auffassung ist alles andere als unum-
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tierungen dieser Art sind für Menschen grundlegend. Dies zeigt sich auch darin, dass wir unsere Mitmenschen nur als moralische Subjekte auffassen können, wenn wir ihnen zuschreiben können, so etwas wie einen (Lebens)Plan zu haben (vgl. Robert Nozick: Anarchie, Staat,
Utopie, München 2006, Kap. 3, Absatz »Worauf gründen sich Nebenbedingungen?«). 14 Inwiefern das Vormachen (von Sortierungen o.a.) prinzipiell sprachlich eingebettet ist, ist
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stritten, da es äußerst fraglich ist, ob wir ein solches angeborenes Sortiersystem besitzen. Ein prominenter Gegner dieser Auffassung war John Locke, der davon ausging, dass unser Geist bei unserer Geburt eine tabula rasa sei. Auf dieser Tafel ›drücken‹ sich unsere Eindrücke ›ab‹ und mit der Zeit entwickeln wir aus diesen unterschiedlichen Eindrücken abstrakte Begriffe von Formen, Farben etc. Diese Begriffe erlauben uns im Folgenden, unsere Eindrücke zu sortieren und komplexere Sortierungen zu entwickeln. Lockes Auffassung, dass wir keine angeborenen Ideen besitzen, wurde von George Berkeley geteilt. Gleichzeitig kritisiert er aber vehement Lockes Überlegungen zu abstrakten Ideen. Berkeley warf ihm vor, dass wir uns so etwas wie z. B. ein abstraktes Dreieck gar nicht vorstellen können. Was wir uns nach Berkeley vorstellen können, ist immer nur ein bestimmtes Dreieck, d.h. mit bestimmten Winkeln und Seitenlängen und keines, das weder rechtwinklig, stumpfwinklig etc. ist. Dieses konkrete Dreieck kann dann nach Berkeley u. U. für alle anderen Dreiecke stehen15 bzw. diese symbolisieren. Auf die Frage aber, wie es uns gelingt, festzustellen, welche Gegenstände von dem konkreten Dreieck symbolisiert werden, gibt uns Berkeley meines Wissens nach keine Antwort. Das gleiche Problem stellt sich bei Begriffen von Farben, Möbelstücken etc. Hume, der prominenteste Empirist, der in weiten Zügen Berkeleys Auffassung teilte und ebenso wie dieser leugnete, dass reale, beobachterunabhängige Eigenschaften in der Welt zu finden seien, noch angeboren in unserem Geist existieren, schlug folgende Lösung vor: Alles, was wir besitzen, sind einzelne konkrete Vorstellungen bzw. Eindrücke und unsere Fähigkeit der Assoziation und Verknüpfung von Vorstellungen. Drei Sortierarten nennt Hume: Ähnlichkeit, unmittelbare räumliche und zeitliche Verknüpfung und Kausalität (I.4). Hierbei spielt die Ähnlichkeit bei der Sortierung die wichtigste Rolle, denn sie erlaubt uns, zwischen »auseinanderliegenden« Vorstellungen Gemeinsamkeiten festzustellen.16 Wir sortieren Vorstellungen (Gegenstände) »nach verschiedenen Gesichtspunkten, den Ähnlichkeiten entsprechend, welche sie mit anderen Objekten haben« (ebd. S. 40). Humes Beispiel hierfür ist eine weiße Marmorkugel, die wir hinsichtlich ihrer
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eine Frage, der ich hier nicht nachgehen kann. 15 Das Stehen-Für ist jedoch eine semantische und keine natürliche Relation. 16 Dabei erkennen wir intuitiv, dass zwei Vorstellungen einander ähnlich sind (ebd. S. 94).
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Form, Farbe oder Material einsortieren können. Voraussetzung für die möglichen Sortierungen ist jedoch, dass wir zumeist unbewusst die Vorstellung der weißen Marmorkugel im Geiste aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit weißen Marmorwürfeln, bunten Kugeln oder weißen Gegenständen assoziieren (ebd.). Berkeleys Problem, wie wir feststellen, für welche anderen Gegenstände ein konkreter Gegenstand steht bzw. welche er symbolisiert, hat sich bei Hume in dem Sinne verschoben, dass wir nun nicht mehr nach der Symbolisierung sondern der Ähnlichkeit fragen. Humes Ansatz bleibt bestimmend für psychologische Ansätze des 19. Jahrhundert und den Positivismus. Somit bleibt auch das Problem, den erkenntnistheoretischen und ontologischen Status der Ähnlichkeit zu bestimmen, bestehen. Dies gilt insbesondere für Rudolf Carnaps Ansatz, demzufolge »Elementarerlebnisse« im Erlebnisstrom punktuell und eigenschaftslos sind. Erst dadurch, dass wir sie in Ähnlichkeitsbeziehungen zu anderen Stellen im Erlebnisstrom setzen, erlaubt uns, ihnen Qualitäten zuzuschreiben, denn alleine durch solch eine In-Beziehungs-Setzung und Vergleichung werden sie ausgesondert und damit qualitativ erlebt. Ob der Versuch, Eigenschaften mithilfe der Ähnlichkeit zu erklären, prinzipiell erfolgreich sein kann, ist bezweifelbar. Grund hierfür sind u.a. folgende Probleme: (1) Wenn wir behaupten, dass zwei Gegenstände einander ähnlich sind, heißt dies so viel (siehe Hume), dass sie in einer Hinsicht ähnlich sind. Aber damit wir von einer Hinsicht sprechen können, bedürfen wir Prädikate, die (nach Auffassung des Realisten oder Konzeptualisten) Eigenschaften bezeichnen. Daher sind Eigenschaften nicht auf die Ähnlichkeitsbeziehung reduzierbar. Nimmt man dagegen mit Carnap an, dass Ähnlichkeitsbeziehungen nicht reduzierbar sind, steht man vor dem Problem zu bestimmen, wann zwei Ähnlichkeitsbeziehungen »ähnlich« sind. So kann a zu b und b zu c in einer Ähnlichkeitsbeziehung zueinander stehen, aber daraus folgt nicht, dass ebenso a zu c in solch einer Beziehung steht.17 Zudem gilt, dass in irgendeiner Hinsicht Jedes mit Jedem ähnlich ist (z.B. weil sie in ihrer Unähnlichkeit miteinander ähnlich sind) und daher eine nicht näher spezifizierte Verwendung des Ausdrucks »ähnlich« leer läuft.
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17 Vgl. zur Kritik am Ähnlichkeitsbegriff allgemein Goodman Problem and Projects, Indianapolis 1972. Kap. IX2. 442, und zu Carnap Goodman The Structure of Appearance, Indianapolis 1951, Kap. 4. Inwieweit Goodmans eigene Idee, Ähnlichkeit mithilfe von Äquivalenzklassen
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Schließlich lassen sich gegen Theorien, die versuchen, über mentale Zustände Eigenschaften, Kategorisierungen etc. in der Welt zu erklären, einwenden, dass hiermit Probleme nur internalisiert werden.18 Ohne an dieser Stelle die Diskussion weiter vertiefen zu wollen, sprechen gute Gründe gegen eine konzeptionalistische Auffassung, in der davon ausgegangen wird, dass wir so etwas wie angeborene abstrakte Begriffe (wenn auch nur einen der Ähnlichkeit) haben. Ebenso wenig überzeugend ist – wie skizziert – der Gedanke, dass Personen völlig eigenständig Sortierungen respektive Kategorisierungen oder Begriffe bilden oder dass sich Eigenschaften mit Hilfe des Ausdrucks »ähnlich« analysieren lassen. Sortierungen sind vielmehr, wie zu zeigen sein wird, Ergebnis einer jeweiligen sozialen Praxis.
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III. Informationen sortieren oder: Erst das Ei oder das Huhn? Ungeachtet der dargestellten Problematik kann nicht geleugnet werden, dass wir von unseren Mitmenschen von klein an dazu abgerichtet werden, Dinge auf bestimmte Weise zu sortieren. Wenn eine Person Sortierungen dieser Art einigermaßen beherrscht, dann lässt sich in vielen Fällen zurecht behaupten, dass sie weiß, was Rot, Äpfel, Birnen etc. sind.19 Wenn man an dem Ausdruck »Begriff« hängt, dann lässt sich sagen, jemand kann nicht deshalb sortieren, weil er einen Begriff beherrscht, sondern er beherrscht einen Begriff, indem er sortieren kann. So ist es üblich, dass wir nicht zuletzt anderen Personen Begriffe, Absichten, Überzeugungen etc. zuschreiben, weil sie auf bestimmte Weise Dinge sortieren. Sortierungen können dabei auf unterschiedliche Weisen durchgeführt werden und doch zu gleichen Ergebnissen führen. Ebenso kann die gleiche Sortierung unterschiedlich interpretiert werden. Selber lernen wir Sortieren zumeist dadurch, dass wir nachmachen, was kompetente Personen machen bzw. uns vormachen. Voraussetzung vom Nachmachen ist – so zumindest nach einer geläufigen Auffassung –, dass wir verstehen, was und warum jemand etwas tut. Wir müssen also in einem bestimmten Kontext verstehen, auf welche Weise, beispielsweise mit welcher Technik, 15
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zu erklären, durchführbar ist, sei dahingestellt (vgl. Steinbrenner: Zeichen über Zeichen, a.a.O., 1.4). 18 Vgl. Wolfgang Stegmüller: Glauben, Wissen und Erkennen. Das Uni-
versalienproblem einst und jetzt, Darmstadt 1974, insbesondere S. 70. 19 Probleme zur ontologischen Relativität respektive der Frage, worin die Identität von Gegenständen besteht, seien hier ausgeklammert, auch wenn sie zur Beschreibung von Sortiervorgängen
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jemand ein bestimmtes Ziel erreichen will. Für das Sortieren heißt das, wir wissen, wie jemand etwas sortiert und was für ein Ergebnis er mit der Sortierung erzielen will. Und wenn wir etwas gelungen nachmachen, dann machen wir zum einen die Art und Weise des Vorgemachten nach und zum anderen erreichen wir damit das gleiche Ziel wie der Vormachende. Häufiges Nachmachen führt schließlich meistens dazu, dass wir uns »blind« in Sortierungen zurecht finden. Das heißt, die uns vertraute Art der Sortierung erlaubt mit wenigen Blicken eine (erste) Orientierung in einem Gebiet zu erlangen oder festzulegen. Wie aber erlernen wir, Sortierungen nachzumachen? Will man diese Frage beantworten, ist es sinnvoll, in einem ersten Schritt zu klären, was es heißt jemandem etwas vorzumachen bzw. etwas nachzumachen. Wie bereits angedeutet, gehe ich davon aus, dass im strengen Sinne nur Handlungen nachgemacht werden können. Unter Handlungen verstehe ich, wie allgemein üblich, Tätigkeiten, die mit einer bestimmten Absicht ausgeführt werden. Nachmachen setzt daher voraus, dass Tätigkeit und Absicht auf ähnliche Weise imitiert werden. Ein Streitpunkt in der Imitationstheorie ist, ob wir andere nur deshalb imitieren können, weil wir ihre Absichten verstehen20 oder imitieren wir andere und verstehen dadurch die Absichten, welche zu ihren Handlungen führen. Beim Nachmachen fühle ich mich gewissermaßen dadurch, dass ich eine Handlung ausführe (oder zumindest im Geiste imitiere), in den anderen hinein. Aus dieser Erfahrung heraus kann ich auf die Absichten anderer schließen.21 Für das Sortieren als Nachmachen aufgefasst, bedeutet dies im ersten Fall, dass dadurch Wissen bzw. Überzeugungen weitergeben werden (zumindest an die imitierende Person) und im zweiten Fall, dass durch das Imitieren der Tätigkeit des anderen, seine Absichten erfasst werden. Ungeachtet dieses Unterschieds der Erklärung wie das Verhältnis von Imitation und Absichten zu deuten ist, sind sich aber die meisten Autoren darüber einig, dass Nachmachen Neuigkeit implizieren muss, d.h. der Imitierende macht 05
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durch Personen höchst relevant sind (vgl. Willard v. O. Quine: »Das Sprechen über Gegen35
stände«, in: ders.: Ontologische Relativität und andere Schriften, Stuttgart 1975, S. 7 – 40). 20 Diese Auffassung ist meines Wissens die Mehrheitsmeinung und wird unter anderem von Goldman und Tomasello vertreten: Alvin I. Goldman: »Imitation, Mindreading, and Simulation«, in: Perspectives on Imitation. From Neuroscience to Social
Science, hrsg. v. Susan Hurley u. Nick Chater, Cambridge MA 2005, S. 79 – 93; Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt a. M. 2002. 21 Diese Auffassung wird beispielsweise von Meltzoff vertreten: Andrew Meltzoff:
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etwas für ihn Neues nach und wiederholt nicht nur bereits durch ihn vollzogene Handlungen. Zudem muss die imitierende Handlung zeitlich verschoben von der originalen Handlung vollzogen werden.22 Ob diese unterschiedlichen Erklärungen – wir lernen die Absichten der anderen durch Imitieren oder wir können imitieren, weil wir die Absichten erkennen – für das Erfassen frühkindlicher Imi tation – und um diese geht es im Wesentlichen in dieser Auseinandersetzung – miteinander vereinbar sind, sei dahingestellt. Für das Nachmachen allgemein scheinen aber je nach Fall beide Erklärungen möglich. Für das Sortieren heißt dies, Sortierungen können imitiert werden, da der Imitator die Handlung und die damit verbundene Absicht erkannt hat oder durch gleichartiges Sortieren erkennt der Imitator die Absichten des Modells. Man denke etwa an den Fall, dass man beim Abschreiben eines Beweises den Beweis versteht. Der entscheidende Punkt ist auf jeden Fall der, dass der Imitierende so oder so versteht, warum das Modell auf diese Weise sortiert, sprich, was es mit der Sortierung bezweckt. Ganz entscheidend für das Nachmachen ist offensichtlich, dass Modell und imitierende Person ein großes geteiltes Hintergrundwissen besitzen. Der Vormachende muss wissen, was er Vormachen will und inwiefern der Imitierende dies verstehen kann. Hierzu muss der Vormachende das Wissen und die Fähigkeiten des Imitierenden sehr gut einschätzen können. Der Imitierende dagegen muss verstehen, was vorgemacht wird. Dies ist nur möglich, wenn die imitierende Person den Kontext einschätzen kann und beruhend auf diesem die Absichten und Fähigkeiten des Vormachenden versteht. Sortieren ist somit eine soziale Praxis, die auf geteiltem Wissen beruht, und die sich darin zeigt, ein gegebenes Gebiet nachvollziehbar zu ordnen. Das Ergebnis der Sortierhandlung exemplifiziert diese Ordnung. 05
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IV. Graphikdesign Wenden wir uns von diesen Überlegungen nun dem Graphikdesign zu. Der Autor muss offensichtlich nicht nur wissen, wie sein Stoff gegliedert werden kann, sondern er muss vor allen Dingen den Kontext der kommunikativen Situation kennen und das Wissen seines Adressaten einschätzen können. Er wird dazu Sortierungen 35
»Imitation and Other Minds: The ›Like Me‹ Hypotheses«, in: Perspectives on Imitation, hrsg. v. Hurley u. Chater, a.a.O., S. 55 – 77. 22 Dies setzt Erinnerungsvermögen beim Imit-
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wählen, von denen er zum einen annimmt, dass sein Adressat sie versteht und zum anderen, dass sie für ihn neu (und damit nicht trivial) sind. Er wird zudem eine Sortierung entwickeln wollen, die für den Adressaten einen (praktischen) Nutzen besitzt.23 Das heißt, sie sollte von der Art sein, dass der Adressat sie anschließend nutzbringend anwenden kann. Zum besseren Verständnis meines »Sortiervorschlags« betrachten wir zuerst folgendes Beispiel:
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»6.54: Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)
Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. 7: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«24
Mit dieser Satzsequenz endet eines der wohl prominentesten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts. Es ist nicht zuletzt deshalb so bekannt, weil Wittgenstein ein rigides Nummerierungssystem wählte, mithilfe dessen er die Sätze seines Werks sortierte. Der Leser kann dabei tatsächlich auf die Idee kommen, dass er die Sätze gleich Leitersprossen, beginnend beim § 1, hinaufsteigt, um schließlich zur Einsicht von §7 zu gelangen. Das Sortiersystem ist also ein hierarchisches und die Reihenfolge somit streng festgelegt. Ganz zu Beginn in der ersten Fußnote gibt Wittgenstein zudem einen weiteren Hinweis zu seiner Sortierung:
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»Die Decimalzahlen als Nummern der einzelnen Sätze deuten das logische Gewicht der Sätze an, den Nachdruck, der auf ihnen in meiner Darstellung liegt. Die Sätze n.1, n.2, n.3, etc., sind Bemerkungen zum Satze No. n; die Sätze n. m1, n.m2, etc. Bemerkungen zum Satze No.n.m; und so weiter.«
ator voraus und ist Grundlage für kulturelles Erinnern. 23 Der Autor muss kurz gesagt, die Grice’schen Konversationsmaxime berücksichtigen (H. Paul Grice: »Logic and Conversation«, in: Speech Acts (= Syntax and Semantics, Bd. 3), hrsg. v. Peter Cole u. Jerry L. Morgan, New York 1975, S. 41 – 58.), d.h. die Forderung: Sage nur, was informativ, wahr und wichtig ist, und sage dies klar und deutlich! 24 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logicus-
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Die Sätze werden also von Wittgenstein nicht nur eindimensional hierarchisch geordnet, sondern zudem nach Wichtigkeit. Gerade letzterer Punkt stieß jedoch in der Rezeption Wittgensteins auf Bedenken. Max Black schreibt beispielsweise, »the device is so misleading as to suggest a private joke at the reader’s expense«.25 Zur Kritik an Wittgensteins Nummerierung kommt es u.a. deshalb, weil zentrale Sätze nicht, wie zu erwarten wäre, durch ein- oder zweistellige Zahlen gekennzeichnet sind, sondern durch fünfstellige (ein prominentes Beispiel ist § 4.0312). Dass diese Kritik zumindest fraglich ist, legen Verena Mayers Überlegungen (dies. 1993) nahe. Sie weist nach, dass die Nummerierung im Tractatus teilweise von Wittgenstein aus seinem Prototractatus übernommen wurde. Dort aber verwendete er eine Sortierung, die zweckmäßig für das Verfassen seiner Überlegungen war, jedoch nur bedingt zur Präsentation. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass die wichtigsten Sätze im Prototractatus auf den ersten Seiten standen (die einstelligen und zweistelligen auf Seite drei, die wichtigen dreistelligen auf Seite fünf usw.27), während auf hinteren Seiten die Kommentare Wittgensteins mit fortlaufender Nummerierung zu seinen Sätzen der ersten Seiten zu finden sind. Um die Metapher der Leiter zu strapazieren: Der Leser nahm auf den ersten Seiten die wichtigsten Sprossen, während auf hinteren Seiten die kleineren genommen wurden. Meine Metapher ist jedoch offensichtlich wenig glücklich, nicht zuletzt deshalb, weil wir beim Hinaufsteigen einer »guten« Leiter davon ausgehen, dass die Abstände gleich bleiben. Ohne auf die weiteren Feinheiten des Tractatus einzugehen, sei schließlich noch erwähnt, dass er nicht einfach in einer Umsortierung der Sätze des Prototractatus besteht, sondern Wittgenstein zudem Sätze aus seinen Tagebüchern eingearbeitet hat. Der springende Punkt für meine Überlegungen ist gleichwohl der, dass der Tractatus Ausdruck zweier Sortierungen ist: Nämlich einmal die von Wittgenstein für den Leser intendierte, in der von einer Stufe zur nächsten hierarchisch (über bestimmte ausgezeichnete Stufen) aufgestiegen wird. Und zweitens einer Sortierung, in der auf den ersten Seiten die wichtigsten Gedanken aufgeführt werden und der Autor
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philosophicus, Frankfurt a. M. 1963, §6 f. 25 Max Black: A Companion to Wittgenstein’s ›Tractatus‹, Cambridge MA 1964, S. 2. 26 Verena Mayer: »The Numbering System of the Tractatus«, in: Ratio 6 (1993), S. 108 – 120. 27 Es gibt wenige Ausnahmen, die uns aber hier nicht beschäftigen müssen. 28 Während der Tractatus nicht zuletzt durch die beiden anfangs zitierten Paragraphen einen klaren Abschluss hat, ist die Sortierung des Prototrac-
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auf weiteren angehefteten Seiten die Sätzen auf den vorgehenden Seiten nummeriert kommentiert.28 Wenn auch die Nummer ierung eines philosophischen Textes für die meisten Leser – zumindest zum Zeitpunkt des Erscheinens des Tractatus – ungewöhnlich erscheint, hatte Wittgenstein ein wichtiges Modell hierfür, nämlich Russells und Whiteheads Principia Mathematica, die bereits 1910 erschien und ebenfalls durchnummeriert waren. Wittgenstein übernimmt also ein, wie man annehmen darf, für ihn überzeugendes Sortiersystem.29 Dass dieses System heutzutage vieler Orts Standard ist, zeigt sich spätestens beim Betrachten der meisten Inhaltsverzeichnisse von Zulassungsarbeiten und Dissertationen. Wittgenstein hat seine Sortierung selbst auch weiterentwickelt, bestes Beispiel sind seine Philosophischen Untersuchungen, in denen er die Nummerierung beibehalten hat, aber durchlaufende Zahlen wählte. Die Zahlen der einzelnen Paragraphen haben keine Bedeutung mehr, sie gleichen Hausnummern, mit deren Hilfe man sich orientieren kann. Einher mit dieser Verschiebung der Sortierung geht bei Wittgenstein eine Veränderung seiner theoretischen Auffassung. Während der Tractatus eine lineare aufsteigende Struktur hat, in der die Sätze aufeinander aufbauen und bestimmte Sätze ausgezeichnet sind, haben die Philosophischen Untersuchungen eine holistische Struktur. Ich möchte nun auf ein zweites Beispiel zu sprechen kommen, nämlich ein Soziogramm von Abraham Moles, in dem er verdeutlichen will, welche Rolle der Kitsch (worunter auch schlechtes Design fallen kann) in der Kunst spielt (Abb. 4). Moles war neben Max Bense der führende Informationsästhetiker im letzten Jahrhundert. Sein Interesse galt daher im Besonderen nicht nur der sprachlichen Kommunikation, sondern auch der graphischen und bildnerischen, sowie dem Zusammenspiel der verschiedenen Medien. In seinen Texten versuchte er daher häufig seine theoretischen Überlegungen mit graphischen Mitteln zu verdeutlichen. Vor diesem Hintergrund ist sein Interesse an Soziogrammen verständlich. Soziogramme 05
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tatus offen für Ergänzungen. Es lassen sich immer weitere Seiten und Paragraphen hinzufügen. 29 Neben der Nummerierung sind noch weitere Punkte im Tractatus hinsichtlich des Graphikdesigns von Interesse, die ich hier nur kurz erwähnen will: Aufgrund seiner bildtheoretischen Sprachauffassung war es für Wittgenstein wichtig, Relationen nicht wie üblich »R (a,b)« sondern »aRb« zu notieren (Ludwig Wittgenstein: Tractatus logicus-philosophicus, Frankfurt a. M. 1963, 3.1423). Letztere Schreibweise verdeutlicht besser das räumliche Verhältnis in dem die »abgebildeten« Gegenstände stehen. Zu beachten ist ferner der »Neckerwürfel« (Ebd. 5.5423) und das Gesichtsfeld, (Ebd. 5.6331), das eine Abstraktion
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wurden von Jacob Levy Moreno entwickelt, um soziologische Strukturen zwischen Personen mit empirischen Mitteln zu verdeutlichen.30 Der Ausdruck »Soziogramm« wurde erstmals von Rudolph Lochner, dem Begründer der deskriptiven Pädagogik, verwendet. Ein Ziel Lochners war es, mithilfe von Soziogrammen Strukturen von Schulklassen abzubilden. In unserem Beispiel dagegen bestehen die Relationen nicht zwischen Personen oder Gruppen, sondern Kunstrichtungen und -epochen sowie anderen Bereichen bzw. Zuständen. Bevor wir uns weiter mit dem Soziogramm Moles’ beschäftigen, können wir also festhalten, dass er eine etablierte Sortierpraxis weiterentwickelte. Ein Ziel Moles’ Soziometrie war »die metrische, rationale, behavioristische Analyse der Beziehungen zwischen Individuen, die sich zum Beispiel verhalten, wie die Elemente in einem elektrostatischen Feld oder die dem Verhalten einer Gruppe von Hühnern gleichen, die in einem Versuchshof Körner aufpicken«31. Mit dieser Methode glaubte er, die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften angleichen zu können:
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»Die Soziometrie, als rationale Wissenschaft, ist die metrisch, behavioristische Analyse der Beziehungen zwischen Personen und führt zur objektiven Untersuchung der Strukturen des sozialen Feldes. Die Soziometrie erscheint somit als eine Chemie der menschlichen Gruppen.«32
»Soziale Atome« werden als Kreise dargestellt in deren Mitte ihr Name steht.33 Die Kommunikation zwischen den Atomen wird durch Pfeile dargestellt, die vom Sender auf den Empfänger zeigen. Die, in definierten Stufen bestimmte, Stärke der Pfeile soll die Quantität der Kommunikation angeben. Die graphische Struktur der Atome und ihrer Verbindung kann nach Moles somit mathematisch dargestellt werden.34 Die hier dargelegten Überlegungen wendet Moles in seinem Werk Psychologie des Kitsches an. Im vierten Kapitel entwickelt er dazu eine Typologie des Kitsches, die auf 30
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Wittgensteins von Ernst Machs Illustration ist. 30 Moreno beschränkt sich im Gegensatz zu Moles, wie wir sehen werden, in seinen Diagrammen auf überschaubare Gruppen – chemische Verbindungen. 31 Abraham Moles / Anna Ancelin-Schutzenberger: Industrielle Sozio-
metrie, Quickborn 1964, S. 10. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 13. 34 Ob dem tatsächlich so ist, bliebt allerdings unklar, da die Frage, ob zwei Pfeile in ihrem Durchmesser identisch sind,
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messbaren Merkmalen des Kitsches beruhen soll. Im fünften Kapitel »Die Prinzipien des Kitsches« entwickelt er Prinzipien,35 die für den Kitsch gelten sollen. Im sechsten Kapitel »Die Genese des Kitsches«, in dem das hier besprochen Sozigramm des Kitsches zu finden ist, versucht er die historische Entwicklung des Kitsches darzustellen. Das Diagramm und auch die anderen graphischen Darstellungen in dem Buch sollen eine streng wissenschaftliche Vorgehensweise suggerieren. Während aber im zuvor angesprochenen Aufsatz Moles zumindest versucht, dem Leser darzulegen, auf welchen allgemeinen Regeln die Soziogramme beruhen, findet sich in der »Psychologie des Kitsches« nur folgende Bemerkung: »All das [die historischen Überlegungen, die Moles zuvor ausgeführt hat] kann in einem Soziogramm der hier bereits besprochenen Tendenzen des Kitsches zusammengefasst werden. Negative bzw. positive Beziehungen der einzelnen Momente werden vektoriell dargestellt.«36
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Versuchen wir vor den dargestellten Überlegungen, Moles’ Sortierungsstrategien in seinem Soziogramm besser zu verstehen. Moles bezieht sich auf Moreno, der vermittels graphischer Mittel empirisch überprüfbare Sachverhalte darstellte. Moles verfeinert Morenos Darstellungsmethoden (es lassen sich nicht nur einfache Beziehungen zwischen den »Atomen« darstellen, sondern zudem quantifizierbar in ihrer Stärke und Richtung). Während aber in der »Industriellen Soziometrie« die Atome Bezeichnungen für einzelne Personen oder bestenfalls Personengruppen enthielten, enthalten sie in der Psychologie des Kitsches Bezeichnungen für Kunstrichtungen, Einstellungen (?) wie »Komfort« oder »Überfluß« und ganz unterschiedliche Ausdrücke wie »Natur« oder »das Übernatürliche«. Dies führt zur Frage, was für eine Relation zwischen den Ausdrücken respektive durch sie Bezeichnetes besteht. Nach Moles handelt es sich in unterschiedlichen Graden um die Relationen der Anziehung (Billigung) und Abstoßung (Verweigerung). Aber was soll es heißen, dass die Natur den Impressionismus anzieht? Zudem wird von Moles suggeriert, dass die Relationen quantifizierbar wären. Mit bloßen Auge jedoch lässt sich nicht bestimmen, welche Pfeile 20
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sich empirisch nicht ohne Weiteres klären lässt (siehe dazu weiter unten …). 35 Abraham Moles: Psychologie des Kitsches, München 1972. 36 Ebd., S. 292.
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dicker bzw. dünner gegenüber anderen sind. Daher kann von Quantifizierbarkeit nicht gesprochen werden.37 Ungeachtet dessen kann Moles’ Soziogramm als Versuch gedeutet werden, das Phänomen »Kitsch« innerhalb einer Netzstruktur genauer zu fassen. In diesem Sinne bietet uns Moles eine Sortierung mit komplexen Binnenstrukturen an, die uns einen ersten schnellen Überblick zum Kitsch bietet. Und dies ist genau eine prominente Aufgabe von Graphikdesign. Die Sortierung wird dabei u.a. mit dem Ziel vorgenommen, dass der Betrachter sie versteht und unter geeigneten Umständen selber reproduziert. Voraussetzung hierfür ist, dass die vorgemachte Sortierung einigermaßen kohärent mit unseren bisherigen Sortierungen ist. Da aber die Umstände der Sortierhandlung oder die Handlungen selbst sich nie exakt gleichen können, führt dies zu Variationen in der Fortsetzung der Sortierung. Wichtig sind gleichwohl immer die Anschluss- bzw. Fortsetzungsmöglichkeit der vorgeführten Sortierung. Das heißt, die vorgeschlagenen Sortierung soll erlauben, unser bisheriges Wissen in sie einzuordnen bzw. unsere zukünftigen Erfahrungen.38 Der pragmatische Wert der vorgestellten Sortierung zeigt sich also in ihren Fortsetzungen zu weiteren Sortierungen, die für unser Leben bzw. zumindest für den relevanten Bereich von Nutzen ist. Eine heikle Frage an dieser Stelle lautet, welchen ontologischen Status Sortierungen besitzen. Betrachtet man die bisherigen Beispiele, scheint beinahe alles möglich zu sein, nämlich materielle Gegenstände (Werke der bildenden Kunst), Handlungen (Kinder, die Alltagsgegenstände sortieren), psychische oder abstrakte Begriffe oder spezielle abstrakte Gegenstände (Tractatus). Wie oben angedeutet, verstehe ich unter Sortierungen Handlungen, deren Ausdruck bzw. Ergebnis unterschiedlich materialisiert sein kann. Graphikdesign gehört hierzu. Die Frage lautet somit, welchen ontologischen Status Graphikdesign hat. Betrachten wir hierzu nochmals die Beispiele von Wittgenstein und Moles. Beide Beispiele finden sich in Büchern. Beide sind nicht bloße Dekoration oder Orientierungshilfe (z.B. wie Seitenzahlen, Absätze, verschiedene Schriftgrößen und -typen etc.).39 Sind aber beide »echte« Teile von
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37 Ein Abmessen mit Lineal und Lupe hilft hier auch nicht weiter. (Eine interessante Untersuchung wäre, ob Betrachter der Vektoren in der Lage sind, die Pfeile transitiv zu ordnen bzw. verschiedene Betrachter zur selben transitiven Ordnung gelangen.) 38 Überzeugende und überraschende Sortierungen können u. U. zu Re- bzw. Neuorganisationen unser bisherigen führen. 39 Unter Orientierungshilfen sollen alle graphischen Mittel verstanden werden, die
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Büchern? Was aber sind Bücher? Im Folgenden vertrete ich, wie oben bereits angedeutet, eine dualistische Auffassung, wie sie in der Kunstontologie zu finden ist. Demnach sind literarische Texte Typen und die einzelnen Bücher Vorkommnisse von diesen. Die Bücher können sich je nach Ausgabe stark voneinander unterscheiden, wesentlich ist nur die Textidentität. Die Paginierung zählt nicht hierzu, die Nummerierung im Tractatus dagegen sehr wohl. Dies spricht dafür, die Nummerierung Wittgensteins nicht zum Graphikdesign dazuzählen. Wie sieht es aber mit Moles Soziogrammen aus? Bevor ich diese Frage beantworten werde, zunächst zwei weitere Beispiele. Jeder kennt Klassikerausgaben, in denen Bilder mit Szenen aus dem Roman zu sehen sind. Diese Bilder sind von Graphikern oder Künstlern angefertigt. Sie gehören offensichtlich nicht zu dem Roman, sondern sind Teil einer Ausgabe des jeweiligen Romans. Sie können ästhetisch geschätzt werden, wie viele andere Qualitäten der Ausgabe auch. Eine Ausgabe lässt sich mit einer Serie von Drucken vergleichen. Das heißt, so wie das Werk im Fall eines Drucks aus den legitimierten Exemplaren besteht, besteht die Ausgabe aus den legitimierten Buchexemplaren. Betrachten wir nun als weiteres Beispiel Bücher wie dieses, das Sie augenblicklich in der Hand halten, in denen Abbildungen zu finden sind. Sind diese Abbildungen Teil des Werks? Die Antwort scheint auf dem ersten Blick klar. Ja, sie sind es. Was aber, wenn die Abbildungen in einem gesonderten Abbildungsband(teil) zu finden sind oder gar nur im Internet? In diesen Fällen scheint es klar zu sein, dass der Text zwar über diese Bilder handelt, sie aber nicht Teil des Textes und somit des Werks sind.40 Und Gleiches gilt m. E. für Moles Soziogramme. Es sind dem Text beiliegende heuristische Hilfsmittel bzw. Exemplare eines graphischen Werks, aber nicht »echte« Teile des Textes. Dies wird deutlich, wenn man die Möglichkeit ins Auge fasst, dass Moles bei der Originalausgabe seines Werks streng darauf achtete, dass die Pfeile deutlich unterscheidbar in ihrem Durchmesser waren, aber bei der Neuauflage diese Unterschiede verloren gingen (Gleiches ist möglich für einfache
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das Lesen des Textes erleichtern sollen, aber keine zusätzlichen inhaltlichen Punkte ins Spiel bringen (ob sich diese Unterscheidung strikt durchführen lässt, bedürfte weiterer Diskussion). 40 Eine ähnliche Position vertritt Donald Davidson in seiner Demonstrativtheorie hinsichtlich Anführungen bzw. Zitaten. Für Davidson gehört der Text zwischen den Anführungszeichen nicht zum eigentlichen Text. Die Anführungszeichen selbst sind ähnlich zu Pfeilen aufzufassen, die auf den Ausdruck zwischen ihnen deuten (Donald Davidson: »Quo-
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Diagramme etc.).41 Diese Möglichkeit zeigt an, dass wir für Diagramme keine Standardnotation besitzen, die Typidentität sichern. Es sind vielmehr analoge Zeichen, für die gilt, dass zwei nie miteinander typidentisch sein können.42 Daher sind die Soziogramme mit druckgraphischen Erzeugnissen vergleichbar. Strenggenommen können wir somit drei Werke unterscheiden, erstens den Text (Typ), die Soziogramme (alle von Moles legitimierten Vorkommnisse) und die Auflage (Vorkommisse, nämlich die Bücher mit einer bestimmten graphischen Ausstattung plus Soziogrammvorkommissen). Die Soziogramme sind ein graphisches Werk, dass Moles aus Vorgängerdiagrammen entwickelt (designt) hat und sie sind somit ein typischer Fall von Graphikdesign. Eine weitere Frage ist, welche Funktion sie gegenüber dem Text besitzen. Sind sie Orientierungshilfe, eigenständige Werke und somit vergleichbar mit Abbildungen in Büchern (z.B. wie in diesem Aufsatz) oder etwas Drittes? Zur Klärung dieser Frage, werde ich kurz die Metapherntheorie, genauer Max Blacks Interaktionstheorie, vorstellen.43 Zur Analyse, wie Metaphern funktionieren, führt Black die Unterscheidung zwischen Fokus (der metaphorisch gebrauchte Ausdruck) und Rahmen der Metapher (der Rest des Satzes) ein. Seine Idee ist, dass wir die Struktur des Systems, zu dem der Fokus gehört, über die Struktur des Rahmens legen. Beispielsweise bedeutet dies für die metaphorische Aussage »Der See ist ein Saphir«, dass wir die Struktur des Systems, zu welchem der Fokus (»Saphir«) gehört, über die Struktur des Rahmens (»Der See ist ein … «) legen. Diesen Vorgang erklärt Black mit der Metapher des Rußfilters: Wir besitzen einen Rußfilter, durch den wir den Sternenhimmel anschauen.44 Der Rußfilter wird manche Details des Sternenhimmels aussparen und unsere Aufmerksamkeit auf andere Details lenken.45 Dadurch können wir bei einer gelungenen Metapher Zusammenhänge erkennen, die uns sonst verborgen blieben. Meiner Auffassung nach können Sortierungen ähnliches leisten. Erinnert sei an Wittgensteins Leitermetapher aus dem Tractatus; die Leiter ist seine Nummerierung.
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tation«, in: ders.: Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 1984, S. 79 – 92.) 41 Man 35
denke hier an analoge vs. digitale Waagen, mit ersteren können theoretisch zwischen jeden beliebigen zwei Gegenständen Unterschiede im Gewicht festgestellt werden, während digitale durch ihre letzte Stelle prinzipiell begrenzt sind. 42 Zum Ausdruck »typidentisch« vgl. Steinbrenner 2004. 43 Max Black: »Die Metapher«, in: Theorie der Metapher, hrsg. v. Anselm Haverkamp, Darmstadt 1983, S. 55 – 79. 44 Ebd., S. 72 f. 45 Blacks Metapherntheorie ist ersichtlicher Weise selbst metaphorisch und Analoges gilt für meine Überlegungen zum Sortieren, die ein Sortiervorschlag sind.
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Ähnliches gilt für Moles’ Soziogramm zum Kitsch. Dieses »Bild« bzw. diese Struktur können wir (metaphorisch) über Moles’ Text zum Kitsch legen. Ob diese »Metapher« respektive Sortierung funktioniert, muss der Leser überprüfen. Wenn Graphikdesign mehr ist, als bloße Unterstützung der Lesbarkeit eines Textes, d.h. wenn sie dem Leser eine Struktur zur Hand gibt, die er über den Text legt (wie dies etwa im Fall graphisch strukturierter wissenschaftlicher Poster der Fall ist), dann sortiert Graphikdesign. In der Praxis führt dies häufig dazu, dass der Graphiker in Zusammenarbeit mit dem Texter in den Text eingreift und seinen »Rußfilter« über den Text legt, was dazu führt, dass Teile des Textes »geschwärzt« werden oder auch nur noch schwer lesbar sind. Die Arten der Sortierung im Graphikdesign sind dabei auf vielfältige Weise mit jenen der Kunst (siehe oben) vergleichbar, das heißt sie geschehen unter Rückgriff auf etablierte Sortierungen und entwickeln diese gegebenenfalls weiter.
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Schluss Betrachten wir nun erneut vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen die anfangs aufgestellten Thesen:
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1. Graphikdesign im weiteren Sinne ist Sortieren. 2. Graphikdesign im engeren Sinne sind Werke innerhalb ästhetischer Zeichensysteme, die Ausdruck oder Ergebnis von Sortierhandlungen sind. 3. Diese Werke bestehen in der Regel aus mehreren Exemplaren, die zusammen das Werk bilden. 4. Ein ästhetisches Zeichensystem ist analog, exemplifizierend und (metaphorisch) projizierbar. 5. »Analog« heißt, kein Exemplar eines Werks kann durch ein nicht legitimiertes unbeschadet seiner syntaktischen und semantischen Merkmale ausgetauscht werden. 6. »Exemplifizierend« heißt, jedes Exemplar verweist innerhalb eines bestimmten Kontextes auf bestimmte Sortierungen. 7. »Projizierbar« heißt, ästhetische Zeichen erlauben eine neue (metaphorische) Sortierung bereits bekannter Gebiete bzw. sind durch andere Zeichen fortsetzbar.
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Beginnen wir der Reihe nach. Wie deutlich geworden sein sollte, spielt das Sortieren und die Weitergabe von Sortiersystemen eine entscheidende Rolle für die menschliche Kultur und ihre Entwicklung. Ziel meiner Überlegungen war es, das Graphikdesigns innerhalb dieses Rahmens zu verorten (1. These). Hierzu habe ich versucht (2. These), die Eigenheiten des Graphikdesign als eine spezielle Art des Sortierens herauszuarbeiten. Das heißt, wie gesehen, Graphikdesign im engeren Sinne als Werke aufzufassen, die Ausdruck oder Ergebnis von Sortierhandlungen sind. Der Schwerpunkt meiner Überlegungen liegt also mehr auf den Werken als auf den Handlungen. Aber wie gezeigt, sind diese Werke nicht unabhängig von ihrer Herstellung und Verwendung zu verstehen. Will man die Eigenart von Graphikdesign erfassen (3. These), ist es sinnvoll seine Werke zwischen reinen Texten (Literatur, Theorien etc.) und individuellen Werken (Skulpturen, Malerei etc.) anzusiedeln. Das heißt Werke des Graphikdesigns bestehen aus vom Designer, Hersteller etc. legitimierten Exemplaren.46 In der vierten These werden die entscheidenden Merkmale von Zeichensystemen, denen Werke des Graphikdesign angehören, benannt, nämlich Analogizität, Exemplifikation und (metaphorische) Projizierbarkeit. Wie dargestellt, ist es für Werke des Graphikdesigns wichtig, dass die Exemplare eines Werks legitimiert sind. Grund hierfür ist, dass nicht legitimierte Exemplare respektive Eingriffe in legitimierte Exemplare (beispielsweise das Ersetzen von bestimmten Details) zu Veränderungen des Designs führen (auch wenn diese nicht sogleich sichtbar sein müssen). Exemplare des Graphikdesigns sind in dieser Hinsicht mit Originalabzügen in der Fotografie und Drucken in der bildenden Kunst vergleichbar. Das heißt, nur durch den Künstler legitimierte Exemplare bilden das Werk. Erinnert sei hier an Moles’ Soziogramme. Minimale Unterschiede der Durchmesser der Vektoren, der Größe und Abstände der Kreise können von entscheidender Bedeutung sein. Gleiches gilt erst recht für farbiges Graphikdesign. Unterschiede im Druck können unmerklich zu verschiedenen Farbeindrücken der Rezipienten führen. Grund 05
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46 Damit haben Werke des Graphikdesigns einen ähnlichen ontologischen Status wie Computerspiele. Vgl. Sebastian Ostritsch /Jakob Steinbrenner: »Ontologie«, in: Philosophie des
Computerspiels. Theorie – Praxis – Ästhetik, Stuttgart 2018, S. 55 – 74. 47 Die prinzipielle
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hierfür ist, dass die aufgeführten Merkmale Merkmale analoger Zeichensystems sind, bei denen noch so feine Unterschiede entscheidend sein können. Unter »exemplifizierend« ist zu verstehen, dass der Ausdruck oder das Ergebnis der Sortierhandlung im Graphikdesign auf jeweilige Prädikate, räumliche Relationen etc. Bezug nimmt und somit indirekt auf Ordnungen von Gebieten. Zudem können einzelne Gegenstände innerhalb der Sortierungen auf bestimmte Prädikate, Ereignisse etc. Bezug nehmen. Erinnert sei an das Beispiel der Sortierungen von Rheinsberg, in dem bestimmte Formen und Ereignisse exemplifiziert werden. Da es sich aber im Graphikdesign in den wenigsten Fällen, wenn überhaupt, um Unikate handelt,47 sondern um Vervielfältigungen wie Drucke oder Ausgaben, ist eine Bezugnahme wie im Fall der einzelnen Schuhe bei Rheinsberg kaum möglich. Was gleichwohl möglich ist, ist, dass die unterschiedlichen Exemplare einer Serie oder Auflage Unterschiedliches exemplifizieren. Grund hierfür ist, dass ebenso wie der Druckkünstler auch der Graphikdesigner »Fehldrucke« aussortiert, aber die zu einem Werk gehörigen Drucke sich (ästhetisch) unterscheiden können. Gerade letzteres Merkmal zeigt an, dass Erzeugnisse des Graphikdesigns analoge Zeichen sind, bei dem noch so kleine Unterschiede ästhetisch relevant sein können.48 Die bisher angeführten Merkmale sprechen dafür, die Produkte des Graphikdesigns innerhalb ästhetischer Zeichensysteme anzusiedeln. Versteht man unter Graphikdesign alleine diese Produkte, also Zeichen, dann liegt das Augenmerk nur auf den Ergebnissen der Sortierhandlung, fasst man Graphikdesign dagegen weiter, dann gehören auch die Sortierhandlungen selbst dazu. Mit »projizierbar« ist gemeint, dass die Sortierung fortsetzbar ist, d.h. wie gesehen, dass der Betrachter sie in seine bisherigen Sortierungen einbetten oder sie auf neue Gebiete übertragen kann (man denke an Moles). Im letzteren Fall handelt es sich häufig um eine metaphorische Fortsetzung. Dies gilt insbesondere dann, wenn graphische Sortierung den Gegenständen in einem Gebiet Merkmale zuschreibt, die neu sind. Beispielsweise ist dies der Fall, wenn in einem Gebiet, zwischen dessen Objekten bisher nicht 05
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Frage, ob Werke des Designs singulär im Sinne von Unikaten in der Kunst sein können, vermag ich an dieser Stelle nicht zu klären. 48 Sie sind nicht zuletzt deshalb ästhetisch relevant, weil sie bestimmte Variationen und Verbindungen innerhalb einer Sortierung deutlich machen können.
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quantifizierbare Relationen bestehen, quantifizierbare Beziehungen projiziert werden. Ausblick: Das Ziel meiner Überlegungen war es, Graphikdesign als spezielle Sortiertätigkeit zu spezifizieren und somit in die grundlegende kulturelle Praxis des Sortierens einzubetten. Akzeptiert man dieses Modell, so lässt es sich auf weite Bereiche der Designforschung übertragen. Zwei Punkte seien hier insbesondere hervorgehoben: Der Gedanke, dass die Exemplifikation eingebunden in ein Vor-und Nachmachen ist, das nur vor einem geteilten kulturellen Hintergrund möglich ist, erlaubt, die vielfältigen Designhandlungen nachzumodellieren. Eng verknüpft ist hiermit der zweite Gedanken der Projizierbarkeit, auf der historische Veränderungen der Designpraxen beruhen. Gerade dieser Gedanke scheint mir grundlegend für eine Geschichte des Designs zu sein. Ob meine Überlegungen stichhaltig sind, muss letztlich gleichwohl die wissenschaftliche Praxis zeigen. 05
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Von Anfang an ist das Grafische also bestimmt von zwei Aspekten: Der Verletzung, Gravierung und Markierung einer empfindlichen Oberfläche und dem Rechenwesen.
Prof. Dr. phil. Markus Rautzenberg geb. 1972, ist Dekan am Fachbereich Gestaltung der Folkwang Universität der Künste Essen und lehrt Philosophie. Er hat an der Freien Universität Berlin promoviert. Er publiziert v.a. zur Medienphilosophie und Ästhetik.
gráphein. Zur Materialität des Grafischen in algorithmischen Kulturen. Ein Essay Markus Rautzenberg
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Wenn die Philosophie sich einem Gegenstand nähert, so tut sie dies zumeist über Begriffe, zumindest aber vermittels der Sprache und sei es in Form der Etymologie. Wenn im Folgenden der Begriff des Grafischen ins Zentrum gerückt wird, dann aus der Perspektive der Theorie (nicht der Praxis), die den Gegenstand gewissermaßen nicht von innen her, sondern von außen betrachtet. Entsprechend wird nicht die Kritik grafischer Produkte welcher Art auch immer Thema sein, sondern mit einem Wort begonnen, das auch hier einmal mehr am Anfang steht, dem altgriechischen graphein.
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Dieses Wort, dass gemeinhin mit »schreiben« bzw. »zeichnen« übersetzt wird und somit bruchlos in die Logik der heutigen Verwendung von »Grafik« zu passen scheint, ist jedoch ein Wort, das die überaus faszinierende Eigenschaft besitzt, ein Begriff zu sein, der direkt mit jener rohen Materialität in Verbindung steht, die sonst so weit von der Sphäre der Theorie entfernt scheint. Denn etymologisch verweist graphein direkt auf den Ursprung von Schrift und Zeichnung, nämlich auf die Einritzung von Strichen in den Ton von Amphoren, die als solche, so nimmt man heute an, die ersten Aufzeichnungen für die Verwaltung des Warenhandels darstellten. Von Anfang an ist das Grafische also bestimmt von zwei Aspekten: Der Verletzung, Gravierung und Markierung einer empfindlichen Oberfläche und dem Rechenwesen.
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Beides führt direkt zu dem, was man mit dem amerikanischen Medientheoretiker Alexander Galloway »algorithmische Kulturen«1 nennen kann, um das zu beschreiben, was im allgemeinen heute Digitalisierung genannt wird. Der Begriff des Digitalen soll hier dagegen vermieden werden, weil er zu unspezifisch ist. Digitalität kommt, diesmal im Lateinischen, von digitus, was nichts anderes bedeutet als Zeiger, der auf etwas deutet. Dieses Prinzip bestimmt unserer Mediengeschichte seit der Erfindung der Sprache
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1 Vgl. Alexander R. Galloway: Gaming. Essays on Algorithmic Culture, Minneapolis 2006.
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selbst, denn auf etwas Zeigen bedeutet zunächst, etwas von etwas anderem zu unterscheiden. In dieser Differenzialität ist unsere Schrift genauso begründet wie unser Zahlensystem, ja die gesamte abendländische Logik. Das heißt aber letztendlich: Auch das Prinzip des Computers ist digital in diesem Sinne, aber das sagt nichts Spezifisches aus über einen Medienwandel, dessen Tragweite so gewaltig ist wie dieser. Spezifischer ist hingegen das Algorithmische, also die selbstablaufende, in Hardware implementierte Handlungsanweisung auf Basis des Binärcodes. Hier soll nicht näher auf all dies eingegangen werden, lediglich in Erinnerung gerufen werden, was das alles mit dem Grafischen im Sinne des graphein zu tun hat. Denn auch wenn die Verwandtschaft über das Rechenwesen auf der Hand liegt, ist es gerade die Einschreibung, die physische Materialität der Analogmedien seit den Amphoren des archaischen Griechenlands, die in der Immaterialität algorithmischer Medientechniken verloren gegangen scheint. Die Rede vom »Verschwinden des Realen« und ähnliche Formulierungen sind seit den siebziger Jahren ein Gemeinplatz, aber sie haben bis heute wenig von ihrer Attraktivität verloren, so könnte man meinen.
Am deutlichsten zu beobachten ist das am Wandel jener Grafien, die technisch das zwanzigste Jahrhundert beherrscht haben, nämlich die Aufzeichnung von Licht und Klang in Fotografie und Phonografie. Beide tragen den Begriff des Grafischen zurecht im Namen, sind sie doch Medien der direkten Einschreibung von Photonen bzw. Schallwellen in eine empfindliche Oberfläche. Genau diese Einschreibung jedoch ist es, die im Schmelzbad algorithmischer Techniken getilgt scheint. Digitale Fotografie ist, so die weit verbreitete These, eben keine grafie mehr; hier schreibt sich nichts mehr ein. Zwar verarbeitet der Sensor immer noch Lichtdaten, aber eben in Datenform und nicht mehr als opto-chemische Spur. Digitale Fotografie, so hört man stattdessen, wird damit zu Computergrafik, wobei sich die Ironie dieser Aussage darin deutlich bekundet, dass Computer-Grafik aus denselben Gründen nur noch als bloße Metapher sinnvoll erscheint. Das Gleiche ist der Fall bei einem durch Zeichenkolonnen codierten Lichtbild, das keine Fotografie mehr im Wortsinn darstellt, sondern nur unserer terminologischen Hilflosigkeit Ausdruck verleiht – einer 25
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Hilflosigkeit, die sich dadurch noch steigert, dass das sogenannte »Bild« ebenfalls fraglich geworden ist. Bedeutet das nun, wie vielfach behauptet, das Ende des Grafischen, wie es viele tausend Jahre Bestand hatte? – Das soll hier verneint werden. Das jedoch nicht, indem der Nachweis versucht wird, dass auch elektronische Ströme irgendwie noch Materie seien (was zwar richtig, aber trivial wäre), sondern indem die Behauptung aufgestellt wird, dass sich schlicht die Richtung der Einschreibung geändert hat. 05
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Ehe jedoch das entsprechende Begriffsparadigma benannt werden kann, das hierbei im Hintergrund steht, soll noch eine Spekulation vorangeschickt werden, die den gehegten Verdacht auf konkrete Weise erhärtet. So scheint die geradezu kulturübergreifende Wiederkehr der Tätowierung in den letzten dreißig Jahren nicht zufällig etwas mit dem Siegeszug digitaler Medien zu tun zu haben. Es ist noch nicht lange her, dass Tätowierungen in der westlichen Welt gleichbedeutend waren mit einer sehr strikten sozialen Stigmatisierung: Straftäter, Prostituierte, Seeleute, oder wie Adolf Loos es in Ornament und Verbrechen einmal so schön sagte: »latente Verbrecher oder degenerierte Aristokraten« waren die einzigen, die man mit Tätowierung antraf.2 Kurz: Die Vorstellung, dass jemand, der nicht aus extremen Randbereichen der Gesellschaft stammte, großflächige Tätowierungen zur Schau stellte, war geradezu aberwitzig. Heutzutage hat man hingegen Mühe Tätowierungen überhaupt noch gesondert wahrzunehmen, so sehr gehören sie wieder zum Alltag. Zwar lassen sich immer noch soziale Gefälle ausmachen und jemand mit Hakenkreuzen im Gesicht hat es zurecht schwer, einen Job zu finden, doch der grundsätzliche Wandel ist unbestreitbar. Tätowierungen sind eine extreme, wenn auch begrifflich sehr akkurate Form des Grafischen, die just zu dem Zeitpunkt wieder aufkommt, an dem andere Grafien im virtuellen Raum zu verschwinden scheinen. Was hier passiert, könnte man angesichts heutiger Zustände der Überwachung, Selbstoptimierung und algorithmisch gesteuerter Körperpolitiken auch so formulieren: Nicht mehr wir schreiben in mediale Oberflächen, sondern algorithmi-
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2 Vgl. Adolf Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden. Erster Band , hrsg. v. Franz Glück, Wien/München 1962, S. 276 – 288, hier S. 276.
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sche Medien nutzen nun uns als die empfindlichen Oberflächen, auf denen sie sich folgenreich einschreiben. Tätowierungen scheinen in diesem Sinne sowohl Spiegel als auch Zeichen des Widerstands gegen diese Situation zu sein. 05
Diese Richtungsumkehr kann bis ins Posthumane getrieben werden. Dazu nun das angekündigte Begriffsparadigma: Das semantische Feld, das von dem deutschen Begriff der »Auflösung« um- und erschlossen wird, ist vielgestaltig, wobei sich zwei Bereiche als dominant und für die Analyse algorithmischer Kulturen als bedeutsam erweisen:
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I. (Physikalisch-messtechnisch) Auflösung auch im Sinne des englischen resolution ist im digitalen Zeitalter als Teil eines Transparenzphantasmas beschreibbar, das von der Ebene der Wahrnehmung über die Erkenntnistheorie bis zur Politik reicht. Gemeint ist ein Begehren auf Durch- und Klarsicht in Zeiten maximaler Unübersichtlichkeit. Hier handelt es sich um eine Denkfigur, deren Vorbild zunächst schlicht aus der Messtechnik zu stammen scheint und die Granularität des Mediums meint. Der Ausdruck high definition trägt dieser Herkunft nach wie vor Rechnung. Das Begehren nach immer höheren Auflösungen speist sich aus der Idee, dass die mediale Annäherung an die Realität eben eine Frage der Granularität sei, d.h. dass immer höhere Auflösungen (etwa im Bereich der Bildschirme und Sensoren) die algorithmisch generierten Bilder irgendwann so detailreich wie »die Sache selbst« ausfallen lassen könnten. In diesem Sinne wird von Auflösung auch als Lösung gesprochen, wie in der Rede von »Auflösung eines Rätsels«. Das ist die epistemologische Seite des Auflösungsbegriffs als Bestandteil des Transparenzbegehrens: Entwirren der Verknotungen, ungehinderte Durchsicht auf das »Eigentliche«, Fenstermetapher, das Diaphane.
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Dieses, sowohl epistemologisch als auch affektökonomisch bedeutsame, Transparenzbegehren ist als Denkfigur auch von medientheoretischer Brisanz, denn diese Vorstellung verkauft nicht nur Fernseher, Kameras und Grafikkarten, sondern bestimmt auch naturwissenschaftliche und politische Diskurse grundlegend. Die Vorstellung, dass bspw. die Simulation des Gehirns oder die Prog-
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nostik von ökonomischen oder klimatischen Prozessen nur eine Frage der Rechenkapazität sei, erfasst Big Data aus der Perspektive des book of nature, in der sich die Baupläne von Natur und Kultur irgendwann schon von selbst ergeben, sobald nur die Mittel adäquat seien und die Datenbasis ausreichend groß: Dabei handelt es sich letztlich um eine religiös inspirierte Vorstellung, nur dass hier nicht mehr Offenbarung und Hermeneutik, sondern Gigaflops und Megapixel als epistemische Modelle dienen.
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Dass der Computer jedoch technisch bedingt dem Entscheidbarkeitskriterium unterworfen ist und sich somit möglicherweise von den zu simulierenden Phänomenen derart grundsätzlich unterscheiden könnte, dass keine medientechnische Annäherung per Computer jemals den Zustand a-medialer Unmittelbarkeit erreichen kann, kommt unter dieser Prämisse nur noch schwer in den Blick. Denn schon die Möglichkeit der genuinen Heterogenität von technischer Simulation und Simuliertem sabotiert das utopische Potential des Transparenzphantasmas, ganz zu schweigen von der Ideologie a-medialer »Unmittelbarkeit« überhaupt. 10
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II. (Chemisch-alchemisch) Auflösung im Sinne des englischen dissolution ist eine Denkfigur posthumaner Medialität, die als solche zwar seit langem gewärtig ist, aber noch wenig mit obigen Aspekten zusammengedacht wird. Hier geht es nicht um ein »Verschwinden« des Subjekts oder des »Realen« als Folge des Medienwandels (Virilio / Baudrillard), sondern umgekehrt um ein Auflösungsbegehren, das als Motor dieses Medienwandels verstanden werden kann und muss. Wenn der Fotograf Garry Winogrand – eine der wichtigsten Integrationsfiguren künstlerischer Fotografie der 1970er Jahre – etwa sagt: »Photography for me is the closest thing I come to not existing« oder Stanley Cavell in The World viewed 3 grundsätzlich davon ausgeht, dass die Macht des Filmischen darin bestehe, uns die Welt im Zustand des Ungesehen-Seins zu präsentieren, also noch nicht kontaminiert vom Blick, so zeigt sich hier die Idee einer scheinbaren Selbstsubtraktion des Subjekts nicht im Sinne eines Verschwindens, sondern eines medial vermittelten Sich-Auflösens in der Welt.
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3 Stanley Cavell: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film, Cambridge MA 1979.
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Dieser Unterschied ist zentral: Winogrand verleiht in diesem Zusammenhang keinen suizidalen Tendenzen Ausdruck, er möchte vielmehr ganz Blick sein, selbst zu Fotografie werden, also wie in einer chemischen Lösung im Gesehenen »aufgehen«. So esoterisch derlei Konzepte auf den ersten Blick wirken mögen, so sehr sind sie doch alltäglicher Bestandteil unseres Denkens und vor allem unseres Handelns mit und in Medien. Die Vorstellung vom Computer als universalem Medium etwa – ein inzwischen kaum noch hinterfragter Gemeinplatz der Medientheorie – partizipiert an der biologisch-chemisch orientierten Idee einer Verflüssigung der Analogmedien im Medium des Computers, wo sie dann immer neue Verbindungen eingehen und sich jeweils ineinander verwandeln können: eine arkane, alchemische Qualität des Computers: Solve et coagula!
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Der Computer ist dann das Medium, in dem alle anderen »gelöst« sind. Es ist deutlich, dass hier die biochemisch-alchemischen Konnotationen des »Kultur«-Begriffs auf eine Weise zum Zuge kommen, die es erlaubt, biologische Epistemologien beim Nachdenken darüber, was algorithmische Kulturen sein könnten, zu verwenden und zu befragen, ohne gleich biologistisch werden zu müssen. Denn auch Lieblingstopoi der Medienwissenschaft – wie Intermedialität und remediation (ganz zu schweigen von »Immersion«) – sind ohne die skizzierten Denkfiguren der Auflösung schwer vorstellbar.
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Mochte all dies uns auch scheinbar vom Problem des Grafischen weggeführt haben, die eigentliche Anfangsfrage wurde dabei nie verlassen: Wie wirkt sich das Prinzip des Grafischen in algorith mischen Kulturen aus? – Als Antwort soll die These dienen: Im Rechenwesen algorithmischer Kulturen ist eine Kraft am Werk, welche die Einschreiberichtungen umzukehren in der Lage ist. Der menschliche Körper und Geist werden zur empfindlichen Oberfläche, auf dem sich Medienkulturen mitunter drastisch direkt einschreiben nicht zuletzt im Fall der Tätowierung. Ein Ende dieser Entwicklung ist vielleicht schon abzusehen und wird im Denken des Posthumanismus gerade versuchsweise exploriert.
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Dr. phil. M.A. Julia-Const ance Dissel absolvierte nach ihrem Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und klassischen Archäologie in Basel, Freiburg und Frankfurt am Main sowie einem Aufbaustudium der Kultur- und Medienpraxis ihre Promotion in Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main im Rahmen eines Doktorandenstipendiums des Max Planck Instituts für europäische Rechtsgeschichte. Ihre Dissertation über Jürgen Habermas und den amerikanischen Pragmatismus wurde 2012 im Karl Alber Verlag unter Förderung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften publiziert. Es folgten Forschungs- und Lehrtätigkeiten an diversen Universitäten, darunter die Universität Oxford, UK, die Universität Konstanz, FB Philosophie, die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung Konstanz, FB Gestaltung im Rahmen des Mathilde-Planck Stipendiums. Julia forscht und lehrt zur Zeit im BMBF geförderten Professorinnenprogramm an der Hochschule Darmstadt / Institut für Designforschung Darmstadt zu ihrem Schwerpunkt der Philosophie des Designs und zu dem Thema Gender und Design. Sie betreibt ein eigenes Studio für internationale Kunstund Designprojekte und ist als Beraterin im Vorstand der AICA Deutschland, dem internationalen Verband der Kunstkritiker aktiv. Zum Thema Philosophie des Designs erschienen zuletzt ein Sammelband zu der 2016 in Freiburg von ihr initiierten Tagung Design und Philo-
sophie – Schnittstellen und Wahlverwandtschaften, transcript 2016 und Designästhetik zwischen Aisthesis und Kognition. Eine philosophische Standortbestimmung / Between aisthesis and cognition: a philosophical stocktake of the aesthetics of design, in: Form Ausg. Nº 284, Region of Design Jul / Aug 2019. Weitere Infos unter http://idf-da.de/team/ dr-phil-julia-dissel.
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Für den Designer gibt es keine Gestaltung ohne Überlegungen zur Ästhetik. Denn das Entwerfen ist immer auch ästhetische Arbeit: durch Linien, Farben, Konturen und Oberflächenstrukturen entsteht Gestalt. Sie ist das erste, was man wahrnimmt, und sie soll gefallen, denn sonst wird dem designten Produkt kaum eine Überlebens- und Verkaufschance eingeräumt. Der Ästhetik allerdings ist nicht Genüge getan, wenn man sie auf den Begriff des einfachen Stylings, auf die künstlerische Verschönerung von Oberflächen, reduziert. Gerade die jahrhundertelange Tradition philo sophischer Auseinandersetzung hat eine Heterogenität ästhetischer Theorien hervorgebracht, vor deren Hintergrund dieser Ansatz kaum gerechtfertigt scheint. Zugegeben, für die philosophische Ästhetik hat das Design, darunter verstehe ich vor allem die Gestaltung der Dinge des alltäglichen Gebrauchs, in großen Teilen eine untergeordnete Rolle gespielt. Zumeist wurde diese in ästhetischer Hinsicht eher randständig und als Grenzfall der freien Künste thematisiert. Dies mag ein Grund sein, warum die Philo sophie eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage, was eine Ästhetik des Designs im Speziellen ausmacht, bis heute nicht hervorgebracht hat. In diesem Aufsatz möchte ich versuchen, relevante Inhalte einer designspezifischen philosophischen Ästhetik zusammenzuführen. Meine Überlegungen werde ich hierbei einbetten in eine kurze Darstellung der historischen Entwicklung des ästhetischen Denkens von der Antike bis heute, wobei ich mich auf drei grundlegende Kernphasen dieser Entwicklung und einige wenige Hauptakteure einschränken werde. In der Auseinandersetzung geht es mir dabei besonders um zwei Fragestellungen: Wie designrelevante Faktoren in den unterschiedlichen bedeutsamen Phasen der historischen Entwicklung des ästhetischen Denkens konzeptionell konfiguriert sind und wie diese Konfigurationen das Denken über Design im 20. und 21. Jahrhundert geprägt haben und sich unter Berücksichtigung von Modifikationen darin präsentieren. In diesem Zusammenhang werde ich auch auf einschlägige ästhetische Theorien zum Design aus unserer Zeit verweisen und diese kritisch kommen-
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tieren. Mein Ziel ist es, auf zwei Aspekte aufmerksam zu machen, die eine Designästhetik m. E. nicht außer Acht lassen darf, die jedoch von der philosophischen Ästhetik bis heute nicht angemessen berücksichtigt werden: der Mensch als multisensorisches Wesen und die Tatsache, dass Design den ganzen Menschen involviert.
Ästhetische Theorien der Philosophie & designrelevante Konzepte: Ein Einblick in drei Perspektiven Unser ästhetisches Denken, zurückgehend bis auf seine Ursprünge in der Antike, lässt sich in grober Einschätzung in drei Phasen einteilen und auf zwei grundlegende Wendungen zurückverfolgen, die in unterschiedlicher Hinsicht als ausschlaggebend für das Denken über Design beschrieben werden können. Die erste Phase zeichnet eine Linie von der Antike bis zur Renaissance. Damit ist eine Zeitspanne benannt, die auch häufig als jene der »großen Theorie« bezeichnet wird, in der man versuchte das Ästhetische primär in der Gestalt des Schönen im Zugriff auf objektive Kriterien zu bestimmen (1). Die zweite Phase nimmt ihren Ursprung im 18. Jh. mit dem zugleich die erste große Wende in der Geschichte des ästhetischen Denkens ausgemacht ist und in der das Ästhetische in einem phänomenalen Sinn im Rekurs auf die Anschauung des Subjekts zu erklären gesucht wurde (2). Die dritte Perspektive entfaltet sich als zweite große Wende im ästhetischen Denken Mitte des 20. Jhs. und ist durch eine Besinnung auf die Idee des griechischen Begriffs der Aisthesis, einer Ästhetik als sinnlicher Wahrnehmung, gekennzeichnet. Die europäische Variante dieser Perspektive lässt sich als phänomenalistische Bewegung auffassen, die sich durch starke Nähe zum Konzept des leiblichen Spürens ausweist. In der angloamerikanischen Tradition entfaltet sich diese in einer stärker am Somatischen orientierten Konzeption von Ästhetik (3). Diese drei Phasen werde ich im Folgenden anhand einiger Beispiele veranschaulichen und analysieren, von entscheidender Bedeutung ist dabei die Frage, wie designrelevante Faktoren angelegt sind und mit Blick auf die ersten beiden Phasen besonders, wie sich diese im heutigen ästhetischen Denken über Design widerspiegeln. 10
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(I) In ästhetischen Theorien der Antike sowie des Mittelalters war man primär bemüht, das Ästhetische als das Schöne in einem objektiven Sinn zu bestimmen. Solche Theorien waren Teil einer
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strengen Ordnungsmetaphysik, im Rahmen derer anhand von objektiven Eigenschaften wie Proportionen und Symmetrien die Schönheit in den Dingen identifiziert werden sollte. Aus den richtigen Proportionen, gemeint ist das richtige Maßverhältnis der Teile zu einem Ganzen und untereinander, und zwar in Hinblick auf Größe, Quantität und Qualität, ergab sich die Leitidee der frühen Ästhetik, die so genannte »Einheit in der Mannigfaltigkeit«: die Harmonie.1 Theorien zu Zahl, Maß, Proportion und Symmetrie lassen sich zum Beispiel bei den Pythagoreern, in den Schriften Platons und Aristoteles finden. Auch die christliche Ästhetik, etwa Augustinus2 oder Thomas von Aquin3, greift diese Orientierung auf. Im Grunde reißen Definitionsversuche des Schönen als Proportion und Harmonie auch in der Zeit des Umbruchs vom Mittelalter in die Neuzeit und im 17. Jh. nicht ab, werden dort allerdings häufiger von den Künstlern und Kunsttheoretikern diskutiert. Bereits im klassischen Denken taucht jedoch neben dieser prominenten Schönheitstheorie auch eine andere, eher relativistische Version4 des Schönen auf, in der das im Design relevante Prinzip der Zweckmäßigkeit beziehungsweise Funktionalität als bedeutsam hervorgehoben wird. Xenophon zufolge war es gerade Sokrates, der Lehrer Platons, der die Idee forcierte, dass das Schöne nicht oder nicht alleine auf die richtige Proportion zurückzuführen sei, sondern die Schönheit auch in einer Relation zu dem Zweckmäßigen stehe, das heißt in einer Relation zwischen einem Objekt und seinem Zweck sowie seiner Umgebung aufzufinden sei.5 In den »Memorabilia« konstatiert Sokrates sogar, dass alle Dinge nur gut und schön seien in Relation zu den Zwecken für die sie gut angepasst sind, böse und hässlich in Bezug auf diejenigen, für die sie schlecht angepasst sind.6 Auch ein Mistkorb sei somit schön, wenn er seinen Zwecken entsprechend gut gefertigt sei oder ein aus Gold bestehendes Schutzschild sei hässlich, wenn es (ob des schweren Materials) nicht gut für seinen Zweck gefertigt sei.7 Sokrates scheint
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1 Vgl. Konrad Paul Liessmann: Schönheit, Wien 2009, S. 17. Siehe zur »großen Theorie« auch Władysław Tatarkiewicz: Geschichte der sechs Begriffe. Kunst, Schönheit, Form, Kreati-
vität, Mimesis, Ästhetisches Erlebnis, aus dem Polnischen von Friedrich Griese, Frankfurt a. M. 2003. 2 Vgl. Umberto Eco: Kunst und Schönheit, München 1991, S. 49. 3 So heißt es bei Thomas: »Daher besteht das Schöne in der gehörigen Proportion …«. Summa
theologiae, I, q. 5, a. 4, ad 1. 4 Vgl. hierzu Władysław Tatarkiewicz: »The Great Theory of Beauty and its Decline«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism Ausg. 31 , Nr 2. (Winter, 1972), S. 171. 5 Vgl. Tatarkiewicz 1972, a.a.O., S. 171. 6 Vgl. Xenophon, Memorabilia, Buch III, 8, 7. 7 Vgl. Xenophon, Memorabilia, Buch III, 8, 6.
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in den »Memorabilia« damit einen sehr enggefasten und zugleich starken Begriff von »funktionaler Schönheit«8 zu vertreten. Damit ist ein starker Begriff funktionaler Schönheit gemeint, wie ihn zum Beispiel auch die Vertreter des strengen Funktionalismus im Design des 20. Jhs. präferierten. Die Zweckeignung eines Objekts wird dabei zu einer notwendigen und hinreichenden Bedingung des Schönen und Ästhetischen.9 Auch im platonischen Dialog »Hippias Major« zeigt sich im letzten Part der Aussage von Sokrates eine ähnliche Orientierung: Hier meint er: »Sagen wir nicht auch vom ganzen Körper so, dass er schön sei, der eine zum Laufen, der andere zum Ringen, und so auch alle Tiere nennen wir schön, Pferde und Hühner und Wachteln und alle Gefäße und Fahrzeuge zu Lande und zur See, Frachtschiffe und Kriegsschiffe, und alle Werkzeuge die für die Tonkunst und die für andere Künste, ja, wenn du willst, auch alle Beschäftigungen und Einrichtungen. Dies eben alles nennen wir schön in demselben Sinne, darauf sehend bei jedem, wie es geartet, wie es ausgearbeitet ist, in welchem Zustande es sich befindet, sagen wir das Brauchbare, in wie fern es brauchbar ist, und wozu und wann, sei schön, was aber so überall unbrauchbar ist, auch hässlich…«10 Die starke sokratische Lesart funktionaler Schönheit hat sich im Zuge der Geschichte der Ästhetik nicht durchgesetzt, nicht zuletzt weist Sokrates im platonischen Dialog »Philebus« diese selbst zurück, was die allgemeine Inkonklusivität und Problematik seiner ästhetischen Ansicht bezeugt. Wie Beardsley in seiner umfassenden Abhandlung über die Ästhetik seit den Griechen zusammenfasst, lässt sich das griechische ästhetische Denken, auch vor dem Hintergrund der hier genannten Texte, überblickend eher auf die Differenzierung zweier sich nicht ausschließender Arten von Schönheit festmachen, so dass neben der Theorie der Proportion auch eine Schönheit anerkannt wird, die nützlich ist, die also ein Angepasstsein an Zwecke11 vorsieht.12 Diese Differenzierung entspricht in etwa der lateinischen und auch später noch verbreiteten Unterscheidung von Schönheit als »pulchrum« und als »decorum«.13
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8 Ich beziehe mich hierbei auf den Begriff funktionaler Schönheit wie er von Glenn Parsons und Allen Carlson in dem Buch Functional Beauty aus der antiken Tradition heraus entfaltet wird. Siehe hierzu Glenn Parsons / Allen Carlson: Functional Beauty, New York 2008. 9 Parsons / Carlson, a.a.O., S.3. 10 Hippias Major, nach der Übersetzung von Friedrich E. D. Schleiermacher in: Platons Werke , 2. Teil, 3. Band, 3. Auflage, Berlin 1861, 295c – d. 11 Diese Theorie wird auch als Korrespondenztheorie der Schönheit bezeich-
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Die Verwendung des griechischen Begriffs »kalon« für Schönheit war geknüpft an das Konzept der Aisthesis. Für diese bieten sich verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten an, zum Beispiel das sinnliche Wahrnehmen, die Empfindung, das Begreifen oder das Erkennen. Obwohl sich in diesem Begriff somit auch verschiedene sinnliche Formen von Weltaufnahme, auch der gesamt-körperlichen Aufmerksamkeit zeigen, kann bereits die griechische ästhetische Theorie bei näherer Betrachtung als eine solche gelesen werden, die das Schöne in erster Linie in dem vorfindet, was durch Anschauung und Hören gefällt, auch wenn es sich um etwas nützlich Schönes handelt.14 Es scheint gerade diese spezielle Perspektive zu sein, die für die Ästhetik im Zuge der nachfolgenden Jahrhunderte besonders im Kontext von Proportions- und Harmonielehre am einflussreichsten werden sollte. Für den Begriff der Zweckeignung oder auch Funktionalität im ästhetischen Kontext bedeutet diese Spezifizierung eine besondere Herausforderung. Sie provoziert nämlich die spezielle Frage, wie die Zweckeignung oder das Angepasstsein eines Objekts an Zwecke in der Verbindung zu seiner Gestalt in einer rein an die visuelle Wahrnehmung rückgebundenen Konzeption des Ästhetischen erklärt werden kann. Gerade die neuzeitliche und moderne Philosophie hat eine Reihe von Autoren hervorgebracht, die dieses Thema adressierten, auch die funktionalistische Wendung des Designs im 20. Jh.,15 hat in unserer Zeit dazu Anlass gegeben, sich wieder gezielt mit der Verbindung von Funktionalität und Schönheit zu beschäftigen und dabei das so genannte Translationsproblem16 zu adressieren. Dieses zielt auf die soeben erläuterte Frage, wie und ob Funktion beziehungsweise das Wissen von der Funktionalität von Objekten in eine wahrnehmbare Form übersetzt werden könnte. Ziel von zeitgenössischen Autoren ist es dabei auch, die Funktionalität als eine ästhetische Kategorie und Qualität zu etablieren, die speziell
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net. 12 Vgl. Monroe Beardsley: Aesthetics from Classical Greece to the Present, New York 1966, S. 42. 13 Bychkov diskutiert ausführlich die Anwendbarkeit des Begriffs »decorum« im rein ästhetischen Kontext vor dem Hintergrund seiner griechischen Herleitung. Vgl. Oleg Bychkov: Aesthetic Revelation, Washington 2010, S. 204 ff. 14 Vgl. Beardsley, a.a.O., S. 42. 15 Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Philosophen wie Glenn Parsons oder Allen Carlson, auf die ich mich in diesem Zusammenhang beziehe, die Moderne allgemein mit einem starken Funktionalismus im Design in Verbindung zu bringen scheinen, diese Ansicht wird jedoch der Vielschichtigkeit des modernen Designs in den unterschiedlichen Stilen und im Umgang mit dem Form-Funktionsaspekt m. E. nicht gerecht. Es erscheint mir vielmehr angebracht, den von Parsons anvisierten dogmatischen Funktionalismus alleine mit einer Strömung des 20. Jhs. in Verbindung zu bringen, dem Funktionalis-
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dort verortet werden muss, wo es um das Design geht. Es geht ihnen somit um eine spezifische Designästhetik. Dies haben beispielsweise Glenn Parsons und Allen Carlson basierend auf einer Theorie Kendall Waltons17 versucht. Sie betonen dabei zunächst, dass unsere ästhetische Wertschätzung für Design davon abhängt, welche Eigenschaften wir an Objekten als Standard, als variabel oder als kontra Standard durch visuelle Wahrnehmung identifizieren.18 Carlson und Parsons verschränken diese Theorie mit der Idee, der im Kontext des ästhetischen Realismus von Jerrold Levinson19 formulierten niederen Wahrnehmungsqualitäten20, aus der sich ästhetische Eigenschaften wie schön oder anmutig ableiten lassen können. So zielt die Überlegung der beiden darauf, dass ästhetische Eigenschaften, die an Objekten ausgemacht werden können und die damit verbundene Wertschätzung, durch nicht ästhetische Eigenschaften wie Farben instanziiert werden, und darüber hinaus auch davon abhängen, ob diese als Standard, kontra Standard oder variabel kategorisiert werden. Die Erwartungen, die wir im Zuge einer Kategorisierungsleistung dabei an Objekte herantragen, eröffnet den Autoren zufolge die gesuchte Verknüpfung zwischen der visuellen Erfahrung mit dem Objekt und unserem Verständnis von seiner Funktion.21 Denn die Erwartung hängt mit dem praktischen Anspruch zusammen, das Objekt in einer bestimmten Hinsicht nutzen zu können. In ihrem Aufweis des Funktionalen als einer ästhetischen Qualität eröffnen die genannten Autoren direkte Bezüge zur antiken Tradition nach Sokrates und explizieren dabei verschiedene Versionen, Funktionalität als ästhetische Kategorie zu verstehen, von denen ich die wichtigsten kurz nennen möchte. Als zentrale Qualität von Designobjekten wird dabei auf das »look ing fit (for function)« und die »visual tension« rekurriert.22 In Bezug auf das »looking fit« wird der Annahme gefolgt, dass der in den antiken Kontext zurückverfolgte Zusammenhang von Schönheit
mus der Ulmer Schule. 16 Vgl. hierzu Scruton, Roger: The Aesthetics of Architecture, London 1979, S. 40. 17 Walton, Kendall: »Categories of Art«, in: Philosophical Review 79, 1970, S.334 – 367. 18 Vgl. Glenn Parsons: The Philosophy of Design, Cambridge / Malden 2016, S. 117. Bei einem Objekt, dass wir in die Kategorie der Stühle einordnen, zählt 35
das Aufweisen von Stuhlbeinen zum Beispiel als eine Standardeigenschaft, wären diese Beine in Spikes gehüllt, würde es sich um eine kontra-Standardeigenschaft handeln. Die Farbe eines Stuhls, beispielsweise rot, ist eine variable Qualität. 19 Jerrold Levinson: »Aesthetic properties, evaluative force and differences of sensibility«, in: Aesthetic Con-
cepts: Essays after Sibley, hrsg. v. Emily Brady u. Jerrold Levinson, Oxford 2001, S. 61 – 80, hier bes. S. 61. 20 Das sind nichtästhetische Eigenschaften wie die Farbqualität rot oder die Größe eines Objekts. 21 Vgl. Parsons, a.a.O., S. 118. 22 Parsons,
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und Funktionalität, beziehungsweise Zweckeignung als wahrnehmbare Qualität interpretiert werden muss. »Looking fit« heißt dabei nichts anderes als besonders gut dazu geeignet aussehen seine Zwecke zu erfüllen. Objekte weisen die Qualität des »looking fit« somit auf, wenn sie keine Kontra-Standardeigenschaften für ihre Kategorie aufzeigen und zudem variable Eigenschaften, die auf einen hohen Grad an Funktionalität hinweisen. So wie ein Muscle-Car mit großem Spoiler und übergroßem Motor dazu geeignet aussieht, seinen Zweck schnell zu fahren, auch zu erfüllen. Ein Leichenwagen mit derlei Indikatoren würde dem Betrachter als unpassend erscheinen. Mit »visual tension« hat man es hingegen zu tun, wenn Objekte nicht so aussehen, als ob sie gut funktionierten. Was nach Parsons daran liegt, dass manche Eigenschaften des Objektes als kontra Standard zu der funktionalen Kategorie des Objektes visuell wahrgenommen werden. Parsons zieht in diesem Zusammenhang das Design scheinbar freischwebender Objekte oder den so genannten Trampolin-Stuhl als Beispiele heran.23 Nach De Clercq liegt die visuelle Spannung jedoch vielmehr in dem simultanen Auftreten von »looking fit« und »looking unfit« begründet.24 Was die hier herausgegriffenen Theorien deutlich machen, ist, dass es hinsichtlich der Verbindung von Funktion und Form verschiedene Möglichkeiten gibt, diese herzustellen und ästhetisch zu erfahren und, dass ästhetische Qualitäten festgemacht werden können, die ihren Platz speziell im Kontext einer Designästhetik einnehmen. Dabei lassen solche Theorien aber auch Raum für kritische Überlegungen. Parsons und Carlson schränken sich in ihrer Lesart der funktionalen Schönheit auf den sehr engen visuellen Rahmen ein, der in gewisser Hinsicht geschichtlich zwar manifestiert ist, der aber nicht zwingend mit dem griechischen Denken des Sokrates, auf den sich die Autoren dabei beziehen, gerechtfertigt werden kann. Dessen Korrespondenztheorie des Schönen und dabei die Formulierung des »Angepasstseins an Zwecke«25 lässt im Hinblick auf den Interpretationsraum des Begriffs der Aisthesis durchaus Spiel. So sind im Anschluss an Sokrates andere Möglich05
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keiten denkbar, Funktionalität in einem sinnlichen Zusammenhang ästhetisch zu erfahren. Die auf die visuelle Wahrnehmung bezogene Lesart stellt sich als nur eine unter möglichen anderen dar. Nehmen wir als Beispiel noch einmal den sokratischen Mistkorb. Gerade hier stellt sich doch die Frage, ob dessen Zweckeignung (das Angepasstsein an den Zweck) als Transportmittel nicht sogar besser anhand einer anderen sinnlichen Wahrnehmung als der visuellen, beispielsweise des Tastsinns, ausgemacht werden könnte, über den sich feststellen ließe, ob sich das Objekt mit seinen Schlaufen auch wirklich angenehm und effizient auf dem Körper transportieren ließe, so dass es seinen Zweck erfüllen könnte. Ich werde auf die Beantwortung dieser Frage hier nicht genauer eingehen, werde aber im Zusammenhang meiner weiteren Ausführungen noch öfter auf diesen Aspekt und auch auf die Theorie von Parsons und Carlson zurückkommen. Zunächst möchte ich in meinem nächsten Abschnitt jedoch darauf zu sprechen kommen, welche Auswirkungen die große Veränderung im philosophischen Denken auf das Design hatte, die wir allgemein mit dem 18. Jh. verbinden, dem Subjektivismus. Es geht mir um die Frage, wie sich Theorien über den angesprochenen Zusammenhang von Schönheit und Funktionalität in dieser Zeit darstellen und inwiefern daraus andere Konzepte abgeleitet werden können, um den Zusammenhang von Funktionalität und Ästhetik mit Blick auf das Design heute zu beschreiben.
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(II) Im Verlauf des 18. Jhs. sollte das ästhetische Denken einen entscheidenden Richtungswechsel nehmen. Beeinflusst vor allem durch die britischen Sensualisten veränderte sich zunächst der Fokus innerhalb der ästhetischen Theorien vom ehemals favorisierten Begriff der Schönheit weg, hin zum allgemeinen Begriff des ästhetischen Vergnügens oder dem Vergnügen der Einbildungskraft. Das Ästhetische wurde dabei nicht mehr wie zuvor als Ausdruck objektiver Gesetzmäßigkeiten betrachtet, sondern in Relation zum Perzipienten in einem phänomenalen Sinn aufgefasst. Mit
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Art gearbeitet sein müssten, um ihre Zwecke zu erfüllen oder diesen angepasst sein müssen, erscheint die auf die visuelle Wahrnehmung bezogene Lesart nur eine unter möglichen anderen zu sein. 26 Vgl. Francis Hutcheson: »An Inquiry Concerning Beauty, Order, Harmony, Design«, in: F. Hutcheson Philosophical Writings, hrsg. v. R. Downie, London 1994, S. 7 – 44, hier S. 10. 27 Im Original: »Beauty is no quality in things themselves: It exists merely in the mind which contemplates.« David Hume: Of the Standard of Taste, Essays
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diesem Rückzug ins Innere des Subjekts wurde Schönheit nun als eine Vorstellung im Subjekt, »an idea raised in us«26, verstanden und daher fortan in Kontexten diskutiert, in denen es um das ästhetische Gefühl oder den ästhetischen Reiz ging. Schönheit ist keine Eigenschaft, die den Dingen an ihnen selbst zukommt; sie existiere lediglich im Geiste dessen, der die Dinge betrachtet, meint auch Hume in seiner Abhandlung Of the Standard of Taste.27 Wenn Hume oder auch sein Zeitgenosse Hutcheson von der Vorstellung im Subjekt oder im Geist sprechen, rekurrieren sie beide auf einen speziellen Schönheitssinn, also auf das Gefühl für das Schöne. Andere Theoretiker, wie zum Beispiel Edmund Burke, führten vor dem Hintergrund der Subjektivierung des Ästhetischen neue, dem Schönheitsprädikat übergeordnete Wertkategorien ein, wie das Erhabene oder Bedrohliche, die vermeintlich stärkere ästhetische Reize als das Schöne begründeten, womit sie letztlich auch dazu beitrugen diesen als zentralen Begriff aus der philosophischen Ästhetik mehr und mehr zu verdrängen. Die Theorien des 18. Jhs. fußen im Kern auf einer Differenzierung zwischen den menschlichen Verstandesleistungen und der sinnlichen Wahrnehmung, wobei die Bezüglichkeit von Verstandes- und Sinnesleistungen, von Rationalisten und Sensualisten unterschiedlich bewertet wurden und dementsprechend in engerer, ergänzender Verbindung standen oder stärker getrennt wurden. Besonders die Empiristen bezogen den Begriff des ästhetischen Gefühls oder der ästhetischen Erfahrung auf völlig konzeptions- und begriffslos gedachte unmittelbare Sinnesdaten der Wahrnehmung. Aus diesem Kontext heraus war es für sie auch grundsätzlich schwierig, sich vorzustellen, dass die ästhetische Erfahrung überhaupt etwas mit Begriffen wie Zweckeignung, Funktionalität und Nützlichkeit zu tun haben könnte, weil dies Eigenschaften sind, die man durch den Verstand, nicht das Gefühl feststellt. Hutchesons innerer Schönheitssinn zielt in diese Richtung und auch Edmund Burke unterstützt die Kritik an der Idee des aus der Antike her überlieferten Zusammenhangs von Schönheit und Funktionalität.28 Besonders die zahlreichen Gegenbeispiele, allen voran von Burke in seiner »Philosophische[n] Untersuchung über den Ursprung unse-
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Moral and Political, London 1894, S. 136. 28 Vgl. Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, hrsg. v. James T. Boulton, London 1958 [1757], Teil III, Abschnitt VII, S. 108. Siehe auch Parsons/Carlson, a.a.O., S. 12ff.
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rer Ideen vom Erhabenen und Schönen« und von Hutcheson29, stehen für die Ablehnung dieser Schönheitstheorie im 18. Jh. und sind daher auch als Beitrag zu ihrem allmählichen Verschwinden und ihrer späteren Unterrepräsentanz in der Ästhetik zu werten.30 Dabei verhält es sich nicht so, dass diese Beiträge die Frage nach möglichen Zusammenhängen von Schönheit und Funktionalität gänzlich aus dem Weg geräumt hätten. Auch die Tatsache, dass man sich in kritischer Hinsicht damit auseinandersetzte, zeigt ein grundsätzliches Interesse der Zeit an dem Thema. Dementsprechend lassen sich neben Gegnern auch Befürworter der Theorie über den Zusammenhang von Schönheit und Funktionalität ausmachen. Allem voran ist in diesem Kontext David Hume zu nennen. Humes Interesse galt besonders einer Form von Schönheit, die mit der Nützlichkeit zu tun habe. Ein Gefühl von Schönheit stellt sich nach ihm nämlich ein, wenn wir ein Objekt wahrnehmen, von dem wir wissen, dass es einen nützlichen Zweck erfüllt oder das in seinem Beobachter eine Idee von der Nützlichkeit hervorbringt.31 Diese Theorie erweitert die zuvor angesprochene funktionale Schönheitstheorie der »fitness for function« in eine »fitness for the use of men«-Theorie. Das heißt, die zunächst eigenen Zwecke, welche mit einem Objekt verbunden werden können, sind bei Hume mögliche Zwecke, die ganz allgemein auch andere Menschen betreffen können. Hume schränkt seine Theorie in einer Hinsicht aber auch ein. Er konstatiert, dass der Nutzen zwingend als angenehm empfunden werden müsse. Dies wiederum bedeutet, dass funktionale Schöne nicht mehr in Verbindung gebracht werden kann mit Dingen, die dem Menschen nicht in angenehmer Hinsicht nutzen. In An Enquiry Concerning the Principles of Morals von 1751 stellt Hume das moralische Gefühl in den Zusammenhang zum Nützlichen, welches notwendig gefällt, sofern es der Allgemeinheit dient, wobei Hume dabei eine Art Sicherheitsgefühl für die Allgemeinheit im Auge hat, in dem Sinne wie architektonische Bauten stabil und zuverlässig umgesetzt sein müssen, um Menschen risikofrei zu beherbergen. Er untermauert diese Theorie mit dem Hinweis auf die Sympathie für andere Menschen. Seine Folgerung
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29 Siehe hierzu: Paul Guyer: »Beauty and Utility in Eighteenth Century Aesthetics«, in: Eigh-
teenth-Century Studies 35, 2002, S. 439 – 453. 30 Siehe für eine detailliertere Diskussion der Gegenbeispiele die Ausführungen von Parsons / Carlson, a.a.O., S. 12 – 19. 31 Vgl. David Hume: A Treatise of Human Nature [1739–40], hrsg. v. L. A. Selby-Bigge, Oxford 1960 S. 364.
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ist, dass ästhetisches Empfinden und Zweckmäßigkeit unweigerlich zusammengehören. Doch die von ihm angedachte Verbindung von ästhetischem und moralischem Gefühl und somit auch zwischen dem, was gefällt, und der Funktionalität im Zusammenhang gerade der Objekte, die das alltägliche Leben ausmachen, lässt sich aufgrund ihrer Fundierung in einem nicht verallgemeinerbaren Gefühl der Sympathie keinesfalls als eine notwendige Verknüpfung ausweisen. Humes Theorie eignet sich daher weniger als Grundlage einer philosophischen Designästhetik. Ein anderer bekannter Protagonist des 18. Jhs. setzte seinen Akzent innerhalb der ästhetischen Theorie auf gerade das, was auf keinen Fall mit Nützlichkeitserwägungen in Verbindung gebracht werden dürfe, ohne jedoch die Verbindung von Schönheit und Funktion gänzlich aus den Augen zu verlieren. In seiner Schrift über die Urteilskraft von 1790 beschäftigt sich Kant mit dem Geltungsanspruch ästhetischer Urteile und in diesem Zusammenhang mit dem Geschmacksurteil über das Schöne. Grundsätzlich versucht er hierbei zwischen den sensualistischen Positionen und dem Rationalismus zu vermitteln. Der Geschmack sei subjektiv, das Geschmacksurteil beanspruche Allgemeingültigkeit. In letzter Instanz heißt dies, dass das Geschmacksurteil über das Schöne unabhängig jeglicher Konzepte und Zwecke sein müsse, da der eigentlich subjektive Geschmack nur so in seiner Reinheit zum Gegenstand der Beurteilung werden könne. Das Schlagwort im Zusammenhang der Analyse des Schönen, war für Kant dabei das interessenlose Wohlgefallen.32 Wohlgefallen ist hierbei Ausdruck des reinen Geschmacks, dem es darum geht, Gegenstände nur nach ihrer sinnlichen Erscheinungsform zu erfahren, ohne andere Interessen ins Spiel zu bringen.33 Der »Zweck« eines Geschmacksurteils über das Schöne erschöpfe sich nach Kant in der Zweckmäßigkeit der bloßen Vorstellung der Existenz des Gegenstandes und damit in einer Lust, die sich selbst stärkt und reproduziert. Mit Kant fordert nun die Festlegung des Ästhetischen auf das interessenlose Wohlgefallen natürlich auch eine Antwort auf die Frage, wo dieses als Inbegriff des Schönen aufzufinden sein könnte. Die weithin akzeptierte Antwort auf diese Frage lautete damals, dass ästhetische Erfahrung von dieser Art abseits des alltäglichen Lebens, d.h. 05
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32 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1974, S. 116 ff. (B5/6) und 124 f. (B17/18) 33 Vgl. Liessmann, a.a.O., S. 34.
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abseits aller Zwecke und Notwendigkeiten gemacht werden könne, im Raum der schönen, das heißt freien Künste.34 Denn Kunst, so Kant, bringe Produkte hervor, deren Zweck alleine in ihrer Form liege und diese Form erscheine in ihrer Zweckmäßigkeit von jedem Zwang von Regeln so frei, als ob sie ein Produkt der Natur sei. Zugleich bringt Kant auch den Begriff des Kunstgenies mit ins Spiel, in dem Verstand und ästhetisches Produktionsvermögen im freien Spiel der Einbildungskräfte zueinanderfinden. Kant scheint ob seiner Akzentuierung des Schönen in Verbindung zur freien Kunst, wie schon seine Vorgänger, kein guter Kandidat in der Frage nach möglichen Anhaltspunkten für eine spezifische Designästhetik zu sein. Man könnte sogar behaupten, dass Kants Ausrichtung zu einer nachhaltigen Abqualifizierung des Designs in der späteren Ästhetik im Allgemeinen geführt hat.35 Doch Kant hatte der freien Schönheit auch eine bedingte oder anhängende Schönheit anbei gestellt. Er prägt diesen Begriff für den Kontext des so genannten unreinen Geschmacksurteils, das deshalb unrein ist, weil es nicht mit reinem ästhetischem Wohlgefallen in Verbindung gebracht werden kann, sondern auch mit dem intellektuellen. Diese Art der Schönheit setze demnach im Gegensatz zu der reinen Form einen Begriff von dem voraus, was der Gegenstand sein solle und die Vollkommenheit des Gegenstandes nach demselben, d.h. sie markiert eine durch Zwecke bedingte Schönheit.36 Wenngleich die Auslegung der anhängenden oder bedingten Schönheit in der heutigen Fachliteratur ein strittiges Thema darstellt, haben sich doch zeitgenössische Philosophen bemüht, in Anlehnung an Kant den Zusammenhang von Schönheit und Funktion genauer zu erhellen und dabei wurde auch versucht, den Begriff der Funktionalität als eine ästhetische Kategorie für eine Designästhetik zu etablieren, beziehungsweise diese darauf zu gründen. Zuletzt hat so zum Beispiel Jane Forsey in ihrer Aesthetics of Design 37, in der sie sich auf die Kantische Terminologie der anhängenden Schönheit und eine Interpretation nach Robert Wicks38 stützt, gezielt darauf hingewiesen, dass es in einer Designästhetik darum gehen muss, die Kontingenz der Objektformen39 in Relation 05
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34 Vgl. Parsons / Carlson, a.a.O., S. 27. 35 Vgl. hierzu Florian Arnold: Philosophie für Desig-
ner, Stuttgart 2016, S. 84. Siehe auch die Ausführungen in Julia-Constance Dissel (Hg.): Design und Philosophie. Schnittstellen und Wahlverwandtschaften, Bielefeld 2016, S. 10 ff. 36 Vgl. Kant, a.a.O., S. 146 (B49). 37 Vgl. Jane Forsey: Aesthetics of Design, Oxford/New York 2013. 38 Robert Wicks: »Dependent Beauty as the Appreciation of
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zu ihren Zwecken zu betrachten. Vorausgesetzt wird dabei die These von der Unterdeterminiertheit40 der Form durch die Funktion, da die Funktion eines Objekts als theoretisches Konstrukt nicht dazu hinreicht sämtliche konkreten Instanziierungen der Objektform zu bestimmen, so dass verschiedene mögliche Formen einer Funktion eignen können. Im Kern zielen Forseys und Wicks’ Theorie also darauf ab, dass wir von anderen möglichen Gestaltungen wissen müssen, in denen die Funktion eines Objektes auch hätte realisiert werden können, oder uns diese Arten zumindest vorstellen können müssen, da wir sie in der ästhetischen Erfahrung mit einem Objekt miteinander vergleichen würden.41 Das impliziert auch, dass das ästhetische Urteil im Design nur vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen mit Objekten gemacht werden kann, also ein geschichtliches und kulturtheoretisches Konzept von Schönheit beziehungsweise ästhetischer Erfahrung beinhaltet. Wie mitunter auch Parsons konstatiert, lässt der Ansatz von Wicks und auch der von Forsey eine relevante Frage allerdings unbeantwortet. Wie genau nämlich soll die Tatsache, dass ein Objekt mit einer bestimmten Form andere Objektformen hätte haben können, um seinen bestimmten Zweck zu erfüllen, uns dazu veranlassen, dieser einen Objektform ästhetischen Wert oder unsere ästhetische Wertschätzung, wie Forsey meint in einem Urteil der Exzellenz, zuzusprechen?42 Forseys Theorie weist m. E. in diesem Zusammenhang ein weiteres Problem auf. Sie betont in ihrer Auseinandersetzung nachdrücklich, dass es in der Designästhetik um die Interaktion mit den Dingen geht43, doch sie scheint mir nicht in der Lage, diese Perspektive angemessen in ihre ästhetische Theorie einholen zu können. Der Begriff der Interaktion zielt, wie Forsey selbst beschreibt, auf eine Erfahrung, die auf die Handlung bezogen wird und damit auch eine gesamtkörperliche Involviertheit voraussetzt. Für Forsey ist zwar die Vergleichung der Objektformen mit einem Erfahrungswissen assoziiert, das den praktischen, interaktiven Umgang mit den Dingen in die ästhetische Erfahrung
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Teleological Style«, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 55 Nr. 4, 1997, 387 – 400. Sowie ders.: »Can tattooed Faces be Beautiful? Limits on the Restriction of Forms in Dependent Beauty«, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 57 Nr.3, 1999, S. 361. Zur Interpretation von Forsey siehe: Forsey, a.a.O., S. 167. 39 Vgl. Forsey, a.a.O., S. 167. 40 Vgl. Forsey, a.a.O., S. 168. 41 Vgl. Forsey, a.a.O., S. 167 und 168. Siehe auch Wicks 1997, a.a.O., S. 167. Wicks spricht von »images we run through in view of their suitability for realizing an object’s given purpose«. 42 Vgl. Parsons, a.a.O., S. 115. 43 Vgl. Forsey, a.a.O., bes. S. 185.
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integrieren soll. Aber eine derartige Integration des praktischen Umgangs mit den Objekten ist m. E. nicht ausreichend. Die Interaktion ist bei Forsey lediglich ein Hintergrundereignis der ästhetischen Erfahrung, das in einer konkreten ästhetischen Erfahrung bestenfalls dazu hinreicht, Anhaltspunkte zu liefern, ob und wie eine konkrete Objektform ihre Funktion erfüllen könnte, obwohl das Wissen von der Umsetzbarkeit der Funktion in der Objektform einen fundamentalen Teil der ästhetischen Wertschätzung von Design ausmacht.44 In diesem Zusammenhang macht es Sinn einen Begriff ästhetischer Erfahrung im Design zu fordern, der den Aspekt der Interaktion auch in die unmittelbare konkrete Erfahrung einholt. Ein auf das Anschauungsparadigma der Ästhetik eingeschränkter Ansatz scheint hierfür nicht geeignet. Auch die Theorie von Parsons und Carlson weist ein ähnliches Problem auf. Ihre Theorie steckt einen engen kategorialen, begrifflichen Rahmen ab, in dem der eigentliche Umgang mit den Objekten, aus dem Erwartungen und praktische Ansprüche hergeleitet werden, die für die ästhetische Erfahrung von Design relevant sind, ebenfalls nur durch die Hintertür eingebracht wird. Der praktische Anspruch verknüpft die konkrete ästhetische Erfahrung mit einem Verständnis von der Funktion des konkreten Objekts. Doch auch dieses Verständnis ist bestenfalls eine Vorstellung von der Funktion und schon gar von der qualitativen Funktionalität des konkreten Objekts. Nach Carlson und Parsons wäre es durchaus denkbar Designobjekten in funktionaler Hinsicht ästhetischen Wert zuzusprechen, obwohl diese tatsächlich nicht für ihre Funktion geeignet sind. Auch im Hinblick auf diese Theorie gilt somit die gleiche Forderung wie bei Forsey, denn nur durch das Einholen der Interaktion in die konkrete ästhetische Erfahrung wird sich überprüfen lassen, ob und wie ein Objekt vor dem Hintergrund seiner Gestaltung auch seine Funktion für den konkreten Verwender erfüllt. Seit der Mitte des 20. Jhs. haben sich, in gewisser Hinsicht auch vor dem Hintergrund einer Ablehnung des starren Anschauungs-
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44 Sofern es bei Kant im unreinen Geschmacksurteil um die Vorstellung der Vollkommenheit des 35
Gegenstandes nach seinem Zweck geht, ist Forseys Ansatz nachvollziehbar, da sie selbst aber die Interaktion mit den designten Objekten fordert, macht es keinen Sinn, bei der Vorstellung zu verweilen und sich der Vollkommenheit nicht durch die Interaktion auch auf eine Art zu vergewissern. Ich behaupte, dass diese Vergewisserung einen basalen Aspekt unserer Wertschätzung von Design hinsichtlich dessen funktionalen Bereichen ausmacht. 45 Vgl. Gernot Böhme: »Die Atmosphäre«, in: Von der guten Form zum guten
Leben: 100 Jahre Werkbund , hrsg. v. Michael Andritzky, Frankfurt a. M. 2008,
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paradigmas, neue philosophische Interessenslager gebildet. In Rückbindung an den Begriff der Aisthesis sind diese an einer allgemeinen sinnlichen Erfahrungsästhetik und den Phänomenen der Alltagswelt interessiert, wobei sie versuchen, der leiblichen Interaktivität des Menschen mit seiner Umwelt intensiver Rechnung zu tragen.
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(III) Ein letzter Perspektivenwechsel lässt sich so in der (neueren) Phänomenologie ausmachen, für die Namen wie Husserl, Hermann Schmitz und Gernot Böhme stehen. Insbesondere Gernot Böhme hat im Kontext seiner Atmosphärentheorie, die in großen Teilen auf der neueren Phänomenologie von Schmitz aufbaut, ein verändertes Konzept von Mensch-Umwelt-Erfahrung dargelegt, das als Entwurf für eine Alltagsästhetik und auch zeitgenössische Designästhetik gelesen werden kann. Im Kern basiert dieses Konzept auf der Idee der Ausstrahlung der Dinge, also auf der These, dass in der Beziehung von menschlichen Befindlichkeiten und Umgebungsqualitäten so etwas wie ein mit Stimmung aufgeladener Raum entsteht. Subjekt und Objekt verbinden sich in dem, was sich Atmosphären nennt.45 Wir können den atmosphärischen Charakter einer Situation dementsprechend zum Beispiel als entspannt, melancholisch, befremdlich oder erheiternd wahrnehmen. Böhme schreibt: »Mit diesem Begriff [der Atmosphäre] kann man die Veränderung in der Auffassung des Designs formulieren, nämlich, dass das Produkt selber innerhalb einer Szene agiert, also zu einem Element wird zur Erzeugung von Atmosphäre.«46 Damit ist eine Designästhetik beschrieben, die nicht mehr den Gebrauchswert der Objekte adressiert, sondern Inszenierungswerte, also die Gestaltung von ganzen Szenen.47 Besondere Berücksichtigung findet in der ästhetischen Theorie bei Böhme dabei das leibliche Wahrnehmen, das Spüren von Umgebungs- oder Dingqualitäten, wobei auch gesellschaftliche Konventionen in den Atmosphärenbegriff eingeholt werden.48 Die Theorie Böhmes hat im Hinblick auf ihre Eignung zur Designästhetik Vorzüge, so z.B. dass sie durch die Betonung des leiblichen Spürens von Szenen, die multisensorische Interaktivität mitdenkt, die den Leib spüren lässt und die für die ästhetische Erfahrung des Designs als relevant erscheint. Im Rah10
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S. 109f. 46 Vgl. Böhme, a.a.O., S. 109. 47 Vgl. Böhme, a.a.O., S. 110. 48 Vgl. Böhme, a.a.O., S. 110: »historische und konventionelle Atmosphären«.
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men der ästhetischen Bildung entfaltet Böhmes Designtheorie auch eine kritische und lehrreiche Komponente, denn ihre Darstellung am Beispiel konkreten zeitgenössischen Designs, macht klar, dass und inwiefern Design als erlernbare Gestaltung von Atmosphären selbst zum Träger der Manipulation am Mensch werden kann. In diesem Sinne lässt sie sich geschichtlich auch in die Tradition der von Wolfgang Fritz Haug in den 1970er Jahren begonnenen Kritik der Warenästhetik einordnen. Indes wirkt es jedoch problematisch, dass sich die Atmosphäre oder das leibliche Spüren bei Böhme in einem weitestgehend nebulösen und von ästhetischem Wahrnehmen geradewegs kontaminierten Raum entfaltet, indem es schwer wird, genau zu bestimmen, was überhaupt Teil einer ästhetischen Erfahrung ist und was nicht. Vielleicht erhebt die Atmosphärentheorie deshalb Anspruch auf einen Begriff ästhetischer Erfahrung und des Ästhetischen, der zu weit gefasst ist, um als Grundlage einer Designästhetik zu dienen. Eine ähnliche Kritik lässt sich an einer Reihe weiterer so genannter Alltagsästhetiken anbringen, die sich in jüngerer Zeit zum Ziel gesetzt haben, das Alltägliche, also das von der Kunstphilosophie missachtete, in die philosophisch ästhetische Wertschätzung einzuholen.49 Auf diese Theorien kann ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen, stattdessen möchte ich eine bestimmte Strömung fokussieren, die sich zeitlich ebenfalls erst in der jüngeren Geschichte der Philosophie diszipliniert hat und die das Leibliche ebenso wie Böhme stärker thematisiert. Es handelt sich dabei um die so genannte Somästhetik, die vor allem durch die philosophischen Beiträge Richard Shustermans in den USA bekannt wurde. Auch Shusterman will darauf aufmerksam machen, dass die Tradition der Disziplin Ästhetik – damit ist primär das ästhetische Denken in der Folge von Baumgarten, Kant und Hegel angesprochen – die spezifisch leibliche und körperliche Wahrnehmung des Menschen kläglich vernachlässigt hat.50 In An-
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49 Vgl. z.B. Arto Haapala: »On the Aesthetics of the Everyday« oder Thomas Leddy: »The Nature of Everyday Aesthetics«, beides in: The Aesthetics of Everyday Life , hrsg. v. 35
Andrew Light u. Jonathan Smith, New York 2005 2005, S. 39 – 55 und S. 3 – 22. Siehe auch Saito Yuriko: »Everyday Aesthetics«, in: Philosophy and Literature 25, Nr. 1, 2001, S. 87 – 95. Ein Problem im Zusammenhang solcher Theorien ist, dass sie den Gegenstandsbereich des Ästhetischen auf so gut wie alles ausweiten. Daher eignen sie sich weniger für eine Ästhetik, die das Design in bestimmten Grenzen denken will. 50 Shusterman sagt: »… we need an aesthetics of embodiment to revitalize aesthetics through contact with the living body and to redress the willful neglect of the body in Baumgarten’s founding
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lehnung an das antike griechische Bewusstsein für den menschlichen Körper und in Auseinandersetzung mit Theorien von Michel de Montaigne, John Dewey und Michel Foucault, entwickelt Shusterman seine somästhetische Sicht in der er davon ausgeht, dass der menschliche Körper ästhetische Beachtung verdient und zwar als Objekt und Träger ästhetischen Werts sowie als Subjekt, das ästhetische Erfahrungen macht. Dabei versteht er den Körper auch als eine Art »Medium das den Umgang mit allen anderen ästhetischen Objekten vermittelt und strukturiert«51 sowie als Medium, durch das die Wahrnehmungsfähigkeiten und die Fähigkeit zum Vollzug durch kritische Reflexion des Menschen verfeinert werden kann, um die persönliche Sicht und die eigenen Handlungsspielräume zu erweitern.52 Shusterman unterscheidet dabei zwischen einer Somatik der Darstellung und einer Somatik des leiblichen Erlebens. Während erstere auf die somatischen Praktiken verweist, die die äußere Qualität des Körpers betreffen, geht es ihm in der zweiten Definition darum, deutlich zu machen, dass es wichtig ist, sich damit auseinanderzusetzen wie der Körper von innen her empfunden wird. Das gilt auch dann, wenn er in einer Interaktion mit den ästhetischen Objekten steht. In der Befindlichkeit des Menschen weisen Körper und Geist dabei aufeinander zurück.53 Letztlich können die Dinge nur durch das Passieren der sensorischen Schnittstellen am Menschen auch Kontakt zum menschlichen Geist und Intellekt aufnehmen. Unser inneres Wohlbefinden und unsere körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigt demnach nicht nur die Art, wie wir mit Dingen in Kontakt treten, sondern auch unsere Entscheidungen, die wir über die Dinge fällen. Reflexive Urteile könnten theoretisch auch in einer distanzierten Einstellung gefällt werden, es ist jedoch zu bezweifeln, dass gerade diese Einstellung dem alltäglichen Umgang mit den designten Objekten gerecht wird. Es ist offensichtlich, dass Shustermans Somästhetik den Rahmen des Ästhetischen auf ein
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text of modern aesthetics, an omission reinforced by subsequent intellectualist and idealist theories (from Kant through Hegel and Schopenhauer and on to contemporary theories that emphasize disinterested contemplation) … « Richard Shusterman: »Somaesthetics and the Revival of Aesthetics«, in: Filozofski vestnik, Ausg. XXVIII, Nr. 2, 2007, S. 135 – 149, hier S. 137. 51 Vgl. Richard Shusterman: Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil, Phi-
losophische Anthropologie Band 3, Berlin 2005, S. 135. 52 Richard Shusterman: KörperBewußtsein. Für eine Philosophie der Somästhetik, Hamburg 2012, S. 11. 53 Shusterman betont, dass die Somästhetik in seinem Verständnis die deutsche Auslegung von Körper und Leib mitdenkt.
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maximales Maß ausdehnt. Dabei erweitert diese das traditionelle über die Jahrhunderte gewachsene Bild von den Sinnen und ihrer Rolle in der Wahrnehmung und dem Handeln. Es ist m. E. gerade dieses neue Bild, das alle menschlichen Sinne in der Interaktion mit den Dingen inkludiert, durch die sich die körperliche und innere Aufmerksamkeit Bahn bricht, das für eine umfassende Design ästhetik unverzichtbar ist. Mit dem Begriff der Aisthesis in ihrem ursprünglichen Verständnis als allgemeiner sinnlicher Erfahrung ist diese Perspektive bereits im philosophischen Denken angelegt. Die Tatsache, dass der Mensch ein multisensorisches Wesen ist, dessen innere und äußere Befindlichkeit eine große Rolle im Umgang mit und der Erschließung seiner Umwelt spielt und die Tatsache, dass unsere Designobjekte für den Gebrauch und die Interaktion gestaltet sind, die nicht alleine die Anschauung, sondern immer den ganzen Menschen involviert, fundiert diese Perspektive weiterhin. Für eine philosophische Designästhetik bedeutet dies auch, dass sie mit dem Begriff der Ästhetik auch den der Funktionalität grundlegend zu überdenken haben wird. Die vor allem von Parsons, Carlson und Forsey in jüngerer Zeit hervorgebrachten Theorien zur Designästhetik mögen nicht unzutreffend sein, doch sie können das geforderte ubiquitäre Verständnis von Wahrnehmung nicht in die konkrete ästhetische Erfahrung einholen. Gerade darum muss es aber in einer Designästhetik gehen. Letztlich ist intelligentes, gutes, exzellentes oder auch schönes Design ein Design, das das Wohlbefinden des Menschen mit seinen Empfindungen und seinen unterschiedlichen körperlichen, psychischen wie verstandesmäßigen Bedürfnissen befördern kann.
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Wenn im Folgenden also von Design die Rede ist, dann soll darunter ein Phänomen verstanden werden, dass es einem Subjekt ermöglicht, durch ebendiese Designobjekte genau in eine solche besondere Stimmung geraten zu können;
Dr. phil. Silke Müller 1998 – 2004 Studium der Medien-, Literatur- und Politikwissenschaft an der FriedrichSchiller-Universität Jena (Abschluß M.A.), 2004 – 2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philosophischen Fakultät der FSU Jena, 2006 – 2011 Promotion zum Thema »Verursachung und Bezugnahme im fotografischen Bild«; (2012 Promotionspreis der FSU Jena), 2011 – 2013 Elternzeit, 2013 – 2016 Postdoc-Stipendium »Klassik und Design: vom Umgang mit Dingen«, st.2016 Elternzeit.
Design oder: Von Reiz des Nutzlosen Silke Müller
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Die Frage nach dem Begriff des Designs lässt sich beantworten, wenn man sich einem speziellen Phänomen, den sogenannten Klassikern des Designs zuwendet. Das Erfreuliche besteht nämlich darin, dass die herausgehobene Stellung bestimmter Objekte des Designs zugleich die Besonderheit des Designs im Allgemeinen sichtbar werden lässt. Dies kann mit Hilfe eines konkreten Beispiels veranschaulicht werden: Auf der Welt dürfte es mittlerweile eine schier unüberschaubare Anzahl von Stuhl-Entwürfen nebst den dazugehörigen Stühlen geben. Und zweifelsohne kann davon ausgegangen werden, dass auf der deutlichen Mehrheit aller dieser entworfenen Stühle mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch relativ gut gesessen werden kann. Und trotzdem gibt es nur eine sehr begrenzte Anzahl von Stühlen, die als Klassiker des Designs bezeichnet worden sind und noch immer als solche bezeichnet werden können. Sie zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie über einen langen Zeitraum und unabhängig von wechselnden Stilen ihre exponierte Stellung innerhalb einer Gemeinschaft behaupten konnten. Das Kuriose ist, dass diese herausgehobene Stellung nicht darauf zurückzuführen ist, dass man auf den angesprochenen Stühlen besonders gut oder angenehm sitzen könnte. Ganz im Gegenteil zeichnen sich einige Klassiker sogar dadurch aus, dass man auf ihnen überhaupt nicht bequem sitzen kann. Dies verdeutlicht, dass es nicht unbedingt die Funktion sein muss, die ein Objekt zu einem designerischen Klassiker werden lässt, sondern dass andere Gründe dafür verantwortlich gemacht werden müssen. Auch die Gestalt des jeweiligen Stuhles kann nur bedingt als Grund dafür herangezogen werden, warum es zu einer derart herausgehobenen Stellung gekommen ist. So mag die gestalterische Leistung noch beim ersten Erscheinen des Stuhles ausschlaggebend für dessen Exklusivität gewesen sein, spätestens aber Jahrzehnte später, dann also, wenn der Stuhl bereits Klassikerstatus besitzt, ist die Rückführung auf die Gestalt nur noch wenig überzeugend. Denn meist gibt es zu diesem Zeitpunkt schon zahlreiche »Kopien« des Stuhles (die sogar materialgerechter und noch dazu kostengünstiger sein können und nur in minimalen Details 05
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vom Original abweichen) und trotzdem figuriert nur dieser eine Stuhl beziehungsweise Stuhlentwurf als ein besonderer Stuhl, obgleich er rein stilistisch betrachtet, nicht mehr als einzig bezeichnet werden kann. Der Grund muss entsprechend in einem anderen Umstand liegen, den auszuführen Absicht der folgenden Überlegungen ist, der aber auf die Formulierung zugespitzt werden kann, dass Klassiker des Designs über ein besonders überzeugendes Maß an ästhetischem Schein verfügen und dadurch eine Befreiung von Bedürfnissen und Zwecken ermöglichen, die wiederum zur Ausbildung einer besonderen Erfahrung, nämlich einer ästhetischen Erfahrung notwendig sind. Dass man es dabei mit einer durchaus inflationär gebrauchten Terminologie zu tun hat – was übrigens schon Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) moniert hat1 –, sollte nicht darüber hinwegsehen lassen, dass – ist die Terminologie erst einmal präzisiert – diese sich durchaus eignet, um mit ihr einen besonderen Zustand im Dasein des Menschen beschreiben zu können. Und in dieser Hinsicht ist Schiller vorbildlich gewesen, denn unmittelbar auf den von ihm getätigten Vorwurf, folgt eine konkrete Erklärung davon, was unter einer ästhetischen Erfahrung verstanden werden soll. Eine ästhetische Erfahrung – Schiller spricht ausdrücklich vom ästhetischen Zustand – liegt demnach dann vor, wenn erstens eine Beurteilung eines Dinges weder auf ein »Gesetz noch auf irgend einen Zweck Rücksicht nehmen muss«2 und dieses Ding zweitens »in der bloßen Betrachtung und durch seine bloße Erscheinungs art [gefällt; Anm. d. Verf.]«3 und der Mensch schließlich drittens im Moment der Betrachtung von der Realität absieht und ganz vom »bloßen Schein«4 des Dinges überwältigt ist. Wenn im Folgenden also von Design die Rede ist, dann soll darunter ein Phänomen verstanden werden, dass es einem Subjekt ermöglicht, durch ebendiese Designobjekte genau in eine solche besondere Stimmung geraten zu können; von der man allerdings eine Zeitlang meinte, dass dies insbesondere oder sogar ausschließlich nur mit den Werken der Kunst möglich sei. Auch Schiller hat in seiner Aus einandersetzung ausdrücklich die »schöne Kunst« mit dieser Zu schreibung ausgestattet, was ihn allerdings dazu veranlassen
1 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Frankfurt a. M. 2009; Vgl. hierzu: Ebd., S. 81. Hier heißt es in Bezug auf den ästheti-
schen Zustand: »Für Leser, denen die reine Bedeutung dieses durch Unwissenheit so sehr
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sollte, seine Auseinandersetzung mit einem doch recht resignierten Tonfall schließen zu müssen. Denn auf die Überlegung hin, wo sein erzieherisches Programm Wirkung entfalten könnte, resümiert er, dass dies »wohl nur in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln […] der Fall sein dürfte.«5
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Nun kann man Schiller vor dem Hintergrund seiner Zeit wohl kaum vorwerfen, dass er der ›schönen Kunst‹ eine derart exponierte Stellung zugesprochen hat. Allerdings könnte man überlegen, was Schiller wohl geantwortet hätte, wäre er im 21. Jahrhundert mit der Frage konfrontiert worden, wie er sich ein ästhetisches Programm für die Gegenwart vorstellen würde. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung kann darüber spekuliert werden, ob Schiller statt eines ästhetischen, zunächst einmal ein alltagsästhetisches Programm proklamiert hätte. Denn dies brächte zwei wesentliche Vorteile mit sich: Zum einen wäre die Möglichkeit einer prinzipiellen Erreichbarkeit aller Menschen gegeben und das Verharren in kleinen elitären Zirkeln, wie es Schiller selbst kritisch beurteilte, zumindest deutlich unwahrscheinlicher. Und zum anderen wäre die Ausbildung des harmonischen Menschen – der nach Schiller einerseits für das glückliche Leben des Einzelnen und andererseits für das friedliche Leben einer Gemeinschaft notwendig ist –, gleichsam wahrscheinlicher, weil jeder Mensch im Alltag eben auch von Dingen des Alltags umgeben ist. Und dies mit dem gegenüber Schillers Zeitgenossen entscheidenden Vorteil, dass eine Gestaltung des Alltagsdings durch Industrialisierung und maschinellen Fortschritt überhaupt erst in einer relevanten Größenordnung möglich geworden ist. Mit anderen Worten: Wenn die (nach Schiller paradigmatisch in der schönen Kunst zur Darstellung kommende) Schönheit sich schon in den Dingen des Alltags – und darauf deuten gegenwärtig zweifelsohne sämtliche gestalterische, sprich designerische Bemühungen hin; genau von hier aus entfaltet sich das Potential von Design geradezu – manifestieren kann, dann darf unterstellt werden, dass Schillers Programm genau von hier, also vom Alltagsding aus, seinen Ausgangspunkt genommen hätte. Nichts wäre passender gewesen, als dass die fröhlichen Verhältnisse 6, von denen Schiller spricht, sich spielerisch im einzelnen Individuum und in
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gemißbrauchten [sic!] nicht ganz geläufig ist, mag folgendes zur Erklärung dienen.« 2 Ebd., S. 82. 3 Ebd., S. 82. 4 Ebd., S. 107. 5 Ebd., S. 123. 6 Ebd., S. 107.
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der Folge im gesamten gesellschaftlichen Körper im Alltagsgeschehen ausgebildet hätten. Die Briefe von Schiller sind aber noch aus einem ganz anderen Grund für Überlegungen zum Design relevant, und hier zeigt sich auch, wie ungewöhnlich aktuell der Text von Schiller sein kann, wenn man an ihn mit einer designrelevanten Lesart herantritt. Der Grundgedanke von Schiller basiert zunächst auf der Annahme, dass der Mensch mit zwei unterschiedlichen Trieben – einem vernünftigen und einem sinnlichen Trieb7 – ausgestattet ist und diese beiden Triebe sich gegenseitig in ihrer Ausbildung hemmen. Wo der eine wirkt, kann folglich der andere nicht sein und umgekehrt. Die Aufgabe der Kultur besteht für Schiller nun darin, die beiden Triebe so zu regulieren, dass weder der eine über den anderen noch dieser über jenen die Oberhand gewinnen kann. Und dies ist nun nach Schiller im sogenannten Spieltrieb der Fall, weil dort Vernunftvermögen und Gefühlsvermögen verbunden wirken: »Der Spieltrieb also, als in welchem beyde verbunden wirken, wird das Gemüth [sic.] zugleich moralisch und physisch nötigen; er wird also, weil er alle Zufälligkeit aufhebt, auch alle Nöthigung [sic.] aufheben, und den Menschen, sowohl physisch als moralisch, in Freyheit [sic.] setzen.«8 Schiller verteidigt also die These, dass der Mensch sich durch den sinnlichen Trieb in einem rein »physischen Zustand« und sich durch den vernünftigen Trieb in einem rein »logischen Zustand« befindet, wobei jeder Trieb ohne das Korrektiv des anderen zu einer Verkümmerung des Menschen führt: Sobald eine Hegemonie des Vernunftvermögens vorliegt, droht der Mensch zum Barbar zu werden, wohingegen der Mensch, zum Wilden verkommt, wenn er umgekehrt ganz von seinem Gefühlsvermögen beherrscht wird. Erst im Spieltrieb, in dem Vernunftvermögen und Gefühlsvermögen verbunden wirken, befindet sich der Mensch nach Schiller in einem Zustand, in dem er weder von der Natur noch der Vernunft zu einer bestimmten Handlung genötigt ist, sondern sich in einer »glücklichen Mitte zwischen dem Gesetz und Bedürfniß [sic.] befindet […]«9. Dieser Zustand ist nun nach Schiller
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7 Vgl., ebd., S.17ff.: »Der Mensch kann sich aber auf eine doppelte Weise entgegengesetzt seyn [sic!]: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder aber als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören.« 8 Ebd., S. 57. 9 Ebd., S. 60. 10 Ebd., S. 33; »Jetzt bin ich an den Punkt gelangt, zu welchem alle meine bisherigen Betrachtungen hingestrebt haben. Dieses Werkzeug ist die schöne
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der »ästhetische Zustand«. Und der Gegenstand oder das »Werkzeug« des Spieltriebs, also dasjenige Instrument, das es ermöglicht, in diesen ästhetischen Zustand überhaupt erst geraten zu können, ist die Schönheit, die – wie bereits angesprochen – wiederum in der »schöne[n] Kunst«10 zur vollen Entfaltung gelangt.
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Bemerkenswert ist nun, dass Schiller nicht nur hinsichtlich der gesellschaftlichen Wirkung (in kleinen elitären Zirkeln) einen skeptischen Ton angeschlagen hat, sondern der ›schönen Kunst‹ noch in einer anderen Hinsicht kritisch gegenüberstehen sollte. So ist sie nach Schiller zwar paradigmatisch dafür, wie Schönheit faktisch zur Anschauung kommen kann, aber bei allen Künsten – also egal ob Musik, Poesie oder Bildwerk – macht Schiller dennoch die Einschränkung, dass wir diese immer nur »in einer besonderen Stimmung«11 empfangen können und dabei in eine »eigen thümliche [sic!] Richtung«12 gedrängt werden. Die Musik spricht nach Schiller beispielsweise zu stark die Sinne, also zu stark das Gefühlsvermögen an, während das klassische Bildwerk zu sehr an die »ernste Wissenschaft« appelliert. Unabhängig davon nun, wie überzeugend man diese Zuschreibungen hier im Einzelnen finden mag, zeigt sich, dass Schiller – und zwar trotz seiner historischen Verankerung –, wenn auch nicht von geeigneteren Kandidaten, so aber zumindest von der Problematik seiner gewählten Beispiele gesprochen hat. Und an dieser Stelle seiner Überlegungen dürfte es einen Versuch wert sein, darüber nachzudenken, ob nicht das Design als ein Kandidat vorgestellt werden darf, jener Schönheit, von der Schiller gesprochen hat, zweifelsfrei zum sichtbaren Ausdruck verhelfen zu können. Denn schaut man einige Zeilen weiter, drängt sich geradezu der Gedanke auf, Schillers Text so interpretieren zu können; er liest sich geradezu so, als habe man es hier mit einem ganz frühen Versuch zu tun, einer Theorie des Designs den Weg ebnen zu wollen: »Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sey [sic!], wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form [Kursivierung d. Verf.] ist wahre ästhetische Freyheit [sic!] zu erwarten. Darinn [sic!] also besteht das eigentliche Kunstgeheimniß [sic!] des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführe-
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Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren unsterblichen Mustern.« 11 Ebd., S. 87. 12 Ebd., S. 87.
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rischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphirender [sic!] ist die Kunst […].«13 Macht man einmal den Versuch und ersetzt den Begriff der Kunst durch den Begriff des Designs, ist man überrascht, wie gut das Zitat dennoch funktioniert. Man muss es in aller Deutlichkeit sagen, Schiller entscheidet sich hier für eine Wortwahl, die sogar ausgesprochen klar das Bestreben designerischen Tuns umschreibt: Es dürfte zumindest kaum einen Designer dieser Tage geben, der sich in seinem Berufsstand beleidigt fühlte, würde seine Arbeit damit umschrieben sein, eine imposante, anmaßende, verführerische Form zu erzeugen, deren Präsenz derart dominant ist, dass sie einen Betrachter vollkommen in ihren Bann zu ziehen in der Lage ist. Ein Designer wäre sogar ausgesprochen zufrieden mit seiner Arbeit, würde ein Betrachter seine Hinwendung zu einem bestimmten Produkt als von der Form verführt beschreiben. Und er wäre nicht nur zufrieden, sondern gegenwärtig auch sehr erleichtert, dass seine Bemühungen um verführerische Formen, ausnahmslos als Kompliment bewertet werden würden, und er nicht wie so oft, darum fürchten müsste, dass seine lustvoll erworbenen Produkte, am Ende doch nur zwanghaft konsumiert worden sind.
Und nicht nur das: Das Zitat gewinnt sogar an Überzeugungskraft, wenn dasjenige, was Schiller unter Inhalt versteht, mit dem Begriff der Funktion gleichgesetzt wird, der in Designdebatten eine so zentrale Rolle spielt. Gerade weil die Funktion beim Design als eine Größe definiert werden darf, um die herum Gestaltung sich vollzieht, kann die Formgebung im Design zum zentralen Charakteristikum werden, weil sie diejenige ist – anders als Schiller dies für den Inhalt eines Gedichtes konstatieren musste –, die in ihrem Gestus variieren kann, während die Funktion unverändert bleibt. Um es am Beispiel des Stuhles zu veranschaulichen: Ein Stuhl hat unabhängig von seiner Formgebung zunächst einmal eine prinzipielle Funktion: Auf ihm soll mindestens gesessen werden können. So sind zwar nicht alle Dinge, auf denen man sitzen kann, Stühle; aber umgekehrt muss man auf allen Stühlen dieser Welt mindestens sitzen können, sonst wären es keine Stühle mehr. Das ist die 25
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13 Ebd., S.88.
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Funktion. Das ist der Inhalt eines Stuhles. Mehr ›Weite‹, um es in Schillers Worten zu sagen, gibt es nicht! Die Varianz ergibt sich beim Stuhl also entsprechend aus dem Vermögen, ihm dennoch ganz unterschiedliche Formen geben zu können, ohne dass er dabei seine Funktion – nämlich ein Sitzmöbel zu sein – einbüßt. Wenn nach Schiller ästhetische Freiheit also gerade dort möglich wird, wo die Formgebung im Vordergrund stehen kann, dann darf Design zweifelsohne als ein überzeugendes Beispiel eines solchen Freiheitsgrades angeführt werden. Denn hinter dem Versuch, einem Stuhl immer wieder eine andere Form geben zu wollen, ihn imposanter, anmaßender, verführerischer zu machen, steht ja nichts anderes, als das Bemühen darum, durch ein Objekt des Alltags in eine besondere Stimmung versetzt werden zu können. Jene Stimmung, von der Schiller meinte, dass sie erstens an der Konstituierung des harmonischen Menschen maßgeblich beteiligt ist, was wiederum und damit zweitens Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben der Gemeinschaft ist: »Wenn schon das Bedürfniß [sic!] den Menschen in die Gesellschaft nöthigt [sic!], und die Vernunft gesellige Grundsätze in ihm pflanzt, so kann die Schönheit allein ihm einen geselligen Charakter erteilen. Der Geschmack allein bringt Harmonie in die Gesellschaft, weil er Harmonie in dem Individuum stiftet.« Auf das angesprochene Beispiel übertragen, bedeutet das: So wie es durch verschiedene Bildwerke oder verschiedene Musikstücke oder verschiedene Gedichte möglich wird, in einen ästhetischen Zustand versetzt zu werden, so darf auch unterstellt werden, dass der Mensch durch die besondere Gestalt eines Stuhles in einen derartigen Zustand geraten kann. Kurz gesagt: Je mehr Gedichte und je mehr Stuhlentwürfe im Umlauf sind, umso wahrscheinlicher ist es folglich, dass eine ausgesprochen große Anzahl von Menschen eine ästhetische Erfahrung machen darf und umso wahrscheinlicher ist es damit, dass der harmonische Mensch sich ausbilden wird. Entsprechend ist ein konsumkritischer Aufruf nach dem Motto, kein Mensch benötigt derart viele Stühle – zumindest nach Schiller – mit weniger sozialem Engagement behaftet, als die Ausrufenden es wahrscheinlich vermuten würden.
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Allerdings löst nicht jeder Stuhl in jedem Betrachter eine ästhetische Erfahrung aus, nicht selten, nimmt ein Betrachter sogar
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einfach nur Platz auf einem Stuhl. Er benutzt den Stuhl dann einfach gemäß der Funktion, die der Stuhl innehat, ohne dabei die Formgebung zu beachten. Er ist dann nach Schiller entweder zu »gespannt« oder zu »schlaff«14, also zu sehr Vernunft- oder zu sehr Gefühlsmensch, als dass er von der äußeren Gestalt eines Stuhles berührt sein könnte. Wer nach kilometerlangem (im schlimmsten Fall unfreiwilligem) Marsch ausgehungert und durstig in eine Wohnung zurückkehren darf, wird nur ausgesprochen selten durch die Form eines Stuhles angerührt sein, er möchte zunächst einmal nur ruhen und sitzen und seinen Durst und Hunger stillen. Obwohl die Person vielleicht sogar anders wöllte, könnte sie nicht, weil das »wilde Wesen« in ihm angesichts der angesprochenen Strapazen die Oberhand gewonnen hat und zunächst einmal ganz primäre Triebe befriedigt sein wollen. Das »barbarische Wesen« bringt nun eine ganz andere Problematik mit sich: Wer immer nur danach fragt, ob ein Entwurf und das dazugehörige Objekt effizient, kostenneutral, notwendig, angemessen also kurzum, nach den Vorgaben der Vernunft hergestellt ist, wird den wechselnden Formen nur äußerst selten wohlwollend begegnen. Diese Person könnte zwar anders, will aber nicht. Das Unvermögen, von einer schönen Form berührt zu sein, hat folglich andere Ursachen und es ist bemerkenswert, dass Schiller hierfür den Begriff des Barbaren reserviert hielt. Der eigentlich empfindungslose Mensch, der Rohe, ist danach gerade nicht der instinkthaft handelnde Mensch, sondern derjenige, der kalt und berechnend immer alles nach vernünftigen Maßstäben abwägt. Schillers Barbaren und Wilde sehen sich aber letztlich beide dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie dem ästhetischen Schein – wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen – gegenüber widerständig sind und es erst dem spielenden Menschen gelingt, eine »Freude am Schein«15 auszubilden. Der ästhetische Schein ist bei Schiller dabei am ehesten ex negativo zu bestimmen: Das »gespannte« und das »schlaffe«16 Gemüt sind immer auf das Wirkliche hin ausgerichtet, am Realen orientiert, an einen Zweck, an einen Nutzen gebunden. Sich dem schönen Schein hinzugeben, heißt nach Schiller aber, sich von der Wirklichkeit abzuwenden, um sich zweckfrei und nutzlos, ausnahmslos einer lustvollen Anschauung oder Anhörung schöner Formen hingeben zu können. Im Spieltrieb befindet sich also erst derjenige Mensch, der sich auf den »schönen Schein« eines Objektes einlassen kann, der sich folg-
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lich, »mit dem Auge genießen[d]«17, auf die besondere Gestalt eines Objektes – die selbst wiederum aber auch keinen Zweck und Nutzen beanspruchen darf – konzentriert, ohne diese sich anzuverwandeln oder nach den Maßstäben der Vernunft bewerten zu wollen. Insofern ist es also ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis, das es zwischen Betrachter und Objekt zu konst atieren gilt. Und hier kommt nun Schillers Idee zur vollen Entfaltung, wonach ein Mensch es können (der Wilde will, aber kann nicht) und zugleich aber auch wollen (der Barbar kann, aber will nicht) muss, sich auf den schönen Schein eines Objektes einzulassen: »Sobald er überhaupt nur anfängt, dem Stoff die Gestalt vorzuziehen, und an den Schein, (den er aber dafür erkennen muß) Realität zu wagen, so ist sein thierischer […] Kreis aufgethan [sic!], und er befindet sich auf einer Bahn, die nicht endet.«18 Wenn der Mensch sich also in einem Zustand befindet, in dem er für einen Moment von der Realität absehen kann, weil er sich ausschließlich der Betrachtung einer Formgebung, sprich Gestalt zuwenden möchte, befindet er sich im Spieltrieb.
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Das Vermögen, die besondere Gestalt lustvoll erleben zu können, kann nach Schiller bereits in ganz frühen gestalterischen Versuchen des Menschen ausgemacht werden, wann immer er nämlich bemüht war, zur »Verschönerung seines Daseyns [sic!]«19 einen Beitrag liefern zu wollen. Im Zuge dieser Beschreibung fungiert die »schöne Kunst« dann auch als das angesprochene Paradigma. Aber zugleich ist sie dies eben auch nur im Kontext von Schillers Zeit; in historischer Folge hat es Vorgänger (Schiller deutet dies selbst an) gegeben und können überzeugendere Nachfolger wie – so der hiesige Vorschlag – das Design ausgemacht werden. Mit anderen Worten: Wo der Mensch in der Lage ist, sich auf den schönen Schein einlassen zu können, da ist er kein von Instinkten Getriebener und kein von Maßregeln Genötigter, sondern ein lustvoll Spielender. Entsprechend sollte der Überfluss an designerischen Bemühungen heutzutage nicht kritisiert werden, sondern genau umgekehrt, sollte nach den Ursachen dafür gesucht werden, warum es mancherorts so wenig Raum für Gestaltung gibt. Nach Schiller würde es sich nämlich dabei um Orte handeln, an denen 20
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14 Vgl., ebd. S. 89. 15 Ebd., S. 107. 16 Vgl. hierzu ebd., S. 68. 17 Ebd., S. 109. 18 Ebd., S. 115. 19 Ebd., S. 115.
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entweder noch die »wilde Natur« herrscht und sich alles jeweils individuellen Begierden unterzuordnen hätte, oder aber um Orte, wo das »barbarische Diktat« regiert und jegliche individuelle Regung ausgeschlossen ist. Dagegen würde Schiller all jene Orte begrüßen, wo die zweckfreie Schönheit des Dinges ihre Wirkung entfalten darf. Orte also, an denen sich im Alltag der Menschen ein hohes Maß an gestalterischen Bemühungen nachweisen lässt, an denen alltagsästhetische Bemühungen also eine große Rolle spielen dürfen, würden für Schiller zunächst einmal ausschließlich Anlass zur Freude sein. Design wäre danach zwar nicht Bedingung für alltagsästhetische Empfindungen; aber wo alltagsästhetische Empfindungen möglich werden, entfaltet sich das Potential von Design besonders gut und in besonders großem Umfang. Denn wo Gegenstände des Alltags auf einmal in den Vordergrund treten können – übrigens spricht Schiller selbst vom Alltagsding »Hausgeräht [sic!]«20 – und an Bedeutung gewinnen, weil sie an der Erzeugung ästhetischer Zustände maßgeblich beteiligt sein können, wird auch die Art und Weise ihrer Gestaltung, ihrer Aufmachung, ihres Designs zusehends wichtiger: »So wie sich ihm von außen her, in seiner Wohnung, seinem Hausgeräthe [sic!], seiner Bekleidung allmählig [sic!] die Form nähert, so fängt sie endlich an, von ihm selbst Besitz zu nehmen, und anfangs bloß den äußern, zuletzt auch den innern [sic!] Menschen zu verwandeln.«21 Design ist insofern gerade nicht (und dies aus kritischer Perspektive) an der Konstitution von Bedürfnissen beteiligt, sondern das beruhigende Bedürfnis nach ästhetischen Empfindungen im Alltag hat Design zur Folge. Anders als viele Zeitgenossen hätte schon Schiller das Vermögen von Design – nämlich einen Beitrag zur Harmonisierung der Befindlichkeiten des Menschen zu liefern – deswegen zu schätzen gewusst. Design, das zweckfrei nach der schönen Form sucht, die lustvoll betrachtet sein will, wäre ihm kein Ärgernis, sondern zuallererst einmal ein Geschenk gewesen: »Eben dadurch ist etwas unendliches erreicht. Denn sobald wir uns erinnern, daß ihm [dem Menschen; Anm. d. Verf.] durch die einseitige Nöthigung [sic!] der Natur beym [sic!] Empfinden, und durch die ausschließende Gesetzgebung der Vernunft beym [sic!] Denken gerade diese Freyheit [sic!] entzogen wurde, so müssen wir das Vermögen, welches ihm in der ästhetischen Stimmung zurückgegeben wird,
20 Vgl. hierzu Ebd., S. 119. 21 Ebd., S. 119. 22 Ebd., S. 84.
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als die höchste aller Schenkungen […] betrachten.«22 Mit anderen Worten: Auch für Schiller würde der Mensch nicht durch schönes Design zum guten Menschen werden; aber durch schönes Design kann der Mensch in einen Zustand versetzt werden, aus dem heraus er sich zumindest freiwillig entscheiden würde, ein guter Mensch im Sinne Schillers sein zu wollen.
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Was heißt das nun für die eingangs erwähnten Stühle beziehungsweise Stuhlentwürfe? Ganz sicher nicht, dass der Mensch durch sie zum besseren Menschen geworden wäre. Wenn das der Versuch einer Stuhl-Gestaltung gewesen wäre, dann dürfte es allerdings auch mit ihrem Design nicht besonders weit her gewesen sein. Ganz im Gegenteil: Überzeugendes Design darf nach Schiller keinen Inhalt, keinen Nutzen, keinen Zweck haben, sondern muss eine Form aufweisen, bei der ein wollendes und könnendes Gemüt sich vom schönen Schein eines Dinges überwältigen lässt und für einen Moment von der Realität absieht. Bei Klassikern des Designs scheint dieses Konzept besonders gut aufgegangen zu sein. Bei ihnen kommt allerdings noch ein besonderer Umstand hinzu: Sind Klassiker des Designs erst einmal mit dem »Nimbus des Klassischen« ausgestattet, dann reicht oft schon diese Zuschreibung – die Form spielt also zunächst noch gar nicht die ausschlaggebende Rolle –, um in einem Betrachter eine bestimmte Sensibilität zu erzeugen. Das gegenseitige Bedingungsverhältnis von dem Schiller gesprochen hat, kommt hier also zur vollen Entfaltung. Bei Klassikern will das Gemüt von der Form regelrecht berührt sein, bevor es die Form überhaupt betrachten noch mit anderen, gar ähnlichen Formen vergleichen konnte. Der Klassiker tritt entsprechend mit anderen Formen erst gar nicht in ein Konkurrenzverhältnis, sondern sein Status verschafft ihm schon vorab eine Sonderstellung, die dazu führt, dass der Betrachter vom ästhetischen Schein des Designklassikers regelrecht angerührt sein möchte. Gleichwohl muss sich seine Form dennoch bei der Betrachtung bewähren, was dann geschieht, wenn der Betrachter von der Form auch tatsächlich berührt ist und für einen Moment von der Realität absehen kann. Grundsätzlich ist aber jeder designerische Entwurf darum bemüht, jene besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu können. Dies ist überhaupt der Grund, warum Design sich immer wieder vom gleichen Objekt ausgehend müht, eine unverwechselbare Form 10
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entwickeln zu wollen. Obwohl wir also in einer Welt leben, in der es an Stühlen mit Sicherheit nicht mangelt, wonach im Grunde kein einziger Stuhl zusätzlich entworfen werden müsste, gestalten Designer trotzdem weiterhin Sitzmöbel. Benötigt werden diese Stuhlentwürfe und Stühle allesamt nicht, aber genau das macht ihren Reiz aus. Es gibt sie nicht, weil jemand sie tatsächlich brauchen würde, sondern es gibt sie tatsächlich aus dem ganz einfachen Grund: Weil sie über ein überzeugendes Maß an ästhetischem Schein verfügen wollen, um dadurch eine Befreiung von Bedürfnissen und Zwecken zu ermöglichen, die wiederum zur Ausbildung einer besonderen Erfahrung, nämlich einer ästhetischen Erfahrung notwendig sind.
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Designer entwerfen Objekte, die von Menschen benutzt, anders gesagt: gebraucht werden.
Prof. Dr. phil. Thomas Friedrich geb. 1959, absolvierte ein Studium des Graphik-Design und anschließend eines der Philosophie, Politische Wissenschaft und Volkskunde in Würzburg. Lehrtätigkeit als Hochschuldozent für Geschichte und Theorie der Visuellen Kommunikation an der Fakultät für Gestaltung der Bauhaus-Universität Weimar. Seit März 2000 Professor für Philosophie und Designtheorie an der Fakultät Gestaltung der Hochschule Mannheim. Dort leitet er das Institut für Designwissenschaft. Zusammen mit Gerhard Schweppenhäuser gibt Thomas Friedrich die Buchreihe Ästhetik und Kulturphilosophie im LIT Verlag heraus. Seit 2002 ist er Redakteur der Zeitschrift für kritische Theorie (zu Klampen, Springe). Er ist Gründungsmitglied der Gesellschaft für Designgeschichte, berufenes Mitglied der Freien Akademie der Künste Rhein-Neckar, er ist im Vorstand des Deutschen Werkbundes Baden-Württemberg und zusammen mit Klaus Schwarzfischer Leiter der Sektion Design der Deutschen Gesellschaft für Semiotik e.V. Letzte Veröffentlichungen: »Kulturkritik der kritischen Theorie heute« in: Sebastian Baden, Christian Bauer, Daniel Hornuff (Hg.): Formen der Kulturkritik, Fink 2018, S. 123 – 130; »Phänomenologisches und ästhetisches Schauen im Ausgang von Husserl und Merleau-Ponty« in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.): Handbuch der
Medienphilosophie, WBG 2018, S. 45 – 54; zusammen mit Gerhard Schweppenhäuser: »Zeichen, Sprache, Bild: Barthes und Baudrillard« in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.):
Handbuch der Medienphilosophie, WBG 2018, S. 80 – 89.
Die Transformation des Designs durch sachferne Kriterien Thomas Friedrich
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Ausgangspunkt dieses Beitrags ist der sogenannte erweiterte Designbegriff. Gemeint ist damit die Auffassung, dass Designer grundsätzlich an der Schnittstelle arbeiten, wo bloß Gedachtes in Wirklichkeit überführt wird. Was Entwickler aller Art, zum Beispiel Ingenieure, Techniker, Schreiber, sich ausgedacht haben, wird erst, nachdem der Designer entschieden hat, wie es aussehen soll, in Wirklichkeit umgesetzt. Die phänomenale Welt, wie wir sie als Alltagswelt wahrnehmen, ist Resultat von Designprozessen. Der Designer steht damit am Ende einer langen Kette von Menschen, die an Ideen gearbeitet haben, und zwar genau an der Stelle, wo metaphorisch gesprochen, das Kind in die Welt gesetzt wird. Deswegen gilt, dass es nicht zuletzt an den Designern liegt, wie die Welt in Zukunft aussehen wird. Dieser großen Verantwortung bewusst, haben viele Gestalter Vorstellungen entwickelt, wie eine Welt aussehen könnte, die etwas humaner wäre als die jetzige. Die Reflexion auf die gesellschaftliche Situation gehörte damit zum Standard vieler Designer. Von der Arts & Crafts-Bewegung über den Werkbund und das Bauhaus bis zur Ulmer Schule gehörte diese politische Dimension des Designs zum Selbstverständnis. Im Klartext hieß das, Design müsse der Verbesserung der Lebens qualität dienen. Das war zwar ein sehr allgemeines, aber sachnahes Kriterium für gute Gestaltung. Man war sich zwar häufig nicht einig, welches Design einer solchen Verbesserung der Lebensqualität dienen könnte, wie die Funktionalismusdebatte, Monofunktionalismus versus Plurifunktionalismus, zeigt. Über das Ziel aber herrschte Einigkeit.
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Die These dieses Beitrags lautet, dass das Design heute vermehrt von sachfernen Kriterien bestimmt wird und somit häufig nicht mehr einer Verbesserung der Lebensqualität dient, sondern im Gegenteil die Designpraxis und ihre Resultate in unterschiedlicher Hinsicht zum Ärgernis für den Nutzer geworden sind. Wenn nun wie oben Wirklichkeit als Resultat von Designprozessen verstanden wird, kann man die These auch folgendermaßen zuspitzen: Um ökonomisch überleben zu können, muss der Designer
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aktuell die Welt so zurichten, dass er laufend nachgefragt wird. Dies kommt einer objektiven Weltverschlechterung gleich. Die Logik, nach der diese vollzogen wird, ist die der Warenästhetik. Durch Beispiele soll im ersten Teil diese problematische, durch ökonomische Zwänge verursachte Transformation des Designs aufgezeigt werden. Im zweiten Teil wird dann ein Gegenmodell, genannt Aneignungsästhetik, vorgestellt.
Die Emotion der Geborgenheit Psychologisch gesehen erwächst aus der objektiven Zunahme prekärer Lebenssituationen, verbunden mit den nach wie vor steigenden Forderungen nach Flexibilität, bei vielen Menschen das Bedürfnis nach Emotionen wie Geborgenheit, Stille und Entschleunigung. Verstärkt werden diese Bedürfnisse dadurch, dass sich durch die Globalisierung der Wirtschaft seit dem Ende der Systemkonkurrenz 1990 das Konkurrenzprinzip erstens im Bereich der Ökonomie erheblich verschärft hat, und zweitens auf gesellschaftliche Bereiche ausgedehnt wurde, die bisher nicht davon betroffen waren. Zum Beispiel sollen Schulen und Hochschulen vermehrt miteinander und untereinander konkurrieren. Heute wird Konkurrenz von politischer Seite als gesellschaftliches Allheilmittel gepriesen. Doch genau dies kann sie nicht sein, weil sie notwendig Verlierer schafft, und zwar ständig mehr. Wenn einer von 200 Bewerbern eine Stelle erhalten will, muss er 199 andere aus dem Feld schlagen. Noch vor ein paar Jahrzehnten konkurrierten weitaus weniger Arbeitssuchende gegeneinander, entsprechend geringer war die Zahl der Verlierer. Betroffen davon sind alle Bildungsschichten, vom Schulabbrecher bis zum promovierten und habilitierten Wissenschaftler, wenn auch nicht in gleichem Maße. Die vehemente Zunahme der gesellschaftlichen Verlierer wird zum Hauptproblem des 21. Jahrhunderts werden.
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Es geht hier nicht darum, Konkurrenz als solche zu verwerfen. Jeder sportliche Wettkampf oder jede Kartenspielrunde wird gerade wegen der dort herrschenden Konkurrenz als lustvoll erlebt. Problematisch ist die Ausdehnung derselben auf alle gesellschaftlichen Bereiche bei gleichzeitiger Verschärfung der Konkurrenz. Dann nämlich wird aus der Freiheit konkurrierender Subjekte der existenzielle Zwang zur Konkurrenz, das heißt, eine Art Bürger-
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krieg wird gesamtgesellschaftliche Normalität. Und genau diese Situation, die gerne mit der Metapher des »Haifischbeckens« umschrieben wird, haben immer mehr Menschen satt. Lediglich Menschen mit Geldvermögen – die happy few, eine im Vergleich mit der Weltbevölkerung geringe Zahl – sind diesem Zwang nicht ausgesetzt. Falls sie sich doch auf das Konkurrenzprinzip einlassen, dann freiwillig und ohne Not. Was heißt das für die Designer?
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Mittlerweile sind ganze Industriezweige entstanden, die auf unterschiedliche Weise mit letztlich nichts anderem beschäftigt sind, als Designprodukte herzustellen und zu verkaufen, deren Gebrauchswert es ist, die Emotion der Geborgenheit zu transportieren. Unsere Alltagsästhetik wird dominiert von Dekorationsartikeln verschiedener Art. Je nach Jahreszeit sind die Geschäfte voll mit Oster-, Muttertags-, Halloween-, Weihnachtsartikeln usw.; und zwar in einer Menge, die Staunen macht. Das gilt auch für Kuscheltiere in verschiedenen Größen, die längst nicht mehr nur in ihrer Funktion als Übergangsobjekt von Kleinkindern benutzt werden, sondern von Erwachsenen, die ohne Scheu zum Beispiel ein Kuscheltierchen am Rucksack tragen, quasi als Glücksbringer. Diese Infantilisierung ganzer Bevölkerungsschichten steht erst am Anfang und ist lediglich eine Form der Reaktion auf die aktuelle bürgerkriegsähnliche Situation totaler Konkurrenz. 10
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Eine ähnliche, aber etwas andere Weise, auf den unerträglichen Druck zu reagieren, ist der Wellnesstrend. Er wird die Zukunft vehement bestimmen. In Erweiterung der oben angesprochenen einfachen Kuscheltier- und Dekorationsindustrie wird bei der Wellness industrie den Produkten nicht eine einfache Form der Emotion der Geborgenheit amalgamiert, sondern die Geborgenheit wird holistisch, kosmologisch, vor allem pantheistisch veredelt. Die in der Wellnessindustrie vermittelte Form der Emotion Geborgenheit ist komplexer und reflektierter angelegt. Sie ist, etwas polemisch formuliert, die Version für den gebildeten Goetheleser. Die Wellness industrie verkauft Geborgenheit weniger als bloße Gesundheit denn als Heilung. Die dem humanistisch gebildeten Bürger bekannten Ideale, nämlich die Versöhnung des Menschen mit der Natur und die des Menschen mit dem Menschen, werden in der Wellness industrie als geglückt behauptet, vorausgesetzt, man konsumiert
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die entsprechenden Produkte. Was auf gesellschaftlicher Ebene restlos misslang, kann jetzt in seiner Surrogatform als Wellness- Tee, Wellness-Shampoo, Wellness-Duschgel, Wellness-Hautcreme usw. oder auch als Wochenende im Wellnesshotel problemlos erworben werden. Gerade letzteres ist besonders raffiniert, denn im Gegensatz zu altmodischen Kuren, die in der Regel mindestens drei Wochen dauerten, da vorher mit keinem Erholungseffekt zu rechnen war, verspricht die Wellnesserholung einen Kureffekt übers Wochenende. So lässt sich religiös aufgeladene Geborgenheit mit den heute gültigen ökonomischen Effizienz- und Flexibilitätsanforderungen bestens verknüpfen. Nach Fast Food und Fast Sex (Quickies) haben wir jetzt auch die Fast Cure. Entscheidend ist, dass es bei der immensen Zunahme der Dekorationsartikel, der Kuscheltiere und der Wellnessangebote nicht primär um den jeweils gekauften Artikel geht, sondern um die Emotion, die er vermeintlich transportiert – allen voran die Geborgenheit. Mit der Herstellung solcher Artikel sind Designer heute beschäftigt.
Bezeichnet man die obigen Formen aktueller Kulturindustrie insgesamt als Kuschelindustrie, dann zeigt sich, dass es zugleich in wachsendem Ausmaß eine andere Form der Kulturindustrie gibt, die ebenso Funktion der Konkurrenz ist; gemeint ist eine Art Kriegsindustrie. Unter diesen Begriff fallen Produkte, die einfach zeigen, wie Anerkennung in der totalen Konkurrenzgesellschaft affirmativ funktioniert, nämlich, wovon oben schon die Rede war, über die Ausschaltung von Konkurrenten. Der größte Teil der Computerspiele ist nichts anderes als die Visualisierung des Konkurrenzprinzips. Sieger in einem solchen Spiel wird man durch die virtuelle Vernichtung anderer. Und gesellschaftlich anerkannt ist nur der Sieger. Kuschelindustrie und Kriegsindustrie sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Konsumenten beider Arten von Kulturindustrie werden betrogen, die einen um die erhoffte Geborgenheit, die anderen um die gewünschte gesellschaftliche Anerkennung. Diesen Doppelbetrug leisten Designer.
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Strategien der Kundenbindung oder Suchterzeugung als tragende Säule modernen Marketings In der Antike spielte die Eudämonie, das Glück, das seelische Wohlbefinden eine zentrale Rolle. Eudämonismus hieß die philo-
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sophische Lehre, die Glück als zentrales Motiv und Ziel allen Strebens benannte; Sokrates und Epikur waren ihre prominenten Vertreter. Dass es heute anders um die Eudämonie steht, also um Glück und seelisches Wohlbefinden, ist offenkundig, auch wenn das in der Welt des Werbedesigns gern überspielt wird. Der Werbeslogan einer großen deutschen Drogeriemarktkette lautet: »Müller macht glücklich«. Doch soll Müller oder irgendein anderer Produktanbieter überhaupt glücklich machen? Wohl kaum. Es bedarf nur wenig Phantasie, um sich die wirtschaftlichen Probleme auszumalen, die es mit sich bringen würde, wenn die Menschen durch den Konsum von Waren wirklich glücklich werden würden. Glückliche Menschen sind auch zufriedene Menschen, zufrieden mit sich selbst und dem, was sie besitzen. Sie müssten nicht arbeiten, weil sie alles hätten, was sie brauchen, und weil dem so ist, müssten sie auch nichts kaufen, ein paar Verbrauchsgüter wie Nahrung ausgenommen.
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Der wahrhaft glückliche Mensch wäre heute also eine ökonomische Katastrophe. In aktueller Terminologie ausgedrückt, würde er sowohl als Produktionsfaktor als auch als Konsumfaktor ausfallen. Insofern ist die Verhinderung glücklicher Menschen eine der zentralen Aufgaben unserer heutigen Gesellschaft und Unglücks produktion als wirtschaftliche Überlebensstrategie die aktuelle gesellschaftliche Basis. Millionen von Menschen, allen voran marketingorientierte Designer, sind mit nichts anderem beschäftigt, als Unglück zu schaffen und auf Dauer zu setzen; weil sie darin erfolgreich sind, werden sie gut bezahlt. 20
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Es gibt eine Dialektik von Glück und Glücksversprechen. Treffend ist das Bild vom Eselskarren, der zum Laufen gebracht wird, indem sein Besitzer, auf dem Karren sitzend, dem Esel an einem langen Stab eine Möhre vor das Gesicht hält. Der Esel versucht diese zu erreichen, was freilich misslingt, aber der ständige Versuch nach der Möhre zu schnappen, setzt eben das Gespann in Bewegung. So stellt sich das vom Besitzer erwünschte Ergebnis ein. Ein ähnliches Bild liefert der antike Mythos von Tantalos, der Qualen erleidet, weil sich die vor ihm liegenden begehrten Güter zurückziehen, so wie er sich nach ihnen streckt. Und genau nach diesen Bildern funktioniert das Verhältnis von Konsum und Glück. Nur 30
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wer im Unglück lebt, ist empfänglich für alle möglichen Arten von Glücksversprechen. Und weil man den Konsumenten nicht verlieren will, kann es gar nicht darum gehen, ihn glücklich und zufrieden zu machen, sondern dauerhaft gierig nach den jeweiligen Produkten. Diese dienen somit der Schaffung und Erhaltung des Unglücks und haben lediglich die Qualität von Glücksversprechen. Die Produkte versprechen Glück, lösen es aber nicht ein.
Dieses Phänomen wird traditionell mit dem Begriff der Sucht bezeichnet. Unverdeckt ehrlich spricht der Marketingfachmann auch vom »Anfixen« potenzieller Kunden und gesteht damit offen ein, dass er gar nicht vorhat, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Zuverlässig Süchtige sollen hervorgebracht werden, das heißt Menschen, die eine Tendenz haben, ständig die Dosis steigern zu müssen. Unsere heutige Wirtschaft fußt auf der Sucht nach glückversprechenden Gütern. Wie jede Sucht erzeugt auch diese beständig ihre Voraussetzungen selbst, in diesem Fall die Abwesenheit von Glück.
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Der Gemeinplatz, der Kunde sei König, man müsse ihn zufriedenstellen, sonst laufe er einem davon, ist freilich nur die halbe Wahrheit. Ein unzufriedener Kunde läuft in der Tat davon. Ist die Zufriedenheit gar zu groß, bleibt er jedoch ebenso fern. Diese berechnende Art der Zufriedenstellung ähnelt allerdings der, die den Süchtigen mit seinem Dealer verbindet. In vielen Produktbereichen, zum Beispiel bei Uhren, Spielzeug, Porzellan, Autos, mittlerweile auch bei Verbrauchsgütern wie Mitteln zur Körperpflege oder Nahrungsmitteln, erhält man sich Kunden zum Beispiel durch Limited Editions. Man packt sie erstens bei der Sammlerseele, denn diese strebt nach Vollständigkeit, und zweitens wird dem Konsumenten suggeriert, das gekaufte Gut könnte in Zukunft eine Wert steigerung erfahren. TV-Seifenopern oder die Mode sind ebenfalls auf Suchtkonsum angelegt. Auch durch Gutschein-, Rabatt- und Geschenkvergabe bringt man Menschen dazu, Dinge zu kaufen, die sie unter anderen Bedingungen hätten liegen lassen. Man bezeichnet dies heute euphemistisch als »Strategien der Kundenbindung«. Dies gelingt am besten bei Menschen, die ich-schwach sind, also vor allem bei Kindern, Jugendlichen und alten Menschen. Deswegen sind sie aktuell die zentralen Zielgruppen der modernen Marketingstrategen. Ob jemand im späteren Leben einen BMW
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oder einen Mercedes fährt, Nike oder Adidas trägt, entscheidet sich im Kindesalter. Die hier beschriebenen Phänomene sind im Kern bereits von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im Kapitel über Kultur industrie ihres Buches Dialektik der Aufklärung aus dem Jahre 1947 erörtert worden. Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied zwischen damals und heute. Während Arbeit zur Zeit des Fordismus und Taylorismus vor allem im Dienste materieller Produktion lag und die immaterielle Arbeit, wie Reklame, Werbung oder Public Relations noch die Ausnahme bildeten, ist es heute so, dass die materielle Arbeit durch den heutigen hohen Grad technischer Rationalität nahezu vollständig automatisiert ist. Menschen arbeiten aktuell vor allem in den Bereichen der Produktentwicklung oder sind eben mit Marketingaufgaben beschäftigt. Und eine der Hauptaufgaben modernen Marketings ist eben die Entwicklung von »Strategien zur Kundenbindung«. Noch nie waren seit 1947 so viele Menschen damit beschäftigt, andere süchtig zu machen, wie heute. Diese quantitative Zunahme jener legalen und ökonomisch erwünschten Suchtphänomene hat insofern zu einem qualitativen Sprung innerhalb unserer Gesellschaft geführt, als Sucht heute nicht nur ein Epiphänomen herrschender Ökonomie ist, sondern tragende Funktion gewonnen hat. Das heißt, Sucht ist nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Sie ist die konsequente psychologische Verlaufsform einer Ökonomie, deren einziger Zweck die Profitmaximierung, also stetiges Wachstum, ist. Zur heutigen Situation, die solche Mittel ökonomisch notwendig macht, kam es deswegen, weil sich in den letzten sechzig Jahren die Konkurrenz der Produktanbieter auf dem Markt erheblich verschärft hat. Das bereits mehrfach erwähnte Ende der Systemkonkurrenz des kalten Krieges und die darauf folgende Entstehung der globalisierten Ökonomie hat den Konkurrenzdruck, wie gesagt, immens verstärkt. Die Überproduktionskrisen heutiger Märkte sind kaum noch zu bewältigen; von allen Waren gibt es, zumindest in den entwickelten Industrieländern, zu viel. Autos, Müll, Arbeitskraft, Mobiltelefone usw. – die Ökonomie droht daran zu ersticken. So wurde auf der Konsumseite die Sucht zum wichtigsten Kompensationsmittel für die Überproduktion an Gütern. Immerhin ein Teil der Überproduktion kann so aufgefangen und verwertet werden. Zwar bleibt
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Krieg nach wie vor das effizienteste Mittel zur Vernichtung der Überproduktion an Gütern und der Ware Arbeitskraft, doch nicht in allen Regionen der Welt lässt sich ein solcher problemlos etablieren. Dadurch entstehende Lücken können durch die Suchtproduktion geschlossen werden.
Wer heute als Konsument nicht süchtig ist, schadet der Wirtschaft, und wer im harten globalen Konkurrenzkampf sein Unternehmen erfolgreich führen will, muss alle Register der Suchtproduktion ziehen. Das moderne Marketing stellt dazu die Mittel zur Verfügung. Die Hochschulstudiengänge in diesem Bereich bilden weltweit die äußerst gefragten Experten aus, welche die ausgefuchsten »Strategien zur Kundenbindung« entwerfen. Besonders wichtig ist dabei das »Anfixen« der Kinder, das immer besser gelingt. Das Messie-Phänomen, also Menschen, die in völlig zugerümpelten und vermüllten Wohnungen leben, ebenso wie die stetige Zunahme der Überschuldung von Privathaushalten sind weitere Resultate aktueller Suchtproduktion. Ein glücklicher und zufriedener Mensch hat in dieser Konstellation nichts verloren. Er ist nicht nur unzeitgemäß, sondern auch verdächtig und unerwünscht und daher möglicherweise bald gefährdet. 10
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Designausbildung heute Etwas kursorisch möchte ich an dieser Stelle auf weitere problematische Konstellationen verweisen, die die Designausbildung, und nicht nur diese, betreffen. Um Bildung im emphatischen Sinne geht es schon lange nicht mehr. Zweck einer Ausbildung ist es, Studenten erfolgreich ins Berufsleben zu bringen. Das damit verbundene Menschenbild faßt den Menschen als austauschbares Wesen, als Erfüller fremdbestimmter Leistung, als Dienstleister. Bildung dagegen legt den Schwerpunkt auf die personalen, nichtaustauschbaren Komponenten der Individuen und ist nicht begrenzt auf den engen Rahmen einer Einzeldisziplin. Sowohl dem Lehrer als auch dem Schüler wird dabei erheblich mehr abverlangt. Während man Menschen zu einer Ausbildung zwingen kann, dies leistet zum Beispiel die Schulpflicht, kann niemand dazu gezwungen werden, sich zu bilden. Man muss selbst den Wunsch haben, dies zu tun, und außerdem die unglaubliche Kraft aufbringen, die für dessen Erfüllung nötig ist. Selbstdisziplin ist
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dabei ebenso wichtig, wie die Unterstützung durch gebildete Lehrer. Resultat wäre der sogenannte mündige Bürger, also eine Person, für die das »Sapere aude!« Immanuel Kants gilt. Wie schon gesagt, ist heute die Zurichtung der Menschen auf den Arbeitsmarkt politisch erwünscht und wird forciert. Genau darauf zielte die bereits vollzogene Hochschulreform. Affirmiert man diesen Prozess, ist man als Professor in der seltsamen Lage, den Studenten Verhaltensweisen beizubringen, die in unserem Kulturkreis heidnischer und christlicher Tradition über Jahrtausende hinweg als Untugenden, bzw. Sünden galten. Folgende stechen einem sofort ins Auge.
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Hochstapelei: Da der Arbeitsmarkt voll ist und sich also immer mehr Menschen um die paar wenigen Arbeitsplätze streiten, wird es immer wichtiger den Studenten Gebrauchsanweisungen zur Hochstapelei mit auf den Karriereweg zu geben. Die Fragen »Wie bewerbe ich mich richtig?« oder »Wie schreibe ich einen wirksamen Lebenslauf?« kann im Rahmen heutiger Konkurrenz nur bedeuten: Auffallen um jeden Preis und wissen, wie man das macht, biografische Lücken im Lebenslauf perfekt verschleiern, Fremdsprachenkenntnisse und anderes euphemistisch darstellen zu können, all dies muss ein karrieregenötigter Student von heute beherrschen. Der Marquis von Keith von Frank Wedekind und der Felix Krull von Thomas Mann sind dabei die großen literarischen Vorbilder.
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Lügen: Die oben bereits angesprochene Kunst der euphemistischen Darstellung von Sachverhalten fällt darunter, ebenso wie die, Konkurrenten durch Falschaussagen zu schädigen. Schönreden und Verleumden muss zu Karrierezwecken perfekt beherrscht werden. Einem ungeliebten Konkurrenten ein Alkoholproblem anzudichten oder eine objektive Verschlechterung der eigenen Lebensumstände in eine Herausforderung zu verfabeln, das sollte man heute schon auf dem Kasten haben.
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Kriegsführung: Die Totalität des Marktes entspricht der eines bürgerkriegsähnlichen Zustands. Wer in diesem »Haifischbecken« überleben will, ist genötigt alle Register der Verliererproduktion
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bedienen zu können. Nur wer es versteht Strategien (strategos = Kriegsherr) im Sinne effizienter Feindvernichtung zu entwickeln und umzusetzen, bleibt Sieger in der Konkurrenz. Taktik im militärischen Sinne muss beherrscht werden. Lernen kann man dies am besten durch Computerspiele. Der dazugehörige Kriegsherr fokussiert andere Menschen dann nur noch in Hinblick auf ihren möglichen Beitrag zum eigenen Sieg. Im Berufsleben heißt Sieg, eine Firma erfolgreich zu leiten, im Studium, Karriere. Wer dem Sieg dient, ist gut, wer nicht, der nicht, ist das einfache zweckrationale Menschenbild, das diesem Modell zugrunde liegt. Im besten Fall wird man als Konkurrent gesehen, das heißt als Feind – viel Feind, viel Ehr’. Hitlers oberster Rechtsspezialist Carl Schmitt lässt grüßen.
Prostitution: Da es zur Existenzsicherung für einen Karrieregenötigten so wichtig ist auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen, muss man ihm beibringen, wie er sich als Person am besten auf dem Markt positioniert. Er muss wahrgenommen werden und darf kein Ladenhüter bleiben. Er muss sich zur Marke machen und wissen, wie das geht. Profis auf diesem Feld und damit vorbildlich sind freilich die Prostituierten. Was heute in den stark nachgefragten Karrierehilfen steht, sind vor allem Gebrauchanweisungen zur Prostitution, die Karrieretipps vieler marketingorientierter Design professoren ebenso. 15
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Designpfusch: Eine lange Lebensdauer heutiger Designprodukte ist ökonomisch katastrophal und daher unerwünscht. Der sachferne Grund, die stete Nachfrage zu erhöhen, ist wichtiger als Nachhaltigkeit. Weniger die rasante technische Entwicklung, sondern vielmehr die miese technische Qualität vieler Gebrauchsgegenstände zwingt uns zum steten Neukauf. Egal ob Kameras, Küchengeräte oder Autos – die Haltbarkeit verschlechtert sich stetig. Das wird intern auch von den Herstellern gar nicht geleugnet. Allerdings erweckt dies den Eindruck, dass der Zweck des Designs von heute der ist, kaputt zu gehen, um den Neukauf nötig zu machen. 30
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Soweit die kurze Aufzählung dessen, was man heute als Designprofessor lehren müsste, wollte man das politisch erwünschte gegenaufklärerische warenästhetische Programm affirmieren. Und
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da mache ich doch in der Lehre eine Erfahrung, die mich zuversichtlich für die Zukunft stimmt: Viele Studenten stellen sich als Querulanten heraus, sie sind nämlich in der Regel ehrlich, sachnahe in der Argumentation, schätzen ihr Können richtig ein, sind friedlich, wollen sich nicht verkaufen, das heißt sie lieben die Freiheit und lehnen Gewalt (auch Staatsgewalt) und Prostitution (Anbiederung ihrer selbst als Ware) ab. Und genau damit haben offensichtlich viele Politiker und Ökonomen nicht gerechnet.
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Eine Designausbildung, die sich nur noch als Zurichtung der Menschen auf den Arbeitsmarkt versteht, bringt psychisch kranke Menschen hervor. Denn man nötigt damit Studenten eine Welt zu schaffen, in der niemand ernsthaft leben möchte. Design wird erst dann gesellschaftlich relevantes Design, wenn es wieder zu einer wirklichen Verbesserung der Lebensqualität führt. Um dies zu gewährleisten ist es hilfreich, Aneignung als ästhetische Kategorie einzuführen und zwar als Gegenmodell zur oben kritisierten Waren ästhetik.
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Aneignung als ästhetische Kategorie Der Begriff »Aneignung«1 wird hier nicht im klassisch marxistischen Sinne des Widerspruchs von der gesellschaftlich bestimmten Produktion der Waren und ihrer privaten Aneignung verwendet. In diesem marxistischen Sinne meint Aneignung den Kauf von Waren als Privateigentum mit exklusivem Zugangsrecht. Hier dagegen wird der Begriff Aneignung als Gegenbegriff zum Kauf verwendet. 20
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Ich kann mir alle möglichen Waren kaufen, soweit ich sie mir leisten kann, ohne sie mir je anzueignen. In vielen Haushalten gibt es Bücher, die nie gelesen, Film-DVDs, die nie angesehen, Kleidungsstücke, die nie getragen wurden usw. Bücher lesen, DVDs ansehen, Kleidungsstücke tragen usw. – die Dinge also in Gebrauch zu nehmen, sie zu konsumieren, ist der Prozess ihrer Aneignung. Es ist nicht notwendig, dass ich auch Eigentümer der Waren bin, die ich mir aneignen will. Wir leihen uns das Buch eines Freundes für zwei 30
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1 Ausführlicher dazu siehe Thomas Friedrich: »Konsum und Konfession. Aneignung als zentrale Kategorie des Designs«, in: Ethik und Moral in Kommunikation und Gestaltung, hrsg. v. Christian Bauer, Gertrud Nolte u. Gerhard Schweppenhäuser, Würzburg 2014, S. 147 – 158.
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Wochen, um es zu lesen, wir bitten einen Nachbarn, uns für den Abend eine Film-DVD zu überlassen usw. Juristen unterscheiden zwischen Eigentümern und Besitzern: Dem Eigentümer einer Wohnung gehört sie, während der Mieter einer Wohnung ihr Besitzer ist. Der Mieter eignet sich die Wohnung an, der Eigentümer in seiner Funktion als Vermieter hat ein Gut, das er sich meistens noch nie angeeignet hat. Nur wenn der Eigentümer seine Eigentumswohnung selbst bewohnt, ist er zusätzlich auch Besitzer. Etwas abgewandelt kann diese Unterscheidung allgemein im Bereich der Aneignung von Gütern angewandt werden: Ich muss nicht notwendig Eigentümer eines Gutes sein, um es mir anzueignen, aber ich muss es notwendig eine Zeit lang besitzen. Und ob der zeitweilige Besitz über Geld geregelt wird, wie bei einem Mietvertrag für eine Wohnung, oder ohne Geld, etwa wenn ich mir von einem Freund ein Buch oder eine DVD leihe, ist vom Einzelfall abhängig und macht hier grundsätzlich keinen Unterschied. 05
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Je nachdem, ob es um den Verkauf und den Kauf von Gütern geht oder aber um deren Aneignung, haben wir es mit zwei grundsätzlich verschiedenen Arten der Ästhetik zu tun. Die erste ist die Warenästhetik, wie sie von Wolfgang Fritz Haug seit über vier Jahrzehnten ausführlich in verschiedenen Publikationen dargestellt und kritisiert wird.2 Die andere ist die Ästhetik der Aneignung, in ihr Feld gehören die Begriffe »Gebrauch«, »Besitz« und »Konsum«. Als Ulrike Marie Meinhof in den späten 1960er Jahren den Begriff »Konsumterror« prägte, ist ihr ein Kategorienfehler unterlaufen: Sie meinte vermutlich »Kaufterror«, denn gegen die Aneignung von Gütern ist aus der Sicht linker Sozialkritik überhaupt nichts einzuwenden. 20
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Wichtig ist: Wer konsumiert, kauft nicht! Wenn heute nur noch von »shopping« die Rede ist, so ist das wenigstens ehrlich, denn es ist – zumindest ökonomisch – völlig irrelevant, ob man sich die gekauften Güter auch noch aneignet. Viele Menschen sind heute bereits kaufreizsozialisiert und nicht 35
2 Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-
Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2009.
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mehr konsumfixiert. Marketingorientierte Designtheorie reduziert sich auf das Segment Verkauf/Kauf – anders als Wolfgang Fritz Haug in unkritischer Absicht – und thematisiert nicht die Aneignung, die mein Anliegen ist. 05
Im Unterschied zum Kauf geht es bei der Aneignung um eine Transformation der Objekte. Dabei wird, hegelianisch gesprochen, durch den Prozess der Aneignung aus einem Ding an sich ein Ding für mich. Erst dadurch wird aus einem Allgemeinen nicht nur ein Einzelnes, sondern ein Besonderes.3 Dies geschieht durch die Nutzung und durch das damit notwendigerweise verbundene Hinterlassen von Spuren. Nach Walter Benjamin heißt Leben eben, Spuren zu hinterlassen.4 Übrigens hinterlässt man heute nicht erst beim Konsum Spuren auf den Objekten, sondern bereits beim Kauf, vor allem wenn dieser über das Internet praktiziert wird. An den dabei entstehenden Daten sind vor allem Händler interessiert, die mit entsprechender Software individuelle Käuferprofile erstellen wollen, um gezielt Werbung einsetzen zu können. Diese Daten-Spuren sind allerdings lediglich Spuren des Kaufs und nicht solche der Aneignung. Da die dazugehörige Software klassifikatorisch arbeitet, kommt dann z.B. als Profil heraus: »ist männlich, interessiert sich für Autos, geht gern auf Reisen, lebt gesundheitsbewusst, macht Krafttraining«. Eine solche Auswertung der Kaufspuren durch eine klassifizierende Software erzeugt lediglich Einzelnes, im Sinne von Hegel, die Käufer werden zu bloßen Beispielen vorab festgelegter Typen, alle Besonderheit wird durch die Klassifikation unmöglich gemacht. Zwar wird auch der Konsum anfangs meist nach bestimmten Mustern vollzogen, aber dennoch ist bei der Aneignung die individuelle, persönliche, nichtaustauschbare Lebensgeschichte von so großer Wichtigkeit, dass die jeweilige Aneignung besonders wird. Wollen verschiedene Personen sich ein gleiches Klavierstück spielend (oder einen Roman lesend) aneignen, dann wird aufgrund der jeweils verschiedenen Lebensgeschichte die Relevanz bestimmter Stellen des Musikstücks (oder eines Romans) verschieden sein.
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3 Siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik, Zweiter Teil: Die subjektive Logik oder Lehre vom Begriff, in: ders., Werke Bd. 6, hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 273 ff. 4 Walter Benjamin: »Spurlos wohnen«, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. IV.1, Frankfurt a. M. 1991, S. 427 f.
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Nun ein paar weitere Ausdifferenzierungen des Begriffs »Gebrauch«5. Designer entwerfen Objekte, die von Menschen benutzt, anders gesagt: gebraucht werden. Das Wort Gebrauch kann zusätzlich die Bedeutung haben, dass man etwas in dem Sinne braucht, dass man es nötig hat. Wer eine Fahrkarte benötig, weil er einen Freund mit der Straßenbahn besuchen will, gebraucht einen entsprechenden Automaten: Er benutzt ihn, weil er ihn benötigt. Gebrauch hat somit einen inneren, motivationalen Bedürfnis-Aspekt und einen äußeren Aspekt im Sinne einer praktischen Verwendung. Dass etwas in Gebrauch ist, kann auch bedeuten, dass man es üblicherweise benutzt (was man lateinisch »usus« nennt).
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Von einem Benutzer gebraucht zu werden, ist gleichsam der Zweck des Designs. Das gilt für Kommunikationsdesign wie für Produktdesign und Architektur gleichermaßen. Der Designer kann nun seine Objekte im Hinblick auf eine oder auf mehrere Nutzungen anlegen (oder encodieren, um es mit einem semiotischen Begriff zu bezeichnen). Dieser Unterschied entspricht dem zwischen monofunktionalistischem und plurifunktionalistischem Design. Lassen Sie mich das am Beispiel des Innenraumgebrauchs verdeutlichen. Eine Studentenbude ist ein typisches Beispiel für einen plurifunktionalen Designgebrauch. Arbeiten, Erholen, Schlafen, Ankleiden, Körperpflege, Kochen, Speisen usw.: All diese Gebrauchsweisen werden in einem Zimmer realisiert. Ganz anders die Situation in einem englischen Landhaus aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als es üblich war, jedem Raum nur jeweils eine einzige Funktion zuzuordnen und ihn dann im Hinblick auf diese eine Funktion optimal auszugestalten. So gab es ein vom Schlafzimmer getrenntes Ankleidezimmer, ein Rauchzimmer, eine Bibliothek, einen Salon für Empfänge, einen davon getrennten Speisesaal, aber auch ein extra Frühstückszimmer. Für die Kinder gab es eigene Schlafzimmer, Spielzimmer und einen Raum, in dem sie vom Privatlehrer unterrichtet wurden und ihre Hausaufgaben machten. Im Garten setzte sich die Trennung der Funktionen fort: Vom Salon aus konnte man in den Rosengarten oder Park gehen, zum Wirtschaftsflügel gehörte der Küchengarten mit den Kräutern usw. 15
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5 Der folgende Abschnitt wurde zuerst veröffentlicht in: Wörterbuch Design. Begriffliche Pers-
pektiven des Designs , hrsg.v. Michael Erlhoff u. Tim Marshall, Basel/Boston/Berlin 2007), wo ich u. a. über den Begriff »Gebrauch« geschrieben habe.
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Nur eine winzige adlige oder großbürgerliche Schicht konnte sich solch ein Landhaus leisten, das ohne Personal gar nicht zu führen war. Gleichwohl markiert dies doch die Geburtsstunde der monofunktionalistischen Designdoktrin »form follows function«. Im 20. Jahrhundert hat dann Le Corbusier dieses Modell, das ursprünglich lediglich die Raumfunktionen betraf, auf die Baubestandteile eines Hauses und auf die Städteplanung übertragen. So hat zum Beispiel eine Wand bei einem Haus, das von einem Stahlgerüst getragen wird, nicht mehr die Funktion, die Decke oder das ganze obere Stockwerk zu tragen. Nach Le Corbusier soll sie diese Funktion daher auch nicht durch ihre Massivität simulieren, und kann durchaus ein Stück unter der Decke enden. Eine solche Wand genügt der einzigen Funktion, die sie hat, nämlich der Trennung der Räume. Häufig wird nicht beachtet, dass ein monofunktionalistischer Designansatz eine vorherige Trennung der Funktionen voraussetzt. Erst wenn diese geleistet ist, wird der normative Satz »form follows function« überhaupt sinnvoll.
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Dass diese Entflechtung der Funktionen durchaus problematisch sein kann, lässt sich an Le Corbusiers Städteplanungskonzept verdeutlichen. Le Corbusier plädierte für eine rigide Trennung der Funktionen Wohnung, Arbeit, Erholung und Verkehr. Den ersten drei Funktionen wurde je eine Zone in der Stadt zugewiesen, die dann im Hinblick auf die jeweilige Funktion optimal eingerichtet werden sollte. Der Verkehr hatte die Aufgabe, die obigen drei Zonen zu verbinden. Viele Städte Deutschlands wurden in der Nachkriegszeit nach diesen Kriterien neu strukturiert. Was von Le Cobusier menschenfreundlich gemeint war, führte zu trostlosen Hochhaussiedlungen am Stadtrand, in denen die Menschen letztlich nur zum Schlafen fahren. Die Arbeit wurde in Industriegebiete verlegt, die öden Naherholungsgebiete mit »Trimm-Dich-Pfaden« wollte auch kaum jemand nutzen, die Innenstädte wurden auf die Einkaufsfunktion reduziert und verwandelten sich nach Ladenschluss in Geisterstädte. Der notwendig gewordene Pendlerverkehr führte zu Verkehrsstaus und einer erheblichen Verschlechterung der Lebenssituation durch Lärmemission.
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Wenn Architekten und Designer heute davon sprechen, dass Städte wieder urbanisiert werden müssten, fordern sie damit eine
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Korrektur monofunktionalistischer Stadtplanung, indem sie wieder anstreben, unterschiedlichen Stadtteilen jeweils mehrere Funktionen zuzuordnen. Dieser Reurbanisierungsdiskurs wurde in den 1960er Jahren u.a. von Jane Jacobs in New York initiiert.6 Ob nun Design im Hinblick auf monofunktionalistischen oder auf plurifunktionalistischen Gebrauch hin konzipiert werden soll, müssen Designer für jeden Einzelfall sachnahe entscheiden.
Obwohl der Begriff »Gebrauch« per se benutzerlastig ist, lag bisher der Schwerpunkt der Betrachtung auf der Designerseite, das heißt auf der Seite der Designproduktion. Interessant ist, dass beim tatsächlichen Gebrauch von gestalteten Objekten die Benutzer nicht selten andere Weisen der Nutzung entwickeln als die vom Designer vorgesehenen, und zwar unabhängig davon, ob dieser sein Objekt zum monofunktionalen oder plurifunktionalen Gebrauch angelegt hat. Nur nebenbei sei vermerkt, dass der vom Designer und Produzenten intendierte Gebrauch in der häufig beiliegenden Gebrauchsanweisung angegeben wird. Wenn Jimi Hendrix seine Gitarre mit der Zunge spielte und sie anschließend zertrümmerte, dann stand das so sicher nicht in der Gebrauchsanweisung des Saiteninstruments. Stühle werden als Garderobe benutzt, mit Zeitungen werden lästige Mücken vertrieben, Bücher werden unter den Beamer gelegt, um ihn auf die richtige Höhe zu bringen, der Turm von Pisa wird von Galilei für physikalische Experimente benutzt usw. Die Rezeption – semiotisch gesprochen: die Decodierung – von Designproduktionen, lässt dem Benutzer eben stets auch einen Freiraum, sich kreativ einzubringen. Der Gebrauch eines Objektes ist somit grundsätzlich offen für neue Nutzungen.7
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Am Beispiel von Hegels Phänomenologie des Geistes will ich zeigen, in wie vielen Zeitebenen ich mich bewege, wenn ich heute dieses Buch mir wiederaneigne, das ich schon mehrmals gelesen habe. 6 Jane Jacobs: Tod und Leben großer amerikanischer Städte, Braunschweig / Wiesbaden 1963. 35
Siehe auch Heinz Paetzold: »Urbanismus«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches
Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. von Karlheinz Barck u.a., Bd. 6, Stuttgart 2005, 281 – 311. 7 Stuart Hall und John Fiske haben als Mitbegründer bzw. wichtige Vertreter der Cultural Studies hierzu grundlegende Texte, insbesondere zum Gebrauch von Medien und Medienprodukten, veröffentlicht und so die bis dahin vorherrschende kulturpessimistische Sicht massenkultureller Ereignisse korrigiert. Siehe Stuart Hall: »Kodieren / Dekodieren« [1990], in: Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, hrsg. v. Roger Bromley,
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Erstens bin ich in Gedanken in der Entstehungszeit des Buches und der Zeit der Erstveröffentlichung in den Jahren 1806 und 1807. Zweitens reflektiere ich die Zeiten starker Rezeption dieses Buches mit: einmal die Zeit von 1825 bis 1830, der Blütezeit von Hegels Wirkung in Berlin, anschließend die Zeit des Linkshegelianismus, dann die Zeit um 1900, gekennzeichnet durch Lenins Marxismus, darauf das Paris nach dem Zweiten Weltkrieg, gekennzeichnet durch Kojèvs Hegelvorlesungen, und schließlich die frühen 1960er Jahre, um Adornos Hegelrezeption zu verstehen. Das war gleichsam die objektive Rezeptionsgeschichte dieses berühmten Buches.
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Nun folgt meine subjektive Rezeptionsgeschichte; sie ist erst Aneignung im strengen Sinne. Drittens erinnere ich mich an die Zeit meiner ersten Lektüre der Phänomenologie des Geistes, 1983, im philosophischen Hauptseminar an der Universität Würzburg. (Bei der Erstaneignung philosophischer Texte unterstreicht man häufig nicht die Stellen, die wichtig sind, sondern die, die man verstanden hat, und das sind meistens die Gemeinplätze. Das merkt man, wenn man bei der Relektüre auf die früheren Anstreichungen trifft.) Viertens erinnere ich mich an meine erste Neulektüre 1994 nach dem Ende des kalten Krieges, also unter völlig neuen gesellschaftlichen Bedingungen als 1983. Die fünfte Zeitebene ist die aktuelle Wiederlektüre nach der sogenannten Finanzkrise. Die Aneignung eines ehemals fremden Textes führt zu Textkenntnis und Selbstkenntnis zugleich. Dabei sind beide niemals abgeschlossen, sie sind regulative Idee. Ein Buch fängt so im Laufe des Aneignungsprozesses an, »meines« zu werden. Es kann mir durch veränderte gesellschaftliche Konstellationen auch wieder fremd werden. Die motivationalen Gründe der Auswahl von Kulturgütern, die man sich aneignen will, lassen sich nur bedingt rekonst ruieren, weil wir an unsere unbewussten Beweggründe nicht so leicht herankommen. Um auch diese noch herauszufinden, müsste man sich auf das Feld der Psychoanalyse begeben. 15
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Aufgabe des Designers wäre es nun, die Probleme der Aneignung unterschiedlicher Kulturgüter wenigstens zu erkennen. Bleiben Udo Göttlich u. Carsten Winter, Lüneburg 1999, S. 92 – 110, und John Fiske: Lesarten des
Populären, Wien 2000.
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wir beim obigen Beispiel: Für die Aneignung philosophischer Texte ist es wichtig, Unterstreichungen und Randbemerkungen machen zu können, dazu muss die Buchseite einen ausreichenden Rand aufweisen. Das Papier muss stark genug für die Notizen sein, denn Dünndruckpapier verträgt das schlecht, auch muss das Papier radiert werden können usw. All das klingt äußerst banal, doch heutige Gestaltung ist geprägt von den oben aufgeführten sachfremden ökonomischen Kriterien. Die Warenästhetik des Verkaufs und Kaufs dominiert die Aneignungsästhetik. Das Erheischen von Aufmerksamkeit zum Zweck des Verkaufs steht dabei an erster Stelle.
Lassen Sie uns als Designer und Designtheoretiker stattdessen an einer Art Wissenschaft, oder besser: an einer Philosophie der Aneignung arbeiten, um Gestaltung – und damit letztlich auch die erkenntnistheoretische Frage, wie der Mensch die Welt erfährt – besser zu begreifen. Wir würden damit Kriterien für gute Gestaltung entfalten, die dem Besonderen der Aneignung keine Gewalt antun. Als Minimalmaxime für die Gestalter ließe sich heute schon formulieren: Lege die Gestaltung so an, dass du die Aneignung wenigstens nicht behinderst oder, mit Benjamin gesprochen, lege die Gestaltung so an, dass es viele Möglichkeiten gibt, eigene Spuren zu hinterlassen.
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Design als Inbegriff »angewandter Kunst« ist also, wenn man so will, ein VorSchein ästhetischer Wahrheit, wenn auch in falscher Gestalt.
Prof. Dr. phil. Gerhard Schweppenhäuser geb. 1960, lehrt Design- und Medientheorie an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg. Er ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Kassel und Mitherausgeber der Zeitschrift für kritische Theorie. Er war Vertretungsprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, Visiting Professor an der Duke University in Durham, NC, und Professor für Ästhetik an der Freien Universität Bozen. Neuere Veröffentlichungen: Design, Philosophie und Medien.
Perspektiven einer kritischen Entwurfs- und Gestaltungstheorie, Springer VS 2019; Revisionen des Realismus. Zwischen Sozialporträt und Profilbild, Metzler 2018; Handbuch der Medienphilosophie (Hg.), WBG 2018; Medien: Theorie und Geschichte für Designer , avedition 2016, Designtheorie, Springer VS 2016.
Philosophie und kritische Theorie des Designs Gerhard Schweppenhäuser
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Der vorliegende Beitrag setzt sich zunächst mit einem kürzlich vorgelegten Entwurf einer politischen Designphilosophie ausei nander. Darauf folgt eine Beschreibung von Inhalten und Methoden kritischer Theorie. Im dritten Teil werden die Umrisse einer kritischen Theorie des Designs mit Hilfe eines ideengeschichtlichen Exkurses skizziert.1
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I. Eine heideggerische Theorie der Ambivalenz von Design Im seinem Buch Weltenwerfen formuliert der Architekt Friedrich von Borries, der in Hamburg Designtheorie lehrt, eine Reihe ambivalenter Merkmalsbestimmungen von Design. Dabei verwendet er einen weiten Designbegriff, der nicht nur Produkte und Oberflächen umfasst und nicht nur äußere Erscheinungsformen, sondern vor allem auch innere, strukturelle sowie soziale Formen: »Design gestaltet die Form, in der eine Gesellschaft ihr Zusammenleben organisiert.«2 Mit Recht bezeichnet Borries die Tätigkeit von Designern als »Entwerfen«3. Von diesem Begriff ausgehend knüpft er an ein existenzialontologisches Wortspiel aus Heideggers Sein und Zeit an, welches besagt, der Mensch werde ins Dasein geworfen und müsse sich durch einen Ent-Wurf wieder aus dieser Ge-Worfenheit herausarbeiten. Borries versieht Heideggers Motiv mit einem Gegensinn: Alles, was entworfen und gestaltet ist, sei sowohl ent-werfend (im Sinne von befreiend), als auch unter-werfend. Entwerfen ist demnach nicht nur Entwurf als komplementäres Gegenstück zur heideggerschen »Geworfenheit«, sondern auch »das Gegenteil von Unterwerfen«4. Dies begründet Borries zunächst mit einem Gedanken, den er von Hannah Arendt übernimmt. Die Konditionen des menschlichen Zusammenlebens sind einerseits gegeben und werden als solche vorgefunden, andererseits unterliegen sie aber auch ständiger Umgestaltung. »Der Mensch lebt unter Bedingungen, die die Mensch-
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1 Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, den ich am 7. Juni 2017 im Rahmen der Vortragsreihe »Architektur & Ideologie. Die Herrschaft der Ware und der urbane Raum« an der Technischen Universität Darmstadt gehalten habe. 2 Friedrich von Borries: Weltentwerfen.
Eine politische Designtheorie, Berlin 2016, S. 30. 3 Ebd., S. 11. 4 Ebd., S. 9. 5 Ebd., S. 16.
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heit selbst geschaffen hat«5, resümiert Borries, und bringt diese Unterscheidung zwischen Individuum und Gattung in Verbindung mit den Konzepten der Entfremdung und Verdinglichung sowie dem Theorem vom Fetischcharakter der Ware bei Marx. Der Schein, dass nicht gesellschaftliche Beziehungen der Menschen, sondern natürliche Eigenschaften der Waren die wirtschaftliche Reproduktion und deren politische Regulierung bestimmen, werde durch Kulturindustrie perfektioniert. Andererseits könne jener Schein aber durch Design entzaubert werden. Denn Design könne sichtbar, »anschaulich, greifbar« machen, »welche gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen, kulturellen Bedingungen der Gestaltung der Dinge zugrunde liegen. Design kann […] als Ausdruck von Normen, aber auch von Ängsten und Hoffnungen verstanden werden: Es verdinglicht die Bedingungen«, die nun »selbst zum Gegenstand von Design«6 werden können. Die Tätigkeit von Designern versteht Borries daher als »grundlegenden, emanzipatorischen Akt«7. Den politischen Aspekt des Entwurfs leitet Borries von Vilém Flusser her, der die Welt nicht als Gegebenheit, sondern als Ergebnis menschlichen Entwurfs konzipiert habe. Dass dieser Zug nicht so recht zu Arendts Konzept passt, bei der die Welt immer auch Gegebenheit ist, stört ihn allerdings nicht weiter. Design ist Borries zufolge in sich zwiespältig: Es ist die Bedingung der Möglichkeit von »Handlungen, die zuvor nicht möglich oder nicht denkbar waren«, aber dadurch begrenze Design »auch den Möglichkeitsraum, weil es neue Bedingungen schafft. Alles, was gestaltet wird, entwirft und unterwirft. […] Diese dem Design inhärente Dichotomie ist nicht nur eine gestalterische, sondern eine politische. Sie bedingt Freiheit und Unfreiheit, Macht und Ohnmacht, Unterdrückung und Widerstand.«8 In den technologisch hochgerüsteten spätkapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart geht ohne Design auf relativ hohem Standard gar nichts. »Design«, schreibt Borries, greift »in die Beschaffenheit der Welt« ein, und insofern gilt: »Design ist politisch«9. Das allgegenwärtige Design sei die Gestalt, in der »sich unsere Unmündigkeit [materialisiert]: In der Art, wie wir uns kleiden, wie wir wohnen, mit welchen Dingen wir uns umgeben etc., lassen wir uns von der Ästhetik der kapitalistischen Kulturindustrie affizieren und geben uns
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6 Ebd., S. 18. 7 Ebd., S. 11. 8 Ebd., S. 9 f. 9 Ebd., S. 31. 10 Ebd., S. 14, Fußnote. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 14 f. 13 Ebd., S. 14, Fußnote. 14 Ebd., S. 14. 15 Ebd.,
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ihren leeren Versprechungen hin.«10 Solch »freiwilliger Unterwerfung« habe sich ein »sich als politisch verstehendes, entwerfendes Design […] entgegen«11 zu stellen. Dann werde Design »subversiv, gefährlich, aufrührerisch«12. Borries zufolge ist Entwerfen also ein ambivalenter, sowohl herrschaftlicher als auch freiheitlicher Vorgang. Designer könnten beim Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit helfen, indem sie das Nachdenken darüber unterstützen, dass »wir uns an vielen Stellen aus Bequemlichkeit den ökonomischen und kulturellen Bedingungen des globalen Kapitalismus sowie den damit verbundenen Formen von Unfreiheit«13 unterwerfen. Dann sei Design »die praktische Umsetzung von Aufklärung«14 im Sinne von Kant. Was zeichnet demgegenüber Design aus, das nicht entwirft, sondern unterwirft? »Unterwerfendes Design bestätigt bestehende Herrschafts- und Machtverhältnisse, indem es diese funktional und ästhetisch manifestiert«15. Und wie tut es das? Indem es »Objekte, Räume und Kontexte« herstellt, »die die Handlungsmöglichkeiten ihrer Benutzer nicht – oder nur in einem vorgegebenen Rahmen – erweitern.«16 Stattdessen inszeniert es Angebote oder Imperative zur Identifikation.17 Denn »Unterwerfung« geschehe in den westlichen Gesellschaften »nicht primär durch Zwang, sondern freiwillig«18. Hier grenzt sich Borries von Foucault und Deleuze ab: »Disziplinierung und Kontrolle«19 hätten zwar nicht aufgehört zu bestehen, seien aber komplett internalisiert und würden hinter einen neuen Attraktor zurücktreten, nämlich hinter die »Konsumkultur«20, von der die Suggestion ausgehe, die bestehende Ordnung sei eine optimale »Grundlage der eigenen Entfaltungsmöglichkeit«21. Borries nenne diese Form der fremdbestimmten Sozialisierung die »Suggestionsgesellschaft«22. Sie stimuliere die Menschen zur »Autosuggestion von Unabhängigkeit« und zur »Selbsttäuschung« über ihre Chancen zur »Selbstverwirklichung«23. Der freiwilligen Entmächtigung stünden aber auch designerische Tendenzen zur Ermächtigung gegenüber: entwerfendes Design, das eine »bessere Gesellschaft […] erschaffen« will, »in der die Beziehungen der Menschen untereinander und zu ihrer Umwelt neu organisiert sind«24. Was zeichnet Design aus, das auf diese Weise entwirft? Es versucht, so Borries, »seinen Benutzern und Rezipien05
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S. 21. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 22. 19 Ebd., S. 21 f. 20 Ebd., S. 23. 21 Ebd., S. 22 f., Fußnote. 22 Ebd., S. 22. 23 Ebd., S. 23. 24 Ebd., S. 25.
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ten echte Handlungsspielräume für ihr Leben zurückzugeben. Es stattet sie mit den Technologien, Werkzeugen, Instrumenten und Symbolen eines selbstbestimmten Lebens aus.«25 Design als Form politischer Praxis ist demzufolge ein unerlässlicher Bestandteil der Auseinandersetzung mit den natürlichen Lebensgrundlagen.26 Es sei überlebensnotwendig, weil jede Art von Arbeit und Technik aktiv oder passiv mit Gestaltung zusammenhängt. Design, das von der Angst ums Überleben bestimmt ist, könne jedoch seinerseits lebensbedrohliche Folgen annehmen. Borries stützt sich auf Gehlen, Anders und Sloterdijk und betont, dass schützende Institutionen sich gegen diejenigen kehren können, zu deren Schutz sie gedacht sind; dass »die Entwürfe« »des Menschen« »seine eigenen Fähigkeiten« »überfordern«; und dass Design in der Moderne eine Macht simuliert, welche die Menschen in Wahrheit nicht haben, weil ihr individuelles und kollektives Überleben bedroht bleibe. Daher verfestige sich das zeitweilig angelegte, angstgetriebene »Überlebensdesign« zum dauerhaften »Sicherheitsdesign«, es werde zum Selbstzweck und »stellt den permanenten Ausnahmezustand her.«27 »Angst ist das Herrschaftsinstrument der Gegenwart.«28 Entsprechend würden Gesellschaft und eigenes Selbst tendenziell heteronom, also unterwerfend, gestaltet. Dagegen biete entwerfendes Design befreiende Kräfte auf. Design sei im sozioökonomischen Alltag verwurzelt, könne aber kraft »spekulativer Wunschproduktion und künstlerischer Imaginationskraft« auch darüber hinausgelangen und »neue Möglichkeiten von Welt«29 entwerfen. Soviel dürfte deutlich geworden sein: Borries’ Designphilosophie will heterogene gedankliche Motive verbinden. Phänomenologie und Neoaristotelismus werden schwungvoll mit einer neomarxistischen Kantlektüre verquickt. Heideggers existenzialontologischer Kalauer über das Entwerfen aus der Geworfenheit soll mit Arendts Begriff der Bedingtheit und Flussers Projekttheorie des Subjekts gewissermaßen politisiert werden; so sollen sie als kantianische Grundlage einer sozialen Gestaltungstheorie funktionieren,
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25 Ebd. 26 »Der Mensch führt einen Kampf gegen die Natur. […] Naturgewalten, Begegnungen mit wilden Tieren etc.« (ebd., S. 58; Hervorh.: G.S.), schreibt Borries im Jargon der Eigentlichkeit, würden »den Menschen immer wieder an seine existenzielle Unterworfenheit« (ebd.) erinnern. 27 Ebd., S. 51. 28 Ebd. – »Eine Steigerung erfährt die Angst des Menschen vor der Natur in der Angst vor der zweiten Natur.« (Ebd., S. 59.) 29 Ebd., S. 137.
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die Design mit Adorno als verdinglichte gesellschaftliche Arbeitsform versteht und gesellschaftliche Entfremdung durch Kulturindustrie in einer emanzipatorischen Wendung über sich selbst hinausführen möchte. Es kann bestimmt nicht schaden, wenn praktizierende Gestalterinnen und Gestalter, auch schon während ihres Studiums, auf solch bunte Weise mit fragmentierten philosophischen Motiven bekannt gemacht werden. Aber kann das als Theorieentwurf gelingen? Arendt und Flusser kann ich im Zusammenhang der vorliegenden Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Designs vielleicht vernachlässigen, aber ich komme nicht umhin, mir den Kontext genauer anzusehen, in dem Heidegger seine entsprechenden Gedanken entfaltet hat. Borries hat das offenbar nicht sehr gründlich getan, und das bringt ihn in Schwierigkeiten. Denn seine Dichotomie aus Ent-Werfen und Unter-Werfen lässt sich von Heidegger nicht herleiten. Bei Heidegger ist das Welt-Entwerfen immer schon Selbst-Unterwerfung, nämlich Unterwerfung des Daseienden unter das Sein. Heidegger, dem es bekanntlich nicht um Design, sondern um Dasein ging, sprach von der »Weltoffenheit des Daseins«30 und bestimmte diese antagonistisch. Der daseiende Mensch stelle sich in seiner »Stimmung«31 (seiner jeweiligen Gestimmtheit) der »Betroffenheit« durch die »Widerständigkeit« und der »Bedrohlichkeit des Zuhandenen«32. Indem der Mensch seiner so gearteten »Befindlichkeit«33 innewerde, öffne er sich dem Dasein und erschließe sich die Welt, derer er bedarf. »In der Befindlichkeit liegt existenzial eine erschließende Angewiesenheit auf Welt, aus der her Angehendes begegnen kann.«34 Wenn der Mensch sich für die Welt öffne, erschließe sich aber nicht nur die Welt dem Menschen, sondern das Dasein (also der einzelne Mensch) erschließe sich selbst. »Was wir ontologisch mit dem Titel Befindlichkeit anzeigen«, schreibt Heidegger, »ist ontisch das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein.«35 05
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30 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1984, S. 137. 31 Ebd., S. 134. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 137 f. 35 Ebd., S. 134. »In der Stimmung wird das In-der-WeltSein, das das Dasein ›zu sein‹ hat […], hinsichtlich seines Vor- und Aufgegebenseins erschlossen; im Entwurf ›wirft‹ sich das Dasein in das vorgegebene Zu-Sein als sein Worumwillen und versteht es als ›Möglichsein‹. In der Befindlichkeit wird gleichsam die
Notwendigkeit dieses Möglichseins erschlossen, im Entwurf wird es als Möglichsein erschlossen.« (Ernst Tugendhat: Über den Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1970, S. 305.)
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Für Heidegger ist Dasein ›In-der-Welt-Sein‹36. Doch was ist für ihn die Welt? Nicht das Sein selbst, sondern vielmehr ein Produkt des einzelnen, daseienden Menschen.37 Welt ist die Totalität dessen, worin der finale Daseinsgrund besteht, heißt es in Heideggers Aufsatz »Vom Wesen des Grundes« aus dem Jahre 1929, in dem das Motiv des Weltentwerfens eingeführt wird. Heidegger entwickelt diesen Gedanken in Auseinandersetzung mit Platon, Aristoteles und Kant. Verknappt – und dadurch hoffentlich verständlich – wiedergegeben: Indem ich mir als existierender Mensch vor Augen führe, worin der letzte Grund meines Daseins besteht, gebe ich mir ein Ziel und dem Sein etwas vor. Ich überschreite das Dasein; indem ich ein Weltbild entwerfe, mache ich mir sozusagen ein vorläufiges Bild vom Sein. Das tue ich aber nur, damit das Sein selbst sich mir offenbart und mir zu verstehen gibt, was es wirklich ist. Bei Heidegger klingt das so: »Der Entwurf von Welt […] ist […] auch immer Überwurf der entworfenen Welt über das Seiende. Der vorgängige Überwurf ermöglicht erst, das Seiendes als solches sich offenbart. Dieses Geschehen des entwerfenden Überwurfs, worin sich das Sein des Daseins zeitigt, ist das In-der-Welt-Sein.«38 Das Sein gibt sich eine zeitliche Form, indem es sich gleichsam als Dasein inkorporiert; es nimmt nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich Gestalt an. Ich wiederum gehe als Seiender in die Welt, in meine Welt, ein – nur um sie und mich selbst zu überschreiten und dadurch seiender zu werden. Erst dann gewinne ich die »Möglichkeit der Wahrheit des Verstehens von Sein«, und solches Verstehen ist für Heidegger nichts anderes »als enthüllendes Entwerfen von Sein«39. »Und so ist der Mensch, als existierende Transzendenz überschwingend in Möglichkeiten, ein Wesen der Ferne«, verkündet Heidegger am Schluss seiner Überlegungen: »Nur durch ursprüngliche Fernen, die er sich in seiner Transzendenz zu allem Seienden bildet, kommt in ihm die wahre Nähe zu den Dingen ins Steigen. Und nur das Hörenkönnen in die Ferne zeitigt dem Dasein als Selbst das Erwachen der Antwort des Mitdaseins, im Mitsein mit dem es die Ichheit darangeben kann, um sich als eigentliches Selbst zu gewinnen.«40
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36 Martin Heidegger: Vom Wesen des Grundes, Frankfurt a. M. 1965, S. 39 (Fußnote). 37 Vgl. ebd., S. 38. 38 Ebd., S. 39. 39 Ebd., S. 40. 40 Ebd., S. 54. 41 Karl Heinz Haag: »Kritik der neueren Ontologie«, in: ders., Kritische Philosophie, München 2012,S. 7–94, hier S. 80 42 Ebd., S. 80. 43 Martin Heidegger: Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1949, S. 7. 44 Ebd. 45 Haag, »Kritik der neueren Ontologie«, a.a.O., S. 81.
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Transzendenz ist hier ein Bereich, aus dem sich das Sein höchstselbst meldet. Es erteilt mir, dem bloß Seienden (sofern ich denn imstande bin, dies zu vernehmen), den Bescheid, meine »Ichheit« aufzugeben. Befreien soll ich mich im Entwurf lediglich von meiner überheblichen Haltung gegenüber dem Sein. Solches Entwerfen zielt per se nicht auf Selbstermächtigung, Befreiung oder gar Emanzipation, sondern auf Demut. Unterwerfung ist das Ziel des heideggerschen Entwurfs und zugleich sein letzter Grund. Aus der Perspektive der kritischen Theorie lautet die Quintessenz der Heidegger-Lektüre: Die Existenzialontologie supponiert konkreter, je besonderer Subjektivität eine vermeintlich übergreifende Allgemeinheit des Ontologischen. Heideggers Trick, heißt es in Karl Heinz Haags Frankfurter Habilitationsschrift, ist die »Ersetzung des philosophierenden Subjekts durch das Wort ›Dasein‹«41. Im einzelnen Dasein inkorporiere sich gleichsam das allgemeine Sein, und damit werde das »›Sein‹ zum ›Wesen des Menschen‹«42 gemacht. Wenn dann vom »Denken des Seins«43 die Rede ist, soll das sowohl ein Denken des allgemeinen, überzeitlichen Seins selbst sein, als auch das Nachdenken des Menschen. Dieser wiederum ist für Heidegger als einzelner Mensch (nicht etwa geschichtlich, sondern vielmehr »geschicklich«44) eine Besonderung des allgemeinen Seins, und als solche denkt er über das Sein im Allgemeinen nach. »Was allerdings unter einem solchen, von der Sphäre des Ontischen angeblich völlig unabhängigen ›Sein‹ zu verstehen ist, muß unausgemacht bleiben. Seine Bestimmung würde es in die Dialektik von Subjekt und Objekt hineinziehen, von der es gerade ausgenommen sein soll.«45 Was das Sein an sich selbst ist, wird von Heidegger niemals bestimmt. Es gilt ihm als das Ontologische, welches etwas grundsätzlich anderes sein soll als das Ontische (das bloß Seiende). Zur Bestimmung des Seins finden sich bei Heidegger nur tautologische Aussagen. Sie sollen verbergen, dass »das Sein« nichts anderes ist als das Ergebnis einer abstrakten Reflexion des denkenden Subjekts auf seine Objekte, also auf konkret Seiendes. Ein konkret Seiendes (das Subjekt) reflektiert auf anderes konkret Seiendes (die Objekte), abstrahiert jedoch von der beiderseitigen Konkretion. Die inhaltslose Formel, die dabei herauskommt, wird ausgegeben als »ein ontologisch Erstes, auf das Subjekt und Objekt zu reduzieren wären«46. Aber das Sein ist »in Wahrheit selber Produkt, 05
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nämlich das letzte Überbleibsel der philosophierenden Abstraktion«47. Es hat keine »Realität«, es ist lediglich »eine Abstraktion des Bewußtseins von seinem Inhalt, des Subjekts vom Objekt«48. Dadurch wird bei Heidegger »der Anschein erzeugt«, schreibt Haag, »als gewinne hier der Mensch, das ›Dasein‹, eine Beziehung zu einem von ihm unabhängigen ›Sein‹.«49 Was bei Heidegger als reine Unmittelbarkeit erscheint, ist also tatsächlich »ein durch und durch Vermitteltes«50. Er verabsolutiert diese Vermittlungsbestimmung als ontologische Differenz und gibt sie als reine Identität aus. »Identität und Nichtidentität« sind bei Heidegger vermeintlich »radikal getrennt«; ein »Werden« oder eine »Dialektik« von »Subjekt und Objekt«51 gibt es angeblich nicht. Mein Fazit: Heideggers Konzept des »Weltentwurfs«52 taugt nicht als Grundlage einer politisch-emanzipatorischen Designtheorie. Denn es mündet darin, dass die »Endlichkeit der Freiheit des Daseins«53 bewiesen werden soll. Darin besteht nämlich für Heidegger das ›Gründen der Freiheit‹54, und das ist etwas substantiell anderes als der ›grundlegende, emanzipatorische Akt‹55, für den sich Borries begeistert. Wenn Borries das mit Adornos Theorie der kulturindustriellen Unterwerfung der Menschen zusammenbringen will, bewegt er sich auf ganz dünnem Eis. Der Imperativ der Kulturindustrie lautet Adorno zufolge: »du sollst Dich fügen, ohne Angabe worein; fügen in das, was ohnehin ist, und in das, was, als Reflex auf dessen Macht und Allgegenwart, alle ohnehin denken.«56 Aus kulturindustriellen Produkten und Formaten spreche die latente Drohung, dass ausgegrenzt werde, wer nicht mitmacht und sich anpasst. »Das Einverständnis, das sie [die Kulturindustrie] propagiert, verstärkt blinde, unerhellte Autorität.«57 Vier Jahre vor dem großen »Erwachen«, der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, schwärmte Heidegger, dass der bloß daseiende Mensch »im Mit sein« seine »Ichheit darangeben« solle, »um sich als eigentliches Selbst zu gewinnen«. Aus Adornos Perspektive gehört solches Philosophieren zur autoritären Frühgeschichte jener kulturindustriellen »Beförderung und Ausbeutung der Ich-Schwäche, zu der die gegenwärtige Gesellschaft, mit ihrer Zusammenballung von Macht,
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46 Ebd., S. 82. 47 Ebd., S. 83. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Heidegger, Vom
Wesen des Grundes , a.a.O., S. 47. 53 Ebd. 54 Vgl. ebd. 55 Borries, a.a.O., S. 11. 56 Theodor W. Adorno: »Résumé über Kulturindustrie«, in: ders., Gesammelte
Schriften Bd. 10.1, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1977, S. 337–345, hier S. 343. 57 Ebd., S. 344.
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ihre ohnmächtigen Angehörigen ohnehin verurteilt«58. Heideggers komplementäre Anordnung von Geworfenheit und Entwurf erweist sich als eine autoritative Verklammerung, aus der sich Menschen, die qua »Dasein« zu Exemplaren des »Seins« depotenziert sind, schlechthin nicht befreien können. Im Ent-Wurf können sie sich allenfalls ihres Ichs entledigen; dass sie sich zu sozial selbstbestimmten Subjekten machen, ist in der existenzialontologischen Lehre nicht vorgesehen. Heideggers Konzept des Weltentwerfens, das er nicht erst als praktizierender Nationalsozialist, sondern bereits kurz nach Sein und Zeit publiziert hat, steht den emanzipatorischen politischen Intentionen der Borries’schen Philosophie des Entwerfens diametral entgegen. – Im Folgenden möchte ich dafür argumentieren, dass die kritische Theorie bessere Konzepte für eine philosophische Theorie des Designs zu bieten hat.
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II. Was ist kritische Theorie? Kritische Theorie ist die philosophische und gesellschaftstheoretische Reflexion der sozialen Emanzipationsbewegungen in der Moderne: Reflexion ihrer Errungenschaften, ihrer Hemmnisse und ihres Scheiterns. Weil sie nicht kontemplativ, sondern praxisreflexiv ist, kann sie ihre Gegenstände beschreiben, konstruieren und zugleich kritisieren. Kritische Theorie ist daher deskriptiv und normativ sowie dialektisch in dem Sinne, dass sie die Bewegungen der Gegensätze in sich rekonstruiert, durch die ihre Gegenstände ge kennzeich net sind. Insofern ist kritische Theorie eine philosophische Theorie im Sinne von Hegel und Marx. Sie erkennt, um es mit einer Formulierung von Günther Mensching zu sagen, in den Begriffen, Urteilen und Schlüssen philosophischer Reflexion den »komprimierteste[n] Ausdruck der historischen Bewegung« der Epoche, auf die sich diese Reflexion jeweils bezieht, und sie fragt nach der »immanenten Vernunft und Unvernunft«59 der historischen Bewegungen. Das heißt, kritische Theorie fragt nach Wirklichkeit und Möglichkeit ihrer Gegenstände, also nach ihrem SoSein und ihrem vernünftig begründbaren Sollen. Daher bewahrt sie sich, als philosophische Theorie, eine relative Autonomie gegenüber der Praxis. Diese wird als negative, in sich ambivalente und antagonistische Totalität gedacht; sie umfasst reale Herrschaft 20
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58 Ebd. 59 Günther Mensching: Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen
Denkens im Mittelalter, Stuttgart 1992, S. 13.
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über Natur und Menschen ebenso wie mögliche (und punktuell reale) Freiheit von Naturzwang und sozialer Herrschaft. Die philosophische Autonomie kritischer Theorie ist relativ, weil sie als Reflexionsform praktischer Emanzipationsbewegungen in diese involviert ist. Sie reflektiert Manifestationen materieller und geistiger Arbeit als soziokulturelle Praxisformen. Sie geht davon aus, wie der Soziologe Heinz Maus schrieb, »daß die Menschen die Produzenten ihrer historischen Lebensformen sind, die klassenmäßige Form der gesellschaftlichen Arbeit indessen allen ihren Reaktionsweisen, d.h. ihrer Kultur, bislang den Stempel aufdrückt«60. Kultur ist ein Bestandteil des Produktionszusammenhangs der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser Zusammenhang lässt sich durch vier philosophische Kategorien kennzeichnen: Vernunft, Freiheit, Arbeit und Eigentum. Sie sind seit dem 18. Jahrhundert systematisch im arbeitsteiligen Kontext von Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik und politischer Philosophie reflektiert worden. Bis heute, schrieb Herbert Marcuse in den 1930er Jahren, sind sie vor allem »als ökonomische und politische Fragen relevant«61. Daran hat sich 80 Jahre später, wie mir scheint, kaum etwas geändert. Marcuse hat die Begriffsfelder folgendermaßen abgesteckt: Es geht um die »Beziehungen der Menschen im Produktionsprozeß«, um »die Verwendung des Produkts der gesellschaftlichen Arbeit« und nicht zuletzt um »die aktive Teilnahme der Menschen an der ökonomischen und politischen Verwaltung des Ganzen«62. Diese Felder gilt es im Sinne einer post-hegelschen Theorie des objektiven Geistes, die sozialphilosophisch neu ausbuchstabiert wird, auf ihren unabgegoltenen Gehalt hin zu untersuchen. Die »reale Möglichkeit«63, dass die gestaltende Partizipation am wirtschaftlichen und politischen Ganzen, von der Marcuse seinerzeit sprach, wirklich stattfindet, dass das gesellschaftliche Arbeitsprodukt allen zukommt und soziale Beziehungen im Zusammenhang der materiellen und geistigen Produktion als selbstbestimmte, freiheitliche Kommunikationsverhältnisse gestaltet werden können – diese »reale Möglichkeit« ist seither, im Hinblick auf ihre technisch-
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60 Heinz Maus: »Sozialphilosophie«, in: Philosophie, hrsg. v. Alwin Diemer u. Ivo Frenzel, Frankfurt a. M. 1963, S. 307 – 313, hier S. 312. 61 Herbert Marcuse: »Philosophie und kritische Theorie«, in: ders., Schriften Bd. 3 , Springe 2004, S. 227 – 249, hier S. 234. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 235. 64 Axel Honneth: »Die soziale Dynamik von Mißachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie«, in: Gesellschaft im
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materiellen Voraussetzungen, eher größer geworden. Zugleich ist sie aber, im Hinblick auf die Formen ihrer Verwirklichung, immer unwahrscheinlicher geworden. Zunächst ging kritische Theorie von einem objektiven gesellschaftlichen »Interesse an Emanzipation« aus, das sich »in der sozialen Alltagskultur« und »Alltagswirklichkeit«64 ausmachen lässt. Später wurde das Konzept der Emanzipation durch das der Kommunikation erweitert; damit sollte der Einsicht Rechnung getragen werden, dass nicht nur Arbeit Grundlage des sozialen Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit ist, sondern auch intersubjektive Verständigung. Aus dieser Sicht wird das humane Potential »zur kommunikativen Verständigung« durch selbstgemachte gesellschaftliche Fremdbestimmtheit gefährdet, die »eine Kritik der gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse«65 erforderlich macht. Die kritische Theorie ist aber nicht als normativistische Theorie konzipiert, die Versprechen einklagt, die in der Aufstiegsphase der bürgerlichen Gesellschaft gegeben und später, in der Phase ihrer Konsolidierung, gebrochen wurden, sondern, wie gesagt, als dialektische Theorie, die in der kritischen Rekonstruktion der Bewegung der Begriffe durch ihre Widersprüche hindurch die Gegensätze und Antagonismen rekonstruiert, deren begriffene Darstellung ihre philosophische Reflexion zu sein beanspruchte (und mitunter noch immer beansprucht, sofern sie sich nicht, im Sinne des linguistic turn, von der Analyse von Sachfragen abgewendet und gänzlich der Analyse von Sprachfragen verschrieben hat). Kritische Theorie analysiert ihre Untersuchungsgegenstände, indem sie Konflikte beschreibt, die ihnen zugrunde liegen. Dabei unterscheidet sie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit des Gegenstandes. Sie stellt die zu beobachtenden Phänomene und die zu (re-)konstruierenden Gesetzmäßigkeiten dar, denen gemäß sich die Phänomene »verhalten«. Und sie konstruiert Potenziale, die in Phänomenen und Gesetzmäßigkeiten enthalten sind, sich aber nicht entwickeln können, weil sie durch den zugrundeliegenden Konflikt gehemmt oder blockiert werden. Phänomene der Wirklichkeit sind aus den Metamorphosen der Begriffe herzuleiten, in denen sich Veränderungen der Stellung des Gedankens zur Objek05
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Übergang. Perspektiven kritischer Soziologie, hrsg. v. Christoph Görg, Darmstadt 1994, S. 45–62, hier S. 47 und S. 46. 65 Ebd., S. 49 und 59.
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tivität manifestieren – also aus der dialektischen Rekonstruktion der Bewegung der Phänomene. Die dialektische Bewegung der Begriffe ist die Darstellung der widersprüchlichen Entfaltung der Sachen.66 05
III. Gegenstände einer kritischen Theorie des Designs Das Design von Produkten und Kommunikationsformaten ist ein Produktions- und Rezeptionszusammenhang, der zur industrie kapitalistischen Reproduktionspraxis gehört: »formgebende Tätigkeit«67, die Materie, Praktiken und Kommunikationen, vermittelt durch Entwerfen, brauchbar macht. Die Gestaltung soziokultureller Arbeits- und Verständigungsverhältnisse hat ideologische und emanzipatorische Dimensionen. Die philosophische Methode der kritischen Theorie ist, wie gesagt, die dialektische Darstellung innerer, gegensätzlicher Bestimmungen im jeweiligen Gegenstand. Im Sinne einer vorläufigen, unsystematischen Aufzählung von Phänomenen der Wahrnehmung und der Gebrauchserfahrung im Alltag können die Gegensätze, die das Produkt- und das Kommunikationsdesign kennzeichnen, mit folgenden Begriffspaaren beschrieben werden: Bedürfnis und Begehren; Information (bzw. Aufklärung) und Reklame (bzw. Public Relations); verständigungsorientierte und strategische Kommunikation; enger und weiter Designbegriff (Formgebung als äußerliche Zutat oder als soziale Gestaltung).
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III.I. Systematische Perspektive Wenn eine kritische Theorie des Designs nicht beim dichotomischen68 »Einerseits-andererseits« oder »Sowohl-als-auch« stehen bleiben, sondern der Bewegung der Gegensätze in sich nachgehen will, dann sollte sie zeigen können, dass sich ein »Basiskonflikt« beschreiben lässt, der Designphänomenen (und Designdiskursen) der Gegenwart als Einheit von einander widersprechenden Bestim30
66 »Dialektik«, sagte Adorno in einer Frankfurter Vorlesung, ist sowohl »eine Methode des Denkens, aber auch mehr, nämlich eine bestimmte Struktur der Sache« (Theodor W. 35
Adorno: Einführung in die Dialektik [1958]), hrsg. v. C. Ziermann, in: Theodor W. Adorno,
Nachgelassene Schriften, hrsg. v. Theodor W. Adorno Archiv, Abt. IV: Vorlesungen, Bd. 2, Berlin 2010, S. 9.) 67 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: ders., Marx-Engels-Werke Bd. 42, Berlin 2014, S. 222. 68 Siehe zum Verhältnis von Dichotomie, Widerspruch und Dialektik: Jenseits der Dichotomie. Elemente einer sozial-
wissenschaftlichen Theorie des Widerspruchs, hrsg. v. Stefan Müller, Wiesbaden 2013, insbes. die Beiträge von Thomas Kesselring, Jürgen Ritsert und Stefan Müller.
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mungen innewohnt. Analoge und digitale Artefakte und Kommunikationsformate sind dazu vor dem Hintergrund der Frage zu betrachten, wie sich in ihnen das (gedanklich und normativ) Allgemeine einer autonom gestalteten Lebenswirklichkeit in der privaten und in der öffentlichen Sphäre (deren Trennung dabei überwunden würde) zum partikularen Motiv der privaten Aneignung unter Bedingungen gesellschaftlicher Herrschaftsausübung verhält, in dem es zum Ausdruck und zur Wirkung kommt. Die thesenhafte Antwort lautet, dass das Partikulare die Realisierung eines vernünftigen Allgemeinen konflikthaft blockiert und zugleich seine Entwicklung durch produktive Ergänzung ermöglicht. Sie lautet daher auch, dass die Emanzipation des Besonderen (in Gestalt des partikularen Profitinteresses) die Formulierung eines (nicht abstrakt, sondern konkret gesellschaftlich) Allgemeinen überhaupt erst möglich macht, dessen Verwirklichung es dann jedoch, im geschichtlichen Verlauf, tendenziell erstickt. Die Dialektik des Universalen und Partikularen ist als soziale Dominanz des Partikularen stillgestellt, wobei das Partikulare in der Warenform zum abstrakt-allgemeinen, einheitsstiftenden Prinzip der gesellschaftlichen Reproduktion erhoben wird. Der grundsätzliche Konflikt besteht also in dem Verhältnis von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnis, das Designformen und -formate hervorbringt und ihre Entfaltung (d.h. ihre Nutzung im Hinblick auf Produktion und Rezeption) zugleich befördert und hemmt. Wie kommt dieser Konflikt zum Ausdruck? Design wird in der bürgerlichen Gesellschaft in Gestalt partikularer Ästhetisierung realisiert. Zugleich enthält es aber ein telos, welches darüber hinausreicht: die bedürfnis- und verständigungsorientierte Gestaltung der alltäglichen Lebensverhältnisse. Die bestehende, durch gesellschaftliche Arbeitsteilung sich herstellende Form von Design enthält insofern einen normativen, emanzipatorischen Überhang über die gesellschaftliche Form, in der sie sich herstellt. Durch Design wird eine humane Gestaltung der Lebens- und Arbeitswelt überhaupt erst ermöglicht. Zugleich steht selbstbestimmter Nutzung und sozialem Design (autonomer Produktion) jedoch eine fremdbestimmte Überformung bzw. eine Prä formation der Formgestaltung und eine Dominanz der inneren Formbestimmtheit gegenüber, sofern sie eine Bestimmtheit als Warenform ist. Letztere geht indes nicht zwingend aus der Beschaf-
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fenheit von Materialität und Struktur oder aus Medien und Formen hervor. Sie entsteht durch die spezifischen Gesetzmäßigkeiten ihrer Verwertung: Soziales, öffentliches Potenzial wird blockiert durch private Aneignung des durch Medien produzierten Mehrwerts. Mit anderen Worten: Design kann Ausdruck und Werkzeug von Freiheit und kultureller Selbstbestimmung sein, es ist zunächst einmal aber Instrument der Profiterzeugung in der Warenökonomie und der Kontrolle im Dienst politischer Herrschaft. Das öffentliche (menschheitlich-uinversale) Potenzial wäre freilich nicht ohne die private Verwertungsstruktur zu haben. Oder, vorsichtiger formuliert: Das Potenzial manifestiert sich vorerst überhaupt nur in der falschen, aber wirklichen Gestalt. Denn ohne die den Produktions verhältnissen immanente Profitausrichtung wäre Design als Bestandteil der Produktivkräfte nicht artikuliert worden. Und ohne entsprechende politische Herrschaftsmaßnahmen, Gesetzgebung und Zwangsgewalt hätte sich die ökonomische Gesetzmäßigkeit nicht entfalten können, die nun wie ein Sach- oder Naturzwang erscheint. In vereinfachter marxscher Terminologie kann man daher von einem Konflikt zwischen dem (sozialen) Gebrauchswert und dem Tauschwert des Designs sprechen. Design hat dekorative, phantasmagorische und eskapistische Momente, aber auch kon struktiv-emanzipatorische. Der reale Partikular ismus ist die Grundlage des ideologisch-phantasierten Universalismus einer sittlich und ästhetisch gestalteten Welt, eines gelingenden Lebens für alle. Zugleich ist diese Phantasie jedoch auch entstellter Vorschein eines noch nicht existierenden realen Universalismus.
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III.II. Historische Perspektive Dass das Potenzial autonomen sozialen Designs auf Realisierung wartet, die durch die Grundlagen blockiert wird, denen es sich verdankt, kann nicht ohne historische Reflexion begriffen werden. Kunst und industrielle Produktion traten im 19. Jahrhundert mit der Entfaltung der Industrialisierung auseinander. Arbeit wurde zentrale gesellschaftliche Vermittlungsinstanz, aber nicht als selbstbestimmte kreative Arbeit, sondern als Lohnarbeit. Kreative Arbeit wurde dem Bereich der autonomen Künste zugeordnet. Dort wurden Artefakte produziert, die nicht per se als Waren gedacht waren. Ästhetisch betrachtet, ist ihr Warencharakter akzidentell,
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aber für den freien Künstler als Marktsubjekt ist er unverzichtbar. Lohnarbeit hingegen gehört in den Bereich der Herstellung und Vermarktung von Waren. In der Moderne befreite sich die Nützlichkeit gleichsam aus ihrer untergeordneten Funktion gegenüber der Schönheit. Der »ästhetische Überschuß, der die Produktion des Handwerks beseelte«69, erschien unter den Bedingungen industrieller Produktion unzeitgemäß. Er wurde als volkswirtschaftlich schädlicher Überfluss diffamiert (am wort- und wirkmächtigsten bekanntlich bei Adolf Loos). Die Freiheit der Künste war eine späte, fragile Errungenschaft und zudem nur von kurzer Dauer. An den weltanschaulichen Kunstdebatten gegen Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich zeigen, dass im überlieferten Streit um »freie« und »angewandte Kunst« wahre und ideologische Momente ineinander verschlungen sind. Ästhetische Erfahrung befreite sich in dieser Phase von fremdbestimmten Einschränkungen. So rechnete es der Kunstwissenschaftler Konrad Fiedler 1881 dem Naturalismus in Literatur und Malerei hoch an, dass er »die Emanzipation der Kunst aus der Bevormundung durch eine fremde Autorität«70 bewirkt habe. Kunst »will nicht mehr Mittel sein für fremde Zwecke, sie will von jedem Zwang befreit sein«71, schrieb Fiedler. Sie wolle nur noch das Leben und die Welt darstellen, wie sie sind. Die Auffassung des l’art pour l’art radikalisierte diese Haltung, obwohl sie sich gegen Naturalismus und Realismus richtete. Nun ging es nicht mehr um eine welthaltige, »getreue Darstellung«72. Die »Ansicht […], daß die Kunst einen ganz bestimmten Teil der dem menschlichen Geschlecht gestellten Aufgaben zu lösen habe«, wurde ihrerseits als »Bevormundung«73 empfunden. Werke wurden denkbar und gestaltbar, die nur ihrem eigenen Formgesetz verpflichtet sind – Werke, die sich der Unterordnung unter Kriterien verweigern, die außerhalb der Logik ihrer Form und deren Rezeption liegen. Zugleich war diese Emanzipation der ästhetischen Erfahrung aber auch eine Absage an die objektive Verpflichtung auf humane Zwecke, der alle Produkte unterliegen, also auch künstlerische. In der Ablösung von dieser Verpflichtung trieb Kunst, die bei sich 05
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69 Albrecht Wellmer: »Kunst und industrielle Produktion. Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne«, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a. M. 1985, S. 115 – 134, hier S. 115. 70 Konrad Fiedler: »Moderner Naturalismus und künstlerische Wahrheit«, in: ders., Schriften zur Kunst, Köln 1996, S. 101 – 130, hier S. 115. 71 Ebd., S. 116. 72 Ebd., S. 108. 73 Ebd., S. 114 und 115.
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selbst bleibt, die ideologische Unwahrheit der alten Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit auf die Spitze. Jene Trennung ist die Signatur gesellschaftlicher Herrschaft. Sie wäre als solche nicht zu affirmieren, sondern selbst noch einmal der Kritik zu unterziehen – nicht durch Verzicht auf ästhetische Produktion, aber durch Reflexion auf diesen Widerspruch, die im Fortgang der Arbeit am Formgesetz selbst durchsichtig zu vollziehen wäre. Wenn und solange dies unterbleibt, setzt sich autonome Kunst ins Unrecht gegenüber der angewandten Kunst. Ihre Freiheit wäre eben nicht die Setzung als Selbstzweck, die verabsolutierte Arbeitsteilung, die den Vorzeichen gesellschaftlicher Herrschaft verhaftet bleibt. Freiheit der Kunst müsste sich immer auch durch ihre Bindungen an humane Zwecke manifestieren. Die soziale Aufgabe der Künstler kommt aber nur in Gang, wenn ihre Arbeit in den Dienst herrschaftlicher und kommerzieller Zwecke genommen wird. Insofern hat es ein Moment der Ideologie, wenn die »angewandten« Künste aus dem Schatten der »freien« treten und gleichberechtigt werden wollen. Andererseits ist Zweckgebundenheit der Kunst zunächst einmal Heteronomie. Doch dadurch stehen Kunstproduktion und ästhetische Erfahrung modellhaft für einen Zustand ein, in dem die Menschen, als gesellschaftliches Subjekt, nicht mehr heteronom wären.74 Design als Inbegriff »angewandter Kunst« ist also, wenn man so will, ein Vor-Schein ästhetischer Wahrheit, wenn auch in falscher Gestalt. Die Verabschiedung des funktionalistischen Paradigmas in der Designtheorie seit den 1960er Jahren orientierte sich am Theoriemodell des semiotischen Strukturalismus. Designprodukte und Designprozesse wurden mehr als Zeichen aufgefasst und weniger als nützliche, zweckmäßige Objekte oder Verläufe. Als zen tral galt nun der Aspekt, dass Design Bedeutungszusammenhänge produziert, weil seine Produkte Bedeutungsträger sind, die als
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74 In der Gegenwartskunst ist die Problematik der Kunstautonomie bekanntlich immer wieder gesehen worden. Ein prominentes und wirkmächtiges Beispiel: Okwui Enwezor proklamierte für die documenta 11, es gehe darum, »die Bedingungen zu untersuchen, unter denen aktuelle Kunst in ihren vielfältigen Ausdrucksformen entsteht. Wir möchten eine 35
Sicht von Kunst entwickeln, die offen ist, authentisch und zeitgemäß, gleichzeitig aber auch sehr analytisch bei der Auseinandersetzung mit den historischen Systemen, in denen sie stattfindet. Wir wollen eine Kunst, die der verbreiteten Ansicht entgegentritt, alle Kunst sei sich selbst genug und besitze eine eigene Sprache, die anderen Disziplinen keinen Zugang ermögliche.« (Zitiert nach: Andreas Mertin, »Die Hand Gottes oder die Rückkehr der Priester. Das Ende der Kunst als Exekutivform des Bilderverbots?«, in: Magazin für Theologie und
Ästhetik Nr. 17/2002 [https://www.theomag.de/17/am61.htm (20.02.2017)].)
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Teile von Kodierungssystemen fungieren. Im neueren designtheoretischen Diskurs wurde bemerkt, dass dieser Aspekt nicht nur vom Strukturalismus geltend gemacht wurde, sondern auch von der kritischen Theorie. In seiner Rede vor dem Werkbund in Berlin hatte Adorno 1965 darauf hingewiesen, dass die ›praktischen Formen‹ der »Gebrauchsdinge« fast nie nur aus ihrem Gebrauch abzuleiten sind, sondern so gut wie immer auch einen ›symbolischen‹ Charakter haben.75 Dieser hat nach Adorno zwei Ebenen: Gestaltete Objekte können zeichenhaft auf anderes verweisen, und sie können ein Ausdrucksmoment haben. Mit Letzterem kommt der antistrukturalistische Aspekt des Sprachbegriffs ins Spiel, den Adorno von Benjamin übernommen hatte. Sprache ist demnach wesentlich nicht ein kodiertes System arbiträrer Verwendungsregeln, sondern in erster Linie Ausdruck und in zweiter Linie die Anstrengung, den Dingen ihren einzig angemessenen Namen zu geben; und erst in dritter Linie ist Sprache ein (nominalistischer) Kode zur Bezeichnung und Verständigung. Diese antinominalistische Sprachauffassung ist im designtheoretischen Diskurs leider nicht zum Thema gemacht worden. Der Paradigmenwechsel von der Funktionalität zur Semiotik und zur Semantik der Produkte wird vielmehr als Einsatzpunkt des Kulturalismus interpretiert. Dieser wird affirmiert als »Bezugnahme auf übergeordnete sinnstiftende Kontexte und Strukturen«76, die dem designerischen Denken und Entwerfen gutgetan habe. Dadurch kommt im Designdiskurs ein Aspekt nicht zum Tragen, der in Adornos und Benjamins Fragmenten zu einer Theorie des Designs steckt: Dass die Befreiung der Dinge vom »Fluch nützlich zu sein«77, eine praktisch-ästhetische Kritik der kapitalistischen Produktionsund Verwertungsweise ist. Denn die Dinge wären erst dann vom »Fluch« befreit, nützlich zu sein, wenn sie nicht mehr auf ihren Tauschwert reduziert würden – und wenn die Menschen vom »Fluch« (oder besser: vom Zwang) befreit wären, ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen zu müssen. Dafür bedürfte es freilich »eines gesellschaftlichen Gesamtsubjekts«, das seine Praxis an »einem gesamtgesellschaftlichen Zweck« ausrichtet und nicht bloß »an 05
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75 Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute«, in, ders., Gesammelte Schriften Bd. 10.1, hrsg. v. Rolf Tiedemann, a.a.O., S. 375 – 395), hier S. 381 f. 76 Claudia Mareis: Theo-
rien des Designs zur Einführung, Hamburg 2014, S. 118. 77 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. V.2, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1982, S. 1130.
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partikularen Zwecken«78 der sozialen Herrschaft und der Akkumulation von Kapital. Erst dann wäre es denkbar, aus der Verdinglichungsfalle herauszukommen. Wenn dann »die ganz nützlich gewordenen Dinge ihre Kälte verlören«, schrieb Adorno, müssten vielleicht nicht allein die Menschen »nicht länger leiden unter dem Dingcharakter der Welt: ebenso widerführe den Dingen das Ihre, sobald sie ganz ihren Zweck fänden, erlöst von der eigenen Dinglichkeit«79. Mit diesem Gedanken knüpfte Adorno an die »exakte Phantasie« der französischen Sozialutopien des 19. Jahrhunderts an. Er unterstellte nicht, dass die Wahrscheinlichkeit realer Befreiung von sozialer Fremdbestimmtheit dadurch ansteigen würde. Aber seine ästhetische Antizipation, dass die Dinge erst dann gleichsam zu sich selbst kommen könnten, wenn sie von ihrer Instrumentalisierung bei der »Beherrschung und Ausbeutung«80 der Menschen ›gereinigt‹ wären, scheint immer noch unverzichtbar. Denn die Dinge kommen nicht dadurch zu sich selbst, dass sie, wie in Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, die in der Designtheorie begeistert rezipiert wird, zu Quasi-Akteuren auf dem digitalen Feld gegenwärtiger Kapitalakkumulation erklärt werden.81 Das digitale Feld: Aus der Perspektive kritischer Theorie ist es die universal gewordene technische Rationalität. Sie hat sich als post-hierarchische und post-bürokratische Form der Organisation einer Gesellschaft etabliert, die zwar keine Industriegesellschaft im klassischen Sinne Max Webers mehr ist, sich aber in ihren Arbeits- und Freizeitformen mehr denn je der »kapitalistischen Rationalität«82 verpflichtet sieht, die sich in jener Epoche durchgesetzt hat. Diese Rationalität ist Weber zufolge formal, mathematisierend und quantifizierend. Die Gestalten der »Ökonomie und Technik«83, die aus ihr hervorgehen, sind grundsätzlich von der »Reduktion von Qualität auf Quantität«84 geprägt. Darauf basiert, wie Marcuse 1964 festhielt, die spezifisch moderne Form der »Herrschaft über alle (auf Quantitäten und Tauschwerte reduzierten) Besonderheiten«85. Fünfzig Jahre später, im Zeitalter der mikroelektronischen Revolution und der zivilen Nutzung der für militärische Zwecke entwi-
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78 Adorno, a.a.O., S. 393. 79 Ebd., S. 392. 80 Ebd. 81 Siehe dazu Gerhard Schweppenhäuser: »Ideologie und Utopie des Designs. Latours Designtheorie zwischen Aufklärungskritik und Gegenaufklärung«, in: Der aufrechte Gang im windschiefen Kapitalismus, hrsg. v. Rüdiger Dannemann u.a., Wiesbaden 2018, S. 253 – 270. 82 Herbert Marcuse: »Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers«, in: ders., Schriften Bd. 8, Springe 2004, S. 79 – 99, hier S. 82. 83 Ebd., S. 81. 84 Ebd., S. 82. 85 Ebd.
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ckelten Informations-, Kommunikations- und Ortungstechnologien, scheint die früh- und hochkapitalistische Trennung der Arbeitenden von den Arbeitsmitteln der Vergangenheit anzugehören, wenn menschliche Arbeit in ständig wachsendem Ausmaß über Computer in Wert gesetzt wird. Traditionelle Industrieproduktion ist an die Peripherie abgedrängt (sofern es denn noch sinnvoll ist, das chinesische Reich als peripher zu apostrophieren). Aber weil tendenziell alle Menschen der Logik der Digitalisierung unterworfen werden, sind die ökonomische Verfügung über ihre Arbeitsleistungen und die herrschaftliche Kontrolle ihrer physischen und psychischen Aktivitäten auf dem neusten Stand der Technik gesichert. Mikroelektronisch-digitale Technik ist nicht mehr Mittel der Lebensverbesserung, sondern Zweck sämtlicher Lebensvollzüge.86 Nicht nur auf der Ebene der wirtschaftlich-politischen Propaganda und der biometrischen Kontrolle, auch in der individuellen und kollektiven Selbstwahrnehmung und -darstellung erscheint die digitale Infrastruktur, entwickelt für den Bedarf des militärisch-industriellen Komplexes, wie eine Entelechie des Handelns, des Produzierens und des Verbrauchens. Neue Produktivkräfte im alten Produktionsverhältnis bringen neue Designformate hervor und hemmen ihre selbstbestimmte soziale Nutzung. In der Tat: Designprodukte können ihre Benutzerinnen und Benutzer sowohl einschränken als auch entschränken, wie Borries in seiner Designtheorie treffend beobachtet hat. Stühle können entlasten und eine freie Körperwahrnehmung unterstützen, aber auch zu Haltungen nötigen, die physisch unzuträglich und repräsentativ falsch sind, etwa hierarchisch erhöhend oder erniedrigend. Digitale Kommunikationstechnologien können freiheitliche Selbstverständigung und politische Willensbildung ermöglichen; sie setzen ihre Nutzerinnen und Nutzer aber auch dem Sperrfeuer der Werbepropaganda aus, lassen sie ins Überwachungsnetz der Staats05
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86 »Die Technik zieht […] in ihrer heute vorherrschenden Form […] alle soziale und politische Fantasie an sich […], sie droht jede andere Möglichkeit des besseren sozialen und politischen Lebens in technische Utopie zu verwandeln. Fortschritt wird tendenziell synonym mit einer Welt der besser funktionierenden Flachbildschirme, Handys, Computer und Funknetze als moderne Warenfetische. Das Mittel Technik mutiert damit selbst zum Subjekt und die Menschen und ihre Körper werden zu deren Anhängseln: ihre Käufer, ihre Datengeber, ihre Ausbeutungsobjekte […]. Diese Relation bildet die Kehrseite der neuen Möglichkeiten der Benutzung digitaler Geräte.« (Wolfgang Bock: »Neue Medien und Ideologie: Zur Dialektik der digitalisierten Aufklärung«, in: Handbuch Kritische Theorie, hrsg. v. Uwe Bittlingmayer u.a., Wiesbaden 2016, S. 23 [https://link.springer.com/referenceworkentry/10.1007/978-3-658-12707-7_67-1].
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gewalt gehen, mit der sie sich zunehmend identifizieren,87 und formatieren nicht nur ihre mitteilende Kommunikation, sondern auch ihre Selbstexpression und Selbstwahrnehmung. Davon ist die Formgebung von Produkt- und Kommunikationsdesign geprägt, und dies ist keine Ambivalenz und auch keine »dem Design inhärente Dichotomie«88, sondern ein dialektisches Geschehen, denn Produkte und Kommunikationsprozesse tun das eine, indem sie das andere tun.
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87 Siehe dazu Andreas Bernard: Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen
Kultur, Frankfurt a. M. 2017. 88 Borries, Weltentwerfen, a.a.O., S. 10.
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›Designing‹ als Algorithmik, als freies, immate rielles Morphing erweist sich dann als ›Spiel‹ des Mathe matischen, […], wo sie nicht anders können als den Schemata von Regeln zu folgen.
Prof. Dr. phil. Dieter Mersch ist Leiter des Instituts für Theorie (ith) und Professor für Ästhetik und Theorie an der Züricher Hochschule der Künste (ZHdK). Studium der Philosophie, Mathematik und Pädagogik in Köln, Promotion und Habilitation an der Technischen Universität Darmstadt. Mehrere Fellowships und Gastprofessuren im In- und Ausland. Seit 2018 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Zuletzt erschienen: Medientheorien zur Einführung 4, 2019; zusammen mit Sandro Zanetti u. Sylvia Sasse: Ästhetische Theorie (DENKT KUNST) , Diaphanes 2019; Epistemologien des Ästhetischen (DENKT KUNST), Diaphanes 2015.
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›Design-Philosophie‹ bildet eine relativ junge Disziplin.2 Ihr Fokus schwankt zwischen einem gesonderten Zweig der Ästhetik, der Ding-Ontologie, der Entwurfstheorie sowie einer Ethik, Utopie oder Politik des Designs. Zahlreiche Überschneidungen unterhält das Feld zudem mit alternativen Formaten wie der ›Designwissenschaft‹, der ›Designtheorie‹ und des ›Design-Denkens‹, von denen ein genuin philosophischer Zugang vorderhand nicht leicht zu trennen ist.3 Die Designwissenschaft beschäftigt sich vor allem mit der ›Theorie-Praxis‹ des Gestaltens, d.h. allgemeinen Betrachtungen zur Methodologie; Design-Theorien handeln von Theoriebildungen über Design,4 seiner, auch historischen Selbstbeschreibung und der Untersuchung wechselnder Positionen, während das Design-Denken oder ›Design-Thinking‹ mit kollektiven Lösungsverfahren praktischer Aufgabenstellungen in interdisziplinären Verfahren, meist geleitet von Designerinnen oder Designern, befasst ist. Eine Design-Philosophie, die zu gewissem Grade alle drei umfasst, bedeutet dagegen weniger eine Philosophie für Designer5 als vielmehr eine Grundlagendisziplin, die in übergeordneter Perspektive danach fragt, was Design ›ausmacht‹ oder ›leistet‹, welche generellen Prinzipien ihm zugrunde liegen, welchen Bedingungen es unterworfen ist, welche sozialen Einflüsse es ausübt, welche Beziehungen sie zur Wissensproduktion unterhält oder wie die Grenzlinien zwischen Kunst und Design
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1 Paul Grillo: Form, Function and Design, Toronto 1960, S. 15. 2 Per Galle: »Philosophy of Design. Call«, in: Design Studies 21 (2000) S. 607–610, sowie ders., »Introduction«, in: Design Studies 23 (2002), S. 211–218, hier S. 211. 3 Glenn Parsons: The Philosophy
of Design, Cambridge u.a. 2016, S. 1 f. Siehe auch: Sydney A. Gregory: »Design and Design Method«, in: The Design Method, hrsg. v. Sydney A. Gregory, London 1966; Nigel Cross: »A History of Design Methodology«, in: Design Methodology and Relationships with
Science, hrsg. v. Nigel Cross u.a., Dordrecht u.a. 1993, S. 15 – 27; John Chr. Jones: Design Methods, New York 1992. 4 Zum Überblick vgl. Design. Texte zur Geschichte und Theorie, hrsg. v. Gerda Breuer/Petra Eisele, Stuttgart 2018. 5 Florian Arnold: Philosophie
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oder Ding, Zeug und Kunstwerk und ähnliches verlaufen.6 Ausdrücklich weist Glenn Parsons in The Philosophy of Design7 auf das bislang fehlende Äquivalent einer ›ästhetischen Theorie des Designs‹ in Analogie zu einer allgemeinen ›ästhetischen Theorie der Kunst‹ hin. Zudem deuten die Bindestriche sowohl in ›KunstPhilosophie‹ als auch ›Design-Philosophie‹ oder verwandten Ausdrücken wie ›Design-Thinking‹ u.ä. auf die gleichzeitige Zusammengehörigkeit wie Spannung zwischen den beteiligten Teilbegriffen, die die angedeuteten Mehrdeutigkeiten noch steigern, zumal sich die systematische Frage ergibt, in welchem medialen Format über Design als eine Praxis und Philosophie als eine θεωρία [theōria] gehandelt werden kann.8 Denn die Philosophie, so Theodor W. Adorno in der Negativen Dialektik, trifft stets eine Vorentscheidung für Idealismus, insofern sie sich notwendig in Begriffen artikuliert – »Denken heißt identifizieren. Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will«.9 Design und Kunst artikulieren sich hingegen vermittels von Dingen, Objekten oder Entwürfen, die Adorno wiederum als »urteilslose Synthesis«10 fasst, die dem Begrifflichen grundsätz lich fremd bleibt. Die ›Unwahrheit‹ jeder Philosophie des Designs wie auch der Kunst wäre dann der Diskurs selbst, der glaubt Wahrheiten über beide aussprechen zu können, während die von ihnen hervorgebrachten Objekte, die Poetik ihrer Konstellation im Unbegrifflichen verbleibt und sich dem ›Schein‹ der φαινόμενα [phainomena] überlässt. Doch liegt umgekehrt wiederum die ›Wahrheit‹ dieser ›Unwahrheit‹ im Wissen um ihre nicht zu tilgende Differenz, die deutlich macht, dass der Diskurs gegenüber den gestalteten Gegenständen und ihrer singulären Präsenz sperrig bleibt und ein grundsätzlich Nichtaufgehendes markiert, das das Kompositum und sein Bindestrich als unlösbaren Widerspruch ebenso einbehält wie zu überwinden trachtet. Jede ›Design-Philosophie‹ hat diese Problematik von Anfang an mit zu berücksichtigen. Gleichzeitig bleibt jedoch eine Philosophie des Designs – als zunächst noch offener, tentativer und zu bestimmender Begriff11 – auch von der Sache selbst her, ihrem besonderen Inhalte nach prekär,
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für Designer, Stuttgart 2016. 6 Vgl. Daniel M. Feige: Design. Eine philosophische Analyse, Berlin 2018, bes. Kap. 4 – 7. 7 Parsons, The Philosophy of Design, a.a.O., S. 2. 8 Dieter Mersch: Epistemologien des Ästhetischen , Zürich/Berlin 2015. 9 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1973, S. 17. 10 Ders.: Beethoven, Frankfurt a. M. 1993, S. 31 ff. 11 Auch: Feige: Design , a.a.O. 12 Vgl. exemplarisch:
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soweit sie sich immer nur in Bezug auf ein anderes – der Praxis – oder Kunst-Philosophie und ihrer ausgedehnten Geschichten – zu etablieren vermag; wie sie sich ebenfalls in sich selbst differenzieren muss, denn von einer ›Design-Philosophie‹ expressis verbis wären noch solche Theoretisierungen abzuheben, die Design praktiken oder Entwurfsverfahren einer historischen, wissenssoziologischen oder medientheoretischen Analyse unterzieht.12 »(I)t seems that these insights could not have been gained by anything but (…) reflection«, schreibt denn auch Per Galle: »Common empirical methods of design research (…) would have been of little help. Rational reflection, and the cultivation of such argumentative power and conceptual awareness as it takes, is the business of philosophy (…).«13 Hatte sich, so gesehen, der Begriff der ›Design-Philosophie‹ zunächst in den USA etabliert, wobei das Wort ›Philosophie‹ nichts anderes als ›Zugang‹ (approach), ›Konzept‹ (concept) oder ›Arbeitsweise‹ (method) in Abgrenzung zu konkreten Design-Praktiken und Stilen meinte, muss von einem solchen Verständnis eine inzwischen auch im deutschsprachigen Raum angekommene Metadisziplin unterschieden werden, die ihr Geschäft in der grundlegenden Analyse aller Aspekte der Gestaltung und ihrer Prozesse sieht. Das beinhaltet erstens eine philosophische Erörterung der Extensionen des Begriffs, zweitens eine Ontologie der Design-Dinge und ihre Beziehung zu »Zeug« und »Werk«, wofür im Besonderen Martin Heideggers Ursprung des Kunstwerks eine Anleitung bietet,14 drittens Fragen der ›Entwurfspraxis‹ und der ›Gestaltung‹ sowie ihrer Relation zu Technik, Medien und anderen Dispositiven, viertens eine Untersuchung ihres Verhältnisses zu den Künsten und der immer noch virulenten, aber beständig neu befragten Differenz zwischen Kunst und Design, fünftens eine Untersuchung der intrinsischen Verwicklungen zwischen Design, Funktionalität und Utilitarismus sowie sechstens eine Bestimmung der epistemischen Dimension und ihrer Relation zur Wissensproduktion anderer Künste und Wissenschaften. Letztere befasst sich insbesondere mit den jüngsten Konjunkturen einer »Design-Forschung« und deren Begründung15 zu denen schließlich ebenfalls Fragen der Nachhaltigkeit,
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Daniel Gethmann / Susanne Hauser: »Einleitung«, in: Kulturtechnik Entwerfen: Praktiken, Kon-
zepte und Medien , hrsg. v. Daniel Gethmann u. Susanne Hauser, Bielefeld 2009, S.9 – 15. 13 Galle: »Introduction«, a.a.O., S. 216. 14 Martin Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerks«, in: ders.: Holzwege, Frankfurt a. M. 1972, S. 7 – 68, hier S. 46 – 50. 15 Claudia Mareis: Theorien des Designs zur Einführung, Hamburg 2014, S. 9.
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der Verantwortung oder einer »Ethik« des Designs als sozialer Praxis gehören.16 In Verbindung mit Philosophie tendiert dabei ›Design‹ zu einer immer weiteren Auslegung, die nicht nur Artefakte, sondern auch Räume, Prozesse und Prozeduren sowie technische Anordnungen, Lebenszyklen, Ökologien und Praktiken umfasst, sodass eine Philosophie des Designs mannigfache Überscheidungen mit der Medientheorie, den Science-and-Technology-Studies und der Wissenschaftsforschung aufweist.17 Kurz, eine ›DesignPhilosophie‹ wäre in erster Linie als ein loses Bündel gesonderter philosophischer Zugänge zu verstehen, die ihre Herkunft aus klassischen Problemstellungen wie der Ontologie, der Epistemologie oder Ethik und Ästhetik bezieht.18 Die folgenden Überlegungen folgen nicht diesen Pfaden, sondern verstehen sich als eine kritische Designtheorie, die das ›Designen‹ selbst als Praxis und Geste gegenüber der Welt und ihren Dingen mitsamt ihren bedachten oder ungedachten Konsequenzen befragt.
Ambiguitäten des Designs Hat es Philosophie vorzugsweise mit Begriffen, ihrer Bestimmung sowie mit Gegenständen und ihren Eigenschaften oder Handlungen und ihren Voraussetzungen bzw. mit den Geltungsansprüchen von Gedanken und Theorien und ihren historischen Einsätzen unter Einschluss ihrer selbst zu tun, gilt ähnliches auch für eine Design-Philosophie, die nicht nur vom Design als ihrem Objekt handeln, sondern auch von ihrer Stellung in der Welt und ihrer Angemessenheit als Philosophie. Gilt dabei das philosophische Interesse in erster Linie sowohl den Grundlagen der Wissenschaften (Metaphysik) und ihrer Kritik als auch den kulturellen Dingen, Künsten und Technologien sowie ihrer symbolischen Funktion und Geschichtlichkeit, kommen dabei unterschiedliche Kategorien und Perspektiven zum Zuge, die ihrerseits wieder Gegenstände einer philosophischen Klärung bilden: Etwa die Frage danach, ›was‹ etwas ist, nach der ›Wahrheit‹ und ihrer Rechtfertigung oder nach den in den Künsten und den Wissenschaften eingelassenen Wissensformen. Dazu gehören auch Urteile darüber, was Kunst zu
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16 Vgl. Victor Papanek: Design for the Real World. Human Ecology and Social Change, Chicago 1985. 17 Claudia Mareis / Christof Windgätter (Hg.): Long Lost Friends. Wechselbezie-
hungen zwischen Design-, Medien- und Wissenschaftsforschung, Zürich / Berlin 2013. 18 Parsons: The Philosophy of Design, a.a.O., S. 2, sowie Feige: Design, a.a.O., Einleitung. 19 Vgl. Max Bill: Sicht der Dinge: Die gute Form: Eine Ausstellung 1949, hrsg. v.
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Kunst macht oder nach welchen Kriterien ihre Abgrenzung von Nichtkunst erfolgt, was gleichermaßen auch für eine ›Design-Philosophie‹ relevant erscheint. Als Teilbereich der Ästhetik bekommen wir es im Besonderen mit einer Reflexion auf die Grundlagen der Gestaltung sowie mit Begriffen der Schönheit, der Expressivität, aber auch der Form und ihrer normativen Maxime zu tun, wie sie Max Bill19 und andere mit Blick auf das Verdikt von der »guten Form« formuliert haben.20 Das bedeutet jedoch, dass jede ›Design-Philosophie‹ zugleich Gefahr läuft, sowohl eine ›De-finition‹ und damit Festlegung ihres Gegenstandes vorzunehmen als auch Grundsätze und Modelle ihres Handelns auszusprechen, die nicht nur die Selbstversicherung ihrer Disziplin besorgt, sondern gleichfalls auch ihre ›Disziplinierung‹. Der Zwiespalt kann als Symptom einer anhaltenden Professionalisierung und Verwissenschaftlichung gelesen werden, wie sie spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzte und für die die philosophische Reflexion ebenso einen Rahmen bietet, wie sie – durch Ausbildung interner Kritikformen – dazu neigt, zur Instanz einer impliziten Normierungsleistung zu werden. Wir haben es dann nicht allein mit einem Dilemma der Rede und, im Sinne Adornos, der Differenz zwischen ästhetischer Erscheinung und Gestalt einerseits und Begriff und Idealisierung andererseits zu tun, sondern auch mit der Ambiguität zwischen kritischem Anspruch und gleichzeitiger Indienstnahme, die sistiert, was unter einer adäquaten Gestaltung zu verstehen ist. Keine Philosophie des Designs entkommt – übrigens ähnlich wie die ästhetische Theorie – dieser immanenten Dialektik. Beide erliegen der Versuchung, das jeweils historisch Manifeste ästhetisch zu sanktionieren und damit fortzuschreiben. Man muss diese Tendenz allerdings in die Herkunftsgeschichte des Designs selbst zurückstellen. Entstammt der Ausdruck zum einem dem Französischen dessin, das Anfang des 19. Jahrhunderts als ›Muster‹ und mit dem ›Dessinateur‹ als ›Mustermacher‹ ins Deutsche übertragen wurde, bildet ein zweiter etymologischer Strang die Arts & Crafts-Bewegung des späten 19. Jahrhunderts, die mit William Morris und John Ruskin den Begriff im englischen
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Museum für Gestaltung, Zürich 2014. 20 Siehe auch: Dieter Rams: »Zehn Thesen zum Design«, in: Less and More. The Design Ethos of Dieter Rams, hrsg. v. Klaus Klemp, Berlin 2009, S. 584 – 592. Im Duktus einer Gesetzestafel heißt es darin: »Gutes Design ist innovativ. (…) Gutes Design macht ein Produkt brauchbar. (…) Gutes Design ist ästhetisch« bis hin zu »Gutes Design ist so wenig Design wie möglich.« Als Kriterien des ›Guten‹
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Sprachraum etablierte, von wo aus er erst Mitte des 20. Jahrhunderts seine globale Karriere antrat. Ein dritter und vielleicht historisch bedeutsamster Zweig geht jedoch auf die frühneuzeitliche Kunsttheorie des Designo zurück, die wiederum auf das lateinische Wort ›designare‹ für ›Bezeichnung‹ weist und damit nicht nur die Zeichnung als Entwurfsmedium privilegiert, sondern überhaupt die Kontur oder den ›Umriss‹ epistemisch auszeichnet.21 Das Disegno unterstreicht so das Graphische als Grundelement künstlerischer Gestaltung, wie es mit ›Grundriss‹ und ›Aufriss‹ gleichermaßen für die mit dem Design verschwisterte Architektur maßgeblich erscheint, die einst die Grundlage aller Künste – als ›Grund-Kunst‹ mit einem Komposit aus αρχι- [archi-] für Grund-, Haupt- oder Ursprung- und τέκτων [tékton] oder τέχνη [téchnē] für Meisterschaft und Kunstfertigkeit22 – bildete. Erweist sich über die Reihe ›designare‹ / ›designatio‹ / Design atum (Morris) das Graphische darüber hinaus mit dem Semiotischen verquickt, erscheint es nicht zufällig, dass die Renaissance- Lehren des Disegno in ihr die entscheidende Erkenntnisleistung der Künste bzw. des künstlerischen Sehens erblickten. Insbesondere bezieht die Entwurfszeichnung diesen Status aus dem Umstand, dass nach Giorgio Vasari die Linie als Grundelement der Architektur und Skulptur fungiert,23 wobei das Disegno gleichzeitig das Zeichnen und Bezeichnen wie den Prozess der Gestaltgebung und folglich die eigentliche creatio meint. Erwin Panofsky hat deshalb die an die Linie geknüpfte Form mit der Platonischen ίδεα [idea] in Verbindung gebracht, die die ästhetische Idee im Sinne des είδος [eidos] oder Aussehens allererst realisiert.24 Die Konzeptionen des Disegno bedeuten deren Umschrift: Die Linie ist Zeuge und Medium, sodass letztlich diejenigen Gestaltungspraktiken betont werden, die das Bildliche auf seine graphische Struktur reduzieren, um gleichzeitig das zugrundeliegende intellektuelle Konzept zu enthüllen und damit aisthetisch die Bestimmung von etwas als etwas vornehmen. Der Umriss, die Kontur repräsentieren also ikonisch dasjenige, was philosophisch dem ›Begriff‹ zugeordnet ist, woraus sich, vermittelt über die Disegno-Lehren, eine Hege-
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formuliert Rams: Zweckmäßigkeit, Askese, Innovation. 21 Gerhard Schweppenhäuser: Desig-
ntheorie, Wiesbaden 2016, S. 1. 22 Vgl. dazu Christian Grothaus: Baukunst als unmögliche Möglichkeit, Bielefeld 2014. 23 Giorgio Vasari: Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei , hrsg. v. Alessandro Nova, Berlin 2006. 24 Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 1924,
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monie des Designs herausbildet, die sich als visuelles Äquivalent zu Verfahren diskursiver Argumentation versteht, um derart in Konkurrenz zur logischen Synthesis des philosophischen Urteils zu treten.25 Gleichfalls hatte auch Walter Gropius in seinen Grundsätzen zur Bauhausproduktion von 1926 unterstrichen,26 dass das Design auf diese Weise die Stelle des Gedankens besetzt und so eine intrinsische Beziehung zum ästhetischen Denken unterhält, denn der Gestalter müsse, so Gropius, um erfolgreich zu sein, gleichsam eine phänomenologische ›Wesensforschung‹ betreiben. Wird in jüngster Zeit, vor allem seit Christopher Fraylings Aufsatz Research in Art and Design von 1996,27 das Design und seine Praxis überhaupt als eine genuine Forschungstätigkeit angesehen, bleibt gleichwohl dieselbe Ambivalenz, denn die Zeichnung und das Semiotische arbeiten immer festlegend und wiederholen so die Dialektik der Signifizierung, die das Nichtidentische an Identität knüpft, welche hier über die Form besorgt wird, die determiniert und damit die Objekte im Sinne ihrer Eindeutigkeit ebenso kennzeichnet wie ›de-finiert‹, also buchstäblich ›zu Ende‹ bringt. Sie wirkt darum nicht nur deskriptiv, sondern auch präskriptiv.
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Ursprung in der Semiosis: Form, Signifikanz, Funktion Man erkennt von dieser Seite her einen weiteren Grundzug, wie er gleichfalls der Praxis der ›Zeichnung‹ innewohnt, um im selben Maße mit der Praxis des Designs zu verschmelzen – denn neben dem eigentlichen Umriss oder der Linie als Differenzmarker treten mit den Tätigkeiten des ›Reißens‹ und ›Ziehens‹ ebenfalls die Dispositive des Reißbretts und der ›Skizze‹ hervor, die die Praktiken des Entwurfs spätestens seit dem 16. Jahrhundert – man denke an Albrecht Dürers Underweysung der Messung, mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien, Ebenen unnd gantzen corporen von 152528 – auch
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S. 23 ff. 25 Vgl. auch Dieter Mersch: »Schrift / Bild – Zeichnung / Graph – Linie / Markierung. Bildepisteme und Strukturen des ikonischen ›Als‹«, in: Schriftbildlichkeit. Wahrnehmung,
Materialität und Operativität von Notationen, hrsg. v. Sybille Krämer u.a., Berlin 2012, S. 305 – 328. 26 Walter Gropius: »Bauhaus Dessau – Grundsätze der Bauhausproduktion (1926)«, in: Theorien der Gestaltung, hrsg. v. Volker Fischer u. Anne Hamilton, Frankfurt a. M. 1999, S. 167 – 169. 27 Christopher Frayling: »Research in Art and Design«, in: Mapping Design Research, hrsg. v. Simon Grand u. Wolfgang Jonas, Basel 2012, S. 95 – 107. An Frayling schließt sich ein ausgedehnter Diskurs an, der auch die Designforschung tangiert, etwa: Nigel Cross: Designerly Way of Knowing, London 2006; Claudia Mareis: Design als Wissenskultur: Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen
seit 1960, Bielefeld 2011 sowie Simone Ammon: »Wie Architektur entsteht. Entwerfen als
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technisch sanktionieren. Wir werden dann in Bezug auf das Disegno und dem Design mit zwei unterschiedlichen Operationen konfrontiert: dem Riss oder Umriss als Differenz und Abtrennung einerseits, denn die Kontur bildet keinen Teil einer natürlichen Ordnung – wir sehen, wie auch Umberto Eco unterstrichen hat,29 zwar einen Gegenstand, aber wir sehen nicht dessen umlaufende Linie, vielmehr handelt es sich um eine Abstraktion, vermöge der wir allererst etwas als etwas erkennen. Tatsächlich dient der Umriss als Erkennungszeichen, sodass im Ästhetischen, wie noch bei Immanuel Kant, weniger die Farbe, Colore, als »Reiz« oder »Beiwerk« die wesentliche epistemologische Funktion übernimmt, sondern die Form und die Linie30 – wie gleichermaßen aufschlussreich erscheint, dass George Spencer-Brown seinem Differenzkalkül das »Draw a distinction«,31 abermals mit der Zeichnung als Elementargeste einer Unterscheidung, vorangestellt hat. Andererseits dominiert im Design die Entwurfspraxis, die zwar durch die Zeichnung unterstützt wird, nicht aber in ihr aufgeht: Modernes Design orientiert sich an den Möglichkeiten von Kreativität, die die Erfindung und ihre Produktivität ins Zentrum stellt, nicht so sehr die Erkenntnis. Dennoch tendieren beide, Disegno und Design, dazu, den ästhetischen Akt auf die Form zu zentrieren und damit allein der Zeichensetzung oder Semiosis zuzuschreiben, nicht dem Grund, der Materialität oder Reflexivität. Das unterscheidet sie von Kunst. Dies ist auch der Grund dafür, weshalb sich Designpraktiken seit je auf die Oberfläche der Artefakte kapriziert haben, um sie den Dressuren ihrer Formgebung zu unterwerfen. In seinem kurzen Text über Malerei und Graphik hat demgegenüber Walter Benjamin den »Querschnitt« der Zeichnung vom »Längsschnitt« der Malerei abgegrenzt32 und beiden unterschiedliche räumliche Ordnungen zugewiesen. Denn während die Zeichnung, dessen altgriechischer Ausdruck διαγράφειν [diagraphein] noch die Konnotation mit Schrift beibehält, die Gebärde des Lesens erfordere, stehe das ge-
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epistemische Praxis«, in: Wissenschaft Entwerfen. Vom Forschenden Entwerfen zur Entwurfs35
forschung der Architektur, hrsg. v. Simone Ammon u. Eva-Maria Froschauer, München 2013, S. 336 – 361; Simone Ammon: »Entwerfen. Eine epistemische Praxis«, in:Long
Lost Friends, hrsg. v. Claudia Mareis u. Christof Windgätter, a.a.O., S. 133 – 156. 28 https://de.wikisource.org/wiki/Underweysung_der_Messung,_mit_dem_Zirckel_und_ Richtscheyt,_in_Linien,_Ebenen_unnd_gantzen_corporen (gesehen am 2.1.2019). 29 Umberto Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1991. 30 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Wiesbaden 1957, B 42. 31 George Spencer-Brown: Laws
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malte Bild »senkrecht« vor Augen, um sich ganz der Betrachtung anheimzugeben. Während also die Farbe, die Materialität oder der Grund als Ganzheiten entgegentreten, werden Design und Disegno durch die Lektüre angeleitet, um minutiös studiert oder gedeutet zu werden. Dann folgt das Auge Schritt für Schritt ihren Gestalten, um aus ihnen eine Figur, ein Portrait oder einen Gegenstand zu ersehen – eine Beschreibung, die im ähnlichen Sinne auch Jacques Derrida in Sporen. Die Stile Nietzsches und den Aufzeichnungen eines Blinden vorgeschlagen hat,33 denn wie jede Linie oder Kontur gezogen, d.h. mit Stift, Feder, Pinsel oder Kreide oder den Instrumenten des Rasters und Plans bearbeitet werden muss, verschwindet sie zugleich hinter ihnen, weil im selben Zug das, was der Stilus in der Bedeutung von ›Spitze‹ vollzieht und verdeckt, seiner Performanz nach entgeht, um sich für immer hinter seiner ›Zeichnung‹ auszulöschen. Die Form zwingt also zur Nachträglichkeit und damit zu einer Hermeneutik, die den Dingen immer schon einen sekundären, d.h. auch verspäteten Sinn verleiht. Die knappen Hinweise mögen genügen, um dem Design sowohl im Ästhetischen als auch im Ökonomischen und Philosophischen eine Sonderstellung beizumessen – als einer Semiotik der Gestaltung oder einer Gestaltung als Semiotik.34 Schemenhaft kündet sich damit, trotz allem Willen zur Einebnung, ein weiteres Abgrenzungskriterium zur Kunst an, denn neben das Prinzip einer Reflexivität rückt zur gleichen Zeit das Prinzip des Bruchs, der Resistenz, die der einfachen Semiotisierung oder Hermeneutik ihrer Objekte widersteht. Dagegen zielt das Design auf eine Usurpation der Artefakte durch die Form, die sie stets schon signifiziert und der Möglichkeit einer Identität und Zwecksetzung zugeführt haben wird. Letzteres lässt sich insbesondere aus der Entwicklung ersehen, die das Disegno zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert genommen hat. Denn im Konflikt mit dem Colore, d.h. der Venezianischen Malerei, die vornehmlich von der Singularität der Farbe statt der Form her dachte, sowie den analogen Auseinandersetzungen in der klassi-
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of Form. Gesetze der Form, Lübeck 1997, S. 1. 32 Walter Benjamin: »Malerei und Graphik«, in: ders.: Gesammelte Schriften II,2, Frankfurt a.M. 1977, S. 603 f. 33 Jacques Derrida: »Sporen. Die Stile Nietzsches«, in: Nietzsche aus Frankreich, hrsg. v. Werner Hamacher, Frankfurt a. M. u.a. 1986, S. 129 – 168; ders., Aufzeichnungen eines Blin-
den, München 1997, S. 49 ff. 34 Ähnlich hat Jakob Steinbrenner: »Wann ist Design? Design zwischen Funktion und Kunst«, in: Design & Philosophie. Schnittstellen und Wahl-
verwandtschaften , hrsg. v. Julia-Constance Dissel, Bielefeld 2016, S. 89 – 105, hier S. 94 ff. Design-Dinge vor allem semiotisch interpretiert, denn kein Gegenstand lasse sich
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schen französischen Malerei, namentlich zwischen Nicolas Poussin und Jean-Auguste Ingres, beschreitet die Auszeichnung der Semiosis den konsequenten Weg einer Rationalisierung, an deren vorläufigem Ende das Technische und sein Funktionalismus steht, wie er mit Louis Sullivans Diktum »Form follows function« ganze Generationen von Designern vom Bauhaus bis zur Ulmer, Stuttgarter oder Züricher Schule geprägt hat. Mit ihnen wird die kühle Zweckgebundenheit des Designs universell. Eine sinnvolle Programmierung von Entwurfsprozessen scheint deshalb, trotz aller gegenteiligen Ausrichtung wie dem Antifunktionalismus, dem Kontextualismus oder human-centered-design bis hin zu Ausweitungen der Designpraxis auf ein ›Relational‹ oder ›Social Design‹,35 ohne Rekurs auf Kategorien wie der Verwert- und Verwendbarkeit unmöglich.36 Das gilt schon in Ansehung seiner Herkunft aus der Industrialisierung, die dem Design allererst ihren Auftrag erteilte, denn die Massenproduktion erzeugte Waren als Serie, deren Merkmal die Wiederholung und deren Indifferenz war, ohne die geringste Spur einer Individualität oder handwerklichen Arbeit. Dem Mangel an Differenz entsprang ein Design, das ihnen erneut das Siegel einer Besonderung aufprägte, um das Kunststück zu vollbringen, Wiederholung in Unterschiedenheit und Unterschiedenheit in Wiederholung aufgehen zu lassen. Es ist dieser Abkünftigkeit geschuldet, dass es keine einzige Gestaltung mehr gibt, die nicht zumindest indirekt mit Identität und Zweckgebundenheit einhergeht,37 um auf diese Weise der Autonomie der Künste, der Kantischen »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« zuwiderzulaufen. Designpraktiken generieren vielmehr in erster Linie Entwürfe für Aufgaben, die als Funktionen ihren Projekten von Anbeginn an eingelagert sind, während Kunst Reflexionsprozesse induziert, die immer auch Kunst als Kunst thematisieren, denn die Kunst stelle vornehmlich Fragen, wie Jesse Weaver treffend pointierte, während Designprozesse in erster Linie Antworten erteilen.38 Dabei handelt es sich um eine offene Menge von Lösungen zu vorgegebenen Problemen, die wie fossile Abdrücke sich ihren Formen imprägniert haben; und wenn auch ihre
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per se als ein Design-Objekt auffassen. 35 Vgl. Zu Ansätzen des Social Designs: Lars Bang Larson: »Social Aesthetics«, in: Participation. Documents of Contemoranry Art, hrsg. v. Claire Bishop, Cambridge MA 2006, S. 172 – 183, sowie: Social Design. Gestalten für die
Transformation der Gesellschaft, hrsg. v. Claudia Banz, Bielefeld 2016. 36 Parsons: The Philosophy of Design, a.a.O., S. 21ff. 37 Ebd, S. 85ff. 38 https://medium.com/rewrite/what-is-your-design-philosophy-a32d43985899. (Gesehen am 17.12.2018)
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Problemlösungsansätze nicht immer offensichtlich sind, scheint doch die Abwesenheit des Nutzens, d.h. die Exposition eines Design objekts als reines l’art pour l’art, trotz aller fehlenden Kriterien, unweigerlich in schlechtes oder ›Pseudo‹-Design zu münden. 05
Dialektiken der Macht: Funktionalität versus Symbolisierung Form, Signifikanz und Funktion gehören somit zusammen. Dass dennoch Design, in seiner primären Bezogenheit auf Bedürfnisse, sich nicht vollständig in Funktionalitäten erfüllt, hat allerdings Adorno in seinem Essay über Funktionalismus heute herausgestellt: Der immerwährende ›Streit‹ zwischen Form und Formlosigkeit, Zweck und Zweckfreiheit oder Auftragsgebundenheit und Autonomie sei chronisch nicht zu schlichten. Selbst unterliege er noch der Zeit, denn »(w)as gestern funktional war, kann zum Gegenteil werden«, sodass »(d)ie zweckfreien und zweckgebundenen Künste (…) nicht den radikalen Gegensatz (bilden)«, wie er gewöhnlich kolportiert wird: »Zweckfreies und Zweckhaftes in den Gebilden sind darum nicht absolut voneinander zu trennen, weil sie geschichtlich ineinander waren.«39 Für Designprozesse gilt daher, dass »keine Form (…) gänzlich aus ihrem Zweck geschöpft« sei, wie ebenfalls für keine Kunst reklamiert werden könne, dass sie »unbeirrt« sich »gegen die Herrschaft der Zwecke« wehre.40 Dass beide vielmehr ineinander gehen, dass es folglich keinen reinen Funktionalismus geben kann, erweist sich zu gewissem Grade auch umgekehrt für die Funktionalismuskritik der 1960er und 70er Jahre, gegen die Adorno im ähnlichen Sinne als »kunstfremde() Verkunstung der praktischen Dinge« polemisierte.41 Weder gelinge die restlose Subordination der Gegenstände unter die Kalküle ihrer Nutzbarkeit, denn »(d)as bloß Nützliche (…) ist verflochten mit dem Schuldzusammenhang, Mittel der Verödung der Welt, des Trostlosen,«42 noch gestatte sie eine Befreiung von ihnen. Alles Nützliche sei vielmehr »in der Gesellschaft entstellt, verhext,«43 wie es weiter heißt, wie umgekehrt die pure Nutzlosigkeit sich als schlechten Schein, als Illusion entpuppt. Die Tatsache, dass Designprozesse auf einer Ästhetik der Semiosis aufsitzen, macht sie für diese Dialektik anfällig, weil die Zeichen
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39 Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute«, in: ders., Ohne Leitbild, Frankfurt a. M. 1970, S. 106, 107 passim. 40 Ebd., S. 107, 108 passim. 41 Ebd., S. 107. 42 Ebd., S. 123. 43 Ebd.
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von sich her Relationen abbilden, in die sich unwillkürlich die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre historischen Bedingungen, letztlich der gesamte ökonomische Zusammenhang der industriellen Epoche abgelagert haben, dem das Design seinen Erfolg verdankt. Deshalb ist der Utilitarismus des Designs, trotz aller Kritik, nicht auszurotten. Weil die Welt so ist, d.h. ihre Dinge als Waren behandelt, die dem Diktat der Kapitalisierung eignen, erscheint in ihr alles auf Werte geeicht, die auf rücksichtslose Verwertbarkeit zielen. Die Ubiquität des Ökonomischen weist darum dem Design, trotz – oder gerade wegen – aller ästhetischen Mystifikation die aggressive Rolle einer Produktion von Scheinzusammenhängen zu, die zu nichts anderem nutzen als der Schamlosigkeit des Kommerzes. Ihr Telos lautet: Steuerung des Begehrens. Die Ästhetisierung der Dinge, wie das Design sie rückhaltlos betreibt, will dabei letztlich verführen,44 um sich des Wunsches zu bemächtigen, der die Ordnungen des Tausches an die Ordnungen des Unbewussten rückkoppelt.45 Diese Rückkopplung ist im Kontext von Big Data alternativlos geworden. Karl Marx hat entsprechend nicht gezögert, diesen fatalen Kreislauf als «Fetischismus» zu entlarven.46 Fetischisierung der Ware ist denn auch einer der latenten Aufträge des Designs. Es entfaltet, wo ihr Gestaltungsrahmen uferlos ausgeweitet wird und zum »Weltentwurf« avanciert, sein universelles technisches Regime, dessen Korrelat die Täuschung, das Dissimulacrum darstellt: Versprechen, das sich nicht einlöst. In der Tat fügt die Digitalisierung dem ihr übriges hinzu: Nicht nur wird der Konsument zum »User«, der gar nicht mehr anders kann, als sich den Dingen, als πράγματα [pragmata], durch »Benutzung«, Verwertung und Aneignung zu nähern, sondern die auch zu nichts anderem mehr taugen, als zu Objekten-zum-Gebrauch, die den Pragmatismus unausweichlich machen. Sie erweisen sich als Produkte-zum-Verkauf, zum-Konsum, zur-Vernichtung, zumMüll. Technisches Denken ist ihnen von Anfang an eingelassen, und zwar so, dass sich die Funktionen einerseits verbergen, andererseits durch möglichst einfache Bedienung ›von selbst‹ erschließen sollen, um, buchstäblich, unter jedermanns Hand, ›ver-fügbar‹ zu sein, mithin sich ihrer ›Vernutzung‹ restlos zu fügen. Dass digitale Dinge vorzugsweise black boxes sind, die ihre Technizität
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44 Vance Packard: Die geheimen Verführer, Berlin 1958. 45 Wolfgang Fritz Haug: Kritik der
Warenästhetik, Frankfurt a. M. 1971. 46 Karl Marx: Das Kapital, Frankfurt a. M. u.a.
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maskieren, macht sie fremd und undurchdringlich, beraubt sie ebenso ihrer Materialität wie ihrer substanziellen Tiefe, sodass sie nichts als designbare Oberflächen bilden, mit denen gespielt werden kann und auf denen sich die ganze »Usability« abzeichnet. Ihr Entzug wie ihre Opazität und potenzielle Unverständlichkeit, die mit dem Digitalen als mathematischer Realität einhergeht, entspricht auf der anderen Seite die scheinbare Transparenz jener glatten Ikonizität, die ihre vermeintlich sich selbst beschreibende Handhab- und Beherrschbarkeit widerspiegelt. Doch ist ihr Effekt nichts als eine Ludifizierung, deren Kern ein Designkonstruktivismus darstellt, der den genauen Spiegel zum digitalen Konstruktivismus darstellt. Man hat daraus in den 1980er und 90er Jahren geradezu den umgekehrten Schluss gezogen und den auf Gebrauchsfähigkeit abgerichteten Pragmatismus in eine Kommunikabilität übergehen lassen. Er imprägniert ihnen, wo die Bedeutungen längst technisch abhandengekommen und in Operativität übergegangen sind, erneut einen Sinn. Design zielt dann nicht länger auf Funktion und Verwertbarkeit allein, sondern vor allem auf Vermittlung. Sein Konstruktivismus orientiert sich weniger an den Zwecken, denen er gehorcht, als vielmehr an einer Hermeneutik der Artefakte, die ihnen allererst ihre Verwendbarkeit lehrt. Auf den immanenten Zusammenhang von Form und Bedeutung hatte gleichfalls Adorno in seiner Diskussion des Funktionalismus aufmerksam gemacht, denn »(k)aum eine praktische Form, die nicht, neben ihrer Angemessenheit an den Gebrauch, auch Symbol wäre.«47 Ihr Symbolisches aber mache sie zu Bedeutungsträgern, die den Doppelcharakter des Designs zwischen Entwurf und Verstehen bezeuge. Folgerecht hatten daraus Klaus Krippendorff48 und Bernhard Bürdek49 unter konsequenter Rückführung des Ausdrucks ›Design‹ auf ›designare‹ einen Paradigmenwechsel »from function to meaning« abgeleitet: »Design is making sense (of things)«, wie es im Rahmen von Krippendorffs ›semantic turn‹50 heißt, sodass Design-Praxis und gesellschaftliche Sinnproduktion in eins fallen – ein Konnex, der jedoch nicht minder konstruktivistisch ausfällt, weil er nun-
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1969, S. 50 ff. 47 Adorno: »Funktionalismus heute«, a.a.O., S. 111. 48 Klaus Krippendorff: »On the Essential Contexts of Artifacts or on the Proposition that ›Design Is Making Sense (of Things)‹«, in: Design Issues 5 (1989), S. 9 – 39. 49 Bernhard E. Bürdek: »In the long run everything is design«, in: Bloch-Jahrbuch 2008 – Ernst Bloch und das Bauhaus
gestern und heute, hrsg. v. Francesca Vidal, Mössingen-Talheim 2008, S. 151 – 174. 50
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mehr die Inhalte selber als gestaltbar propagiert und damit ›Design barkeit‹ auf Sinn ausweitet. Dem hat u.a. Vilém Flusser dadurch widersprochen, dass er das ›De-Signum‹ wörtlich als ›Ent-Zeichnung‹ auslegte,51 um von den gestalteten Dingen die spekulative Inskription ihres Symbolischen gerade wieder abzuziehen. Zwar werde den Design-Objekten als ›De-Signata‹ eine eigene ›Sprache‹ zuerdacht, wie sie philosophisch mit einer Ästhetik der »Dingsprachen« im Sinne Benjamins assoziiert werden kann,52 doch muss der Ausdruck ›Sprache‹ hier auf nonverbale Kommunikation bezogen werden, die offenlässt, was sie vermittelt und wie sie wirkt. Ihr Mittel ist vielmehr die Kraft, der Effekt, sodass Design-Praktiken im wesentlichen auf Rhetoriken basieren, wie sie im übrigen seit den 2000er Jahren einen eigenen Design-Forschungszweig begründen, der auf die Analyse bevorzugt emotionaler und persuasiver Wirkungen von Gestaltungen setzt53 – um allerdings von Neuem dort zu landen, wo das klassische Design längst war: dem Versprechen von Sinn als Täuschungsmanöver, als Verführungskunst. ›Kommunikation‹ als Unschuld einer Vermittlung, als einer ›Hermeneutik gestalteter Artefaktualität‹, erweist sich per se als Ideologie. Sie opponiert dem, was Adorno nicht müde wurde, als »Versöhnung« zu geißeln, soweit der Glanz des schönen Scheins, die formale Ästhetik designter Objekte nur dem zuspielt, was die Kritische Theorie, besonders mit Bezug auf die sogenannten ›angewandten Künste‹, samt und sonders als gesellschaftlichen »Unrat« und »Mißlingen von Kultur« aufspießte.54
Totalisierungen des Designs Seit mindestens zwei Dezennien kommt es jedoch zu einer ganz anderen Konstellation, denn »Design«, so Peter Sloterdijk, »liefert das technische Zeug zur Macht für Menschen (…)«.55 Sein Begriff und Anspruch totalisieren sich unter dem Eindruck technischer Machbarkeiten, wie sie mit dem mathematisch getriebenen Digitalismus grenzenlos geworden sind. Seither sind Existenzen ›virtuell‹ geworden, d.h. zu verrechenbaren Möglichkeitsräumen, die sich
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Klaus Krippendorf: The Semantic Turn. A New Foundation for Design, New York 2006. 51 Vilém Flusser: Der Stand der Dinge, Göttingen, 1993, S. 9. 52 Walter Benjamin: »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: ders.: Gesammelte Schriften, II.1, Frankfurt a.M. 1974, S. 140 – 157, hier S. 140 f. 53 Design als Rhetorik, Grundlagen,
Positionen, Fallstudien, hrsg. v. Gesche Joost u. Arne Scheuerman, Basel 2008. 54 Theodor W. Adorno: Metaphysik, Frankfurt a. M. 1998, S. 185 f., S. 199 ff. 55 Peter
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beliebig verändern, transformieren oder umschreiben lassen, einzig beschränkt durch das Gesetz der Konsistenz, denn mathematisch gesehen, existiert alles das, was sich widerspruchsfrei konstruieren lässt. Die gegenwärtig beispiellose Karriere des Design-Begriffs – vom ›intelligent design‹ über Genom-Designing bis zum NanoDesign von Stoffen im atomaren Bereich, vom Körper-Shaping über die Gestaltung des Klimas, ganzer Lebensweisen bis hin zu den Beziehungen der Menschen untereinander, ihrer fragilen Sozialität – geht darauf ebenso zurück wie ihre philosophische Verhandlung und zeugt von einer gewaltigen Explosion technischer Hybris.56 Daran zu erinnern ist zumal in einer Welt unerlässlich, die sich nicht nur, wie es einst Karl Kraus ausdrückte, »im Labyrinth der Ökonomie verirrt« hat,57 sondern gleichermaßen auch in den Abgründigkeiten einer akzelerierenden Technologie, die sich, buchstäblich, auf einem Abweg, einer Abdrift zu befinden scheint. In ihrem Kontext wandelt sich Design zu ›Designing‹, insbesondere verstanden als Verbum, als unabschließbare Dynamik, die sich fortschreibt, beschleunigt und weiter an Fahrt gewinnt, um auf alle möglichen Bereiche auszugreifen und sie applikabel zu machen: Events, Stadtlandschaften, Computer-Programme, Infotainment, Charaktereigenschaften, Ambients, Virtual Reality, Smart Things oder auch Netzwerke, komplette politische Systeme oder Robotiken in extraterristischen Environments und ähnliches. Desgni ng von allem und jedem bedeutet aber in erster Linie eine vollständige Modellierung der Wirklichkeit. Sie mündet in Virtualisierung. Bruno Latour hat diese gleichwohl dem klassischen Konstruktivismus entgegengehalten und eine innere Bescheidenheit bescheinigt, soweit sie nicht nur schaffe oder erfinde, sondern vor allem verschiebe und umgestalte. »Als Konzept impliziert Design Demut, die dem Wort ›Konstruktion‹ oder ›Bauen‹ abzugehen scheint. (…) In Design steckt nichts Grundlegendes,« heißt es in seinem Essay Ein vorsichtiger Prometheus?, der eine kurze Philosophie des Designs mit Widmung an Sloterdijk entwirft58. Dabei nennt Latour fünf Leitsätze, die diese These unterstreichen sollen, denn Designing sei erstens fundiert in einer »post-prometheischen 05
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Sloterdijk: Der Welt über die Straße helfen. Designstudien im Anschluss an eine philosophische
Überlegung, München 2010, S. 17 u. 7 f. 56 Vgl. auch Anke Haarman: »Zu einer kritischen Theorie des Designs«, in: Design und Philosophie, hrsg. v. Julia-Constance Dissel, a.a.O., S. 75 – 88, hier beS. S. 85 ff. 57 Karl Kraus: »In dieser großen Zeit«, in: ders.: Weltgericht Bd. 1, Frankfurt a.M. 1988, S. 9 – 24, hier S. 13. 58 Bruno Latour:
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Handlungstheorie«,59 womit er das Eingestehen einer Machtlosigkeit meint, zum zweiten wohne ihr eine Aufmerksamkeit fürs Detail inne, die eine Revision ohne Prinzipien fördere, welche zugleich einer Dialektik von Konstruktion und Destruktion gehorcht. Statt herzustellen und sich so dem Kreis von ποίησις [poiēsis] und τέχνη [technē] anzuschließen, vollzöge Designing lediglich eine vorläufige Modifikation – ein »Umschaffen« statt »Erschaffen«, wie es Nelson Goodman ausgedrückt hätte.60 Damit verbindet sich drittens ein Prozess, der nie bei Null anfange, sondern »designen heißt immer redesignen«, wie Latour weiter schreibt: »Design ist nie Schöpfung aus dem Nichts«.61 Das bedeute auch, dass das »Design (…) das Gegengift gegen Grundlegung, Kolonisierung, Errichtung oder Bruch mit der Vergangenheit (ist). Es ist ein Gegengift gegen Hybris und die Suche nach absoluter Gewissheit, ein Gegenmittel gegen radikale Abschiede und absolute Neuanfänge«62 und damit nie avantgardistisch – contre cœur jener Attitüde von Avantgardismus, mit der sich Design heute allenthalben präsentiert. Viertens versehe Designing nach Latour, entgegen unserer vorangegangenen Diagnose, Oberflächen mit Bedeutungen, verleihe ihnen also eine symbolische Note und biete sich für Interpretationen an, die flexibel bleiben, um im nächsten Moment wieder abgeschafft, überschreiben oder verändert zu werden. Sie ordne auf diese Weise ihre Objekte und Prozesse einer Sprache der Zeichen unter, die gerade ohne Dogmatisierung und Machtanspruch begreiflich machte: »Es ist offenkundig, dass die Digitalisierung viel dazu beigetragen hat, die Semiotik bis ins Zentrum der Objektivität auszuweiten (…). (D)ie Hermeneutik ist tiefer und tiefer in die Definition der Materialität eingedrungen«, setzt der genannte Aufsatz fort63 – abermals in genauer Umkehrung jener Verhältnisse, die wir als ›Virtualisierung‹ aufgewiesen haben. Schließlich folge daraus fünftens, dass das Design wesentlich an der Symbolisierung der Welt mitarbeite und deshalb immer mit Wertigkeit, mit der Unterscheidung von gutem und schlechtem Design versehen sei, die in ihre Produkte ein ethisches Moment instauriere: »Etwas zu designen (…) erlaubt uns, nicht nur die semiotische Frage nach der Bedeutung, sondern ebenso die normative Frage nach der Qualität des Designs zu stel-
»Ein vorsichtiger Prometheus? Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk«, in: Die Vermessung des Ungeheuren, hrsg. v. Marc Jongen u.a., München 2009, S. 357 – 374, hier S. 359. 59 Ebd. 60
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len (…). Die Ausweitung des Designs auf die innere Begriffsbestimmung der Dinge bringt nicht nur (…) Hermeneutik mit sich, sondern auch Moral. Genauer: Es ist, als würden Materialität und Moralität miteinander verschmelzen.«64 Latour verkennt allerdings, dass die auf Oberflächen verzeichneten Symbolisierungen lediglich äußerlich bleiben, wie eine Lackschicht, die Qualität vorgaukelt, wo nur Effekt ist. Die Eigenschaften des ›Designings‹ als virtual Modeling setzt folglich die Möglichkeit der Manipulation absolut. Die aufgezählten fünf Punkte bergen deshalb auch keine Rücknahme des Konstruktivismus und seines Willens zur Macht, sondern gerade dessen Ventilierung und Absolutsetzung insbesondere dann, wenn man ihn auf Abstraktion, auf Morphing-Verfahren, auf das Hacken biologischer Information oder die formale Gestaltung mittels Daten-Prozessierung anwendet. ›Designing‹ als Algorithmik, als freies, immaterielles Morphing erweist sich dann als ›Spiel‹ des Mathematischen, das einzig in Syntax verankert ist und dessen Formeln dort ihre Unerbittlichkeit besitzen, wo sie nicht anders können als den Schemata von Regeln zu folgen. Das bedeutet gleichzeitig, dass das Credo eines ungebremsten Designings Anteil hat am Phantasma der Moderne, die Welt, das Universum mathematisch zu kopieren und sie im selben Moment beliebig transponierbar, variierbar und regierbar zu machen. Zwar konstatiert Latour an einer Stelle, dass »mehr und mehr Elemente in unserer Umgebung nicht nur metaphorisch, sondern buchstäblich in mathematischen (oder zumindest Computer-) Begriffen geschrieben«65 seien und verrät damit seine eigenen Absichten, doch liegt gerade darin der äußerste Punkt jener Herrschaftlichkeit, wie sie der Umschrift des Realen in mathematische Termini innewohnt – denn nicht vergessen werden darf, dass der Formalismus des Mathematischen erstens apriorisch verfährt, zweitens jenseits von Zeit operiert und drittens als reine Syntax jedem Symbolismus immer schon zuvorkommt. Er handelt aus diesem Grunde außerhalb des Empirischen, in Differenz zum Gewicht der Welt sowie ohne Wahrheit und Grenze wie auch ohne die Bedingung einer Existenz, die bekanntlich im Mathematischen nichts anderes besagt als ihre Konstruierbarkeit mittels konsistenter Modelle. 05
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Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1990, S. 19. 61 Latour: »Ein vorsichtiger Prometheus?«, a.a.O., S. 362. 62 Ebd., S. 363. 63 Ebd., S. 361. 64 Ebd., S. 370, 363 passim. 65 Ebd., S. 361.
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Deshalb behandelt ein der Mathematik entsprungenes Design ing, wie es allgegenwärtig geworden ist, die Wirklichkeit als ein frei arrangierbares Ensemble aus lauter abstrakten Elementen, die innerhalb prätendierter Grammatiken unbeschränkt wählbar erscheinen. Sein Immaterialismus ist sein Inhumanismus, der die Utopie grenzenloser Freiheit und Unabhängigkeit, wie sie zwischen den 1980er und 2000er Jahren gefeiert wurde, restlos ausgebrannt und umgekehrt hat. Es ist die Ermächtigungsphantasie des »Digitalismus«, die das Designing nicht nur ermöglicht, sondern weit über sich hinausgetragen und in eine gewaltsame Maschine verwandelt hat, die keinen Teil der Erde unberührt lässt.
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Designing und seine Grenzen Die intrinsische Machtförmigkeit digitalen Designings ist indessen weder Sloterdijk entgangen noch Designtheoretikern wie Otl Aicher66 oder Friedrich von Borries,67 die daraus gerade den umgekehrten Schluss gezogen haben, nämlich als aktives Gebot zum Entwurf. Alle drei konzipieren die Entwurfspraxis als ubiquitären Akt menschlicher »Weltaneignung«, den sie transzendental-anthro pologisch fundieren und der, einmal ergriffen, in Emanzipation übergeht. »(M)an kann die welt verstehen als entwurf. Als entwurf, das heißt als produkt einer zivilisation, als eine von menschen gemachte und organisierte welt«, schreibt etwa Aicher in seiner Anleitung Welt als Entwurf mit beinahe hymnischer Verve. Und weiter: »die welt, in der wir leben, ist die von uns gemachte welt (…). entwürfe machen autonom. (…) im entwerfen kommt der mensch zu sich selbst. (…) der entwurf ist das erzeugen von welt. (…) im entwurf nimmt der mensch seine eigene entwicklung in die hand. entwicklung ist beim menschen (…) selbstentwicklung.«68 Es geht folglich ums Machen und nichts als das Machen, um die Selbstverwirklichung im Tun, in der Produktion, die fast noch einmal das Bild des homo faber heraufbeschwört, der vom Arbeiter zum Designer aufgestiegen ist, um die Virulenz beständigen Entwerfens und Projektierens weiterzutreiben und als Freiheit zu realisieren – ganz so wie die Konzepte der Ecotechnie die Folgen menschlicher Eingriffe in die Natur durch explizite Technologie aufzufangen und zu kompensieren trachten. Zwar sei Entwerfen ohne Ethik unmöglich,
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66 Otl Aicher: Die Welt als Entwurf, Berlin 1981. 67 Friedrich von Borries: Weltentwerfen, Berlin 2016. 68 Aicher: Die Welt als Entwurf, a.a.O., S. 195, S. 196. 69 Ebd., S. 67. Wäh-
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wie auch Aicher konstatiert, sodass der Designer gleichzeitig ein Moralist sein müsse, um seiner Aufgabe gerecht zu werden,69 doch bleibt hinzuzufügen, dass wir mit einem unverhohlenen Humanismus konfrontiert sind, der sich inmitten des Seins stellt und anmaßt, es gestaltend zuzurichten und technisch zu überformen. Entwurf, als fundamentum in humanum, als Totalität, ist notwendig an die Bedingungen des technischen Aprioris und seiner Destruktivität geknüpft, denn Aichers Litanei klingt wie eine Diktion, die die vita activa dem Designer oder der Designerin ins Stammbuch geschrieben hat, um sie zu einer ebenso rückhaltlosen wie rücksichtslosen Welteroberung durch Weltgestaltung aufzurufen. Gleichzeitig atmen die Texte die Emphase eines politischen Schlachtrufs, der noch einmal versucht, das Pathos der Aufklärung heraufzubeschwören. Aus diesem Grunde hat Friedrich von Borries im Anschluss an Kant aus demselben Stoff das Programm einer neuen Design-Mündigkeit abgeleitet, abgefasst in knappen wittgensteinschen Sentenzen: »Entwerfen ist der Ausgang des Menschen aus der Unterworfenheit. (…) Wenn wir entwerfen, befreien wir uns.«70 Ferner: »Welt ist Gegenstand und Ergebnis von Design.« »Die Welt zu entwerfen ist eine moralische Verpflichtung«.71 Design wird dann folgerichtig zu Designing und Designing zu einer politisch-kritischen Praxis,72 die allerdings demselben Souveränitätsphantasma erliegt wie die gescheiterten Visionen eines »designing for a better world«, wie sie z.B. das Utrechter Manifest lancierte, um aus einer Totalisierung des Ästhetischen neue Utopien des Lebens zu schöpfen.73 Sie können gar nicht anders als gleichzeitig auch neue Unfreiheiten zu gebären, denn es gibt weder einen Bezug auf Verzicht, auf einen Sinn für Nicht-Gestaltung, noch für Nichtgestaltbares oder dem, was nicht gestaltet werden soll: »Design ist eine Leitdisziplin der Zukunft.«74 Einspruch lässt sich demgegenüber ebenso von Adorno wie vom späten Heidegger her formulieren. Ersterer hat die fatalen Folgen
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rend es ausgearbeitete Ethik-Codices für Journalistik, Ingenieurswissenschaften oder Medizin u.ä. gibt, bleibt ein philosophisch fundierter Diskurs zu den ethischen Grundlagen des Designs und seiner gesellschaftlichen Verantwortlichkeit stiefmütterlich. Exemplarische Ausnahmen bilden: Allen Fideli: »Ethics, Aesthetics, and Design«, in: Design Issue 10 (1994), S. 49-68; sowie Ethik und Moral in Kommunikation und Gestaltung, hrsg. v. Christian Bauer u.a. 2015. Der Mangel an ethischer Fundierung entspringt der traditionellen Dichotomie von Ethik und Ästhetik. 70 Borries: Weltentwerfen, a.a.O., S. 11, 13 passim. 71 Ebd., S. 119, 121 passim. 72 Ebd., S. 9. 73 Vgl. Design for the Good Society, Utrecht
Manifest 2005 – 2015, hrsg. v. Max Bruinsma u.a., Rotterdam 2015. 74 Borries: Welt-
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jedes konkreten Utopismus dekuvriert, letzterer die latente Gewaltsamkeit technologischer Entwürfe. Es ist jedoch bezeichnend, dass nicht wenige Design- und Medien-Theoretiker, darunter auch von Borries, sich wiederholt auf Heidegger berufen75 und den Entwurfsbegriff aus Sein und Zeit 76 zur Grundlegung einer generellen Theorie des Designings heranziehen, so jedoch, dass sie ihn entweder anthropologisch-humanistisch missdeuten und den Menschen überhaupt als ›Projekteur‹ auffassen, oder aber existenzialistisch, mit einem Vorblick auf die Jean-Paul Sartresche Freiheitsphilosophie und damit der Praxis des Entwurfs einen einseitig intentionalistischen Anstrich geben. Zwar verleiht auch Heidegger dem Entwurf in Sein und Zeit eine fundamental-existenziale Dimension, doch bleibt diese immer an »Geworfenheit« als passivem Grund zurückgebunden.77 Entwerfen, als Existenzial, erweist sich insofern als äquivalent mit einer Hermeneutik, die Verstehen aus einem schon Verstandenen heraus entwickelt, sodass es »nichts zu tun (hat) mit einem Sichverhalten zu einem ausgedachten Plan (…), sondern als Dasein hat es sich je schon entworfen und ist, solange es ist, entwerfend. Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es ist, aus Möglichkeiten.«78 Dieser ganz andere Entwurfsbegriff, der sich kaum mit den Träumereien von Designpraktikern versöhnen lässt, wird in Heideggers Spätphilosophie, zumal in den Beiträgen zur Philosophie aus den späten 1930er Jahren, noch einmal radikalisiert, indem das passivische Moment der Geworfenheit zugespitzt und vorangestellt wird, wobei jetzt Begriffe wie »Anklang«, »Zuspiel«, »Ereignis« oder »Sprung« wesentlich werden, worin sich jede mögliche Projektion erst einordnet.79 Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass das Heideggersche Entwurfsdenken nirgends ästhetisch enggeführt werden darf, sondern ›seinsgeschichtlich‹ oder sogar ›geschicklich‹ argumentiert, denn die Öff-
entwerfen, a.a.O., S. 135, 136. 75 Vgl. Ebd., S. 11f., auch: Anm. 5. Ferner: Hyun Kang Kim: »Vom Dasein zum Design«, in: Design und Philosophie, hrsg. v. Julia-Constance Dissel, a.a.O., S. 57 – 73; die Beiträge in: Suchen, Entwerfen, Stiften. Randgänge
zum Entwurfsdenken Martin Heideggers , hrsg. v. David Espinet u. Toni Hildebrandt, Paderborn 2014; sowie Siegfried Zielinski: Entwerfen und Entbergen. Aspekte einer 35
Genealogie der Projektion, Köln 2010. 76 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1972, S. 142 ff., S. 260 ff. 77 »Der Entwurf ist die existenziale Seinsverfassung des Spielraums des faktischen Seinkönnens. Und als Geworfenes ist das Dasein in die Seinsart des Entwerfens geworfen.« Ebd., S. 145. 78 Ebd., S. 145 passim. Siehe auch: Günter Figal: »Seinkönnen der Welt. Zur Phänomenologie des Entwerfens«, in: Suchen, Entwer-
fen, Stiften, hrsg. v. David Espinet u. Toni Hildebrandt, a.a.O., S. 21 – 30. 79 Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt a.M. 1989, S. 56, S. 227
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nung der »Wahrheit des Seyns« bedeutet in erster Linie ein Entwurf als »Sprung«, wie es in den Beiträgen heißt:80 »Der Sprung ist der Vollzug des Entwurfs (…) dergestalt, daß der Werfer des Entwurfs als Geworfener sich erfährt, d.h. ereignet durch das Seyn.«81 Das bedeutet auch, dass sich Entwürfe nur als »Antworten« auf die »Zurufe« des Seyns ereignen, die ihnen vorausgehen, sodass dem Charakter der Passivität sowie der Tatsache, dass es keinen souveränen oder ›genuinen‹ Entwurf geben kann, der nicht schon im Kontext einer Gabe erfolgt, eine eigene Note erteilt wird. Entwurf bezeichnet dann nichts anders als eine Offenbarung, die nicht irgendein Entwerfer, sowenig wie eine Künstlerin, ein Mystiker oder eine Designerin vermag, vielmehr sei er als solcher weder zu erklären noch zu vollbringen oder zu schaffen: »Der Entwurf des Seyns kann nur vom Seyn selbst geworfen werden (…)«.82 Was, so könnte man fragen, widerspricht darin den homo deusAllüren eines Weltdesigns,83 das nicht umhin kann, sich mit technischen Allmachtsphantasien aufzuladen? Mit Heidegger kann deutlich gemacht werden, dass Entwerfen keine Tätigkeit ist, vielmehr ein »Nicht-gemachte(s) und -machbare(s)«.84 Es bleibt, mit Jean-Luc Nancy zu sprechen, ein »Désœuvrément«, das die ›Entwerkung‹ und damit den Entzug jeden Werkes bereits voraussetzt.85 So wird nicht nur die Frage der ursprünglichen Imaginationskraft als Quelle des Designentwurfs zurückgewiesen, sondern vor allem die Entwurfspraxis verallgemeinert und als wechselseitige Bindung (religio) konzipiert, die deutlich macht, dass sie nicht mit der Aktivität einer Gestaltung, mit Design und Designing verwechselt werden darf, d.h. auch nie ›Werk‹ im Sinne des ποιέιν [poiein], des Machens und Erzeugens ist, niemals auch Technik, nicht einmal im Sinne eigentlicher τέχνη [technē]. Sondern das Entwerfen ist ›Ent-Wurf‹ im wörtlichen Sinne, d.h. Zurückhaltung im Wurf, mit einem Wort: Ereignis, dem Katrin Busch in ihrer Philosophie des Designs das tragende Element einer radikalen ›Passibilität‹ zugewiesen hat.86 05
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ff., S. 304 f., S. 446ff. 80 Ebd., S. 230. 81 Ebd., S. 239. 82 Ebd., S. 447. 83 Zum 35 Homo Deus vgl. Yuval N. Harari: Homo Deus, München 2015. 84 Heidegger: Beiträge zur
Philosophie, a.a.O., S. 449. 85 Jean-Luc Nancy: »Mit-Sinn«, in: ›Mit-Sein‹, hrsg. v. Eike Bippus u.a., Zürich 2010, S. 21 – 32; Jean-Luc Nancy: Die verleugnete Gemein-
schaft, Berlin/Zürich 2016. 86 Kathrin Busch: »Ästhetiken radikalisierter Passivität«, in: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie 3 (2017), hrsg. v. Michael Mayer u. Dieter Mersch, S. 51-79.
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Die neue Aufgabe des Designs wird folglich nicht mehr darin bestimmt werden können, einen ontologischen Kitt bereitzustellen für einen technologischen Riss durch unsere Menschenwelt.
Prof. Dr. phil. Martin Gessmann lehrt Kultur- und Techniktheorie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main. Forschungsschwerpunkte: Künstliche Intelligenz und Design; Gedächtnis und Philosophie; Philosophie und Fußball. Publikationen (zus. mit Hannah Monyer): Das geniale
Gedächtnis, Knaus 2015, Die Zukunft der Hermeneutik, Fink 2012, Mit Nietzsche im Stadion, Fink 2014.
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Design Theorie war lange Zeit eine akademisch eher vernachlässigte Disziplin, manche meinen auch etwas verwildert – schien dort doch Platz für eher eigenartige Kulturkritiken oder rasante Technikutopien – und methodisch ungekämmt, ein echtes Hinterhofkind, wenn man so will – hatten es die Beiträge doch meistens eher ins Journalistische geschafft, wenn nicht gleich in die Hochglanzprospekte von Firmenpostillen. Der seriöse Auftritt im Seminar-Grau von angesehenen Sammelbänden blieb ihnen jedenfalls verwehrt. In dieser Hinsicht hat sich in den vergangenen Jahren schon einmal Entscheidendes verändert. Einige Forscher – nicht zuletzt die Herausgeber dieses Sammelbandes – haben sich große Mühe gegeben, neue Standards zu setzen und belastbare Diskussionsstränge zu initiieren. Es schien oft so, als schaffte es die Design-Theorie nicht wirklich, einen Fuß auf den Boden der akademischen Tatsachen zu bringen. Zu engagiert gerierten sich die Beiträge oder auch bewusst gleichgültig gegenüber den Gepflogenheiten einer gut eingespielten Diskussionskultur. Zuweilen mag es auch an der dazu nötigen Vorbildung der Beiträger gelegen haben, insofern sie ursprünglich aus künstlerisch-gestalterischen Milieus kommen, nicht aber groß geworden sind in den geisteswissenschaftlichen Hörsälen. Demgegenüber werden jetzt dankbarerweise und endlich die klassischen Fundamente gelegt: Grundlegende Definitionen und Zuordnungen werden getroffen in der Art eines ›Dies ist das‹, beispielsweise in Sachen Werkverständnis und Handlungstheorie, wie es Daniel Martin Feige soeben vorbildlich herausgestellt hat.2 Damit werden zugleich laufende Diskussionen eingebettet in Generaldebatten, die unsere (noch vermeintlich neuen) Sachverhalte 05
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1 Um zu vermeiden, dass der Titel Anlass geben könnte, dem Autor irgendeine Form von Überheblichkeit zu unterstellen: es handelt sich um die Abwandlung eines Zitats, das zurückgeht auf eine Äußerung Bertrand Russells gegenüber der Schwester Ludwig Wittgensteins (Hermine) bei einem Besuch in Cambridge im Jahr 1912: »We expect the next big step in philosophy to be taken by your brother« (Hermine Wittgenstein: Familienerinnerungen, Innsbruck 2015, S. 108). Der nächste große Schritt in der Designtheorie ist ebenso sehr zu erwarten und zu erwünschen – ob er mit den nachfolgenden Ausführungen eventuell schon eingeleitet wird oder wer ihn am Ende ausführen sollte, darf wie in den erwähnten Zusammenhängen offenbleiben. 2 Daniel M. Feige: Design: Eine philosophische Analyse,
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schon seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden verhandeln. Auch das ist eine Maßnahme, die zuerst einmal verhindert, dass einmal erreichte Standards der Problembeschreibung gleich wieder brüchig erscheinen. Daran anschließend können Kernkonzepte konfiguriert werden: so etwa die Begrifflichkeiten um die ›Einbildungskraft‹, die man als eine Keimzelle des Design-Gedankens überhaupt ansehen muss – und an der es dementsprechend konsequent weiterzudenken gilt. Florian Arnold hat dies mit dem hochpolierten Rüstzeug der hermeneutischen Begriffsgeschichte vorbildlich abgespiegelt und gedanklich grundlegend neu geordnet.3 Ebenso konsequent werden jetzt die medialen und disziplinären Rahmenbedingungen angegangen. Oliver Ruf hat in dieser Hinsicht das abendländische ›Storytelling‹ zur Rahmenerzählung modernen Selbstverständnisses von Design gemacht. Man muss eben erst einmal verstehen, dass das Formen in Gestalten zuletzt eine Formung von Geschichten ist, und das Storytelling von Homer bis Lyotard, also von epischer, großer Erzählung bis zu ihrer postmodern (immer noch feierlichen) Verabschiedung, im Design nur auf eigenartig offenbare Weise sichtbar wird. Mit aller nötigen Sorgfalt und Akribie wird hierbei die Pointe vorbereitet, dass das Schweigen der gestalteten Gegenstände in Wahrheit ein sehr beredtes ist, und die Kunst-Mythen reiner Kontemplation und Wahrheitsfindung grundsätzlich geerdet werden durch ihre (Wieder-)Einbettung in lebensweltliche Zusammenhänge. Design rückt so auf in die Riege jener Kunstformen, von denen schon Erwin Panowski meinte4, dass sie als letzte neben dem Film noch in der Lage sind, eine Zeit zu prägen, umfassend und nachhaltig.5
Ein nächster Schritt in Sachen Design-Theorie steht jetzt folgerichtig auf der Agenda. Es muss uns darum gehen, die Methodologie anzuschärfen, oder grundsätzlicher formuliert, sie überhaupt erst einmal auf den neuestens Stand zu bringen. Was die Breitenwirkung betrifft, gibt es – ganz erstaunlicherweise – immer noch das alteingesessene Adorno-Feuilleton, das auch heute noch gerne
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Berlin 2018. 3 Florian Arnold: Logik des Entwerfens. Eine designphilosophische Grundlegung, Paderborn 2018. Siehe auch ders.: Philosophie für Designer, Stuttgart 2016. 4 Erwin Panowski: Stil und Medium im Film & Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers, Frankfurt a. M. 1999, S. 22. Panowski nennt »Architektur«, »Karikatur« und »Gebrauchsgraphik«: neben ihnen erscheint der Film als »einzige bildende Kunst, die wirklich lebt«. 5 Oliver Ruf: Storytelling für Designer, Stuttgart 2018.
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altkritische Nachkömmlinge als schneidige Newcomer feiert. In diesem Sinne darf man es als erstaunlich ansehen, wie etwa ByungChul Han6 von einschlägiger Seite hochgelobt wird mit seiner Unterstellung, ein universell gewordenes Apple Design würde unsere Alltags-Dinge allesamt hüllenlos und damit vollkommen nackt machen bis hin zu ihrer bloßen Existenz – und man darf zuletzt raunen und durchhören: wie einst der Nationalsozialismus die Insassen von Auschwitz (eine These, die im Schulterschluss etwa mit Giorgio Agambens Konzept homo sacer gelesen werden darf, als eine Art Ausweitung zu einem (wie der geschundene Heiland) entblößten Designs vieler res sacrae). Aber auch der akademische Diskurs navigiert immer noch mit altem Kompass. Die Klage ist wohlfeil, sicher: wie immer kommt Akademia zu spät, die Forschungsbetriebe sind wie die Supertanker, insofern sie immer noch meilenweit weiterfahren, nachdem die Motoren längst abgestellt wurden. Wegen der technikkritischen Untertöne wäre im vorliegenden Fall vielleicht besser von Großseglern zu sprechen, die nun einfach entschlossen gegen den Wind kreuzen. Wenn man solche Manöver weiterverfolgt, ist schon von weitem klar ersichtlich: Gallionsfigur bleibt Marx, Nietzsche im Mastkorb, Heidegger am Steuer.
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I. Warum es nicht mehr ausreicht, kritisch zu sein Marx immer noch vorne dran: in dieser Hinsicht zieht sich eine Linie von den ersten bis zu den letzten 68’ern. Diese Linie ist versehen mit Lerneffekten, die grundsätzlich gesehen gegen Null gehen. Christian Demands kürzlich erschienene Designkolumne zum Thema »Theoriemüdigkeit« lässt daran – se invito – keinen Zweifel aufkommen, gerade dann nicht, wenn er Gert Selles Im Haus der Dinge in höchsten Kritikertönen lobt. Selle habe sich über die Jahrzehnte hinweg weiter entwickelt: es ginge ihm heute nicht mehr um »wohlfeile Entlarvungsgesten«7, durch die sich das Design endlich als die Kunstmagd des Kapitals zu erkennen gebe, sondern darum, den »Mechanismen der ästhetischen Sozialisation‹ in ihrer ganzen Komplexität und Rätselhaftigkeit« nachzuspüren. Die einstige Ideologiekritik werde durch umfängliches Beschreiben ersetzt,
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6 Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. 2015, S. 1 ff. 7 Christian Demand: »Theoriemüdigkeit«, in: Merkur, 1. Juni 2017, S. 57 – 65, hier S. 64. Online verfügbar:https://www.merkur-zeitschrift.de/2017/06/01/theoriemuedigkeit-design
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oder wie es im Untertitel in Selles Haus der Dinge heißt, durch den »Versuch einer phänomenologischen Orientierung«. In Wahrheit handelt es sich dabei jedoch nicht um einen Methodenwechsel, sondern bestenfalls um ein Rückzugsgefecht. Schon die Popkultur der Postmoderne hatte sich gestalterisch konsequent das Gegenteil von dem auf die Fahnen geschrieben, was die Adornitische Kunstkritik einstmals bewirken wollte: nicht mehr erscheint Kunst im Alltag als elitär-anarchischer Einspruch zur festgestellten Durchverwaltung und Durchkapitalisierung der Gesellschaft; sondern umgekehrt, erst recht in Form des Designs, als allgegenwärtige Bestätigung eines postmodernen Lebensgefühls. Die »Ästhetisierung der Lebenswelt«, wie sie Rüdiger Bubner in den 1980er Jahren schließlich als solche auf den Begriff brachte, ist in ihrem gewollt knalligen Auftreten an sich schon eine herausgestreckte Zunge für alle kritische Theorie.8 Erst recht wird es schwierig, an der Losung von echter Kunst als dem letzten »Wahren im Falschen« festzuhalten, wenn sich in den Nuller- und Zehnerjahren des gegenwärtigen Jahrhunderts eine neue ästhetische Sachlage ausbildet. Aus kritischer Sicht folgt nun nämlich auf eine postmoderne Gestaltung ein Umschwung, und zwar weg von aller ostentativen Veräußerlichung und hin zu einer konsequenten Verinnerlichung des Designs. Wie schon angesprochen, gibt es zwar immer noch Adornitische Hoch-Artisten ihres Fachs wie etwa der eben genannte Byung-Chul Han, die jene Verlagerung von Gestaltung von außen nach innen weiter als eine Art Letztmaßnahme des Warenfetischismus deuten. Minimalismus und Reduktion in der Gestaltung der Geräte-Hüllen gilt dann als der pornografische Versuch, diese ganz fallen zu lassen. Was beim ersten Draufsehen als nüchtern und sachlich, in weitestem Sinne bauhausisch oder braun-designerisch daherkommt, wird dann, entgegen solcher Anmutung und belehrt durch eine kulturkritische Nacharbeit, als Gipfel erotischer Aufladung verkauft.
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kolumne/ 8 Das hat die Soziologie inzwischen erkannt und dementsprechend reagiert. Andreas Reckwitzens Plädoyer für die Einsicht in die Kapitalisierung von »Kreativität« sowie zum 35
»Strukturwandel der Moderne« im Hervorbringen von »Singularitäten« trägt dem Rechnung, ungefähr mit einem Jahrzehnt Verspätung gegenüber dem Auftreten des Phänomens. (vgl. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität: Zum Prozess gesellschaftlicher
Ästhetisierung, Berlin 2012; ders., Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017). Während in der linksrheinischen Philosophie etwa Luc Boltanski und Ève Chiapello schon sehr ähnlich argumentieren – Kunst als kritischer Agent gegen das Kapital erscheinen wie der Bock im Gewande des Gärtners – tut man sich rechts-
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Wer solcher Umdeutung und Reizrhetorik nicht mehr Glauben schenken mag, hat gute Gründe auf seiner Seite. Denn auch noch beim zweiten Blick erscheinen die vorgebrachten Einwände an der Warenästhetik nicht mehr nachvollziehbar. Man müsste dazu die angesprochene Gestaltung etwa von Apple-Handys nämlich weiterhin als eine Maßnahme der Verhübschung und Aufreizung ansehen, eine solche immer noch, die zuletzt auf einen Mehrverkauf und Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz zielt. Alle vergleichbaren Mobile-Phone auf demselben Preisniveau sehen aber inzwischen genau gleich aus, ein designmäßiges Hervortun erscheint schon deshalb ausgeschlossen. Es gilt dementsprechend sich der Tatsache zu stellen, dass die äußere Gestaltung der fraglichen Gerätschaften nichts mehr mit einem Anfachen von Begierden und einer nachfolgenden Fetischisierung zu tun hat. Zu sehr sind diese Produkte inzwischen in unserem Alltag integriert und darin verankert, zu umfangreich sind unsere sachlichen Bedürfnisse in ihr unauffälliges Funktionieren eingebunden. Mit dem Handy gibt heute niemand mehr an, jeder hat eins, und jeder benutzt es von morgens bis abends, mehr oder weniger ununterbrochen. Von Luxus und Glamour, von einer Flucht ins Exotische oder dem prolligen Wunsch, unbedingt aufzufallen, keine Spur. Der Digitalisierung sei zuletzt Dank, wenn man diese vorläufig als eine Möglichkeit auffasst, sich mit allem und jedem lebenspraktisch zu vernetzen. Zu den fraglichen Hintergründen wird in den nächsten Abschnitten gleich noch mehr beizutragen sein. Kurz zusammengefasst: Im Zuge einer Ästhetisierung der Lebenswelt fiel es schon schwer, mit der Verkehrung der Kritikverhältnisse noch zurecht zu kommen – erschienen doch die Verhältnisse nichts weniger als paradox. Im Zusammenhang mit einer fortschreitenden Digitalisierung muss man sich eingestehen, dass die ein05
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rheinisch dahingehend noch schwer. Die Schulmacht der kritischen Theorie tut das Ihrige dazu, gerade dann, wenn sie versucht, den neueren französischen Kritikern und Kritikerinnen Gehör zu verschaffen und zugleich dabei für sich doch noch einmal zu vereinnahmen. Vgl. Dirk Setton: Unvermögen: Die Potentialität der praktischen Vernunft, Zürich 2012; vgl. zuletzt: Thomas Khurana / Dirk Quadflieg / Francesca Raimondi / Juliane Rebentisch / Dirk Setton (Hg.): Negativität: Kunst, Recht, Politik, Berlin 2018. Von phänomenologischer Seite rollt Gernot Böhme die Diskussion historisch umfassend, aber weniger politisch motiviert und auch weniger kulturkritisch auf. Die gegenwärtige Prominenz eines ästhetischen Kapitalismus ist demnach nur der Endpunkt eines menschlichen Ur-Strebens nach Luxus, das bereits über Veblen, Sombart, Bataille und Baudrillard in verschiedenen akademischen und kunsttheoretischen Facetten anmoderiert wurde. Vgl. Gernot Böhme: Ästhetischer Kapi-
talismus, Berlin 2016.
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schlägige Kulturkritik der 68’er gar nicht mehr verfängt. Sie hat keine Grundlage mehr. Design ist nicht mehr dazu da, Produkte aus dem Alltag verführerisch herausstechen, sondern sie sachlich darin aufzugehen zu lassen, am besten beinahe unbemerkt. Konsumenten sollen dementsprechend nicht mehr erotisiert, sondern grundsätzlich ernüchtert werden und damit fähig gemacht, ihre Angelegenheiten möglichst problemlos zu bewältigen. Aus diesem Umstand resultiert zuletzt auch jene neue »Komplexität und Rätselhaftigkeit« einer »ästhetischen Sozialisation«, von der Demand im Anschluss an Selle spricht. Rätselhaft muss jene neue Qualität ästhetischer Eingewöhnung auch bleiben, wenn deren zugrundeliegenden »Mechanismen« eben ganz andere geworden sind – andere jedenfalls als eine simple Konditionierung von Stimulus und Response, d.h. aufreizendem Design und damit verbundenem, unwiderstehlichem Kaufimpuls.
II. Warum es nicht mehr ausreicht, dekonstruktiv vorzugehen Nietzsche im Mastkorb: Es mag seinerzeit als eine Befreiung erschienen sein, als die Dekonstruktion schließlich auch akademisch ansetzte, die vorherrschende Kulturkritik abzulösen. Das war zu Anfang der 1980er Jahre: Dauermisstrauen und die Flucht in ästhetische Anarchie wichen einer wohlwollend liberalen Gutgläubigkeit und einem entschiedenen Hang zum Spielerischen. Dies geschah zumindest in Zusammenhängen, die einer aufkommenden Popkultur und dem, was man im Rückblick postmodernes Design nennen sollte, entgegenkommen wollten. Die akademische Hochkultur blieb methodisch zurückhaltender und zog sich für zwei Jahrzehnte ins Begriffliche zurück. Das schien auch deshalb sicher, weil man das lustvolle Spiel mit verborgenen Bedeutungen zur Not noch als eine Form von Kritik ansehen konnte. Das Nicht-ernst-Nehmen von eingespielten Begrifflichkeiten konnte schließlich unterdrückten Randphänomenen Raum geben – Dekonstruktion also verstanden als Einspruch gegen die Sieger-Geschichtsschreibung der klassischen Gelehrsamkeit. Die Befreiung hatte jedoch einen methodischen Preis: bei aller gewollten Opposition zur bisherigen Kritik wurde in der Art und Weise des Vorgehens noch gar nichts anders gemacht, im Grunde wurden nur die Akzente neu, bestenfalls umgekehrt gesetzt. Dasselbe Schema der Argumentation wurde nur in entgegengesetzter
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Richtung ausformuliert. Legt man den Sachverhalt auf den Röntgentisch der Philosophiegeschichte, ist das nicht sehr verwunderlich. Nietzsche, auf den man sich jetzt – vor allem linksrheinisch – durch die Philosophenbank hindurch gerne berief, erschien auch nur eine weitere Artikulation am selben Grundgerüst zu sein, an dem auch schon Marxens Kapitalismuskritik aufgehängt war. Man ging gedanklich also ein weiteres Mal ins 19. Jahrhundert zurück und rechnete mit folgender Ausgangssituation. Die Welt scheint seit dem Beginn des Industriezeitalters eigenartig mobilisiert. Eine unbändige Kraft schien alles und jedes zu durchdringen, in der romantisch und zugleich naturwissenschaftlich gestimmten Vorstellung der Zeit dachte man wortwörtlich an eine ›Lebenskraft‹, eine ›vis vitalis‹. Der daraus sich ergebende Vitalismus rechnete mit einer Dynamisierung aller Lebensverhältnisse, die sich zuletzt aus der Spannung zweier Pole ergibt. Auf der einen Seite wird mit einem Ausbund an Zerstörungskraft gerechnet, in den früher oder später alles Bestehende eingesogen wird. »Alles Ständische und Stehende verdampft«, wie Marx es sagt. Uralte metaphysische Konzepte werden in dem Zusammenhang weiter bemüht, meistens eklektisch: Goethes Anrufung des Dämonischen, einem faustischen Geist, der ständig verneint, Schopenhauers dunkler Weltwille, Schellings späte Feier von Ekstase und Weltmystik. In irgendeiner Form stößt man dabei immer auf neuplatonische Wurzeln. Geschichtskonzepte sind im Spiel, die grundsätzlich mit einer Sattelzeit und anschließender Beschleunigung rechnen, all das ist gut bekannt. Auf der anderen Seite wird dem Pol der Zerstörung ein Quell andauernder Schöpfung entgegengestellt. Hierbei macht sich die Lebenskraft positiv bemerkbar. Wo immer im schwarzen Loch einer metaphysisch-willentlichen Zerstörung eine Welt eingesogen wird, entstehen demgegenüber neue Lichtgestalten praktisch wie aus dem Nichts. Eine Art industrieller Manichäismus wird geboren, in den hinein so ziemlich alle Ideologien und Leitvorstellungen der Zeit hineingepasst werden können. Darwins Evolutionslehre ebenso wie Marxens Kapitalismuskritik, die Umdeutung der Unternehmensgründer zu einer Art Religionsstifter, die Feier des Erfinderstolzes, die Vergöttlichung des Kunstschaffens überhaupt und vieles dergleichen mehr. 05
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Im Laufe der 1980er Jahre geschieht nun nichts anderes, als dass eine Wende vollzogen wird, wie sie eben auch schon Nietzsche gegenüber seinen Vorgängern eingeläutet hatte. Wo Marx vor allem auf das Werk universaler Zerstörung schaute, das am Ende kapitalistischer Durchdringung aller Gesellschaftsformen uns erwartet, spielt Nietzsche die Karte andauernder und universeller Erneuerung aus. Die eigentliche Genialität der Postmoderne besteht zuletzt darin, dass sie auf neue und sehr evidente Verbindungpunkte beiderlei Herangehensweisen gestoßen ist. Zuletzt ist es das Verdienst von Peter Sloterdijk, auf diese Punkte den philosophischen Finger gelegt zu haben. Und sein Verdienst ist es auch, das Design als eben jenen Punkt einer möglichen Berührung herausgearbeitet zu haben. Dabei gilt es wiederum, von einer ganz bestimmten – und angemessen erneuerten – Stellenbesetzung im Spannungsfeld der genannten Kreativpole auszugehen. Design ist jetzt nicht mehr der vorgeschobene Posten kapitalistischer Ausbeutung, Lock- und Verführungsmittel, um die letzten vitalen Reserven des modernen Individuums zu mobilisieren und zu verbrauchen. Design ist nicht mehr der künstlerisch getarnte Agent, der auskundschaftet, was ökonomisch noch alles geht. Vielmehr erscheint Design ganz umgekehrt gedacht als ein Schutzmittel gegen eine Überforderung des Einzelnen, und zwar eine solche, die ihm die nötige Energie und zuletzt auch das Selbstbewusstsein raubt, um im bürgerlichen Alltag noch mit den Dingen zurecht zu kommen. Wie aber ist jene Umdeutung und Wende in der Bewertung um 180 Grad möglich? Einfach dadurch, dass die von Sloterdijk so genannte ›Vertikalspannung‹ zwischen den vorgenannten Weltpolen (noch aus industriemodernen Zeiten) neu interpretiert wird. An der Stelle des lebensverneinenden und zerstörenden Endes unserer Kultur steht nun nicht mehr ein abgründiger Gott des Mammons mitsamt seinem Universal-Lösungsmittel Kapital. In einer Zeit zunehmend gelingender Verbürgerlichung und der dauerhaft erscheinender Etablierung sozialer Marktwirtschaft wäre das gegen die Evidenz argumentiert. Wer den nahenden Untergang des Kapitalismus behauptet, müsste inzwischen die Parolen der RAF und anderer Militanter tatsächlich ernst nehmen. Das verneinende Element im neuen Kosmos etablierter Bürgerlichkeit muss dementsprechend weniger offenbar erscheinen und 05
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damit zugleich hintergründiger und auch raffinierter agierend. Als Kandidat kommt eine Überforderung in Frage, die mit der besseren sozialen Ausstattung schleichend daherkommt – quasi im Rücken des kritischen Fingerzeigs auf die nicht mehr so drückende Ausbeutung durch Arbeit. Jene Überforderung ist demnach schon an das neue Wohlergehen gekoppelt und erscheint als dessen ironische Gegenrechnung. Sie entsteht durch eine Ausstattung des Alltags mit technischen Geräten, die der Nutzer nicht mehr durchschauen kann, weil sie fast alle zu komplex geworden sind. Im Rückblick erscheint mit der technischen Großtat der Mondlandung 1969 die Zäsur im öffentlichen Bewusstsein endgültig gemacht, dass neueste Technik zu Übermenschlichem fähig ist. Und die Pointe besteht darin, dass selbst in ihrer positiven Aneignung und Nutzung der zu zahlende Preis erheblich ist: folgt doch ein Verlust an Souveränität im Umgang mit den Gerätschaften, wenn diese viel zu komplex werden, als dass sie ein Laie noch durchschauen und damit im letzten Ende noch beherrschen könnte. Wenn – gefühlt – am Ende auch noch die Bratpfanne zur Mondrakete wird, gibt es nichts mehr, woran man sich mit Hilfe des Bordverstands eines Alltagskundigen noch bewähren könnte. Denselben Sachverhalt geistesgeschichtlich angegangen, ist die neue Volte ebenso konsequent nachzuvollziehen. Das 20. Jahrhundert hatte in seiner ersten Hälfte noch eher tastende Versuche unternommen, den wahren Agenten modernen Weltverderbens weiter zu bestimmen. Die beiden Weltkriege machten deutlich, dass die Gemengelage sehr viel komplexer sein musste, als dass der einsilbige und immer gleiche Verweis auf das Kapital noch überzeugt, auch und gerade weil die kommunistisch agi(t)erende Linksintelligenz von Lenin bis Trotzki die entscheidende Lösung oder auch nur Losung offenbar verfehlt hatte. Verschwörungstheorien machten die Runde, von Max Weber bis Heidegger, ein intakter religiöser Gemeinschaftsgeist sei durch säkulare Kräfte entweiht und instrumentalisiert worden. Ebenso Selbstverschwörungstheorien, wie sie zuletzt in Horkheimer und Adornos These von der Dialektik der Aufklärung gipfelte: ein fataler geistiger Twist wendet die Aufklärung gegen sich selbst und bringt das tyrannische Element aller Vernunftansätze zur Herrschaft. Einig war man sich auf beiden Seiten schließlich darin, dass die Schrumpfform einer einstmals hochzuschätzenden Vernunft nun in der Gestalt von instrumentellem
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Denken und der daran angeschlossenen Technisierung der Welt auszumachen sei. Den letzten vorbereitenden Schritt in unseren Zusammenhängen macht schließlich die frühe Nachkriegskultur der 1950er Jahre. Die Restmetaphysik in der Annahme singulär zerstörerischer Agenten wird aufgehoben. Anstatt Dem Kapital, Der Verwaltung oder Der Technik setzt man nüchterner bei Strukturen, Verfahren und Systemen an. Die aufkommende Computerkultur hat dabei zur Evidenzbildung beitragen. Wo schnöde Lochstreifen und simple Magnetbänder zu Steuereinheiten werden, ist nur noch schwer vorstellbar, dass irgendwo im Numinosen ein böser Geist an unheilvollen Fäden zieht. Den Schlusspunkt in der strukturellen Umdeutung alter Verhängnisse wird von Arnold Gehlen gesetzt. Er fasst das Wirken von Kapital, instrumentellem Denken und seiner Umsetzung und Wirtschaft und Gesellschaft unter dem Titel einer neuen »Superstruktur«9 zusammen. Wenn man so will, ist eine solche, zur anonymen Institution gewordene Superstruktur der legitime Nachfolger aller geistigen Supermänner, die es von Nietzsche ausgehend bis in die Popkultur der 1930er und 40er Jahre geschafft haben. Wie stellt es das Design aber konkret an, von heute auf morgen vom verführerischen Gesicht eines hässlichen Kapitalismus zum freundlichen Antlitz menschlicher Autonomie zu werden? Sloterdijk entwickelt dazu das Konzept eines »Make-up für Maschinen«.10 Design macht es demnach möglich, hochkomplizierte Technik handhabbar zu machen. Es dient nicht nur dazu, Gerätschaften mit technischem Innenleben äußerlich ansprechend zu gestalten, sondern auch noch dazu, sie bedienbar zu machen, selbst vom Laien. Komplexe Technik wird heruntergebrochen so weit und so lange, bis die Funktionen, die es im Alltag menschlicher Bedürfnisse erfüllen soll, zugänglich und überschaubar werden. Kein durchschnittlich gebildeter Mensch konnte schon in den 1990er Jahren mehr einen Fernseher reparieren oder gar einen Computer, und auch kein Auto mehr. Insofern alle solche Produkte Bedienfelder haben, kann man dennoch problemlos damit umgehen. Design wirkt systemisch als eine Art Reduktion von Komplexität, und eine 05
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9 Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in den indus-
triellen Gesellschaften, Reinbek 1957, S. 10. 10 Peter Sloterdijk: Der ästhetische Imperativ, Hamburg 2007, S. 149. 11 Vgl. Hans Blumenberg: »Dies ist in Wirklichkeit nur jenes«, in:
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solche Reduktion wird als menschenfreundlicher Akt gedeutet. Design ist also ein »Make-up«, insofern es den Dingen überhaupt wieder ein Gesicht gibt, in dem sich menschliche Bedürfnisse und Ansinnen spiegeln können. Einmal mehr bekommt das Design damit Agentenstatus. Nicht mehr ist es aber dazu da, in unsere Lebenswelt einzudringen und dabei unsere schwachen Stellen auszuloten. Es späht nicht aus, was wir in unserem Alltag noch alles begehren könnten – um dementsprechend Unnötiges anzubieten und damit Profit zu machen. Design erscheint jetzt eher als ein Abgesandter menschlicherseits. Im Kosmos einer technischen Sphäre, die sich mehr und mehr unserer Einsicht und unserem humanen Zugriff entzieht, schafft es noch einmal neue Zugänge. Es kundschaftet dazu das Herrschaftswissen der Technik aus und verrät uns die Stellen, an denen wir immer noch in der Lage sind, den Finger in das richtige (Bedien)-Loch zu bekommen. Design geht es so gesehen darum, eine Klaviatur herzustellen, auf der wir noch spielen können, selbst wenn die Dinge anscheinend nur noch ihr eigenes Ding machen. Hans Blumenberg hatte eine derartige Vereinfachung zum Grundzug modernen Philosophierens gemacht, durchaus viziös, wie er meinte, aber eben auch effektiv. Frei nach Freud handelt es sich um einen gelungenen Akt der theoretischen Selbsttäuschung, den man als radikale Eleganz verkaufen kann, auch wenn es sich im Grunde nur einen plumpen Betrug an Raffinesse und Besonderheit des Objekts handelt.11
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Aufs Ganze der Kulturentwicklung gemünzt sind demnach die Designer heute mit dem betraut, was früher noch der Künstler leisten musste: der fortschreitenden Entmenschlichung entgegenzutreten durch kühne Akte und Werke der Sinnstiftung. So wie es noch im 19. Jahrhundert der Kunst darum zu tun war, romantisch gestimmte Verzauberungen selbst noch von Industrielandschaften anzubieten, so ist nun das Design dazu gemacht, die Alltagstechnik in einem freundlicheren Licht zu präsentieren. Dem Sog einer fortschreitenden »Kränkung«12 durch Maschinen, wie Sloterdijk die Lage psycho-politisch zuspitzt, wird wenigstens vorläufig noch etwas entgegengehalten: der Schein einer Souveränität im Umgang
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ders.: Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfurt a. M. 2000, S. 37 – 48. 12 Peter Sloterdijk: »Kränkung durch Maschinen. Zur Epochenbedeutung der neusten Medizintechnologie«, in: ders.: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt a. M. 2001, S. 338 – 366.
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mit den Dingen. Objektiv gesehen ist solche Souveränität zwar unwiederbringlich verloren, subjektiv kann sie aber noch einmal kunstvoll reinszeniert werden. Design wird so zum Illusionismus des Spätkapitalismus. 05
Beinahe unnötig zu sagen, dass es uns heute kaum mehr vergönnt ist, in derartig fröhlicher Melancholie zu schwelgen. Schon an den Hüllen der Dinge lässt sich das ablesen. Wo bei Sloterdijk noch Schalter und Hebel, Knöpfe und Regler hervorstehen, an die wir uns halten können, sind die Oberflächen glatt geworden. Und auch kommen wir schon wieder über den Punkt hinaus, dass auf den glatten Oberflächen, den screens, einfach nur Reproduktionen der alten Schalter und Knöpfe auftauchen. Beyond screen heißt bekanntlich das Stichwort, auf das Versuche hören, eine Gerätebedienung nur noch durch Gesten oder Wortbefehle möglich zu machen. Und wem das immer noch zu old school-mäßig erscheint, der muss sich mit dem Gedanken anfreunden, dass die ganze bisherige Interface-Architektur im Verschwinden begriffen ist. Es wird also keine einfachen Befehlsketten mehr geben, in denen wir mit einer Eingabe starten und das Gerät simpel antwortet mit einer ihr entsprechenden Folgeleistung. Gerätschaften werden vorausplanend tätig, sie werden uns längst schon Angebote machen und Optionspfade bahnen, noch bevor wir uns überlegt oder gar entschieden haben, etwas Bestimmtes zu wollen. Wie heute schon präsent bei jeder Suchanfrage auf Wissens- oder Kaufportalen, werden sich auch die analogen Utensilien künftig voreilig und vorausschauend in Stellung bringen. Und je mehr ein solches Deep Learning Fortschritte macht, umso unwahrscheinlicher wird es, dass wir auch künftig weiterhin mit dem bislang noch selbstverständlich (inszenierten) Gefälle von Mensch und Maschine rechnen – erst recht dann nicht mehr, wenn es dabei nicht mehr nur um einfache Bedienungsfolgen geht, sondern um Fragen der Souveränität in der Gestaltung operativer Abläufe.
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Je mehr man in der angezeigten Richtung weiterdenkt und die technischen Entwicklungen weiterverfolgt, kommt man schließlich zu der Einsicht, dass die ganze Vorstellung von Interface im Sinne der Gesichtsbildung heute schon veraltet ist. Wir befinden uns in Wahrheit nicht mehr im Spiegelstadium einer Sozialisation 35
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mit der Technik. Es kommt nicht mehr darauf an, den Dingen ein menschliches Antlitz zu geben und Oberflächen zur Reflexion menschlicher Narzissmen zu nutzen. Wer sich die neuesten Entwürfe etwa im Automobilbereich vornimmt, wird bemerken, dass die ganze Antlitz-Metaphorik der Frontpartien von Autos im Schwin den ist, sobald das autonome Fahren einigermaßen spruchreif wird. Das neueste Modell von Volvo im Schwerlastverkehr kommt beispielsweise schon ganz ohne Führerhaus aus, und dementsprechend wird auch die Front wie selbstverständlich nicht mehr als eine expressive Stellvertretung und Verdoppelung der Lenkergestalt verstanden.13 Autos verlieren nicht nur ihren bösen Blick, sie kommen künftig überhaupt ohne die übliche Anthropomorphisierung aus. Frei nach Sloterdijk braucht es nicht mehr das designte Doppelgesicht, das uns schmeichelt und die Technik souverän in Schach hält. Wir haben es mit einem Gesichtsverlust zu tun, der zuletzt andeutet, dass wir uns in ganz grundsätzlichem Sinne auf einer neuen Ebene der Verständigung mit der Gerätewelt befinden. Wie es Bruno Latour schon vor 20 Jahren vorhergesehen hat, müssen wir uns dem Gedanken stellen, dass die klassischen Subjekt-Objekt-Verhältnisse abgelöst werden durch intersubjektive Beziehungen. Auf die üblichen Äußerlichkeiten im Design wird es immer weniger ankommen. Es fragt sich nicht mehr, welche imposanten Apparate und Utensilien man kommandiert und wie man damit Konkurrenten oder auch nur ambitionierte Nachbarn auf Distanz hält. Wichtig wird werden, bei allem Einsatz gestalteter Technik, ob und wie man miteinander kooperiert, und dies in ganz grundsätzlichem Sinne. Nochmals kurz auf dem Beispielfeld Automobil und Verkehr umgeschaut: überantworten wir die Souveränität am Steuer einem Autopiloten, können wir die Lichthupe getrost ausbauen, man kann sogar so weit gehen und nachfragen, ob es noch extra Überholspuren geben muss. Worum wir uns kümmern müssen, gestalterisch, ist dagegen der Sektor des Verkehrswesens und Transportierens im Ganzen. An anderer Stelle habe ich dafür geworben, in diesem Zusammenhang gezielt nach politischen Lösungen zu suchen. Wir brauchen in Bälde schon eine prinzipielle Übereinkunft dahingehend, wie wir miteinander umgehen wollen: ob wir uns etwa zu einer strikten
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13 Vgl. http://www.spiegel.de/fotostrecke/iaa-nutzfahrzeuge-das-sind-die-neuen-lkwund-busse-fotostrecke-163773.html (abgerufen am 18.09.2018); http://www.spiegel. de/auto/aktuell/iaa-nutzfahrzeuge-daimler-und-co-machen-lkw-fahrer-ueberfluessig-
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Gleichverteilung von Ressourcen und Ausstattungen im Automobilbereich entschließen, einem Art Verkehrswege-Kommunismus – darin würde zuletzt kein einzelner bevorzugt in Fragen des Voranund Ankommens; oder aber zu einem Verkehrs-Liberalismus, in dem wir auch weiterhin gerne Unterschiede machen und Verkehrswege verschiedener Geschwindigkeiten gutheißen; oder selbstverständlich, Mischformen zwischen derartigen Extremen. Es braucht, diese Gedankenlinie zu Ende gedacht, eine Art Gesellschaftsvertrag für die Straße. Und anschließend daran auch eine politische Theorie, die für unsere neue Lage im Design technisierter Umwelten für dringend benötigte Abstimmungen sorgt.14
III. Warum es nicht mehr ausreicht, hermeneutisch vorzugehen Heidegger am Steuer: Schon die Gallionsfigur Marx bekam ihre Schramme ab in dem postmodernen Drift der 1980er Jahre, und wie eben anmoderiert oder auch schon nachvollzogen, schauen die Nachfolger Nietzsches mit dem Jahrtausendwechsel entschlossen in die falsche Richtung – von Prophetie ist längst keine Spur mehr. Eine ganze Metaphysik der Schaumbildung ist vergangen, sie konnte sich schon in der äußerlichen Krisenstimmung der Nullerjahre nicht mehr behaupten. Erst recht ist die Illusion zerplatzt, die von einer Erleichterung menschlichen Daseins durch resolutes Wegschauen ausging – wenn es um die Dinge des technischen Fortschritts ging. Design als Maßnahme der Romantik hat sich überholt, wenn damit die bloße Maskierung immer komplexer werdender Verhältnisse gemeint ist. Denn irgendwann ist der Punkt erreicht – und wie wir gesehen haben, sind wir heute schon darüber hinaus –, dass der Technik sehr viel mehr zugetraut werden kann und inzwischen auch noch die letzten Domänen unserer Autonomie im Lenken und Anleiten der Dinge in Frage gestellt werden. So hilflos wie rührend erscheinen in dem Zusammenhang Versuche mancher konservativer Medien, uns einzureden, solche Rede sei immer noch ein Produkt von Science Fiction, und man müsse sich im Grunde keine weiteren Gedanken machen, irgendwie gehe es ja doch immer weiter in genau demselben Trott, den wir schon so lange kennen. Niklas Maak ließ sich – vielleicht auch mit Blick auf
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a-1223184.html (abgerufen am 19.09.2018). 14 Vgl. Martin Gessmann: »Philosophie in Bewegung« (15.03.2018) in: HOHE LUFT (online-Ausgabe am 15.03.2018) Magazin / Kategorie: Aktuell / Gesellschaft / Wissenschaft: https://www.hoheluft-magazin.de/2018/
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eine alternde Leserschaft, der solche Beruhigung (vermeintlich) gut gefällt – dazu hinreißen, in der FAZ nachzufragen, ob wir nicht schon einmal hochfliegenden Mobilisierungsträumen nachhingen, solchen, die später niemals und nimmer Realität werden sollten. Er denkt dabei an die Visionen atomgetriebener Autos in den 1950er Jahren.15
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Beinahe schon unnötig festzustellen, dass auch die traditionelle Opposition zur postmodernen Fröhlichkeit heute verstockt reagiert und auch konzeptionell nicht mehr recht weiterweiß. Man glaubte in der frühen Nachkriegszeit der 1950er Jahre, es wäre in unserem Designdiskurs etwas gewonnen, wenn man von den vormals hohen Tönen herunterkommt und also nicht mehr beim Eindrehen jeder zweiten Schraube zugleich über den Untergang des Abendlandes nachdenken muss. Die HfG Ulm schrieb sich dergestalt auf die Fahnen, die ideologischen Großkämpfe des frühen 20. Jahrhunderts hinter sich zu lassen und sich auf das nüchterne Fortgestalten der Funktionen zu konzentrieren. Es sollte die äußere Gestaltung konsequent zurückgefahren werden auf das, was die innere Anlage an möglicher Handhabung hergibt. Ein Feuerlöscher ist jetzt schön, wenn er funktioniert. Neuerungen im Design folgen so schrittweise den Erweiterungen in der zugrundeliegenden Technik. In der Folge ergibt sich dann das Bild einer gewissen Kontinuität der Entwürfe. Insofern die Sprünge der Technik überschaubar bleiben, weichen auch die Neuerungen vom Jüngst-Vergangenen nicht mehr radikal ab. Design rechnet nicht mehr – wie noch in den Pionierzeit der 1920er und 1930er Jahre – mit spektakulären Brüchen – Brüchen jedenfalls, die groß genug sind, um aus der Technik sogleich eine Welt- und Kunstform im Sinne der Neuen Sachlichkeit zu machen. Man orientiert sich gestalterisch zurück und hinein in das überschaubare Umfeld eines beherrschbaren Alltags, von der Monumentaltechnik der Vorgängerjahrzehnte mitsamt ihren künstlerischen und kriegerischen Auswüchsen will man nichts mehr wissen. Aufnehmen will man dagegen den Faden einer humanistischen Ausdeutung der Dinge, wie sie schon im 19. Jahrhundert im Vertrauen auf eine Urkontinuität aller abendländisch-menschlichen Kultur angesetzt wurde. Unter dem Stichwort eines erneuerten Klassizis-
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03/philosophie-in-bewegung/ 15 Niklas Maak: »Schöner als die Nike von Samothrake«, aktualisiert am 07.08.2018, w.faz.net/aktuell/feuilleton/autodesign-im-20-jahrhundert-die-
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mus lassen sich derart Brücken bis in die Gegenwart schlagen. Zumindest dann, wenn man das Programm einer möglichst durchdachten Reduktion auf das Wesentliche der Dinge als vorbildlich ansieht. Es geht zuletzt darum, dasjenige Wesen am Gegenstand erneut zum Vorschein zu bringen, das sozusagen ›immer schon‹ zum Kern seiner (funktionalen) Bestimmung zählte, auch wenn es im Verlauf seiner Gestaltungsgeschichte in vielfältiger Abwandlung jeweils ›klassisch‹ erscheint.16 Design schließt sich derart dem Nachkriegsprogramm eines ›Klassiker-Auslegens‹ an, das schließlich auch zum Credo einer Erneuerung der Geisteswissenschaften in Deutschland wurde – auch diese hatten ja, zeitgeschichtlich argumentiert, noch mit der Verwaltung eines schwierigen Erbes der Nazi-Zeit mehr als genug zu tun. Eine rechtsrheinische Besonderheit stellt so gesehen die zugehörige Methodologie dar, wie sie in der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers schließlich auf den philosophischen Punkt gebracht wird. Während man auf französischer Seite das Nietzsche-Erbe weitgehend unbelastet übernehmen konnte – und auch kunstkritisch weiter ausgestaltete, ging es auf bundesdeutscher Seite nur noch darum, den dazugehörigen Gestus des Bürgerschrecks möglichst weit von sich zu weisen. Eine dementsprechend betriebene Verbürgerlichung zeigte sich dann besonders in dem Versuch, Gestaltung von vornherein als eine Art Museumskultur anzulegen. Es sollte nicht mehr der Eindruck erweckt werden, wir stürzten mit jeder Werkschau ins Bodenlose neuer und ungekannter Welten (so konnte es etwa Roland Barthes mit seiner Feier der Citroen DS17 anmoderieren); umgekehrt mussten die Neuerungen schon (vorläufig) ihren Platz in (grundsätzlich mitgedachten) Ausstellungen finden, die zugleich auch noch ihre ganze Vorgeschichte mit ins Spiel brachten und mehr oder weniger bewusst anzitierten. Bis heute hat sich jener Duktus durchgehalten, wenn etwa Porsche den jeweils neuesten 911er gerne vor Schwarz-weiß-Fotos der frühen 1960er Jahre präsentiert, oder Mercedes eine Gesichtsschau seiner Limousinen wie in einem Daumenkino ablaufen lässt18. Ohne Kontinuität und
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hochrenaissance-15725261.html 16 Vgl. René Spitz: A5 / 06: HfG Ulm: Concise History of
the Ulm School of Design, Zürich 2014. 17 Roland Barthes: »Der neue Citroën«, in: ders.: Mythen des Alltags, Berlin 2010, S. 196 – 198. 18 Vgl. etwa (abgerufen jeweils am 04.10.2018): https://newsroom.porsche.com/de/produkte/porsche-einmillionste911-produktionsjubilaeum-sieben-generationen-13732.html, https://blog.mercedesbenz-passion.com/2012/04/60-jahre-sl-historie-von-generation-zu-generation-der-
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Fortschreibung darf es nicht vorangehen, die Designgeschichte ist ein Geländer, an dem man sich bundesdeutsch und später gesamtdeutsch entlang bewegen muss. Erfolg muss sich grundsätzlich auf Klassiker berufen können. Zeitlose Urbilder stehen im Hintergrund, so deutlich, dass sie als Grundidee bei jeder neuen Ausgestaltung wenigstens durchscheinen können müssen – was auch immer man als eine solche dann ansetzen will. Auch rhetorisch kennen wir das Prozedere solcher Alleinstellungsgesten: VW: Das Auto; DFB-Fußball: Die Mannschaft; etc. Aufs Ganze gesehen, erscheinen die Nachkriegs-Ansätze einander weit näher zu sein, als es alle Versuche der bisherigen Abgrenzung wahrhaben wollten, und dies ganz besonders im heutigen Rückblick: erscheinen sie doch allesamt und gleichermaßen ohnmächtig, die laufenden Entwicklungen im Design noch sinnvoll weiter zu deuten. Die Hermeneutik brachte gegenüber der Dekonstruktion im Grunde nur etwas Familiäres und Altgewohntes in den Diskurs. Ein besonderes Design erschien jetzt nicht mehr als eine Einzelmaßnahme, einer drohenden Überforderung des Menschen etwas entgegenzustellen. Es war nicht mehr die singuläre, apotropäische Geste, mit deren Hilfe man noch dem Dämon der Technik abwehren konnte – und sei es, wie es Sloterdijk fasste, auch nur noch verstanden als Notbehelf eines äußerlichen Make-ups von Maschinen. Produkte tauchten im Verbund auf, im Stile einer Modellfamilie, eines Marken-Brandings, das mit dem Logo begann und mit der Durchgestaltung der Kernelemente endete. Weil die Entwicklungen im Automobilbau schon angesprochen waren: mit einer besonderen Konsequenz hatte Audi etwa ab den 1990er Jahren letztgenanntes Prinzip verfolgt, von den vier Ringen über den Kühlergrill bis zu den Proportionen, und dies derart konsequent, dass am Ende, wie Kommentatoren mutmaßten, im Grunde nur noch ein Fahrzeug gebaut wurde in verschiedenen Größenvarianten von Small über Medium und Large bis Extralarge. Man durfte jetzt unter den Autos von einer Art (Produkt-)familiärem Zusammenhang und Zusammenhalt ausgehen, je länger und je weitergehender das Konzept verfolgt wurde, auch in einem generationellen Sinn. Nicht umsonst weist man eben bei Audi gerne auf ungebrochene Traditionslinien
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sl-ist-immer-eine-ikone-seiner-zeit/, https://www.dasisthartmann.de/mercedes-benz/ fileadmin/user_upload/Eklasse/e10x7b.jpg, https://ticker.mercedes-benz-passion. com/die-historie-der-mercedes-benz-mittelklasse-e-klasse/
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hin, die sich bis zur Auto-Union der 1930er Jahre zurückverfolgen lässt. Die weitergehende Hoffnung im Geisteswissenschaftlichen bestand immer noch darin, durch entsprechende Design-Maßnahmen den kulturellen Schutzschild gegen eine drohende Überforderung des Menschen zu verbreitern. Die Gerätewelt insgesamt sollte in bürgerlich-humanistischen Zusammenhängen erscheinen, die Produkte wiedererkennbar werden in einem technischen Parallelu ni versum, das dem menschlichen in Struktur und Entgegenkommen möglichst ähnlich ist. Es ist, wenn man so will, ein Impuls aus der Zeit, als man tatsächlich Nierentische für modern und fortschrittlich hielt und froh darum war, dass Fernseher noch in eine Truhe passten und diese wiederum zwischen zwei Plüschsofas. Selbst eine Gelsenkirchener Barock-Kultur war nicht zu verachten, insofern das Kleinbürgerliche darin wenigstens zur Neubefriedung von Tradition und Fortschritt herangezogen werden konnte – im allerweitesten Sinne immer noch, um die Atombombe vergessen zu machen, die als Sinnbild zerstörerischer Großtechnik in jedem Transistor steckt und damit als Gefahr auch bis noch in jedes Wohnzimmer vordringt. Wissenschaftlich konnte das Thema ausdifferenziert werden durch die Art und Weise, wie man sich am besten die Verbindunglinien in den Produktfamilien ausdachte. Dass es überhaupt derartige Zusammenhänge geben sollte und diese gewürdigt werden müssten, war in gewisser Weise noch ein Erbe aus dem 19. Jahrhundert. Wo auch immer historische Abhängigkeiten geordnet und gereiht erschienen, dachte man daran, damit zugleich noch etwas von einer alten, übergreifenden Ordnung und Gottesfurcht in die Moderne hinüberzuretten. Geschichte als Ersatzgöttin, die walten muss, sobald der Anker eines Glaubens an göttliche Transzendenz gelichtet schien. Wenn man den letzten Zielpunkt schon aus den Augen verloren hatte, dann musste wenigstens im Verlauf einer davon abhängigen Zeit noch etwas nachweisbar sein. Ursprünglicher Sinn in der Zeit erscheint uns daran anschließend als menschengemachte Geschichte. Der wissenschaftliche Anteil an solcher Geschichtsgläubigkeit konnte in verschiedenen Logiken ausformuliert werden. Mit Ludwig Wittgenstein postulierte man sogenannte »Familienähnlichkeiten«, wenn es auch nur gelang, von einer Generation zur 05
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nächsten überlappende Merkmale zu finden, die sich durchhielten. Aufs Ganze gesehen, konnte so jedes Spezifikum kommen und gehen, eine fortlaufende Linie aber weiterverfolgt werden. Aus solcher Ähnlichkeit mehr zu machen, war schon das Anliegen einer Mutmaßung, die von Nietzsche und Darwin ausging und bis zu Michel Foucault reicht. Dann nimmt man den Umstand der Deszendenz ernst, insofern man durch jede Generation immerhin eine Abhängigkeit vom Ausgangspunkt annimmt. Eine »Genealogie« erscheint dann als das Maximum historischer Sinnzuschreibung. Schließlich kann man noch mehr wollen, insofern man sogar einen Zielpunkt einer Entwicklung für möglich hält. Alles, was sich dann sinnvoll nachvollziehen lässt im geschichtlichen Sinne, wäre nicht nur dem Zufall kontingenter Umstände geschuldet – ein Zufall, welcher die Richtung der Weiterentwicklung unvorhersehbar werden lässt und jede Abzweigung für grundsätzlich gleich gut hält; es würde sich eine Konsequenz abzeichnen, die mutmaßen lässt, dass am Ende eine ganz bestimmte Annahme steht, die dem Prozess der Fortschreibung zugrunde liegt. Die rhetorischen Vorsichtsmaßnahmen in der Beschreibung solcher Konsequenz deuten an, dass man sich im Sinne der wissenschaftlichen Hermeneutik nicht ein konkretes Ziel und eine bestimmte Erfüllung vorstellen darf, sondern zuletzt nur ein Als-ob des Zielverfolgs. Von einer waschechten Teleologie zu sprechen, wäre zu viel des Guten. Man hat aber wenigstens heuristisch gute Karten in der Hand, wenn man hermeneutisch verbindlich annimmt, dass wir uns beständig auf einen Endzustand hinbewegen – auch und gerade dann, wenn ein solcher Endzustand grundsätzlich uneinholbar und immer aufgeschoben erscheint. Um letzteres Zugeständnis kam man nicht herum, wenn man nicht sogleich wieder in das philosophische Großsprechertum der ersten Jahrhunderthälfte zurückfallen wollte.
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Der 1950er Jahre-Gestus, Mensch und Technik wieder aneinanderzurücken, alles ein wenig kleinteiliger zu machen und uns möglichst mit den Gerätschaften wieder anzufreunden: auch dieser Gestus der Familiarisierung und Verbürgerlichung von Technik läuft inzwischen gestalterisch ins Leere. Es mag sein, dass das Einschreiben von Gerätegenerationen in unser biografisches Gedächtnis einstmals über die größte Nachkriegsnot hinweggeholfen hat, in der geistigen Lage der Zeit. So wie das Portrait der Uropas neben 35
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jenem der Großtanten auf der Kommode stand, so steht (vielleicht bis heute in manch stolzen Bürgershäusern) das Foto des FamilienUrporsche auf dem Konzertflügel, gleich neben einer teuer erstandenen Leica aus den 1920ern. Heute erscheint aber das bourgeoise Bemühen um Wohlfühlen im Heimtechnischen so überholt wie der Wunsch nach politischer Heimeligkeit zu Zeiten des kalten Krieges. So wenig es mehr das alte Blockdenken im Weltpolitischen gibt, so wenig plausibel ist heute das alte Blockdenken in Sachen Welt und Technik. Äußerliche Kennzeichen sind an einem Strategiewechsel ablesbar. Die schier unendliche Mühe um Kontinuität im Historischen und Familiarität im Gleichzeitigen scheint mit einem Mal überholt. Es erscheint ziemlich egal, um zuerst wieder mit den Automobilen zu beginnen, ob das neue, autonome E-Auto noch einem VW-Käfer gleicht oder einem Fiat 500 oder einem repräsentativen Mercedes oder sportlichem BMW. Mag sein, dass man in Übergangszeiten noch einmal bewusst eingespielte Sehweisen und alte Statussymbole übernimmt. Niemand sollte sich jedoch darüber täuschen, dass wir es hierbei mit einer bloßen Metaphernbildung zu tun haben, vergleichbar einst der Beibehaltung der Kutschengestalt bei den ersten Autos. Bauliche Maßnahmen bringen dementsprechend schon heute Veränderungen mit sich. Wollte man sie ignorieren, würde man einfach nur Möglichkeiten verspielen. Bei der neuesten Generation der E-SUVS von Audi hat man beispielsweise die gesamte Mittelkonsole getilgt, weil der Allradantrieb eben nun über E-Motoren nahe den Achsen erfolgt. Die Freifläche wird genutzt, derart, dass der Innenraum insgesamt umgenutzt wird: zuerst zögerlich im Zugeständnis neuer Bewegungsfreiheit für die Insassen, mit zunehmender Autonomisierung des Fahrens aber auch noch sehr viel weitergehend. Absehbar ist schon jetzt, dass Cockpit und Bedienflächen zur Projektionsfläche für alternativen Zeitvertreib werden: offen für Arbeit, Unterhaltung und Wohnen. Der Trend zur Interiorisierung des Designs kann über die technischen Umstellungen hinaus auch anders motiviert werden. Zur Verbürgerlichung des Designs gehörte nicht nur das ästhetische Ansehnlichwerden und funktionale Bedienbarwerden. Es gehörte dazu auch eine soziale Komponente: Gerätschaften mussten Zugehörigkeit zu einem Besitzer nahelegen und im Zuge solcher Zugehörigkeit den gesellschaftlichen Status des berechtigten Nutzers 05
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anzeigen. Im Rahmen der Produktsprache handelt es sich um sogenannte Symbolfunktionen des Designs, die es erfüllt, wenn be stimmte Gestaltungsmerkmale von einem besonderen sozialen Status des Besitzers ausgehen lassen. Genuine Symbole wie etwa ein Mercedes-Stern können das leisten, aber auch die Wertigkeit verwendeter Materialien, die Leistung der Motoren, Sportlichkeit oder Komfort des Fahrwerks, Sorgfalt der Verarbeitung, eine gewollte Überzeichnung oder elegante Zurückhaltung in der äußeren Linienführung etc. etc., das alles ist gut bekannt, man hat es auch problemlos und sogleich vor Augen. Design hatte so gesehen eine soziale Schmuckfunktion, die Gerätschaften eigen sein durfte, um sie in den bürgerlichen Gesamthaushalt einzubinden. Vor dem Hintergrund einer kulturkritischen Betrachtung wird dieser Gestaltungszug noch einmal zu einem Argument. Dazu gilt es ein weiteres Mal daran zu erinnern, dass Technik im Marxschen Sinne ursprünglich als vorgeschobener Posten des Kapitals wahrgenommen wurde, also dazu diente, dem Menschen seine vitalen Kräfte zu rauben und – via Fabrikarbeit – vom Werk seiner Hände zu trennen und letztlich damit zu entfremden. Indem jedoch die raffinierte Technik verbürgerlicht wurde, wandelt sich der Instrumentenbediener vom Ausgebeuteten zum Ausbeuter. Gerätschaften dienen jetzt dazu, eigene soziale Dominanz auszudrücken. Was derart abstrakt klingt, ist – trauriger Weise – bekanntlich auf deutschen Autobahnen täglich nachzuvollziehen. Geräte werden zu Trumpfkarten im Konkurrenzkampf sozialer Nachbarschaft. Das Design macht sich anheischig, solche Konkurrenz ansehnlich auszugestalten: so zumindest deutet Jean Baudrillard noch Ende der 1960er Jahre ›systematisch‹ die damals noch neue Lage der Dinge.19 So kurz und vereinfacht die Argumentation eben dargestellt wurde, sie reicht hoffentlich aus, um nun den entscheidenden Punkt zu machen. Die Verinnerlichung des Designs bedeutet zugleich, dass die äußere Gestaltung vergleichsweise vernachlässigt wird, oder gleich zutreffender gesagt, vergleichgültigt wird. So sehr es wichtig erscheint, heute schon, den Innenraum ›konnektiv‹ zu machen, also anschlussfähig an Bürooberflächen und Entertainment, so unerheblich wird es, an der Außenseite noch die gewohnten Distink05
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19 Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegen-
ständen, Frankfurt a. M. 1991.
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tionsmerkmale anzubringen. Es ist schon angesichts der vorliegenden Konzeptentwürfe für die Fahrzeuge der Zukunft keine bloße Spekulation mehr, von einer Art Uniformierung der Äußerlichkeiten auszugehen. Autonom agierende Transportmittel scheinen jedenfalls dem alten Show-off-Reflex-Gedanken nicht mehr in derselben Weise wie früher zu entsprechen. Und dafür gibt es auch einen sehr einfachen Grund. Sobald der Fahrzeuglenker die eigenen Hände vom Steuer nimmt, scheint auch das Fahrzeug nicht mehr als Anhang der eigenen Persönlichkeit wahrgenommen zu werden. Die Aneignung des Gegenstandes wird bestenfalls über Bande gespielt, als Nebeneffekt von zusätzlichen Komfortfunktionen oder extern zugekauften Privilegien (etwa das Benutzen einer eigenen Fahrspur, das Übertreten von vorgegebenen Geschwindigkeitslimits etc.). Eine unmittelbare und beherzt empfundene Identifikation scheint ausgeschlossen. Überhaupt kommt man nicht darum herum, sich zuletzt eine Grundfrage zu stellen: werden die autonom agierenden Transportmittel künftig überhaupt noch als eine Privatangelegenheit wahrgenommen, oder nicht vielmehr schon als eine Art öffentliches Verkehrsmittel? Es mag durchaus sein, dass die klassischen Besitzverhältnisse im Fahrzeugbereich genau dieselben bleiben wie bisher – und dennoch mag es so erscheinen, als ob man beim Benutzen einfach nur ein anderes Ticket löst, wie in Zügen oder Flugzeugen, wo es auf die Besetzung einer dementsprechenden Klasse ankommt. Selbst wenn einem das Verkehrsmittel in Form eines Privatbesitzes gehört, scheint doch der Zugang zum jeweiligen Nutzungsbereich das Primäre zu sein. Und so wie man heute längst nicht dafür angeschaut wird, in welchen (inzwischen uniformierten) Flugzeugtyp man einsteigt, oder in welchen (standardisiert zuverlässigen) Zug, so wird man morgen auch nicht mehr mit Ahs und Ohs rechnen, wenn der unsichtbare ValetService das eigene Auto aus der Garage holt und in die Einfahrt stellt. Es sei denn, das kann man problemlos einräumen und zugeben, wir bewegen uns nicht mehr in Alltagsgefilden, sondern betreiben das Fahren inzwischen als eine Art Hobby: dann wird aber vermutlich nur umso deutlicher, inwiefern unser bisheriges Verkehrswesen einem (noch gestressten) Umgang mit Oldtimern ähnelte. Wie man dieselben Verhältnisse künftig entspannter sehen kann, hat Niklas Maak schon vorausentworfen.20 Man darf sich nicht täuschen: die angezeigte Entwicklung ist beileibe kein Einzel-
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phänomen und passt nicht einfach nur besonders gut in den Automobilsektor. Seitdem es die Smart-Watches gibt, erleben wir Vergleichbares etwa auch im Uhrensegment. 21 Äußerlich haben wir es nur noch mit demselben gleichförmigen Kleinbildschirm zu tun, kein Strass und kein Bling-Bling scheint mehr vonnöten (dass man es etwa bei Apple teuer zukaufen kann ist ein Zugeständnis an alle, die noch etwas in der Hinsicht aufzuholen haben). Auch preislich bewegen wir uns deutlich unter den Schmerzgrenzen für vergleichbare Luxusgegenstände. Und selbstverständlich gilt die angezeigte Verinnerlichung der Werte bei gleichzeitiger Veröffentlichung des Daherkommens zuletzt für alle Sorten von Screen-Produkten. Wer mit seinem Laptop noch angeben will, kommt klarerweise zu spät, und es ist keine wirkliche Spekulation mehr, wenn man mutmaßt, dass (in Folge etwa der durchsichtigen OLED-Technik) beinahe überall (ansonsten unsichtbare) Bildschirme künftig darauf warten, von uns bespielt zu werden. Auch in diesem Segment würde demnach der Zugang weit wichtiger werden als ein vorzeigbarer Besitz.
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IV. Das neue Setting für eine künftige Methodologie im Design Was stimmt nicht? Man kann die Frage vornehm angehen und wie Bruno Latour erst einmal nur Vorsichtsklauseln anbieten. In der Diskussion mit Sloterdijk wird aus dem Erlösungsversprechen (künstlerischen) Designs das Alltagsgeschäft eines »vorsichtige(n) Prometheus«.22 Unsere Gegenstände brauchen dann nur ab und an ein »relooking«, man verpasst ihnen damit »ein neues und besseres Aussehen (look) oder Äußeres«. Derart normalisiert darf man schließlich mutmaßen, wie es Latour auch tut: »Wir sind nie modern gewesen«.23 Immer schon blieben unsere Gerätschaften botmäßig: eine an sich schon anpassungswillige Hermeneutik wird so
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20 Niklas Maak, Nike a.a.O.: »Vielleicht könnten die Autos nach dem Ende des Massenverkehrs werden, was sie schon einmal waren, bevor sie den Job von Fahrrädern, Frachtzügen und Straßenbahnen auch noch mit übernehmen mussten: Maschinen, mit denen man die Elemente, Wind, Sonne, Geschwindigkeit, Lenkkräfte, im Wortsinn intensiver erfahren kann, deren Ziel nicht der Personentransport, sondern die Steigerung der Empfindungen ist; Euphorisierungsmittel, Kunstwerke, Genussmittel, die man nicht jeden Tag benutzt, sondern in besonderen Momenten herausholt, so, wie man nicht schon zum Frühstück eine Flasche Whiskey trinkt«. 21 Bereits im Jahr 2011 wurde diese Vision durchgespielt von ›Gorilla-Glass‹, greifbar im damals schon entstandenen Werbevideo der Herstellers Corning (abgerufen am 04.10.2018): https://www.corning.com/emea/de/innovation/aday-made-of-glass.html 22 Inzwischen auch online zugänglich: http://www.brunolatour.fr/sites/default/files/downloads/112-DESIGN-SLOTERDIJK-DE.pdf 23 Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. 2008.
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zuletzt radikal ausgedeutet. Zuletzt erscheinen alle technischen Fortschritte und damit verbundenen Brüche eingebettet in Routinen, die man getrost vormodern nennen kann. Man kann aber auch mit einer ähnlich entschlossenen Haltung versuchen, geistesgeschichtlich nach vorn zu blicken. Dann erscheinen die aktuellen Veränderungen nicht als Fanal zur romantisch abgeklärten Resignation, sondern als eine Chance, mit den anstehenden Umbrüchen progressiv umzugehen. Wählt man diesen Weg, muss man sich darauf gefasst machen, in ähnlich radikaler Weise wie es Latour anmoderiert, das bisherige Deutungsschema für unzeitgemäß zu halten – und sich zugleich eingestehen, dass wir im Umkehrschluss in ganz anderer Weise ›immer schon‹ modern gewesen sind – haben wir erst einmal eingesehen, unter welchen Voraussetzungen Technik im Verbund mit Design tatsächlich voranschreitet. Was aus heutiger Sicht prinzipiell nicht mehr haltbar ist, ist demnach die ganze vertikale Grundausrichtung der bisherigen Technikphilosophie. Wir können ganz allgemein nicht mehr davon ausgehen, wie noch im 19. Jahrhundert, dass es einen negativen Weltenpol dämonischer Werkzerstörung und einen positiven Weltenpol vital-kreativer Gegenarbeit gibt. Wir können im Besonderen nicht mehr daran festhalten, dass eine derartig metaphysische Polung zuletzt im Zusammenhang mit dem Thema Technikkritik zu motivieren wäre. Der etablierten Lesart einer Dialektik der Aufklärung entsprechend folgte einer modernen Gewinnabsicht irgendwann eine Verlustrechnung. Der Gewinn wurde erwartet in besonderen Zeiten der Aufklärung durch eine konsequente Rationalisierung menschlicher Kultur, im Einzelnen durch den listigen Einsatz von Technik. Man erhoffte sich Vorteile, indem man existenzielle Gefahren durch technische Zurüstung bannte. Was für Horkheimer und Adorno mit den Abenteuern des listigen Odysseus als Heldentat begann, wuchs sich in der Neuzeit zur alles beherrschenden Geisteshaltung aus. Man wollte etwa den Staat als Maschine wie bei Hobbes, Welt und Kosmos als ein Uhrwerk wie bei Leibniz oder Newton und das Lebewesen als kunstvoll-mechanischen Apparat ansehen, wie bei La Mettrie oder Vaucanson. Zur Verlustrechnung wurde solche Erwartung, sobald sich eine Kehrseite derart umfassender Rationalisierung und Mechanisierung herausstellte. Dann konnte 05
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man mit Kant vom Staat und seiner Verwaltung als einer klappernden »Mühle« sprechen, die Welt unterteilen in einen fragwürdigen »Willen« hinter einer mechanisch-rekonstruierbaren »Vorstellung«, wie bei Schopenhauer, und sich Mensch-Maschinen als literarische Monster ausmalen, beginnend mit Mary Shelleys »Frankenstein«. Was eine Dialektik der Aufklärung tückisch macht, ist nach Horkheimer und Adorno bekanntlich der Umstand, dass in unserer modernen Zivilisation der Bock (Technisierung, Rationalisierung) zum Gärtner (Hege und Pflege des Humanen) gemacht wird. Mit jeder neuen Lösung technischer Natur wird in Wahrheit nur das zu bewältigende Problem verlängert und sogar noch verschärft. Die Kulturkritik hat sich die Mühe gemacht, die mythische Verkleidung eines verhexten Weltgeistes abzustreifen und die dazugehörige These mit unendlichem Material zeitgemäß alltäglicher Bevormundung als Evidenzen zu unterlegen. Die perfide Logik vermeintlicher Hilfestellung und darin verborgener Bemächtigung wird bis in die Graswurzel modernen Daseins hinein durchdekliniert. Spätestens mit Foucaults Blamage einer Biomacht noch hinter den harmlos erscheinenden Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge ist der Punkt im Bewusstsein der Zeit gemacht. Der abendländische Humanismus ist jetzt nur noch eine Folie, die vielfach überschrieben wird und mit jeder zivilisatorischen Neubeschreibung immer zufälliger und sinnloser wird. Fortschritt erscheint zuletzt im Modus eines fatalen Verhängnisses, werden doch mit jeder neuen technologischen Intervention deren Maschen enger geknüpft und damit die Margen menschlicher Bewegungsfreiheit noch weiter beschnitten. Je raffinierter und menschenfreundlicher die Anmoderation, umso verheerender und nachhaltiger die Wirkung.
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Was an dieser lange eingespielten Zeitdiagnose heute nicht mehr stimmt, und zwar grundlegend, kann man schon an der Oberfläche einer um sich greifenden Verwunderung ablesen. Immer mehr Titel (soziologischer und geisteshistorischer Natur) stellen überrascht fest, dass die Welt offenbar besser ist (und noch weit besser sein könnte), als sie uns im Spiegel der genannten Kritik erscheint.24 So groß ist das Erstaunen, dass die unten genannten Bücher sogleich
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24 Vgl. zuletzt: Hans Rosling: Factfulness: Ten Reasons We're Wrong About The World – And Why
Things Are Better Than You Think, London 2018; David Christian: Origin Story: A Big History of Everything, London 2018; Yuval Noah Harari: 21 Lessons for the 21st Century, London
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zu Weltbestseller avancierten. Für ein bevorstehendes Augenreiben gibt es auch gute Gründe, wenn man sich noch einmal die überkommene Geschichtslogik unserer Kulturkritik vornimmt und befragt. Augenscheinlich wurde das Wesen der Veränderungen noch gar nicht erfasst. Solchen Eindruck hinterlässt womöglich ein Interview, das Julian Nida-Rümelin zum Wesen des »digitalen Humanismus« gegeben hat.25 Darin heißt es, noch einmal die eben skizzierte Argumentationslinie aufnehmend: »Die Uhren dieser Zeit«, angesprochen wurde das 16. Jahrhundert, »sind Wunderwerke der Technik. Interessant ist, dass diese Technik zum Paradigma der Welt als Ganzes gemacht wurde. Man kann alles als Uhrwerk sehen: Astronomie, Pendelbewegungen, Mechanik. Jetzt taucht gerade ein neues, technizistisches Paradigma auf: Digitalisierung. Was heißt das eigentlich? 1 und 0, Strom fließt oder er fließt nicht. Auf dieser Grundlage kommt eine Technologie in Gang, die ganz neue Welten erschließt. Unsere Weltwahrnehmung wird eine andere. Wir interpretieren uns selbst als Softwaresystem. Aber wie bei der Welt als Uhr wird man sehr bald merken, dass das nicht das passende Paradigma für den Menschen ist«. Will sagen: Immer noch folgt wie bei Foucault und manch anderem (oder inzwischen auch anderer) einfach ein technizistisches Schema einem anderen. Der »digitale Humanismus« ist einfach nur das vorläufig letzte in der Reihe. Und wie bei allen Schemata zuvor muss es auch jetzt wieder so sein, dass wir menschlich gesehen als Verlierer dastehen. Das »passende Paradigma« für den Menschen kann es nicht sein. Die Erklärung erscheint dabei ganz einfach: »Digitalisierung. Was heißt das eigentlich? 1 und 0, Strom fließt oder er fließt nicht«. Grundidee der
2018. 25 Anlass des Interviews war das Erscheinen des Buchs Digitaler Humanismus (München 2018), das er zusammen mit seiner Ehefrau Nathalie Weidenfels verfasst hat. Rümelins 30
und Weidenfelsens Ansatz, eine Alternative zur so genannten »Silicon-Valley-Ideologie« (a.a.O., S. 20) zu bieten, ist aus kontinentaler Sicht richtig und nachvollziehbar. Das von den Autoren entworfene Gegenmodell zur kalifornisch »puritanisch geprägten Erlösungshoffnung« erscheint jedoch seinerseits einer »überkommenen aristotelisch-thomistischen geprägten katholischen Weltsicht« (56) verpflichtet, und Letztere bedient sich durchaus Gedankenfiguren, die man gerne auch als jesuitisch raffiniert ansehen kann. Im Kern wird behauptet, eine »starke KI« (57) führe dazu, den Menschen zu einer »determinierten Maschine« zu machen, und damit seien wir auch gleich schon mitten im »Anti-Humanismus«. Haben wir
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es – einer ›starken KI‹ folgend – irgendwann mit einer brauchbaren Modellierung menschlichen Denkens zu tun, ist das freilich eine steile These. Die in der Rekonstruktion gewonnene Einsicht in die menschlichen Denkvorgänge (und ihre informationelle Nachvollziehbarkeit) würde dann nämlich auch Menschen sogleich zu »determinierten Maschinen« machen. Klar ist aber, der Mensch selbst wird nicht an dem Tag ein anderer sein, an dem das Experiment gelingt. Es bricht an dieser Stelle offenkundig der analytische Streit über mind and body oder auch den Geist in der Maschine wieder auf: muss es etwas geben, das über die physio-
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Kritik ist einmal mehr die Mutmaßung, dass es keine echte Übereinstimmung zwischen menschlichen Verhaltensweisen und deren technischer Interpretation oder auch Rekonstruktion gibt. Die Mechanik der frühen Neuzeit war schon nicht in der Lage, Automaten zu bauen, die wirklich human daherkommen, und in derselben Logik der Abstriche muss auch die Digitalisierung noch zu kurz greifen. »1 und 0, Strom fließt oder fließt nicht« – hier gilt es freilich doch nachzufragen: klar ist, dass die Mechanik mit Hilfe ihrer Hebel und Züge, ihrer Winden, Räder und Achsen nicht einfach die Steuermechanismen nachbauen kann in der Komplexität, wie sie der menschliche Körper und besonders das menschliche Gehirn vorgeben. Aber was anderes findet denn statt zwischen den Synapsen unserer Neurone, als dass da »Strom fließt oder fließt nicht«. Zugegeben, es gibt verschiedene Sorten Synapsen, und bis zwischen Nervenenden tatsächlich Spannungsabfälle für Schaltvorgänge sorgen, sind meistens auch noch chemische Vorgänge komplexer Art im Spiel. Aber im Prinzip bleibt es eben doch dabei, dass die Kommunikation grundsätzlich mit der Feststellung einhergeht, Neuron »feuert« oder es »feuert nicht«. Man tut gerne so in kulturkritischer Stimmung, als sei menschlicherseits die Lage noch immer um unendliche Grade komplexer, rätselhafter und geheimnisvoller, als es jemals durch Wissenschaft und Forschung herausgefunden werden kann.26 Wer Hirnforschung aber aus so gearteten
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logischen Kausalitäten hinausgeht (traditionell eine Seele), um das Menschliche im Menschen zu erklären oder nicht? Grundfalsch erscheint die Debatte inzwischen, weil eine offene Kopplung
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von Netzwerken (im menschlichen Gehirn wie auch computational) durchaus komplex genug erscheint, um den alten Dualismus von Geist und Körper vollkommen zu unterlaufen. Das mechanistische Weltbild, das Nida-Rümelin und Weidenfels als anti-humanistisch geißeln, ist in Wahrheit ihr eigenes – denn sonst käme man erst gar nicht auf den Gedanken, eine Opposition aufzumachen, wo sie schon längst durch den Stand der (Neuro-)Wissenschaften überwunden ist. Kein Neuroforscher von Rang würde sich heute nämlich mehr auf derart simple Reduktionismen einlassen. Wollte man ihnen folgen, würde man mehr oder weniger bewusst der Fährte einer neuen Gegenaufklärung folgen. 26 Im Verdacht solcher Vorbehalte
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stehen zuletzt auch Catrin Misselhorns Einlassungen zu Grundfragen der Maschinenethik (Catrin Misselhorn: Grundfragen der Maschinenethik, Stuttgart 2018). Auch bei ihr gilt das analytische Credo weiter, Maschinen fehlten »Fähigkeiten wie Bewusstsein, Willensfreiheit und Selbstreflexion« (S. 205). Faktisch ist das zwar leicht einzugestehen, nicht aber philosophisch, d.h. prinzipiell verstanden. Der Spaten der Argumentation, den sie in Auseinandersetzung mit David Chalmers Aufsatz »Singularity – A Philosophical Analysis« (in: Journal of Consciousness Studies 17 (2010), Nr. 9 – 10, S. 7 – 65) schärft, biegt sich einmal mehr bei der Frage nach dem ›Geist in der Maschine‹: »Selbst wenn man – anders als Chalmers – kein Dualist ist, kann man mit guten Gründen die These vertreten, dass zwar einzelne geistige und physikalische Zustände miteinander identisch sind. Daraus folgt aber nicht, dass es ein Naturgesetz der Form gibt, dass die Meinung ›Der Zweite Weltkrieg begann 1939‹ immer dann entsteht, wenn ein bestimmter Neuronenverbund im Gehirn feuert, wenn also einem Gedanken stets eine ganz bestimmte Hirnkonstellation entspricht« (S. 212).
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Gründen nicht grundsätzlich für Teufelszeug hält und zugleich noch davon ausgeht, dass gute oder böse Geister mitspielen – die analytische Philosophie neigt bekanntlich zu solchen Hintergrund annahmen27 – dem sollten Nachfragen der vorliegenden Art vielleicht zu denken geben. Erst recht so, wenn anschließend an jene Überlegung auch noch medientheoretische Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Schon Mitte der Nullerjahre war die dazu passende Diskussion weit genug fortgeschritten um festzustellen, dass mit der Digitalisierung eben nicht einfach ein weiteres Medium auf ein vorangegangenes folgt.28 Neu kommt jetzt nämlich hinzu, dass alle vorangegangenen Informations-Medien reduziert werden können, d.h. abgebildet auf eine grundlegende, digitale Kodierung (und das sind natürlich die schon genannten 0 und 1). Digitalisierung bedeutet damit auch, dass mit ihr eine Art Null-Medium zur Verfügung steht, in das hinein alles übersetzt werden kann, was überhaupt informationell notiert und verstanden werden kann. Akustische Inhalte, visuelle Eindrücke, Schriften, Symbole, alles lässt sich schließlich in Folgen von Nullen und Einsen darstellen. Alles längst bekannt und trivialerweise eingesehen. Die Rückfrage an die vorgebrachte Technikkritik kann also noch einmal verfeinert werden. Was soll grundsätzlich an Form und Inhalten verloren gehen, wenn wir uns mit Hilfe der Digitalisierung der menschlichen Kommunikation nähern? Vielleicht ist die Kon-
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Leicht ist es zuzugeben, dass eine bestimmte Aussage im Ergebnis durch die Aktivierung verschie25
dener Netzwerke im Gehirn hervorgebracht werden kann, es also keine molekulare Eins-zuEins-Entsprechung von bestimmtem Gedanken und bestimmtem Hirnzustand geben muss. Aus diesem Eingeständnis aber abzuleiten, dass eine jede computationale ›Emulation‹ des Gehirns scheitern muss, ist verwegen. Denn eben auch die einzugestehende Offenheit bei der Vernetzung biochemisch-elektrischer Synapsen kann man wiederum computational simulieren, nichts spricht dagegen – im Gedankenexperiment ist das jetzt schon zu haben. Die Annahme, wir könnten uns in keinem Fall ein künstlich intelligentes Analogon zu mensch-
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licher Intelligenz ausdenken, rechnet so gesehen weiter mit einem Gedanken-Plus menschlicherseits, das zuletzt doch irgendeinen ›tieferen‹, zuletzt wohl doch göttlichen Ursprung haben muss. Ähnlich quer verlaufend zur neurophysiologischen Evidenz zeigt sich die Diskussion auch bei der Frage einer den Maschinen fehlenden Intentionalität. Klar ist schon, dass eine rein software-basierte Welterfassung keine Aussage über das Wetter treffen kann. Und doch schauen wir morgens zuerst auf das Handy, wenn wir wissen wollen, wie es wettermäßig draußen zugeht. Will sagen: sobald eine Sensorik und Robotik zur computationalen Welterfassung hinzukommt, haben wir auch all jene Gedanken-Probleme nicht mehr, die
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Misselhorn unter Verweis etwa auf Enactment-Theorien anführt (vgl. S. 212) – so als bräuchte es (nochmals polemisch, d.h. als Theologoumenon umformuliert) einen von Gott gegebenen Leib, um wirklich existent in der wirklichen Welt zu sein. 27 Vgl. die Diskussion von Daniel C. Dennett und Hubert L. Dreyfus in allen ihren Ramifikationen, siehe zuletzt Daniel C. Dennett: From Bacteria to Bach and Back: The Evolution of Minds, London 2018; vgl. auch die kurze Einlassung zur Kontroverse auf der homepage der Tufts University: https://ase.tufts.edu/cogstud/dennett/papers/computing.pdf; sowie: Hubert L. Dreyfus:
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terfrage noch schlagender: in welcher Notation sollen wir denn die Verluste benennen? Schon um zu bedeuten, was uns nicht mehr möglich sein soll, müssten wir uns des Mediums bedienen, das wir für den Verlust zugleich verantwortlich machen. Im Beispiel: die Vaucansonsche Ente war für die Zeitgenossen ein Wunder, weil sie picken und scheißen konnte; und doch konnte jeder sehen und wie Goethe sich später darüber wundern – allerdings schon angesichts eines als Schrotthaufen überlebenden Exemplars –, wie man so tun konnte, als sei das wirklich eine Ente. Das mechanisch Ungelenke steht im Kontrast zur natürlichen Bewegung, dieser Kontrast lässt sich feststellen und nachvollziehen. Wie aber sollen wir in analoger Schätzung unserer digitalen Welterfassung einen so gearteten Kontrast noch einmal beziffern und feststellen? Wenn etwa die Pixeldichte unserer Bildschirme entsprechend der Zäpfchendichte unserer Netzhaut ist, wenn die Farbintensitäten und Kontrasttiefen der Leuchtmittel der Bandbreite unseres Sehvermögens vollkommen entsprechen, wie wollen wir den Unterschied zum ›natürlichen‹ Sehen festhalten? Wie wollen wir das Defizit des Roboterarms nachweisen, der hochpräzise die Arbeit verrichtet, die zuvor von Menschenhand gemacht wurde? Im übertragenen Sinne gilt dasselbe für alle Anstalten, die über das Körperliche und Robotische hinaus bis in die Forschung über Künstliche Intelligenz reichen. Können wir wirklich noch annehmen – und besonders, nachdem nun ›neural networks‹ manche unserer Denkleistungen funktional schon sehr brauchbar modellieren –, dass wir es weiterhin nur mit einem vorläufigen tool der Analyse zu tun haben und nicht mehr? Können wir wirklich noch auf der Ebene argumentieren, dass man immer schon glaubte, unserem Denken nahe zu sein, es aber nie erreicht hat und dies auch immer so bleiben wird? Und natürlich kann man heute noch sagen und zu Recht behaupten, wir seien wohl noch nicht ganz so weit. Reicht aber nicht vielleicht auch schon ein dazu gehöriges Gedankenexperiment aus, um den zugrundeliegenden Denkfehler auszumachen? Was wäre – und auch das wird natürlich längst schon in der Praxis versucht29 – wenn wir
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What Computers Still Can’t Do: A Critique of Artificial Reason, Cambridge / Mass. 1993; und weiter: On the Internet, New York / London 2008. 28 Vgl. Stefan Münker: Emergenz digi-
taler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0, Frankfurt a. M. 2009; vgl. auch: Andreas Wolfsteiner / Markus Rautzenberg (Hg.): Trial and Error. Szenarien medialen Han-
delns, Paderborn/München 2014. 29 Am bekanntesten sind die Ansätze des Blue Brain Projects: https://portal.bluebrain.epfl.ch/
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für jedes Neuron und sein Feuerverhalten ein Laptop bereitstellen und alle so entstandenen Eins-zu-Eins-Ersetzungen miteinander vernetzen in der Art und Weise, wie es in unserem Gehirn auch geschieht, einschließlich des sinnlich-informationellen Inputs, den wir von unserem Körper (oder phänomenologisch gesprochen vom Leib) erhalten. Glauben wir dann immer noch, es gebe Weisen des Fühlens und Denkens, die grundsätzlich nicht zu imitieren sind, ein Vorsprung und eine Eigenart von uns Menschen, die keine andere Spezies (und schon gar keine Maschine) jemals würde nachvollziehen können? Spätestens eine Eins-zu-eins-Kopie muss es schließlich können, das wird man schwerlich bestreiten können. Man müsste sonst auch annehmen dürfen, von eineiigen Zwillingen sei vielleicht nur eines in der Lage, wirklich menschlich zu denken und zu fühlen. Aus einem derart aktualisierten Systemvergleich von Menschendenken und Maschinendenken ergibt sich schließlich auch noch eine weitere Neuerung, und sie betrifft am Ende auch die strategische Bewertung der Lage. Die Kulturkritik hatte ja grundsätzlich gefunden, es würde mit falschen Karten gespielt, also als Humanisierung verkauft, was in Wahrheit Entmenschlichung bedeutet – einhergehende Verluste an Freiheit würden verheimlicht, weil human-propagandistisch überspielt. Neu ist, dass die Karten künftig auf dem Tisch liegen, allesamt. Mögliche Verluste wie erhoffte Vorteile werden in gleicher Weise überschaubar. Man kann sich gar nicht mehr so grundsätzlich täuschen wie bisher, weil Neuerungen zugleich noch selbst ein Licht auf das werfen, was bislang in ihrem medialen Schatten – und damit auf hintergründig verborgene Weise – einherging. Es braucht gar keinen zweiten, medien-kritischen Blick mehr, um zu entlarven, was im ersten Draufsehen noch harmlos und akzeptabel erschien. Einmal hinsehen reicht jetzt. In einem weiteren Verkehrsbeispiel lässt sich das anschaulich machen. CCTV (Abkürzung für Closed Circuit Television) ist die Formel für die Verkehrsüberwachung in London. Sie beinhaltet, dass Straßen und Plätze, Gassen und Winkel lückenlos von Verkehrskameras eingesehen werden, in hochauflösender Qualität. Die Möglichkeit einer durchgehenden Überwachung ist damit nicht mehr, wie kulturkritisch angenommen, eine bloße Nebenfolge (bzw. versteckte Hauptabsicht) im Anschluss an die Einführung neuer Technologien. Eine solche könnte sie etwa sein, wenn alle Automobile 05
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künftig mit Dash-Cams an der Windschutzscheibe ausgestattet sein müssten, deren Aufzeichnungen wiederum von interessierter, staatlicher Seite abgegriffen und ausgewertet würden. Was zum Selbstschutz der Fahrer gedacht war (mögliche Beweissicherung bei Unfällen etc.), würde hinterrücks zum Staatsschutz zweckentfremdet. CCTV wirkt in dem Zusammenhang wie ein vorauseilendes Eingeständnis. Eine mögliche Zweckentfremdung wird offengelegt, noch bevor sie unterstellt werden kann. Die zwei Weisen, in denen die Technologie gebraucht werden kann (Schutz der Bürger, Überwachung der Bürger) werden offenbar, wann auch immer man in London den Blick nach oben richtet und in die Linsen der gut sichtbaren Kameras schaut. Man kann einfach nicht mehr naiv sein und annehmen, Privates und Persönliches würde nicht ebenso sichtbar und aufzeichnungsfähig wie eine Schauseite unseres Verhaltens in der Öffentlichkeit. Die Augen sind jetzt überall und blicken in alle Richtungen. Sie bekommen Einsicht in das, was von uns zuvor in getrennten Sphären lokalisiert und auseinandergehalten wurde. Wie es in uns aussieht, was uns antreibt, wonach wir womöglich heimlicherweise streben und worauf wir wahrhaft aus sind, wird ebenso Teil der öffentlichen Aufzeichnung wie ein Verhalten, in dem wir all dies verbergen wollten.30 CCTV ist so gesehen der (Überwachungs-)System gewordene Edward Snowden. Es inszeniert nur aus und macht greifbar, was jeder Insider der IT-Universalvernetzung ahnt oder längst schon weiß: dass nämlich in dem neuen General-Medium zuletzt alle Inhalte zusammenkommen können, die zuvor noch in den verschiedenen Schubladen unseres Daseins verstaut blieben, unsere Privatsphäre betreffend und das öffentlich Sichtbare, Innerliches wie Äußerliches, Vertrauliches wie Offenkundiges. Und eines ist eben jetzt nicht mehr möglich: im Sinne der alten Logik das Rad der Aushorchung technisch einfach immer weiter zu drehen. Wenn erst einmal alle möglichen (in unserem Fall optischen) Einsichten zusammengelegt wurden, kann man nicht noch einmal technisch raffinierter ansetzen wollen. Die angesprochenen Dash-Cams als etwaige Spysoftware visueller Art erübrigen sich klarerweise, sobald alle Orte in einer Stadt kameratechnisch 05
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30 Die vorsichtigen Formulierungen erübrigen sich, wenn man das Thema etwa im Sinne eines Liebes-Affairen-Thrillers ausbuchstabiert, so geschehen und brillant durchkomponiert im Roman Apple Tree Yard von Louise Doughty, London 2017.
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bereits erfasst sind. Und selbst wenn die Inboard-Kameras auch noch zugeschaltet würden, wäre es nicht mehr so, dass wir uns anschließend ganz plötzlich überwacht fühlen müssten an Orten, die uns zuvor noch fern solchen Zugriffs erschienen sind. Die unheilvolle Dynamik zunehmender Verstellung und Verknechtung, die virtuell unendlich zu sein schien, kommt hier wenigstens an ihr mediales Ende.
All das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Kulturkritik damit am Ende wäre oder gar falsch läge: ganz im Gegenteil. Nur kämpft sie jetzt mit offenem Visier und schießt nicht mehr dialektisch um die Ecke. Es braucht keine Hermeneutik des Verdachtes mehr, wo die Gefährdung schließlich so offenkundig wird, wie sie sich jetzt zwangsläufig gibt. Man muss gar nicht mehr raten, ob man nun durch diese oder jene Maßnahme im öffentlichen Raum ›getaped‹ wird, die Frage ist (wie geschildert: in London zumindest) entschieden. Man muss sich nicht mehr wundern darüber, dass bei jedem Ereignis irgendeine Handykamera mitfilmt, dass dort, wo früher Paparazzi auf prominente Opfer schielten, schließlich alle zum möglichen Opfer werden, und nun womöglich auch unfreiwillig prominent. George Orwells Vision vom totalen Überwachungsstaat konnte zuletzt nur deshalb so nachhaltig wirken, weil uns allen nie recht klar war, ob wir inzwischen schon so weit sind oder immer noch auf einem mehr oder weniger verschlungenen Weg dahin. Die Zeit des Rätselratens ist jedenfalls vorbei. Die Fragen einer Bewertung demgegenüber noch offen. Empfinden wir es als einen Gewinn an Sicherheit, wenn nichts dem Auge der Gesetzeshüter entgeht, oder als einen Akt polizeilicher Schulmeisterei? Sehen wir die Dinge existenziell oder liberal? Bürgerlich oder künstlerisch, traditionell oder technikgläubig und so weiter und so fort. Das scheinen die wahren Fragen zu sein, die wir uns nicht mehr nur verdachtsweise stellen müssen – mit immer ungewissem Ausgang, weil Fortschritt in Wahrheit ja nie möglich sein wird, lauert doch nach überstandener Gefahr immer schon die nächste auf uns; es sind Fragen, die wir jetzt prinzipiell angehen müssen und auch – ganz anders als bisher – durchaus entscheiden können. Was ist uns wirklich wichtig? Wie wollen wir uns als Einzelne und in Gesellschaft verstehen und verhalten? Das gilt es zu klären. 10
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Man kann nach dem eben Geschilderten den Eindruck gewinnen, dass einige Kulturkritiker immer noch Ratschläge geben, wie man den kulturellen Vergaser richtig einstellt in Zeiten, da wir schon alle mit selbststeuernden Elektroautos daherkommen. Digitaler Humanismus wird so zur Oldtimerbastelei. 05
V. Folgerungen für das Design Design befindet sich methodologisch in einer vollkommen neuen Lage: es geht ihm künftig nicht mehr darum, einem systemischen Gefälle nachzukommen. Hier eine fortschreitende Technik, da eine immer gleichbleibende Lebenswelt, und das Design auf einer kulturellen mission impossible, jemals zu wirklich ausgeglichenen Verhältnissen zu kommen.
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Was auch immer Design an äußerlichen Maßnahmen bereithielt, ein Entgegenkommen der Sphären (wenigstens scheinbar) plausibel zu machen, wird jetzt von innen und damit technischerseits angegangen. Die funktionellen Anzeichen verschwinden, Knöpfe, Schalter, Regler, Bedienfelder: die Folgen ihrer Bedienung werden als zustimmungsfähige Angebote vorausgeschickt. Am besten erscheint eine Einigung zwischen Nutzer und Gegenstand, die weitgehend auf Austausch verzichtet und Routiniertes routiniert und ganz von alleine ablaufen lässt. 15
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Eine symbolische Zugehörigkeit zum bürgerlichen Haushalt, die klassenmäßige Status-Anzeige und überhaupt eine Eingemeindung in unsere historisch gewachsene Lebenswelt brauchen nicht mehr wie bisher inszeniert zu werden. Je smarter die jeweilige Lösung, umso offener erscheint der Gebrauch auch für fremde oder gar öffentliche Hände. Das hängt damit zusammen, dass eine derart aufgerüstete Technik immer zugleich auch ein Mehr an ›Persönlichkeit‹ hinzugewinnt – und wie man es auch wendet, Persönlichkeit muss, wenn überhaupt, ganz anders an Privatverhältnisse gebunden werden als die üblichen Gebrauchsgegenstände. Mag es für manche etwa unvorstellbar sein, das eigene Gefährt von Fremden mitbenutzen zu lassen, so sind derartige Reflexe im Taxi eher fehl am Platz, auch dann noch, wenn ein digitaler Chauffeur ohne die übliche Mütze auskommt.
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Design muss überhaupt keine kunstvolle Maßnahme mehr sein, um das Technische anwachsen zu lassen an das Altbekannte und Traditionelle. Das gilt schließlich auch noch im Großen und Ganzen. Zuständig dafür im Designdiskurs ist die Formalästhetik (wenigstens bezogen auf das Offenbacher Modell31). Gut designt meint im Alltagsverständnis oft eben solche Gestaltung von Hüllen, die ästhetisch anspruchsvoll erscheinen. Wo die mögliche Familiarität aber ins Innere verlagert wird, in den smarten Umgang mit den Dingen, scheint zuletzt auch jene kosmetisch-kosmologische Maßnahme überholt. Es reicht, dass Gegenstände nicht negativ auffallen, am besten sich sogar in den Hintergrund unserer Alltagsbesorgungen einblenden. So gesehen machen wir im Übergang etwa von der Fernsehtruhe zur durchsichtigen OLED-Folie nicht nur einen technischen Quantensprung mit, wir rechnen auch mehr und mehr mit einem ästhetischen Gleichgültig-Werden der Dinge und sind nicht mehr erstaunt, sollte sich diese schließlich zur gänzlichen Unsichtbarkeit auswachsen.
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Fast schon unnötig zu sagen, dass mit zunehmender Einebnung des Gefälles zwischen technischer Sondersphäre und menschlicher Eigenwelt auch die damit einhergehenden metaphysischen Unterstellungen nicht mehr plausibel sind. Man tut sich, wie gesehen, heute schon sichtlich schwerer, hinter dem technologischen Gefälle auch zugleich ein ontologisches zu vermuten. Mensch und Maschine gehören nicht mehr zwangsläufig getrennten Welten an. Und noch uneinsichtiger erscheint es, das ontologische Gefälle noch im Sinne romantischer Dämonisierung weiter zu belasten. Was soll das für eine Macht sein, die uns offiziell immer entfremdet und inoffiziell das Leben inzwischen so viel leichter macht? Der zerstörerische Zauber des Goethe’schen Zauberlehrlings ist inzwischen schon ganz hilfreich geworden.
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Unnötig zu sagen, dass dementsprechend die Stellung von Mensch und Maschine im Kosmos neu und anders gewertet werden muss – auf jeden Fall nicht mehr so dramatisch zerrissen, wie es noch die Anthropologie zu Hochzeiten der Technikkritik im früheren 20. 35
31 Vgl. immer noch: Dagmar Steffen: Design Als Produktsprache: Der Offenbacher Ansatz in
Theorie und Praxis, Berlin 1999; Bernhard E. Bürdek: Design: Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung, Cham 2015.
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Jahrhundert veranschlagt hatte. Der Mensch ist nicht mehr das Zwischenwesen, das einerseits wie das Tier noch zent riert erscheint, mit Plessner gesprochen, andererseits sich aber im unabsehbaren Wesens-Drift befindet hinsichtlich seiner möglichen human-technisch-kulturellen Neuerfindung. Er ist nicht mehr »geworfen« innerhalb unverhandelbarer Bindungen an eine unmittelbar erfahrene Umwelt, um es mit Heidegger zu wenden, und zugleich sich selbst radikal – auf seine Existenz-Möglichkeiten hin – »entwerfend«. Wirklichkeit und Möglichkeit menschlichen Daseins scheinen heute grundsätzlich einander näher kommen zu können, sei es durch (technisches) Entgegenkommen unserer (natürlichen) Weltbedingungen, sei es durch eine mögliche Rezent rierung einer uns überfordernden technischen Sphäre. Man muss für solche Einsicht nicht bis zu Phantasien hinaus ausgreifen, die menschliches Bewusstsein schon ins Digitale überwechseln und humane Körperlichkeit ins Robotische übertragen sehen. Vollkommen zu Recht stehen übergroße Fragezeichen im Raum. Auch bieten die neuen Techniken der Genmanipulation Anlass zu großer nachhaltiger Sorge. Nicht zu bestreiten wird aber sein, dass wir ein Ausgeliefertsein des Menschen an uns übergeordnete Leibesmächte schon nicht mehr ganz so fatal wie noch im vergangenen Jahrhundert empfinden mögen. Analog dazu lässt sich auch ein klassisches Maschinendenken nicht mehr durchhalten, indem die Apparate noch wie Frankensteins Monster darum ringen, eine echte Seele haben zu dürfen. Die Frage erübrigt sich, sobald man den Gerätschaften im Modus nüchterner Assistenzen begegnet. Wir haben keine schlaflosen Nächte über der Frage, ob wir unser Navi womöglich gekränkt haben, weil wir der vorgeschlagenen Route nicht konsequent gefolgt sind.
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Die neue Aufgabe des Designs wird folglich nicht mehr darin bestimmt werden können, einen ontologischen Kitt bereitzustellen für einen technologischen Riss durch unsere Menschenwelt. Es geht nicht mehr um metaphysische Titanenkämpfe (kosmischer Zerstörungswille gegen ebensolche Vitalkraft), und überhaupt erscheint die vertikale Ausrichtung und Polung der Designanstrengungen von gestern. Aussichtsreich ist dagegen eine Ausbildung neuer Horizonte, die sich noch innerhalb des Gesellschaftlichen verorten lassen und zugleich mit einer Partnerschaft der technolo35
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gischen Sphäre rechnen. Die horizontalen, genuin zwischenmenschlichen Verhältnisse sind also der Rahmen, den Design aufspannen und gestalten helfen muss. Dabei muss Design – methodologisch – auf grundsätzlich zwei verschiedenen Ebenen ansetzen. Auf der ersten, übergeordneten Ebene geht es darum, einen verfassungsmäßigen Rahmen für eine technisch informierte Lebenswelt bereitzustellen. Angesprochen in dieser Hinsicht wurden bereits derartige Vorstellungen hinsichtlich bestimmter Segmente wie Mobilität und Verkehr. Die Begegnungen auf Straßen, Schienen und im Luftraum werden künftig (wenn sie es nicht bereits sind) mit Hilfe von autonom agierenden Assistenzsystemen geregelt, und wir müssen herausfinden und ermitteln, was wir in dem Zusammenhang eigentlich wollen. Willensbildung heißt dann: sich erst einmal darüber einig werden, dass wir überhaupt einig sein wollen hinsichtlich einer bestimmten Interaktion. Es muss ein Bewusstsein dahingehend entstehen, ob (oder dass) wir überhaupt bestimmte Verkehrsgesellschaft bilden wollen und welcher Grundnatur diese dann sein soll. Wollen wir technologischen Wildwuchs oder selbstbestimmt mitentscheiden, wohin die Reise geht? Wollen wir liberale oder kommunitaristische Verkehrsverhältnisse? Das Instrument, das Design bereithält für derartige Bewusstseinsbildung heißt ›spekulatives Design‹. Gegenstände oder Szenarien werden demnach entworfen, nicht um der Objektgestaltung willen, sondern um eine Geisteshaltung in Subjekten hervorzubringen. Google Glass ging rückblickend (und wohlwollend gesehen) mit einem solchen Akt der Bewusstseinsbildung einher. Nachdem den Test-Trägern der Brille mehr und mehr der Zugang zu öffentlichen Räumen wie Cafés und Restaurants oder Bars verwehrt wurde, war klar: eine Gesellschaft mit möglicher Dauerüberwachung eines jeden durch jeden anderen wird man zukünftig nicht dulden. Spekulatives Design meint demnach die Gestaltung einer grundsätzlichen Haltung zu künftigen technokulturell einsetzenden Entwicklungen.
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Auf einer zweiten, bereits untergeordneten Ebene wird es darum zu tun sein, einen derart spekulativ anberaumten Grundrahmen der Verständigung weitergehend auszugestalten. Hierbei gilt es, die bisherige Aufmerksamkeit von der ästhetischen Gestaltung der
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Hüllen auf die Eleganz der Abläufe und Gebräuche zu lenken. Es ist Daniel Martin Feiges womöglich wichtigster Punkt, diese Umstellung entschieden anzumahnen.32 Nicht nur entspricht sie schon der gängigen Praxis, wenn man etwa auf die Gestaltung in der Sphäre der digitalen Applications blickt. Sie erweist sich auch als plausibel, wenn man dem Trend der gestalterischen Reduktion analoger Gerätschaften noch einmal mit einem zweiten Gedanken begegnet. Parallelen zu den Manifesten von Bauhaus und HfG Ulm sind nicht zufällig, denn die wahre Modernität scheint – dem vorgestellten Gedankengang folgend – in einer belastbaren praktischen Vernetzung der Gegenstände zu liegen und nicht in ihrer künstlerischen Herausinszenierung aus ihren funktionalen Alltagszusammenhängen. Im Verfolg desselben Ansatzes ist es auch nur konsequent, wenn Florian Arnold die Rolle der Einbildungskraft noch einmal überdenkt. Nicht mehr das freie, künstlerische Weltentwerfen steht dann mehr im Zentrum, sondern das prinzipielle Herausarbeiten und -kristallisieren von Ordnung. Geistesgeschichtlich bedeutet das, die Linie des Disegno-Gedankens von Leonardo bis Kant ernster zu nehmen und die daran anschließende Historisierung des Designs ein Stück weit zurückzufahren. Schließlich kommt es darauf an, tragfähige Grundstrukturen herauszubilden für das Verstehen der uns umgebenden Alltagswelt. Anders als es der Mainstream der hermeneutisch-postmodernen Disegno-Deutung sieht33, wohnt der Einbildungskraft ein Moment struktureller Intensivierung und Konsolidierung inne – und weit weniger die Lizenz zum schematischen Aufsprengen einer jeden Ordnungsvorgabe. Kants Motive moralisch-praktischer Grundierung menschlicher Weltbetrachtung werden in dieser Hinsicht erneut ernst genommen.
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Zur Konzentration des Designs auf praktische Abläufe und deren schematische Grundordnung kommt zuletzt noch das Moment einer grundsätzlichen Motivation hinzu. Das wird möglich, wenn das medientheoretisch anmoderierte Konzept des Storytelling im Design neu und zeitgemäß verstanden wird. Oliver Ruf leistet in dieser Hinsicht zurzeit Pionierarbeit. Storytelling im frühen 21. Jahr-
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32 Vgl. besonders das Kapitel »Praxisformen des Ästhetischen«, in: ders., a.a.O., S. 90 – 113. 33 Vgl. zuletzt Florian Arnold: Logik des Entwerfens: Eine designphilosophi-
sche Grundlegung, Paderborn 2018.
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hundert lässt demnach erstaunliche Kontinuitäten erkennen zu vormodernen Arten und Weisen des Erzählens. Ging es doch zuletzt darum, in bereits gegebenen Settings und Deutungsrahmen Geschichten auszuagieren, in die man grundsätzlich auch selbst verwickelt sein könnte. Das kreative Durchspielen von Szenarien, die im Prinzip immer gleich sind und immer neu faszinierend, wird wichtig zur nachhaltigen Motivation und Selbstpositionierung. Es liegt nahe anzunehmen, dass es zeitgenössisch vor allem die (auf Mitspieler bauenden) Videospiele sind, die im Grunde alle auf alte epische und dramatische Grundkonzepte zurückgehen. Naheliegend ist es auch zu sagen, dass es eine Form von kollektivem Erleben und Mitspielen ist, die – wenn überhaupt – zur ethisch-praktischen Bewusstseinsbildung beiträgt. Design als Storytelling zu verstehen heißt, im Zeitalter universeller Vernetzung, unsere allzeit aktive Kommunikation zu öffnen für gesellschaftliche Prozesse der Gemeinschaftsbildung.
Drei konzeptionelle Anker werden so ausgeworfen, um Designtheorie auf neue Grundlagen zu stellen. Methodisch lässt sich daraus folgern, dass es in Zukunft genuin rhetorische Prozesse sein werden, die es nachzuvollziehen gilt, und nicht mehr wie bisher hermeneutisch-künstlerische Ansätze. Der Rhetorik zu folgen, meint dann, nicht mit jedem Entwurf sogleich eine ganz eigene und neue Produkt-Welt ins Spiel bringen zu wollen, die wie ein einzelnes Kunstwerk sogleich auf eine ästhetisch erneuerte Weltordnung vorausdeutete. Rhetorik wäre umgekehrt zu dieser Strategie anzusetzen als die Ausdeutung praktischer Lebenszusammenhänge, in die hinein Produkte und ihr jeweiliger Gebrauch innovativ und damit immer noch erstaunlich genug eingebunden werden könnten. Rhetorik wäre zu deuten, ganz klassisch, als Belebung und Vertiefung einer bestehenden (human-technologischen) Grundordnung, über die hinaus man in demokratisch freiheitlicher Gesinnung nicht mehr gehen möchte. Sie ist als der Ansatz zu sehen, ein derartig gemeinschaftliches Zusammenleben erfreulich, sicher und ansprechend zu machen. Ihre Mittel sind seit Aristoteles’ Durchdringung der Disziplin als Wettbewerb der besseren Evidenzen zu veranschlagen, als Suche nach Alternativen, die dennoch zum selben Endziel des guten gemeinschaftlichen Lebens führen. Weniger hochtrabend formuliert ist es das Normalgeschäft des Designs,
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das einsetzt, wenn Produkte einmal ihren möglichen Wirkungsrahmen gefunden haben und die einstigen Revolutionäre und Pioniere endlich auch potente Mitstreiter bekommen. Unnormal und damit neu ist es in Zeiten der Digitalisierung, dass die Tiefe der praktischen Neugestaltung und Durchgestaltung unserer Lebenswelt bislang noch nicht einmal absehbar ist. Das Heil muss also jetzt designtheoretisch nicht mehr in der historischen Flucht aus bestehenden Verhältnissen gesucht werden, wie es von der Industriemoderne bis zur Postmoderne zum unangefochtenen Credo wurde; das Heil dürfte vielmehr in der Humanisierung unseres technikaffinen Alltags liegen – vorausgesetzt, dass wir im Grunde erst an deren erstem Anfang stehen.
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Eine abschließende Bemerkung für den Fall, das die vorangegangenen Ausführungen selbst noch einmal im Verdacht stehen, immer noch Teil einer noch lange nicht zu Ende gegangenen Epoche der Postmoderne zu sein – und sich also auch noch einer utopisch-weltflüchtigen Hoffnung verdanken. Zu einer menschlich wohlwollenden Entwicklung der beschrieben Art kann es zuletzt nur kommen, wenn die weitere Aufrüstung künstlicher Intelligenzen und Systeme einer ethischen Vorgabe folgt. Max Tegmark und seine Mitstreiter haben diese mit dem Stichwort einer »beneficial-AI movement«34 belegt. Gemeint ist damit der einfache Umstand, dass die Fortentwicklung künstlicher Intelligenz niemals zu deren – aus menschlicher Sicht – fraglicher Eigenständigkeit führen darf. Sie müsste also grundsätzlich im Status der Zuarbeit zu menschlichen Angelegenheiten bleiben und dürfte nicht mit eigenen Herrschaftsansprüchen gegen menschliches Wollen und Handeln in Stellung gebracht werden. Wollte man jene Vorsicht als Ideal im Sinne einer politischen Theorie reformulieren, hätte man es dann mit einer Art Athenisierung von Technik zu tun. So wie in der Hochzeit der griechischen Antike Sklavendienste es allererst ermöglichten, dass eine freie Bürgerschaft zur Demokratie fähig wurde, so müsste in analoger Gesamtanlage auch die künstliche Intelligenz als bloßer Beiträger herangezogen werden. Es läge an uns, die ethische Korrektheit solcher Nachordnung des Technischen gegenüber dem Humanen sicherzustellen. Zweifellos lässt es skeptisch sein darüber, 15
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34 Max Tegmark: Life 3.0. Being human in the age of Artificial Intelligence , London 2017, S. 30.
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ob Tegmarks weltweite Initiative Aussicht auf Gelingen hat. Klar ist im vorliegenden Zusammenhang der Designüberlegungen jedoch soviel möglicher Skepsis geschuldet: sollte ein »beneficial-AI movement« oder etwas Vergleichbares im weiteren Verlauf unseres Jahrhunderts scheitern, wird aus dem ›Next Big Step in Design Theory‹ nicht mehr als ein beherzter Schritt in den Abgrund menschlicher Geschichte.
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Benjamin D. Maxham (daguerreotype), black
Nida-Rümelin / J. Steinbrenner Hg.: Ästheti-
and white of Henry David Thoreau in June
sche Werte und Design: Stuttgart, Hatje-
1856. Gemeinfrei – Quelle: https://commons. Cantz, 2010. wikimedia.org/wiki/File:Benjamin_D._Maxham__Henr y_David_Thoreau_-_Restored_-_grey scale_-_straightened.jpg?uselang=de S. 35 Thoreaus Haus. Stahlstich nach einer Zeichnung von Sophia Thoreau, abgedruckt auf dem Titelblatt zu Henry David Thoreau: Walden or Life in the Woods, Boston 1854. – Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Walden#/ media/File:Walden_Thoreau.jpg
Impressum
464
Philosophie des Designs Schriftenreihe des Weißenhof-Instituts zur Architekturund Designtheorie © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Herausgeber Daniel M. Feige, Florian Arnold und Markus Rautzenberg Gestaltung & Satz HuM-Collective, hum-co.de Druck Offizin Scheufele Druck und Medien GmbH & Co. KG Print-ISBN 978-3-8376-4187-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4187-9 DOI doi.org/10.14361/9783839441879
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