Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs 9783839444894

What do we want to talk about when we think about design? Anyone who looks around is bound to see shaped objects. They h

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German Pages 314 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Theorien der Gestaltung
1. Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff
2. Die Form als Reform. Designgeschichte als Widerstand
3. Mensch und Technik. Wer gestaltet wen?
Topoi der Designgeschichte
4. Geschmack als Gemeinsinn. Das Design der Einfachheit um 1800
5. Schönhässlich. Über das Wilde in der Mode
6. Gestalten mit Nietzsche. Vom Jugendstil zum Bauhaus
7. Körper, Bild, Buchstabe. Zur Sinnlichkeit der Typografie
8. Das animierte Bild. Illustration als Illusion
Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs
 9783839444894

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Annette Geiger Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

| Band 41

Annette Geiger (Prof. Dr.) lehrt Theorie und Geschichte der Gestaltung an der Hochschule für Künste in Bremen. Sie lehrte Design- und Kulturgeschichte am Institut supérieur des arts appliqués in Paris, an der Universität der Künste Berlin und an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und hatte die Stiftungsprofessur für Mode und Ästhetik an der TU Darmstadt inne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kunst, Design und Ästhetik.

Annette Geiger Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Mit freundlicher Unterstützung der Hochschule für Künste Bremen

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept, Gestaltung & Satz: Andrea Dilzer, Christian Heinz Lektorat & Korrektorat: Jan-Frederik Bandel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-4489-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4489-4 https://doi.org/10.14361/9783839444894 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung

1

Theorien der Gestaltung

19

Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

21  

1.1 Vom Mythos des Funktionalen: Löst Design Probleme? 1.2 Das Paradox der Planung: Von der guten Form zum unsichtbaren Design 1.3 Entwerfen als Selbstermöglichung: Social und Critical Design

2

Die Form als Reform. Designgeschichte als Widerstand

2.1 Modelle der Geschichtsschreibung: Wie sammelt man Design? 2.2 Die Tasse des Diogenes: Zu den Ursprüngen der Gestaltung 2.3 Kunst und Design: Ein Drama der Moderne

3

9

Mensch und Technik. Wer gestaltet wen?

3.1 Über technische und ästhetische Kulturen 3.2 Belastungs- und Entlastungsmedien: Gedanken zur Schnittstelle 3.3 Das ökologische Subjekt: Vom Aufstand der Antiquierten

22 30 45

61 63 74 89

103 107 1 13 121

Topoi der Designgeschichte

129

Geschmack als Gemeinsinn. Das Design der Einfachheit um 1800

133

4.1 Dinge als soziale Beziehung 4.2 Die Lehre der Leere: Vom Interieur zum Selbstbild 4.3 Kants Ästhetik als Designtheorie

136 144 155

4

5

Schönhässlich. Über das Wilde in der Mode

5.1 Vom Ende des Schönen in der Mode der Moderne 5.2 King Kongs Rache: Wider die Verdrängung des Anderen 5.3 Pop als Exotismus: Zur Erfahrung des Diversen

6

Gestalten mit Nietzsche. Vom Jugendstil zum Bauhaus

6.1 Von der „Freude am Unsinn“ 6.2 Die Zeitschrift Pan: Ein Gesamtkunstwerk der Ambivalenz 6.3 Das schwebende Bauhaus

7

Körper, Bild, Buchstabe. Zur Sinnlichkeit der Typografie

7.1 Zur Bildtheorie des Buchstabens 7.2 Vom Bilderstreit zur Kippfigur 7.3 Das Zeichen und die Sinne

165 169 176 185

193

195 201 214

225

226 236 244

Das animierte Bild. Illustration als Illusion

253

8.1 Gestaltete Bilder von der Höhlenmalerei zum Kino 8.2 Animation als Dynamisierung von Raum und Zeit 8.3 Der gesprengte Rahmen: Zum Code des Cartoons

256 264 278

8

Fazit

293

Literaturverzeichnis

295

Abbildungsverzeichnis

303

Einleitung

Wovon wollen wir sprechen, wenn wir über Design nachdenken? Wer um sich blickt, stößt unweigerlich auf geformte Dinge. Denn was in unserer Umwelt wäre kein Artefakt des Menschen? Die Spuren unseres Eingreifens findet man nicht nur an gefertigten Gegenständen, sondern auch in der Natur oder gar im Klima des Planeten – wie es etwa der Begriff des Anthropozäns zu fassen sucht.1 Einen ähnlichen Gedanken formulierte R. Buckminster Fuller bereits in den 1960er Jahren: Er betonte die Notwendigkeit einer guten „Bedienungsanleitung“ für das „Raumschiff Erde“.2 Da das Handeln des Menschen alle Prozesse auf der Erde maßgeblich mitgestaltet, erscheint der blaue Planet geradezu als das Designobjekt, auf dem wir leben. Was immer wir tun, an der Logik des Formens führt kein

1 Der Begriff markiert in der geologischen Zeitrechnung, dass der Mensch begann, alle biologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde maßgeblich zu beeinflussen. Die Bezeichnung wurde im Jahr 2000 von Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer in die Diskussion gebracht, um die Natur als Kulturaufgabe des Menschen zu definieren. Vgl. Paul Crutzen: „Die Geologie der Menschheit“, in: ders. et al., Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 7–10. 2 Richard Buckminster Fuller: Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften (1968), Amsterdam, Dresden: Verlag der Kunst 1998.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Weg vorbei: Allerorts waren Entwerfer3 am Werk, um Medien und Techniken, Kunst- und Kulturdinge, Wissensformen und Unterhaltungsformate für uns nützlich und benutzbar zu machen. So dass schon Karl Kraus in seinen Aphorismen treffend notierte: „Gegen den Fluch des Gestaltenmüssens ist kein Kraut gewachsen.“4 Aber geht es im Design tatsächlich nur um den Nutzen und die Nutzbarkeit? Ist alles, was man benutzen kann, schon Design? Wie weit sollte man den Begriff der Gestaltung eigentlich fassen? Mir scheint, nicht alle Dinge und Formen, alles Wahrnehmen und Handeln sollten als Design gelten. Denn wäre tatsächlich alles Design, könnte man auf den Begriff getrost verzichten. Design braucht eine Grenze zu dem, was nicht Design ist, sonst liefe die Definition ins Leere. Das Nachdenken über Gestaltung im engeren Sinne setzt voraus, dass ein Unterschied gemacht wird zwischen den Formen des Designs und sonstigen Formen. Doch wie sollte man diese Grenzziehung nun vornehmen und begründen? In den folgenden Überlegungen gehe ich davon aus, dass die moderne westliche Gesellschaft den Designbegriff hervorgebracht hat, um anhand bestimmter Kriterien und Werturteile das Gestaltete von anderem zu unterscheiden. Design kann potenziell an allen Dingen realisiert werden, und doch ist nicht alles Design – das ist die nicht gerade einfache Situation, zu deren Klärung dieses Buch beitragen möchte. Es gilt, die Gestaltung der Dinge von den Dingen selbst zu unterscheiden. Der Designbegriff sollte nicht mit dem Dingbegriff verwechselt werden. Als Design erweist sich nur ein bestimmter Aspekt der Dinge, entsprechend einer Wahrnehmungs- bzw. Codierungsweise, die man beim Entwerfen und Betrachten der Dinge anwenden kann – oder auch nicht. Gelingt es nicht, Dinge als gestaltete Dinge wahrzunehmen, sind sie schlichtweg kein Design. Solche Dinge wurden zwar auch geformt, aber sie können am Designdiskurs nicht teilnehmen, da sie sich nicht in der Logik der Gestaltung betrachten und bewerten lassen. Über die Kriterien, was als Design bzw. wie etwas als Design wahrzunehmen ist, entscheiden Produzenten

3  Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders vermerkt, immer auch die weibliche Form mitgemeint. 4 Karl Kraus: Sprüche und Widersprüche (1909), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 92.

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Einleitung

ebenso wie Rezipienten. Design bildet eine generalisierte Betrachtungsweise, die sich als kollektiv vorauszusetzende Codierung in unserer Gesellschaft etabliert hat: Es gibt Design, weil wir bestimmte Dinge aufgrund ihrer Eigenschaften als Design behandeln – und wir können davon ausgehen, dass andere Betrachter dies ebenso sehen. In diesem Sinne muss der Gestaltungsbegriff natürlich deutlich enger gefasst werden als in der eingangs skizzierten Idee vom Designobjekt Erde. Nicht alles Formen und Handeln des Menschen gehört zur Gestaltung, nicht alle Prozesse, die sich auf unserem Planeten ereignen, wurden als Design entworfen. Von „Ozonlochdesign“ möchte man z. B. nicht sprechen, denn eine solche Ausweitung des Designbegriffs würde unsere Idee von guter Gestaltung wohl unterminieren. Die Betrachtungsweise des Designs kann als eine spezifische Form ästhetischer Wahrnehmung begriffen werden. Denn das Aufgabengebiet der Ästhetik ist keineswegs auf die Theorie der Kunst begrenzt, die Artefakte des Alltags gehören ebenfalls dazu – nur wird diese Zuständigkeit für Kunst und Design von der ästhetischen Theorie noch immer vernachlässigt oder gar verdrängt. So stellt auch Andreas Dorschel fest: „Das Brauchbare in ästhetischer Hinsicht zu unterschätzen, hat in der Philosophie eine lange Tradition.“5 Weil sich die ästhetische Theorie vornehmlich als Philosophie der Künste entwickelt hat, fehlt uns bis heute ein Begriff des Ästhetischen, der auch zum Design passen würde. Das Hierarchiedenken der tradierten Kulturtheorie schreibt den Gebrauchsdingen nur eine Art illegitime Ästhetik zu, meist als Ästhetisierung oder Warenästhetik bezeichnet. Man fragt nicht nach dem sinnlichen Potenzial aller Dinge, wie es der Ästhetikbegriff eigentlich verlangt, sondern schreibt dieses von vornherein nur einer Gattung zu, der Kunst. So kommt auch Gernot Böhme zu dem Schluss: „Eine vornehmlich an Kunst und dem Kunstwerk orientierte Ästhetik konnte die Ästhetisierung der Realität nur als Kitsch, Kunsthandwerk oder als angewandte Kunst mit abfälligen Blicken streifen.“6

5 Andreas Dorschel: Gestaltung – Zur Ästhetik des Brauchbaren, Heidelberg: Winter 2003, S. 9. Diesen Ausgangspunkt teilt auch Jane Forsey: The Aesthetics of Design, Oxford: Oxford University Press 2013, S. 2ff. 6  Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 7.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Mit der Gattungstrennung von Kunst und Design wurde ein Blickregime etabliert, das immer erst das Gefälle vom Geist zur Geistlosigkeit markiert, bevor es sich auf das Wahrnehmen der Dinge einlässt. Die Prämissen der Theorie verhindern letztlich, dass wir das sinnliche Erleben überhaupt noch erleben. So führt Gernot Böhme andernorts aus: „Aufs Ganze gesehen ist die bisherige Ästhetik nicht Aisthetik, d.h. gerade die Sinnlichkeit kommt in ihr zu kurz. Sie ist nicht eine Theorie sinnlicher Erfahrung, sondern der intellektuellen Beurteilung.“7 Trotz allem ist es nicht im Sinne der hier vorgestellten Designästhetik, die Grenzen zwischen Kunst und Design aufzuheben. Denn die Designdefinition leidet schließlich daran, keine klaren Abgrenzungen angeben zu können. Erst die Feststellung einer Ausdifferenzierung von Kunst und Design kann somit helfen, die Gestaltung in ihrer Eigenheit zu verstehen. Kunst und Design gehören gleichermaßen zur Ästhetik – aber sie haben sich historisch unterschiedlich entwickelt, verfolgen eigene Fragestellungen und bilden folglich autonome Codierungen aus. Als Kommunikationssysteme verfahren sie unabhängig voneinander, aber sie befinden sich auf Augenhöhe im Hinblick auf ihr ästhetisches Potenzial. Als einen ersten Unterschied können wir festhalten, dass wir im Fall der Kunst meist wissen, wovon wir sprechen sollen. Die Diskurse legen recht klar fest, was als Kunstwerk zählen darf und was nicht. Den Themen der Kunst begegnen wir in schützenden Institutionen wie Museen und Ausstellungen, Katalogen und Kritiken, sie bestimmen und sichern die Grenzen der Disziplin. Wie sehr sich die Kunst seit der Moderne auch mühte, diese Grenzen zu unterlaufen oder den Werkbegriff zu sprengen, alle entsprechenden Strategien mussten innerhalb des Kunstdiskurses erfolgen. In der Gestaltung hingegen ist das Gegenteil der Fall: Design kann uns überall begegnen, es wird allerorts hervorgebracht, oft auch anonym, ohne namhaften Autor. Weil es eine ästhetische Qualität von Dingen ist, die wir oft einfach nur benutzen, vermischt sich das Gestaltete so sehr mit dem Alltag und seinen Routinen, dass wir es oft nicht mehr bemerken. Design wird gewöhnlich durch Gewöhnung. Zwar gibt es auch Designsammlungen, die uns aufmerksam machen auf das Entworfensein der Dinge, aber

7

Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München: Wilhelm Fink 2001, S. 30.

12

Einleitung

sie können natürlich nur einen geringen Teil dessen beherbergen, was wir als Design betrachten sollten. Es gibt deutlich mehr gestaltete Dinge, als die Museen je sammeln und bewahren könnten. Design muss sich also auch ohne institutionellen Schutz bewähren und geht daher im Alltäglichen allzu oft unter. Trotz allem verfügt die Gestaltung über eine diskursive Eigenlogik – sie ist nur ungleich schwerer auszumachen als in der Kunst. Design hat Grenzen. Versuchen wir, sie zu benennen. Welche methodischen Ansätze und Theorien könnten sich dafür eignen? Nicht alles Forschen über die Artefakte des Menschen ist bereits ein Forschen über Design. Betrachtet man, wie die Gesellschaftswissenschaften unsere materiellen Alltagskulturen erforschen, scheint mir die genuin ästhetische Designqualität der Dinge in den meisten Ansätzen keine Rolle zu spielen. Man nimmt die Objekte als Indikatoren, um Rückschlüsse auf die Gesellschaft zu ziehen, die sie hervorbringt. Es geht also um die soziologischen Aspekte unseres Lebens mit Dingen, nicht um Design als ästhetische Disziplin. Designgeschichte und Konsumgeschichte sollte man keinesfalls gleichsetzen. Doch bleibt ein gesellschaftstheoretischer Hintergrund auch für meine Überlegungen unverzichtbar. Da ich in diesem Kontext die Begriffe Diskurs und System verwende, da ich von Codierung und Autonomie sowie der Ästhetik als Lebensform und Selbstsorge spreche, ist unschwer zu erkennen, dass ich mich auf das Denken von Michel Foucault und Niklas Luhmann beziehe. Diskursanalyse und Systemtheorie werde ich jedoch nicht gegeneinander setzen, mich interessiert vielmehr die Schnittstelle beider Ansätze: Design wird dabei als eigenständiges Kommunikationssystem verstanden, das kritisch wertet und codiert. Es gibt Menschen die Möglichkeit, auch ästhetisch zu existieren bzw. sich durch ästhetische Kommunikation selbst zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund können weitere Ansätze von Kant über Nietzsche zu Adorno, von Charles Baudelaire über Roland Barthes zu Michel de Certeau sowie zahlreiche heutige Theorien auf ihren Beitrag zu einer Designästhetik untersucht werden. Dabei gilt es, das weite Feld des Gestaltbaren in den Blick zu bekommen – all die Produkte, Werkzeuge und Medien, die unseren Alltag bestimmen, die Kleider, die wir tragen, die Bilder und Zeichen, die wir lesen und deuten. Keinesfalls soll der Designbegriff hier nur an das Industriedesign bzw. die Serien- und Massenproduktion gebunden werden, wie man es in der Literatur noch immer häufig findet. Designtheorie als

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Ästhetik vermag sich gleichberechtigt so unterschiedlichen Ausrichtungen zu widmen wie Produkt- und Modedesign, Grafik, Typografie und Illustration, Film und Fotografie bis hin zur Medien- und Raumgestaltung. Die gestalterischen Strategien können dabei auf die verschiedensten Weisen realisiert werden: als konzeptuelles Autorendesign oder als anonyme Gestaltung, als Serie oder Unikat, als Handwerk oder High Tech, als Doit-yourself-Kultur, Social oder Critical Design usw. Zwischen Avantgarde und Mainstream, dem Herstellen von Ordnung oder dem subversiven Unterlaufen derselben kennt ästhetische Gestaltung die verschiedensten Positionen. Design ist nicht einmal an materielle Produkte gebunden, immaterielle Ideen und Konzepte, gar imaginäre und utopische Szenarien können ebenfalls zur Gestaltung gerechnet werden. Dieser Pluralität und Diversität der Disziplin sollte ein zeitgemäßer Designbegriff auch Rechnung tragen. Angesichts eines derart ausufernden Objektbereichs ist es nicht verwunderlich, dass sich im akademischen Fächerkanon kaum eine Disziplin für die Gestaltung zuständig fühlt. Weil Design potenziell überall möglich ist, erscheint es als nicht bestimmbar oder gar beliebig. Auch der allgemeine Sprachgebrauch hilft nur wenig bei der Eingrenzung, allerorts grassieren oberflächliche, oft klischeebehaftete Designdefinitionen. Aber es gibt Orte der Forschung und Lehre, an denen ein Designdiskurs im engeren Sinne tagtäglich praktiziert werden muss: So hat man nur zu beobachten, wie an Kunsthochschulen und Hochschulen mit Fachbereichen für Gestaltung die gesamte Breite des Designbegriffs unterrichtet wird – ohne dabei an Spezifik zu verlieren. Um Gestalterinnen und Gestalter auszubilden, braucht man Kriterien, der Designbegriff muss hier programmatisch zu sich finden, um Qualität bestimmen zu können. Denn zu gehorsamen Vollstreckern der Warenästhetik, zu willigen Dienstleistern des schönen Scheins, wie es die tradierte Kulturkritik dem Design oft vorwirft, möchte man den Nachwuchs sicher nicht ausbilden – aber was lehren wir dann eigentlich als gutes Design? Das implizite Wissen unserer Designausbildungen wird noch viel zu selten beachtet, um die Grenzen des Designbegriffs abzustecken. Neben den genannten Denkern werde ich daher auch einflussreiche Designlehrende als Theoretiker zu Wort kommen lassen – von Max Bill und Otl Aicher über Lucius Burckhardt und Victor Papanek zu Anthony Dunne und Fiona Raby. An ihren Designauffassungen lassen sich die Entwicklungen und Probleme der Gestaltungsdisziplin besonders gut aufzeigen.

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Einleitung

Meine Überlegungen greifen aber auch auf die eigenen Erfahrungen zurück, die ich im Laufe von zwei Jahrzehnten Lehre im Fach „Theorie und Geschichte der Gestaltung“ machen durfte. An Hochschulen im In- und Ausland konnte ich vielfältige Einblicke gewinnen, allen Studentinnen und Studenten, Kolleginnen und Kollegen, die mir dabei geholfen haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Das Buch stellt meine Forschung zur Ästhetik der Gestaltung in zwei Teilen vor. Der erste Teil beschäftigt sich mit den Fragen der Theoriebildung. Wie kann man den Designbegriff heute sinnvoll definieren (Kapitel  1)? Welche Mythen und Klischees gilt es dabei zu entkräften, welche Widersprüche und Paradoxien zu berücksichtigen? Und vor allem: Wie kann der Begriff des Ästhetischen so gefasst werden, dass er neben der kunstwissenschaftlichen Ästhetik auch eine eigenständige Designästhetik ermöglicht? In diesem Rahmen gilt es auch die Frage nach der Geschichtsschreibung zu erörtern (Kapitel 2): Seit wann gibt es eigentlich Design? Allzu häufig wird Design als Folge der Industrialisierung gedeutet, meist unter der Annahme, dass das Entwerfen der Maschinenproduktion zu folgen hatte. Demgegenüber möchte ich ein Geschichtsmodell vorschlagen, das just das Gegenteil, nämlich den ästhetischen Widerstand gegen die Industrialisierung und Rationalisierung, zum zentralen Motiv des Designs erhebt. Eine Designästhetik muss sich aber auch daran messen lassen, wie sie das Verhältnis von Mensch und Technik bestimmt – zu jenem Bereich des Nützlichen also, der dem Ästhetischen wohl am deutlichsten gegenübersteht (Kapitel 3): Die Selbstermöglichung des Menschen, die das Ziel alles Gestaltens bildet, verlangt eine klare Abgrenzung der ästhetischen Praxis gegenüber der technischen Logik. Und doch gestaltet Design natürlich nicht gegen die Technik, sondern mit ihr – welche Werte und Kriterien können wir also verfolgen, wenn es gilt, das Technische auch als human zu entwerfen? Diese Fragen des Designs verbinden sich im Motiv eines Andersmöglichseins: Alle Gestaltung beginnt mit der Feststellung, dass wir die Wahl haben, unsere Dinge und Medien, unsere Kommunikationen und Beziehungen, unsere Technologien, Ökonomien und Ökologien auch anders zu gestalten – denn sonst bräuchte man keine Entwerfer, die sich über die gute Wahl der Formen Gedanken machen. Design setzt somit das Erkennen von gestalterischer Freiheit voraus, es gibt keine Zwangsläufigkeit, die zu einer einzig richtigen Form führen könnte. Das Ausgestalten dieser

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Spielräume ist allem voran ein ästhetischer Prozess. Diese Prämissen der Designästhetik gilt es im zweiten Teil des Buches auch historisch zu belegen. Eine systematisch und chronologisch angeordnete Designgeschichte scheint mir in diesem Rahmen jedoch unangebracht. Sie wäre angesichts der Fülle an Phänomenen kaum begrenzbar. Daher werde ich anhand ausgewählter Topoi, quer durch die unterschiedlichen Gattungen und Epochen der Gestaltung, den Diskurs des Andersmöglichseins als zentrales Anliegen des Designs sichtbar machen. Die einzelnen Kapitel zur Geschmackskultur der Einfachheit (Kapitel 4), zum Wilden und Diversen in der Mode (Kapitel 5), zur Nietzsche-Rezeption vom Jugendstil zum Bauhaus (Kapitel 6), zur Sinnlichkeit der Buch- und Buchstabenkunst (Kapitel 7) und zum Animations- und Illusionscharakter von gestalteten Bildern (Kapitel 8) lassen sich daher auch unabhängig voneinander lesen. Sie folgen keiner Fortschritts- oder Entwicklungslogik, sie bündeln vielmehr Motive, die im Design auf eine lange Geschichte zurückblicken. Gestaltung beginnt, wenn es uns gelingt, Alternativen zu sehen. Es handelt sich somit nicht um eine Seinsweise von Dingen, sondern um eine Sichtweise der Dinge. Designästhetik ist überall möglich, wenn wir es verstehen, sie wahrzunehmen und zu reflektieren. Dies ist weniger eine Frage des Wissens als vielmehr eine Frage des Tuns. Design muss von seinen Produzenten wie Rezipienten aktiv praktiziert werden, um zu existieren.

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Theorien der Gestaltung

1 Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

Der Designbegriff ist nicht nur aufgrund seiner unscharfen Grenzen so schwierig zu bestimmen, sondern auch weil die Umgangssprache ihn so widersinnig verwendet. Häufig benutzen wir den Begriff abwertend, um Dinge als gewollt, manieriert oder gar manipuliert zu beschreiben. Vor solchen überzogenen Formversuchen scheint kein Lebensbereich mehr sicher, man spricht von Gen-Design und Designer-Babys, von Emotional Design und Food Design, Designerdrogen, Karrieredesign oder gar Selfdesign.1 Der Begriff muss in der pejorativen Verwendung herhalten, um ein künstliches, überzüchtetes Eingreifen zu kritisieren. Man vermutet illegitime Ästhetisierung bis hin zum Betrug an der Wirklichkeit, alles Bemühen um die Form führt hier zu mehr Schein als Sein. Dass es diese Phänomene gibt, dass ein erwartungskonformes Styling unseren Alltag allerorts beherrscht, sei hier natürlich nicht bestritten. Nur warum sollte es sich dabei um Design handeln? Wie ich in diesem Kapitel zur Begriffsbestimmung zeigen möchte, wurde der Designbegriff hervorgebracht, um eben diese Grenze zwischen illegitimer Überformung und guter Gestaltung zu markieren – und nur die eine Seite der Unterscheidung gilt seither als Design.

1 Vgl. Mateo Kries: Total Design. Die Inflation moderner Gestaltung, Berlin: Nicolai 2010.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Schließlich wird von guter Gestaltung etwas anderes erwartet als nur Styling oder gar Kitsch: Unser Alltag wäre ohne sinnvoll gestaltete Gebrauchsgegenstände kaum zu ertragen. Gut gedachte Dinge sollen uns die Arbeit erleichtern, Kommunikation und Mobilität ermöglichen, Freude bereiten oder auch zum Nachdenken anregen und möglichst noch die Welt verbessern – so die eigentliche Erwartung an die Designdisziplin, die wir wohl alle hegen. Zugespitzt kann man nur folgern: Schlechtes Design ist eigentlich kein Design. Entweder Design ist gut oder es ist kein Design, sondern schlicht Formung. Diese nur scheinbar simple Feststellung lässt aber immer noch die Frage offen, was das gute Gestalten nun ausmacht. Viele Ansätze der Designtheorie setzen in diesem Zusammenhang auf das Argument des Funktionalen. Dem Verdacht, nur der Ästhetisierung der Waren zu dienen, entgegnen sie mit einem Plädoyer für strikte Zweckrationalität. Den Vorwurf verführerischer Konsumlogik sucht man durch die Besinnung auf Vernunft und Nützlichkeit zu entkräften. In diesem Zuge hat man allerdings auch die Ästhetik aus dem Denken des Designs verbannt: Kaum ein Ansatz zur Gestaltung ist so ästhetikfeindlich wie die Doktrin des Funktionalismus. Alles Brauchbare gelte es so zu gestalten, dass es allein für Rationalität und Effizienz stehe – ohne Ornament und Dekor. Doch warum setzt man Ästhetik eigentlich immer mit Verzierung gleich? Bei näherer Betrachtung, so meine These, erweist sich die funktionale Form ihrerseits als ästhetisch motiviert.

1.1 Vom Mythos des Funktionalen: Löst Design Probleme? Als funktional soll gelten, was seinen Zweck ohne Beiwerk erfüllt, so wird auch das viel zitierte Diktum „Form follows function“ gemeinhin interpretiert:2 Der Entwurf habe alles Überflüssige zu vermeiden und leite die Form der Dinge kausallogisch aus ihrem Nutzen ab. Doch wo-

2 Die Formel wird meist dem amerikanischen Architekten Louis H. Sullivan zugeschrieben, sie stammt aber bereits vom Bildhauer Horatio Greenough. Vgl. Annette Geiger: „‚Form follows function’ als biozentrische Metapher“, in: dies., Stefanie Hennecke, Christin Kempf (Hg.), Spielarten des Organischen in Architektur, Design und Kunst, Berlin: Reimer 2005, S. 50–67.

22

1  Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

ran bemisst sich die Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes eigentlich? Design soll schließlich kein beliebiges Funktionieren zustande bringen, sonst wäre die Warenästhetik ja auch funktional, sobald sie gut funktioniert. Zweckmäßiges Design soll vielmehr Probleme lösen: Aus der Erkenntnis eines Bedarfs und des daraus abgeleiteten Nutzens sucht die Gestaltung ihre Entwurfsaufgabe zu formulieren. Methodisch und planerisch gestützt führe der Designprozess zu einer Form, die sich als die folgerichtige Lösung des Problems erweist – so der Grundgedanke des Funktionalen. Es ist unschwer zu erkennen: Alles an dieser Argumentation ist darauf aus, Freiheiten zu begrenzen. Man möchte Nützlichkeit berechenbar machen, um gerade die ästhetischen Freiheiten als überflüssige Spielerei abtun zu können. Doch wie sollte man diesen Anspruch eigentlich in der Praxis umsetzen? Betrachten wir z. B. einen Stuhl, jenes Sitzmöbel, das wohl zu den beliebtesten Klassikern der Disziplin gehört. Was wäre ein funktionaler Stuhl? Man sollte natürlich darauf sitzen können. In unserem Kulturkreis mag man daher an Stuhlbeine, eine Sitzfläche und eine Rückenlehne denken. Aber auch das ist relativ, denn sitzen kann man auf vielem, sogar auf dem Boden. Unsere Kultur des Stuhls leitet sich also nicht aus dem Sitzen allein ab, sondern aus den entsprechenden Tätigkeiten, die wir meist sitzend an einem Tisch verrichten. Dieser für die westliche Kultur typischen Lebens- und Arbeitshaltung muss sich ein Stuhl also anpassen, um gut zu funktionieren. Für den Entwurf eines funktionalen Stuhls könnte man folglich die Gesetze der Ergonomie bemühen – doch werden diese in der Designpraxis oft abgelehnt: Zu Recht, denn die Körper der Menschen sind zu unterschiedlich geformt, um daraus eine einzige, für alle gültige Form herzuleiten. Angesichts heutiger Technologien wäre es zwar durchaus möglich, über individuelle Bodyscans, Customization und 3D-Drucker jedem Menschen seinen eigenen, persönlich abgestimmten Funktionsstuhl auf den Leib zu schneidern. Doch würden wir diesen Stuhl noch als Design bezeichnen oder schon als Prothese betrachten? Der rechnerisch kalkulierte Entwurf hätte zwar alles richtig gemacht, aber von wahrem Stuhldesign erwarten wir, dass das Objekt nicht nur für eine Person, sondern möglichst für alle nutzbar bzw. nützlich ist. Schließlich sind wir höchst mobile Wesen, die in den unterschiedlichsten Situationen sitzen möchten, ohne immer den eigenen Stuhl dabei zu haben.

23

Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Ein funktionaler Stuhl müsste also einer möglichst großen Anzahl von Menschen bzw. Körperformen Platz bieten. Doch wie sollte man das planen? Der Funktionalismus gibt vor, vom Menschen aus zu denken, aber nach welchem Menschen will er sich dabei richten? Nach einem normierten Durchschnittsmenschen, der nur rechnerisch, aber nicht tatsächlich existiert? Oder gar nach einem Idealmenschen, den es erst noch zu erziehen gilt? Die Form kann dem Nutzen letztlich nicht folgen. Es folgt, wenn überhaupt, der Nutzer einem vorgegebenen Ideal von Nützlichkeit. Aller Funktionalismus ist streng genommen nur eine Projektion von Funktionalität. So hält auch Andreas Dorschel in seinem Buch zur Ästhetik des Brauchbaren fest: „Zwecke, Technik und Material determinieren nicht die Gestaltung, sondern setzen der Wahl der Form lediglich Grenzen, innerhalb derer sie unterschiedlich ausfallen kann.“3 Das heißt bezogen auf unser Beispiel: Auf einem Stuhl sollte man sitzen können, das muss wohl so sein. Der Zweck determiniert ein Soseinmüssen, auf das wir uns im Alltagsgebrauch verlassen möchten. Aber das verlässliche Funktionieren der Dinge determiniert keineswegs ihre Form. Denn innerhalb des Soseinmüssens sind unzählige Formen denkbar, aus denen sich ein immer neues Andersmöglichsein der Dinge ergibt. Erst wenn diese kontingente, d. h. kausal nicht determinierbare Seite der Dinge reflektiert wird, befinden wir uns im Bereich der Gestaltung. Design als Andersmöglichsein lotet die Freiheiten der Formgestaltung aus und nicht deren Begrenzung. Dass die Dinge funktionieren werden, wird im Design letztlich schon vorausgesetzt. Nicht das Funktionieren selbst wird also in der Gestaltung gestaltet, sondern jene Seiten der Form, die sich aus dem bloßen Funktionieren gerade nicht ableiten lassen. Als Stuhl vermag schließlich vieles zu funktionieren bzw. viele Stühle leisten das, was wir von der Funktion „Stuhl“ erwarten – aber deshalb sind sie noch keine gut gestalteten Stühle. Es gehört mehr dazu als die reine Funktionalität, um als Design zu gelten. Zwischen dem funktionalen Soseinmüssen und dem ästhetischen Andersmöglichsein wird die Gestaltung immer Letzterem den Vorzug geben. Daher stößt man in der Geschichte des Designs auch auf Stühle, auf denen man kaum sitzen kann. Sie demonstrieren

3 Andreas Dorschel: Gestaltung. Zur Ästhetik des Brauchbaren, Heidelberg: Winter 2003, S. 62.

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1  Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

letztlich nur die Freiheit der Form gegenüber den Vorgaben der Funktion. Doch hat der Funktionalismus nicht nur ein Planungs- und Rechenproblem, insofern er die Formen nicht methodisch gesichert aus dem Nutzen ableiten kann. Die Ideologie der Zweckmäßigkeit hat auch ein Problem auf der Seite der Bedarfsermittlung: Der Nutzen der Dinge soll sich auf die menschlichen Bedürfnisse beziehen – aber ist es überhaupt gut, diese zu befriedigen? Wenn der Mensch möglichst bequem sitzen möchte, muss die funktionale Gestaltung eines Stuhls diesen Wunsch wohl erfüllen. Doch wie könnte Bequemlichkeit als gute Lösung unseres Sitzproblems gelten? Die heutige Kultur ist schon viel zu bequem geworden. Wir sitzen viel zu viel, und dafür sind unsere Körper nicht gemacht. Wie also sollte ein Stuhl das Problem des Sitzens lösen, wenn das Sitzen selbst unser Problem ist? Wackelige Sitzbälle oder kippelige Hocker, auf denen man permanent in Bewegung bleibt, wären für den Menschen sicher gesünder und somit nützlicher. Die eigentliche Lösung des Problems Stuhl läge in unseren Breitengraden vermutlich in seiner Abschaffung. Oder wäre vielleicht ein möglichst unbequemer Stuhl gute Gestaltung, da er uns zwingt, bald wieder aufzustehen? Jeder noch so funktionale Stuhl erweist sich als Scheinlösung. Und so ist es nicht verwunderlich, dass wir uns bei der Wahl eines Stuhls meist für den schöneren entscheiden, denn einen besseren gibt es offenbar nicht. Design ist keine Kulturtechnik, die Probleme löst, sie schafft vielmehr welche: Alles, von der Denkweise zum Lebensstil, von der Erwartungshaltung zur täglichen Gewohnheit muss im Design zum Problem gemacht werden. Uns bewusst zu machen, dass ein Stuhl keine Problemlösung für das Sitzen sein kann, bildet den Anfang des Gestaltens. Der Funktionalismus-Diskurs versteckt seine inhärenten Widersprüche auch gerne hinter dem Argument, zweckmäßige Formen würden demokratisch wirken. Indem das funktionale Entwerfen alle Menschen als gleich annimmt, diene man dem Gemeinwohl aller. Dem Ideal der Gleichheit mag man sich natürlich nicht entgegenstellen – das macht die Kritik so schwierig. Doch kommt dieses Designverständnis bei näherer Betrachtung nicht ohne einen Erziehungsgedanken aus: Das Individuum hat seine egoistischen Interessen immer erst zurückzustellen, es muss immer erst Vernunft annehmen, was sein Brauchen und Gebrauchen angeht. Aus den funktional konzipierten Formen für alle resultieren folglich Normen: Der Entwurf bestimmt nicht nur die Form, sondern auch unseren

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Umgang mit ihr. Er entwirft das Verhalten der Benutzer gleich mit. Stets haben wird dem zu gehorchen, was die rationale Form als vernünftigen Nutzen vorgibt. Gerd de Bruyn hat dieses Verständnis von Demokratie treffend als „Diktatur der Philanthropen“ bezeichnet.4 Der Anspruch des Funktionalen mündet in gut gemeintes Bevormundungsdesign. Man entwirft nicht nur die Formen der Dinge, sondern gibt damit auch die Form der Gesellschaft vor. Doch wie sollten Dinge als demokratisch gelten, wenn man nicht mehr die Wahl hat? Kaum ein Theoretiker hat dieses Paradox präziser beschrieben als Theodor W. Adorno. Auch ihn beschäftigte die Frage, warum kalkuliertes Gemeinwohl und gute Gestaltung so schwer zu vereinbaren sind. Auf Einladung des Deutschen Werkbundes hielt er 1965 den Vortrag Funktionalismus heute.5 Zu jener Zeit waren die ersten Projekte des Wiederaufbaus abgeschlossen, die Wohnungsnot der unmittelbaren Nachkriegszeit gelindert. Aber das bauliche Ergebnis konnte kaum zufriedenstellen, man war vielmehr erschrocken über die „Unwirtlichkeit“ der neu entstandenen Städte.6 Wie hatte das rationale Bauen zu solcher Trostlosigkeit führen können? Adorno war dem Ideal des Zweckmäßigen zwar durchaus wohlgesonnen, er hielt es gar für alternativlos, wenn es galt, der Warenästhetik zu entkommen. Doch zeigte er auch die Dialektik auf, die der Nützlichkeitsdiskurs nach sich zieht: Das barbarische Kalkül der Sachlichkeit habe über die inhärente Profitlogik zu jener menschenfeindlichen Kälte geführt, die uns in der Nachkriegsarchitektur entgegenschlage. Alles Nützliche, so Adorno, sei nun „in der Gesellschaft entstellt, verhext“.7 Eine Architektur ohne humanen Maßstab, ja sogar physischer Schmerz folge aus dem reinen Zweckdenken, das uns durch „spitze Kanten, karg kalkulierte Zimmer, Treppen und Ähnliches sadistische Stöße versetzt“.8 Solches Bauen stelle eine Form der Entmündigung für die Bewohner dar: Denn wenn die Planer vorgeben,

4    Gerd de Bruyn: Die Diktatur der Philanthropen. Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken (Bauwelt Fundamente, Bd. 110), Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1996. 5 Theodor W. Adorno: „Funktionalismus heute“, in: ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 104–127. 6 Vgl. Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden (1965), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 7 T.W. Adorno: Funktionalismus heute, S. 123. 8 Ebd., S. 110f.

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vom Menschen auszugehen, denken sie besser von ihm, als er ist.9 Zweckrationalität setzt nach Adorno immer schon einen zur Vernunft erzogenen Idealmenschen voraus. Um dieser Bevormundung zu entgehen, fordert er im Gegenzug: „Die lebendigen Menschen, noch die zurückgebliebensten und konventionell befangensten, haben ein Recht auf die Erfüllung ihrer sei’s auch falschen Bedürfnisse.“10 Andernfalls, so fährt er mahnend fort, schlage eine erzieherisch gedachte volonté generale (jener nur im Ideal existierende Allgemeinwille) in brutale Unterdrückung um gegen die volonté de tous (jenen Willen der Mehrheit, der leider auch unvernünftig ausfallen kann). Daher folgert er: „Sogar im falschen Bedürfnis der Lebendigen regt sich etwas von Freiheit.“11 Den allzu menschlichen Hang zur Warenästhetik wollte Adorno damit sicher nicht rechtfertigen. Aber er hält es zu Recht für unmöglich, die ewige Dialektik von rationalem Effizienzdenken und irrationaler Bedürfnisartikulation in einem Konsensmodell der vermeintlich guten bzw. funktionalen Form zu vermitteln. So kam er zu dem Schluss, dass man sich diesen Fragen nur im Rahmen einer „veränderten Ästhetik“ widmen könne.12 Seine Einsichten wollte Adorno der damaligen Zuhörerschaft aber nicht zumuten, so formuliert er beinahe zaghaft: Die „Architektur und jede Zweckkunst“ verlangen „aufs Neue nach der verfemten ästhetischen Reflexion“: „Ich weiß, wie verdächtig Ihnen das Wort Ästhetik klingt. Sie werden dabei an Professoren denken, die mit zum Himmel erhobenem Blick formalistische Gesetze ewiger und unvergänglicher Schönheit aushecken, die meist nichts sind als Rezepte für die Anfertigung von ephemerem klassizistischen Kitsch.“13 Aus Sicht des Publikums war Ästhetik offenbar mit kanonisch-konservativer Regelästhetik gleichzusetzen, so dass Adorno es leider unterließ, jene „veränderte Ästhetik“ für die Gestaltung auszuformulieren. Er beließ es

9 Ebd., S. 120. 10 Ebd., S. 121. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 127. 13 Ebd., S. 126.

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bei der abschließenden Andeutung, dass man im Rahmen jener neuen Ästhetik den „geronnenen Gegensatz des Zweckvollen und Zweckfreien“ endlich aufheben müsse. Mir scheint, daran sollten wir heute anknüpfen: Wie kann es gelingen, auch das Zweckgebundene ästhetisch werden zu lassen, anstatt es den Idealen einer vermeintlichen Nützlichkeit zu unterwerfen, die man im Hinblick auf den Menschen bzw. das Menschliche nie wird bestimmen können? Der Funktionalismus vermag die Probleme des Designsbegriffs nicht zu lösen, er verlagert sie nur und produziert neue Widersprüche. Die Rede von der Funktionalität der Dinge erweist sich als reine Rhetorik des Rationalen, als ein Wunschdenken, das sich nicht einlösen lässt. So stellte auch Julius Posner in seiner Studie zu den Anfängen dieses Diskurses fest, der „Funktionalismus strengster Observanz hat in der Theorie der Architektur meines Wissens keinen einzigen Vertreter gefunden“.14 Es gibt keine Form, die nur ihrem Zweck folgen würde, jede Form steht immer auch für anderes. Was als funktionale Gestaltung tatsächlich realisiert wird, ist nach Posner eher ein Stil bzw. eine ästhetische Position, die versucht, durch Schlichtheit und Verzicht zu überzeugen. Sie folgt also einem Geschmacksempfinden und nicht der rhetorisch vorgeschobenen Nützlichkeit. Aus diesem Grund können wir auch einen ästhetisch geprägten Funktionalismus als Stilphänomen von jener kalten, inhuman kalkulierten Nachkriegsarchitektur unterscheiden, die Adorno zu Recht kritisierte. Der Diskurs des Funktionalismus mag versagt haben, da sich Anspruch und Wirklichkeit nicht vereinbaren lassen. Aber die Ästhetik des funktionalen Designs überzeugt bis heute – wie könnte man also beschreiben, was dieser Stil im Kontext der Designdefinition tatsächlich leistet? An dieser Stelle lohnt sich ein weiterer Blick in die Epoche des deutschen Wiederaufbaus: Die Gestaltung nach 1945 brachte schließlich nicht nur die erwähnten Bausünden hervor, sondern bereitete auch den Weg für jene Designpositionen, die als Klassiker deutschen Designs in die Geschichte eingingen. Die damalige Situation spielte der Funktionalismustheorie natürlich in die Hände: Nun sollte sich beweisen, dass man das Planen einer guten Gesellschaft tatsächlich über die gute Gestaltung 14  Julius Posener: Anfänge des Funktionalismus. Von Arts and Crafts zum Deutschen Werkbund (Bauwelt Fundamente, Bd. 11), Frankfurt a.M., Berlin: Ullstein 1964, S. 8.

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ihrer Dinge leisten kann. Demokratie und Wohlstand für alle zu sichern sollte keine sozialromantische Utopie mehr sein wie noch zu Zeiten der Arts&Crafts-Bewegung oder des Bauhauses, man stand erstmals vor der Möglichkeit einer realistischen Umsetzung. Der Bedarf an Gütern, die man nicht hinterfragen musste, war in der Tat hoch: Wohnungen und Lebensmittel, Kleidung und Kommunikation, Medien und Mobilität galt es für alle zugänglich zu machen. Das Problem des sinnlosen Konsums kannte man damals noch nicht. Zudem kam dem Impuls, die Gesellschaft über Designmaßnahmen neu und anders zu prägen, im Rahmen der Entnazifizierung eine besondere Bedeutung zu: Die bewusste Gestaltung des Alltags sollte die Menschen schulen, wieder Vernunft anzunehmen, Rationalität galt als Heilmittel gegen NS-Propaganda und -Ideologie. Dieser Gedanke fand breite Zustimmung über die politischen Lager hinweg, so dass auch die Designentwicklung in BRD und DDR zunächst deutliche Parallelen aufwies. Ob es jedoch mit der Besinnung auf das Funktionale zu einem echten Bruch mit der NS-Zeit kam, muss in designhistorischer Perspektive als fraglich gelten. Denn ausgerechnet die NS-Diktatur hatte es unternommen, die Gestaltungideale der Sachlichkeit in der breiten Bevölkerung durchzusetzen: Das gute Funktionieren der Menschen und Dinge hatte schon Hitler als unabdingbare Voraussetzung für die Kriegsführung erkannt. Die politische Aufladung der funktionalen Form mag sich nach 1945 in ihr Gegenteil gewendet haben, aber das Primat der Funktionalität hatte schon die NS-Diktatur für ihre Gestaltungsauffassung beansprucht.15 Letztlich fügt sich der Funktionalismus seit seinen Ursprüngen im 19. Jahrhundert problemlos allen politischen Systemen und Ideologien. Die Idee zweckrationaler Nützlichkeit bildet eine auswechselbare Rhetorik, die in jeder Epoche anders vereinnahmt wurde. Und doch prägte das Leitbild des Funktionalen die deutsche Nachkriegszeit gerade in moralisch-politischer Hinsicht wie kein anderes – es fand unter dem Begriff der „guten Form“ seinen prägnantesten Ausdruck.

15  Vgl. Xenia Riemann: „Die ‚Gute Form’ und ihr Inhalt. Über die Kontinuität des sachlichen deutschen Designs zwischen 1930 und 1960“, in: Kritische Berichte 1 (2006), S. 52–62.

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1.2 Das Paradox der Planung: Von der guten Form zum unsichtbaren Design Das Leitbild der guten Form zeigt anschaulich, warum der Funktionsgedanke im Design letztlich keine Funktionalität hervorbringt, sondern Ästhetik. Zwar wurde der Begriff nie als schlüssiges Theoriekonzept ausformuliert, aber in der Designpraxis der 1950er und 1960er Jahre kam ihm eine zentrale Bedeutung zu. Um die historische Entwicklung bzw. den Aufstieg und Fall dieses Leitbildes zu skizzieren, können wir uns auf zwei einflussreiche Hochschullehrer und Vordenker des Designs beziehen: Max Bill und Lucius Burckhardt, beide Schweizer Herkunft, hatten der guten Form zunächst zum Durchbruch verholfen (Bill), um sie rund drei Jahrzehnte später wieder zu verabschieden (Burckhardt). Die Entwicklung der jeweiligen Argumente macht vor allem das inhärente Paradox des Planungsgedankens von Funktionalität deutlich: So unterschiedlich Bill und Burckhardt auch damit umgingen, sie konnten es beide nicht lösen. Die Planung von Gesellschaft durch Design führt immer zu Widersprüchen. Doch das Denken beider fasziniert uns bis heute, wie mir scheint: nicht als Funktionalismus-Theorie, sondern als zwei Ansätze von Designästhetik, die unterschiedlicher nicht ausfallen könnten. Um die Begründung und Vermittlung der guten Form bemühte sich vor allem der Künstler, Architekt und Designer Max Bill (1908–1994). Nach einer Ausbildung zum Silberschmied hatte er am Bauhaus in Dessau studiert und war seit 1944 auch selbst als Lehrender tätig. Seine Designphilosophie konnte er insbesondere als Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung Ulm verwirklichen, die 1953 den Ausbildungsbetrieb aufnahm und ihn zum Gründungsrektor ernannte. Sein Einfluss als Lehrer und Gestalter in der jungen Bundesrepublik war maßgeblich. Mit der Ausstellung Die gute Form stellte Bill seine Vision zur Gestaltung schon 1949 der breiteren Öffentlichkeit vor.16 Im Auftrag des Schweizer Werkbundes zeigte er seine Exponate zunächst auf einer Mustermesse in Basel. Anschließend tourte die Schau als internationale Wanderausstellung und entfaltete vor allem in Deutschland eine große Wirkung, wo 16 Vgl. Lars Müller, Museum für Gestaltung Zürich (Hg.): Max Bill – Sicht der Dinge. Die gute Form: eine Ausstellung 1949, Zürich: Lars Müller Publishers 2015.

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1  Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

1 Max Bill: Kontinuität, 1947 (In: Die gute Form, 1949)

Bill 1957 auch ein weiteres Buch mit dem Titel Die gute Form publizierte. Um seine Idee der guten Form zu vermitteln, hatte er mustergültige Formen und Dinge aller Art zusammengetragen. Über die gattungsübergreifende Interdisziplinarität, die Bill mit seiner Zusammenstellung wagte, mag man auch heute noch staunen: Die Exponate verdeutlichen die Grundsätze der guten Form zunächst anhand einer Reihe von Fotografien, die u. a. kristalline Strukturen und Rauchschwaden, Lichtstudien und mikroskopische Aufnahmen, mathematische Modelle und schließlich auch plastische Kunst von Naum Gabo, Georges Vantongerloo, Constantin Brancousi, Hans Arp, Anton Pevsner und Bill selbst zeigten (Abb. 1). Gute Form, so wird damit betont, kann man letztlich überall finden. Ihre Gesetzmäßigkeit führt Bill auf die Natur zurück, aber sie findet sich auch überall in Wissenschaft, Kunst und Technik als universelles Gesetz des Schönen. So schreibt Bill im ersten Satz der Ausstellungsbroschüre: „Unter einer guten Form verstehen wir eine natürliche, aus ihrer funktionellen und technischen Voraussetzung entwickelte Form eines Produkts, das seinem Zweck ganz entspricht und das gleichzeitig schön ist. Nach diesen Gesichtspunkten sind die Beispiele ausgewählt, die wir hier zeigen. Die reine Form einer modernen Plastik kann ein Maximum an harmonischem Ausdruck erreichen, der technische Gegenstand in seiner rein zweckhaften Form ist gleichermaßen eine gute Form.“17

17 Ebd., o.S.

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2 Rauchpilz nach dem Abwurf einer Atombombe (In: Die gute Form, 1949)

3 Hochspannungsleitung der Motor-Columbus AG (In: Die gute Form, 1949)

Die strikte Bindung des Schönheitsbegriffs an die Funktion bildet den Kern von Bills Konzept der guten Form. Die Natur, so versucht er zu zeigen, verfährt nie willkürlich und beliebig, alles geschieht im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit. Um dieses Funktionsschöne vom bloßen Verschönern im Sinne der Warenästhetik unmissverständlich abzugrenzen, zeigt Bill in seiner Ausstellung auch die Abbildung eines Rauchpilzes, den der Abwurf einer Atombombe erzeugt hat (Abb. 2). So unmittelbar nach den Schrecken von Hiroshima und Nagasaki mag dieses Beispiel von „guter Form“ natürlich erstaunen. Doch Bill unterstreicht damit, wie strikt er seinen erhabenen Schönheitsbegriff der Zweckrationalität vom gefälligen Dekor und Styling unterschieden wissen will. Alle Dinge, die ihrer Funktion ohne Schnörkel gehorchen, sind schön, denn sie folgen der Natur ihres Zwecks – selbst wenn es sich um Massenvernichtungswaffen handelt. Bills Sammlung zeigt daher eine aus heutiger Sicht eher befremd-

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1  Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

4 Kippschalter aus Kunstharz der Feller AG (In: Die gute Form, 1949)

liche Zusammenstellung: Industriemaschinen und Hochspannungsmasten, Autos, Flugzeuge und Eisenbahnen, neben Brückenbau, Hochhaussiedlungen und standardisierten Alltagsgegenständen vom Wasserhahn über den Lichtschalter zur Küchenzeile, diese Beispiele wiederum aufgelockert durch Möbeldesign, darunter auch Entwürfe, die wir heute als Designklassiker handeln, schließlich sogar Kleidung, Schuhe, Uhren und Schmuck (Abb. 3–5). Ingenieursleistungen und Kunstwerke, renommiertes Design und anonyme Gestaltung finden sich hier unterschiedslos vermengt, um die Universalität der guten Form zu demonstrieren. Ihre Ratio beherrsche die Welt, und diese Herrschaft sei gut, findet Bill. Als Ästhetik einer spezifischen Formensprache der Einfachheit und Sachlichkeit, der Schlichtheit und Reduktion vermag die Zusammenschau von Bills Exponaten bis heute zu überzeugen. Aber ist ein solcher Formalismus, der auch tödliche Bomben und nüchterne Maschinen als schöne Form betrachten kann, sofern sie nur zweckmäßig gestaltet sind, als Designbegriff legitim? Eröffnet nicht gerade die Neutralität dieses Funktionalismus auch jener inhumanen Logik die Tür, die das Nachkriegsdesign im Sinne Adornos so hässlich hat werden lassen? Bill mag uns noch so viel Schönheit zeigen, seine rhetorischen Argumente lassen sich allzu leicht missbrauchen. Das philosophische Unbehagen, das uns angesichts universeller Standardformen und normierter Einheitsdinge beschleichen muss, drückt sich vor allem in Bills Vorstellung von guter Mode aus (Abb. 6): Eine derart vernünftige Bekleidung erweist sich heute wohl als bieder und trist – oder bringt uns nur noch zum Lachen. Zwar kann man bekanntlich auch standardisierte Uniformen und

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5 Hans Coray: AluminiumGartenstuhl Landi, 1939 (In: Die gute Form, 1949)

funktionale Arbeitskleidung zu Mode erheben, aber dann unterliegen die Entwürfe meist einer Ästhetisierung, die sie aus ihrem ursprünglichen Kontext reißt, um sie subversiv zu unterlaufen. Bei Bill fehlt dieses Spiel mit den Formen jedoch, sein Ziel ist ein Universalismus, der stets Gültigkeit bewahrt. Auf dem Weg zur höheren Vernunft der guten Form, so Bill, müssen wir unsere individuellen Bedürfnisse folglich zurückstellen. So schrieb er 1949 in seinem Aufsatz Schönheit aus Funktion und als Funktion: „Neue Formen, die als künstlerisch empfunden werden, entstehen nirgends aus dem reinen Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem späteren Benützer, sondern aus einem universellen Bedürfnis nach Formung.“18 Hier zeigt sich erneut das Paradox der Planung: Die gute Funktion müsste sich eigentlich nach einem real existierenden Nutzen richten, sonst wäre sie nicht zweckrational. Aber in Bills Diskurs des funktionalen Designs zählt die Schönheit der verallgemeinerten Form am Ende doch mehr als die tatsächlichen Interessen der Benutzer, um deren Nutzen es eigentlich gehen müsste. Bills Funktionsgedanke erweist sich als ästhetischer Klassizismus: Er strebt die Universalität der Formgebung an wie eine Art platonische Ideenlehre. Er versucht, Urbilder des Schönen sichtbar zu machen, die reine Form, das Schöne an sich, neutral und ideologiefrei. Die Frage nach der tatsächlichen Funktionalität kann in diesem Klassi-

18 Max Bill: „Schönheit aus Funktion und als Funktion“ (1949), in: ebd., S. 142–145, hier: S. 142.

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1  Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

6 Damen-Trotteur von Bally (In: Die gute Form, 1949)

zismus nur untergehen, sie spielt auf der Suche nach der absoluten Form letztlich keine Rolle. Bills Formen mögen also schöner sein als andere, sie überzeugen uns ästhetisch noch immer, aber funktionaler sind sie damit nicht. Wie sehr diese Ideenlehre der allgemeingültigen Formen für das eigentliche Funktionieren sogar hinderlich sein kann, mag Bills eigene Entwurfspraxis bzw. sein Wirken an der Hochschule für Gestaltung Ulm zeigen. An dieser Ausbildungsstätte begegneten sich zwei Richtungen, die sich in einer Art Dauerstreit um die richtige Ausrichtung der Lehre befanden: Ein Teil der Lehrenden vertrat einen Funktionalismus, der allem voran aus wissenschaftlichem Methodendenken resultieren sollte (z. B. die Designtheoretiker Horst Rittel, Hanno Kersting u. a.). Der andere Teil der Lehrenden verfolgte eine Ästhetik des Funktionalen in der Tradition Bills (z. B. Otl Aicher, Tomás Maldonado u. a.).19 Letztere

19 V  gl. ausführlich Melanie Kurz: Designstreit. Exemplarische Kontroversen über Gestaltung, Paderborn: Wilhelm Fink 2018, S. 183–214. Zwischen Max Bill und Otl Aicher, Tomás Maldonado, Hans Gugelot sowie Walter Zeischegg gab es in der ersten Phase der HfG Ulm zwar noch eine weitere Streitfrage, aber diese löste sich mit dem Ausscheiden Bills 1957. Wichtiger scheint mir in diesem Zusammenhang der Disput in der zweiten Phase der HfG Ulm, der die Planungstheoretiker zu Gegnern der Gestalter werden ließ. Die Verstärkung der Wissenschaftsfächer im Curriculum führte vor allem bei den Studierenden zu gesteigerter Theoriemüdigkeit. Gegen die übergriffige Methodenlehre regte sich auch Widerstand, so wandte sich die Studentenschaft 1963 an den Vorstand der Hochschule: „wir wollen keine soziologen werden, keine physiologen, keine psychologen und

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hat im Design bis heute Spuren hinterlassen, die Ideen zur methodisch fundierten Gesellschaftsplanung hingegen nehmen wir kaum mehr als Design wahr. Strukturanalytisch durchkalkulierte Entwürfe für Tanksäulen, Bushaltestellen und U-Bahnzüge bestimmen sicherlich nicht unser Bild der renommierten Ulmer Designausbildung. Als Ikonen der Schule bzw. als zeitlose Klassiker des deutschen Nachkriegsdesigns gelten vielmehr Arbeiten wie der Ulmer Hocker von 1954, den Max Bill gemeinsam mit Hans Gugelot und Paul Hildinger entworfen hat (Abb. 7). An seinem Design bewundern wir sicher nicht, wie die Form methodengesichert der Funktion folgt. Der Ulmer Hocker überzeugt nur wenig, wenn man ihn auf seine tatsächliche Zweckmäßigkeit hin betrachtet. Er war schließlich nicht als dekoratives Beistellmöbel gedacht, sondern sollte als einheitliches Sitzmöbel der gesamten Schule in den Unterrichtsräumen, der Kantine und dem Studentenwohnheim Verwendung finden. Bretthart und ohne Lehne erwies er sich aber für Vorlesungs- und Seminar-Situationen als denkbar ungeeignet. Wissenslücken in Sachen Ergonomie des Sitzens sollte man den Ulmern allerdings nicht unterstellen. Sie saßen einfach lieber auf einer ästhetischen Idee, genossen das ideelle Konzept des kargen, kantigen Hockers, als ihren körperlichen Befindlichkeiten zu gehorchen. So schreibt auch Eva von Seckendorff: „Die Ulmer Studierenden und die Dozenten nahmen die Unbequemlichkeit in Kauf. Der Nutzen des Stuhls war wesentlich ein metaphysischer.“20 Die Ästhetik des Hockers fällt hier mit seiner Ethik zusammen: Die freiwillige Selbstbeschränkung, auf die diese Entwurfsgeste hinarbeitet, demonstriert einerseits das Gegenteil von gefälligem Dekor, die Strenge der Form negiert aber andererseits auch die Funktionalität im Gebrauch – sie zielt vielmehr auf eine Moral des Denkens: Das Möbelstück war nicht auf seinen Gebrauchswert hin konzipiert, sondern auf seinen ideellen Beitrag. Als platonischer Urtyp eines Stuhls, geradezu als Stunde Null des deutschen

schon gar nicht strukturtheoretiker, statistiker, analytiker oder mathematiker, sondern g e s t a l t e r !“ Hier zitiert nach René Spitz: HfG Ulm. Der Blick hinter den Vordergrund. Die politische Geschichte der Hochschule für Gestaltung 1953–1968, Stuttgart: Edition Axel Menges 2002, S. 260. 20 Eva von Seckendorff: Die Hochschule für Gestaltung Ulm. Gründung (1949–1953) und Ära Max Bill (1953–1957), Marburg: Jonas 1989, S. 126.

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7 Max Bill, Hans Gugelot, Paul Hildinger: Ulmer Hocker, 1954

Nachkriegsdesigns, sucht das Sitzmöbel vor allem gesellschaftliche Bedeutung: In ihrer Gründungsphilosophie hatte sich die Ulmer Hochschule nicht weniger vorgenommen, als den „geistigen, moralischen und politischen Wiederaufbau“ der jungen Bundesrepublik zu leisten, wie Gert Selle es beschreibt.21 In der Einfachheit des Hockers findet die Botschaft vom demokratischen Design eine ästhetische Umsetzung, die sich sinnlich wahrnehmen und körperlich erfahren lässt. In dieser ethisch-ästhetischen Perspektive fasziniert der Entwurf noch immer, denn er liefert keine Lösungen, er stellt vielmehr Fragen. Er bleibt unbequem bis heute. Der Hocker erinnert uns daran, dass das Sitzen, jene alltägliche Tätigkeit, die wir wohl seit Menschengedenken ausüben, immer wieder neu und anders möglich ist. Das Sitzmöbel diktiert dem Benutzer nichts, es eröffnet nur Spielräume, mit ihm umzugehen. Es hält wach, damit wir nicht allzu rasch in die Komfortzonen der Behaglichkeit zurückfallen, in jene Kritiklosigkeit, die uns passiv und unpolitisch werden lässt. Doch der Preis, den das Ulmer Design seinen Rezipienten abverlangte, war hoch. Wie ästhetisch gelungen auch immer, die Pflicht zur universellen Einheitsform kann auf Dauer auch ermüden oder sogar entmündigen: Das Publikum mag sich ausgeschlossen fühlen, seine emotionalen Bedürfnisse kommen in dieser Entwurfsphilosophie nicht vor. Die klassi21  Gert Selle: „Ulmer Hocker“, in: ders., Design im Alltag: vom Thonetstuhl zum Mikrochip, Frankfurt a.M., New York: Campus, 2007, S. 128–136, hier S. 131.

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zistische Zeitlosigkeit jener platonischen Designlehre war spätestens mit der Aufbruchsstimmung von 1968 nicht mehr zeitgemäß. Dem Ende der Ulmer Ära folgte in der BRD eine Epoche der Funktionalismuskritik, die auch den postmodernen Designpositionen Vorschub leistete. Die Ansätze vervielfältigten sich, von einem gemeinsamen Designideal wie noch zu Zeiten der guten Form konnte nicht mehr die Rede sein. Unter den vielen Ansätzen, die nun zu berücksichtigen wären, leistete Lucius Burckhardt (1925–2003) den wohl wichtigsten Beitrag zur Erneuerung des deutschen Designdiskurses. Burckhardt war seiner Ausbildung nach Theoretiker, als Soziologe und Ökonom kam er schließlich zur Stadtplanung. Seit 1973 lehrte er als Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme an der Gesamthochschule Kassel, von 1976 bis 1983 engagierte er sich als Vorsitzender des Deutschen Werkbundes. Die Prämissen des Planungsbegriffs in der Gestaltung zu überdenken war Burckhardts zentrales Anliegen. Er zweifelte offen an der Funktionsrhetorik und übte auch Kritik am Formalismus der Sachlichkeit: Keine Form sei unschuldig und neutral, auch nicht die vermeintlich funktionale. Gestaltung habe allem voran eine soziale Bedeutung für den Menschen – und diese gelte es im Design vornehmlich zu entwerfen. Zu den Leitbildern der Hochschule für Gestaltung Ulm merkte Burckhardt daher an: „Die Ulmer Lösungen waren technokratisch. Sie beruhten auf einer radikalen Analyse des zu erfüllenden Zwecks, stellten aber den Zweck selbst nicht in einen höheren Zusammenhang.“22 Die Funktion gehorsam zu erfüllen, so zeigt Burckhardt, gibt keine Antwort auf die Sinnfragen unserer Gesellschaft, sie weiß ihre psychosozialen Belange nicht zu reflektieren. Denn funktionieren kann vieles, das Burckhardt keinesfalls als gutes Design verstanden wissen will: Atomkraftwerke und Waffen etwa sind als gestaltete Dinge höchst effizient geformt. Aber das Entwickeln von Vernichtungs- und Risikotechnologien gehöre einfach nicht zu den „Problemen“, die Design lösen soll. Burckhardt erinnert nicht ohne Ironie daran, dass die Aufgaben der Gestaltung einmal anders definiert waren. Hehre Institutionen des Designs wie der 1907 gegründete Deutsche Werkbund verfolgten auch zweifelhafte Zie22 Lucius Burkhardt: „Design ist unsichtbar“ (1980), in: ders., Die Kinder fressen ihre Revolution. Wohnen, Planen, Bauen, Grünen, Köln: DuMont 1985, S. 42–48, hier S. 46.

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le, schreibt Burckhardt 1980: „Das Werkbund-Jahrbuch von 1914 zeigte Kriegsschiffe als Gegenstände der Gestaltung, in gleicher Weise zeigte die Zeitschrift ‚Werk’ im April 1976 die Kühltürme von Atomkraftwerken als eine reizvolle Aufgabe für Architekten.“ 23 Für Burckhardt ist dieser Glaube an die Neutralität des Funktionalen obsolet, den Designbegriff gilt es nun enger zu fassen – als radikale Hinwendung zum Menschen. Und dies gilt wohl bis heute: Design ist gut für den Menschen oder es ist kein Design. Dinge, die eigentlich niemand haben will, die aber dennoch gebraucht werden, schreiben wir seither den technologischen, ökonomischen oder politischen Notwendigkeiten zu, aber nicht dem Design im engeren Sinne. Auch wenn das gut gestaltete Funktionieren gerade bei gefährlichen Dingen eine zentrale Aufgabe haben sollte, wird heute wohl an keiner Hochschule für Gestaltung mehr gelehrt, wie man Kriegsgerät oder Kühltürme entwickelt. Wir sind uns offenbar einig, dass das Entwerfen nur solche Probleme lösen darf, die ausschließlich für und nicht gegen den Menschen gerichtet sind. Burckhardt hatte erstmals darauf bestanden, dass eine Ethik des Zwecks der vermeintlich guten Zweckrationalität vorauszugehen hat. Die Planungsleistung des Designs hat sich damit grundlegend verschoben: von „Form follows function“, d. h. der unreflektierten, letztlich naiven Sicherheit, alle Zweckmäßigkeit sei legitim, hin zu „Form follows ethics“, d. h. der deutlich schwierigeren Frage: Ist der Zweck gut? Bevor das Entwerfen sich damit beschäftigt, wie man die Dinge gestalten soll, gilt es immer erst zu bedenken, was Entwerfer überhaupt gestalten dürfen. Der gutgläubige Funktionalismus-Diskurs hatte diese Frage nie gestellt, wie Burckhardt z. B. in seiner Karikatur Der Sieg der guten Form – Die Erfolge des Werkbunds von 1982 treffend illustriert (Abb. 8): Seine Zeichnung fasst die Designgeschichte der Moderne zusammen als das brave Befolgen einer Funktionsideologie, die all unsere Gebrauchsgegenstände in gleichförmige weiße Kisten mit Knopf verwandelt hat. Als sterile, fantasielose Einheitsformen kommen sie daher, erbarmungslos praktisch, aber ohne Gesicht und Charakter. Bedenkt man das Design unserer heutigen Geräte, lässt sich Burckhardts Prognose sogar bis in die Gegenwart verlängern: Von den Designklassikern der Firma Braun,

23 Ebd., S. 45.

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8 Lucius Burckhardt: Der Sieg der guten Form – Die Erfolge des Werkbunds, 1982

die aus der Ulmer Hochschule hervorgingen, zu den aktuellen Produkten der Firma Apple – allerorts dominiert die minimalistisch reduzierte weiße Kiste mit Knopfmotiv (Abb. 9).24 Das Problem besteht aber nicht darin, dass Minimalismus und Reduktion an sich zu verurteilen wären. Wie ich in Kapitel 4 ausführen werde, bildet das Leitbild der Einfachheit eines der ältesten und wichtigsten Konzepte in der Geschichte des Designs. Burckhardt macht vielmehr deutlich, dass der Fehler darin liegt, diese Formensprache bedenkenlos auf alle Dinge zu übertragen. Eine Kanone, wie in der untersten Reihe der Karikatur abgebildet, hätte aus ethischen Gründen aus dem Design verschwinden müssen, aber statt das Gestalten von Waffen grundsätzlich infrage zu stellen, hat man die Geräte einfach nur etwas schlichter und schöner gestaltet. Nur das Ornament wurde hier erfolgreich bekämpft, nicht die Kriege selbst. Der Funktionalismus vermag aus seiner eigenen Logik heraus nicht über den Sinn der Dinge nachzudenken. Er kann keine 24 Zu den deutlichen Parallelen von Apple-Design und dem Stil der HfG Ulm vgl. Sabine Schulze, Ina Grätz (Hg.): Apple Design, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2011. Darin insbesondere die Aufsätze von Friedrich von Borries: „Die Apple-Design-Lüge. Warum das Design von Apple weder gut noch minimalistisch ist“, S. 54–63, und Bernd Polster: „Kronberg Meets Cupertino. Was Braun und Apple wirklich gemeinsam haben“, S. 64–75.

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9 Dieter Rams: Transistorradio T3 für Braun, 1958 / iPod von Apple, 2001

Moral der Zwecke hervorbringen, da er apriorisch alles auf die Frage der Zweckmäßigkeit reduziert. Auf dem ethischen Auge erweist er sich als blind, er kann den Menschen nur aus dem Blick verlieren. Daher begann Burckhardt Design vor allem dort zu suchen, wo man es nicht sehen kann: Die Beziehungskontexte seien es, die Gesamtheit der sozialen Umweltgeflechte, die man in das Entwerfen integrieren müsse. Dies meinte auch der Titel seines vielzitierten Essays Design ist unsichtbar von 1980.25 Die Dinge sollen durch Gestaltung nicht schön aussehen, sondern gut wirken bzw. Gutes bewirken, so Burckhardts Credo. Alles Äußerliche könne daher in den Hintergrund treten, d. h. „unsichtbar“ werden. Die eigentliche Aufgabe des Designs besteht darin, die soziale Wirkung und Bedeutung der Dinge entwerfen. Den Planungsgedanken wollte Burckhardt dabei nicht aufgeben, er forderte vielmehr ein radikales Umdenken. Für den Benutzer einer Straßenbahn sei es letztlich nicht wichtig, wie das Gefährt aussieht. Für das Bedürfnis nach Mobilität erweist sich vielmehr der Fahrplan als ausschlaggebend, so Burckhardt: „Weshalb stellen die öffentlichen Verkehrsmittel ihren Betrieb gerade dann ein, wenn die Leute nach einem Glas Wein das Wirtshaus verlassen, so dass sie sich eben doch selber ans Steuer setzen? Würde nicht eine andere Organisation der Öffnungs- und Schließungszeiten jene Frauen vor Gewalt bewahren, die nachts allein zu Fuß nach Hause

25 L. Burckhardt: Design ist unsichtbar, S. 42–48.

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müssen? Muss es auch bei uns so weit kommen, dass nur noch das fahrende eigene Auto einigermaßen Sicherheit gewährt?“26 Das gute Design einer Straßenbahn zielt also nicht auf ihr Funktionieren als Fahrzeug, sondern auf ihre Gestaltung als Dienstleistung. Das „Design der Nacht“, so Burckhardt, sei hier die eigentliche Entwurfsaufgabe, das Zusammenspiel der Akteure und Aktionen, die unseren Abend ausmachen. Nicht die materielle Form der Straßenbahn soll zählen, sondern ihre immaterielle, d. h. unsichtbare Organisation im Lebenskontext der Benutzer. Dass Burckhardts Planungsmodell dabei nicht in erzieherisches Bevormundungsdesign münden will, macht das durchaus unvernünftige Glas Wein im Wirtshaus wohl hinreichend deutlich. Doch könnte das Beispiel der Straßenbahn auch in dem Sinne missverstanden werden, dass die Anmutung der Dinge nun gar keine Rolle mehr spiele und die Gestalter sich darauf konzentrieren sollten, durch Fahrgastbefragungen optimale Fahrpläne zu ermitteln. Designer, so scheint mir, wären dann aber keine Designer mehr, sondern Marktforscher oder Verkehrsplaner. Solche Aufgaben würden ihre Kompetenzen sicher überschreiten, dafür können nur andere Disziplinen zuständig sein. Burckhardts Planungsphilosophie gilt es an dieser Stelle eher als Vorreiter heutiger Strategien zu deuten, die offen und interdisziplinär alle relevanten Kompetenzen und Akteure beteiligen. Dieses Zusammenspiel der Interessen und Methoden sollten wir aber nicht mit Design im eigentlichen Sinne verwechseln. Burckhardt forderte einerseits die Planer auf, eine neue Politik des Planens zu formulieren, umfassend und umsichtig, partizipativ, demokratisch und transparent. Aber an die Designer richtete er andere Aufgaben, die allem voran ins Ästhetische reichen. Dies zeigt auch sein eigenes gestalterisches Engagement: Im Rahmen von Aktionen, die das klassische Verständnis von Entwerfen sichtlich sprengen, sollten Probleme nicht unbedingt gelöst, sondern allem voran aufgezeigt und reflektiert werden. Burckhardts Konzept des „unsichtbaren Designs“ meint somit auch, Prozesse sichtbar zu machen, die im Alltag kaum merklich auf uns einwirken. Um das bewusste Wahrnehmen anzuregen und alternative Wahrnehmungsweisen

26 Ebd., S. 43f.

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1  Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

10 Lucius Burckhart: Die Fahrt nach Tahiti, Documenta 8, 1987 An ausgesuchten Stationen der Wanderung wurde Georg Forsters Reise um die Welt (1777) vorgelesen, die Beschreibung der paradiesischen Insel veränderte die Wahrnehmung des Truppenübungsgeländes entsprechend.

11 Lucius Burckhardt: Autofahrerspaziergang durch Kassel, 1992

zu ermöglichen, begründete Burckhardt 1976 die Promenadologie bzw. Spaziergangswissenschaft.27 Experimentell und interventionistisch angelegt, oft an den Grenzen der Kunst operierend, fordert die Promenadologie uns auf, durch das Begehen von Stadträumen und Landschaften ästhetische Erfahrungen zu machen. Dabei handelt es sich

27 Vgl. Lucius Burckhardt: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, Berlin: Martin Schmitz 2006.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

nicht um „schöne“ Spaziergänge im konventionellen Sinne, sondern um reflektierende bzw. selbstreflexive Wanderungen. Was kann man Orten überhaupt abgewinnen? Warum gelten sie eigentlich als schön oder hässlich? Das vermeintlich planlose Flanieren und Spazieren versucht einen möglichst unschuldigen, ziellosen und regelrecht absurden Blick zu simulieren, um damit auf jene eigenartigen, vergessenen oder gar verdrängten Orte zu blicken, die uns im Alltag umgeben. Man assoziiert, imaginiert und fantasiert, ohne die subjektive Wahrnehmung den üblichen Ordnungsmustern oder anderen Vernunftfragen des Alltags zu unterwerfen (Abb. 10). So liefen die Aktivisten der Promenadologie, initiiert von Lucius Burckhardt und Helmut Holzapfel, 1992 durch Kassel, um bei einem Autofahrerspaziergang anhand von mitgeführten Windschutzscheiben die Stadt einmal ganz anders zu erleben – nämlich zu Fuß und doch durch den „Bilderrahmen“ des Autos betrachtet (Abb. 11). Auch in unseren Tagen erfährt die Spaziergangswissenschaft viel Zuspruch.28 Doch betrachtet man sie im tradierten Methodendenken noch immer als eine Art Aktionskunst, die nur nachdenkt, statt Probleme anzugehen. Der alte Geist der Gesellschaftsplanung lebt vielerorts weiter – heute oft etikettiert als Design Thinking, Usability Research oder Human-centered Design. In diesen Designmethoden versucht man zwar den engen Funktionsbegriff um weitere Interessen und Kontexte, Akteure und Stakeholder zu erweitern, um ihn humaner und benutzerfreundlicher aussehen zu lassen.29 Aber man vergisst noch immer, – ganz im Sinne von Burckhardts Kritik – die Zwecke der angestrebten Zweckrationalität auf ihre Ethik hin zu überprüfen. Der heutige Designbegriff muss sich daher erneut abgrenzen von einem unkritischen Methodendenken, das doch immer nur Scheinprobleme löst. Designpositionen, die sich auf diese Grenze beziehen, werden daher oft mit dem Begriffszusatz „Social“ oder auch „Critical Design“ etikettiert. Wie können diese Ansätze Kriterien für eine spezifischere Designdefinition hervorbringen?

28 Der Kurator Hans Ulrich Obrist würdigte Burckhardts Promenadologie z. B. 2014 als Thema des Schweizer Pavillons auf der ArchitekturBiennale in Venedig. 29 Zur Kritik an diesen Konzepten vgl. z. B. Tim Seitz: Design Thinking und der neue Geist des Kapitalismus. Soziologische Betrachtungen einer Innovationskultur, Bielefeld: transcript 2017.

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1  Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

1.3 Entwerfen als Selbstermöglichung: Social und Critical Design Social und Critical Design verstärken den Perspektivwechsel von der zweckmäßigen Funktion hin zur Ethik der Zwecke, der hierzulande mit Burckhardt begann. So diffus diese noch jungen Begriffe ausfallen mögen, so sehr sie sich auch voneinander unterscheiden, beide zielen darauf, in einer neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Situation die Prämissen des Designs zu überdenken. Im Zeitalter von neoliberaler Globalisierung, ökologischer Zerstörung und sozialer Ungerechtigkeit stellt sich die Frage nach Bedarf und Bedürfnis unter anderen Vorzeichen als noch in der Moderne und Nachkriegsmoderne. Die einst gefeierte Serienproduktion versorgt uns nicht mehr mit dem Nötigsten wie zu Zeiten der beginnenden Industrialisierung oder in der Ära von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Die Zeiten des legitimen Konsums sind offensichtlich vorbei. Was sollte eine Überflussgesellschaft tatsächlich noch „brauchen“? Wir haben längst zu viel und wissen den Wohlstandsmüll nicht mehr zu entsorgen. Immer günstigere Massenproduktion hat zu einem hemmungslosen, aber sinnentleerten Konsum geführt. Das heutige Design der Dinge müsste also zur Reduktion von Dingen anregen. Dabei reicht es nicht aus, die Müllberge mithilfe von Nachhaltigkeitsetiketten etwas langsamer und umweltfreundlicher wachsen zu lassen. Gestaltung hat nun zu Verhaltensänderung und Verzicht aufzufordern, das ist eine der wohl unpopulärsten Erkenntnisse unserer Zeit: Soll das Volk nun erneut erzogen werden – nicht zu mehr, sondern zu weniger Bedarf und Bedürfnis? Social Design und Critical Design geben darauf sehr unterschiedliche Antworten, die aber in derselben Motivation wurzeln, dem Entwerfen einen neuen Sinn zu geben. Versuchen wir zunächst eine Annäherung an das Social Design: Der Begriff ist inzwischen allgegenwärtig, er umfasst letztlich alle Bestrebungen, die nicht nur die Moral der Dinge, sondern auch unser Handeln mit Dingen in das Zentrum der Designreflexion stellen.30 Gute Benutzbarkeit bildet hier kein legitimes Argument mehr, die Schönheit des Funktionalen schon gar nicht. Doch im Gegensatz zu 30 Der Begriff ist noch keineswegs geklärt, zur aktuellen Diskussion vgl. Claudia Banz (Hg.): Social Design. Gestalten für die Transformation der Gesellschaft, Bielefeld: transcript 2016.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Burckhardts ästhetisch-aktionistischer Antwort auf das Planungsproblem hat sich im Social Design häufig wieder der Anspruch eingeschlichen, dass Design die Probleme auch zu lösen habe, die es aufzeigt. Nur will die neue Moral, dass es sich nun um „echte“ Probleme handelt: Selbstkritisch gegenüber allen Selbstverständlichkeiten unserer Lebensweise will man keine Scheinprobleme mehr beheben in Form von immer neuen Gegenständen, die die Welt nicht braucht. Der Designbegriff wird hier gegen die eigene Konsumkultur gewendet, die keine legitimen Gestaltungsaufgaben mehr zu kennen scheint. Doch wie kann das Entwerfen diesem nicht gerade bescheidenen Anspruch gerecht werden? Betrachten wir zunächst einige ältere Ansätze, die als Vorläufer des heutigen Social Design gelten können. So mag man sich z. B. an das „First things first“-Manifest erinnern, das der Grafikdesigner Ken Garland 1964 im britischen Guardian publikumswirksam mit 400 Unterschriften von Gestaltern und Künstlern lancierte. Das Manifest rief alle „guten“ Designer dazu auf, keine „schlechten“ Dinge mehr zu gestalten: Für die Werbung für Konsumartikel wie Zahnpasta, Deodorant, Zigaretten oder Katzenfutter u.ä. solle man die eigene Qualifikation und Arbeitskraft nicht einsetzen, sonst unterstütze man nur die Ästhetisierung der Verschwendung.31 Doch wem sollte man die Gestaltung der vielen Gebrauchsartikel dann überlassen, wenn wir sie doch alle benutzen? Kann es als weltverbessernd und sozial angesehen werden, wenn sich die „guten“ Designer auf das Bewerben von Kunst und Kultur, NGOs und alternativen Ökonomien konzentrieren? Die Idee, nur die „besseren“ Dinge zu gestalten, erweist sich am Ende immer als elitär. Denn Kunst und Kultur können sich in der Regel nur jene leisten, die ihre Grundversorgung bereits gesichert haben – ein Problem, das letztlich jede Spielart des Reformdesigns seit der Arts&Crafts-Bewegung ungelöst ließ. Wenn sich in unserem Kulturkreis nur noch illegitime Aufgaben lösen lassen, so die häufig gezogene Konsequenz, gilt es das Social Design an jene Orte zu bringen, die noch wahre Not kennen. Angesichts der globalen Verhältnisse ein verständliches Unterfangen, Gegenden der Welt, in denen Krisen,

31 Zum Text des Manifests vgl. www.designishistory.com/1960/ first-things-first vom 20.2.2018.

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1  Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

12 Regal in Victor Papaneks Nomadic Furniture, 1973

Katastrophen und Kriege einen realen Mangel verursachen, gibt es bekanntlich viel zu viele. Dort, wo man sich nicht dem falschen Lebensstil des Westens ausgesetzt sieht, lassen sich Designmaßnahmen noch als Problemlösung definieren. Menschen zu helfen und sie mit dem Nötigsten zu versorgen ist unzweifelhaft richtig und wichtig. Projekte für Flüchtlingscamps, Umweltkatastrophen, Armutsbekämpfung u. a. sollen hier keinesfalls kritisiert werden. Doch helfen sie uns nicht, den Designbegriff zu definieren, da im Entwerfen für die Not immer noch die Ratio der Zweckmäßigkeit greift: Alles, was gegen den Mangel unmittelbar nützlich ist, erweist sich als gut und sinnvoll. So kannten wir es auch im zerstörten Nachkriegsdeutschland. Die Verschiebung der Designdefinition in die Notstandsgebiete der Welt kann dem eigenen Selbstverständnis aber kaum weiterhelfen. Historisch gesehen wurde

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

der Designbegriff nun einmal hervorgebracht, um in unserer Kultur für Sinnstiftung und Wertigkeit im Umgang mit den Dingen zu sorgen. Interessant wird der Social-Design-Begriff also erst, wenn er sich auch auf unsere Fragen bezieht. Dies unternahm z. B. Victor Papanek (1923–1998): Der österreichisch-amerikanische Designer und Designtheoretiker gilt als wichtigster Vordenker heutiger Social-Design-Konzepte. Papanek lehrte die Theorie und Praxis seines Fachs an Hochschulen weltweit, seine Erfahrungen und Erkenntnisse stellte er in dem Buch Design for the Real World. Human Ecology and Social Change (1971) zusammen.32 Anhand von Beispielen aus den unterschiedlichsten Kulturen formulierte Papanek erstmals eine Vision des Entwerfens als interdisziplinär und interkulturell, ökologisch und partizipativ agierende Disziplin. So beginnt er sein Buch mit dem wegweisenden Satz: „All men are designers. All that we do, almost all the time, is design, for design is basic to all human activity.“33 Das klingt nach einer unbegrenzten Ausweitung des Designsbegriffs, doch Papanek entwickelt umgehend Kriterien für eine ethische Begrenzung: Zwar sei das Gestalten an allem erkennbar, was wir tun, aber das einzig legitime „Design for the Real World“ müsse sich aus einer feststellbaren humanen Notwendigkeit ableiten. Styling, Kitsch und Pomp, aber auch die Postmoderne mit ihrem konzeptuellen Autorendesign erachtet Papanek als fehlgeleitet und überflüssig – weder Kunst noch Konsum bilden in seinen Augen zulässige Ausgangspunkte für verantwortungsvolles Design.34 Solche Luxusphänomene würden das Lösen unserer Probleme regelrecht verhindern. Rechtens sei als Design nur, was sichtbar Verzicht übt, was aufs Einfachste reduziert ist, um in aller Armut und Bescheidenheit die gestellte Aufgabe zu lösen. „KISS – Keep it simple and stupid“ lautet daher Papaneks wichtigstes Credo. Damit strebt er auch keine technisch-industriellen Produkte bzw. Produktionsweisen an, sondern ein eher

32 Victor Papanek: Design for the Real World. Human Ecology and Social Change (Reprint der 2. überarbeiteten Auflage von 1984), London: Thames & Hudson 2011. 33 Ebd., S. 3. 34 So schreibt Papanek z. B. über die Entwürfe des Memphis-Gruppe: „These nearly unusable toys, camouflaged as 1920s kitsch furnishings, receive enormous publicity for their antirationalist appearance and their non-functional existence.“ Ebd., S. 291.

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1  Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

13 Ofen aus Mexiko in Victor Papaneks Design for the Real World, 1984

handwerklich geprägtes Do-it-yourself-Prinzip: Stets in globalen Zusammenhängen denkend empfiehlt Papanek das Vorbild des Bastlers und Tüftlers, der aus einfachsten Mitteln und Materialien, mit einfachsten Handgriffen und Werkzeugen, die er im Hier und Jetzt zur Verfügung hat, seine Welt errichtet. Er bilde das wichtigste Designvorbild – auch für den industrialisierten Norden. Man sollte Papaneks Beispiele hinzuziehen, um die Radikalität seiner Forderung zu verstehen: Für die Herstellung eines Regals reichen ihm Holzbretter und eine klug durchdachte Halterung – jeder kann das Möbel ohne Hilfe zusammenstecken (Abb. 12). Auf diese Weise kann Design den Anspruch erfüllen, tatsächlich partizipativ, transparent und demokratisch zu wirken. Als Vorbild für die gute Gestaltung einer Wärmequelle zeigt Papanek einen Ofen aus Mexiko, der aus recycelten Autonummernschildern zusammengesteckt wurde (Abb. 13). Im direkten Bildvergleich stellt er diesen Recycling-Ofen dem kitschig dekorierten beheizbaren Fußbänkchen für ältere Damen unseres Kulturkreises gegenüber.35 Die gängige kulturelle Hierarchie wendet er damit ins Gegenteil: Die Armen seien reich an guten Ideen und effizienter Umsetzung, die Reichen hingegen arm an Geschmack und Verantwortungsbewusstsein. Papanek nahm den Begriff des „Brauchens“ wörtlicher als jeder andere Entwerfer; Reduktion und Recycling verhindern hier jegliche Verschwendung. Doch sollte man an dieser Stelle den Unterschied

35 Ebd., S. 58.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

14 Victor Papanek: Tin Can Radio, 1962

von freiwilliger Selbstbeschränkung in der Überflussgesellschaft und realer Not keinesfalls aus dem Auge verlieren. Wie gerechtfertigt sind Papaneks Entwürfe, wenn man sie in die armen Regionen dieser Welt überträgt? Sein Ideal der radikalen Reduktion könnte hier auch gegenteilige Folgen haben und sogar zur Verstärkung der Armut beitragen: Das Tin Can Radio entwickelte Papanek ab 1962 für die UNESCO (Abb. 14). Für damals 9 Cent aus einer Blechdose mit Transistor, einem Docht und Parafin gefertigt, sollte es in jeder noch so entlegenen Region den Radioempfang ermöglichen.36 Auch die Ärmsten hätten damit Zugang zu Informationen und weltweitem Geschehen. An Pragmatik ist das Gerät kaum zu übertreffen, es ist als günstige, ressourcenschonende Problemlösung nicht infrage zu stellen. Mehr „Keep it simple and stupid“ kann ein Entwurf als Absage an die Industrieproduktion wohl nicht leisten. Doch ist diese absichtlich verarmte Medientechnologie nicht auch eine koloniale Geste? Wer wird hier eigentlich „simple and stupid“ gehalten – das Radiogerät oder seine Benutzer? Wie sollte es zu rechtfertigen sein, dass jene, die über weit mehr Technik und Know-how verfügen, den weniger Gebildeten und Besitzenden eine derart ärmliche Lösung anbieten? Schon zur Zeit seiner Erfindung wurde Papaneks Dosenradio vom Designtheoretiker Gui Bonsiepe als „Billigstradio für die Dritte Welt“ kritisiert. Es sei „durchtränkt von der Ideologie vom einfachen

36 Ebd., S. 224ff.

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1  Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

15 Cover von Charles Jencks, Nathan Silver: Adhocism. The Case for Improvisation, 1972

Wilden, der mit der eigens für ihn in der Metropole entwickelten Simpeltechnologie abgespeist wird“, so Bonsiepe.37 Was als Hilfe zur Selbsthilfe gemeint war, entpuppt sich als Verweigerung von Entwicklung und Teilhabe, als pseudo-romantische Geste für Länder, denen man den Anschluss an die Industrienationen weder zutraut noch ermöglichen will. Papaneks Designphilosophie der Armut ist für die tatsächlich Armen ungeeignet, aber sie erweist sich als interessante Alternative für jene, die sich den Verzicht leisten können. Der westliche Lebensstil hat die Option hervorgebracht, sich aus der eigenen Fortschrittslogik auch auszuklinken, um postmaterialistische Sinnstiftung auch anders zu ermöglichen: An Papaneks Konzepten fasziniert bis heute der Geist von Bricolage und Improvisation, der im aktuellen Designdiskurs vor allem auf Claude Lévi-Strauss’ Leitbild des Bastlers zurückgeführt wird.38 Als Planungsmethode für die Rettung der Welt eignet sich diese Verzichtsgeste nicht, als Ästhetik aber läutern uns improvisierte Objekte durch die subversive Kraft des Unperfekten. Das Tüfteln und Werkeln

37  Vgl. Gui Bonsiepe: „Bombast aus Pappe. Papneks ‚Umwelt des Überlebens’“, in: Form 61 (1973), S. 13–16, hier: S. 14. 38 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken (1962), Frankfurt a M.: Suhrkamp 1973, S. 29ff.

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formuliert ein anarchisches Lachen gegenüber der allzu ernst genommenen Ideologie von Innovation und Fortschritt. Die Strategien des Collagierens und Improvisierens zählen ironischerweise auch zu den Leitbildern des postmodernen Designs, das Papanek so verabscheute. Charles Jencks und Nathan Silver zeigten z. B. in ihrem 1972 erschienen Buch Adhocism. The Case for Improvisation den gewitzten Geist der Bricolage (Abb. 15).39 Zu Recht hatten die beiden die weit zurückreichende Kulturgeschichte einer spontan kombinierten Objet-trouvé-Gestaltung nicht als Social Design, sondern als ästhetische Methode beschrieben. Kurzum: Papanek hat uns für die Probleme, die er weltweit sah, keine Lösungen hinterlassen, aber er hat eine Ästhetik mitgeprägt, die an Aktualität nicht verloren hat. So können wir z. B. die heutigen Strömungen von Do it yourself (DIY) und Maker Culture durchaus als Fortsetzung von Papaneks Ansatz lesen.40 Von diesen jungen Designbewegungen erhofft man, dass sie alternative Ökonomien und sozialere Produktionsweisen etablieren, die unseren Dingen zu neuer Legitimität verhelfen. Die heutige Kultur der Macher hat dabei vor allem die Hersteller im Blick: Um die Produktion nicht großen Ketten und Konzernen zu überlassen, bilden sich im Zeitalter des Digitalen neuartige Manufakturen und offene Werkstätten, die Technologien wie 3D-Drucker, Lasercutter, CNC-Fräsen usw. nach dem Prinzip der Sharing Economy für alle bereitstellen. Diese Fablabs (fabrication laboratory)41 ermöglichen das kostengünstige Herstellen für alle: Wer Design für sich und andere entwickeln will, muss keinen Fabrikanten mehr suchen, umgeht somit Kosten und Risiken und kann dennoch in Kleinserien verkaufen, die auch für den Kunden erschwinglich bleiben. Der alte marxistische Traum, dass die Produktionsmittel in den Händen aller liegen, könnte hier auf neue Weise in Erfüllung gehen.

39  Charles Jencks, Nathan Silver: Adhocism. The Case for Improvisation (1972), Cambridge, MA: MIT Press 2013. 40 Zu Geschichte und Begriff siehe Nicola Langreiter, Klara Löffler (Hg.): Selber machen. Diskurse und Praktiken des Do-it-yourself, Bielefeld: transcript 2017, sowie Chris Anderson: Makers. Das Internet der Dinge: die nächste industrielle Revolution, München: Hanser, 2013. 41  Julia Walter-Herrmann, Corinne Büching (Hg.): FabLab. Of Machines, Makers and Inventors, Bielefeld: transcript 2013.

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Und wer selber macht, so die Hoffnung, wird auch keinen Überfluss mehr produzieren. Dafür steht auch die Do-it-yourself-Bewegung, die stärker vom Rezipienten her denkt: Der Konsument kann sich durchaus aus der Rolle des passiven Nutzers befreien, dem alles nur vorgegeben wird – so der heutige Optimismus des DIY. Einst aus der Not geboren, weil es günstiger war oder es die Dinge nicht zu kaufen gab, hat das Selbermachen heute wieder Konjunktur. Im Zeitalter der Discounterpreise ist DIY zwar höchst unrentabel, aber wer die Muße und die Fähigkeit hat, selbst Hand anzulegen, wird im Selbermachen neue Sinnstiftung erfahren. Doch steht auch diese Haltung sicherlich für den Luxus eines abgesicherten Lebensstils. Denn wie alternativ ist die Do-it-yourself-Ökonomie tatsächlich? Mit der Guerilla-Geste des Selbermachens wird der userzentrierten Designforschung eine klare Absage erteilt. Kein noch so ausgefeiltes Design Thinking im Sinne der Nutzeranalyse soll uns vorschreiben, wie wir die Dinge zu denken und zu behandeln haben. Was gut für uns ist, wissen wir nun selbst am besten. Das Souveränitätsproblem scheint auf diesem Weg gelöst, die normativen Vorgaben der Dinge geißeln uns nicht mehr. Aber wer selber macht, muss trotzdem noch einkaufen: Der Garten-, Heimwerker- und Handarbeitsmarkt ist hierzulande ein Millionengeschäft, das man kaum als kapitalismuskritisch betrachten kann. Jeder Baumarktbesuch unterstützt große Ketten und Konzerne. Das Selbermachen ist zwar postmaterialistisch, aber eben nicht postmateriell, denn auch die Eigenproduktion ist aus Material gefertigt, das erst produziert werden muss. Zweifelsohne sind Maker-Culture- und Do-it-yourself-Strategien als Social Design von großem Wert, aber ausgerechnet in sozialer Hinsicht wiederum begrenzt: Es können nur jene teilnehmen, die ausreichend Bildung, Zeit und Geld haben, um sich die entsprechenden Materialien bzw. das nötige Know-how anzueignen. Die eigentliche Bedeutung dieser Designstrategien liegt wiederum in der Ästhetik des Vorgehens: Eigeninitiative bedeutet Selbstermächtigung durch Kreativität und Improvisation, Erlebnis und Identifikation. DIY ermöglicht es, Selbstentfaltung als ästhetischen Widerstand gegen die Autoritäten aus Industrie, Werbung und planender Gestaltung zu erleben. Diese Wirkung soll hier keinesfalls unterschätzt werden, im Gegenteil, Designästhetik beginnt just in dieser sinnlichen Erfahrung und deren Reflexion. Nur sollten wir wohl eingestehen, dass nicht gleich die Welt verbessert ist, wenn es uns selbst besser

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

geht. Trotz allem darf Design das Soziale nicht aus dem Auge verlieren: Wer, wenn nicht die Gestalter sollte Zukunftsvisionen und Perspektiven zum Fortgang der Welt entwickeln? Den oftmals utopischen Zug der entwerferischen Anliegen muss man der Gestaltung wohl zugestehen. Erst dieser gegen den Pragmatismus der unmittelbaren Umsetzbarkeit gerichtete Wesenszug macht Design zu Design. Dieses Potenzial aufzuzeigen ist das zentrale Anliegen des Critical Design: Das traditionelle Entwerfen vermag unsere globalen Herausforderungen nicht zu beantworten, weil es immer noch an das Weiterproduzieren von Dingen glaubt. Dinge können unsere Probleme aber nicht lösen, weil das Vorhandensein der Dinge meist selbst das Problem ist. Dinge stehen in der Konsumgesellschaft für Besitz und Habenwollen, für Überfluss, Verschwendung und Pseudo-Befriedigung. Als Machtdispositive normieren sie unser Handeln und Denken. Critical Design zeigt sich daher kritisch gegenüber allen Nützlichkeitsdiskursen und Komfortinstinkten. Unter dem Sammelbegriff werden Designpositionen gefasst, die sich nicht mehr dem naiven Fortschritt eines Verbesserns von Nutzen und Funktion widmen, sondern unsere Dingkultur an sich hinterfragen.42 Also entwirft Critical Design in der Regel keine brauchbaren, keine gebräuchlichen Gegenstände, sondern formuliert Visionen über alternative Dinge und Welten. Es geht um das Schärfen der Sinne, die Reflexion an sich, das Ausdenken radikalen Andersmöglichseins – in Form von Konzepten und Ideen, Utopien und Dystopien oder auch einfach Objekten, die man nicht bedenkenlos benutzen kann. Sie stören die alltäglichen Routinen, statt sie möglichst unbemerkt zu befriedigen. Als Vorläufer dieser Positionen können Radical Design bzw. Radical Architecture der 1960er und 1970er Jahre gelten:43 Es zählt nicht mehr die Realisierbarkeit der Entwürfe, sondern die visionäre Kraft, sich auszudenken, was eines Tages möglich sein könnte. Man mag dem Critical Design daher Weltflucht vorwerfen oder die Arbeiten ein42 Siehe zu Begriff und Geschichte Matt Malpass: Critical Design in Context. History, Theory, and Practices, London, New York: Bloomsbury 2017. 43  Hierzu gehören Studios und Gruppen wie z. B. Archigram, Archizoom, Superstudio, Haus-Rucker & Co, Walter Pichler u. a., vgl. Lukas Feireiss, Robert Klanten (Hg.): Beyond Architecture: Imaginative Buildings and Fictional Cities, Berlin: Gestalten 2009.

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1  Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

fach als Kunst bezeichnen. Doch greift diese Bewertung zu kurz: Aus Science-Fiction-Romanen und -Filmen wissen wir, dass manches, was früher als unerreichbare Utopie galt, heute längst im Alltag existiert. Das einst Undenkbare kommt oft schneller als gedacht. Daher muss auch das Entwerfen unserer Vorstellungen und Projektionen als Designaufgabe gelten, denn nur, was wir uns vorstellen können, kann eines Tages Wirklichkeit werden. Critical Design versucht somit Verantwortung für das Design des Imaginären zu übernehmen. Das Planspiel soll im Guten wie im Schlechten aufzeigen, wohin wir uns entwickeln könnten, es gilt, uns die Offenheit der Frage erst einmal bewusst zu machen. Pragmatismus und Funktionalismus, so die zentrale Kritik am tradierten Designdenken, haben unser Vorstellungsvermögen so stark eingeschränkt, dass zuletzt nur noch die Fantasielosigkeit des Alternativlosen regiert. Die beiden bekanntesten Vertreter des Critical Design, die britischen Designer und Hochschullehrer Fiona Raby und Anthony Dunne, skizzieren in ihrem Buch Speculative Everything. Design, Fiction, and Social Dreaming (2013) daher die folgende Gegenüberstellung von tradiertem Designverständnis („A“) und Critical Design („B“):

„A B Affirmative Critical Problem solving Problem finding Provides answers Asks questions Design for production Design for debate […] […] Consumer Citizen Makes us buy Makes us think Ergonomics Rhetoric User-friendliness Ethics Process Authorship.“44

44 Anthony Dunne, Fiona Raby: Speculative Everything. Design, Fiction, and Social Dreaming, Cambridge, MA: MIT Press 2013, S. VII.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Critical Design muss nicht unbedingt ernst gemeint sein, das Spiel mit dem Möglichen soll zunächst aufzeigen, dass wir die Wahl haben. So zitieren Dunne und Raby u. a. die Philosophin Susan Neiman mit ihrer Feststellung: „To be human is to refuse to accept the given as given.“45 Wilde Spekulationen und Provokationen, die auch an unsere emotionalen und moralischen Schmerzgrenzen gehen, bilden das wichtigste Stilmittel in der Arbeit des Designserduos. Gerade das Ausmalen von Dystopien regt schließlich an, Humanität neu und anders einzufordern. Gegen die einschläfernde Wirkung konventionell gestalteter Dinge wirkt das Entwerfen hier als regelrechte Schocktherapie. Doch selbst wenn Critical Design auf eine rein gedankliche, projektive Arbeit zielt, ist das Gemeinte stets ästhetisch vermittelt. Objekte und Modelle, analog wie digital generierte Szenarien zeichnen ein anschauliches Bild der kommenden Welten: „Critical Design is critical thought translated into materiality“, so Dunne und Raby.46 Und doch ist dieses Design nicht Kunst, denn es bezieht sich auf die spezifischen Fragen unserer gestalteten Lebenswelt und nicht auf die Diskurse des Kunstsystems. Das Verweigern der Umsetzbarkeit führt im Fall des Critical Design allerdings zu ähnlichen Nachteilen wie in der Kunst: Aus der reinen Gedankenarbeit resultiert eine Trennung von Kunst und Leben, das Ästhetische kann nur noch am Werk, aber nicht mehr im alltäglichen Umgang mit Dingen und Szenarien erfahren werden. Critical Design kann folglich nur in Museen und Ausstellungen, in Katalogen und Büchern stattfinden, weil es im Alltag meist nicht benutzbar ist. Denn wer möchte schon Tag und Nacht von kritischer Gestaltung wachgerüttelt werden? Für unsere Frage nach einer geeigneten Designdefinition bleibt abschließend festzustellen, dass letztlich alle Positionen ihre Berechtigung haben: Design gibt es nur im Plural der Möglichkeiten. Auf Absolutheitsansprüche einzelner Richtungen sollte bewusst verzichtet werden. Ebenso hat die Selbstüberschätzung, dass Design die Welt zu retten vermöge, dem Designbegriff nicht gut getan. An diesem Anspruch kann die Gestaltung nur scheitern. Tatsächliche Lösungen für die Welt würden Maßnahmen erfordern, die Kontexte und Akteure einbeziehen, Wissen

45 Ebd., S. 33. 46 Ebd., S. 35.

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1  Design. Anmerkungen zu einem unmöglichen Begriff

und Wissenschaften benötigen, die weit über das hinausgehen, was Gestalter leisten können bzw. in heutigen Designausbildungen lernen. Das große Ganze lässt sich durch Design sicher nicht steuern, aber durch Design können wir auf neue und andere Ideen kommen – im Großen wie im Kleinen. Die Ästhetik, so zeigt sich, ist für alle diese Ebenen eine relevante Disziplin, sie plant, regiert und steuert nicht, aber sie vermag Kontexte für das Andersmöglichsein zu öffnen. Humane Gestaltung muss sich daher auch auf die notwendige Alltäglichkeit des Ästhetischen konzentrieren, denn alles Umdenken beginnt in der Sorge bzw. Selbstsorge um das tägliche Leben. So müssen wir gerade im Rahmen einer zeitgemäßen Designdefinition die Frage Michel Foucaults wieder aufgreifen: Wie können wir durch gut gestaltete Dinge Souveränität im Umgang mit den Dingen erfahren? Wie können wir in der dinglichen Welt Selbsttechniken ästhetischer Existenz erproben? Und vor allem: Wie kann es gelingen, von den Dingen „nicht dermaßen regiert zu werden“?47 Da Foucault hier nicht auf die Welt der Dinge abhebt, möchte ich im Folgenden auf eine andere Theorie rekurrieren – auf die Kunst des Handelns nach Michel de Certeau. Der passive Konsument, den die Kritiker der Warenästhetik stets als Opfer der designten Dinge denken, existiert eigentlich nicht, so die zentrale These des französischen Historikers, Psychoanalytikers, Religionswissenschaftlers und Jesuiten Michel de Certeau (1925–1986) in seinem Buch Kunst des Handelns von 1980. Nicht nur der Entwerfer, sondern auch der Benutzer muss als aktiv betrachtet werden. Es verschiebt sich damit der Blick von der Produktionsästhetik der gestalteten Formen auf die Wahrnehmung derselben im Rahmen einer Rezeptionsästhetik. Zwar formuliert jede Form von Gegenständen auch Ordnung und Norm, aber wie de Certeau feststellt, müssen wir uns diesen Gebrauchsanweisungen nicht unbedingt fügen. In jeder noch so belanglosen Alltagshandlung, so die These, bringen wir uns tätig hervor, das Wahrnehmen und Benutzen der Dinge generiert unweigerlich eine kreative Eigenleistung, denn: „Das Alltägliche setzt sich aus allen möglichen Arten des Wilderns zusammen.“48 In jedem Gebrauch der Dinge vollzieht sich ein Abweichen von der ursprünglichen Form, es entsteht ein regelrechter Eigensinn der Nutzung, so de Certeau: 47 Michel Foucault: Was ist Kritik?, Berlin: Merve 1982, S. 12. 48 Michel de Certeau: Kunst des Handelns (1980), Berlin: Merve 1988, S. 12.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

„Als verkannte Produzenten, Dichter ihrer eigenen Angelegenheiten, und stillschweigende Erfinder eigener Wege durch den Dschungel der funktionalistischen Rationalität produzieren Konsumenten durch ihre Signifikationspraktiken etwas, das die Gestalt von ‚Irr-Linien’ haben könnte […]. In dem technokratisch ausgebauten, vollgeschriebenen und funktionalisierten Raum, in dem sie sich bewegen, bilden ihre Bahnen unvorhersehbare Sätze, zum Teil unlesbare ‚Querverbindungen’. Auch wenn sie aus dem Vokabular der gängigen Sprachen (des Fernsehens, der Zeitung, des Supermarktes oder der offiziellen Museen) gebildet werden und der vorgeschriebenen Syntax (Zeitmodi des Stundenablaufes, paradigmatische Ordnungen von Orten etc.) unterworfen bleiben, verweisen sie auf Finten mit anderen Interessen und Wünschen, die von den Systemen, in denen sie sich entwickeln, weder bestimmt noch eingefangen werden können.“49 Die Kunst des Handelns benötigt also keinen öffentlichkeitswirksamen Designaktivismus, wie man ihn heute so oft antrifft, die praktizierte Alltagsästhetik kann auch als „stille Produktion“ stattfinden, wie Michel de Certeau es nennt.50 Ein Kind, das ein Schulbuch liest, muss daran nicht unbedingt den didaktisch vorformulierten und somit normierten Inhalt wahrnehmen, den das Bildungssystem dort hineinzulegen sucht. Es kann sich das Buch auch durch individuelle Lektüre aneignen, anhand des Vorgegebenen Eigenes entwickeln, die Inhalte kreativ interpretieren, das Buch markieren, ergänzen und personalisieren, so dass das lesende Kind schlussendlich selbst zum Autor seines Buches wird.51 Nach de Certeau findet dieser Aneignungsprozess letztlich in jeder Alltagspraxis statt. So z. B. auch beim Lesen: Wer einen Text liest, wird automatisch zum Autor desselben, man liest immer nur darin, was man selbst hineingelegt hat. Roland Barthes hat mit seiner Formel vom „Tod des Autors“ einen ähnlichen Gedanken formuliert.52 Die Ästhetik der Rezeption besitzt eine Kraft,

 49 50 51 52

Ebd., S. 21f. Ebd., S. 26. Ebd., S. 298f. Roland Barthes: „Der Tod des Autors“ (1968), In: ders., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 57–63.

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die uns Souveränität verleiht gegenüber allen Regeln und Normen des Textes. Produzent und Rezipient wechseln permanent die Seiten – die Lektüre hebt diesen Gegensatz schließlich auf, so de Certeau: „Der Leser ist ein Produzent von Gärten, in denen eine Welt zusammengetragen und verkleinert wird; er ist der Robinson einer zu entdeckenden Insel […]. Er hat keinen festen Boden unter den Füßen und schwankt an einem Nicht-Ort zwischen dem, was er erfindet, und dem, was ihn verändert. […] Seine Seitensprünge schließen ihn von den Sicherheiten aus, die das Ich im gesellschaftlichen Rahmen festhalten. Wer liest eigentlich? Ich? Oder was in mir?“53 Die ästhetische Wahrnehmung, so können wir diesem Zitat entnehmen, bezweckt keine identitäre Selbstfindung oder gar Festschreibung des Subjekts, sie schließt sogar den Selbstverlust ein.54 Dieser Zug des Sich-Verlierens im Text und seiner Wahrnehmung öffnet die Sinne auch für Andersheit und Alterität bzw. für das Andersmöglichsein der Dinge wie auch des Selbst. Wie ein Buch bzw. Text kann auch Design anregen, selbst aktiv zu werden – in der Produktion wie in der Rezeption. Design beginnt, wenn wir aufhören, das Entwerfen wie auch das Benutzen der Dinge als alternativlos hinzunehmen, im Wahrnehmen jenes Andersmöglichseins beginnt der entwerferische Akt. Überprüfen wir diese Designdefinition nun anhand der Frage nach der Geschichte der Disziplin.

53 M. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 306. 54 Weiterführende Beispiele siehe in Kapitel 5.3 im Kontext der Ästhetik von Victor Segalen.

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2 Die Form als Reform. Designgeschichte als Widerstand

Gerade an ihrer Geschichtsschreibung zeigt sich, wie sehr die Gestaltung noch aus dem Geist des Funktionalen gedacht wird – und dies bis heute. Design, so heißt es in der Literatur allerorts, sei ein Kind der Industrialisierung. Erst die veränderten Produktionsverhältnisse hätten den Beruf des Designers hervorgebracht: Er entwerfe das Modell jener Produkte, die anschließend in Serie industriell gefertigt werden. Damit war der Handwerker abgelöst, der Entwurf und Ausführung noch ohne Arbeitsteilung bewerkstelligen musste. Funktionale Form müsse von nun an Industrieform sein, d. h. eine für die maschinelle Produktion taugliche Form. Wie weit verbreitet diese Geschichtsauffassung noch ist, zeigen insbesondere die populären Lexika. So liest man z. B. in dem Wikipedia-Eintrag „Designgeschichte“ die folgende Erklärung zur Entstehung des Designs: „Die vorindustrielle Geschichte kennt keinen Designer. Erst mit der Entwicklung von Massenproduktion ergab sich die Notwendigkeit der Herstellung eines Prototyps. […] Der Designer, hervorgegangen aus der Arbeitsteilung, ist ein Kreativer, der sich dem Fabriksystem unterwerfen muss.“1 Wurden unsere Kunsthochschulen bzw. Designstudiengänge gegründet, um zu lehren, wie man sich der Industrie unterwirft? Mir scheint der

1

Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Designgeschichte vom 20.11.2017.

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Gestaltungsunterricht vertritt hierzulande doch ein anderes Bild vom guten Entwerfen. Die Geschichtsschreibung sollte sich also stärker darauf beziehen, was im Design auch tatsächlich als Design erachtet wird: Die Gestaltung codiert schließlich die Grenze von beliebig geformter Industrieware und gutem Design, das auch andere Perspektiven formuliert als nur zu funktionieren. In den gängigen Einführungswerken zur Designgeschichte findet man aber meist den funktionalistischen Designbegriff vertreten, weil der Autor diesen für das richtige Ergebnis der historischen Designentwicklung hält. „Designtheorie ist zwingend eine normative Theorie“,2 schreibt z. B. Beat Schneider als Fazit seiner Designgeschichte, die er aus dem Geist der industriellen Arbeitsteilung beginnen lässt: „Denn der industrielle Zwang zur seriengefertigten und deshalb standardisierten Herstellung von Produkten war schließlich der ausschlaggebende Grund oder ‚Humus’ für die Durchsetzung eines schlichten, sachlichen und funktionellen Designs.“3 Aus diesem Designverständnis lässt sich natürlich folgern, dass alles „Künstlerische und Ästhetische“ wie eine „Hypothek“ auf der Gestaltung gelastet habe, alles „Irrationale“ und „Interesselose“ habe „den Weg zur Industrialisierung des Designss immer wieder behindert“, so Schneider.4 Damit erhebt sich die Geschichtsschreibung zu einem Instrument der Wertung und Verurteilung: Einzelne Epochen wie z. B. die handwerklich ausgerichtete Arts & Crafts-Bewegung oder der internationale Jugendstil werden in jener Designliteratur immer noch als „rückschrittlich“ oder gar „gescheitert“ beschrieben – als „Verzögerung der Entwicklung des modernen Industriedesigns“5 (wie bei Thomas Hauffe) oder als „romantische Regression“ (wie bei Beat Schneider). Ausgesprochen plakativ lesen sich auch Buchtitel wie Design contra Art Deco von Hans Wichman. Das Buch zeigt anhand von bildlichen Gegenüberstellungen, wie kontraproduktiv der Art-Deco-Stil doch für die einzig legitime Designentwicklung des funktionalen Gestaltens gewesen

2

3 4   5

 eat Schneider: Design – Eine Einführung. Entwurf im sozialen, B kulturellen und wirtschaftlichen Kontext, Basel: Birkhäuser 2005, S. 268. Ebd., S. 22f. Ebd., S. 261. Thomas Hauffe: Schnellkurs Design (1995), Köln: DuMont 2000, S. 51f.

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sei.6 Eine Designgeschichtsschreibung, die das Funktionale beschwört, kann andere bzw. andersdenkende Stile und Epochen natürlich nur ausblenden. Wie kann uns das Kriterium der Ästhetik an dieser Stelle helfen, die historische Vielfalt der Disziplin zu erfassen? Als Kind der Industrialisierung wird man die Gestaltung jedenfalls nicht mehr betrachten müssen. Es ergeben sich vielmehr neue Fragen: Warum und wofür wurde die Disziplin eigentlich begründet? Und vor allem: Wo sollte man den historischen Beginn des Designs ansetzen?

2.1 Modelle der Geschichtsschreibung: Wie sammelt man Design? Die Frage, was unsere Museen, Sammlungen und Archive als Designgeschichte sammeln sollten, ist nur vordergründig leicht zu beantworten: Was gilt es zu bewahren und auszustellen, damit sich über die ausgewählten Stücke eine zusammenhängende Geschichte der Gestaltung ergibt? Wenn die Museen in diesem Zusammenhang auf das Autorendesign setzen, d. h. die renommierten, historisch epochemachenden Designernamen als Auswahlkriterium nehmen, machen sie sicher nichts falsch. Jeder wird diese Arbeiten als Design erachten. Doch bedeutet die Auswahl im Hinblick auf die eigentliche Breite des Designsbegriffs eine starke Verkürzung. Wie könnten die Sammlungen auch anonyme Alltagsdinge als Meilensteine der Designgeschichte präsentieren? Die Geschichte aller Dinge wäre kaum zu erzählen. Depots und Archive sind in ihren Kapazitäten begrenzt, wir können nicht alles aufheben. Nur die Archäologie ist in der glücklichen Situation, alles bewahren zu können, was sie findet: Jeder Gegenstand, der durch Grabung ans Tageslicht kommt und von untergegangenen Zivilisationen zeugt, ist als solcher wertvoll. Doch wie

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 o erklärt Hans Wichmann den Siegeszug von Funktion und Industrie S gegen Handwerk und Ornament: „Art déco als Abglanz einer schmuckfreudigen, tradierten Kunstübung“ sei das letzte Aufbäumen des Ornaments vor seiner endgültigen Verdrängung durch das funktionale Design als „neue Disziplin zukünftiger Massenbedarfsdeckung“. Der Stil „befand sich in dem Zustand eines letzten Aufglühens und markierte zugleich das Absterben einer dominierenden, manuell bestimmten Epochenkette“. Hans Wichmann: Design contra Art déco. 1927–1932 Jahrfünft der Wende, München: Prestel 1993, S. 7.

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sollte man schon vor dem Verschwinden einer Kultur eine Art Archäologie der Gegenwart konzipieren? Betrachten wir diese Herausforderung, aus dem Alltäglichen das Ästhetische herauszufiltern, an einem konkreten Beispiel: Im Jahr 2010 wurde das Schriftzeichen @ in die Designsammlung des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) aufgenommen. Als typografische Basis jeder E-Mail-Adresse ist es heute weltweit in Verwendung. Das At-Zeichen hat keinen nachgewiesenen Erfinder, es kennt weder Original noch Kopie, es gehört niemandem, man verwendet es einfach. Es existiert nur im Plural, als unendliche Serie des reinen Gebrauchs. Damit begründete auch Paola Antonelli, die MoMA-Kuratorin für Architektur und Design, ihre Auswahl: Das At-Zeichen sei ein perfektes Beispiel des anonymen Designs. Es spielt in unserem Alltag eine wichtige Rolle, und doch kann es niemand besitzen. Weltweit bedeutet es dasselbe, es benötigt keine Übersetzung. Die Form des „Klammeraffen“ war zudem schon im Mittelalter bekannt, erste amerikanische Schreibmaschinen führten das Zeichen bereits 1885 ein, bis schließlich in den 1960er Jahren seine unaufhaltsame Karriere in der Sprache unserer Computer begann. Auch wenn man das At-Zeichen nicht ankaufen und sammeln kann, wollte das MoMA den „design act in itself“ aufnehmen, schreibt Antonelli: „The appropriation and reuse of a pre-existing, even ancient symbol – a symbol already available on the keyboard yet vastly underutilized, a ligature meant to resolve a functional issue (excessively long and convoluted programming language) brought on by a revolutionary technological innovation (the Internet) – is by all means an act of design of extraordinary elegance and economy. […] It has truly become a way of expressing society’s changing technological and social relationships, expressing new forms of behavior and interaction in a new world.“7 In dieser Argumentation zeigt sich erneut die Faszination für die Reinheit des Funktionalen: Das anonyme Design ist hier so unauffällig, dass wir es überhaupt nicht mehr bemerken. Die extreme Zweckrationalität

7

 gl. auf dem Blog des Museums Paola Antonelli: @ at MoMA. Inside/ V Out. A MoMA/PS1 Blog vom 22.2.2018.

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des Zeichens tut niemandem weh, es hat keine spitzen und inhumanen Ecken und Kanten mehr, wie es Adorno einst an der Kälte funktionalistischer Architektur bemängelte.8 Ein demokratischeres Design kann man kaum erfinden, es löst den hohen Anspruch der Universalität tatsächlich ein. Allerdings, so könnte man einwenden, ging bei so viel gutem Funktionieren offenbar die Ästhetik der Gestaltung verloren. Die Typografie des @ taugt schwerlich als Gegenstand ästhetischer Reflexion, wer macht sich schon Gedanken über die grafische Formung des Symbols? Als entwerferische Leistung finde ich es kaum überzeugend, es sticht in Texten eher als typografischer Missgriff oder gar Unfall hervor. Die gewählte Form erscheint hier als beliebig, ohne Bezug zu seiner Botschaft und Funktion. Es gibt aber gänzlich unauffälliges Design, das diesen ästhetischen Ansprüchen besser genügt, wie ich am folgenden Beispiel zeigen möchte: Die normierte Proportion unseres DIN-A4-Formats bildet ein ähnlich universelles Beispiel für anonymes Gebrauchsdesign. Wie auch das At-Zeichen wird es in der gängigen Alltagsverwendung kaum bemerkt, es ist allzu selbstverständlich, dass es seine Funktion erfüllt – z. B. als verlässlich passender Papierbogen für die entsprechenden Umschläge, Aktenordner, Drucker usw. Die Auswirkungen der historischen Erfindung erweisen sich als ähnlich bahnbrechend wie die des @. Die Idee der Normierung von Papierformaten setzte sich hierzulande erst in den 1920er Jahren durch. Zuvor hatte man Briefbögen unter erheblicher Zeit- und Papierverschwendung zurechtschneiden müssen, um sie den diversen Umschlagsformaten anzupassen.9 Gegen diesen Irrsinn ergriff der Ingenieur Walter Porstmann die Initiative und ließ 1922 das damals weltweit gebräuchlichste Papierformat beim Deutschen Institut für Normung (DIN) registrieren. Er erhob damit eine Form zum Standard, die bereits seit Langem in Gebrauch war. Ein Erfinder im eigentlichen Sinne ist nicht bekannt. Wie kam das Format nun zu seiner Form? Warum einigte man sich ausgerechnet auf diese Maße? Dass der Papierbogen 210 mm breit und 297 mm hoch ist, lässt sich aus

8 9

Vgl. Kapitel 1.1  iehe dazu die Wanderausstellung des Goethe-Instituts: A Format – S Eine deutsche Erfindung, die den Alltag erleichtert, www.goethe.de/ ins/se/prj/afo/exh/deindex.htm vom 22.11.2017.

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A8

A7

A6

A5

1 Herleitung der DIN A-Formate

A4

A2 A3

A0 A1

funktionaler Sicht nicht begründen, andere Proportionen hätten ihren Zweck ja auch erfüllt, wenn man sich darauf geeinigt hätte. Im Hinblick auf die reine Funktionalität fällt die Form beliebig aus, denn funktional ist hier das kollektive Einvernehmen, nicht die Form an sich.10 Doch mir scheint, das DIN-A4-Format hat sich durchgesetzt, weil es uns in seiner mathematischen Herleitung auch ästhetisch fasziniert: Der Norm liegt eine Formel zugrunde, die man gut nachvollziehen kann. Man nehme eine Grundfläche von einem Quadratmeter als DIN A0. Das Verhältnis der Seitenlängen fällt dabei aber nicht aus wie bei einem Quadrat (1:1) oder bei einem goldenen Schnitt (5:8), sondern 1:√2. Das derart gestaltete Papier kann man aufgrund seiner spezifischen Proportion so oft falten, wie man möchte, das Verhältnis der Seiten bleibt immer gleich. Eine erste Faltung ergibt DIN A1, zwei Faltungen ergeben DIN A2, drei Faltungen DIN A3, vier Faltungen DIN A4 usw. (Abb. 1). Schon in der Französischen Revolution hatte man versucht, dieses spezifische Maß als Standard einzuführen. Doch erst der Modernisierungsdruck des 20. Jahrhunderts hat der Formel international zum

10 Eine Zwangsläufigkeit, dass der Zweck nur durch diese Form erfüllt wäre, lässt sich nicht behaupten. So schlossen sich einige Länder der Einführung der DIN-A4-Norm, die später in die internationale Norm ISO 216 umbenannt wurde, nicht an. Die USA und Kanada kommen aber mit ihrer anders genormten Papierkultur bis heute gut aus.

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Durchbruch verholfen. Die Schönheit des Formats fiel aber schon früheren Bewunderern auf: Der Göttinger Mathematiker und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg, der die rechnerische Formel des DIN-A4-Formats selbst hergeleitet hatte und im Alltag auch verwendete, fragte 1786 in einem Brief an den Philosophen und Ökonomen Johann Beckmann, warum er dieses Briefformat so viel lieber benutze als andere: „Die Form hat etwas Angenehmes und Vorzügliches vor der gewöhnlichen. Sind den Papier- und Formenmachern wohl Regeln vorgeschrieben, oder ist diese Form durch Tradition nur ausgebreitet worden? Und wo stammt diese Form, die wohl nicht durch Zufall entstanden ist, her?“11 Wie auch immer man diese Fragen beantworten mag, die Rezeptionsgeschichte des DIN-A4-Formats ist jedenfalls reicher an sinnlicher und ästhetischer Wahrnehmung als die des eher unförmigen @. Auch bei der Gestaltung von Normen und Standards haben wir also die Wahl, solange die Benutzbarkeit nicht behindert wird, sind auch diese Formen immer anders möglich. Kommen wir vor diesem Hintergrund nochmals zurück zur Ausgangsfrage, was unsere Institutionen als Designgeschichte sammeln sollten: Wie müsste man z. B. die Geschichte des Stuhls schreiben? Welche Stühle wären repräsentativ für die Geschichte des Designs? Natürlich liegt es nahe, sich erst einmal an den großen Namen zu orientieren. Welcher renommierte Entwerfer hätte nicht versucht, seine Auffassung von guter Gestaltung möglichst stilbildend oder gar epochemachend in der Form eines Stuhls auszudrücken? Doch wenn man die Geschichte des Designs nur auf die Avantgarden des Fachs beschränkt, zeigt sich erneut das Problem einer einseitigen Auffassung von Design: Man sammelt nur die ästhetischen Meisterwerke der jeweiligen Epoche – Stühle also, auf denen die breite Bevölkerung nie gesessen hat, die aber als Sammlerstücke heute fast die Preise von Kunstwerken erzielen (Abb. 2).12 Oft nur in Kleinserie oder gar als Unikat produziert, schreiben sie nicht die Geschichte des menschlichen Sitzens, sondern eine ästhetische Ideengeschichte der Gestaltung. Diese

11 Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel, Bd. 3 (1785–1792), München: Beck 1983, S. 275. 12 Die Liege Lockheed Lounge (1986) des Australischen Designer Marc Newson gilt als das teuerste Designmöbel weltweit, seit sie 2015 bei einer Auktion in London für £2,434,500 versteigert wurde.

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2 Marc Newson: Lockheed Lounge, 1986

„Kunstgeschichte“ des Designs hat natürlich auch ihre Berechtigung – aber sie sollte unser Designverständnis nicht dominieren. Doch welchen Stuhl sollten Museen nun sammeln, wenn es gilt, das gesellschaftlich relevante, demokratische Design für alle zu zeigen? Als gelungenes Meisterwerk des rein funktionalen Gebrauchsdesigns müsste wohl der gemeine weiße Plastikstuhl gelten – auch bekannt als Monobloc (Abb. 3). Niemand weiß recht, wer den weltweit verbreiteten Stapelstuhl erfunden hat, ein französischer Kunststofffabrikant könnte es gewesen sein, der sich nicht als Designer verstand, sondern als Tüftler und Erfinder.13 Materialtechnisch war das Konzept in den 1970er Jahren eine Sensation: Eine neue Spritzgussfertigung ermöglichte es, den Stuhl in einem einzigen Arbeitsgang herzustellen, daher auch die Bezeichnung Monobloc. Die Herstellung eines Exemplars dauerte kaum mehr als eine Minute, und so wurde er zum wohl erfolgreichsten Stuhl unserer Zeit: Mehr als eine Milliarde soll es davon auf der

13 S  iehe dazu die Ausstellung: Monobloc – Ein Stuhl für die Welt, Vitra Design Museum Weil am Rhein, 17.3.–9.7.2017. Sowie das Interview mit dem Monobloc-Experten Jens Thiel: The world chair. Monobloc – mehr als ein Plastikstuhl. Beitrag von Matthias Ehlert auf Deutschlandradio Kultur, 22.6.2005, www.deutschlandfunkkultur. de/the-world-chair.999.de.html?dram:article_id=155711 vom 21.2.2018. Historisch bleibt anzumerken, dass italienische Designer wie Joe Colombo oder Vico Magistretti u. a. schon Ende der 1960er Jahre schlichte Plastikstühle entworfen hatten. Auf dem Massenmarkt setzte sich aber erst die anonyme Variante durch.

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Welt geben. An seiner Funktionalität gibt es kaum etwas auszusetzen: Er ist robust und wetterfest, aber doch leicht, einfach zu transportieren und platzsparend in der Aufbewahrung. Kippsicher, stapelbar, abwaschbar etc. – alles zu einem Preis, der sozialverträglicher nicht ausfallen könnte. Genau das lässt den Billigstuhl aber auch zum Problem werden: Was zu günstig ist, erzeugt hierzulande nur Wohlstandsmüll. Der Nachhaltigkeitsdiskurs verlangt andere Wertigkeiten von unseren Dingen. Mehr noch: Der Stuhl wird vielerorts als kulturell bedenklich eingestuft. In mancher Altstadt ist es untersagt, Caféterrassen damit zu bestuhlen – man hat ihn verboten, um den Charakter von historischen Marktplätzen und Straßenzügen zu wahren. Dem Stuhl fehlt offenbar eine gewisse Kulturleistung, die wir von gestalterischem Vorgehen erwarten: Er spricht nur eine Art „Design-Esperanto“, eine heimatlose Sprache ohne Identität und Geschichte. Charakterlos und unförmig, geradezu als Missgeburt des Zweckdenkens kommt er daher. Die Kritik an dem Allerweltsstuhl muss sogar noch tiefer greifen: Weil der Stuhl so günstig ist, trifft man ihn weltweit an, auch in den ärmsten Gegenden der Erde. Sollte man diese ungeheure Verbreitung nun als Siegeszug des industriellen Fortschritts feiern? Oder müsste man sie nicht eher als koloniale Geste entlarven? Die globale Ausbreitung des Plastikstuhls zerstört in vielen Fällen die traditionellen Sitzkulturen vor Ort. Körperhaltungen des Hockens, Kniens und Beinekreuzens verschwinden, und die Schädlichkeit unserer vermeintlich zivilisierten Sitz- und Arbeitshaltung für Rücken und Knie wird gleich mitexportiert. Selbst wenn der

3 Stuhl Monobloc, o.D.

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4 Martí Guixé: Stop discrimination of cheap furniture!, 2004

Stuhl bei uns als kulturlos gilt, wird er andernorts zum Zeichen westlicher Hegemonie. Wie immer man es auch wendet, der Stuhl ist nur scheinbar „unschuldig“ – erneut löst er die Probleme nicht, er schafft vielmehr welche. Was dem Plastikstuhl fehlt, um als Design zu gelten, ist ein Moment der ästhetischen Reflexion: In der alltäglichen Routine werden die hier beschriebenen Überlegungen und Einwände in der Regel nicht bedacht. Der Monobloc erzeugt bei den Verbrauchern kein Bewusstsein für ihr Handeln mit Dingen. Doch kann es trotz allem gelingen, den Stuhl zum kritischen Reflexionsobjekt zu erheben, wenn man ihn über seine bloße Nutzung hinaus zum Thema einer Selbstbeobachtung des Designs macht: Ganz im Sinne des Critical Design hat z. B. der katalanische Designer Martí Guixé einen gemeinen weißen Plastikstuhl auf der Mailänder Möbelmesse 2004 mit der Aufschrift „Stop discrimination of cheap furniture!“ versehen und publikumswirksam ausgestellt. Bei späteren Aktionen appellierte Guixé auf weiteren Monobloc-Exemplaren für mehr Respekt vor dem Billigmöbel.14 Spätestens in dieser ästhetischen Form, signiert durch die mahnende Aufschrift eines Designers, der den Stuhl zwar nicht entworfen hat, aber uns mit dieser Vanitas-Metapher auf die Eitelkeit heutiger Designattitüden verweist, kann nun auch der weiße Plastikstuhl von Museen gesammelt wer-

14 V  gl. www.guixe.com/exhibitions/2009_Chairs_and_fireworks_ helmrinderknecht/index.html sowie die Podiumsdiskussion mit Martí Guixé an der Universität der Künste Berlin, vgl. Egon Chemaitis, Karen Dondorf (Hg.): Warum dieser Stuhl? Zürich: Niggli 2007, S. 162–185.

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den (Abb. 4). Er mutiert vom Funktions- zum Reflexionsobjekt, das keinen anderen Zweck verfolgt, als das Nachdenken über Design anzuregen. Doch wie jedes museale Kunstwerk wird der signierte Monobloc von Guixé letztlich dem Gebrauch entzogen. Critical Design stößt oft an die Grenze, dass ihm die notwendige Alltäglichkeit des Ästhetischen fehlt. Wie könnten die Institutionen also anonymes Design wertschätzen und anerkennen, ohne dass es vorher der Brauchbarkeit entzogen werden muss? Die Designer Jasper Morrison und Naoto Fukasawa hatten 2006/07 in Tokio, London und Mailand eine Ausstellung kuratiert, die beispielhaft zeigt, wie man sich auch die Ästhetik der unbedeutenden, beinahe unsichtbaren Dinge vor Augen führen kann. Unter dem Titel Super Normal – Sensations of the Ordinary versammelten sie Gebrauchsdinge aller Art, gängige Haushaltswaren vom Putzeimer zur Kaffeekanne wurden auf schlichte, weiße Tische gestellt – so dass sie beinahe anmuteten wie Readymades von Marcel Duchamp (Abb. 5).15 Die Ausstellung erhebt sie ins Skulpturale, doch können die Objekte trotz allem Allerweltsdinge bleiben. Manches Exponat wurde von bekannten Designern geschaffen (was den Benutzern dieser Gebrauchsartikeln meist nicht bewusst ist), andere sind gänzlich anonymen

5 Cover von Jasper Morrison, Naoto Fukasawa: Super Normal – Sensations of the Ordinary, 2007

15 N  aoto Fukasawa, Jasper Morrison: Super Normal – Sensations of the Ordinary, Baden: Lars Müller Publishers 2007.

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6 Cover von Friedrich Friedl, Gerd Ohlhauser: Das gewöhnliche Design, 1976

Ursprungs; die Vermischung zeigt, wie wenig die Herkunft ausmacht, wenn man nach der Normalität sucht: Ob ein Objekt zum Leitbild des „Super Normalen“ passt, hängt allein von seiner Ästhetik der Schlichtheit und Alltäglichkeit ab.16 Ob die Dinge dabei billig oder teuer sind, ihr Material und ihre Fertigung hochwertig oder einfach nur aus Plastik massenproduziert wurde, spielt hierfür keine Rolle. Wichtig ist nur, dass sie vom Formgefühl einer ästhetischen Alltagskultur zeugen. Dass die Gewöhnlichkeit der Dinge in der Geschichte des Designs eine zentrale Rolle spielt, zeigte einige Jahrzehnte vorher schon ein deutsches Hochschulprojekt – auf das sich Morrison und Fukasawa explizit beziehen: Die Ausstellung Das gewöhnliche Design, die 1976 auf der Mathildenhöhe in Darmstadt gezeigt wurde, versammelte ihrerseits charakteristische deutsche Haushaltswaren der 1970er Jahre vom Flaschenöffner zum Blumentopf, von der Streichholzschachtel zum Schulheft usw. (Abb. 6).17 In seiner Eröffnungsrede zur Darmstädter Ausstellung betonte Bazon Brock, dass sich die Werte einer Kultur gerade auch in den banalen Gebrauchsdingen

16 Z  u den Ursprüngen dieser Ästhetik der Einfachheit vgl. Kapitel 4. 17 Friedrich Friedl, Gerd Ohlhauser: Das gewöhnliche Design (Ausstellung des Fachbereichs Gestaltung der Fachhochschule Darmstadt), Mathildenhöhe Darmstadt, 1976. Ein Teil der Objekte ist zu sehen unter http://vimeo.com/38326549 vom 22.2.2018.

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niederschlagen sollten: „Es ist geradezu notwendig, die im hochkulturellen Bereich erworbenen Fähigkeiten auf die Gegenstände der Alltagswelt hin zu nutzen, also auch die Kritik- und Analysefähigkeit, die man im Kunstbereich gewonnen hat, auf diese Gegenstände hin anzuwenden.“18 Der ästhetische Reiz dieser schlichten Dinge mag manchem, der sie noch von damals kennt, erst heute auffallen, aus der nostalgischen Perspektive des historischen Abstands. Umso bemerkenswerter ist es, dass die damaligen Ausstellungsmacher diese Anmutung im Sinne einer „Archäologie der Gegenwart“ bereits empfanden. Daran, dass es sich in vielen Fällen um Marken- bzw. Massenprodukte der Warenästhetik handelte, hatte man sich nicht gestört. Die Schönheit der gezeigten Leitz-Aktenordner, Uhu-Kleber, Tesa-Rollen und Tempo-Taschentücher war eindeutig der Reklame gewidmet, aber trotz allem gut gestaltet. Hier zeigt sich erneut: Alle Dinge haben das Potenzial, ästhetisch zu werden, wenn ihre Gestaltung in den Codes des Designs wahrnehmbar ist. Auch Werbe- und Marketing-Maßnahmen können gute Entwürfe hervorbringen, wenn die Rezipienten ihnen nicht durch leichtgläubiges Habenwollen erliegen, sondern die Form ästhetisch wahrzunehmen und zu reflektieren wissen. Dies setzt eine Distanz der Betrachtung voraus, für die sich der historische Abstand als hilfreich erweist: Was wir nicht mehr täglich zur Hand nehmen, lässt sich leichter zum Gegenstand einer ästhetischen Wahrnehmung erheben. Gerade die in de Certeaus Sinne „stillen“ Stars der Designgeschichte lassen dies deutlich werden: So wurde in letzter Zeit überraschend viel über die gute alte Büroklammer geschrieben. Kaum ein Alltagsding kommt so unprätentiös daher und fasziniert doch in Form und Wirkung.19 Als „kleines Wunderwerk an Gebrauchstüchtigkeit und Formschönheit“ beschreibt Gert Selle den gebogenen Metalldraht liebevoll.20 Mir scheint, die heutige Bewunderung für die Büroklammer rührt

18 D  ie damalige Rede ist auf Bazon Brocks Website veröffentlicht, vgl. www.bazonbrock.de/werke/detail/?id=52 vom 20.6.2014. 19 Vgl. Gert Selle: „Die Büroklammer“, in: ders., Design im Alltag: vom Thonetstuhl zum Mikrochip, Frankfurt a.M., New York: Campus 2007, S. 80–86. Sowie weiterführend Hansjürgen Bulkowski: Liebe zur Sache. Die Dinge, mit denen wir leben, Berlin: Kadmos 2010, S. 32f., Henry Petroski: Messer, Gabel, Reißverschluss. Die Evolution der Gebrauchsgegenstände, Basel: Birkhäuser 1994, S. 71–102. 20 G. Selle: Die Büroklammer, S. 80.

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vor allem aus einem nostalgischen Empfinden: Die Einfachheit der nüchternen Gebrauchsform können wir empfinden, weil wir im Zeitalter der digitalen Kommunikation kaum mehr Büroklammern benutzen. Daher beginnen analoge Aktenordner, Zettelkästen, Papphefter und andere haptische Materialien aus den Anfängen des Bürozeitalters mit einem Mal schön auszusehen. Unser ästhetisches Empfinden für die Büroklammer ist letztlich ein sentimentales. Die Designgeschichte, so kann man nur folgern, sollte sich für die vielen Facetten unseres Designverständnisses öffnen. Epochen und Stile, Alltagsdesign und Autorendesign, Einfachheit und Exzentrik, Social und Critical Design können sich im Designbegriff gegenüberstehen, ohne einander auszuschließen. Wenn die Ästhetik die einende Klammer der Gestaltung bildet, muss die historische Forschung auch keiner Fortschrittsgeschichte des Funktionalen mehr dienen. Denn das Ästhetische ist nicht steigerbar, es kennt weder Fortschritt noch Evolution im Sinne eines survival of the fittest, es ist zu jeder Zeit auch anders möglich – in Bewegungen und Gegenbewegungen, in sichtbaren und unsichtbaren Positionen (z. B. im Sinne Burckhardts). Doch bedeutet das Fehlen einer zielgerichteten Fortschrittslogik nicht, dass es keine Entwicklung gab. Fragen wir also, welcher Motivation die Gestaltung dabei folgt und wann diese eigentlich begann.

2.2 Die Tasse des Diogenes: Zu den Ursprüngen der Gestaltung Wann sollte die Designgeschichtsschreibung nun historisch einsetzen, gab es die Disziplin schon immer oder handelt es sich um ein Phänomen der Moderne? Wenn wir Design nicht als Folge von Industrialisierung und Massenproduktion denken wollen, kann man letztlich nur fragen, wann die Menschheit begann, die Dinge nicht nur auf ihre Funktion, sondern auch im Hinblick auf ihre Ethik und Ästhetik zu reflektieren. Es liegt also nahe, den Beginn des Designs deutlich weiter zurückzudatieren. Doch hat sich die heutige Verwendung des englischen Begriffs „Design“ erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert,21 so dass auch

21 D  er Designbegriff wurde im Oxford English Dictionary 1886 zum ersten Mal aufgeführt.

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für den Beginn des modernen Designs eine Begründung zu formulieren ist. Die Industriegeschichte gibt uns dafür durchaus Hinweise, allerdings nicht dahingehend, dass die Gestaltung sich den neuen Produktionsweisen gefügt hätte. Wie ich zeigen möchte, steht der Beginn von Arbeitsteilung und Serienproduktion vielmehr für das Gegenteil: Der Designberuf formierte sich, um gegen die Fabriklogik Widerstand zu leisten. Betrachtet man, wie sich die neu eingeführte arbeitsteilige Produktion auf das Design ausgewirkt hat, lässt sich ein Siegeszug der rationalen Form historisch nicht feststellen. Dies zeigt z. B. die Entwicklung des Autos – jenes Alltagsprodukts, das wie kein anderes durch die Einführung des Fließbandes erst serientauglich und schließlich für immer mehr Menschen erschwinglich wurde. Doch hat die Serientauglichkeit hier zu beispielhaft funktionalem Design geführt? Wohl kaum. Der legendäre Ford T rollte 1913 als erstes Auto von einem Fließband (Abb. 7). Trotz neuartiger Produktionsmethoden ähnelte der Wagen aber immer noch einer Kutsche – wie schon jener Motorwagen, den Carl Benz 1886 als Patent angemeldet hatte. An der Formgebung änderte die neue Produktionsweise zunächst nichts. Erst 1926 beauftragte die Firma General Motors erstmals professionelle Designer, eine neue Formensprache für das Automobildesign zu entwickeln. Die eigens dafür zusammengestellte „Art and Color“-Abteilung von GM brachte 1927 den Cadillac LaSalle heraus, das erste moderne Autodesign, wie es in der Literatur oft heißt (Abb. 8).22 Die Entwurfsleistung des Chef-Designers Harley Earl war an Herstellungskompatibilität jedoch wenig interessiert: Anders als die Ingenieure des Konzerns, die auf Funktionalität und Kosten geachtet hatten, aber nicht auf das Aussehen, hatte Earl ein elegantes Luxusprodukt entwickelt. Tiefer gelegt und geschwungen gerundet, ahmte der LaSalle die Flugzeugkonstruktion nach, denn Earl war fasziniert von den Gesetzen der Aerodynamik. Der Fahrer des Automobils saß nun nicht mehr hoch oben und beinfrei auf seinem „Kutschbock“, sondern tief im Inneren der Karosserie wie ein Pilot in seinem Flugzeug. Das Autofahren sollte, dem Fliegen ebenbürtig, als ein Wunder der Technik inszeniert werden: Wie z. B. Reklame für den LaSalle zeigt (Abb. 9), wollte man von der weltweiten Be-

22 V  gl. Bernd Polster, Phil Patton: Autodesign International: Marken, Modelle und ihre Macher, Köln: DuMont 2010, S. 11ff.

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7 Produktion des Ford T, 1913

geisterung profitieren, die Charles Lindbergh 1927 auslöste, als er erstmals ohne Zwischenlandung von New York nach Paris flog. Das Imaginäre war hier federführend, das Automobil sollte durch sein Design in einen Mythos verwandelt werden, damit es mehr darstellt als ein rein funktionales Werkzeug der Fortbewegung.23 Solche symbolischen Aufladungen bestimmen bis heute das Marketing bzw. die Markenbildung unserer Alltagsdinge. Das Styling soll den Konsum anregen, damit über den Massenabsatz das Versprechen eingelöst werden kann, die Dinge immer billiger zu machen. Die Demokratisierung der Güter hat aus historischer Sicht also nicht der Funktionalismus geleistet, sondern eine Gestaltung, die den Wünschen des Massengeschmacks folgt. Der Maschinenproduktion, so kann man nur feststellen, war es letztlich gleich, welche Formen sie produziert, solange sich die Herstellungskosten nur möglichst rasch amortisieren. Als Garant für gute Form konnte die Fabriklogik der Serienproduktion daher nie einstehen. Wenn man die Industriegeschichte als eine Geschichte des Formens deuten will, dahingehend dass sie aus ihrer eigenen Codierung heraus bestimmte Formen hervorgebracht hat, sollte man diese wohl als Technikgeschichte und nicht als Designgeschichte konzipieren. Eine solche Geschichte der rein nützlichen, effizienten Entwürfe schrieb z. B. der Schweizer Architekturhistoriker Siegfried Giedion mit 23 D  en Begriff des Mythos verwende ich hier im Sinne von Roland Barthes: Mythen des Alltags (1957), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964. Vgl. zum Mythos Automobil das Kapitel: „Der neue Citroën“, S. 76–78.

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8 Cadillac LaSalle von GM, 1927

9 Reklame für Cadillac LaSalle, o.D.

seinem bis heute einflussreichen Buch Die Herrschaft der Mechanisierung von 1948.24 Er verzichtet darin explizit auf den Designbegriff, und das macht es bis heute lesenswert – als eine Geschichte der technischen Formen, die es von den ästhetisch gestalteten Formen zu unterscheiden gilt. Giedion betrachtete in seiner Studie die Entwicklung der anonymen Dinge abseits der großen Namen: Nicht Designer interessierten ihn, sondern Erfinder, Tüftler und Ingenieure, die durch ihre Patentanmeldungen zum 24 S  iegfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte (1948), Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1994.

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technischen Fortschritt beitrugen. Die Evolution unserer Artefakte, so Giedions zentrale These, folgt dabei einem unvermeidlichen Hang des Menschen zur Mechanisierung. Wir besäßen eine Art angeborenen Komfortinstinkt, der uns antreibt, die Dinge immer praktischer und leistungsfähiger zu machen, so dass sie uns immer mehr Arbeit abnehmen. Seit der Erfindung der ersten Werkzeuge will es sich der Homo sapiens bequemer machen und verbessert daher stetig die Effizienz und Nützlichkeit seiner Geräte. Giedion zeigt dies vor allem an gewöhnlichen Alltagsdingen und Haushaltshelfern, vom mechanischen Türschloss zum klappbaren Patentmöbel u. a. Dabei wird tatsächlich eine reine Funktionsgeschichte der Dinge sichtbar, die wir aber kaum als Designgeschichte deuten können. Giedion steht jener „Herrschaft der Mechanisierung“ durchaus auch kritisch gegenüber, so analysiert er die negativen Seiten des industriellen Fortschritts eingehend: Mit der Erfindung des Fließbandes habe sich der ursprünglich gute Komfortinstinkt zu einer tayloristischen Effizienzdoktrin gewandelt, die menschenunwürdige Maschinenarbeit nach sich zog. Giedion bespricht dafür ausführlich Upton Sinclairs sozialkritischen Roman The Jungle von 1906,25 der die Ausbeutungsmechanismen, hygienischen Missstände und den Profitwahn des amerikanischen Kapitalismus anhand von Arbeiterschicksalen aus den damals als fortschrittlich geltenden Schlachthöfen und Konservenfabriken beschreibt.26 Doch auch wenn Rationalisierung und Automatisierung inhumane Lebens- und Arbeitsbedingungen hervorbrachten, hält Giedion daran fest, dass das Entwicklungsmodell der Technisierung keine Alternativen zulässt, das Handeln und Denken des Menschen sei gewissermaßen darauf konditioniert. Wir sollten allerdings lernen, diese eigentlich neutrale Kraft des Fortschritts für uns sinnvoll und human einzusetzen. So Giedion: „Mechanisierung ist ein Agens wie Wasser, Feuer und Licht. Es ist eine blinde Kraft, an sich richtungslos, ohne positives oder negatives Vorzeichen. Wie bei Naturgewalten hängt alles davon ab, wie der Mensch sie nutzbar macht und wie er sich gegen sie schützt. Dass der Mensch die Mechanisierung aus sich heraus geschaffen hat, verstärkt

25 Upton Sinclair: Der Dschungel (1906), Zürich: Unionsverlag 2014. 26 S. Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung, S. 238–277.

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ihre Gefährlichkeit, denn unkontrollierbarer als die Naturgewalten wirkt sie von innen heraus auf die Sinne und die geistige Struktur ihrer Urheber.“27 Giedions Analyse ist als Technikgeschichte auch heute noch aktuell. Sie zeigt das Problem auf, das man auch dem Funktionalismus vorwerfen muss: Mechanisierung und technischer Fortschritt können aus sich heraus keine Kriterien hervorbringen, wie man ihnen Einhalt gebietet. Die Technisierung als neutrales Agens bzw. neutraler Akteur kennt keine Ethik der Dinge, da die Menschlichkeit in ihrer Logik nicht vorkommt. Das Humane befindet sich außerhalb des technischen Codes, der allein der Ratio von Pragmatismus und Utilitarismus folgt. An dieser Stelle lässt sich wiederum die Gestaltung ins Spiel bringen: Sie bildet aus historischer Sicht den Gegenspieler dieser Entwicklung. Als ethisches und ästhetisches Korrektiv versucht sie, die Belange des Menschen in das Entwerfen unserer Dinge einzubringen. Gegenüber dem Desinteresse der Technik am Menschen formuliert Design eine radikal anthropozentrische Sicht: Im Namen des Humanen leistet die Gestaltung Widerstand gegen die verselbstständigten Kräfte von ökonomischer Ratio und technischer Fortschrittslogik, die Giedion so treffend beschrieben hat. Design zeigt Gegenmodelle zur Alternativlosigkeit vermeintlicher Sachzwänge auf. Oder anders formuliert: Design als Ästhetik ist letztlich alles, was wir haben, um dem evolutionären survival of the fittest der technischen Logik etwas entgegenzusetzen. Die Herausbildung der Designdisziplin, allem voran als Begriffs- und Berufsbezeichnung, begann um die Mitte des 19. Jahrhunderts, weil man der Fabriklogik gerade nicht mehr gehorchen wollte: Wie die ersten Entwürfe zeigen, die als Design in die Geschichte eingingen, arbeiteten die Gestalter an einer Reform der Form. Sie befolgten keineswegs die Vorgaben der Maschinenproduktion, sondern stellen dieser eine ausgesprochen handwerkliche und rückwärtsgewandte Arbeitsweise und Formensprache gegenüber. Das Design der Moderne, so gilt es historisch anzuerkennen, begann im Reformdesign der Arts&Crafts-Bewegung. Entscheidend für die Formierung des Designsdiskurses war z. B. die Wahrnehmung der ersten Weltausstellung 1851 in London: Das Großereignis im

27 Ebd., S. 769.

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10 Christopher Dresser: Teekanne für James Dixon & Sons, 1879

Crystal Palace mag die breite Bevölkerung begeistert haben, aber die engagierten Künstler und Gestalter zeigten sich geradezu entsetzt über die ausgestellte Warenproduktion. Ob Gottfried Semper, John Ruskin oder William Morris, sie alle erklärten einhellig, dass die maschinelle Produktion nur dazu geführt habe, das Formgefühl dem historistischen Kitsch zu opfern.28 Denn das anbrechende Industriezeitalter habe die Massen nicht für die Einfachheit und schlichte Schönheit der Dinge begeistert, sondern für die Serientauglichkeit von willkürlich angebrachtem Dekor. Die ersten Designer feierten also keineswegs die Demokratisierung des Konsums, sondern beklagten das damit einhergehende Ende jeglichen Geschmacksempfindens. Wenn die Gestalter sich von nun an mit einer Reform des Ornaments beschäftigten, zielten sie keineswegs auf mehr Kompatibilität mit den Produktionsprozessen, sie suchten vielmehr nach einer neuen Kultur der Dinge.

28 V  gl. Gottfried Semper: Wissenschaft Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühls bei dem Schlusse der Londoner Industrie-Ausstellung (1852), vgl. Originalausgabe unter: https://archive.org/details/wissenschaftindu00semp vom 24.11.2017. Sowie weiterführend Franz von Bosbach, John Davis (Hg.): Die Weltausstellung von 1851 und ihre Folgen, München: Saur 2002.

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Der britische Reformdesigner Christopher Dresser kann als einer der ersten Designer im Sinne des modernen Berufsbildes betrachtet werden. Nicht nur seine Arbeitsweise spricht dafür, denn Dresser belieferte mit seinem Entwurfsbüro rund 60 Firmen im Land mit Vorschlägen für Formgestaltung und ließ dabei seinen Namen in die Produkte prägen. Das Werk steht aber auch für eine neue Ästhetik, die radikal reduzierte Formensprache seiner Entwürfe besticht bis heute. Sogar als Vorreiter der Bauhaus-Ästhetik wird Dresser wahrgenommen – z. B. mit Blick auf das Design seiner Teekanne von 1879 (Abb. 10).29 Dem verzierungssüchtigen Historismus stellte er schlichte geometrische Grundformen von ungewöhnlicher Nüchternheit gegenüber. Mit seinem Griff aus wertvollem Ebenholz sollte das Kännchen aber sicherlich nicht maschinenproduzierbar sein. Selbst wenn Dresser innovativ mit neuen Verfahren der Galvanisierung arbeitete, um das teure Silber zu ersetzen, blieb er dem kunsthandwerklichen Arbeiten treu. Er kam der Kaufkraft des Bürgertums zwar entgegen, wollte aber nur in Kleinserie produzieren, da er nicht billige Waren, sondern neue Tischkultur stiften wollte: Die reformierte Form sollte ästhetisch zu neuem Geschmacksempfinden anregen und einen Lebensstil gegen die grassierende Massenproduktion ermöglichen. Wie er seine neue Formensprache der geometrischen Reduktion herleitete, vermag ein anderes Beispiel anschaulich zu zeigen: Dresser war seiner ersten Ausbildung nach Biologe. Er hatte in Pflanzenmorphologie promoviert und war fasziniert vom Sortieren und Schematisieren von Formen. Das Zeichnen und Visualisieren von Pflanzentypen hatte ihn auch zu gestalterischen Erkenntnissen geführt. So gab er in London Zeichenunterricht für angehende Designer, die er lehrte, Pflanzen in abstrakten Diagrammen wiederzugeben (Abb. 11, 12).30 Die Effizienz der Natur galt ihm als Vorbild für die Gestaltung, aber nicht etwa im Hinblick auf ihre Funktionsweise im darwinistischen Überlebenskampf, sondern in Bezug auf die Sortierung ihrer visuellen Formen. Die im Darstellungsprozess der Zeichnung entstehende Ordnung empfand er als Rettung vor dem dekorativen Allerlei seiner Zeit. Es war die ästhetische Wahrnehmung 29 S  iehe ausführlich Michael Whiteway: Shock of the Old: Christopher Dresser’s Design Revolution, London: Victoria & Albert Museum 2004. 30 Ebd., S. 47ff.

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11, 12 Christopher Dresser: Zeichnung zur Pflanzenmorphologie, ca. 1855

solcher wissenschaftlichen Diagramme, die Dresser z. B. in der Gestaltung von Toastständern übernahm (Abb. 13, 14). Die Wissenschaft sollte die Gestaltung inspirieren, um ihr eine Reform der Form zu ermöglichen. Um verbesserte Funktionalität ging es dabei nicht, denn wozu braucht man eigentlich einen Toastständer? Seit dem 18. Jahrhundert gehören solche Brothalter zur gehobenen Tischkultur – sie verhindern, dass die heißen Scheiben beim Transport verkleben oder durch ihr Kondensat bei der Berührung mit dem kalten Geschirr feucht werden. Über die gesellschaftli-

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13 Christopher Dresser: Toastständer für James Dixon & Sons, 1879

che Relevanz solcher Kulturgegenstände mag man natürlich streiten, aber zu Dressers Zeit leistete ein derart schlicht gestalteter, kunsthandwerklich hergestellter Gegenstand durchaus Widerstand gegen die geschmacklichen Entgleisungen des Historismus. Allerdings neigte die Reformbewegung in ihren Designbemühungen mehr zur Utopie als zur Machbarkeit. Sie stellte die Vereinigung von Kunst und Leben über alle Brauchbarkeit im Alltag. Die elitäre Handwerksgeste zog man der massenhaften Vervielfältigung vor, weil sie als rückwärtsgewandte Produktionsweise gegen

14 Christopher Dresser: Toastständer für Hukin & Heath, 1881

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15 Frontispiz von William Morris: News from Nowhere, 1890

die bestehenden Verhältnisse zu rebellieren vermag. Vor allem William Morris, der heute wohl bekannteste Begründer des Reformdesigns, verstand sich als Revolutionär, der durch die Schaffung neuer ästhetischer Verhältnisse auf die Gesellschaft einzuwirken suchte: Er nahm als einer der Ersten den Kampf gegen die Umweltverschmutzung auf, setzte sich für Armutsbekämpfung, Arbeiterrechte und die Gleichberechtigung der Geschlechter ein – all dies sollten auch seine Entwürfe für grafische Buchkunst, Teppiche, Tapeten, Stühle usw. zum Ausdruck bringen. Morris ging es nicht nur um schönere Dinge, sondern um sinnstiftende Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle – die er z. B. in seinem utopischen Zukunftsroman News from Nowhere von 1890 beschrieb (Abb. 15).31 Natürlich liegt es nahe, diesem Design romantische Rückwärtsgewandtheit vorzuwerfen, die damaligen Fragen der Umweltzerstörung und sozialen Ungerechtigkeit konnte man mit diesen Entwürfen sicher nicht lösen. Aber Reformdesigner wie Morris machten im Rahmen ihrer 31 V  gl. William Morris: Kunde von Nirgendwo. Eine Utopie der vollendeten kommunistischen Gesellschaft und Kultur (1890), Köln: DuMont 1974.

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16 Nudist bei der Arbeit in der Vegetabilen Cooperative Monte Verità, 1907

17 Sessel aus unbehandeltem Astwerk nach Karl Gräser, Monte Verità, um 1910

Gestaltung auf diese Probleme überhaupt erst aufmerksam – und wie man unschwer erkennen kann, beschäftigen uns diese Fragen noch heute. Historisch bzw. begriffsgeschichtlich gesehen ist Design mit dem Gedanken eines Aussteigerlebens weitaus mehr verbunden als mit Gehorsam gegenüber der Industrialisierung. Nicht wenige Reformdesigner zogen als Zeichen ihres Widerstands auf das Land und gründeten Selbstversorger-Kommunen, um sich allen Formen des Eigentums und Gewinnstrebens widersetzen zu können – so z. B. durch nackte Gartenarbeit, vegane

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Ernährung und einen Alltag ohne Dienstboten wie bei den Lebensreformern auf dem Monte Verità im Tessin (Abb. 16, 17).32 Das utopische Denken war somit keine anfängliche Verwirrung der Disziplin, wie in der Literatur oft behauptet, es zieht sich als Leitfaden des ästhetischen Widerstands durch die gesamte Geschichte der Gestaltung. Der Protest, der sich im Andersmöglichsein der Dinge und Lebensverhältnisse manifestieren soll, kann in den verschiedensten Designpositionen seinen Ausdruck finden: durch die Gestaltung neuer Einfachheit, durch die freiwillige Selbstbeschränkung oder den gänzlichen Verzicht auf Dinge. Utopisch-spekulative Experimente kennzeichnen noch das Social und Cricital Design unserer Tage, so wie sich auch die Postmoderne als Kind jenes Aufbruchs lesen lässt, der mit den ersten Designern der Moderne begann: Ein Sofa aus recycelten Autoreifen wie das der Gruppe Des-In von 1975 kann als Kritik an der damaligen Ölkrise verstanden werden, als Aufforderung zu einem neuen Umgang mit den Ressourcen (Abb. 18); wie auch der Sofaentwurf von Gaetano Pesce gewitzt kommentiert, was eine Wohnzimmercouch eigentlich leisten soll: die Befriedigung der heimlichen Sehnsüchte bürgerlicher Wohnkultur – samt eingebautem Sonnenuntergang (Abb. 19). Kommen wir vor diesem Hintergrund noch einmal zur Ausgangsfrage zurück: Begann Design als Andersmöglichsein aller Dinge erst mit der Moderne? Die Berufsbezeichnung hat sich erst in der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt, aber das Reflektieren über die Sinnhaftigkeit der Dinge hat unsere Kultur natürlich schon früher unternommen. Seit der Steinzeit dekoriert der Mensch sein Gerät. Wie z. B. auch Horst Bredekamp betont, hat es rein funktionale Nutzdinge nie gegeben, schon zu Zeiten der Höhlenmalerei wurden Werkzeuge und Gebrauchsdinge mit ästhetischen Formen verziert: Man nutzte Versteinerungen, Streifen und Ornamentik im steinernen Material, um damit die ersten Faustkeile so zu gestalten, dass sie nicht nur funktionieren, sondern über die Musterung auch einen Mehrwert an Schönheit bzw. symbolischer Form produzieren.33 Seit jeher formen wir unsere Dinge so,

32 V  gl. Sabine Schulze, Claudia Banz, Leonie Beiersdorf (Hg.): Jugendstil – Die große Utopie, Hamburg: Museum für Kunst und Gewerbe 2015, S. 71ff. 33 Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 26ff.

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18 Des-In: Reifensofa, 1975

19 Gaetano Pesce: Sonnenuntergang in New York, 1980

dass sie nicht nur ihren Zweck erfüllen, sondern darüber hinaus auch ästhetisch kommunizieren. Doch sollte Schönheit schon ein ausreichendes Kriterium für Design sein? Mir scheint die leichte Verwechselbarkeit mit bloßem Styling und Dekor würde der Definition von Gestaltung nicht gut tun. Die Formen des Designs, so zeigt die Geschichte der Disziplin, formulieren über das naive, gar unschuldige Schönheitsempfinden hinaus immer auch eine Idee der Reform: Bestehendes wird als unzureichend empfunden und mit einem Andersmöglichsein der Dinge konfrontiert. Design übt immer auch Kritik, indem es etwas zu verbessern sucht – in ethischer wie in ästhetischer Hinsicht. Doch muss für diesen Wunsch

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20 Jean-Léon Gérôme: Diogenes, 1860

nach Reform und Neuerung nicht erst die Moderne als historischer Beginn angesetzt werden. Schon in den antiken Glückstheorien werden verschiedenste Versuche sichtbar, durch einen veränderten Umgang mit den Dingen ein anderes Leben zu führen. Warum sollte man sie nicht auch als Designtheorie lesen? Einen prominenten „Gestalter“, den man heute wohl dem Critical Design zurechnen würde, mag man z. B. in Diogenes von Sinope (um 410–323 v. Chr.) erkennen. Die freiwillige Selbstbeschränkung machte er zu seinem Lebensthema, um der damaligen Gesellschaft ihre zivilisatorischen Fehlentwicklungen vorzuhalten. Der demonstrative Verzicht auf Dinge war das wichtigste Motiv des Kynikers. So berichtet eine Anekdote über ihn: Diogenes, als Philosoph, der in der Tonne lebte, um kein Haus zu benötigen, der lieber mit Hunden verkehrte, als sich mit Menschen abzugeben (Abb. 20), sah eines Tages einen Knaben aus der hohlen Hand trinken, und warf daraufhin seine Tasse weg, denn auch diese benötigte er ja nicht wirklich. „Ein Kind ist mein Meister geworden in der Genügsamkeit“, soll er gerufen haben.34 Als ideengeschichtlichen Begründer des Designsleitbildes „Less is more“ mag man also schon Diogenes anführen. Entwurf und Praxis seines „unsichtbaren Design“ bzw. das philosophische Konzept und der Wille, dieses auch zu leben, fanden hier auf beeindruckende Weise zusam-

34 Diogenes Laertios: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Bd. 1 (Bücher I-VI), Hamburg: Felix Meiner 2008, S. 37.

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men. Oder würde man Diogenes aus heutiger Sicht vielleicht vorwerfen, aus seinem Leben eher ein Kunstwerk gemacht zu haben? Die Frage nach dem Verhältnis von Design und Kunst gilt es nun eingehender zu klären, denn unser Verständnis der Moderne hängt maßgeblich davon ab.

2.3 Kunst und Design: Ein Drama der Moderne Unser heutiges Designverständnis ist so unweigerlich mit der Moderne verknüpft, da sich erst mit diesem Umbruch die diskursive Trennung von Kunst und Design vollzog. Die Grenzziehung im Bereich des Ästhetischen geht bereits auf das Denken um 1800 zurück. Die Spaltung vollzog sich also schon vor dem Beginn der industriellen Serienproduktion. Was motivierte die ästhetische Theorie zu der damals so unversöhnlich gezogenen Grenze von high & low, und warum konnte diese bis heute nicht überwunden werden? Die späteren Reformdesigner des 19. Jahrhunderts verfolgten doch gerade das Ziel, Kunst und Leben wieder zu vereinen – als Heilmittel gegen die entfremdete Arbeit und die Selbstentfremdung des Menschen. Weshalb konnte sich diese Allianz aus künstlerischem und gestalterischem Schaffen eigentlich nicht bewähren? Die Aufhebung der Trennung von freien und angewandten Künsten in einem Gesamtkunstwerk aller ästhetisch arbeitenden Disziplinen war das erklärte Ziel der Avantgarden der Moderne, doch ihr Anliegen blieb stets Utopie. Dieser innere Widerspruch lässt sich nur erklären, wenn man Theorie und Praxis an dieser Stelle getrennt betrachtet: Die Prämissen des modernen Kunstbegriffs hatten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dafür gesorgt, dass die Gestaltung aus der philosophischen Ästhetik verdrängt wurde, die sich fortan auf die hohen bzw. freien Künste konzentrieren sollte. Doch erweist sich die zugrundeliegende Annahme, allein die Kunst sei frei und daher tiefsinnig und rebellisch, während das Design stets dem Nutzen zu gehorchen habe, historisch gesehen als eine Erfindung der Theorie. In der künstlerischen und gestalterischen Praxis hat man sich diesem Diskurs häufig widersetzt, die Grenzen wurden von den Kulturschaffenden allerorts unbekümmert überschritten, doch die philosophische Ästhetik sah lieber nicht hin, denn es hätte an ihrem Selbstverständnis gerüttelt. Letztlich leiten sich alle Vorurteile, die bis heute den Blick auf die Gestaltung trüben, aus der um 1800 entstandenen

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Ansicht ab, dass alles Brauchbare in der niederen Geistlosigkeit verharre. Den Gebrauchsdingen fehle per Definition die Erkenntnisleistung der Kunst, sie brächten nur dumpfe Alltagsroutinen hervor. Bevor wir uns den Argumenten dieses Diskurses zuwenden, sei jedoch betont, dass er sich nur als Urteilssystem der westlichen Kultur etabliert hat. Die nicht-westlichen Kulturen haben diese Trennung von Kunst und Design meist nicht vollzogen. Vermutlich öffnen sich heutige Kulturinstitutionen und -märkte daher so bereitwillig für jene global art, die Kunst und Alltag, Kunst und Handwerk, Kunst und Tradition so unumwunden vermischt: Nach den Jahrhunderten des westlich codierten Blicks wirkt dies auf unsere Sehgewohnheiten wieder neu und überraschend. Doch sollte man auch für unseren Kulturkreis festhalten, dass die radikale Spaltung von high & low um 1800 ein Novum in der Geschichte des Westens war. Nie zuvor wurden Kunst und Design auf diese Weise getrennt. Blicken wir kurz in die ältere, vormoderne Tradition zurück: In der Literatur wird oft erwähnt, der englische Begriff design leite sich vom italienischen disegno-Konzept ab, das die Kunsttheorie der Renaissance maßgeblich geprägt hatte. Doch gerade der Unterschied von design und disegno zeigt, welcher Bruch sich mit der Moderne vollzog – als Wortschöpfung wie als Wertschöpfung. Disegno (von lateinisch designare) meint einerseits das Zeichnen, Skizzieren, die Darstellung im Umriss als praktische Tätigkeit der zeichnenden Hand, umfasst andererseits aber die künstlerische Idee bzw. das gestalterische Konzept als geistiges Modell. Der Kunsttheoretiker Federico Zuccari unterschied daher das disegno interno als die immaterielle, intellektuelle Idee eines Werks vom disegno externo als der materialisierten Ausführung durch das handwerkliche Können des Künstlers. Der Begriff, der sich vom frühen 15. Jahrhundert bis zum Ende des 16. Jahrhunderts zu einer zentralen Kategorie des Kunstverständnisses entwickelte, leistete die Verbindung des geistigen Schaffens mit der ausführenden Praxis und band dabei alle Künste gleichermaßen ein. So soll z. B. Michelangelo Buonarroti 1538 in den römischen Gesprächen mit Francesco da Holanda den interdisziplinären Anspruch des Konzepts wie folgt beschrieben haben: „Das disegno, das man mit anderen Worten auch Entwerfen nennt, ist Quelle und Inbegriff der Malerei, der Bildhauerei, der Architektur und jeder anderen Art des Malens. Es ist die Grundlage jeder Wis-

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senschaft. Wer diese große Kunst beherrscht, der möge erkennen, dass ihm eine unvergleichliche Macht untertan ist. Er wird, mit nicht mehr als Feder und Pergament Dinge schaffen, die größer sind als alle Türme der Welt.“35 Schon die Wortwahl lässt schließen, dass die Gattungstrennung von Kunst und Design hier nicht vollzogen war. Alle Kunst wurde als entwerfende Kunst begriffen, sie gestaltet die Existenz und Entfaltung des Menschen in seiner Umwelt. Indem Michelangelo auch die Wissenschaften als Basis der Künste einbezog, zeigt sich der Aufbruch der Frühen Neuzeit: Mit der Renaissance begann eine ästhetische Tradition, die alle Künste als forschende Wissenskünste aufwertete, gegenüber der noch handwerklich gesinnten mittelalterlichen Scholastik, die stets einem Kanon gehorchend nach vorgegebenen Regeln arbeitete. Statt einer Trennung von hohen und niederen Künsten forderte die Renaissance im Konzept des disegno die Vereinigung von Theorie und Praxis, von Wissen und Tun. Erkenntnisdrang sollte mit Kreativität einhergehen, der Intellekt die Materie, der Geist die Hand durchdringen. Ästhetik und Episteme wurden im Denken des disegno verschmolzen, Schönheit sei gleichermaßen der Ausdruck von Wissen wie von Können. Nicht von ungefähr benötigte man in der Frühen Neuzeit für diese Ansprüche den Künstlertypus des uomo universale, eines an keine Gattung gebundenen Universalgenies. Erscheint uns dies aus heutiger Sicht wieder erstrebenswert, oder erachten wir diese Vermischung aller Disziplinen von der Kunst bis zur Wissenschaft als hoffnungslos undifferenziert und vormodern? Verglichen mit den antiken Kunstlehren und auch der mittelalterlichen Scholastik hatte das disegno-Konzept die Aufwertung von Kunst und Design gleichermaßen geleistet. Denn die ursprüngliche Trennung von freien und angewandten Künsten verlief in den vorangehenden Epochen nochmals anders, als wir es heute kennen: Als freie Künste bzw. artes liberales trennte man seit der Antike die sieben hohen Künste der Grammatik, Rhetorik und Dialektik (Trivium) sowie Arithmetik, Geometrie, Musikthe-

35 V  gl. https://de.wikipedia.org/wiki/Disegno_(Kunsttheorie) vom 22.2.2018; siehe zudem Wolfgang Kemp: „Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19 (1974), S. 219–240.

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orie und Astronomie (Quadrivium) von allen niederen handwerklichen Künsten, den artes mechanicae bzw. artes vulgares, zu denen Kunst und Design gleichermaßen gehörten. Als „freie Kunst“ galten folglich rein intellektuelle Wissenschaften, mit denen man damals kein Geld verdienen konnte – so dass man durch Stellung oder Vermögen frei sei musste von den Zwängen des Broterwerbs. Künstler und Designer hingegen, beide nur als Handwerker eingestuft, hatten ihr Auskommen durch Arbeit zu bestreiten. Das Ansehen der Künste aller Gattungen hätte nicht geringer ausfallen können – ob in Platons umfassender Illusions- bzw. Bildkritik oder in Senecas Feststellung, dass man „Maler, Bronzegießer und Marmorbildhauer“ ebenso behandeln könne wie „Ringer, Köche und Salbenhändler“.36 Weber und Waffenschmiede, Maurer und Bildhauer, Jäger und Heiler, Schauspieler und Tischler stünden doch alle auf derselben Stufe, so der Stoiker. Diese lange währende Grenzziehung zwischen freier und unfreier Tätigkeit hob erst der disegno-Begriff auf. Das Aufstreben der Künste als Wissenskünste markierte in der Renaissance also den ersten Schritt in die Gegenwart. Doch wurde die Gestaltung mit dem Epochenumbruch um 1800 aus dem Diskurs der wissenden Künste wieder ausgeschlossen. Es formte sich jener Begriff einer zweckfreien und autonomen Kunst, der sich aus einem deutlich engeren Verständnis von Ästhetik ableitet. Dem Alltag bzw. allem Anwendbaren wurden die Potenziale der Wahrheits- und Sinnstiftung wieder abgesprochen – zumindest aus Sicht der Theorie. Wie kam es nun zu diesem Drama der Moderne, das die Austreibung des Designs aus der Ästhetik zu verantworten hat? Wie ich zeigen möchte, war es der gewandelte Blick der Geschichtsphilosophie, der seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann, die Künste und Gattungen neu zu ordnen. Im Zuge der Aufklärung musste sich alle Kultur dem Gedanken eines zivilisatorischen Fortschritts unterordnen lassen. Zum Beispiel aus naturgeschichtlichen Modellen abgeleitet sollte die Geschichte nun eine Entwicklung zu höherer Kultur erkennen lassen. Die Zivilisierung des Menschen wurde eben nicht mehr an der göttlichen Vorsehung gemessen, sondern am Leistungsprinzip der jeweiligen Kultur. Dieser Gedanke

36 Vgl. Stefan Büttner: Antike Ästhetik. Eine Einführung in die Prinzipien des Schönen, München: Beck 2006, S. 120.

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21 Johann Heinrich Füssli: Der Künstler verzweifelnd angesichts der Größe der antiken Trümmer, 1778–80

prägte auch die gerade erst entstehende Kunstgeschichtsschreibung. Sie sollte den neuen Geist der Geschichtsphilosophie belegen und untermauern. Von Winckelmann zu Hegel entfaltete sich daher ein teleologisches Denken über das Fortschreiten der Künste: Der Zweck der Kunst, den man aus ihrer historischen Entwicklung ablesen könne, liege geradezu in ihrem Aufgehen in der Philosophie. Sie allein bringe höheres Wissen bzw. das im Idealismus angestrebte Absolute hervor. Am Anfang dieser Fortschrittsgeschichte der Künste stand allerdings eine betrübliche Einsicht: Nun, da man die archäologischen Schätze der Antike in Pompeji und anderswo ausgegraben und sortiert hatte, war man regelrecht erschlagen von der überwältigenden Schönheit dieses Erbes. Johann Heinrich Füssli hat diese Stimmung wohl treffend festgehalten in seiner Rötelzeichnung Der Künstler verzweifelnd angesichts der Größe der antiken Trümmer von 1778 bis 1780 (Abb. 21). Was sollte ein moderner Künstler angesichts dieser Höchstleistungen der Alten noch leisten? Die zeitgenössischen Werke des Klassizismus erschienen gegenüber den antiken Originalen als schale, kalte Kopien – und dessen war

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man sich bewusst. Das neue, historisch hergeleitete Fortschrittsdenken sollte der Kunst den Ausweg weisen: Wenn man die Alten handwerklich nicht mehr überbieten kann, wird man sie nun intellektuell übertrumpfen müssen. Hegel erklärte daher alle wahrnehmbare Schönheit als ein Vergangenes, alles materiell gefertigte Schöne sei bereits vollendet und nicht mehr zu übertreffen.37 Der Auftrag der modernen Künste liege folglich in der gedanklichen Abstraktion – als Werk des Geistes und nicht der ausführenden Hand.38 Im Gegenzug konnte man alle sichtbar erscheinende Schönheit und Dekoration dem niederen Alltag und somit den angewandt arbeitenden Gestaltern zuschreiben. Die Dinge des Lebens mochte man zwar als nützlich und gut empfinden bzw. als geschmacklich gelungen, aber die Werke der Kunst galt es nun an ihrer philosophischen Qualität zu messen. Diese Wende bedeutete das Ende der Zusammenarbeit aller Künste, die Bemühung um das ästhetische Zusammenspiel von Kunst und Leben, von Künsten und Wissenschaften, war aufgekündigt. Dafür mag auch die Gründung der ersten modernen Museen stehen, sie zeichneten die Gattungstrennung in aller Härte nach: Jede Disziplin sollte nun für sich nachweisen, wie sie ihren historischen Fortschritt vollzog. Der Kunst kam nun die Aufgabe zu, dem Denken bei seinen Höhenflügen zu assistieren. Nach Hegel musste sie selbst philosophisch werden, denn aus historischer Sicht sei klar: „Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflügelt.“39 Kunstwerke brauchte man also nur noch als Einstiegshilfe für die Theorie:

37 Vgl. ausführlich Beat Wyss: Die Trauer der Vollendung, Köln: DuMont 1997. 38 So Hegel: „Die schönen Tage der griechischen Kunst wie die goldene Zeit des späten Mittelalters sind vorüber. […] Deshalb ist unsere Gegenwart ihrem allgemeinen Zustande nach der Kunst nicht günstig. […] In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. Damit hat sie für uns auch die echte Wahrheit und Lebendigkeit verloren und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als dass sie in der Wirklichkeit ihre frühere Notwendigkeit behauptete und ihren höheren Platz einnähme.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik (1835–38/1842), hg. von Rüdiger Bubner, Stuttgart: Reclam 1971, S. 49f. 39 Ebd., S. 48.

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„Die Wissenschaft der Kunst ist darum in unserer Zeit noch viel mehr Bedürfnis als zu den Zeiten, in welchen die Kunst für sich als Kunst schon volle Befriedigung gewährte. Die Kunst ladet uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke, Kunst wieder hervorzurufen, sondern was die Kunst sei, wissenschaftlich zu erkennen.“40 An Hegels Prognose zum „Ende der Kunst“ hat sich bis heute manches bewahrheitet: Der Künstler musste fortan so intellektuell agieren wie sein geschichtsphilosophisch geschulter Kritiker oder Kurator. Ob man der künstlerischen Praxis mit dieser intellektuellen Überhöhung einen Gefallen tat, sei dahingestellt. Doch gilt es an dieser Stelle nicht das Aufgehen der Kunst in ihrem Diskurs zu untersuchen, sondern die in diesem Zuge einsetzende Geringschätzung des Designs: Die ästhetische Theorie der Moderne sah in den Alltagsdingen keine kulturelle Leistung mehr, sondern nur noch den Ausdruck für die hässlichen Notwendigkeiten unserer Zivilisation. Die bürgerlich geprägte Moderne sah in den Alltagsdingen nur noch die Fabrik, d. h. die Zwänge des Gehorchenmüssens – gegenüber Produktionsbedingungen, Märkten und Dividenden. Diese Verachtung der alltäglichen Dinge findet sich schon gut ein halbes Jahrhundert vor Hegel im Denken von Johann Joachim Winckelmann, dem Vater der modernen Kunstgeschichtsschreibung: Die alten Sammelsurien der Kunst wollte er auflösen zugunsten einer Geschichtsauffassung, die eine klare Entwicklung erkennen lässt. Jenen Fortschritt der Künste erklärte Winckelmann naturgeschichtlich im Rahmen seiner Klimatheorie: Die Bildnisse der Alten seien deshalb so erhebend schön, weil die Menschen der Antike in sonnigen und warmen Gefilden lebten und daher auch selbst schön waren. Alltag und Kunst waren gleichauf, so Winckelmann, unter der griechischen bzw. römischen Sonne bekam man ausschließlich schöne Körper zu sehen – und so musste der Künstler als Handwerker nur nachahmen, was er sah. Seine eigenen Zeitgenossen empfand Winckelmann hingegen als hässlich, die Pocken und das viele Puder hätten ihre Haut verdorben. Das antike Körpergefühl sei auf ewig verloren und die Bemühungen der Mode, ganz gleich ob

40 Ebd., S. 50.

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aus London oder Paris, machten alles nur schlimmer. In der Antike, so schrieb er in seinen Gedanken über die Nachahmung von 1755: „war der ganze Anzug der Griechen so beschaffen, dass er der bildenden Natur nicht den geringsten Zwang antat. Der Wachstum der schönen Form litte nichts durch die verschiedenen Arten und Teile unserer heutigen pressenden und klemmenden Kleidung, sonderlich am Halse, an Hüften und Schenkeln. Das schöne Geschlecht selbst unter den Griechen wusste von keinem ängstlichen Zwange in ihrem Putze: Die jungen Spartanerinnen waren so leicht und kurz bekleidet, dass man sie daher Hüftzeigerinnen nannte.“41 Im nordischen Klima seines Kulturkreises bräuchten sich die Gestalter hingegen keine Mühe mehr geben, es sei keine Schönheit mehr zu erzielen. Gerade materielle Gebrauchskultur erweist sich in Winckelmanns Diskurs stets als determiniert, hier von Wind und Wetter, dort von Zweck und Pragmatik – sie kann daher nie die intellektuellen Freiheiten der zweckfreien Künste erreichen. Doch nur durch ein neues Verständnis der hohen Kunst, so Winckelmann, könne man dem kulturellen Niedergang noch entgegenwirken. Der moderne Künstler müsse ein Genius sein, der sich nur noch intellektuell am Geist der Alten orientiert, um seine Erkenntnisse in neuer abstrakter Form umzusetzen: „Der Pinsel, den der Künstler führet, soll im Verstand getunkt sein, wie jemand von dem Schreibgriffel des Aristoteles gesagt hat: Er soll mehr zu denken hinterlassen, als was er dem Auge gezeiget, und dieses wird der Künstler erhalten, wenn er seine Gedanken in Allegorien nicht zu verstecken, sondern einzukleiden gelernet hat. […] Der Kenner wird zu denken haben, und der bloße Liebhaber wird es lernen.“42 Das Denken der Kunst findet sich hier zur höchsten Tugend erhoben, während das tägliche Leben seinen niederen, weil ewig zweckgebunde-

41 J ohann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1756), hg. von Ludwig Uhlig, Stuttgart: Reclam 1995, S. 6. 42 Ebd., S. 39.

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nen Routinen überlassen wird. Dem Kulturverfall des Alltags steht nun die überhöhte Museumskunst gegenüber, institutionell geschützt gegen alle Berührungen mit dem Leben und pädagogisch vermittelt durch Spezialisten, die alle Kunst immer erst erklären müssen. Seither feiert der bürgerliche Kulturbegriff den Künstler als Rebellen und entlässt den Designer als Vollstrecker der Warenlogik aus der Hochkultur. Nicht von ungefähr verglich auch Hegel das entwerfende Bauen und Einrichten mit einer „instinktmäßigen“ Arbeit, so „wie die Bienen ihre Zellen bauen“.43 Intellektuelle Kreativität, so Hegels Urteil, werde in der Logik des Zweckmäßigen nicht gebraucht, die Gestaltung des Alltags befindet sich auf der gleichen Höhe wie die triebhafte Natur.44 Der eiserne Vorhang zwischen Kunst und Design war damit gefallen. Als Folge dieser Ausdifferenzierung von Kunst und Design finden wir heute aufseiten der Kunst ein starkes Interesse an der Theorie. Ein Werk ohne eingehende theoretische Besprechung vermag im Kunstsystem kaum mehr zu existieren. Im Design hingegen zeichnet sich ein Dasein ohne Diskurs und Reflexion als Normalzustand ab. Doch wie sollte die ästhetische Theorie angesichts solcher Prämissen beschreiben können, was in Kunst und Design tatsächlich geschieht? Wie wirkmächtig die alten Vorurteile unseren Blick bis heute lenken, mag das folgende Beispiel zeigen: Kunst und Design können sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Und doch sind sie weder gleich noch gleichwertig. Trotz aller äußerlichen Parallelen entscheidet das vorgeschaltete ästhetische Regime unserer Betrachtungsgewohnheiten, was als Kunst und was als Design zu sehen ist. Die irische Architektin und Designerin Eileen Gray entwarf z. B. 1925 ein Tagesbett (Abb. 22), das Daybed der britischen Künstlerin Rachel Whiteread aus dem Jahr 1999 (Abb. 23) könnte diesem nicht ähnlicher sehen. Natürlich sind sie nicht identisch, aber doch vergleichbar in der ästhetischen Anmutung. Ebenso lässt sich der bereits erwähnte Ulmer Hocker von 1954 (Abb. 24) durchaus mit den Holzmöbeln des Künstlers Donald Judd von 43 G  eorg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807), hg. von H.-F. Wessels und H. Clairmont, Hamburg: Felix Meiner 1988, S. 455. 44 Vgl. Annette Geiger: „‚Form follows function’ als biozentrische Metapher“, in: dies., Stefanie Hennecke, Christin Kempf (Hg.), Spielarten des Organischen in Architektur, Design und Kunst, Berlin: Reimer 2005, S. 50–67.

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22 Eileen Gray: Tagesbett, 1925

23 Rachel Whiteread: Tagesbett, 1999

1984 (Abb. 25) vergleichen, wenn man die kühne Schlichtheit und minimalistische Reduktion als ihr wesentliches Merkmal ansieht. Alle vier Arbeiten sind noch heute im Handel zu kaufen – als Original, Reedition oder Kopie. Handelt es sich nun um Möbel oder Kunstwerke? Sollen wir diese Dinge nun im Alltag benutzen oder sie im Museum ausstellen, um sie zu reflektieren? Wenn sich die Ästhetik auf die sinnliche Wahrnehmung der Dinge beziehen würde, wie es eigentlich ihr Auftrag wäre, hätte die Trennung von Kunst und Design hier ihren Sinn eingebüßt. Aber der Diskurs hat die Disziplinen zerrissen – die Möbel des Gestalters bedeuten etwas anderes

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24 Max Bill, Hans Gugelot, Paul Hildinger: Ulmer Hocker, 1954

25 Donald Judd: Open Side Chair, 1984

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als die Werke des Künstlers, sie werden mit anderen Augen betrachtet, sie bedienen sich anderer Codes. Sollte diese Unterscheidung von Kunst und Design heute obsolet sein? Wäre eine Entdifferenzierung aller Künste wünschenswert, dahingehend dass sie ihre Autonomie wieder aufgeben wird zugunsten einer gemeinsamen Ästhetik? Mir scheint, die Frage stellt sich nicht, denn die Trennung von Kunst und Design ist in westlichen Kulturen zunächst einmal eine soziale Tatsache. Die Umerziehung unserer eingeübten Sehgewohnheiten scheint kaum möglich – auch wenn jede Grenzüberschreitung wiederum erfrischend auf das Auge wirkt. Doch wäre es an der Zeit, die veraltete Bewertung von Kunst und Design endlich fallen zu lassen, das obsolete Hierarchiedenken von high & low sollte sich erübrigt haben. Beide Disziplinen müssen in der ästhetischen Theorie Beachtung finden – als gleichberechtigt, aber eben verschieden. Dies wäre vermutlich die Antwort der Systemtheorie nach Niklas Luhmann, die stets nach zunehmender Ausdifferenzierung sucht. Doch man könnte sich, um auch dies wiederum zu hinterfragen, an die vielzitierte Frage von Michel Foucault halten: „Was mich erstaunt ist, dass in unserer Gesellschaft die Kunst nur noch eine Beziehung mit den Objekten und nicht mit den Individuen oder mit dem Leben hat, und auch, dass die Kunst ein spezialisierter Bereich ist, der Bereich von Experten, nämlich den Künstlern. Aber könnte nicht das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein? Warum sind ein Gemälde oder ein Haus Kunstobjekte, aber nicht unser Leben?“45 Die erwähnte Anekdote über Diogenes und seine weggeworfene Tasse hat darauf bereits eine Antwort gegeben: Für den antiken Philosophen bzw. ersten Critical Designer der Kulturgeschichte gab es keine Kunst, die nicht auch im Alltag stattfindet. Sein Leben war sein Werk bzw. Kunstwerk. Gerade die enge Verklammerung von Ethik und Ästhetik im praktischen Tun erweist sich als Möglichkeit, Kunst und Design trotz aller Ausdifferenzierung gedanklich zusammenzuführen. Designästhetik ist weniger

45 M  ichel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007, S. 201.

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eine Theorie der schönen Dinge als eine Theorie des reflektierten Lebens mit Dingen. Gerade die Designgeschichte lässt sich nur auf diese Weise interpretieren: Sie fragt, wie Menschen durch den ästhetischen Umgang mit Artefakten und Szenarien das Andersmöglichsein von Welt entwerfen. Die Formen des Designs zielen auf Reform – oder sie sind kein Design. Nicht die bloße Zweckorientierung, sondern neue Sinnstiftung bzw. Kritik am Bestehenden bilden den Code der Gestaltung. Design erweist sich daher als ein radikal auf den Menschen bezogenes Kommunikationssystem, es ist gänzlich anthropozentrisch gefasst. Welches Menschenbild setzt die Gestaltung also voraus? Und wie verfolgt sie unsere menschlichen Interessen im Design der Dinge? Dieses letzte Problem der Designdefinition sei nun im Hinblick auf das Verhältnis von Mensch und Technik untersucht: Angesichts der technischen Entwicklungen betrachten wir uns heute oft als gefährdet. Wie könnte es also möglich sein, auch die Technologie so ästhetisch zu gestalten, dass sie sich im Sinne des Designs human zu uns verhält?

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Man sollte meinen, die Frage nach dem Verhältnis von Design und Technik liegt nahe, wenn man über das Entwerfen nachdenkt. Denn analoge Apparate und digitale Medien prägen unsere Lebenswelt und müssen entsprechend für ihre Nutzer gestaltet werden. Doch besteht seitens der Designdiskurse ein erstaunliches Desinteresse an der Technik. Die Entwicklung technischer Funktionen spielt in der Designgeschichte kaum eine Rolle, es wird meist anderen Disziplinen und Institutionen zugewiesen (z. B. den Kommunikations- und Technikmuseen bzw. der Technik- und Mediengeschichte). Doch warum sollte es eigentlich kein Design der Technik geben? Die Schnittstelle von Mensch und Gerät dominiert unseren Alltag, es wäre fatal, die Frage nach der guten Gestaltung unserer technischen Dinge nicht zu stellen. Doch welche Kriterien lassen sich anlegen? Um reine Geschmacksfragen sollte es nicht gehen. Technikdesign ist weit mehr als das Design von schönen Gerätehüllen und gut benutzbaren Oberflächen. Denn es stellt sich die Frage nach der Macht: Wer herrscht über wen – der Mensch über die Technik oder umgekehrt? Oder als Gestaltungsaufgabe formuliert: Wie könnte gutes Design helfen, den Menschen vor übergriffiger, inhumaner Technik zu bewahren? Gerade eine Ästhetik des Designs muss sich daran messen lassen, wie sie die Begegnung von Mensch und Technik beschreibt: Sie muss definieren können, worin der Unterschied von ästhetischer Wahrnehmung und technischer Logik besteht. Denn die ästhetische Selbstermöglichung des Menschen, so die These, kann sich nur in Abgrenzung zum technischen

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1 Le Corbusier: Unité d’Habitation, Typ Berlin, 1958

Prinzip herausbilden. Die Kommunikationssysteme von Design und Technik stehen sich letztlich ausschließend gegenüber, daher findet geformte Technik im Designdiskurs auch so wenig Anerkennung. Ob Autos oder Haushaltsgeräte, ob Hardware- und Software-Schnittstellen – diese Bereiche werden in der genuinen Designkultur so wenig honoriert, weil sie entweder nur die funktionale Nutzbarkeit im Sinne der Ergonomie bearbeiten oder die Gehäuse der Apparate nur schöner stylen, damit wir sie noch mehr begehren und konsumieren. Eine tatsächliche Begegnung von Menschen und Technik, die man als die eigentliche Herausforderung des Designs betrachten müsste, findet in beiden Fällen nicht statt. Ökonomisch profitable Usability gepaart mit smartem Styling wird hier jedenfalls nicht als Kriterium für ästhetische Gestaltung verstanden. Die Ursachen dieser Ablehnung lassen sich auch historisch erklären: Die Gestalter der Moderne waren zwar begeistert von der Technik, sie verehrten die Effizienz der Fabrik, den Minimalismus des Flugzeugbaus, die Eleganz von Schiffen und die Kraft der Maschine – aber indem sie diese Merkmale auf Gebäude, Möbel und Alltagsdinge übertrugen, begriffen sie nicht das tatsächlich Technische daran, sondern verehrten ein idealisiertes Bild der technischen Effizienz als Vorboten einer neuen Gesellschaft. Die Logik der Maschine stand nur rhetorisch bzw. metaphorisch für eine moderne Gestaltung ohne Dekor. Doch sind heutige Wohnungseinrichtungen im Industrial-Deco-Stil ebenso wenig technisch wie die

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„Wohnmaschine“ von Le Corbusier tatsächlich eine Maschine war (Abb. 1).1 Wie rationalisiert die Fertigung der Bauteile oder die Raumökonomie der Grundrisse von Le Corbusier auch waren, das Wohnen in Gebäuden bleibt ein kultureller Vorgang. Man übernimmt die Symbolik des Industriellen in den Alltag, aber nicht das maschinelle Funktionieren – denn wer wollte schon essen und schlafen wie am Fließband? Wir müssen also unterscheiden: Es gibt einen Designstil, der das Technische als Prinzip verehrt, aber in der Regel an nicht-technischen Gegenständen umsetzt. Um diese Strategien des Entwerfens soll es hier nicht gehen, denn sie zielen nicht auf das Technische an der Technik, das wiederum den Ingenieuren überlassen bleibt. Als Design der Technik soll im Folgenden nur gelten, was grundlegend in das Verhältnis von Mensch und Gerät eingreift, um dieses humaner und ästhetischer zu gestalten. Nur in dieser Perspektive kann man schließlich durch das Gestalten unserer Werkzeuge und Medien den designdefinitorisch entscheidenden Willen zum Widerstand kundtun. Das reine Styling von Gerätehüllen, so gilt es zunächst festzuhalten, folgt in der Regel nicht den technischen Funktionen, jedes „Form follows function“ wird hier ad absurdum geführt: Die designte Verpackung soll vornehmlich den unförmigen Haufen verdecken, den die Elektrotechnik im Inneren hinterlassen hat. Das ästhetisch Formlose der technischen Schaltkreise, Chips und Prozessoren, Rechenarchitekturen und Programmiersprachen möchten wir Benutzer gar nicht sehen. Der Anblick des Innenlebens der Technologie gilt als geradezu obszön, als würde man in die schmutzigen Eingeweide der Dinge schauen. Geglättete, organisch gerundete Gehäuse, die sehr an die Beschreibung erinnern, die Roland Barthes einst von dem berühmten Citroën DS gab, schmücken daher noch die heutigen Laptops, Tablets und Smartphones. Wie aus einem Guss oder gar nahtlos wie das Gewand Christi war einst das göttliche Auto geformt, so Barthes (Abb. 2):

1

Le Corbusier hatte den Begriff „Wohnmaschine“ 1921 in der Zeitschrift L’Esprit Nouveau (Nr. 8) selbst geprägt, er gab ihn aber später auf, da er vor allem von seinen Gegnern zur Herabsetzung seiner Bauweise verwendet wurde. Siehe dazu Dieter Schnell: Le Corbusiers Wohnmaschine, in: http://bauforschungonline.ch/aufsatz/le-corbusierswohnmaschine.html vom 28.12.2017.

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2 Citroën DS 19, 1955

3 Kompaktcomputer Mac Mini, Modell 2014

„Bekanntlich ist das Glatte immer ein Attribut der Perfektion, weil sein Gegenteil die technische und menschliche Operation der Bearbeitung verrät: Christi Gewand war ohne Naht, wie die Weltraumschiffe der Science Fiction aus fugenlosem Metall sind. Die DS 19 erhebt keinen Anspruch auf eine völlig glatte Umhüllung, wenngleich ihre Gesamtform sehr eingehüllt ist, doch sind es die Übergangsstellen ihrer verschiedenen Flächen, die das Publikum am meisten

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interessieren. Es betastet voller Eifer die Einfassungen der Fenster, es streicht mit den Fingern den breiten Gummirillen entlang, die die Rückscheibe mit ihrer verchromten Einfassung verbinden.“2 Diese Beschreibung passt nur zu gut zum heutigen Dekor der digitalen Apparate: Möglichst wenige Öffnungen sollen die Innereien der Geräte sichtbar machen (Abb. 3). Niemand will sehen, wie die Funktion funktioniert. Die äußere Form der Technik simuliert Schönheit, wo keine ist. Besser bzw. funktionaler werden die Geräte dadurch nicht, der eigentlichen Interaktion von Mensch und Technik ist somit nicht gedient. Design als Andersmöglichsein muss angesichts heutiger Herausforderungen andere Fragen stellen: An den Schnittstellen unserer Medien und Geräte begegnen sich nicht nur Nutzer und Funktionen, sondern zwei verschiedenen Denkweisen bzw. Existenzmodi. Eine Designästhetik der Technik muss also den Sinn der Technik für den Menschen überdenken und nicht nur ihre gute Anwendbarkeit.

3.1 Über technische und ästhetische Kulturen Um zu beschreiben, wie sich ästhetische und technische Kultur im Sinne des Designs gut begegnen können, müssen wir beide Logiken zunächst differenzieren. Das Humane wird in unserer Diskurstradition meist als das Gegenstück zum Technischen definiert – jede philosophische Technikkritik beschwört letztlich diesen Gegensatz. Daher muss sich auch der Designbegriff auf diesen Antagonismus beziehen, er benötigt dieses Moment der kritischen Distanz, um nicht als Vollstrecker fremder Interessen zu kollabieren. Einen radikalen Technikverzicht bis hin zum Systemausstieg kann die Gestaltung aber keinesfalls vertreten, denn sie arbeitet für den Menschen und nicht gegen ihn; und Werkzeuge und Medien gelten dem Homo sapiens nun einmal als unabkömmlich, sie machen ihn seit seiner Entstehung aus. Es geht also nicht darum, sich für oder gegen die Technik zu erklären, sondern um das gestalterische Verbessern unserer 2 Göttlich, weil das Kürzel DS im Französischen wie „déesse“ klingt: „Göttin“. Siehe Roland Barthes: „Der neue Citroën“, in: Ders., Mythen des Alltags (1957), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964, S. 76–78, hier S. 76f.

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4 Peter Hajnoczky: Coverabbildung für Lewis Mumfords Mythos der Maschine, 1977

Beziehungen zu ihr. Der Interaktion von Mensch und Maschine ist aber nicht grundsätzlich geholfen, wenn man nur die Schnittstellen im Sinne der ergonomischen Benutzerfreundlichkeit optimiert. Das Ziel des reibungslosen Funktionierens ist an sich ein technisches und kein ethisches im Sinne des Humanen: Die Usability-Forschung ist zwar ausgerichtet auf die menschlichen Sinne und Organe, auf unsere Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungskapazitäten, aber sie sucht den Benutzer so zu leiten und zu lenken, dass die Geräte möglichst ungehindert funktionieren – selbsterklärend und daher ohne Bedienungsfehler unsererseits. Der Griff eines Hammers unterscheidet sich in dieser Hinsicht kaum vom digitalen Interface, beides soll gut handhabbar sein und effizient zum Ziel führen. In dieser Perspektive können Probleme durch Formung tatsächlich gelöst werden: Allerdings ist hier der Mensch das Problem und die Technik die Lösung – wir selbst sind die Mängelwesen, die beim Bedienen der Technik versagen könnten und daher über entsprechende Instruktionen zum guten Funktionieren gebracht werden müssen. Und diese Logik kann man kaum als human bzw. ästhetisch betrachten: Die Schnittstel-

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len der Technik passen sich hier dem Menschen nur an, damit dieser den technischen Anweisungen noch effizienter gehorchen kann. Usability, so kann man nur folgern, ist kein Design, sie normiert Mensch und Maschine gleichermaßen, sie passt sie einander an und unterwirft beide einem Soseinmüssen der Dinge und Abläufe. Natürlich profitieren wir auch von den Errungenschaften der Ergonomie, das gute Funktionieren der Technik ist nur auf diesem Wege erreichbar. Aber ohne ästhetisches Andersmöglichsein kann sich keine humane Beziehung von Mensch und Technik entfalten. Die Normierungen der Usability, wie gut gemeint auch immer, sollen unser Handeln gezielt in die Alternativlosigkeit führen. Die damit erlittene Erniedrigung und Entmündigung des Menschen bildet letztlich den Kern aller Technikkritik. Der Grafiker Peter Hajnoczky hat mit seinem Cover für die deutsche Ausgabe von Lewis Mumfords Bestseller Mythos der Maschine. Kultur, Technik, Macht von 1977 diese Verflechtung von Dienen und Bedienen sehr treffend ins Bild gesetzt (Abb. 4).3 Für den Designdiskurs war es daher stets bequemer, alles tatsächlich Technische aus dem Kreis der guten Gestaltung auszuschließen oder einfach nur die schönen Gehäuse – z. B. weiße, minimalistisch gestaltete Kisten mit Knopf 4 – als gutes Technikdesign zu feiern. Doch hat man sich damit das Problem eingehandelt, in den Augen der Technikkritik als gehorsamer Diener der Technisierung dazustehen. Philosophen und Kulturkritiker beschreiben gerade das Design als willigen Helfer der technischen Machtübernahme in der Gesellschaft – so z. B. auch Peter Sloterdijk in seinem Aufsatz Das Zeug zur Macht von 2006.5 Deutlich an Heidegger anknüpfend bezeichnet er das nunmehr digitalisierte „Gestell“ unserer smart designten Technologien als eine gigantische Simulation, die nur verdecke, dass wir die Technik gerade nicht beherrschen, sondern sie uns. Insbesondere die Gestaltung sei schuld daran, dass wir unsere alltägliche Versklavung nicht einmal bemerkten, so Sloterdijk:

3 Hier gemeint ist die deutsche Ausgabe in der Reihe fischer alternativ, vgl. Lewis Mumford: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht (2 Bde., 1966/70), Frankfurt a.M: Fischer 1977.  4 Vgl. Kap. 1.2, insbesondere die Karikatur von Lucius Burckhardt, Abb. 8. 5 Peter Sloterdijk: „Das Zeug zur Macht“, in: ders., Sven Voelker (Hg.), Der Welt über die Straße helfen. Designstudien im Anschluss an philosophische Überlegungen, München: Wilhelm Fink, 2010, S. 7–25.

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„Denn Design ist – von einem kompetenzökologischen Ansatz her gesehen – nichts anders als die gekonnte Abwicklung des Nichtgekonnten. Es sichert die Kompetenzgrenzen der einzelnen, indem es dem Subjekt Verfahren und Gesten an die Hand gibt, im Ozean seiner Inkompetenz als Könner zu navigieren. Insofern darf man Design als Souveränitäts-Simulation definieren: Design ist, wenn man trotzdem kann.“6 Als Warnung vor naivem Technikglauben mag man das überzeugend finden – doch warum musste Sloterdijk dafür eigentlich den Designbegriff missbrauchen? Er beschreibt hier die Leistungen von technischen Lösungen, die sicherlich unseren Alltag bestimmen – aber diese wurden von Ingenieuren und Programmierern entwickelt, nicht von Designern. Diese fatale Verwechslung bzw. Gleichsetzung von Technologie und Gestaltung hatte bereits Vilém Flusser in den 1990er Jahren als gängigen Topos der Medien- und Technikphilosophie etabliert. Ingenieure und Designer mögen beim Erfinden und Entwerfen zwar das Gute im Sinn haben, heraus komme stets ein Teufelskreis der Zweckmäßigkeit, so Flusser: „Vom Standpunkt der reinen Güte ist nur ein gradueller Unterschied zwischen dem eleganten und gebraucherfreundlichen Design eines Stuhls und einer Rakete. In beiden lauert der Teufel. Weil beide funktionell sind.“7 Auch Flusser dachte die Technik als Simulationsmaschinerie, so beschreibt er das Design unserer Maschinen als „eine Vorrichtung zum Betrügen“. Denn es nütze „zum Beispiel der Hebel zum Betrügen der Schwerkraft“. So kommt Flusser zum Schluss: „Ein Designer ist ein hinterlistiger, Fallen stellender Verschwörer.“8 Flusser wie Sloterdijk betrachten Design und Technik als ein und dieselbe Logik, da beide Hand in Hand arbeiteten, um die Natur zu überwinden, sie regelrecht austricksen, um sie für uns nutzbar zu machen. Doch der Mensch simuliere seine Macht nur, denn stark sei schließlich nur der Hebel und nicht der Benutzer, der immer tiefer in die Abhängigkeit von seinen Apparaten gerate – so ihr Argument. Die Funktion der Hebelwirkung,

6 Ebd., S. 11f. 7 Vilém Flusser: Vom Stand der Dinge, hg. von Fabian Wurm, Göttingen: Steidl 1993, S. 38f. 8 Ebd., S. 9.

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so möchte ich jedoch entgegnen, gehört allein zur technischen Logik, sie basiert auf den Naturgesetzen der Physik – und diese werden bekanntlich nicht von Designern entworfen, sie sind uns vorgegeben. Der Designer ist ebenso wenig zuständig, wenn es gilt, diese physikalischen Funktionen in Form von Werkzeugen und Gegenständen nutzbar zu machen, dafür werden Naturwissenschaftler und Ingenieure ausgebildet, heute auch Informatiker, Programmierer usw. Sie sorgen in einem ersten Schritt dafür, dass die Technik funktioniert. Erst wenn dieses Funktionieren der Dinge gewährleistet ist, kommt der Gestalter ins Spiel: Ihm kommt die Aufgabe zu, den Sinn unserer Medien und Geräte zu entwerfen. Er erkennt und bedenkt, dass wir die Wahl haben, über den Nutzen von Technologien zu entscheiden: Wir müssen nicht alles, was technisch funktioniert, in unsere Kultur aufnehmen. Nicht alles, was machbar ist, muss zur Anwendung kommen – allein an diesen Fragen arbeitet das Design. Wir können also wiederum differenzieren: Das gute Funktionieren der Geräte wird von der technischen Logik aus gedacht, ihre Sinnstiftung jedoch erst in der ästhetischen Perspektive des Andersmöglichseins erzeugt. Technikdesign ist dann auch kein Teufelszeug, wie Flusser meinte, sondern gleicht eher einem Akt der Teufelsaustreibung – z. B. wenn es gilt, eine technisch kolonisierte Lebenswelt wieder vom Unsinn so mancher Funktionen zu befreien. Als tatsächliches Design der Technik darf also nur gelten, was Technik auch infrage zu stellen wagt – oder schärfer formuliert: Design ist praktizierte Technikkritik in Form von gestalteten Dingen. Ebenso ist Design nicht der Anwalt der technischen Übermacht, sondern ein Vertreter des Menschen, der sich gegen diese aufzulehnen sucht. Hier zeigt sich erneut: Alle Gestaltung vertritt eine radikal anthropozentrische Haltung. Kulturwissenschaftliche Technik- und Medienphilosophien, die eine dezidiert anti-anthropozentrische Sicht zu entwickeln suchen,9 lassen sich mit der hier verfolgten Designästhetik also nicht vermitteln, sie stehen ihr diametral gegenüber. Ansätze, wie z. B. die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nach Bruno Latour u. a., die heute in einigen Bereichen der Designwissenschaft stark rezipiert werden, erweisen sich aus meiner Sicht als ungeeignet für eine Beschreibung der Gestal-

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 gl. z. B. Erich Hörl (Hg.): Die technologische Bedingung. Beiträge V zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011.

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tung. Sie erfassen nur die technische Seite unserer Dinge, der sinnlich wahrnehmende Mensch ist in diesem Denken bewusst ausgespart. Der humane Faktor wird im Netzwerk der Akteure nicht nur vernachlässigt, man schaltet Menschen und Dinge letztlich gleich. Der Unterschied von Subjekt und Objekt gilt in diesem Diskurs als aufgehoben, weil nur die Wirkung bzw. Funktion der jeweiligen Interaktion zählt. Mit dem Wegfall des sinnlich wahrnehmenden Menschen sind diese Theorien jedoch blind für die Ästhetik unserer Umwelt. Das Beschreibungsmodell der ANT mag für die Logik der Technik stimmig sein, aber sie reduziert die Kultur des Menschen auf eine Anthropotechnik des rein instrumentellen Funktionierens. Es zählt nur, was in technischer Hinsicht Wirkung zeigt – so wie es schon Flusser in seiner Gleichsetzung von Stuhl und Rakete suggeriert. Der Übertrag des technischen Prinzips auf Kultur und Gesellschaft erweist sich aber als problematisch: Verfolgt man mit der ANT das Ziel eines reibungslosen Zusammenspiels aller Akteure, muss sich auch die soziale Kultur durch technische Lösungen verbessern lassen. Technische Funktionen sollen durch ihre zweckrationale Vernunft das menschliche Fehlverhalten korrigieren.10 Sie verstünden es schließlich, unsere Aktionsmöglichkeiten derart einzuschränken, dass wir alles nur noch richtig machen – so das Argument der ANT. Die Ziele der Usability-Forschung entsprechen diesem Leitbild voll und ganz: Jede Anwendung soll zum Kinderspiel werden, damit wir ihr blind folgen können. Allerdings „erblindet“ dann auch unsere ästhetische Wahrnehmung und Souveränität. So sehr uns technische Lösungen auch entlasten mögen – sie bestehen stets auf dem Gehorchen des Menschen. Der Pragmatismus der ANT, der im Sinne einer monistischen Theorie alle Kultur und Technik als ein einziges Prinzip zusammenführt,11 kennt folglich nur Welten ohne Mensch und ohne Ästhetik. Natürlich dient die Technologie auch dem Sozialen, ohne technische Lösungen hätten wir

10 V  gl. insbesondere Latours frühe Arbeiten, z. B. Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften (1990), Berlin: Akademie Verlag 1996. 11 Zum Monismus bei Bruno Latour u. a. vgl. Bernhard Gill: „Über Whitehead und Mead zur Aktor-Netzwerk-Theorie: Die Überwindung des Dualismus von Geist und Materie – und der Preis, der dafür zu zahlen ist“, in: Georg Kneer, M. Schroer, E. Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 47–75.

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keine Chance auf zentrale kulturelle Errungenschaften wie Mobilität und Kommunikation, Austauschmedien und Gedächtnisspeicher usw. Aber die Technik erzeugt erst dann sinnstiftende Kulturen, wenn wir sie nicht nur technisch nutzen. Ästhetische Freiheit und Selbstermöglichung wird erst möglich, wenn eine andere Logik hinzutritt. Vergleichbar zur ANT hat auch der in sich widersinnige Begriff der „Kulturtechnik“ versucht, diese Differenz zu nivellieren oder gar zu negieren: Die als obsolet empfundene Zwei-Reiche-Lehre von Kultur und Technik sollte damit überwunden werden. Schließlich greife auch jede geistige oder künstlerische Produktion auf ein materielles bzw. medientechnisches Apriori zurück. Kultur ohne Technik gebe es nicht, also sei auch die Kultur technisch determiniert. Doch übersieht man dabei, dass das Gestalten der entsprechenden Technologien kein technischer Vorgang ist. Die Erfindung der Technik ist selbst keine technische Notwendigkeit, sondern eine Folge der menschlichen Kreativität und Kultur. Sie ist also immer auch anders möglich, es liegt an uns, das Design der Technik in unserem eigenen Sinne zu gestalten – als ästhetisch und nicht als alternativlos. Die Komplexität der modernen Gesellschaft hat sich in vielfältigen Ausdifferenzierungen ergeben, die uns immer feinere Codierungen des Denkens und Handelns ermöglichen. Warum sollte die Theorie diese zentrale Unterscheidung von Kultur und Technik also wieder aufheben bzw. entdifferenzieren? Aus gestalterischer Sicht ist sie alles, was wir haben, um uns als Menschen zu behaupten. Technik und Ästhetik gibt es nur im Nebeneinander der Systeme, eine Aufhebung der Differenz würde immer die Selbstaufgabe bzw. das Aufgehen des einen im anderen zur Folge haben. Und dies kann nicht in unserem Interesse sein, wenn wir die Wahl haben wollen, unsere Umwelt hier technisch und dort ästhetisch zu codieren. Die Aufgabe des Designs besteht also darin, die Logiken auseinander zu halten und dennoch ihre Begegnung und Beziehung in der Lebenswelt zu vermitteln.

3.2 Belastungs- und Entlastungsmedien: Gedanken zur Schnittstelle Welche Möglichkeiten hat das praktische Entwerfen, Technik so zu gestalten, dass sie uns nicht dermaßen regiert und entmündigt? Versuchen wir eine Antwort anhand von konkreten Beispielen: Wie könnte man z. B. den Computer bzw. seine Schnittstellen zum Menschen als Gestaltungsaufgabe

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definieren? Die ersten Rechner waren designhistorisch noch uninteressant für die Gestaltung, ihre schiere Größe verbot den Hausgebrauch für jedermann. Es bestand somit nicht die Notwendigkeit, ihre Oberflächen für alle nutzbar zu gestalten, nur ausgebildete Spezialisten sollten diese Geräte bedienen. Die Technik zeigte sich hier noch, wie sie tatsächlich aussah, keine Hülle verdeckte ihr Inneres. Konrad Zuses Z3 von 1941 (Abb. 5) scheint man noch bei Rechenoperationen am offenen Herzen zusehen zu müssen, sowie man die frühen Großrechnern wie architektonische Räume betrat, um sich in einer Flut an Knöpfen und Kabeln zu verlieren. Das Verkleinern der Geräte, das Miniaturisieren bis hin zum tragbaren Tool leisteten in den folgenden Jahrzehnten die Ingenieure und Programmierer. Welche Aufgabe kam dem Design dabei zu? Der Wunsch, der Technik nicht mehr begegnen zu müssen, erweist sich als das zentrale Motiv. Doch sollte man diese Idee nicht zu plakativ übersetzen – z. B. als das reine Stylen von glatten Gehäusen ohne Schlitz. Es geht vielmehr um das Unsichtbarmachen des technischen Funktionierens an sich: Gutes Design lässt die Codes der Technik an den Schnittstellen zum Menschen verschwinden. Auf unseren Bildschirmoberflächen müssen wir keine Befehlsketten in der Sprache der Informatik eingeben, wir finden vielmehr unser altbekanntes analoges Büro vor: Wir haben einen Schreibtisch, Papier, Ordner und auch einen Mülleimer. Unser Zugang zur Technik wird so inszeniert, dass er nicht mehr technisch anmutet. Indem wir klicken und schieben, wischen und tippen, lösen wir zwar digitale Befehle aus, aber die Gestaltung erspart uns den Anblick der Vorgänge dahinter, Avatare auf der Bildschirmoberfläche nehmen uns die Arbeit ab. All das scheint heute selbstverständlich – und natürlich könnte man diese gestalteten „Masken“ auch mit Flusser und Sloterdijk als Betrug und Simulation beklagen. Doch hilft uns die Illusion des Analogen, die eigenen Sinne zu schonen. Unser Wahrnehmen, Denken und Handeln muss sich nicht mehr dem technischen Code unterwerfen, wir können vielmehr in unserer Sicht der Dinge fortfahren zu arbeiten. Die Rückkehr zur Analogie inmitten der digitalen Medien bildet als Trompe-l’œil jene Welt nach, die wir im Alltag zu meistern wissen. Und damit entstehen Wahlmöglichkeiten: Wir können die Ordnung und Struktur des Bildschirmbüros selbst anlegen – oder es auch der totalen Unordnung überlassen. Es mag banal klingen, aber die Option, den digitalen Schreibtisch nicht aufzuräumen, ermöglicht uns Menschlichkeit: Ob kreatives Chaos oder penible Ordnung, entscheidet der

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5 Konrad Zuse: Rechenmaschine Z3, 1941

Nutzer selbst. Der Computer ordnet sich hier dem Mängelwesen Mensch unter, obwohl er sicherlich viel effizienter aufzuräumen wüsste als wir. Das gute Design der Technik lässt diese verschwinden, damit wir eine Welt vorfinden, die der unseren gleicht – mit allen ihren ungelösten Problemen. Die technische Logik tritt zurück, damit wir auch fehlbar sein dürfen. Die gut gestaltete Mensch-Maschine-Schnittstelle besteht somit auf strikter Arbeitsteilung: Die Technik leistet, was sie zu leisten hat, im Verborgenen, autonom und wie von selbst – möglichst ohne menschliches Zutun. Dieser Vision gemäß müssen wir die Geräte im Idealfall nicht einmal mehr bedienen oder berühren. Gute Technik macht sich also unsichtbar. Schon das Kindermärchen von den Kölner Heinzelmännchen erzählt von jenem Menschheitstraum, der die eigentliche Idee des technischen Fortschritts bilden sollte: Die Heinzelmännchen arbeiten nachts, wenn die Menschen schlafen – aber nur solange niemand versucht, sie zu sehen bzw. sichtbar zu machen.12 Die fleißigen Helfer tun ihr Werk

12 V  orläufer der Legende sind bereits aus der Märchensammlung der Brüder Grimm bekannt, schriftlich veröffentlicht wurde die Sage erstmals in dem Buch von Ernst Weyden: Cöln’s Vorzeit. Geschichten, Legenden und Sagen Cöln’s, nebst einer Auswahl cölnischer Volkslieder, Köln: Schmitz 1826.

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nur, wenn wir ihnen nicht zu begegnen suchen. Das Märchen erzählt aber auch schon von der impliziten Gefahr: Die dummen Menschen sind leider so neugierig, dass sie doch einmal sehen möchten, wie die Heinzelmännchen arbeiten – und diese Neugier zerstört das Wunder der heimlichen Helfer. Einmal erblickt, verschwinden die nützlichen Wichtel und werden nie wieder gesehen. Die Moral der Geschichte – wenn man sie technik- bzw. designhistorisch liest – weist uns an, die Eigenlogik von Mensch und Technik möglichst weitgehend zu trennen, sonst ist es aus mit der Muße des guten Lebens. Oder zeitgemäßer formuliert: Erst wenn an den Schnittstellen von Mensch und Maschine die Autonomie und Souveränität beider Seiten garantiert wird, kann sich das Humane gegen das Technische behaupten und umgekehrt. Sind wir von diesem Traum noch weit entfernt? Nicht unbedingt, wenn man an das demnächst selbstfahrende Auto denkt oder an Rasenroboter, die jetzt schon in unserer Abwesenheit die Grünflächen mähen – bald auch solarbetrieben, gänzlich geräuschlos und ausgestattet, sich selbst zu reparieren. Es bestehen heute bemerkenswerte Tendenzen, den Menschen aus der Bindung an die Technik zu entlassen. Doch deutet der momentane Stand der Technologie in der Gesellschaft auch auf das Gegenteil hin: Nie waren unsere Sinne so absorbiert von Geräten wie heute. Die Medien interagieren unablässig mit unserem Körper, sie dringen in ihn ein und scheinen regelrecht mit ihm zu verschmelzen. Beide Entwicklungen sind heute Fakt, aber als ästhetische Gestaltung der Technik kann nur gelten, was unsere Organe und vor allem Sinnesorgane nicht belastet, sondern vielmehr entlastet. Es gibt bekanntlich viele Schnittstellen an technischen Apparaten, die wir im Gebrauch als unproblematisch empfinden, wir vergessen sie geradezu. Auch die Technikkritik reibt sich kaum an Geräten wie Hammer und Säge, Waschmaschine oder Kühlschrank. Sie gehören zum Mobiliar jenes imaginären Schwarzwaldhofs in Heideggers Sinne, den wir uns wohl als den paradiesischen Urzustand einer guten Technik ausmalen. Hier schont die Technik den Menschen, statt ihn zu belästigen. Aus der Perspektive des Designs gilt es also zu fragen: Was bringt unsere Geräte zum Kippen – was macht sie zu jenem „Gestell“, das uns so menschenverachtend unterwirft bzw. wann werden aus Entlastungsmedien doch wieder Belastungsmedien? Kühlschrank und Waschmaschine, Heizung oder Herd machen ihre Arbeit weitgehend ohne uns – es reicht, die Regler ein wenig hin und her zu drehen, der Rest kommt gewissermaßen

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aus der Steckdose. Wir fühlen uns von diesen Medien wenig belästigt, sie geben uns die Möglichkeit, kulturelle Ansprüche zu entwickeln, z. B. auf warme Wohnstuben, saubere Wäsche oder die Ausbildung von Esskultur. Andere Technologien – vom Autofahren bis zum Hantieren mit Handys und anderen Dauerbegleitern des heutigen Menschen – belasten unsere Sinne und Aufmerksamkeitskapazitäten in ganz anderem Maße: Ihre Schnittstellen wollen permanent bedient werden, dahingehend, dass wir den Geräten immer erst gehorchen müssen, damit sie funktionieren. Sie beharren auf konstanter Interaktion mit unseren Körperorganen. Aus der Sicht des Designs ist dieser Unterschied von großem Belang: Eine Schnittstelle, die erfordert, dass der Mensch sich ihr dauerhaft widmet, ist schlichtweg schlecht gestaltet. Übergriffe auf die Sinne des Menschen, bis hin zur totalen Absorption, verdecken das Funktionieren der Technik nicht, sie machen es allgegenwärtig. Belastungsmedien, so zeigt vor allem die Technikgeschichte, führen zu einem Deskilling des Menschen, d. h. Maschinenarbeit mündet in Entfähigung statt in Befähigung: Der User erleidet an schlecht gestalteten Schnittstellen einen gravierenden Kompetenzverlust. Aufgaben, die einst gut ausgebildete menschliche Fähigkeiten und entsprechende Kunstfertigkeit verlangten, werden durch effizientere Maschinenarbeit ersetzt, so dass der Mensch durch das stumpfe Bedienen der Maschine nun eine deutlich banalere, ungelernte Tätigkeit ausführt. Das Mängelwesen Mensch wird zum Sklaven der Maschine, weil sie noch immer nicht ohne ihn kann. Günther Anders beschrieb die aus dem Deskilling resultierende Scham sehr treffend, die der nunmehr „antiquierte Mensch“ gegenüber dem empfinden muss, was er – Prometheus gleich – selbst erfand.13 Niemand hat diese Erniedrigung wohl treffender geschildert als Charlie Chaplin in seinem Film Modern Times von 1936: Die entfähigende Fabrikarbeit lässt den Arbeiter selbst zur Maschine werden. Zu allem Überfluss kommt die Fabrikleitung im Sinne der fordistischen Ratio auch noch auf die Idee, die Arbeiter von einer Maschine füttern zu lassen, damit sie in der Mittagspause zeitsparender und effizienter essen (Abb. 6). Der angekettete Chaplin muss nur noch den Mund aufsper-

13 G  ünther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Bd. II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München: Beck 1956/1980.

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ren, und die einzelnen Gänge seines Mittagsmenüs rattern ihm automatisch in den Schlund (sofern sie denn treffen würden). Ohnmächtig gegen den Takt von Fließband und Maschine, psychisch vereinzelt und auf geistig wie körperlich niedrigste Tätigkeit reduziert, fristet dieser Maschinenmensch der Moderne ein freudloses Leben ohne Willen und Souveränität. Müssen wir uns noch heute von solchem Deskilling gedemütigt fühlen? Unser alltägliches Erleben der Medien und Geräte will zu Günter Anders’ Argument der Scham nicht mehr recht passen. Angesichts von smarten Handys, die in jede Hosentasche passen, wähnt man sich auch nicht mehr einer unbeherrschbaren Megamaschine gegenüber – wie einst von Lewis Mumford beschrieben oder auch in Fritz Langs Film Metropolis von 1927 so eindrücklich inszeniert (Abb. 7). Die immer kleiner und intelligenter werdenden technischen Begleiter suggerieren durch ihr personalisiertes Funktionieren, dass die Technik nun unseren Anforderungen folgt, nicht mehr wir den ihren. Einst blieb beim Lesen nur der Griff zur Brille, wenn die Augen schwächer wurden, und das galt als beschämend. Heute haben die Lesewilligen mit schlechter Sicht deutlich mehr Auswahl: Man kann auch einfach dem Buch befehlen, sich anzupassen, wenn man z. B. auf einem elektronischen Gerät liest, das sich in Buchstabengröße, Helligkeit und Auflösung passend zur eigenen Sehschwäche einstellen lässt. Nicht das Auge, sondern das Buch erweist sich nun als schwach und schuldig, wenn es nicht gut lesbar ist. Die Erniedrigung des antiquierten Menschen bildet nicht mehr das Problem heutiger Technologie, sondern just im Gegenteil: Anstatt uns zu entfähigen, wollen viele Geräte uns nun optimieren helfen. Aus dem einst unterlegenen Mängelwesen wird durch entsprechende Techniken ein smarter Übermensch gezüchtet, der unsere angeborenen Fähigkeiten noch überflügeln soll. Die neuen Optimierer werden auf einen Takt programmiert, der Chaplins Fütterszenarien gerade nicht entspricht. Heute soll z. B. das verlangsamte Essen neue Souveränität suggerieren: So kam 2013 die digital verbesserte Gabel HAPIFork auf den Markt (Abb. 8), die uns als intelligente Esshilfe beisteht, damit wir lernen, langsamer zu essen.14 Das Mittagessen 2.0 wird zwar mit der eigenen Hand in den Mund

14 N  äheres zu Marke und Produkt siehe www.hapi.com/productshapifork.asp vom 18.1.2018.

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6 Die Füttermaschine in Charlie Chaplins Modern Times, 1936

7 Die Riesenmaschine in Fritz Langs Metropolis, 1927

geführt, aber die Bewegung wird in Echtzeit getrackt und jedes ungezügelte Schlingen in Form von Balken- oder Tortendiagrammen umgehend auf dem eigenen Mobiltelefon oder Tablet anzeigt. Mit den Daten dieser Gabel kann der User jeden Tag gegen sich selbst antreten im Kampf um das gesündeste Essverhalten. Das smarte Besteck soll bewirken, was wir psychotechnisch nicht selbst erreichen können: Verhaltenskontrolle zum Zweck der bestmöglichen Ernährung. Unzählige Apparate und Apps dieser Art ließen sich an dieser Stelle aufführen, ganze Wirtschaftszweige be-

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8 Gabel HAPIFork, 2013

schäftigen sich mittlerweile mit der technisch gestützten Optimierung des Selbst.15 Die neue Regierungskunst praktiziert keine primitive Form der Erniedrigung mehr, sie lässt uns vielmehr zu Herren über die eigene Versklavung werden. Die Scham empfinden wir also nicht mehr gegenüber der Technik, sondern in Anbetracht eines noch nicht perfektionierten Selbst. Das nicht mehr aufgeklärte Subjekt erliegt einer selbstverordneten Unmündigkeit. Solche technischen Lösungen für unsere sozialen Probleme kennen in der Tat keine Menschen mehr, sondern nur noch Akteure in der Verschmelzung mit ihren Artefakten. Hier findet sich eine Ernährungs-Anthropotechnik im Sinne der ANT realisiert: Die technische Vernunft hat die Ästhetik des Essens erfolgreich ersetzt. Das Individuum, das mit dieser Gabel isst, kann man wohl als posthuman beschreiben, und sein Essverhalten erweist sich dementsprechend als posthermeneutisch. Die eingenommene Mahlzeit bedeutet ihm nichts als reine Funktion. Davor kann uns nur eine gute Gestaltung der Technik bewahren, die weiter denkt als bis zur erstbesten Problemlösung. Die dafür benötigten Kriterien können nicht aus der technischen Logik selbst kommen, sie entstehen erst aus der Sicht eines Menschen, der sich als Subjekt zu generieren sucht.

15 W  eiterführend zur Kritik an heutiger Selbstcyborgisierung vgl. Oliver Müller: Zwischen Mensch und Maschine. Vom Glück und Unglück des Homo faber, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010.

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3.3 Das ökologische Subjekt: Vom Aufstand der Antiquierten Um Design als angewandte Technikkritik in Form von gestalteten Dingen zu verstehen, muss man die sinnliche Wahrnehmung in den Mittelpunkt stellen. Daraus resultiert eine Technikökologie, die bewertet, wie die Schnittstellen uns jeweils be- und entlasten. Beides setzt ein Subjekt voraus, das seine Beobachtungen wahrzunehmen und zu reflektieren weiß. Wie wäre dieses Subjekt genauer zu definieren? Es soll sich schließlich von jenem „unternehmerischen Selbst“,16 das sich permanent zu optimieren sucht, grundlegend unterscheiden. Ich möchte daher von einem ökologischen Subjekt sprechen, wobei das Ökologische in diesem Fall nicht als Natur-, sondern als Selbstschutz zu verstehen ist: Dem ursprünglichen Begriff nach bedeutet Ökologie – von oikos (griech. Haus) –, dass sich ein System innerhalb einer gegebenen Umwelt selbst erhält. Die Lehre vom „Haushalten“, um den Term Begriff buchstäblich zu übersetzen, meint allem voran, dass ein Organismus bzw. eine Art die eigenen Grenzen sichert, um sich von der Umwelt selbstbehauptend zu unterscheiden. Das System mag sich an Umweltbedingungen auch anpassen, aber nicht so sehr, dass es seine Existenz aufgibt. Eine Technikökologie muss also formulieren, wie das Subjekt angesichts heutiger Geräte sein „Haus“ bzw. Selbst erhält, um nicht mit der Umwelt seiner medialen Geräte zu verschmelzen. Der Sponti-Spruch „Maschinen-Imperialismus bekämpfen! Maschinen sind keine Artenvielfalt“, der in Bremen in eine Bahnunterführung gesprüht wurde (Abb. 9),17 mag für diese Umkehrung der Perspektive stehen. Der Slogan ist sicher nicht brillant getextet, aber er sticht mit seiner grellgrünen Schrift ins Auge, weil er unser überkommenes Verständnis von Ökologie verdreht: Nun ist es der Mensch, der seine eigene Artenvielfalt gegenüber der übergriffigen Maschine verteidigen muss. Er gilt nicht mehr als der bedrohliche Zerstörer der Natur, sondern wird im Angesicht der technischen Entwicklung selbst zur schützenswerten Natur erhoben. Niklas Luhmann hat im Rahmen seiner Systemtheorie immer wieder darauf hingewiesen, dass sich Systeme nicht um ihre Umwelt kümmern können, da das Phänomen „Umwelt“ außerhalb ihrer codierten Erfassung 16 V  gl. Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. 17 Für Hinweis und Foto sei Johannes Ben Jurca herzlich gedankt.

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9 Spruch in einer Bremer Bahnunterführung, um 2014

von Welt liegt.18 Systeme sorgen sich per definitionem nur um sich selbst, so dass sich auch die Ökologie immer nur auf den Selbsterhalt beziehen kann. Heutiger „Naturschutz“ ist in diesem Sinn nicht der Schutz der Umwelt bzw. der Natur, sondern ein Selbstschutz des Menschen, um in der ihm vorgegebenen Natur zu überleben. Wir retten die Natur, wenn überhaupt, nur aus Eigennutz. Das ökologische Subjekt benötigt in dieser Perspektive also keine metaphysische Begründung mehr, keine kulturell eindeutige Identität oder sonstige holistische Ganzheiten, wie man sie aus der traditionellen Subjekttheorie kennt. Es ist, im Sinne der Systemtheorie, schlicht als die Grenze definiert, die sich zwischen System und Umwelt etablieren muss, um ein System überhaupt zur Existenz zu bringen. Die ästhetische Existenz nach Michel Foucault würde dies nicht anders beschreiben: Selbstbetrachtung bzw. -beschreibung als Abgrenzung zu anderem ermöglichen das Hervorbringen eines Selbst, ein Moment des Widerstands ist dem Subjektbegriff also immer schon eingeschrieben. 18 N  iklas Luhmann: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag 1986.

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Wie lassen sich diese Prämissen nun in der praktischen Gestaltung von Technik umsetzen? Der Grafikdesigner Otl Aicher (1922–1991) hat darauf eine sehr treffende Antwort gegeben. Er war Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung Ulm und wurde später vor allem mit seinem Entwurf des bis heute unveränderten Lufthansa-Logos von 1962 bekannt sowie mit seinem Piktogrammsystem zur Münchner Olympiade von 1972 (Abb. 9). Sein Interesse galt aber auch übergreifenden gesellschaftlichen Fragen, so beschäftigte ihn in seinem Essay analog und digital von 1978 auch der Unterschied zwischen im Sinne des Menschen gut gestalteter Technik einerseits, gut funktionierender, aber inhumaner Technik andererseits.19 Damals meinte Aicher mit den Begriffen „analog“ und „digital“ noch nicht die uns bekannten Gerätesorten, sondern zwei Logiken der Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen. Gerade diese Abstraktion macht den Essay bis heute lesenswert: Die digitale Logik setzt Aicher im Sinne der obigen Differenzierung einem technischen Code gleich, dem der User folgsam zu gehorchen hat. Der Nutzer kann seine eigene Sprache und Wahrnehmungsweise nicht einbringen, und das zwingt ihn zur Selbstaufgabe. Die analoge Logik hingegen entspricht in Aichers Essay der ökologisch selbsterhaltenden, weil sinnlich-ästhetischen Blickweise eines autonomen Entscheidenden. Die digitale Logik erläutert er am Beispiel des folgenden Technologieeinsatzes: Aicher imaginiert einen Autofahrer, dem die Augen verbunden werden, so dass er alle Koordinaten als technische Codes empfangen und befolgen muss, um fahren zu

10 Otl Aicher: Piktogrammsystem für die Olympischen Spiele München, 1972

19 O  tl Aicher: analog und digital, Berlin: Ernst & Sohn 1991. Darin das gleichnamige Kapitel, S. 45–52. Die von Aicher bevorzugte Kleinschreibung aller Wörter wird hier beibehalten, er empfand sie als weniger hierarchisch.

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können. So formuliert Aicher: „sein weg wird nur durch einen beisitzer programmiert, das heißt in worten mit größen von dingen, winkeln und geschwindigkeiten angegeben. sobald ihm das bezugsfeld entzogen wird, ist er hilflos.“20 Die fehlende Übersicht degradiert ihn zum Nutzer einer ihm fremden Sichtweise und Weltsicht. Er darf keine eigenen Kenntnisse und Erkenntnisse einbringen, er befolgt einen Code, der seinen eigenen Sinnen nicht entspricht. Bemerkenswert an diesem Vergleich ist natürlich, dass Aicher 1978 noch keine Navigationssysteme kannte, an die wir heute wohl unweigerlich denken. Die analoge Denkweise hingegen beschreibt Aicher als die Fähigkeit, sich z. B. mithilfe einer Landkarte selbsttätig ein Bild der Umgebung zu machen. So fährt er fort: „napoleon hätte nie seine schlachten gewonnen, wenn er nicht von einem hügel aus die lage als bezugsfeld erfasst hätte. diese art des denkens setzt eine qualitative aufnahme von realität voraus. qualität ist nur ein anderes wort für verhältnis, analogie. wo es verhältnisse gibt, gibt es den vergleich, die wertung, die qualität. die digitale erkenntnis ist sehr wohl präziser, dafür aber ohne wertung.“21 Der Unterschied beider Logiken liegt also in der ästhetischen Selbstermöglichung aus der Sicht des Wahrnehmenden: Für unsere Sinne sind Zahlen neutral. Wir können uns gegenüber diesen Daten nicht sinnlich wertend behaupten. Man müsste sie immer erst veranschaulichen – z. B. in Bildern oder Analogien. So wurde die Landkarte analog zu unserer Wahrnehmung gestaltet, auch wenn sie dabei einen Standort imaginiert, den wir nicht einnehmen können – als Blick aus dem Weltraum bzw. als göttliches Auge. Aber die Karte, wie illusionistisch und fiktional auch immer, ahmt unser Sehen nach, sie übersetzt die Daten nicht in eine uns fremde Codierung. So schreibt auch Aicher: „analoge kommunikation schafft einsichten, weil sie mit der sinnlichen wahrnehmung gekoppelt ist, vor allem mit dem sehen. ihre wissenschaftliche dimension ist die geometrie, die mathematik der lagen,

20 Ebd., S. 46. 21 Ebd.

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im gegensatz zur mathematik der größen. es gibt eine enge koppelung von visueller wahrnehmung und denken, eben das analoge sehen.“22 Aicher behauptet somit nicht, dass die Karte frei sei von Technik und Berechnung. Sie kann durchaus als Simulation oder nach Flusser als illusionistisches Teufelszeug beschrieben werden. Aber aus der Sicht des Menschen bzw. aus der Perspektive seines Selbsterhalts ergibt sich in der Anwendung ein entscheidender Unterschied: Die Gestaltung der Karte erlaubt, dass wir uns in diese Darstellungstechnik projizieren und nicht umgekehrt, dass sich die Sprache der Technik auf uns projiziert. Wer selbst auf die Karte sieht, so Aicher, vermag eine Reise zu machen. Er kann vom Weg abweichen, sich alternative Routen aussuchen und damit zum Entdecker werden. Die Übersicht ermöglicht dem Betrachter das Andersmöglichsein seiner Wege. Er erhebt sich vom passiven User zum Akteur. Design, so gilt es hier zu betonen, bezieht sich nie auf die Frage nach der Wirklichkeit: Ob die Karte der Realität wahrheitsgetreu entspricht, hinterfragt die Gestaltung nicht, die Erfassung der Welt bleibt ein epistemologisches Problem für andere Disziplinen von der Vermessungskunst bis zur Philosophie. Die Gestaltung der Karte trägt vielmehr den Menschen in diese Technologie hinein, sie ermöglicht Vorstellung durch Illusion und Projektion. Der Designer entwirft also nicht das Wissen, sondern die Vermittlung desselben. Unsere materiellen und medialen Dispositive müssen folglich nicht so deterministisch auf uns wirken, wie Technikkritik und Medientheorie es gemeinhin annehmen. Sofern die Apparate und Apps gut gestaltet sind, können wir darin ästhetisch erfahren und deuten, was wir möchten.23 Analoge wie digitale Geräte ermöglichen dann gleichermaßen das Entwickeln von Fantasie, so dass sie jene „Imaginationsarsenale“ der Gesellschaft bilden können, die Michel Foucault mit seinem Begriff der „Heterotopie“ beschrieb.24 Wir brauchen Medien als Techniken der Illusion und Projektion, um jene „anderen Räume“ Foucaults als Abweichun-

22 Ebd., S. 45. 23 Wiederum im Sinne von Michel de Certeaus Idee der Lektüre vgl. in Kap. 1.3. 24 Michel Foucault: „Andere Räume“ (1967), in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1992, S. 34–46.

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gen von der Norm zu entwerfen. Sie sind weder Utopie noch Realität, sie liegen „heterotop“ dazwischen, als Räume des Andersmöglichseins. Wir gestalten sie als „Gegenplatzierungen“ und „Widerlager“, so Foucault, doch erfahren wir dabei nur dann Souveränität, wenn die Architekturen dieser Räume auch für uns sinnlich erfassbar sind. Die Strukturen heutiger Algorithmen können wir jedoch nicht als solche „anderen Räume“ erfahren, ihre Netze entziehen sich unserer Vorstellung. Das Internet schaltet automatische Selektionsmechanismen vor jene Kartografie, die wir noch sinnlich nachempfinden können. Die Übersicht wird im Namen einer technisch gesteuerten Komplexitätsreduktion immer schon unterdrückt. Partizipation und Mitbestimmung sind nicht mehr möglich – es dominiert die technische über die ästhetische Logik. Der Designbegriff, so können wir die Kapitel zur Theorie der Gestaltung schließen, sollte sich auf das konzentrieren, was Design tatsächlich leisten kann: Kritik und Widerstand gehören per Definition dazu, denn jede gute Form zielt auf die Reform des Gegebenen im Sinne des Menschen. Design entwirft, wie es im praktischen Umgang mit den Dingen gelingen kann, in Foucaults Sinne „nicht dermaßen regiert zu werden“.25 Einen gewissen Hang zur Utopie sollte man dem Design daher zugestehen. Denn was wäre unsere Kultur ohne ihr Potenzial, zu imaginieren und zu spekulieren? Design kann aber auch im Kleinen, in den banalen Dingen und Routinen die notwendige Alltäglichkeit des Ästhetischen bezeugen.

25 Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin: Merve 1982, S. 12.

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Topoi der Designgeschichte

Die folgenden Kapitel sind ein Versuch, die gewonnenen Erkenntnisse aus der Designtheorie auch historisch einzubinden. Dies soll allerdings nicht im Rahmen einer chronologisch oder systematisch geordneten Designgeschichte erfolgen, sondern anhand ausgewählter Topoi der Gestaltung. Quer durch alle Medien, Gattungen und Epochen der gestalterischen Entwicklung möchte ich spezifische Themen aufzeigen, die das Design immer wieder beschäftigt haben. Dabei sei weniger die Einheit der Disziplin betont als vielmehr ihre Heterogenität und Diversität. Das Motiv des Andersmöglichseins bildet dabei eine übergreifende Klammer, aber diese kann auf die unterschiedlichsten Weisen ausgefüllt werden: ethisch-ästhetisch wie in der Geschmackskultur von Kant zum Biedermeier (Kap. 4), als Ästhetik des Wilden wie in der Mode und anderen Alteritäts- und Exotismus-Phänomenen (Kap. 5), nihilistisch bis hin zur kreativen Zerstörung wie vom Jugendstil zum Bauhaus (Kap. 6), aber auch sinnlich erbauend wie in der Buch- und Buchstabenkunst (Kap. 7) oder illusionistisch verlebendigend wie in der Tradition des animierten Bildes (Kap. 8). Die Topoi können sich hierbei ergänzen oder einander widersprechen, sie verweisen stets aufeinander, auch ohne kontinuierlichen historischen Strang. Die Kapitel lassen sich daher auch unabhängig voneinander lesen, da jedes andere Designdisziplinen und Zeiträume behandelt. Auf eine Fortschrittslogik in der Darstellung wird hier bewusst verzichtet, denn das Ästhetische ist per se nicht zu steigern: Es ist immer nur anders möglich, aber nicht verbesserbar im Sinne einer historischen Evolution oder Leistungszunahme. Damit bietet die Ästhetik des Designs der Gesellschaft auch Schutz vor übersteigerten Erwartungen an die Optimierbarkeit der Dinge und unseres Selbst.

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4 Geschmack als Gemeinsinn. Das Design der Einfachheit um 1800

Die Geschichte des Designs ist ohne den Begriff des Geschmacks eigentlich nicht denkbar. Jede Epoche brachte ihre eigenen Geschmacksvorstellungen hervor – entweder als Stil im engeren Sinne oder als breit gefächerte ästhetische Mentalität. Doch wehrt sich die Designtheorie meist dagegen, dass die Gestaltung vom Geschmack geprägt wäre. Denn alles Geschmackliche riskiert, mit Geschmäcklerischem gleichgesetzt zu werden: Frei nach der Redensart „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“ dürfte jeder seinen persönlichen Vorlieben folgen, es käme zu unzähligen individuellen Geschmacksausprägungen, eine willkürlicher als die andere. Dem Versuch einer guten Formgestaltung, die Gültigkeit für alle beansprucht, wäre damit ein Ende gesetzt. Man müsste sein ästhetisches Urteil nicht begründen, die Dinge könnten aussehen, „wie es uns gefällt“. Nicht nur verführerische Ästhetisierung würde das Design bedrohen, sondern auch subjektiver Ästhetizismus – so die Bedenken der Theorie. Doch hat es je eine Epoche rein subjektiver Geschmacksäußerung gegeben? Wohl kaum. Und dies liegt ebenfalls am Geschmacksbegriff: Neben der Auffassung, dass Geschmack stets individuell ausfalle, so dass jeder ihn nach seiner Façon ausleben dürfe, pflegen wir auch die Vorstellung, dass Geschmack eine kollektive zivilisatorische Leistung bilde. Dem Relativierungsgedanken just entgegengesetzt verlangt „guter Geschmack“

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nach dieser Definition, dass man Stil als normativen Ausdruck von Kultur und Bildung zu beherrschen hat. Geschmack muss von einer Gemeinschaft geteilt werden, es gilt ihn gemeinsam zu leben und zu erleben. Er fällt also keineswegs beliebig aus. Widersprüchlicher als das Konzept des Geschmacks kann ein Begriff kaum gefasst sein, hier betont er das Subjektive und Willkürliche, dort das Kollektive und Gemeinschaftsstiftende. Man könnte den Geschmacksbegriff als untauglich verwerfen, aber damit ginge eine wichtige Kultur verloren, die gerade für die Geschichte des Designs von großer Bedeutung war. Geschmack, so möchte ich im Folgenden zeigen, ist eine „Kunst des Handelns“ in Michel de Certeaus Sinne: Es gibt keine objektiven Regeln, keine expliziten Gesetze, es gibt nur „stille Produktion“ ohne benennbare Epistemologie.1 Geschmack ist ein Tun ohne Wissen, man kommuniziert durch eine ästhetische Praxis, die sich wissenschaftlich nicht erfassen lässt. Die Codes des Geschmacklichen verfolgen kein Erkenntnisinteresse, werden von niemandem festgelegt, aber sie erweisen sich als verbindlich für eine bestimmte Kultur. Mehr noch: Der Geschmack bringt als kollektiv verfolgtes Leitbild die jeweiligen Gemeinschaften erst hervor. Zentral für jede Art der Geschmacksbildung ist ein spezifischer Umgang mit den Dingen: Dabei steht nicht nur das Aussehen der Gegenstände im Vordergrund, sondern auch unser Handeln mit den Dingen. Geschmack wird nur von denen hervorgebracht, die ihn auch aktiv praktizieren: Produktions- und Rezeptionsästhetik sind im Geschmacklichen stets verschmolzen, jeder Rezipient ist auch Autor und umgekehrt. Daher kann man den Konsumenten in dieser Perspektive nicht als das verführte Opfer der ästhetisierten Waren betrachten. Indem die ästhetische Sinnstiftung stets auf einem eigenen Tun beruht, kann sie zu Selbstentfaltung und Selbsttechnik im Sinne Foucaults führen: Geschmack wird nicht vorgegeben, sondern wird hervorgebracht, er wird nicht befolgt, sondern getätigt – man erfindet ihn stets als neu und anders möglich. Diese ästhetische wie soziale Funktion des Geschmacks werde ich hier am designhistorisch so wichtigen Leitbild der Einfachheit und Leere, der Schlichtheit und Reduktion erläutern. Das geschmackvolle Wohnen durch Verzicht und Kargheit zu beweisen, bis hin zur kahlen Wand im

1

Vgl. Kap. 1.3.

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4  Geschmack als Gemeinsinn. Das Design der Einfachheit um 1800

heimischen Interieur, war in der Moderne sicher keine Notwendigkeit, das Phänomen lässt sich nicht als Folge von Industrialisierung und Technisierung erklären. Weder Materialersparnis noch Effizienz, weder Funktionalität noch ökonomische Ratio haben das Ideal hervorgebracht, sondern ein geschmackliches Gefallen an der freiwilligen Verzichtsgeste. Nüchternheit und Sachlichkeit ohne Dekor haben sich als zentrale Topoi der Gestaltung keineswegs erst mit der klassischen Moderne ab 1900 herausgebildet, als z. B. der österreichische Architekt Adolf Loos in seiner Schrift Ornament und Verbrechen von 1908 alle Verzierung als degeneriert und unzivilisiert verschmähte und die umfassende „Entfernung des Ornaments aus dem Gebrauchsgegenstand“ forderte.2 Die Erfindung der Einfachheit geht bereits auf die Zeit um 1800 zurück. Die Ursprünge verweisen auf eine Epoche, die uns heute mindestens so altmodisch erscheint wie der Geschmacksbegriff selbst: das Biedermeier. Gemeinhin als brav und rückschrittlich belächelt, als allzu häuslich und unpolitisch abgetan, fällt ausgerechtet in diese Zeit eine ästhetische Revolution im Design. Geschmack wurde im Biedermeier gerade nicht mit Stilratgebern gleichgesetzt oder gar mit Modezaren und Stilpäpsten, deren Rezepte es nachzukochen gilt. Im Zeitalter der neuen Bürgerlichkeit stand der Geschmacksbegriff für das genaue Gegenteil: Das selbstständige Praktizieren einer Designkultur sollte das Individuum aus seiner Unmündigkeit herausführen und dadurch neue gesellschaftliche Beziehungen stiften. Durch Geschmack galt es sich von den alten Autoritäten zu distanzieren und zu emanzipieren – von Adel und Staat, von Kirche und Religion. Das neue Leitbild der Leere und Einfachheit hat also nicht nur das Aussehen der Räume und Objekte verändert, es bestimmte auch unser Verhältnis zu den Dingen auf neue Weise. Die Gestaltung forderte seit dem Beginn der Moderne um 1800 dazu auf, über die gestalteten Dinge eine Beziehung zu sich und anderen aufzunehmen. Der moderne Geschmacksbegriff reicht also tief in die sozialen Belange des Menschen hinein. Bevor wir uns der Designgeschichte der Leere und Einfachheit zuwenden, möchte ich dieses Beziehungsgeflecht von Menschen und Dingen zunächst aus heutiger Theorieperspektive beleuchten. 2

 gl. Adolf Loos: „Ornament und Verbrechen“ (1908), in: ders., V Gesammelte Schriften, hg. von Adolf Opel, Wien: Lesethek 2010, S. 363–373.

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4.1 Dinge als soziale Beziehung In welchen Beziehungen Menschen und Dinge stehen, beschäftigte Soziologie, Anthropologie bzw. die Material Culture Studies in den letzten Jahren verstärkt, so dass man bereits von einem practical turn spricht. Dieser Blick auf ein doing culture mit den Dingen erweist sich natürlich auch für die Gestaltung als wertvoll.3 Doch vernachlässigen die sozialwissenschaftlichen Ansätze dabei oft die ästhetische Dimension der Objekte, sie stellen eine andere Perspektive in den Vordergrund, die für unsere Geschmacksbildung kaum Relevanz hat. Der Unterschied der Ansätze sei hier an der Studie Der Trost der Dinge (2008) des britischen Kulturanthropologen Daniel Miller erläutert. Dass Menschen zu ihren Dingen eine Beziehung aufnehmen müssen, um ein gutes Leben zu führen, weist Miller gelungen nach: Lebensgefühl und Selbstbewusstsein hängen maßgeblich davon ab, wie man mit seinen materiellen Dingen umgeht.4 In diesem Zusammenhang erteilt Miller der allzu pauschalen Konsumkritik linker Kulturtheorie eine klare Absage: Die Warenästhetik habe auch ihr Gutes, wenn sie den Menschen helfe, sich in der Welt zu orientieren. Ob Billigware oder Luxusgut spiele keine Rolle, solange die Dinge eine soziale Beziehung stiften. Das Konsumieren und Besitzen von Dingen sei nicht nur legitim, es erweist sich sogar als gesellschaftlich relevant: Indem man sich um Dinge kümmert und sorgt, so Miller, weiß man diese sozialen Fähigkeiten auch auf den Umgang mit anderen zu übertragen. Wie Menschen durch ihre Dinge Halt gewinnen, wie sie durch ihre Habseligkeiten die grassierende Vereinzelung und Fragmentierung der Gesellschaft überwinden und sich als sozial integrierte Wesen erfahren, dokumentiert Miller in einer Serie von Porträts. Ausgewählte Personen

3

4

Vgl. z. B. Karl Hörning, Julia Reuter (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld: transcript 2015. Um dies empirisch zu belegen, hat Miller mit seinem Forschungsteam eine Feldstudie durchgeführt, bei der über anderthalb Jahre 100 Haushalte in einer Straße im Süden Londons beobachtet wurden. Er untersuchte, wie sich „die Persönlichkeit und die Lebensverhältnisse eines Menschen in den Dingen widerspiegeln, mit denen er sich innerhalb seiner eigenen vier Wände umgibt“. Daniel Miller: Der Trost der Dinge (2008), Berlin: Suhrkamp 2010, S. 9.

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und ihre höchst persönliche Art, mit Dingen zu wohnen, werden skizziert und interpretiert – auch um zu zeigen, „dass jeder Mensch seine eigene Ästhetik hervorbringt“.5 Doch was ist daran ästhetisch, wenn Menschen Kitsch und Nippes in ihren Wohnung anhäufen? Miller beschreibt bevorzugt Wohnsituationen, die das Sammeln und Bewahren, oft auch das maßlose Anhäufen und Ausbreiten von persönlichen Dingen umfassen. Geschmack wird dabei rein subjektiv ausgelebt, ein solches Hervorbringen der „eigenen Ästhetik“ bedeutet aber strenggenommen gar keine Ästhetik hervorzubringen. Tatsächlich geht es Miller genau darum: Das Design der Dinge soll dezidiert keine Rolle spielen im Prozess der sozialen Beziehungen, die er zu beschreiben sucht. Man erfährt in den Porträts nur, was die Menschen besitzen, aber nicht, wie es geformt und gestaltet ist; der Leser „sieht“ die Dinge nicht, die Miller aufführt. Die Studie bleibt nicht nur aus Datenschutzgründen bilderlos, sondern weil der Autor die genuine Ästhetik der Dinge für unwichtig hält. Denn als gute Begleiter des Menschen erweisen sich nur solche Dinge, die gerade nicht nach Aussehen und Geschmack bewertet werden. Dinge spenden nach Miller nur dann Trost, wenn sie gänzlich individuell bzw. ohne Stilvorgaben und Geschmacksmuster rezipiert werden. Seine Theorie über den guten Konsum, der Beziehung stiftet, schreibt die Vorurteile der tradierten Kulturtheorie letztlich fort: Das Ästhetische bzw. Warenästhetische müsse immer erst ausgeblendet werden, damit sich das genuin Soziale manifestiert. Oder schärfer formuliert: Im Design gehe die Beziehungsfunktion der Dinge sogar verloren, da die Ästhetisierung der Dinge die Individuen nur zu Distinktion und Prestigedenken verführe, zu Anpassungsdruck und Geltungsdrang – kurz: jenen gesellschaftlich unerwünschten Verhaltensweisen, die unsere soziale Beziehungen nur stören. Wer dem Design der Dinge folgt, wird doch immer ein Opfer des Konsums bleiben, so muss man mit Miller wohl folgern. Dieses Klischee, dass man sich durch die Demonstration von Geschmack letztlich unsozial verhalte, weil man nach falscher Bewunderung strebe, ist tatsächlich weit verbreitet – in der Kulturtheorie wie in der Populärkultur: Unterkühlte, leere „Designerwohnungen“ seien etwas für „Psychopathen“, so ein gängiges Vorurteil, das sich z. B. mit dem blutrünstigen Roman American

5

Ebd., S. 16.

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Psycho (1991) von Bret Easton Ellis etabliert hat. Der Protagonist führt vordergründig ein materiell mehr als erfülltes, geradezu perfekt gestyltes Leben. Er verübt aber wegen der inneren Leere, die sein grenzenloser Designkonsum hinterlässt, die schlimmsten Gräueltaten und Gewaltexzesse (ob als reale Tat oder als Phantasma, bleibt offen). Das Narrativ vom bösen Helden, der im sachlich-schlichten, nüchtern-reduzierten Designambiente lebt, führt uns stets vor Augen, dass die Fashion Victims der Ästhetisierung als Individuen entfremdet und beziehungslos bleiben müssen. Markenfetischismus und Persönlichkeitsstörung bedingen einander geradezu. Mary Harrons gleichnamige Verfilmung von American Psycho (2010) inszeniert das Set-Design der Mörder-Wohnung nicht von ungefähr als leeres, steriles Hochglanz-Apartment, in dem es keine persönlichen Gegenstände zu geben scheint. Im Wohnraum lassen sich neben schlichtem Weiß und Schwarz, unterkühltem Glas und Metall auch zwei Barcelona-Sessel (1929) von Ludwig Mies van der Rohe sowie ein Hill-House-Stuhl (1902/04) von Charles Rennie Mackintosh erkennen.6 Das Sammeln von begehrten Klassikern der Moderne versinnbildlicht hier das Befolgen von äußerlichen Geschmacksregeln, zu denen man keine innere Beziehung hat. Design führt zur Unterdrückung von Persönlichkeit, die leere Wohnung steht hier für die seelenlose Kälte des gnadenlosen Bewohners. Muss die Gestaltung also umlernen? Seit der Moderne propagiert sie den Verzicht auf Ornament und Dekor, sie lehrt, das Einfache und Schlichte zu schätzen, sie idealisiert die Leere aufgeräumter Räume ohne persönliche Dinge, die überall herumliegen würden. Nach Miller wäre das vermutlich „krank“, die Bewohner könnten ohne Dinge keine Selbstfindung praktizieren. Daher tragen die ersten beiden Porträts, die Miller in Der Trost der Dinge präsentiert, nicht zufällig die Titel „Leere“ und „Fülle“.7 Das Porträt „Leere“ beschreibt einen psychisch wie sozial gestörten Mann namens George, der in einer beinahe leeren Wohnung haust und durch seine fehlende Beziehung zu den Dingen auch kein erfülltes Sozialleben aufbauen kann. Das Porträt „Fülle“ von Mr. und Mrs. Clarke hingegen skizziert eine zu Weihnachten mit allem erdenklichen Kitsch 6 7

 bbildungen des Filmsets siehe: upstagedbydesign.com/category/ A modern-film vom 15.10.2017. D. Miller: Trost der Dinge, S. 19–31 und S. 32–48.

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1 Walter Gropius: Siedlung Dessau-Törten, 1926–28

2 Marcel Breuer: Inneneinrichtung der Siedlung Dessau-Törten, 1926–28

verzierte Wohnung, sie ist mit solcher Hingabe geschmückt, dass keine Leerstelle mehr bleibt. Diese Fürsorge lassen die Clarkes nicht nur den Dingen, sondern auch ihrer Nachbarschaft, der Familie und als Ehepaar einander zukommen. Eine volle Wohnung scheint aus Millers Sicht besser zu sein als eine leere, das schiere Anhäufen von Dingen bezeugt hier die soziale Kompetenz der Bewohner. Der Konflikt zwischen der anthropologischen Sicht und den gestalterischen Idealen der Moderne könnte nicht drastischer ausfallen. Die Allgemeinheit folgt wohl eher Millers Modell, die hehren Ziele der modernen Gestaltung interessieren die meisten Menschen nicht. Auch wer einen historisch bedeutsamen Architekturklassiker bewohnt, muss sich keineswegs seinen ästhetischen Idealen fügen: Die Fotoserie Leben mit Walter (2003) von Nils Emde zeigt z. B. ungeschönt und mit trockenem Witz, wie die heutigen Bewohner

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der berühmten Siedlung Dessau-Törten (1926–28) von Walter Gropius (Abb. 1, 2) ihre Wohnräume mit Möbeln und Dingen so vollrümpeln, dass die Ästhetik der Räume sang- und klanglos untergeht (Abb. 3–6).8 Sie können und wollen ihren Haushalt offensichtlich nicht so leer und sachlich halten wie vom Bauhaus-Geschmack gefordert, das ursprüngliche Konzept wird durch individuelle Umbauten bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Architektur- und Designliebhaber mag es bei diesem Anblick grausen, aber die Fotografien zeichnen wohl ein realistisches Bild, wie es um die Akzeptanz der Ideale der Moderne in der breiten Bevölkerung steht.9 Doch was ist damit eigentlich bewiesen? Sollte die Ästhetik der Leere nun als inhuman gelten; verlangt der gute Geschmack vom Menschen, was ihm gar nicht gut tut? Gert Selle hat dies einmal nahegelegt: Der Führungsanspruch des Designsgeschmacks sei heute fragwürdig geworden ebenso wie alle kulturpädagogischen Maßnahmen zur entsprechenden Geschmackserziehung. Design, so fordert er, sollte gerade die „kleinbürgerliche Lebensfreude“ honorieren und daher auch den Kitsch fördern, sofern er nur seriell und rational gefertigt sei.10 Das Argument der Massenproduktion soll offenbar sicherstellen, dass das Dekor auch demokratisch ausfällt. Nach Miller müsste man diesem Ansatz wohl zustimmen, denn ein für alle erschwinglicher Konsum würde auch die erwünschten sozialen Beziehungen für alle stiften. Doch möchte man zu solchen Dingen wirklich Beziehung aufnehmen? Warum hält sich das entgegengesetzte Ideal von der kargen Wohnkultur mit den schlichten, reduzierten Dingen nicht minder beharrlich in unserer Kultur? Betrachtet man heutige Werbeanzeigen, so trifft man nach wie vor auf das Leitbild des möglichst reduzierten, beinahe gegenstandslosen Wohnens in großen leeren Räumen, Loftliving genannt. Es herrscht rigider Minimalismus –

8 Z  ur Fotoserie von Nils Emde siehe: nilsemde.de/leben-mit-walter vom 28.1.2018, u. a. publiziert in: Regina Bittner (Hg.): Bauhausstil– zwischen International Style und Lifestyle, Berlin: Jovis 2003. 9 Siehe weiterführend Regina Bittner: „Die Kunst, das Leben zu ordnen. Grenzgängertum in der materiellen Kultur der Moderne“, in: Annette Geiger, Michael Glasmeier (Hg.), Kunst und Design. Eine Affäre, Hamburg: Textem 2012, S. 37–50. 10 Gert Selle: „Es gibt keinen Kitsch – es gibt nur Design. Notizen zur Ausstellung ‚Das geniale Design der 80er Jahre’“, in: Kunstforum International 66 (1983), S. 103–111.

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3–6 Nils Emde: Leben mit Walter, 2003

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einen regelrechten Ekel vor Menschen und Dingen strahlen die Szenarien aus. Je hochpreisiger das angepriesene Design, desto entleerter erscheint das Ambiente. Anspruch und Wirklichkeit dürften sich wohl in die Quere kommen, sobald man beginnt, diese Räume auch zu bewohnen. Warum verfolgen wir also solche Ideale, die unserem anthropologisch nachgewiesenen Hang zum Sammeln und Horten, unserem Bedürfnis nach persönlich ausgeschmückter Gemütlichkeit derart widersprechen? Hier lohnt der Blick in die Designgeschichte: Wenn man das negative Image der Moderne als bevormundende, gar inhumane Geschmackslehre entkräften will, sollte man die historischen Ursprünge heranziehen. Denn auch der Verzicht auf Dinge kann eine soziale Botschaft formulieren, die Beziehung zum Selbst und zur Gemeinschaft stiftet. Der Geschmack der Einfachheit strebte allerdings nicht Kitsch und Konsum für jeden, sondern Bildung für alle an. Dieses Ideal der Geschmacksbildung ist von der Idee einer Geschmackserziehung nach Vorgaben und Regeln, wie sie z. B. Selle kritisiert, strikt zu trennen. Bildung setzt Aktivität und Tun voraus, Erziehung hingegen Passivität und Gehorsam. Der Unterschied ist somit nicht in den Dingen selbst verortet, entscheidend ist unser Umgang mit den Dingen. Seit der Moderne gilt es, dem Wohnen über das Leitbild der Leere und Einfachheit die kleingeistige Selbstzufriedenheit auszutreiben – und dies begann ausgerechnet im Biedermeier. Wie die damals neue Geschmackskultur entstand, möchte ich anhand der sogenannten „Zimmerbilder“ zeigen: Die kleinformatige Interieurdarstellung konnte sich im Biedermeier als eigenständige Kunstgattung etablieren. Sie verfolgte keine ikonografisch konnotierte Genremalerei mehr, sondern bildete realistische Wohnsituationen ab. Selbst wenn die abgebildeten Innenräume oft fiktive Idealvorstellungen in Szene setzten, wurden diese nicht mehr symbolisch-allegorisch inszeniert, sie bildeten eine gestaltete Lebenswirklichkeit ab, die man tatsächlich bewohnen sollte. Zimmerbilder wurden meist vom Bürgertum in Auftrag gegeben, man stellte den eigenen Stil des Wohnens aus, um ethisch wie ästhetisch Gesinnung zu demonstrieren. Als quasi-fotografische Erinnerung aufbewahrt, in Alben gesammelt oder als Geschenk weitergereicht, konnten die Interieurbilder das Porträt des Bewohners geradezu ersetzen, es wurde als repräsentativ für seine Persönlichkeit gelesen. Die nüchterne Ordnung und puristische Strenge, die wir in diesen entleerten Wohnräumen vorfinden, zeugt natürlich nicht von realer Ar-

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7 Johann Erdmann Hummel: Interieur mit drei Spiegeln, um 1820

mut, sondern von einem Akt der freiwilligen Selbstbeschränkung. Das Individuum dokumentiert hier nicht nur, wie es sich geschmacklich einrichtet, sondern auch wie es sein Inneres organisiert.11 Dafür stehen z. B. die vielen Spiegel, die man auf den Zimmerbildern häufig sieht. Im Wohnen formen und befragen wir uns selbst – so wie man in einen Spiegel blickt, um zu erfahren, wer man ist. Die klaren Achsen und Symmetrien, die strengen Proportionen aller Maße und Dinge wirken z. B. auf den Interieurdarstellungen von Johann Erdmann Hummel wie die Vermessung einer Wohnbefindlichkeit, die nicht nur den reinlichen Haushalt, sondern auch das geregelte Seelenleben seiner Bewohner zur Anschauung bringt (Abb. 7). Das Private wurde im historisch neuen Medium des Zimmerbildes innerhalb einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten öffentlich gemacht. Die Bilder wurden vorgezeigt, gesammelt und untereinander getauscht. Die Parallele zu heutigen Social-Media-Phänomenen liegt auf der Hand: Man formuliert und dokumentiert sein Selbst über die Demonstration von Geschmack im alltäglichen Leben. Man praktizierte eine Ästhetik in halböffentlichen Zirkeln, um kollektiven Gemeinsinn zu stiften. Das Ausstellen und Selbsterfinden ist hier eng verbunden – nicht durch das Befolgen von vorgegebener Geschmackserziehung, sondern 11 V  gl. Salvatore Pisani, Elisabeth Oy-Marra (Hg.): Ein Haus wie Ich: Die gebaute Autobiographie in der Moderne, Bielefeld: transcript 2014.

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als das tätige Praktizieren einer selbst gestalteten Geschmackskultur. Betrachten wir an den Zimmerbildern des Biedermeier, welche Rolle dem Design dabei zukommt: Wie stiftet die Ästhetik der Leere und Einfachheit gleichzeitig Selbstermöglichung und soziale Beziehung?

4.2 Die Lehre der Leere: Vom Interieur zum Selbstbild Das Biedermeier, das auf die Restaurationszeit von 1815 bis 1848 datiert wird und vor allem den deutschsprachigen Raum und die skandinavischen Länder prägte, gilt als rückschrittliche Zeit: Das aufstrebende Bürgertum fand sich nach dem Wiener Kongress politisch entmündigt und zog sich daher ins private Idyll zurück – so die übliche Darstellung. Die Epochenbezeichnung war spöttisch gemeint und wurde der Zeit erst nachträglich als abwertende Namensgebung angehängt.12 Doch was rückwirkend als bürgerliche Kleingeisterei gedeutet wurde, erweist sich bei näherem Hinsehen als gar nicht so bieder. Insbesondere der Rückzug in die eigenen vier Wände zielte keineswegs auf brave Selbstgenügsamkeit im trauten Heim. Das Private stand vielmehr im Zentrum eines stillen Protests. Durch die Entwicklung eines neuen Kunst- und Designgeschmacks drückte das Bürgertum seinen ästhetischen Widerstand aus: Die konsequente Gestaltung der Alltagsobjekte und Wohnräume im Stil der Einfachheit und Leere zeugte nicht von selbstzufriedener Behaglichkeit, sondern von einer geschmacklichen Arbeit am Selbst. Allen auf den Zimmerbildern abgebildeten Objekten – Mobiliar, Porzellan, Kleidung, Musikinstrumente sowie Kunst- und Naturdinge aller Art – kam eine zentrale Bedeutung zu: Sie wurden als Sinnbilder bürgerlicher Emanzipation gelesen. Man wehrte sich gegen die politische Zurücksetzung, indem man sich vom dekadenten Lebensstil des Adels selbstbewusst absetzte. Nicht mehr der höfische Geschmack war nun das Vorbild des aufstreben-

12 D  er Begriff stammt aus der Karikatur, er wurde von der Figur eines fiktiven „Herrn Biedermeier“ mit äußerst schlichtem Gemüt übernommen. Er geht zurück auf zwei Gedichte von Joseph Victor von Scheffel: Biedermanns Abendgemütlichkeit und Bummelmaiers Klage von 1848.

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den Bürgertums, sondern eine Avantgarde der Armut.13 Letztlich kehrte sich die Vorbildfunktion sogar um: Der Adel kopierte nun seinerseits den bürgerlichen Geschmack, denn der eigene Pomp überzeugte nicht mehr. So war es ausgerechnet der für das repressive Klima der Epoche mitverantwortliche Fürst von Metternich, der den rheinländischen Möbelfabrikanten Michael Thonet an den Wiener Hof holte, um dort den Geschmack der Einfachheit zu fördern. Er hatte als einer der Ersten die Qualitäten des schlichten Bugholz-Stuhls erkannt, jener Design-Ikone, die später die populären Kaffeehäuser prägen sollte.14 Die ersten typischen Thonet-Stühle wurden daher 1842 als „Laufsessel“ (Polsterstuhl) für das Wiener Palais Lichtenstein entworfen (Abb. 8), und das Vorbild des berühmten Stuhls No. 1 entstand um 1850 für das Palais Schwarzenberg. Auch wenn es zunächst die Aufträge des Hofes waren, die der neuen Einfachheit zum Durchbruch verhalfen, konnte der Adel das Prinzip nicht glaubhaft leben. Am Hof blieb alles Schlichte und Reduzierte immer nur ein Stil, ein Geschmacksrezept, das man nur nachzuahmen hatte. Die eigentliche Botschaft der neuen Ästhetik wusste der Adel weder zu verkörpern noch zu praktizieren. Dafür war er schlichtweg zu reich. Karl Arnolds Karikatur Armut, die große Mode von 1920, erschien zwar erst ein Jahrhundert später im Satiremagazin Simplicissimus, aber sie trifft just das Problem, um das es schon im Biedermeier ging (Abb. 9): Gezeigt wird ein dicker, reicher Großkotz, der sich beim asketisch-dürren Professor der Architektur eine „ganz bescheidene Hauseinrichtung“ bestellt und zwar „so einfach wie möglich – es kann kosten was es will“, so die

13 V  gl. für das Folgende den Ausstellungskatalog von Hans Ottomeyer (Hg.): Biedermeier. Die Erfindung der Einfachheit, Ostfildern: Hatje Cantz 2006. 14 Die Technik des Bugholz-Stuhls entwickelte Michael Thonet seit den 1830er Jahren: Weniger Materialverbrauch und vereinfachte Produktion machten die Stühle leichter und billiger als herkömmliche Tischlerstühle. Wirtschaftlichen Erfolg hatte Thonet jedoch nicht, seine Firma stand 1841 vor dem Konkurs, so dass er das Angebot Metternichs, nach Wien umzusiedeln, kaum ausschlagen konnte. Thonet arbeitete zwar stets am Prinzip der Serienproduzierbarkeit, dies aber anfänglich im Auftrag des Hofes, der wiederum auf Exklusivität und Distinktion setzte. Vgl. Eva Ottillinger: Gebrüder Thonet. Möbel aus gebogenem Holz, Köln, Wien: Böhlau 2003.

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8 Michael Thonet: Laufsessel für das Wiener Palais Lichtenstein, 1842

9 Karl Arnold: Armut, die große Mode, 1920

Bildunterschrift.15 Wer nur konsumiert, kann nicht leben und erleben, was mit jenem Geschmacksaufstand der Einfachheit eigentlich gemeint war, der um 1800 begann. Die Tugend des Verzichts ist nicht käuflich. Man muss sie sich durch eigenes Tun erarbeiten. Die moderne Leere

15 V  gl. Simplicissimus, Heft 13 (23. Juni 1920), S. 195. Digitalisiert unter: www.simplicissimus.info

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war keine neumodische Form des Dekors, sie verlangte dem Bewohner ein umfassendes Bildungsprogramm ab, das man durchlaufen musste wie der Held im Bildungsroman seinen Reifeprozess. Diese Form der Emanzipation konnte in der Biedermeier-Zeit nur im Privaten erfolgen, im Umgang des Individuums mit seinen Dingen: Die damals beliebtesten Möbel waren nicht von ungefähr Sekretäre und Beistelltische, Stühle, Sitzbänke und Kommoden – d. h. Mobiliar zum Lesen und Schreiben, zum Studieren und Aufbewahren von Utensilien der persönlichen Bildung. Meist kleinformatig oder gar zierlich gehalten, passten sie in die beengten Raumverhältnisse einer Studierstube oder luden als Kommunikationsmöbel im Salon zu Gespräch und Geselligkeit ein. Geschmack zeigt also nur, wer auch praktiziert, wofür die Möbel gedacht sind: das individuelle Selbststudium und die gebildete Konversation über das Gelernte. Wofür steht nun das Motiv der Leere in diesem Kontext? Die Schlichtheit symbolisiert den selbstgewählten Verzicht auf Prunk und Verzierung, das ist naheliegend. Doch warum diese auffällige Entleerung der Räume, die man auf den Zimmerbildern des Biedermeier vorfindet? Das bürgerliche Wohnzimmer sollte dem Atelier des Künstlers ähneln, Wohngeschmack und Kunstanschauung sollten zusammenfinden. Denn Künstleratelier, Museumsbzw. Ausstellungsraum und Wohnraum kam gleichermaßen die Aufgabe zu, als Denk- und Bildungsraum zu fungieren. Um 1800 änderte sich außerdem in allen diesen Räumen die Präsentation von Kunst: Man hängte die Gemälde nicht mehr wandfüllend Rahmen an Rahmen nebeneinander wie zu Zeiten der „Petersburger Hängung“. Der neue Kunstgeschmack forderte eine leere Wand, denn die Werke dienten nicht mehr dem Schmuck der Räume, sie fanden sich nun als Studienobjekte auf Augenhöhe präsentiert. Ästhetische Wahrnehmung, so das neue Ideal, kann sich nur einstellen, wenn der Blick auf das Kunstwerk ungetrübt und ohne Ablenkung erfolgt. Der Paradigmenwechsel lässt sich gut an dem Zimmerbild von 1811 nachvollziehen, das Caspar David Friedrich bei der Arbeit zeigt (Abb. 10). Georg Friedrich Kersting, der wohl wichtigste Interieurmaler des Biedermeier, schuf damit nicht nur ein Porträt des mit ihm befreundeten Malers, er inszenierte auch das neue Leitbild der bürgerlichen Geschmackserziehung. Nur in der Leere sieht man gut, so das Credo des dargestellten Raumes: Der Künstler verzichtet am Arbeitsplatz bewusst auf persönliche Dinge und ablenkendes Dekor. Er sitzt vor kahlen Wänden, bei abgedeckten Fenstern, die keinen Blick in die Außenwelt zulassen, nur umgeben von seinen Arbeitsutensilien. Das sinn-

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10 Georg Friedrich Kersting: Caspar David Friedrich im Atelier, 1811

liche Schauen soll sich auf das innere Auge konzentrieren, hatte Friedrich stets betont. Dieses Prinzip wollte er auch beim Ausstellen von Kunst bzw. beim Wohnen mit Kunst realisiert sehen. Friedrich forderte daher, dass man nie mehr als ein Bild pro Wand aufhängen solle: „Es macht einen widrigen Eindruck auf mich, in einem Saal oder Zimmer eine Menge Bilder wie Ware ausgestellt oder aufgespeichert zu sehen, wo der Beschauer nicht jedes Gemälde für sich getrennt betrachten kann, ohne zugleich vier halbe andere Bilder mitzusehen. Die Wertschätzung solcher Anhäufungen von Kunstschätzen muss wohl bei jedem Betrachter herabsinken, wenn überdies […] das Widersprechende nebeneinander aufgestellt ist, mithin das eine Bild das andere, wenn auch nicht ganz aufhebt, doch schaden muss und der Eindruck beider oder aller geschwächt wird.“16

16 S  igrid Hinz (Hg.): Caspar David Friedrich in Briefen und Zeugnissen, Berlin: Henschelverlag 1968, S. 85.

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Das Betrachten von Kunst in möglichst leeren, zurückgenommenen Räumen prägt seither die moderne Kunstanschauung – bis hin zum musealen White Cube, den wir bis heute als die gängigste Ausstellungsarchitektur vorfinden. Kunst und Leben, Bildung und Alltag sollten in dieser Raumgestaltung zusammengeführt werden. Wie das Leben mit Kunst im Privaten aussehen sollte, zeigt z. B. das Zimmerbild von Franz von Maleck aus dem Jahr 1836 (Abb. 11). In dem Wohnraum befinden sich zwar viele Dinge, aber sie dekorieren ihn nicht, sie stehen nicht für ein Schmuck- oder Repräsentationsbedürfnis. Die Objekte befinden sich, ordentlich aufgereiht, in einem Zustand der Ausstellung, auf Augenhöhe präsentiert, damit man sie in die Hand nehme, zum ästhetischen Studium oder zum nützlichen Gebrauch (wie z. B. das Teegeschirr). Die Wände hingegen bleiben kahl. Die Staffelei, rechts im Vordergrund platziert, ist hier kein Werkzeug des Künstlers mehr, sondern ein Medium der Bilderausstellung für den Hausgebrauch – korrespondierend mit dem Pflanzenständer auf der linken Seite, der hier für das Studium der Natur stehen mag. Das Wohnzimmer wird als Studierstube für die Geschmacksbildung dargestellt, die Dame des Hauses sitzt konzentriert am Tisch und schreibt. Die Protagonisten der Zimmerbilder werden oft als

11 Franz von Maleck: Wohnzimmer, 1836

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12 Georg Friedrich Kersting: Die Stickerin, 1812 (erste Fassung)

versunken in ihre Tätigkeit dargestellt, beim Lesen oder Schreiben, bei der Handarbeit oder beim Gespräch. Nie posieren sie vor dem Publikum, sie produzieren sich nicht, um gesehen zu werden, sie fühlen sich geradezu unbeobachtet hinter jener „vierten Wand“, die den Bühnenraum des Bildes verschließt gegen das voyeuristische Schauen der Zuschauer. Diese „anti-theatralische Absorption“17 der Figuren charakterisiert auch die Zimmerbilder Kerstings, darunter sein wohl bekanntestes Gemälde Die Stickerin von 1812 (Abb. 12). Die feministische Lesart mag der Darstellung eine allzu biedere Frauenrolle vorwerfen, da die Protagonistin, abgewandt und in sich gekehrt, bei hingebungsvoller Hausfrauen- bzw. Handarbeit gezeigt wird. Doch Kerstings Gemälde setzt keineswegs Weltfremdheit, häusliche Enge und weiblichen Gehorsam in Szene, im Gegenteil, entschlüsselt man die Motive, zeigt sich das umfassende Bildungsprogramm der Biedermeier-Wohnung. 17 V  gl. Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Berkeley: University of Chicago Press 1980.

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In der Öffentlichkeit war das Bürgertum zwar mundtot gemacht, aber im Privaten suchte man sich durchaus Freiheiten zu erkämpfen: Dafür stehen z. B. die offenen Fenster, die Kersting und andere Maler immer wieder darstellten, sie eröffnen den freien Blick in die Weiten einer Ideallandschaft.18 Die Verbindung von Außen- und Innenraum verweist zudem auf die Verbindung von Kultur und Natur, sie bezeugt das Naturrecht des Menschen auf mündige Selbstbestimmung. Kersting malte hier auch keine fiktive Genreszene, sondern porträtierte die Künstlerin Louise Seidler, die als Malerin erfolgreich am Weimarer Hof tätig war. Von hoher Bildung, aber bürgerlichem Stand, genoss sie Zugang zu den intellektuell und gesellschaftlich relevanten Kreisen ihrer Zeit. Wenn Kersting die Künstlerkollegin in einer privaten Situation beim Sticken darstellt, bedeutete dies also keine Geringschätzung ihrer Rolle. Die Stickerei war in der Romantik ein hochgeschätztes Medium, auch Philipp Otto Runge und Karl Friedrich Schinkel hatten Vorlagen für Stickereien entworfen. Kerstings Gemälde inszeniert vielmehr, dass die Malerin die hohen Ideale ihrer Kunst auch im Alltag lebt. Sie widmet sich auch im Privaten der Selbstkultivierung. Dies belegen vor allem die wenigen, aber durchaus bedeutsamen Objekte, die sie in der kargen Stube umgeben: Neben dem schlichten Biedermeiermobiliar sehen wir eine Gitarre als Zeichen der Musik, ein Gemälde als Symbol der bildenden Kunst sowie Zimmerpflanzen am offenen Fenster, die für das Studium der Natur stehen. Diese ausgesuchten, stets einfach gestalteten Dinge spiegeln ihre Identität – so dass das Gesicht der Porträtierten nur noch klein im Spiegel gezeigt werden muss. Die Künstlerin ist über ihre Dinge und die damit verbundenen Tätigkeiten bereits vollständig wiedergegeben als kulturell tätige Frau von hoher Bildung und geschultem Geschmack. Das Handarbeiten war auf den Zimmerbildern sicherlich den Damen vorbehalten, aber das Lesen und Schreiben galt als vorbildliche Tätigkeit für beide Geschlechter (s.o., Abb. 7 und 11). Dies belegt auch das männliche Pendant zur Stickerin: In Der elegante Leser von 1812 fügte Kersting als weitere Attribute kultivierter Bildungsarbeit eine Weltkarte, eine kleine Bibliothek und eine Statuette als Zeichen der Bildhauerei hinzu (Abb. 13), so dass die Bilder zusammen die gesamte Breite des Bildungsanspruchs dokumen-

18 V  gl. Sabine Rewald: Rooms with a View. The open Window in the 19th Century, New Haven, CT: Yale University Press 2011.

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13 Georg Friedrich Kersting: Der elegante Leser, 1812

tieren. Der Herr arbeitet an einem schmucklosen Biedermeier-Sekretär, der von seinem unermüdlichen Schaffen zeugt: Wie die aufgehängte Uhr anzeigt, ist es bereits nach Mitternacht, aber der fleißige Leser bildet sich auch noch zu später Stunde – im Schein einer Argand-Lampe, die hier recht auffällig in den Bildmittelpunkt gerückt wurde.19 Diese technisch neu entwickelte Form der Öllampe spendete besonders helles Licht, so dass man bei der nächtlichen Arbeit nicht so rasch ermüdete. Als bieder oder gar innovationsfeindlich kann man diese Interieurgestaltung beim besten Willen nicht deuten. Religiöse Motive fehlen auf den Zimmerbildern gänzlich, im Privaten wollte man frei sein von Autoritäten, den kirchlichen wie staatlichen, um sich der Arbeit am Selbst zu widmen. Ebenso emanzipiert sollte sich nach Kerstings Sittenbildern auch das Verhältnis der Geschlechter entwickeln: Das Paar am Fenster, das er um 1815 malte, zeigt eine solche moderne Beziehung (Abb. 14). Wiederum in einem sparsam 19 D  as Motiv der nächtlichen Arbeit und Beleuchtung beschäftigte Kersting auch später noch, siehe z. B. das Gemälde Junge Frau, beim Schein einer Lampe nähend von 1823.

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14 Georg Friedrich Kersting: Paar am Fenster, um 1815

möblierten Zimmer, das wiederum durch das offene Fenster den Blick auf eine Ideallandschaft freigibt, begegnen sich Mann und Frau in nicht minder idealtypischer Attitüde. Neben der Harfe als Zeichen für die Musik finden wir vor dem Spiegel noch zwei Tintenfässchen als Symbol des Schreibens nebst Federkielen – gehalten im Köcher einer Statuette, die als Darstellung eines dunkelhäutigen Exoten auf Rousseaus Diskurs vom „guten Wilden“ anspielen dürfte. Weltoffenheit und Weltgewandtheit werden über diese Attribute bezeugt sowie Interesse am kulturell Anderen – auch wenn die Darstellung des „Wilden“ in Form eines dienenden Stifthalters heute natürlich als politisch inkorrekt aufstoßen muss. Die Lektion des guten Naturzustands gilt es hier auf die Gleichstellung der Geschlechter zu übertragen: Zwar wirkt der Herr in seiner gelösten Haltung sicherlich selbstbewusster und ungezwungener als die keusch verhüllte Dame. Aber die Mode, die beide Protagonisten tragen, weist sie als Anhänger der Aufklärung aus: Er trägt nicht mehr die kurze Kniebundhose des Adels, die sogenannte Culotte, die lange Zeit die Herrenmode dominiert hatte, sondern die moderne, lange Herrenhose, die bezeichnenderweise auf die „Sansculotten“ zurückgeht, jene Auf-

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ständischen der französischen Revolution, die als Zeichen der Rebellion erstmals lange Hosen trugen. Stock und lässig abgelegter Zylinder weisen den jungen Mann als modisch aktuell gekleideten Herrn von elegantem, schlichtem Geschmack aus. Dem entspricht auch die Kleidung seiner Partnerin, die modehistorisch noch dem Empire-Stil zuzurechnen ist.20 Um 1800 galt die schmale Silhouette des schlichten, weißen Musselinkleids als ästhetische Revolution. Der Stil zitierte die Antike, um damit erstmals ein freieres, geradezu emanzipiertes Körpergefühl zu ermöglichen. Der dünne, locker fallende Stoff ließ ein hohes Maß an Bewegung zu. Außerdem konnten die nur unter der Brust lose gebundenen, hemdähnlichen Gewänder erstmals ohne Korsett getragen werden. Um das Inszenieren körperlicher Reize sollte es jedoch nicht gehen, wie das einhüllende Schultertuch und die Haube wiederum deutlich machen: Man verführt einander nicht, sondern begegnet sich sittlich auf Augenhöhe. Anstand und Geschmack bedingen einander, so die Lehre von Kerstings Alltags- und Modephilosophie. Das Bekleiden gilt es hier als Geschmacksdisziplin frei von Angeberei und Eitelkeit, frei von Distinktions- und Attraktivitätsmodellen zu praktizieren.21 Ästhetik, so zeigt sich überall in der Gattung des Zimmerbildes, kann sich in allen Dingen ausdrücken, die man geschmacklich reflektieren kann – vom Kunstgeschmack zur Körperpflege, von der Mode zum Mobiliar. Die Ethik der Sitten fällt jeweils mit der Ästhetik der Dinge zusammen. Das Individuum kultiviert sich und seine Beziehungen zur Gemeinschaft über den geschmacklichen Umgang mit seinen Dingen. Die Strenge der Biedermeier-Interieurs, jene Verzichtsleistung bis hin zur gähnenden Leere ist natürlich nicht jedermanns Sache. Den „Trost der Dinge“, den Daniel Miller beschrieb, darf man hier nicht suchen. Das Interieur soll nicht behaglich sein, sondern über seine Ästhetik anregen,

20 A  ls „Biedermeiermode“ wird ein erst um 1850 einsetzender Kleidungsstil bezeichnet, der die Einfachheit um 1800 wieder durch üppige Volants und Krinolinen, Keulenärmel und geschnürte Wespentaille verdrängte – eine, wie mir scheint, recht unglückliche Begriffsbildung, die nicht der Mentalität des Biedermeier entspricht, sondern jener von Spätromantik, Historismus und Gründerzeit. 21 Das Motiv der Damenmode bzw. der entsprechend zurückgenommenen Toilette verfolgte Kersting mehrfach, siehe z. B. das Bild einer jungen Frau beim Ankleiden Vor dem Spiegel von 1827.

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Widerstand zu leisten gegen die Entmündigung durch die Obrigkeit. Persönliche Geschmacksvorlieben und kitschige Gemütlichkeit müssen in diesem Wohnen zurückgestellt werden, denn nur die disziplinierte Selbsterziehung verspricht eine Kultur der Befreiung. Wie wird nun aus dieser selbstreflexiven Geschmacks- und Designpraxis, die jeder Einzelne mit seinen Dingen realisieren soll, eine geteilte Welt für alle? Wie kann die subjektive Geschmacksausübung übergehen in ein gesellschaftlich verbindendes Erleben? Diesen Übergang vom „Sinnengenuss“ zum „Sittengefühl“ beschrieb insbesondere die Ästhetik Kants.

4.3 Kants Ästhetik als Designtheorie Kants Kritik der Urteilskraft erschien 1790, sie ging dem Biedermeier also um zwei Jahrzehnte voraus. Der Bezug zu den obigen Beispielen bietet sich aber an, da Kant das Ästhetische vor allem als gesellschaftlich relevante Funktion von Geschmack beschreibt. Wie ich zeigen möchte, lässt sich sein Werk durchaus als Vorreiter moderner Designästhetik lesen. Heute wird Kant zwar vornehmlich als Begründer der Kunstautonomie gedeutet, doch legte er dabei einen gänzlich anderen Kunstbegriff zugrunde – das wird häufig übersehen. Die zentrale Forderung der Interesselosigkeit des ästhetischen Wahrnehmens lässt sich bei Kant ohne Weiteres auch auf die Gestaltung anwenden. Letztlich kann man nur feststellen, dass sein Denken noch gar nicht zwischen Kunst und Design unterschied. Ästhetik könne man überall finden, sofern die entsprechende Wahrnehmungshaltung praktiziert und darüber auch kommuniziert wird. Erst das geteilte Geschmackserlebnis lässt das Ästhetische entstehen, so Kant. Was uns gefällt, entscheiden wir immer auch im Hinblick auf die anderen – und dies sei sittlich gut, weil es gesellschaftliche Beziehung stiftet. Ästhetik ist hier also kein Diskurs der Philosophie, der sich in Kunstwerken materialisieren würde, sondern eine spezifische Art des Erlebens, die in einer Gemeinschaft geteilt wird. Als autonom sollte nach Kant nicht die Kunst bzw. die Gesamtheit ihrer Werke gelten, sondern die ästhetische Wahrnehmung selbst, die sich in allen Lebensbereichen entfalten kann. Ästhetik ist ein Tun ohne Wissen, das im Rahmen eines

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sensus communis des guten Geschmacks verfolgt wird – ohne Regeln und ohne Epistemologie.22 Kants Ästhetik sucht somit nicht nach Wissen oder Wahrheit, sie zielt auf die Zusammenführung von Kunst und Leben bzw. Zusammenleben. Ob dafür Dinge aus der Natur oder der Kultur, aus der Kunst oder dem Alltag herangezogen werden, spielt letztlich keine Rolle. Den Vorschlag, Kant einmal gattungsübergreifend zu lesen, macht bereits Gernot Böhme in seinem Buch Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht von 1999. Er verweist zu Recht darauf, dass man bislang zu wenig auf die von Kant aufgeführten Beispiele geachtet habe: „Im ganzen verdichtet sich der Eindruck, dass die Beispiele, an denen Kant seinen Begriff des Schönen ausbildete, weder der freien Natur noch der autonomen Kunst angehören, sondern vielmehr dem lebensweltlichen Bereich, in dem man durch Dekor, Verzierung, Arrangements, ‚Putz’ Verschönerung betreibt.“23 Kants Ästhetik, so kann man nur folgern, taugt eigentlich nicht als Kunsttheorie, denn sie beschreibt keine Kunstwerke, sondern allem voran Phänomene der Gestaltung. Die Kunstdiskurse jener Zeit interessierten den Königsberger Philosophen wenig, sein Ansatz stand dem geschichtsphilosophischen Denken der sich damals formierenden Kunstgeschichtsschreibung von Winckelmann bis Hegel24 diametral entgegen. Er definierte das Schöne gerade nicht als Eigenschaft von materiellen Dingen und Werken, sondern als eine reflektierte Wahrnehmungsweise, die das subjektive ästhetische Empfinden mit dem kollektiven Geschmack verbindet. So Kant: „Schöne Kunst […] ist eine Vorstellungsart, die für sich selbst zweckmäßig ist, und, obgleich ohne Zweck, dennoch die Kultur der Ge-

22 S  o Kant: „Unter dem sensus communis aber muss man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten.“ Kant folgert: „Man könnte den Geschmack durch sensus communis aestheticus, den gemeinen Verstand durch sensus communis logicus bezeichnen.“ Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, § 40, S. 225 und 227. 23 Gernot Böhme: Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 22. 24 Vgl. Kap. 2.3.

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mütskräfte zur geselligen Mitteilung befördert. Die allgemeine Mitteilbarkeit einer Lust führt es schon in ihrem Begriffe mit sich, dass diese nicht eine Lust des Genusses, aus bloßer Empfindung, sondern der Reflexion sein müsse; und so ist ästhetische Kunst, als schöne Kunst, eine solche, die die reflektierende Urteilskraft und nicht die Sinnenempfindung zum Richtmaße hat.“25 Das ästhetische Erleben wird nach Kant weder rein subjektiv oder gar willkürlich genossen noch passiv oder dem Regelkanon gehorchend erlitten, man überdenkt das Wahrgenommene im Hinblick auf sein geselliges Kommunikationspotenzial, man antizipiert jeweils, was andere darüber denken könnten. Erst dann kann ästhetische Wahrnehmung auch zu gesellschaftlich relevantem Geschmacksempfinden werden. Diese Hinwendung zum Immateriellen und Imaginären, zur Kunst als einer „Vorstellungsart“, erlaubte es Kant, die Gattungsgrenzen so nonchalant zu überschreiten und abseits der tradierten Kanonvorstellungen das Schöne als die Geschmackspraxis einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu beschreiben: „Das Schöne ist das Symbol des Sittlichguten“, notierte er im § 59 der KdU26 und hielt damit fest, dass die Ästhetik ihrer Sitten eine Gesellschaft erst hervorbringt. Oder anders formuliert: Der Zweck der schönen Künste ist das Hervorbringen einer geschmacklich gleichgesinnten Gemeinschaft durch zweckfreie, aber kollektive Einbildung. Kants Ästhetik ist daher weder materialistisch noch deterministisch gefasst im Hinblick auf die Wirkung der Dinge und Medien, der Rezipient ist nie Opfer seiner Eindrücke, denn er verwendet seine Einbildungskraft stets aktiv. Er selbst ist es, der durch die spezifische Wahrnehmung von Werken und Dingen, von Natur und Landschaft, von Räumen und Atmosphären alle Kunst als „Vorstellungsart“ generiert. Kunst ist Einbildung, dafür mag z. B. auch Kants Bild von den Alpen stehen: Er hat seinen Begriff des Erhabenen daran festgemacht, obwohl er selbst nie in einem Gebirge war. Er kannte den Anblick mächtiger Berge nur von Bildern, wie er sich an literarische Beschreibungen und vor allem Reiseberichte hielt (z. B. von Horace-Bénédicte de Saussure). Ob man das Hochgebirge selbst erlebt hat oder nur auf medial

25 I. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 44, S. 240. 26 Ebd., § 59, S. 297.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

15 Emil Doerstling: Kant und seine Tischgesellschaft, 1892/93

vermittelte Eindrücke zurückgriff, machte in der kantischen Ästhetik keinen Unterschied, denn es ging nur um die teilbare bzw. mitteilbare Vorstellung derselben. Nur diesen Prozess der kollektiven Einbildung erkannte Kant als ästhetisch an, nicht die Berge oder Kunstwerke selbst. Die Bilder der Berge fungieren zwar als Medien der Vermittlung, aber sie bilden nicht den eigentlichen Zweck der Kunst. Die materiellen Dinge und Werke erziehen uns durch ihre Schönheit nur, das eigene Wahrnehmen „zweckmäßig“, d. h. als mitteilbares Geschmackserleben zu empfinden. So Kant: „Das Schöne erfordert […] die Vorstellung einer gewissen Qualität des Objekts, die sich auch verständlich machen, und auf Begriffe bringen lässt“. So dass er folgert: Das Schöne „kultiviert, indem es zugleich auf Zweckmäßigkeit im Gefühl der Lust Acht zu haben lehrt“.27 Daher sah Kant wohl auch keine Notwendigkeit, sein heimatliches Königsberg je zu verlassen. Er unternahm Gedankenreisen qua Einbildungskraft und überprüfte seine Imaginationen stets anhand der Eindrücke anderer: In seinem strikt geregelten Tagesablauf lud er sich jeden Tag zum Mittagessen Gäste aus aller Welt ein (Abb. 15). In den ritualisierten Tischgesellschaften wurde ausgiebig parliert, raisonniert

27 Ebd., § 29, S. 192.

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und auch gescherzt. Der Austausch in geselliger Runde lässt gemeinsame Welten entstehen – virtuell wie im heutigen Internet, aber noch an analoge Kommunikation und Wahrnehmung gekoppelt. Die materiellen Dinge bleiben für die ästhetische Geschmacksbildung trotz allem relevant, da sie von der Urteilskraft bewertet werden müssen. Kants Wertmaßstäbe setzen dabei aber gänzlich anders an, als wir es nach zwei Jahrhunderten hegelianisch geprägter Kunstgeschichtsschreibung gewohnt sind. Für seine Sittenlehre des Schönen war der heutige Unterschied von kulturellem high & low noch ohne Bedeutung. Das Empfinden sollte zählen, nicht die Klassifikation der Dinge. Die von Kant vorgeschlagene Einteilung der künstlerischen Qualitäten unterminiert daher unsere gewohnten Kategorien, aus heutiger Sicht lesen sie sich geradezu als Verballhornung der tradierten Gattungslehre: Kunst und Design, Zierrat und Kitsch, ein Paradiesvogel, ein Meeresgetier oder ein Wasserfall, ein rauschendes Fest oder einfach eine schöne Blume waren Kant gleichermaßen willkommen, um über das Ästhetische zu sinnieren. Dies macht insbesondere der § 51 über die „Einteilung der schönen Künste“ deutlich, in dem Kant versucht, die Dinge strikt nach den Eindrücken einzuteilen, die sie erzeugen: Die Qualitäten des Plastischen und des Malerischen werden darin gerade nicht an Skulpturen oder Gemälde gebunden, Kants Ansatz wirft vielmehr wild durcheinander, was man kunsthistorisch strikt zu trennen hätte. Die Kategorie des Plastischen enthält zwar auch Skulpturen bzw. „Bildsäulen“, wie man es erwarten würde, darüber hinaus aber auch die gesamte Baukunst bzw. Gebäudelehre sowie „Hausgeräte“ und Werkzeuge aller Art. Alles Plastische sei von anhängender Schönheit, schreibt Kant, denn diese Dinge werden vor allem für den Gebrauch hergestellt. „Bildsäulen von Menschen, Göttern und Tieren“ seien dabei auch als Gebrauchskunst zu behandeln, da sie das Gemeinte identifizierbar zu porträtieren suchen.28 Bilder, Skulpturen und Architektur sowie Hausgeräte gelten nach Kant dann als plastisch, wenn sie wenig Imaginationskraft beanspruchen, sie bedeuten immer nur das, wofür sie genutzt werden sollen. Die Malerei hingegen ist für Kant eine freiere Art der ästhetischen Schilderung, die aber keineswegs an Gemälde gebunden ist. Auch die „Lustgärtnerei“ gehört dazu, da sie schöne Natur zu gestalten sucht. Außerdem zählt Kant in dieser Kategorie auf:

28 Ebd., § 51, S. 260.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

„Zu der Malerei im weiten Sinne würde ich noch die Verzierung der Zimmer durch Tapeten, Aufsätze und alles schöne Ameublement, welches bloß zur Ansicht dient, zählen; imgleichen die Kunst der Kleidung nach Geschmack (Ringe, Dosen usw.). Denn ein Parterre von allerlei Blumen, ein Zimmer mit allerlei Zieraten (selbst der Putz der Damen darunter begriffen) machen an einem Prachtfeste eine Art von Gemälde aus, welches […] bloß zum Ansehen da ist, um die Einbildungskraft im freien Spiele mit Ideen zu unterhalten, und ohne bestimmten Zweck die ästhetische Urteilskraft zu beschäftigen.“29 Weiter hätte sich Kant von der heutigen Idee von Malerei kaum entfernen können. Dekor und Zierrat, Mode und Möbel, inszenierte Gärten und Feste gelten hier als malerisch, weil sie ein alle Sinne ansprechendes Gesamtkunstwerk entfesseln, das freier ist als die von Nützlichkeit geprägte Gebrauchskunst des Plastischen. Der Betrachter benötigt hier mehr Einbildungskraft, um das Schöne zu begreifen. Auch die Wohnräume des Biedermeier können wir als solche malerischen Gesamtkunstwerke lesen – natürlich nicht im Rokokostil, wie Kant ihn noch vor Augen hatte, sondern als ästhetische Bekenntnisse zur Einfachheit. Wenn Kant dabei das Naturschöne über das Kunstschöne stellt, meint er damit keineswegs die Natur selbst. Denn die Freiheiten des Malerischen entfalten sich ja erst in der „Schilderung der Natur“:30 In welchem Medium sich diese eingebildeten Bilder wiedergegeben finden, war für Kant kaum von Interesse, solange das kollektiv unterstellbare Imaginäre der Naturschönheit gut getroffen ist. Der Blick durch ein offenes Fenster, das mit Topfpflanzen geschmückt ist und in eine ideale Landschaft überführt, mag Kants Idee des Naturschönen durchaus entsprochen haben. Unser Wohlgefallen am Malerischen hängt dabei keineswegs von symbolischen Bedeutungen oder anderem Vorwissen bzw. anderen Wissensformen ab, so hält Kant im § 4 fest: „Blumen, freie Zeichnung, ohne Absicht in einander geschlungene Züge, unter dem Namen des Laubwerks, bedeuten nichts, hängen von keinem bestimmten Begriff ab, und gefallen doch.“31 Auf das akademische Wissen eines Connaisseurs kann in dieser Ästhetik 29 Ebd., § 51, S. 261f. 30 Ebd. 31 Ebd., § 4, S. 120.

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verzichtet werden. Geschmack darf sich allerorts entfalten, wo die Freiheitsgrade der Formen unser Gefallen finden und wir eben dies zu reflektieren wissen. An den Formen der freien Natur, so kann man nur folgern, lässt sich das Moment der Interesselosigkeit besonders gut praktizieren: Weil wir sie nicht besitzen und konsumieren können, müssen wir sie um ihrer selbst Willen schön finden – und demonstrieren damit Geschmack. Kants Ästhetik verlangt zweierlei: „Zuerst muss man sich davon völlig überzeugen, dass man durch das Geschmacksurteil (über das Schöne) das Wohlgefallen an einem Gegenstande jedermann ansinne“,32 d. h. nicht subjektiv, sondern im Hinblick auf die Allgemeinheit gilt es wahrzunehmen. Der Gemeinsinn schränkt die Freiheiten des Imaginierens also auch ein, er verlangt weiterhin, dass man kein Interesse am Besitz der schönen Dinge habe. Geschmacksurteile dürfen nicht genutzt werden, um damit anderes auszudrücken – z. B. Prestige und Macht, Attraktivität und Reichtum. Erst dann erweist sich die Geschmackspraxis als „rein“ und „interesselos“, sie verfolgt keinen anderen Zweck als den „Übergang unseres Beurteilungsvermögens von dem Sinnengenuss zum Sittengefühl“.33 Das Ziel der menschlichen Zivilisierung liegt folglich nicht im historischen Fortschritt der Kultur und noch weniger in der fortschreitenden Technisierung derselben, sondern in der Verfeinerung der Sitten. An dieser Stelle zeigt sich wohl am deutlichsten, wie man Kants Ansatz als Designästhetik lesen kann: „Für sich allein würde ein verlassener Mensch auf einer wüsten Insel weder seine Hütte, noch sich selbst ausputzen, oder Blumen aufsuchen, noch weniger sie pflanzen, um sich damit auszuschmücken; sondern nur in Gesellschaft kommt es ihm ein, nicht bloß Mensch, sondern auch nach seiner Art ein feiner Mensch zu sein (der Anfang der Zivilisierung): denn als einen solchen beurteilt man denjenigen, welcher seine Lust andern mitzuteilen geneigt und geschickt ist, und den ein Objekt nicht befriedigt, wenn er das Wohlgefallen an demselben nicht in Gemeinschaft mit andern fühlen kann.“34

32 Ebd., § 8, S. 127. 33 Ebd., § 41, S. 230. 34 Ebd., § 41, S. 229.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Millers Vorstellung, dass Konsum vor allem dann zu sozial erwünschten Beziehungen führe, wenn man ihn ohne Geschmacksvorstellungen praktiziere, hätte Kant wohl widersprochen. Wer nur seine eigene, radikal subjektive Ästhetik ausprägt, kann sich gerade nicht in eine Gemeinschaft einfügen. Daher sind es wohl weniger die Dinge selbst, die sozialen Sinn stiften, sondern es ist der geschmacklich reflektierte Umgang mit diesen Dingen. Diese Einsichten aus Kants Ästhetik trugen nach 1800 auch zur Entstehung des modernen Designbegriffs bei, denn mit dem Beginn der seriellen Fertigung wurde die Reflexion des Geschmacks zu einer besonderen Herausforderung. Ornament und Zierrat durften nun nicht mehr so unmittelbar erfreuen, wie es Kant im späten Rokoko noch erfuhr. Mit der einsetzenden Industrialisierung stand die Verzierung im Verdacht, Kitsch und Pomp zu dienen, so dass man die Interesselosigkeit nun im Rahmen von Reduktion und Verzicht zu demonstrieren suchte – nicht als Stil, sondern als ethisch-ästhetische gelebte Sittlichkeit, die Gemeinschaft unter Gleichgesinnten stiftet. Ästhetisch bildet sich, wer auf materielle Bedürfnisbefriedigung zu verzichten weiß; Geschmack zeigt, wer mit schlichten Dingen schön zu handeln versteht – so das Credo der Einfachheit seit dem Biedermeier. Durch das Leben mit den Dingen bilden wir uns in ihnen ab, wir stellen uns in unseren Dingen aus. Daher zeigen wir uns gegenseitig Bilder, wie wir wohnen – ob in den Zimmerbilden des Biedermeier oder in den Social-Media-Posts unserer Zeit.

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5 Schönhässlich. Über das Wilde in der Mode

Die Mode arbeite am Schönen, denkt man gemeinhin. Wer möchte nicht in seinen Kleidern möglichst vorteilhaft, stilsicher und geschmacksbewusst aussehen? Und doch spricht bei näherem Hinsehen vieles gegen die Annahme, dass uns die Mode nur zu verschönern sucht. Allerorts finden sich heute Mode-Phänomene, die man eher als hässlich oder allenfalls als „schönhässlich“ bezeichnen kann: Ob zerrupft oder zerlumpt, übertrieben knallig und bunt, allzu wild gemustert, zu eng, zu weit, zu kurz oder zu lang geschnitten, um gut am Körper zu sitzen, hier ausgebeult, dort ausgewaschen – an Störungen der guten Form hat die zeitgenössische Mode viel zu bieten. Das Schöne wäre viel zu dauerhaft, um jenem Bedürfnis nach Abwechslung zu entsprechen, das die Mode nun einmal ausmacht. Denn Schönheit ist stets überzeitlich und kanonisch gefasst: Auch wenn sie sich epochenbedingt verändern mag, erhebt sie stets Anspruch auf Absolutheit und Ewigkeit, das macht sie so doktrinär. Sprunghafte, gar wilde Trends, wie wir sie aus der Modegeschichte kennen, sind in der tradierten Idee eines Idealschönen nicht vorgesehen. Wir müssen also unterscheiden zwischen den gesellschaftlichen Schönheitspraktiken, die auf Beständigkeit abzielen, und jenem Modehandeln, das sich auch dem Schnelllebigen hingeben darf. Selbst wenn uns dieser Unterschied in der täglichen Kleiderpraxis oft nicht bewusst wird, ist er für die Ästhetik der Mode von zentraler Bedeutung.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Die gewollte Hässlichkeit unserer Kleider wird in der Modetheorie jedoch selten reflektiert, meist wird sie als strategische Provokation abgetan, die nur nach Aufmerksamkeit giert. Doch bilden gerade diese Grenzüberschreitungen zwischen dem Schönen und dem Hässlichen den ästhetischen Code der Mode. Für die notwendige Abkehr vom Schönen schöpft das heutige Modedesign insbesondere aus einer Ikonografie des Wilden.1 Man bezieht sich auf das Modell einer ursprünglicheren, noch nicht zivilisierten Natur, die der tradierten Idealschönheit entgegensteht. Als Gegenpol zu aller Harmonie-Romantik und zur Idee, man könne aus der Natur moralische Lehren ziehen, werden ihre unkultivierten Seiten ausgelotet. Nicht dem Ideal des unverdorbenen, „guten Wilden“ im Sinne von Rousseau wird hier gehuldigt, sondern dem Wilden als einem der eigenen Kultur Fremden und Anderen. Die heutige Avantgardemode beschäftigt sich mit diesem Topos besonders intensiv: Haariges und Animalisches, Fratzen und Masken, Ethnomuster in wilden Mixturen, Gefieder und Fell, clownesk oder grotesk, schwulstig und wulstig, tätowiert oder drapiert, bestialisch oder gezähmt, phallisch oder kindlich, hier in Strick, dort in Plastik – all dies beschäftigt die renommierten Modemacher in den letzten Jahrzehnten. Wie oft dabei auch die Grenzen zur Kunst überschritten werden, zeigen Bildbände wie Not a Toy (2011) oder Doppelganger (2011), die in einer gelungenen Zusammenstellung von der Arbeit am nicht mehr Schönen zeugen (Abb. 1, 2).2 Doch gehört das Thema nicht den Avantgarden allein, es hat längst im Mainstream Einzug gehalten: Als „Ugg Boots“ – also als hässliche Stiefel – bezeichnet man z. B. populäre Winterstiefel für die Dame, deren Eleganz wohl an Elefantenfüße erinnert. Das Design bezieht sich aber auch auf handgemachte Fellstiefel aus den Polarregionen, z. B. die Mukluks der Inuit-Tracht. Solche Grenzüberschreitungen zum Hässlichen fallen der Avantgardemode zwar leichter, da sie auf dem Laufsteg vieles zeigen kann, was im Alltag nie zum Einsatz kommen wird. Doch  1

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 gl. Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.): Wilde Dinge in Kunst V und Design. Aspekte der Alterität seit 1800, Bielefeld: transcript, 2017. Darin findet sich auch eine gekürzte Version dieses Kapitels, S. 244–261. Vassilis Zidianakis (Hg.): Not a Toy. Fashioning Radical Characters, Berlin: Pictoplasma 2011. Robert Klanten (Hg.): Doppelganger. Images oft the Human Being, Berlin: Gestalten 2011.

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5  Schönhässlich. Über das Wilde in der Mode

1, 2 Cover der Bildbände Not a Toy und Doppelganger, 2011

färbt ihr Stil heute unmittelbar auf die Massenkultur ab. Dass Mode immer auch „unmöglich“ oder regelrecht „untragbar“ sein muss, um als Mode zu funktionieren, hat die Kulturkritik oft als eine ihrer Sünden dargestellt. Alles Unpraktische wird in dieser Rhetorik als unsachlich und irrational degradiert. Doch schöpfen die Motive des Wilden sehr wohl aus einer komplexen ästhetischen Tradition, auch wenn es der Theorie schwerfällt, diese wahrzunehmen: Unser Modehandeln wird meist nur für sein gesellschaftliches Funktionieren wahrgenommen. Natürlich ist Kleidung ein hervorragendes Mittel, um die eigene Persönlichkeit bzw. die ersehnte Identitätskonstruktion im Hinblick auf Geschlecht, Generation und Gesellschaftsposition klar codiert zu inszenieren. Doch müssen diese sozialen Modepraktiken – die in der Regel den Normen des Schönen, Angemessen und Attraktiven folgen – von einer Ästhetik der Mode unterschieden werden. Betrachtet man vor diesem Hintergrund das Schaffen heutiger Modemacher, so tun sie für das gesellschaftliche

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Schönsein herzlich wenig: Ihre Mode bricht allerorts mit den ehernen Geschmacksregeln, die man in Stilratgebern findet; sie will offenkundig nicht mehr den üblichen Erwartungen entsprechen, sondern abweichen von allem, was man gemeinhin als schicklich und passend empfindet. Die Suche nach dem Bizarren und Kuriosen, dem Wilden und Fremden, dem Abartigen und Abnormen begründet also die ästhetische Freiheit, die wir in der Mode haben. Sie sucht darin das Diverse, das Nichtbestimmbare und Heterogene, das jedem Stildiktat von Grund auf widerspricht. Das Konstrukt des Wilden auf die Populärkultur zu übertragen kann sich aber auch als problematisch erweisen: Ob kolonialhistorisch-rassistisch oder geschlechterpolitisch-sexistisch, kaum ein Thema bietet mehr Fallstricke für mangelnde Korrektheit. Alles Exotische macht sich leicht verdächtig, schaulustige Safari-Sehnsüchte zu bedienen – von vermeintlich harmloser Leopardenfell- und Lendenschurz-Romantik bis hin zur erniedrigenden Zurschaustellung fremder Kulturen in der

3 Josephine Baker im Bananenrock, 1927

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5  Schönhässlich. Über das Wilde in der Mode

Tradition von Jahrmarkt und zum Menschenzoo. Wo zieht man also die Grenze zwischen einer Ästhetik, die sich für Alterität zu öffnen sucht, und jener rassistischen Erotik im Bananenröckchen, der sich auch ein Star wie Josephine Baker einst fügen musste (Abb. 3)? Ihr wilder Tanz galt den Künstlern ihrer Zeit als Avantgarde, aus heutiger Sicht ist die groteske Selbsterniedrigung, die man ihr aufbürdete, kaum zu ertragen. Um das ästhetische vom diskriminierenden Blickregime unterscheiden zu können, gilt es, das Schöne und das Schönhässliche zu differenzieren. An dieser Stelle lohnt zunächst ein Blick auf die Naturmodelle in der Gestaltung.

5.1 Vom Ende des Schönen in der Mode der Moderne Das Vorbild der Natur gilt im Design meist als schön und nicht als hässlich. In der Tradition des Funktionalismus steht die Gesetzmäßigkeit der Natur für die Einheit von Funktion und Schönheit: Harmonie und Proportion, Ruhe und Ordnung werden mit Zweckmäßigkeit und Zeitlosigkeit verbunden.3 Aus den Gesetzen der Natur, so der Konsens seit der Antike, werde ersichtlich, wie man gut zu gestalten habe – dies demonstriert z. B. auch die traditionsreiche Rezeption von Vitruvs sogenannter „Urhütte“ (Abb. 4): Man idealisiert den Akt des ersten Menschen, aus der Not des nackten Daseins ein allein den Gesetzen der Natur gemäßes Haus entworfen zu haben – als Meisterwerk der puren Funktion, noch gänzlich frei von dekadenter Symbolik und Dekoration. Das Naturvorbild fungiert als ordnendes Korrektiv, es soll die potenzielle Willkür des Formens eingrenzen. Doch ist unschwer zu erkennen, dass diese ehernen Prinzipien des Funktionalen nicht auf die Mode anwendbar sind. Ewiges Ideal und flüchtige Trends schließen sich nun einmal aus. Daraus sollte man der Mode aber keinen Vorwurf stricken, denn sie bewahrt uns just in ihrer Vergänglichkeit vor einem deutlich schlimmeren Terror, den uns die vermeintlich vorbildliche Natur aufzwingt: Wie die psychologische Attraktivitätsforschung nachgewiesen hat, verhält 3

 gl. Annette Geiger, Stefanie Hennecke, Christin Kempf (Hg.): V Spielarten des Organischen in Architektur, Design und Kunst, Berlin: Reimer 2005.

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sich unsere Spezies im Hinblick auf ihr Schönheitsempfinden eindeutig konditioniert. Diese Erkenntnis mag als Beleidigung des Kulturmenschen wahrgenommen werden, aber über den Befund sollte man nicht hinwegsehen: Uns ist offenbar ein zeitlich und kulturell übergreifendes, d. h. anthropologisch weitgehend konstantes Schönheitsideal eingeschrieben, dem wir in unseren Schönheitspraktiken partout zu folgen suchen.4 So sind inzwischen ganze Wirtschaftszweige entstanden, die uns durch Diät, Botox-Behandlung und Schönheits-OP aussehen lassen, als wären wir von Natur aus schön. Weil unsere Instinkte so eindeutig programmiert sind, lassen sich heute sogar Formeln und Algorithmen der perfekten Schönheit berechnen: Kein Chirurg muss mehr bangen, ob er das Kindchenschema-Gesicht der Frau oder das markante Kinn des Mannes auch richtig getroffen hat, er muss die digital ermittelten Daten nur noch auf die OP-willigen Körper übertragen.5 Unsere Bekleidung als willigen Helfer dieser Diktatur der Maße und Regeln zu definieren ist durchaus möglich: Hier betont sie das körperlich Attraktive, dort kaschiert sie alles Unvorteilhafte. Als Mode im ästhetischen Sinne kann man diesen Umgang mit der Kleidung jedoch nicht beschreiben. Es wäre schlicht zu einfach, solchen Regeln zu folgen. Daher verlangt die Mode den steten Wandel: Sie behauptet die Freiheit der Kultur gegenüber der Biologie unserer Instinkte. Nicht die Rückkehr zur Natur, sondern das klare Bekenntnis zur Künstlichkeit muss die Mode leiten, wenn sie uns vor der Diktatur des Schönen retten will. Erst die Hinwendung zum Skurrilen und Bizarren, gar zum Monströsen und Absurden erlaubt es ihr, vom naturgegebenen Bild des schönen Körpers Abstand zu nehmen. Daher versucht die Mode das Schöne immer wieder am Hässlichen zu brechen – das belegt auch die Logik ihrer Geschichte: Als Begründer der modernen Haute Couture gilt der Pariser Modeschöpfer Paul Poiret. Er prägte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein neues Modeverständnis und nicht von ungefähr ließ er sich vom kulturell Anderen

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 gl. zum Überblick Martin Gründl: „Attraktivitätsforschung: Auf der V Suche nach der Formel der Schönheit“, in: Cathrin Gutwald, Raimar Zons (Hg.), Die Macht der Schönheit. München: Wilhelm Fink 2007, S. 49–70. Siehe dazu die Forschungsergebnisse der Universität Regensburg auf www.beautycheck.de vom 18.1.2018.

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4 Charles Eisen: Frontispiz für Marc-Antoine Laugiers Essai sur l’Architecture, 1755

und Fremden inspirieren: Der Orient interessierte ihn besonders, aber auch Japan und ein wilder Fantasie-Exotismus, der sicherlich nicht das Ziel hatte, diese Kulturen ethnografisch korrekt zu zitieren (Abb. 5). Über dieses Ausbrechen aus dem Eigenen konnte Poiret die überkommenen Konventionen unterlaufen und erstmals frei mit den Silhouetten und Schnitten experimentieren. So wagte er es als erster Designer, auf das Korsett zu verzichten, und entwarf Haremshosen und Hosenröcke, wie man sie zuvor nur von Fahrrad fahrenden Frauenrechtlerinnen kannte. Dem ließ Poiret allerdings auch einen „Humpelrock“ folgen, in dem die Damenwelt kaum laufen konnte. Das Exotische erlaube es ihm, zu abstrahieren und zu deformieren, sich also zu lösen von allen gängigen Normen und Funktionen. Auch Poirets Erben, allen voran Coco Chanel und Elsa Schiaparelli, arbeiteten sich an der Frage des Anderen ab, um mit den gängigen Erwartungen zu brechen: Chanel eroberte erstmals das andere Geschlecht für die Damenmode, so schlüpfte sie auch höchstpersönlich in Herrenhosen oder Marineoberteile (Abb. 6). Deutlich wie nie zuvor ließ sie Elemente der Herrenmode in ihre Damenkollektionen einfließen, so fanden sich z. B. Zitate der Männersportmode (u. a. des Cardigans) in ihren sonst sehr femininen Jumperkleidern wieder. Elsa Schiaparellis Mode beschäftigte sich mit dem Fremden in uns, dem Unbewussten, Irrationalen und Surrealen. Sie arbeitete z. B. mit Künst-

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5 Peggy Guggenheim in einer Robe von Paul Poiret, fotografiert von Man Ray, 1924

6 Coco Chanel, 1930

lern wie Salvador DalÍ zusammen, um Mode nicht einfach nur schön, sondern „schockierend“6 zu gestalten: Ihre Entwürfe zeigen Hüte in Schuhform oder Schuhe mit Haaren (Abb. 7), Kleider mit integrierten Knochen oder auch das Motiv eines Hummers als Zierde eines Abendkleides. Im eigentlichen Sinne „wild“ wurde die Mode aber erst mit Yves Saint Laurent, der den Safari- und Ethno-Look gleichermaßen er-

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 gl. Dilys Blum (Hg.): Shocking! The Art and Fashion of Elsa V Schiaparelli, New Haven, CT: Yale University Press 2003.

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5  Schönhässlich. Über das Wilde in der Mode

7 Elsa Schiaparelli: Damenstiefel mit Affenfell, 1938

9 Yves Saint Laurent: Das Model Veruschka in Safarijacke, fotografiert von Franco Rubartelli, 1968

8 Yves Saint Laurent: Kleider aus der Kollektion Africaine, 1967

fand. Saint Laurent, der in Algerien aufgewachsen war, sorgte mit den westafrikanisch inspirierten Bambara-Kleidern in seiner Kollektion Africaine von 1967 für Aufsehen (Abb. 8). So wie er 1968 erstmals nicht Männer, sondern Frauen in die „Saharienne“, die traditionelle Jacke des Großwildjägers, steckte (Abb. 9). Doch stellt sich angesichts dieser Bilder umgehend die Frage nach ihrem Diskriminierungspotenzial: Das berühmte Model Veruschka wird in der Safari-Jacke zwar nicht als das

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

gejagte Tier dargestellt, es trägt vielmehr die Waffe amazonengleich über der eigenen Schulter. Doch die erotische Einschnürung ihres Körpers reduziert Veruschka doch auf ein Objekt der Schaulust. Zumindest betont das Motiv wieder die körperliche Attraktivität und somit das biologische Diktat unseres Schönheitsempfindens. Erst wenn dieses Idealschöne durch das Fremde und Andere tatsächlich gebrochen wird, schwindet jener Verdacht der Diskriminierung. Dann erst müssen wir uns öffnen für ein anderes Sehen bzw. ein Sehen des Anderen, das mit unseren gewohnten Schönheitserwartungen bricht. Für diese Perspektive lässt sich vor allem bei Charles Baudelaire Unterstützung finden, er unternahm es als Erster, eine Theorie der Mode auch als Theorie der Moderne zu formulieren. Die spezifische Zeitlichkeit der Avantgarde, so Baudelaire, verbinde Mode und Modernité, beide erweisen sich als flüchtig und vergänglich. Sie arbeiten auf das Transitorische und Heterogene hin, um den Ballast von Tradition und Ordnung, von Ideal und Kanon zu überwinden. Die Suche nach einem Idealschönen gelte es in der Moderne aufzugeben, schreibt Baudelaire zur Salonausstellung von 1846, das „absolute Ideal“ sei eine einzige Torheit: „Die Dichter, die Künstler und die ganze menschliche Rasse wären sehr unglücklich, wenn das Ideal, diese Absurdität, diese Unmöglichkeit, gefunden wäre.“7 Die moderne Schönheit soll unbestimmbar bleiben, sich als wandelbar und unfassbar erweisen. Sie muss uns daher immer auch befremden, so Baudelaire in einer Kritik von 1855: „Das Schöne ist immer bizarr. Ich will damit nicht sagen, es sei vorsätzlich, aus kühler Berechnung bizarr [...]. Ich meine, daß es immer ein wenig Bizarrerie enthält, eine naive, absichtslose, unbewusste Seltsamkeit, und daß eben diese Seltsamkeit es recht eigentlich zu dem Schönen macht. [...] Man [...] versuche, sich ein banales Schönes vorzustellen!“8

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 harles Baudelaire: „Der Salon von 1846“, in: ders., Der Künstler C und das moderne Leben. Essays, Salons, intime Tagebücher, hg. von Henry Schuhmann, Leipzig: Reclam 1990, S. 17–104, hier S. 60. Charles Baudelaire: „Die Weltausstellung 1855. Die schönen Künste“, ebd., 138–164, hier S. 142.

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10 Charles Baudelaire: Zeichnung von Jeanne Duval, o.D.

Diese Kritik am Ideal- bzw. Naturschönen spitzt Baudelaire in seinem Lob der Schminke von 1863 noch zu: Die eigentliche Natur der Natur lehre uns nichts, erst recht nichts Moralisches, sie sei genau genommen roh und hässlich, so Baudelaire gleich zu Beginn des Textes. Die wahre Natur des Menschen unterscheide sich kaum von der tierischen, auch wir seien von Natur aus instinktgeleitet. Alle Zivilisation, folgert er, sei daher künstlichen Ursprungs. Erst wenn sich der Mensch um Künstlichkeit bemühe, gebe es Hoffnung auf Kultur – und dies gelte gerade auch für die Verschönerung des Menschen selbst, so Baudelaire: „Die Rassen, die unsere Zivilisation, verwirrt und verderbt, mit völlig lächerlichem Stolz und Schwachsinn, gerne als wilde behandelt, begreifen ebenso gut wie das Kind die hohe geistige Bedeutung der Toilette. Der Wilde und das Baby bezeugen durch ihre naive Sucht nach dem Glänzenden – nach buntscheckigen Federwerk, nach schillernden Stoffen, nach der übertriebenen Erhabenheit der künstlichen Formen – ihr Missfallen an der Wirklichkeit.“9

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 harles Baudelaire: „Der Maler des modernen Lebens. Lob der C Schminke“, ebd., S. 312–316, hier S. 313.

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Der Wilde lebe gerade nicht bescheiden, schmucklos und „natürlich“, wie es ihm die Aufklärung andichtete, sondern habe noch verstanden, sich und seine Welt zu dekorieren – unvoreingenommen und naiv, geschmacklos und schrill, gänzlich subjektiv und regellos. Daran sollte sich nach Baudelaire auch das moderne Ornamentieren der Körper und Dinge orientieren, so auch das Schminken: Es gelte nicht der Natur bzw. dem Ideal natürlicher Schönheit nachzueifern, im Gegenteil, mit der Schminke könne sich gerade die notwendige Künstlichkeit aller Maskerade manifestieren. Dann erst entstehe jene wilde, bizarre und freie Schönheit, die sich auch dem Kind oder dem Naiven eröffne, weil man ihm nicht vorschreibe, was das Schöne zu sein habe. Für seine Argumentation griff Baudelaire auch auf eigene Erfahrungen zurück: 1841 bereiste er die Inseln Mauritius und La Réunion und nach seiner Rückkehr lebte er ein wildes Bohème-Leben an der Seite der kreolischen Schauspielerin Jeanne Duval (Abb. 10). Als schwarze Venus, als Prostituierte oder als Bestie, göttlich wie animalisch, wurde sie von den Zeitgenossen beschrieben. Baudelaires Schönheitsbegriff des Wilden als Vorbild für das ästhetisch Regellose nimmt jedoch aus historischer Sicht eine Außenseiterposition ein. Der gängige Diskurs der westlichen Moderne steht in einer anderen Tradition, seit der Aufklärung hat er dazu beitragen, alles Fremde und Exotische entweder zu zähmen oder zu verdrängen.

5.2 King Kongs Rache: Wider die Verdrängung des Anderen Der Umgang der Moderne mit dem Exotischen und Fremden zeigt sich z. B. in der Geschichte unserer Museen: Der wissenschaftliche Blick des aufgeklärten Museums sammelt, um die Welt wissend zu durchdringen, und nicht, um zu bestaunen, was man an ihr nicht versteht. Das Klassifizieren und Sortieren verdrängte folglich die alte Logik der Wunderkammern und Kuriositätenkabinette, die mit ihrem scheinbar wilden Durcheinander von Natur und Kultur, von Kunst und Technik uns alles hatten bewundern lassen, was bizarr und rar war (Abb. 11). Für den vormodernen Blick gab es noch nichts tatsächlich Fremdes, denn alles Gegebene war letztlich im göttlichen Makrokosmos vereint, den es im Mikrokosmos der Sammlung zu spiegeln galt. Erst die Aufklärung beendete dieses Staunen über die Vielfalt des Möglichen: Das tatsächlich Wilde und Unzivilisierte grenzte man aus als das Andere der Vernunft, die klassizistische Ästhetik verurteilte es als das Ge-

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11 Museum Wormianum des Archäologen Ole Worm (1588–1654)

genteil des Schönen. Nur im Konstrukt des „guten Wilden“ behielt man das Bild der unschuldigen Natur bei – um es auf sich selbst zu beziehen, nicht etwa um sich mit dem tatsächlich Anderen auseinanderzusetzen. Fremde Kulturen fanden sich nach 1800 entweder zivilisiert und missioniert oder gänzlich gezähmt und romantisiert in einer Exotik-Begeisterung wieder, die vor allem das 19. Jahrhundert mit seinen Orientalismen, Japonismen und Ägyptomanien prägte. Doch waren jene Vorstellungen der Fremde viel zu schön, um überhaupt noch wild zu sein. Das Exotische bildet hier kein Korrektiv der eigenen Wahrnehmung, es affirmiert vielmehr den eigenen Blick. Das hässliche Wilde konnte also nur als Schrecken aus der Verdrängung zurückkehren, nicht als schöner Traum, sondern als Trauma. Dieser Wahrnehmung des Barbarischen und Monströsen widmete sich insbesondere die Populärkultur in ihren Schauermärchen und Horrorgeschichten. Daraus entstand eine bis heute gültige Ikonografie des Wilden, die durchaus auch ethische Absichten verfolgt, sich aber dem Zivilisierungsund Bildungsdiktat der Aufklärung nicht beugen will. Um dieses Motiv herauszuarbeiten, beschränke ich mich hier zunächst auf die Geschichte

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von menschenähnlichen Untieren und Affen, die sich anschicken, eine schöne Frau zu rauben. In diesem altbekannten Plot findet sich meist eine stark stilisierte Gegenüberstellung von schön und hässlich, deren Polarisierung jedoch im Lauf der Geschichte überwunden werden soll. Skizzieren wir zunächst den historischen Kontext des Topos: Über die Verwandtschaft von Mensch und Affe hatte man schon zu Shakespeares Zeiten allerlei Vermutungen angestellt. Aber erst mit Darwin war der wissenschaftliche Beweis unserer Abstammung erbracht.10 Nun waren wir Menschen keine höheren Geschöpfe Gottes mehr. Wir hatten mit der Evolution erst lernen müssen, das Tier in uns zu verdrängen. Nur was, wenn sich diese Verdrängung eines Tages rächt? Der einst für seine Tierdarstellungen berühmte französische Bildhauer Emmanuel Frémiet wagte 1859, also just im Erscheinungsjahr von Darwins Hauptwerk Über die Entstehung der Arten, erstmals eine Darstellung des erwähnten Motivs mit dem Titel Gorille enlèvant une Negresse (Gorilla, eine Schwarze entführend) (Abb. 12).11 Die Jury des Pariser Salons zeigte sich schockiert, der Realismus der Tat in Kombination mit der Hässlichkeit des Tieres gefährde die öffentliche Moral, so das einhellige Urteil. Das Werk wurde aus dem Salon verbannt, aber außerhalb des Wettbewerbs dennoch gezeigt. Der Skandal war erheblich und führte 1861 zur Zerstörung des Werkes. Auch Baudelaire hatte die Skulptur gesehen und umgehend verurteilt: Ein Krokodil oder einen Tiger, der aus Hunger einen Menschen reißt, hätte man wohl ertragen. Aber hier blicke man doch auf eine Vergewaltigung – und das sei zu viel des Grauens.12 Hier 10 V  gl. Hans-Konrad Schmutz: „Von Affenmenschen und Menschenaffen. Oder visuelle Traditionen in der neuzeitlichen Anthropologie“, in: Norbert Elsner (Hg.), Bilderwelten. Vom farbigen Abglanz der Natur, Göttingen: Wallstein 2007, S. 233–256. 11 Vgl. Ted Gott: Stowed Away: Emmanuel Frémiet’s Gorilla carrying off a woman. In: Art Journal 45 (2005), hg. von der National Gallery of Victoria Melbourne, hier: www.ngv.vic.gov.au/essay/stowed-awayemmanuel-fremiets-gorilla-carrying-off-a-woman-2-2/ vom 18.1.2018; Liliane Weissberg: „Monkey Business“, in: Kunstforum International 114 (1991), S. 237–252. 12 Vgl. Charles Baudelaire: „Salon de 1859“, in: ders., Ecrits sur l’art, Paris: Poche 1992, S. 243–321, hier S. 314. Baudelaire hatte offenbar übersehen, dass Frémiets Gorilla ein weibliches Tier zeigt, wie die Inschrift auf dem Sockel andeutet. Die Bestie wurde vom damaligen Betrachter offenbar als männlich gedeutet.

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12 Emmanuel Frémiet: Gorille enlèvant une Negresse, 1859

13 Harry Clarke: Illustration zu E. A. Poes The Murder in the Rue Morgue, 1931

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14 Schlussszene aus King Kong, 1933

fehle das Gute im Bösen, das Schöne im Hässlichen. Die ablehnende Haltung Baudelaires mag verwundern, denn das Thema vom Menschenaffen, der gegenüber Frauen handgreiflich wird, kannte er von seinem großen Dichtervorbild Edgar Allan Poe. Dessen berühmte Kriminalgeschichte Der Doppelmord in der Rue Morgue von 1841 hatte Baudelaire selbst ins Französische übersetzt. Poes Meisterdetektiv Dupin hat darin die bestialische Ermordung zweier Frauen aufzuklären, die an Grausamkeit alles bisher Gesehene übertrifft (Abb. 13). Als Täter identifiziert Dupin schließlich einen entflohenen Orang-Utan, den ein Matrose eingeschleppt hatte, um ihn zu Geld zu machen. Und darin liegt wohl der Unterschied zu Frémiets Darstellung: Das wilde Tier wird zunächst von Menschen entführt. Es wird nicht artgerecht gehalten, flüchtet und begeht die Tat nur, weil es in Panik gerät: Seine weiblichen Opfer haben ihn durch ihr Geschrei derart verstört, dass das arme Untier zu toben und zu morden beginnt. Der Affe reagiert nur „natürlich“ auf eine Zivilisation, die er nicht versteht. Poe schrieb dem Orang-Utan sogar die Fähigkeit zu, Schuld und Scham für sein Handeln zu empfinden, das Tier versucht nämlich, das Geschehene rückgängig zu machen. Die Bestie hat das Böse nicht gewollt, sie konnte nicht anders, weil sie noch wild und ursprünglich ist – so der Plot der Geschichte. Diese nachsichtige Sicht auf das Monster, das aufgrund seiner Taten sicher nicht als „guter Wilder“ gelten kann, finden wir auch in Merian C. Coopers legendärem Film King Kong von 1933. In der berühm-

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ten Schlussszene (Abb. 14) klettert der Affe auf das Empire State Building, die geraubte schöne Frau in der Hand. Er setzt sie liebevoll ab, um eine angreifende Staffel Doppeldecker abzuwehren, zerquetscht dabei einige Flugzeuge mit der Faust – wird aber tödlich getroffen und stürzt ab. Wir, die zivilisierten Zuschauer, dürfen uns dennoch nicht als moralische Sieger sehen: Der Affe Kong wurde auf seiner Heimatinsel einst als Gott verehrt. Die Eingeborenen hatten einen Weg gefunden, mit der Kreatur auszukommen, selbst wenn sie dem Biest regelmäßig Menschenopfer bringen mussten. Der Naturzustand wird also keineswegs romantisiert, aber Mensch und Wildnis hatten darin ihren festen Platz. Erst das Eindringen der angeblich zivilisierten Weißen bringt alles aus dem Lot. King Kong fordert nämlich Ann, die archetypische schöne blonde Frau, als sein nächstes Menschenopfer ein. Nach dem Raub wird ihre Schönheit jedoch sein Verhängnis, der Affe verliebt sich in sie. Ab diesem Moment verkehren sich schön und hässlich, gut und böse: Wir vermeintlichen Helden der Zivilisation betäuben das Tier mit Gasbomben, um Ann zu befreien, überführen es anschließend nach New York, um es als achtes Weltwunder im Zoo auszustellen. Das verliebte Monster wird wütend und bricht aus, um seine Ann zu suchen. Rasend vor Zorn zerstört die Bestie dabei die gesamte Stadt, Leichen pflastern ihren Weg, wie es sich für einen guten Horrorfilm gehört. Die Gewalt der Kreatur scheint unkontrollierbar – und doch zeigt sie menschliche Züge. Täter und Opfer zugleich, fordert uns das wilde Wesen auf, unsere Werturteile zu relativieren: Der Affe ist ja unser Vorfahre, ein Urahne, der gerade erst lernt zu lieben. Und dafür sollten wir auch ihn lieben lernen, so die offensichtliche Moral der Geschichte. Das alte Volksmärchen von der Schönen und dem Biest erzählt nichts anderes: Auch hier wird eine Schöne geraubt, weil sie lernen soll, ihre Liebe für das hässliche Untier offen zu zeigen. Erst als sie ihren Entführer trotz seines animalischen Aussehens annimmt, erlöst sie ihn von dem Fluch, und das Biest kann sich in einen wunderschönen Prinzen zurückverwandeln. Man soll nicht vom Äußeren auf das Innere schließen, so die Lektion. Doch zeigt die Tatsache, dass wir nicht aufhören können, den Stoff des Märchens auf die Bühnen von Kino, Comic und Musical zu bringen, wie sehr die visuelle Umsetzung des Themas auch ästhetisch reizt: Wie kann man das, was uns abstößt, so schön bzw. schönhässlich darstellen, dass die Zuschauer das Monster mögen? Jean Cocteaus romantische Verfilmung von La Belle et la Bête aus dem Jahr 1946 gilt bis heute als prägend für das Genre. Der schöne

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15, 16 Jean Marais als Untier und als Prinz in Jean Cocteaus La belle et la bête, 1946

Jean Marais wird, als Darsteller von Untier und Prinz gleichermaßen, in eine menschenähnliche Kreatur mit starker Gesichtsbehaarung verwandelt (Abb. 15, 16). Der Horror entsteht, weil er so menschlich aussieht und doch ein Tier zu sein scheint. Als Vorbild für die Gestaltung der Bestie könnte Cocteau Bilder des bekannten Schaustellers Fjodor Jeftichew gekannt haben, der an Hypertrichose bzw. menschlicher Überbehaarung litt (Abb. 17). Bekannt als „Jo-jo, the dog faced boy“ tourte der gebürtige Russe seit seinem fünften Lebensjahr auf europäischen Jahrmärkten und in US-amerikanischen Sideshows. Zeitlebens verdiente er seinen Unterhalt als Attraktion im Menschenzoo. In der Frühen Neuzeit hingegen lebten die sogenannten „Haarmenschen“ (Abb. 18) noch als Kuriosität an den Höfen. In der Tradition der Wunderkammer blickte man noch nicht geringschätzig auf

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17 Fjodor Jeftichew, ca. 1880

Wesen und Dinge, die aus der Reihe fielen, sie galten vielmehr als Wunder der Natur.13 Das Abnorme am Menschen wurde geachtet, es vermochte die Vielfalt der göttlichen Schöpfung zu spiegeln – bis die Moderne alles Anormale in die Freak-Show verbannte. Diese Ausgrenzung des Anderen sucht der Topos vom Schönhässlichen wieder rückgängig zu machen – im Märchen, im Horrorfilm und in der Mode. Gerade heute stößt man immer wieder auf Inszenierungen, die unmittelbar aus dem Motiv des

13 D  ie Familie der Tognina Gonsalvus (geb. um 1580) gilt als der früheste in Europa beschriebene Fall von menschlicher Überbehaarung. Tognina wuchs am Hofe König Heinrichs II. in Fontainebleau auf, wo die Familie am höfischen Leben teilnahm. Die sogenannten „Affenmenschen“ lebten allerdings im Park von Fontainebleau, der ihnen eine „natürliche Umgebung“ sein sollte. Von einer gleichberechtigten Integration anders aussehender Menschen kann also nicht die Rede sein, sie genossen als lebende Kuriosität lediglich den Schutz der Herrschenden.

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18 Lavinia Fontana: Tognina Gonsalvus, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts

19 Vivienne Westwood und Andreas Kronthaler, fotografiert von Jürgen Teller, 2010

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guten Untiers zu schöpfen scheinen, wie z. B. in der Werbekampagne für Vivienne Westwood aus dem Herbst 2010, die Jürgen Teller fotografiert hat (Abb. 19). Das Bizarre und Abnorme soll unsere Werturteile relativieren, damit wir wieder so vorurteilsfrei und naiv wahrnehmen können wie in Baudelaires Idee des Wilden beschrieben – offen für alles Schrille und Schräge, auch für das Monströse an Mensch und Tier.

5.3 Pop als Exotismus: Zur Erfahrung des Diversen Wenn ich genau an dieser Stelle auf den australischen Performancekünstler, Clubbetreiber und Modedesigner Leigh Bowery (1961–1994) zu sprechen komme, sollte das kein weiterer Exkurs sein. Ich möchte vielmehr die Vielseitigkeit dieser ikonografischen Tradition aufzeigen: An den Höfen der frühen Neuzeit geschätzt, aus der bürgerlichen Aufklärung verbannt und verdrängt, im Horrormärchen der Populärkultur wieder hervorgeholt und schließlich in den Rang der Avantgarde von Pop und Punk erhoben– so könnte man die erstaunliche Karriere des Wilden und Monströsen beschreiben. Die Londoner Underground-Partys der 1980/90er Jahre, Bowerys wichtigste Bühne, waren keine distinguierten Kunstveranstaltungen in wohlklimatisierten Museen. Die postmoderne Variante des Grotesken bevorzugte das exzessive Nachtleben: Tanz, Rausch und Drogen bei ohrenbetäubendem Sound, gänzlich ungezähmte Kultur. Gaffende Zoobesucher waren hier sicherlich nicht erwünscht, die Enthemmung galt es mitzumachen. Daran sucht die Mode bis heute anzuknüpfen: Im Pop und Punk kann das Diverse und Bizarre, das Groteske und Banale leiblich wie sinnlich erlebt werden – alle Kategorien der Vernunft niederreißend. In seinen Selbstinszenierungen hob Leigh Bowery jede Grenze auf, ob high & low, Du und Ich, Mann und Frau, Mensch und Tier, Kultur und Natur, Mode und Skulptur usw. (Abb. 20–22). Er setzte jede kategoriale Ordnung außer Kraft, die unser Denken gemeinhin bestimmt. Die Saturnalienfeste im antiken Rom, die Bacchanalien im alten Griechenland oder die Tradition des Karnevals könnte man als alteuropäische Vorgriffe auf diese Erlebnisweise deuten: An besonderen Festtagen und streng definierten Orten durfte in der wilden Feier jedes Gesetz, jede Standesgrenze, jede Moral ausgesetzt und gebrochen werden. Heute bieten Clubs ganzjährig eine vergleichbare Plattform.

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Der schrill kostümierte Bowery inszenierte Animalisches und Künstliches, Kindliches wie Gewalttätiges, immer skurril und bizarr. Dabei setzte er allem voran seinen schwergewichtigen Körper als Ausdrucksmedium des Schönhässlichen ein. Er verformte, deformierte und malträtierte ihn, so dass das Hinschauen auch zur Tortur werden konnte. Jede Sichtweise, die schön und hässlich unterscheiden will, ist angesichts dieser Grotesken verloren, sie muss kapitulieren. Diesen Pop oder Punk versteht nur, wer seine Vorurteile aufgibt und zulässt, dass das Wilde alles erlaubt, was die Vernunft verbietet. Dass Bowerys Inszenierungen die Mode bis heute inspirieren, ist unschwer zu erkennen, vielfältige Referenzen und Zita-

20–22 Leigh Bowery, fotografiert von Fergus Greer, 1988, 1989, 1994

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te verschaffen seinen Kostümierungen ein reges Nachleben. Unter den Modemachern ist Alexander McQueen zweifellos der populärste Erbe Bowerys, aber auch Rei Kawakubo, Jean Paul Gaultier, Gareth Pugh, John Galliano, Martin Margiela usw. haben sich direkt auf ihn bezogen.14 Auch der Mainstream schöpft aus Bowerys Universum: Über die Popmusik – von Boy George bis Lady Gaga – erreichte der Bowery-Stil die Massenkultur. Allerdings wurde er dort gender-romantisch weichgespült, damit der Anblick nicht mehr ganz so schmerzt. Diese Verbundenheit des Grotesken mit der Volkskultur – von der bäuerlichen Tradition bis zur heutigen Konsumgesellschaft – reicht historisch weit zurück. Die Art, wie Bowery den Körper exponiert und deformiert, besonders das Entstellen des Kopfes in hybriden Mensch-Tier-Mischwesen, erinnert z. B. an die Illustrationen in François Rabelais’ satirischem Roman Gargantua und Pantagruel (1532–1564), die Bowery offenbar kannte (Abb. 23–25). Michail Bachtin erkannte in Rabelais’ Parodien und Possen das Potenzial der „Volkskultur als Gegenkultur“.15

14 V  ergleichendes Bildmaterial von Bowerys Originalen und Zitaten heutiger Modemacher siehe z. B. in dem Blog A.G. Nauta Couture: agnautacouture.com/?s=Bowery&submit=Search 15 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987.

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23–25 François Rabelais: Gargantua und Pantagruel, 1565

Die verkehrte Welt soll ein nihilistisches Gelächter über die Welt auslösen, alles relativierend und von jeder Obrigkeit befreiend. Kirche, Staat, Gesellschaft, alles durfte zum Narren gehalten werden – bis die Feste des Spottens wieder enden mussten. Aus dieser Tradition speist sich auch das Wilde in der heutigen Mode, es zielt auf eine Erlebnisweise, die uns zu öffnen sucht für das Andere und Fremde.16 An dieser Stelle mag man auch an das Konzept des Tiers bzw. der Tierwerdung nach Jacques Derrida oder nach Gilles Deleuze und Felix Guattari denken.17 Doch versteht sich dieser Diskurs der Postmoderne als posthuman, er lädt ausdrücklich zur Dekonstruktion des Subjekts ein. Diese Konzeption von Alterität scheint mir daher nicht zur hier gezeigten Auffassung von Mode zu passen: Die Dandys, Flaneure, Exzentriker und Pop-Künstler von Baudelaire bis Bo-

16 Z  ur Lesart heutiger Mode aus der Tradition des Grotesken, v.a. nach M. Bachtin, vgl. Francesca Granata: Experimental Fashion. Performance Art, Carnival and the Grotesque Body, London: I.B. Tauris 2017, darin insbesondere das Kapitel „Performing Pragnancy: Leigh Bowery“, S. 54–73. 17 Siehe dazu Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin (2006), Wien: Passagen Verlag 2010, Gilles Deleuze, Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (1980), Berlin: Merve 2002, darin insbesondere die Kapitel „Rhizom“ und „Wie schafft man sich einen organlosen Köper“, S. 11–43, S. 205–229.

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wery und ihren heutigen Erben kultivieren keineswegs die Zerstörung des Subjekts, sie radikalisieren es vielmehr. Sie huldigen einem regelrechten Willen zum Ich. Ich möchte daher abschließend auf eine ältere Tradition der Exotismus- und Alteritätserfahrung verweisen, die mir für die hier gezeigten Phänomene die passende Theorie zu liefern scheint. Die Idee einer möglichst vorurteilsfreien Wahrnehmung des Wilden, wie wir sie vom Karneval bis zum Pop kennen, findet sich z. B. in Victor Segalens Versuch über den Exotismus. Seine Aufzeichnungen zu einer „Ästhetik des Diversen“, festgehalten zwischen 1904 und 1918, sind allerdings Fragment geblieben. Der französische Schriftsteller und Marinearzt hatte die meiste Zeit im Ausland gelebt, vor allem in Polynesien, wo er die letzten Zeichnungen Gauguins rettete, und später in China. Auf „abgedroschene Exotik“ mit Kamelen, Palmen und Tropenhelmen wollte er natürlich nicht hinaus.18 Er grenzte diese banale Auffassung ab von einem „universellen Exotismus“, den er als die Fähigkeit verstand, „anders aufzufassen“.19 Die Begegnung mit dem Fremden und Anderen sei in der Ästhetik des Diversen nicht durch ein rationales Verstehen- oder gar Erklärenwollen geleitet, sondern durch „hemmungsloses Genießen“, so Segalen. 18 V  ictor Segalen: Die Ästhetik des Diversen. Versuch über den Exotismus, Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 36f. 19 Ebd., S. 37.

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Das angestrebte „Exotismusgefühl“ gründet sich in einem regelrechten „Rausch des Subjekts, sein Objekt zu begreifen; sich als anders-seiend zu erkennen; das Diverse zu fühlen“.20 Das Fremde muss somit stets fremd und unverständlich bleiben. Segalen ging es keineswegs um Anpassung oder Assimilation, sondern um einen positiven, ästhetischen „Schock des Diversen“, den das Subjekt erfährt, sofern es sich dafür zu öffnen vermag. Doch muss sich das Individuum nicht aufgeben bis hin zum Selbstverlust, es wird vielmehr in seiner Eigenwilligkeit gestärkt. Es erfährt seine Empfindungen als derart subjektiv, dass es in dieser Exotismuserfahrung alles kulturell Gelernte und Gewusste überwinden kann. Das Individuum, so Segalen, „begreift, dass es sich nur anders begreifen kann als es ist. Und es erfreut sich seines Anders-Seins.“21 Demnach ist jede radikale Selbsterfahrung auch eine Alteritätserfahrung, da sie alle Prägung durch Herkunft und Sozialisation aufheben kann. Selbsterkenntnis ist die Erfahrung einer Fremdheit – zu sich und zu aller Kultur. Segalens Exotismus wirft den Einzelnen auf sich zurück, er verleiht ihm Willen und Macht, mit dem ureigenen, wilden Blick wahrzunehmen. Durch die Begegnung mit dem Fremden spürt der Wahrnehmende, wie er ursprünglich war, vor der Kultivierung und Zivilisierung zu dem, was er ist. In der ästhetischen Wahrnehmung des Anderen erfährt man auch das Selbst wieder als wild – so das Ziel dieser Erlebnisweise, die auch Baudelaire beschrieb. Die wilde Subjektivität dieser Erfahrung, ohne Diskurs und Ordnung, ohne Kultur und Klassifikation, pflegte einst die Wunderkammer, die nur das Staunen, aber nicht die wissenschaftliche Objektivität der Kategorien kannte. Sie kam noch ohne Werturteile und somit ohne Diskriminierung aus. Es dominierte noch nicht die Überlegenheit des Wissens, sondern die interesselose Freude am Anderen. Heutige Mode bringt von dieser Qualität etwas zurück, auf den Laufstegen oder auch im Alltag – sofern wir uns dafür öffnen.

20 Ebd., S. 43. 21 Ebd., S. 4.

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Es gehört zu den gängigen Mythen der Designgeschichtsschreibung, dass sich zwischen dem Jugendstil und der Klassischen Moderne ein radikaler Bruch vollzogen habe. Das Design der Epoche um 1900 habe noch unter dem Regime der Kunst gestanden, die Gestaltung von Gebrauchsdingen sei entsprechend irrational und wenig funktional ausgefallen. Dieser Irrweg des ästhetizistischen Kunsthandwerks sei aber durch den Beginn des modernen Industriedesigns abgelöst worden, so die noch immer verbreitete Sicht.1 Stilgeschichtlich und mit Blick auf die äußeren Formen ist der Bruch natürlich nicht zu leugnen: Die organisch geschwungenen und auch bedrohlich verschlungenen Linien des Jugendstils waren nach dem Ersten Weltkrieg aus der Gestaltung verschwunden. Sie fanden zwar in den Visionen des Expressionismus einen würdigen Nachfolger,2 doch werden diese Entwürfe aufgrund ihres vornehmlich utopischen Charakters oft nur als Randphänomene der historischen Entwicklung dargestellt. Der offene Disput zwischen den künstlerisch-ästhetizistisch und den rational-funktionalistisch orientierten Positionen war hierzulande mit dem großen Werkbund-Streit von 1914 ausgebrochen, der die Anhängerschaft von Henry van  1 2

Vgl. die Einführung in Kap. 2.  gl. Wolfgang Pehnt: Architektur des Expressionismus, OstfildernV Ruit: Hatje Cantz 1998.

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de Velde (als künstlerischem Entwerfer) den Mitstreitern von Hermann Muthesius (als Mitbegründer des modernen Funktionsgedankens) unversöhnlich gegenüberstellte.3 Der Umbruch zur Moderne wird daher meist als Sieg der Gefolgschaft Muthesius’ gewertet. An der Legendenbildung, dass die Vorgeschichte der Moderne im Jugendstil keinerlei Kontinuität aufweise mit den Ideen von Neuer Sachlichkeit und rationaler Formgebung, wirkten die Protagonisten des Stilwandels später auch kräftig mit (z. B. Walter Gropius) – teils auch durch offene Geschichtsfälschung.4 Weil der Unterschied der Formensprachen so augenfällig war, hat man ihrer Version wohl stets geglaubt. Doch sollte sich die Designgeschichtsschreibung nicht allein auf die äußerlichen Stilmerkmale konzentrieren, es gilt auch die philosophischen Diskurse zu untersuchen. Das entwerferische Denken der Moderne unternahm eine Neubewertung von Mensch und Umwelt, von Glaubens- und Lebensformen, von Wert- und Sinnfragen, die sich als Zusammenhang lesen lassen – gerade als Kontinuität vom Jugendstil zum Bauhaus: Die beiden Gestaltungsrichtungen einte ein tiefer Glaube an den Nihilismus, so widersinnig das auch klingen mag. Die Relativierbarkeit aller Werte, die Ambivalenz aller Dinge, ihr jeweiliges Kippmoment in das Gegenteil, bildete den eigentlichen Beginn der modernen Designästhetik. Das Andersmöglichsein aller Form wurde nun sichtbarer denn je herausgearbeitet. In diesem Zusammenhang zeigt sich erneut: Die Avantgarden vom Jugendstil bis zum Bauhaus waren nicht am besseren Funktionieren der Dinge interessiert, reibungslose Funktionalität hätte man anders gestalten müssen. Die eigentliche Faszination galt der kreativen Zerstörung, jenem Leitbild der modernen Künste, die Tabula rasa machen wollten mit allem, was ihnen vorausging.5 Die schöpferische

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5

 gl. Melanie Kurz: Designstreit. Exemplarische Kontroversen über V Gestaltung, Paderborn: Wilhelm Fink 2018, S. 113–128. Vgl. Werner Oechslin: „Politisches, allzu Politisches … Nietzschelinge, der Wille zur Kunst und der Deutsche Werkbund für 1914“, in: ders., Moderne entwerfen. Architektur und Kulturgeschichte, Köln: DuMont 1999, S. 116–171. Vgl. Wolfram Bergande (Hg.): Kreative Zerstörung. Über Macht und Ohnmacht des Destruktiven in den Künsten, Wien: Turia + Kant, 2017. Dort ist eine Vorversion dieses Kapitels erschienen, vgl. den Beitrag: Kreative Zerstörung in der Gestaltung, S. 155–194.

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Zerstörung sollte aus Sicht der Avantgarden alle Lebensbereiche umfassen, nicht nur die Kunst. Doch wie sollte Design eigentlich zerstören anstatt zu funktionieren? Da sich das Entwerfen auf nützliche bzw. nutzbare Dinge bezieht und nicht auf das Schaffen von freien Kunstwerken, kann es mit dem Kriterium der Brauchbarkeit nicht gänzlich brechen. Wie ich zeigen möchte, war dies auch gar nicht nötig, denn die Themen der Moderne, ihre Sinnfragen und Lebensentwürfe können sich auch inmitten der alltäglichen Dinge manifestieren – vom Buchumschlag zum Teeservice, vom Reklameplakat zum Stuhl.

6.1 Von der „Freude am Unsinn“ Vom Jugendstil zum Bauhaus fanden die Gestalter ihr verbindendes Leitbild in der Philosophie Friedrich Nietzsches. Der Zertrümmerer aller Werte wurde dabei nicht nur nihilistisch-destruktiv gelesen, sondern auch als Denker einer Neugeburt aller Werte und Formen. Der Kult um Nietzsche erfasste dabei alle Disziplinen des Designs und prägte eine breite ästhetische Mentalität aus, die ich zunächst am Beispiel der visuellen Gestaltung aufzeigen möchte – von der Druckgrafik über die Illustration zur Buchkunst. Es bietet sich an, mit der Betrachtung des Bauhaus-Designs auch weitere Gattungen der Gestaltung in den Blick zu nehmen. Im Folgenden wird jedoch nicht untersucht, ob die Gestalter das Denken Nietzsches nun angemessen begriffen oder nicht. Es geht um die Rezeption seines Denkens in den Motiven der Gestaltung. Der Nietzsche-Kult in Kunst und Design setzte um 1890 ein, also noch zu Lebzeiten des Philosophen, der jedoch nervenkrank den eigenen Ruhm nicht mehr erlebte. Seiner Popularität entsprechend gab es unzählige Aufträge für Nietzsche-Büsten, -Porträts und -Denkmäler, ganze Tempelanlagen oder Gedenkhallen wurden ihm zu Ehren entworfen.6 Der Hang zum monumentalen Gedächtnisbau erreichte im Nationalsozialismus bekanntlich seinen Höhepunkt. Auf diese Ausartungen der Nietzsche-Verehrung will ich hier jedoch nicht weiter eingehen, denn 6

 gl. Jürgen Krause: „Märtyrer“ und „Prophet“: Studien zum V Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende, Berlin: de Gruyter 1984.

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die Stoßrichtung der Avantgarden war eine gänzlich andere. Die Nietzsche-Lektüre diente den Wegbereitern der Moderne dazu, mit der akademischen Salonkunst und dem erstarrten Historismus zu brechen. In den Künsten sollte eine „Umwertung aller Werte“ die neue Zeit einleiten. Der Architekt Peter Behrens sagte z. B. von seinem Erstlingswerk, dem Haus Behrens auf der Darmstädter Mathildenhöhe (1901), dass es alle Ideale verkörpere, die ihn Nietzsches Schriften gelehrt hätten. Die Reform des gesamten Lebens gelte es gerade im Bauen und Wohnen umzusetzen, denn das Haus präge unser Sein. Daher sah Behrens als den zentralen Raum der Villa nicht mehr ein traditionelles Herrenzimmer, sondern ein Musikzimmer vor, dessen Innenausstattung zahlreiche Zarathustra-Motive wie Adler, Schlange, Kristall- und Strahlensymbolik aufweist (Abb. 1). In der Architektur etablierte sich ein regelrechter „Zarathustrastil“.7 Der recht flexibel deutbare Begriff blieb vom Jugendstil bis in die expressionistische Architektur der 1920er Jahre gebräuchlich.8 Die Verlage gaben Nietzsches Werke in aufwendig gestalteten Prachtausgaben heraus, die Buchkunst des Jugendstils erreichte hier Höhepunkte wie z. B. mit Henry van de Veldes Gestaltung für Also sprach Zarathustra von 1908 (Abb. 2). Aber zu denken ist auch an van de Veldes Innenraumgestaltung des Weimarer Nietzsche-Archivs von 1903.9 All dies wäre nur der Beginn einer langen Liste der Hommagen und Zitate. Doch wofür stand nun Nietzsches Philosophie in den Augen der Gestalter? Methodisch lässt sich dies nur schwer rekonstruieren, denn es liegen kaum Aussagen darüber vor, wie man Nietzsche tatsächlich verstand. Ich möchte daher im Sinne einer Ikonologie versuchen, die visuelle Kultur um 1900 mit einer möglichen Nietzsche-Interpretation zusammenzubringen. Nietzsches Denken passt in vieler Hinsicht zum angestrebten Wertewandel in den Reformbewegungen der Gestaltung. Der Philosoph galt als Verächter

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 gl. Tilmann Buddensieg: „Also baute Zarathustra“, in: Renate Reschke, V Marco Brusotti (Hg.), „Einige werden posthum geboren“: Friedrich Nietzsches Wirkungen, Berlin: de Gruyter 2012, S. 227–252. Vgl. Daniel Schreiber: „Friedrich Nietzsche und die expressionistische Architektur“, in: Rainer Stamm, Daniel Schreiber (Hg.), Bau einer neuen Welt. Architektonische Visionen des Expressionismus, Köln: Walther König 2003, S. 24–35. Vgl. Ole W. Fischer: Nietzsches Schatten. Henry van de Velde – Von Philosophie zu Form, Berlin: Gebr. Mann 2012.

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1 Peter Behrens: Musikzimmer im Haus Behrens, Mathildenhöhe Darmstadt, 1901

2 Henry van de Velde: Buchgestaltung für Also sprach Zarathustra, 1908

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der Maschine und der Industriekultur seiner Zeit. Die radikale Bejahung des Lebens, die Nietzsche formulierte, sah er durch das Effizienz- und Zweckdenken der industriellen Produktion gefährdet. In den Fabriken, so Nietzsche, herrsche „das Gesetz der Not“10 – die knappe Kalkulation des ökonomischen Denkens töte die menschliche Lebensenergie und versklave die Arbeiter. Nietzsche lehrte hingegen die Freude am Zwecklosen, so schrieb er z. B. in Menschliches, Allzumenschliches: „Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben? So weit nämlich auf der Welt gelacht wird, ist dies der Fall; ja man kann sagen, fast überall wo es Glück gibt, gibt es Freude am Unsinn. Das Umwerfen der Erfahrung ins Gegenteil, des Zweckmäßigen ins Zwecklose, des Notwendigen ins Beliebige, doch so, daß dieser Vorgang keinen Schaden macht und nur einmal aus Übermut vorgestellt wird, ergötzt, denn es befreit uns momentan von dem Zwange des Notwendigen, Zweckmäßigen und Erfahrungsgemäßen, in denen wir für gewöhnlich unsere unerbittlichen Herren sehen; wir spielen und lachen dann, wenn das Erwartete (das gewöhnlich bange macht und spannt) sich ohne zu schädigen entladet. Es ist die Freude des Sklaven am Saturnalienfeste.“11 Die jährlichen Saturnalienfeste im antiken Rom erlaubten nicht nur Wein und Würfelspiel, sie hoben auch die gesellschaftliche Ordnung aus den Angeln. Für die Festtage lockerte sich die Moral, zeitweilig wurden sogar die Standesunterschiede aufgehoben bzw. umgekehrt, so dass die Herren nun ihre Sklaven bedienten. Diese Umkehrung der Werte gefiel Nietzsche ebenso wie den Gestaltern, denn damit wurde ein Andersmöglichsein aller Dinge praktiziert – im Leben selbst und nicht nur in der Theorie. Die Utopien der Moderne, die man heute oft kopfschüttelnd belächelt, sollte man wohl als Sehnsucht nach solchen Saturnalien lesen. Wie unrealistisch die Visionen der Gestalter auch ausfielen, sie zeigten den Willen, die bestehenden Wertvorstellungen auszuhebeln und alle

10 F  riedrich Nietzsche: „Die Fröhliche Wissenschaft“, in: ders., Werke, hg. von Karl Schlechta, Bd. 2, 3. Aufl., München: Hanser 1962, S. 65. 11 Friedrich Nietzsche: „Menschliches, Allzumenschliches“, in: ders., Werke, hg. von Karl Schlechta, Bd. 1, S. 572.

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3 Walter Crane: Die Pferde des Neptun, 1892

vermeintlichen Sachzwänge zu unterlaufen. Das Nietzscheanische dieser Utopien bestand also nicht darin, dass man die erträumte Welt wiederum als neue und einzig richtige Ordnung zu etablieren suchte. Im Gegenteil, die nihilistische Vision zielte vielmehr auf einen Zustand der Offenheit, der Unbestimmtheit, der Kippmomente, des jederzeit möglichen Umschlagens ins Gegenteil – bis hin zur Zerstörung. Mit dem Jugendstil wurde das Kämpfen und Ringen der Energien und Kräfte zum Ideal der Künste erhoben. Die Skepsis der Gestalter war nicht am Sieg einer Seite interessiert, sondern am Offenhalten aller Gegensätze. Der stete Kampf der Kräfte wurde z. B. im Wellenmotiv ausgedrückt, das insbesondere den Jugendstil prägte. Die Welle vollzieht jenes Kippmoment, in dem sich ein endloser Kreislauf des Aufbäumens und Zerbrechens immer von Neuem vollzieht. So verlocken die vielgezeigten Pferde des Neptun (1892) des britischen Malers und Illustrators Walter Crane zur doppelten Deutung (Abb. 3): Die entfesselte Kraft der Natur bildet einerseits den Nährboden alles Heroischen, hier im Pferdemotiv kulminierend. Andererseits könnte man die armen Tiere auch bemitleiden, da sie im nächsten Moment qualvoll aufschlagen werden. Wird hier sprühende Lebenskraft oder Todespanik symbolisiert? Das eine scheint im anderen immer schon enthalten. Das Dasein wird im Jugendstil zu einer ewigen Metamorphose, zum anhaltenden Moment des Andersmöglichseins. Jeder Pose ist die Kontingenz bereits eingeschrieben. Die geschwungene Linie, die aufsteigt und abfällt, die nie verrät, in welche Richtung sie sich als nächstes bewegen wird, bildet daher das zentrales Motiv der Epoche. Und so verwundert es nicht, dass auch der Jugendstil seine zwei Seiten hat: Neben der vegetabil verschlungenen Organik trifft man auf Ritter und Reiterhelden, auf Kämpfer und Krieger, denen man leicht das Größenwahnsinnige, Monumentale, Nationalistische oder Faschistische

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4 Peter Behrens: Plakat zur Ausstellung des Deutschen Werkbunds in Köln, 1914

nachweisen kann, für das man auch Nietzsche verantwortlich macht. Die Plakatgestaltung von Peter Behrens für die Werkbundausstellung von 1914 erzeugt ein solches Unwohlsein beim heutigen Betrachter (Abb. 4). Der hier abgebildete Übermensch entspringt einer Helden- und Kriegerverehrung, die uns kaum mehr geheuer ist. Aber wie sollte dieser Reiter sein Pferd überhaupt unter Kontrolle haben? Seine geballt Faust vermag es nicht sicher zu führen, so wie die Fackel kaum als gezielte Waffe eingesetzt werden kann, sondern im nächsten Augenblick einen unkontrollierbaren Flächenbrand auszulösen droht. Der Held scheint das Geschehen nicht selbst in der Hand zu haben, die Energien haben sich geradezu verselbstständigt. Symbolisch bekennt sich der Deutsche Werkbund hier zur Zerstörung alles Bestehenden, um aus den Trümmern das Neue bzw. Moderne entstehen zu lassen. Die Künstler und Gestalter, von denen viele freiwillig in den Ersten Weltkrieg zogen, sahen offenbar die Notwendigkeit, ihre Ziele auch mit kriegerischen Mitteln durchzusetzen. Der Topos der totalen Zerstörung bedeutete jedoch das Ende des Jugendstils, er ließ nichts mehr übrig vom Kippmoment, von jener Ambivalenz und Offenheit, um die es der Bewegung zunächst ging. Und so ist es kein Zufall, dass im Werkbundstreit von 1914 die Funktionalisten um Muthesius den Sieg errangen. Ihr Rationalismus vertrug keine Zweideutigkeit mehr, von Nietzsches Kritik an der Maschine hatte man sich denkbar weit entfernt.

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6.2 Die Zeitschrift Pan: Ein Gesamtkunstwerk der Ambivalenz Das Kippmoment der schöpferischen Zerstörung sei hier am Beispiel der Zeitschrift Pan untersucht. Das Magazin erschien von 1895 bis 1900 in Berlin und gilt als einflussreichstes Organ des deutschen Jugendstils.12 Es vereinte tatsächlich alle Künste – von der bildenden Kunst zur Gestaltung, von der Literatur zur Musik. Der wilhelminischen Kulturpolitik stand die Redaktion kritisch gegenüber, man beklagte die Folgen der industriellen Produktion als beschleunigten Geschmacksverfall und suchte dem Missstand durch ein neues ästhetisches Bewusstsein bzw. eine entsprechende Qualitätssteigerung in den Künsten entgegenzuwirken. Die Zeitschrift richtete sich folglich nicht an die Allgemeinheit, sondern an die elitären Kreise gebildeter Künstler und Kunstkenner. Wie das Titelbild bereits deutlich macht (Abb. 5), gilt es, den akademischen bzw. apollinischen Traditionen den Geist des Marsyas bzw. Pan gegenüberzustellen, eine dionysische Kraft, die alle überkommenen Gewissheiten und Werte

5 Titelbild der Zeitschrift Pan, 1895

12 A  lle Ausgaben der Zeitschrift Pan sind online einzusehen unter http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/pan

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zu zersetzen weiß. Nietzsche wiederum erweist sich in den Pan-Ausgaben als allgegenwärtig: Der erste Beitrag des ersten Heftes war ein Auszug aus Also sprach Zarathustra, und auch in den folgenden Ausgaben wurden Nietzsche-Texte von den unterschiedlichsten künstlerischen Hommagen begleitet. Die Programmatik der Pan-Hefte erweist sich jedoch als verwirrend. Die zusammengestellten Themen und Werke stehen stets für sich, sie werden nicht erläutert oder besprochen. Den roten Faden muss der Leser sich selbst legen. Nur dem eingeweihten, nietzschegeschulten Betrachter wird ein deutbares visuelles System angeboten, in dem man sich allerdings labyrinthisch verstricken kann. Das erste Pan-Heft von 1895 hat z. B. Königsund Ritterlegenden zum Thema, romantisch bis an die Grenzen des Kitsch gesteigert, eignen sich die Motive gut für die Darstellung von Ambivalenz: Der Legende nach tritt der Ritter Ruggiero eigentlich auf, um Angelika aus den Fängen des Drachen zu befreien. Aber der gezeigte Druck von Arnold Böcklin (1879/80) weckt durchaus Zweifel, ob Angelika das überhaupt recht war (Abb. 6). Sie scheint mehr Angst vor dem schwarzen Ritter als vor dem Drachen zu haben. Aus dem Rittermärchen wird eine Reflexion über die Geschlechterverhältnisse – aber mit welcher Aussage? Die überzogene theatralische Form, die Böcklin häufig wählte, lässt eine gebrochene Lektüre ebenso zu wie eine buchstäbliche Deutung. Die Heldensage kippt hier ins Burleske – aber das kann man natürlich so oder so sehen. In den Pan-Ausgaben finden sich neben den theatralisch übersteigerten Märchen und Mythen aber auch Werke des Naturalismus. Nach Nietzsche dürfte Theodor Fontane der präsenteste Autor in Pan sein. Die Jugendstil-Zeitschrift bekannte sich also auch zu Themen des sozialkritischen Realismus. Die realitätsferne Mittelalterromantik samt ihrer Heldenverehrung wurde immer wieder an ungeschönten Darstellungen des harten Alltagslebens gebrochen. Der Dualismus von Realismus und Symbolismus, das Ringen von l’art pour l’art und Sozialkritik war redaktionelle Strategie – es ging nicht darum, sich für eine Seite zu entscheiden. Im Gegenteil, um das Kämpfen der Kräfte nihilistisch zu steigern, fügte man noch eine dritte Komponente hinzu, ein lachendes Drittes gewissermaßen – ironisch, absurd oder grotesk. ­­Die Königs- und Ritterromanzen des ersten Pan-Hefts von 1895 finden sich z. B. kontrastiert mit den lustigen Versen einer Tanzgilde, illustriert mit Zwergen- oder Narrenfiguren (Abb. 7), gefolgt von einem Trinklied nebst bacchantischem Gelage (Abb. 8). So dichtet Richard Dehmel:

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6 Arnold Böcklin: Ruggiero befreit Angelika aus den Klauen des Drachen, 1879/80

7 Otto Julius Bierbaum (nach Arne Garborg): Die Tanzgilde, Pan, Nr. 1, 1895

8 Richard Dehmel: Das Trinklied, Pan, Nr. 1, 1895

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„Noch eine Stunde, dann ist Nacht, trinkt, bis die Seele überläuft, Wein her, trinkt! Seht doch, wie rot die Sonne lacht, die dort in ihrem Blut ersäuft, Glas hoch, singt! Singt mir das Lied vom Tod und vom Leben, dagloni gleia glühlala! Klingklang, seht: schon knicken die Reben, aber sie haben uns Trauben gegeben, walla hei! […] Mund auf, lacht! das ist zwar sündlich, klingklang, sündlich! aber eben: trinken und lachen kann man blos mündlich, walla hei!“13 Wie sollte ein solches Säuferlied der angestrebten Qualitätssteigerung der Künste dienen? Man muss, um das zu verstehen, auf den antiken Bocksgott blicken. Im Lachen über Leben und Tod wirken die Saturnalien des Geistes, die jede Ordnung unterlaufen. Das Dionysische zersetzt jedes Bekenntnis, jede Sicherheit. Die Absage an einheitliche Ordnungsprinzipien zieht sich auch als grafisches System durch die Pan-Ausgaben. Die typografische Gestaltung wechselt mit jedem Text, sie setzt sich sozusagen aus Stilbrüchen zusammen: Vom individuellen Duktus einer Handschrift über altertümliche Frakturschriften zu moderner Leseschrift, hier dynamisch kursiv gesetzt, dort mit Initialen, Miniaturen und Bordüren aus der mittelalterlichen Buchkunst durchsetzt. Der permanente Regelbruch scheint letztlich die einzige Regel zu sein. Und doch waltet keine Willkür: Die gewählte Typografie folgt stets dem Thema, sie unterstützt die Botschaft – der Buchstabe hat Anteil an der Poesie. Das entspricht bereits dem Grundgedanken moderner Schriftgestaltung. Die Philosophie, so kann man nur folgern, bot dem Jugendstil eigentlich keinen Halt, sie

13 R  ichard Dehmel: „Das Trinklied“, in: Pan 1 (1895), S. 14b sowie http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/pan1895_96_1/0026

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steigerte die Unsicherheit des Wissens vielmehr – und jene Abgründe des Denkens galt es auch darzustellen: Das Scheitern des Wissens an sich selbst thematisiert z. B. Max Klingers Radierung Der Philosoph (um 1885) im zweiten Pan-Heft von 1895 (Abb. 9). Kurz vor dem Gipfel, der allerdings vom Bildrand abgeschnitten ist, hat Klingers Philosoph noch einen Haken gefunden. Doch an diesem hängt der offensichtlich größenwahnsinnige, schlecht gerüstete Wanderer wohl nicht mehr lange. Die Brille ist ihm schon von der Nase gerutscht, der Rest wird sicher bald folgen. Im Schnee taucht die mahnende Inschrift „Sciens Nescieris“ auf („Obwohl du zu wissen meinst, weißt du nichts.“), die aus der Sicht des Betrachters auf dem Kopf steht, für den Protagonisten aber den Grund seines Absturzes anzudeuten scheint. Nur wer macht ihm diesen Vorwurf eigentlich? Warnt hier ein höherer Gott vor der Hybris – obwohl Götter doch schon totgesagt waren? Oder spricht hier die Gesellschaft (wie in Nietzsches Topos von den „letzten Menschen“), die den Philosophen am Höheren und Höchsten zu hindern sucht und ihn dort oben verhungern lässt, weil sie ihn nicht verstehen will? Mir scheint, die Ambivalenz war gewollt. Nur zwei Seiten vor der Klinger-Radierung fand der Pan-Leser eine Illustration von Ernst Moritz Geyger (Abb. 10) neben einem Tage-

9 Max Klinger: Der Philosoph, um 1885

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10 Ernst Moritz Geyger: Der Riese, Pan, Nr. 2, 1895

bucheintrag Nietzsches vom 21. April 1888 mit dem Titel Der Riese. Wir sehen eine heroische, geflügelte Figur auf einem Sockel mit der Inschrift „Dem Großen“. Zu Füßen des Helden knabbern jedoch allerlei Fabelwesen an dessen Ruhm. Sie wollen den Sockel umstürzen und veranstalten unten rechts im Bild sogar eine Bücherverbrennung – vermutlich seiner Lehren. In Nietzsches Text unterhalten sich zudem einige Zwerge darüber, wie sie den Riesen am „rieseln“ hindern könnten. Er dürfe nichts Großes tun, sonst löst er eine „Sandflut“ aus. Daher beratschlagen sie, ihn zu kitzeln und zu beißen – so der merkwürdige Text. Wer, so kann man nur fragen, macht sich hier eigentlich lächerlich? Auf welcher Seite stehen Autor und Illustrator überhaupt? Die Zwerge bzw. Fabelwesen sind recht alberne Rebellen, sofern sie das kanonische Wissen stürzen wollen. Aber auch der großartig geflügelte Übermensch kippt ins übertrieben Pathetische. Keine Seite taugt hier zum Helden. Man kann eigentlich nur auf Nietzsches „Freude am Unsinn“ zurückkommen: Wenn zwei sich streiten, lacht der Dritte. Aus den Dualismen des Jugendstils kam man aber nicht immer so heiter heraus. Der Farbholzschnitt Der Kuss (1898) von Peter Behrens aus dem zweiten Pan-Heft von 1898 liest sich eher als Symbol einer beunruhigenden Nichtentscheidbarkeit (Abb. 11). Was auf den ersten Blick noch als innige Umarmung daher kommt, entwickelt bei näherem Hinsehen

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zahlreiche Irritationen: Hier umarmen sich zwei Gleiche. Um welches Geschlecht es sich dabei handelt, bleibt ebenfalls uneindeutig. Zwar kann man verschiedenfarbige Haare aus den beiden Köpfen sprießen sehen, es geht also nicht um narzisstische Selbstliebe. Aber die Haare weben sich immer wirrer ineinander, die Verfilzung entwickelt etwas Bedrohliches. Das destruktive Moment der Umschlingung könnte dazu führen, dass gleich beide Seiten ihre Identität verlieren. Dieses gesteigerte, beschleunigte oder unentscheidbare Hin- und Herkippen der Dualismen bildete ein zentrales Moment der Zerstörung im Jugendstil. Was man sicher zu sehen oder zu wissen glaubt, zerfällt im nächsten Augenblick. Die grotesken Inspirations- und Assoziationsketten verweisen aber auch auf ein kreatives Moment: Über das Ringen der Dualismen hinaus entdeckte man damals eine nie endende Lebens- bzw. Schöpfungskraft in Kunst und Natur. Diese passt durchaus zu Nietzsches „Wille zur Macht“ – allerdings sollte der Schöpfungswille nicht in Menschenhand liegen, die spezifische Kraft galt vielmehr als Eigenschaft der Natur. Der ewige Kreislauf von Leben und Tod, von Entstehen und Vergehen, so der zentrale Ge-

11 Peter Behrens: Der Kuss, Pan, Nr. 2, 1898

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danke, verfolge kein Ziel, er zerstört nicht absichtlich und zweckgerichtet, er halte sich nur selbst am Leben als ureigener Schöpfungswille der Natur. Der berühmte Wandbehang von Hermann Obrist (Abb. 12), der in der fünften Pan-Ausgabe von 1896 besprochen wurde, mag dies veranschaulichen: Aus heutiger Sicht sieht man darin wohl eine zarte Seidenstickerei mit dekorativ geschwungen Linien. Der Titel „Cyclamen“ bzw. „Alpenveilchen“ verweist auf die heimische Pflanzenwelt. In der sonst auf Erläuterungen weitgehend verzichtenden Zeitschrift findet sich in diesem Fall ein längerer Begleittext. Der Autor, Georg Fuchs, lobt den Wandbehang als handwerkliches Meisterwerk und beschreibt sein Motiv als ästhetische Revolution: „Wie die jähen, gewaltsamen Windungen der Schnur beim Knallen eines Peitschenhiebes erscheint uns diese rasende Bewegung. Bald dünkt uns ein Abbild der plötzlichen, gewaltsamen Elemente: Ein Blitz, – bald der trotzige Namenszug eines großen Mannes, eines Eroberers, eines Geistes, der durch neue Urkunden, neue Gesetze gebietet.“14 Wie kann ein Betrachter angesichts dieser harmlosen Alpenveilchen an zerstörerische Energien und Eroberer denken? Die heute so befremdliche Lesart traf einst den Nerv der Zeit: Sie wurde so berühmt, dass man das Werk fortan „Peitschenhieb“ nannte, und dieser Titel wird bis heute mitgeführt. Die Einfühlung hatte im Jugendstil Methode. Gestützt etwa auf die ästhetische Theorie des Psychologen Theodor Lipps galt das subjektive Empfinden als legitimes Mittel der Kunstwahrnehmung. Auch in der Gestaltung galt als vorbildlich, was uns direkt anspricht und die unmittelbare Erregung des Betrachters auslöst. Denn im Fühlen gebe es kein Richtig oder Falsch, das reine Empfinden kennt keine kulturellen Werturteile und auch keine Epistemologien. In Obrists Alpenveilchen erfahre der Betrachter die wahre Schöpfungskraft der Natur, zerstörend und erobernd, Ordnung vernichtend und aufbauend zugleich. Dieses Bild der Natur als ewige Kraft- und Willensäußerung wird im Jugendstil auch auf die Künste übertragen: Alles Kreative schöpfe sich allein aus 14 G  eorg Fuchs: „Hermann Obrist“, in: Pan 5 (1896), S. 318–325, hier: S. 324 sowie http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ pan1895_96_2/0237

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12 Herrmann Obrist: Cyclamen, Pan, Nr. 5, 1896

sich selbst heraus. Im ersten Pan-Heft von 1897 findet sich dazu der aufschlussreiche Artikel des Berliner Dichters, Lebensreformers und Kritikers Julius Hart mit dem Titel Die Kunst als Lebenserzeugerin. Sein Essay präsentiert eine Kunsttheorie, die mit Nietzsche, Haeckel und Darwin sowie Versatzstücken des Monismus und Pantheismus argumentiert. Sein Ziel ist eine Naturphilosophie, aus der heraus man auch die Künste erklären kann. Harts Gedanke lässt sich wie folgt zusammenfassen: Mit dem Tod Gottes gibt es keinen Schöpfer der Natur mehr, sie muss folglich als „Eigenschöpferin“ begriffen werden. Alle Kräfte liegen in ihr selbst. Wenn aber von außen nichts Neues mehr dazu kommt, weil alles schon gegeben ist, gibt es auch kein tatsächliches Absterben mehr. Die einzig verbleibende Kraft ist die unendliche Zeugung, ein unaufhörliches „Wandeln und Werden“ – so Hart: „Die großen Vermählungsprozesse der Natur, aus denen ein Neues entsteht, tragen einen stürmischen Charakter und vollziehen sich wie unter starken Erregungen. Wild gährt, brodelt und braust es in der chemischen Retorte, bis sie unter heftigem Knall zerspringt. Wie ein Kampf der Kräfte untereinander ists, ein leidenschaftliches Ringen

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hinüber und herüber. Das Lebensgefühl des Organismus scheint aufs Höchste gesteigert zu sein, all seine Energie strafft er zusammen und auf seine ganze Stärke besinnt er sich.“15 Das Neue in der Natur ist somit nicht tatsächlich neu, sondern nur eine Neuverbindung, Umformung bzw. Neugestaltung des Bestehenden. Das Neue ist nur ein zerstörtes Altes. So fährt Hart fort: „Kranken und Gesunden ist eins, höchste Daseinsfreude und Daseinsschmerz ringen miteinander. Alle Leidens- und Lustempfindungen gehen in einander über, lösen sich gegenseitig auf und verschmelzen miteinander, Lust wird zum Leiden, Leiden zur Lust. […] bis der Kampf der Umwandlung sich vollzogen hat und der tiefste Friedens- und Seligkeitszustand, das Bewusstsein der Erhabenheit über Freude und Schmerz durch den Organismus sich ausbreitet. Ist nicht auch die Kunst in ihrem tiefsten Wesen nur ein solcher Schöpfungsvorgang?“16 Alle Gestaltungs-, Verwandlungs- und Zeugungsvorgänge, so Hart, sind grundsätzlich künstlerische Vorgänge. Diese Kreativität der Natur, erbauend und zerstörerisch zugleich, bildet auch das Prinzip der Kunst. So schließt Hart: „Das Leben ist künstlerisch und erzeugt Kunst, ein Künstler ist unser Geist und die Kunst gebiert Leben. Wie alle Schöpfungsprozesse ist auch der dichterische ein großer Umformungs- und Neugestaltungsakt.“17 Nur davon, dass die Umwandlungen ewig ringen, können wir sagen, dass es nie aufhört. Das Prinzip eines dauerhaft Absoluten wird damit unmöglich – für den Übermenschen ebenso wie für den Tod, für die Moral ebenso wie für das Wissen. Der Tod Gottes war bereits seit der Aufklärung immer wieder ausgerufen worden, er beeindruckte die Gestalter aber offenbar weniger als Nietzsches Leistung, den Tod selbst für tot zu erklären. Denn eine Natur, die sich permanent selbst wieder hervorbringt, stirbt letztlich nicht. Seltsam

15 J ulius Hart: „Die Kunst als Lebenserzeugerin“, in: Pan 1 (1897), S. 34–39, hier: S. 34 sowie http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ pan1897_98_1/0043 16 Ebd., S. 34f. 17 Ebd., S. 39.

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untote Knochenmänner, die am Meeresstrand kurz pinkeln gehen (Abb. 13) oder sich auf Eisenbahnschienen legen, um sich von einem Zug überrollen zu lassen (Abb. 14), findet man z. B. auch in Max Klingers Zyklus Vom Tode von 1889 (beide jedoch nicht in Pan). Gevatter Tod wird hier als menschlich und dauerhaft lebendig gezeigt. Er kann so oft Selbstmord begehen, wie er will, das ewige Leben steckt auch in ihm. Der Tod ist selbst ein Wiedergänger der Natur, er gehört zur zeugenden Schöpfungskraft, allerdings zu ihrer zerstörerischen Seite. Sowie auch Nietzsches Zarathustra vergeblich versucht, als Mensch unterzugehen, um endlich ein Übermensch zu werden. Stets wacht er morgens auf und spürt neue, unermessliche Lebensenergien in sich. Die Zerstörung des Menschen gelingt einfach nicht. Das Sterben klappt in der Moderne nicht mehr, denn die Natur hört nicht auf, sich am Leben zu erhalten. Der Tod des Todes bzw. die Geburt von ewigen Wiedergängern avancierten um die Jahrhundertwende auch zu beliebten Motiven der Populärkultur: Bram Stoker veröffentlichte seinen Dracula-Schauerroman 1897 – zur Blütezeit des Jugendstils. Die Figur des Vampirs, die fortan die Phantasmen beflügeln wird, steht bekanntlich für jene Mischung aus Unsterblichkeit, übermenschlicher Körperkraft, Sexual- und Lebensenergie – und als Blutsauger natürlich auch für Zerstörung. In Ver Sacrum, der wichtigsten Zeitschrift der Wiener Seccession (1898–1903), zeigte der Maler, Musiker und Dichter Ernst Stöhr 1899 einen weiblichen Vampir, dem das Verschmelzen von Todes- und Lebensenergien als bedrohlich lachende Ambivalenz mitgegeben ist (Abb. 15). So wie die Darstellungsform dieser Tuschezeichnung ihrerseits zwischen Comic und Kunst, zwischen high & low zu schwanken scheint. Aber auch im realen Alltag erfuhr die Gesellschaft neue Dimensionen ihrer Kraft: Maschinen und Motoren von Eisenbahnen und Automobilen sowie die allgemeine Elektrifizierung ließen glauben, dass man die Energien des Lebens nun zu steuern weiß.18 Betrachtet man z. B. die AEG-Reklame vom Historismus (Abb. 16) bis zu Peter Behrens’ grundlegender Neugestaltung der Firmengrafik (Abb. 17), so erscheint selbst eine gewöhnliche Glühbirne als technisches Wunder: Man erlebte mit der Verbreitung des elektrischen Lichts die regelrechte Abschaffung der 18 V  gl. Christoph Asendorf: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen: Anabas 1984.

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13 Max Klinger: Der pinkelnde Tod, um 1880

14 Max Klinger: Auf den Schienen, um 1889

15 Ernst Stöhr: Vampir, Ver Sacrum, Nr. 12, 1899

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16 Louis Schmidt: Werbeplakat für die AEG Berlin, 1888

17 Peter Behrens: Werbung für die AEG-Metallfadenlampe, 1907

Nacht. Den Bruder des Todes hatte man schon in seine Gewalt gebracht, Grund genug, sich dem Übermenschen ein wenig näher zu fühlen. Allerdings verdrängte man mit dem Zusammenfall von Tod und Schöpfungskraft auch die Angst vor der Zerstörung. Wenn der Tod seine Endgültigkeit verloren hat, könne man ihm doch entgehen, so der Trugschluss. Die allgemeine Kriegsbegeisterung 1914 mag sich auch daraus erklären. Der reale Ausbruch des Krieges – eine mächtige Wiedereinführung des Todes – bedeutete nicht von ungefähr das jähe Ende des Jugendstils. Die Philosophie der Ambivalenz konnte die Eindeutigkeit jener neuen Gewalt nicht erfassen. Der Expressionismus in der Gestaltung, der anders als in der bildenden Kunst erst nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte, nahm diese Motive aber umgehend wieder auf – nun weniger zweideutig, aber umso utopischer. Auf der einen Seite folgte man einer zackig zerklüfteten oder geometrisch zersplitterten Formensprache mit entsprechenden Strahlen-, Grals- und Kristallmotiven, auf der anderen Seite griffen die Gestalter das Vegetabile, Keimende und Organische der biomorphen Jugendstil-Linie wieder auf. Als ebenso „untot“ erwies sich die Nietzsche-Rezeption, denn sie griff nun auf weitere gestalterische Positionen über, die stilgeschichtlich ganz anders vorgingen.

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6.3 Das schwebende Bauhaus Auch am 1919 in Weimar gegründeten Bauhaus las man Nietzsche, um der Moderne nach dem Krieg ein neues Gesicht zu geben. Das Effizienzdenken, die Mobilitäts- und Geschwindigkeitsdiskurse sowie alle technisch-medialen Neuerungen vom Flugzeug bis zum Kino galt es mit einer neuen zeitgemäßen Formensprache zu beantworten. Die zerstörerischen Kräfte dieser Dynamik hatte man im Krieg erfahren müssen, nun sollten sie in positivere Energien umgewandelt werden. Am Bauhaus bildete sich daher ein neues Leitthema heraus: Die Schöpfungskraft sollte sich entmaterialisieren, um als reine Energie in den Dingen wirken zu können. Die Gestaltung verhandelt nun ein immerwährendes Ringen von Materiellem und Immateriellem. Strahlen-, Licht- und Energiewerdung hatten, wie gesehen, bereits die Themen des Jugendstils bestimmt, aber erst am Bauhaus wusste man diese Kräfte abstrakter zu gestalten als in allegorischen und symbolistischen Darstellungen. Die Anfänge der Schule gingen zunächst vor den Jugendstil zurück: Um sich von der Dekadenz des Fin de Siècle abzusetzen, berief sich die Bauhaus-Programmatik zunächst auf die handwerklich geprägten Reformbewegungen und ihre Rückwärtswendung der Künste. So war das 1919 von Walter Gropius verfasste Gründungsmanifest der Schule von einem Holzschnitt Lyonel Feiningers begleitet (Abb. 18): Das Sinnbild der Kathedrale stand für die mittelalterliche Dombauhütte, mit dem Ziel, das Zusammenwirken aller Künste bzw. von Kunst und Handwerk zu beschwören. Das Strahlenmotiv nimmt aber schon die Energien des Immateriellen voraus, die es nun zu entwickeln gilt. Im Lauf der 1920er Jahre wandte man sich aber vom rein Handwerklichen ab, um den Diskursen der Sachlichkeit zu folgen (was freilich nicht unumstritten blieb, so dass widersprüchliche Positionen parallel existierten). Die Ästhetik des Industriellen bestimmte nun immer häufiger die Entwürfe, die bei näherem Hinsehen aber längst nicht so funktional und sachlich ausfielen, wie rhetorisch von manchen Bauhaus-Meistern behauptet. Das berühmte Teeservice von Marianne Brandt (1924) mag man aufgrund seiner schlichten und reduzierten Form als praktisch und funktional preisen (Abb. 19). Aber aus reinem Silber und mit Griffen aus feinstem Ebenholz gefertigt, war es die kostbarste Arbeit, die je am Bauhaus entstand. Sie eignete sich weder für die Serie noch für das tägliche Spülen

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18 Lyonel Feininger: Illustration zum Bauhaus-Manifest, 1919

im Haushalt. Die Losung „Volksbedarf statt Luxusbedarf“ von Hannes Meyer, der Gropius 1928 als Direktor ablöste, wurde entwerferisch eigentlich nie eingelöst. Die Bauhaus-Produkte blieben elitär und teuer, da ihre Ästhetik vom breiten Publikum nicht verstanden wurde.19 Das Ziel, das Leben der Massen durch Gestaltung zu reformieren, blieb eine Utopie, da man sich weder dem Geschmack des Volkes noch den ökonomischen Bedingungen der Produktion unterwerfen wollte. Was motivierte die Bauhaus-Meister also tatsächlich in ihren Entwürfen? Wie konnten sie ihr esoterisch-spirituell,20 reformpädagogisch-rituell und allem voran nietzscheanisch geprägtes Denken mit dem Ideal einer neuen Industriekultur verbinden? Es würde zu weit führen, hier die einzelnen Meister und ihre jeweiligen Positionen zu analysieren – z. B. von Johannes Itten, dem bekennenden Anhänger des altpersischen Zoroastrismus, zu Walter Gropius, der Nietzsche vor allem für die Beschwörung des indus-

  19 S  iehe dazu Robin Schuldenfrei: „Luxus, Produktion, Reproduktion“, in: Anja Baumhoff, Magdalena Droste (Hg.): Mythos Bauhaus, Berlin: Reimer 2009, S. 71–90. 20 Vgl. Christoph Wagner (Hg.): Das Bauhaus und die Esoterik, Bielefeld: Kerber 2005.

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19 Marianne Brandt: Teekanne MT 49, 1924

triellen Aufbruchs heranzog.21 Die einzelnen Auslegungen und Ideologien besagen letztlich nur wenig über die tatsächliche Entwurfstätigkeit. Daher möchte ich zwei Stellen aus Nietzsches Zarathustra heranziehen, um den thematischen Bogen zum neuen Leitbild der Entmaterialisierung herzustellen. Kraft und Energie, Schöpfungs- und Willensdrang werden bei Nietzsche nicht mithilfe materieller Dinge bzw. technischer Werkzeugen und Medien umgesetzt, sie streben nach Höherem als die dumpfe Materie. Daher sprach auch Zarathustra: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde. Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief, feierlich; es war der Geist der Schwere – durch ihn fallen alle Dinge. Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man. Auf, lasst uns den Geist der Schwere töten! Ich habe gehen gelernt: seitdem lasse ich mich laufen. Ich habe fliegen gelernt: seitdem will ich nicht erst gestoßen sein, um von der Stelle zu kommen. Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch mich. Also sprach Zarathustra.“22

21 P  eter Bernhard: „Ich-Überwindung muss der Gestaltung vorangehen. Zur Nietzsche-Rezeption des Bauhauses“, in: Andreas Urs Sommer (Hg.): Nietzsche –Philosoph der Kultur(en)?, Berlin: de Gruyter 2008, S. 273–282. 22 Friedrich Nietzsche: „Also sprach Zarathustra“, in: ders., Werke, hg. von Karl Schlechta, Bd. 2, S. 307.

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Der teuflische Geist der Schwere herrscht natürlich auch in den Materialien der Gestaltung. Wie kann man sie leicht und schwerelos werden lassen? Wie lässt sich die Materie überwinden, um die eigentlichen Schöpfungskräfte freizulegen? Dazu weissagte Zarathustra: „Wer die Menschen einst fliegen lehrt, der hat alle Grenzsteine verrückt; alle Grenzsteine selber werden ihm in die Luft fliegen, die Erde wird er neu taufen – als die ‚Leichte’.“23 Die Alchimie der modernen Gestaltung wollte unsere Dinge und Bauten aufwirbeln und fliegen lassen. Licht und Transparenz, abstrakte Kinetik und Organik sollten den Gegenständen und Räumen die Schwere nehmen und sie als flexible, geradezu fluide Kontinua neu organisieren. Diese Dynamik des Fliegens und Schwebens faszinierte auch andere Strömungen der Avantgarde wie z. B. die russischen Konstruktivisten und Suprematisten, zu denen das Bauhaus rege Verbindungen unterhielt. So wurde der Essay Die gegenstandslose Welt von Kasimir Malevich 1927 in den von Gropius und Moholy-Nagy herausgegebenen Bauhausbüchern publiziert. Die Materie der Dinge aufheben zu wollen führte natürlich oft ins Utopische – oder auch zu Nietzsches Freude am Unsinn. So konzipierte Marcel Breuer einen Film, der die Entwicklung seiner Stuhlentwürfe aus den letzten fünf Jahren präsentieren sollte. Im ersten Bauhaus-Heft von 1926 schaltete er dazu eine Annonce (Abb. 20): „Autor“ des Films sei „das Leben, das seine Rechte einfordert“, und Breuer der „Operateur“, der „diese Rechte anerkennt“, so der Text. Er habe den Schöpfungskräften der Natur gehorcht und nicht den kulturellen Konventionen, so könnte man diese Zeilen deuten. Die Bilderreihe illustriert von oben nach unten die folgende Evolution: Am Anfang des Bauhaus-Schaffens stand der Afrikanische Stuhl, den Breuer 1921 mit der Weberin Gunta Stölzl fertigte. Das thronartige Möbel verehrte noch die Königs- bzw. Heldenvorstellung und den materiellen Geist des Handwerks – aber rauer und ursprünglicher als die Vorläufer der Reformbewegung. Dieser erste Schritt wird von Breuers Lattenstühlen abgelöst, die bereits ein abstraktes und additives Zusammenfügen von Horizontalen und Vertikalen erkennen lassen. Das Material wird nur noch sparsam eingesetzt, die formale Abstraktion unterstützt die neue Leichtigkeit. Im berühmten Klubsessel B3 von 1925, der den Beinamen „Wassily“ erhielt, vollendete Breuer dieses

23 Ebd., S. 440.

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20 Marcel Breuer: Annonce für seinen Film über die Entwicklung des Stuhls am Bauhaus, 1926 (Ausschnitt)

21 Josef Albers: Fruchtschale, 1923

22 Wilhelm Wagenfeld: Teekanne für Jenaer Glaswerk Schott & Gen., 1931

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Prinzip mit einer Konstruktion aus gebogenem Stahlrohr und Stoff. Die Masse scheint zu entschwinden – in einem losen Gefüge aus Linien, Streifen und Ebenen, die eine transparente Leichtigkeit erzeugen. Das Sitzen soll zum Fliegen werden, gehalten von einem minimalen, schwingenden Rahmen. Den Gipfel des Schaffens will Breuer aber erst mit dem Ende des Stuhls erreicht sehen, das er mit Fragezeichen in der nahen Zukunft verortet. Neben dem untersten Bild, das eine schwebende Frau im Nichts zeigt, steht als Begleittext: „Es geht mit jedem Jahr besser und besser. Am Ende sitzt man auf einer elastischen Luftsäule“.24 Das Streben nach Entmaterialisierung sollte am Bauhaus in allen Disziplinen der Gestaltung umgesetzt werden. Ein Gefäß muss zwar ein Gefäß bleiben, um etwas zu bergen. Aber die Fruchtschale von Josef Albers aus dem Jahr 1923 bringt durch den Glasboden das Obst in eine Art Schwebeposition (Abb. 21). Auf eine geschlossene Seitenwand wird verzichtet, der rahmende Ring scheint leicht angehoben über den drei Kugeln zu fliegen. Die Reduktion auf die geometrischen Grundformen von Kreis und Kugel dient hier sicher nicht der Funktionalität, sondern der Auflösung der gewohnten Formen durch Abstraktion bzw. Entdinglichung. Oder man denke an die berühmte Teekanne des Bauhaus-Absolventen Wilhelm Wagenfeld, die 1931 entstand, als er die Schule längst verlassen hatte (Abb. 22). Wer heute eine solche Kanne besitzt, weiß wohl, wie unpraktisch sie ist: Die Teeränder sind immer zu sehen, und beim Spülen hat man auch keine Freude, in die Tülle kommt man nur mit einer schmalen Spezialbürste hinein. Jede blickdichte Kanne würde dem Benutzer viel Arbeit ersparen. Andererseits könnte eine Teestunde mit dieser Kanne nicht ästhetischer ausfallen. Man sieht den Tee förmlich im Nichts fliegen, wie von einer unsichtbaren Kraft gehalten. Wege, die Materie zum Schweben zu bringen, fand man auch in der Skulptur, die sich anfangs schwer tat mit Nietzsches Ideal, den Geist der Schwere zu überwinden.25 László Moholy-Nagy gelang dies z. B. im Rahmen seiner kinetischen Kunst: Der Licht-Raum-Modulator (1922–1930) wird in einem kubischen Kasten präsentiert, der auf der Vor-

24 V  gl. die Abbildung der Annonce in Jeannine Fiedler, Peter Feierabend (Hg.): Bauhaus, Potsdam: Tandem/h.f. ullmann 2006, S. 21. 25 Vgl. Paul Paret: „Die Bauhaus-Moderne und das Problem der Plastik“, in: Anja Baumhoff, Magdalena Droste (Hg.): Mythos Bauhaus, Berlin: Reimer 2009, S. 53–70.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

23 László Moholy-Nagy: Licht-Raum-Modulator, 1922–1930

24 Oskar Schlemmer: Metalltanz aus dem Triadischen Ballett, 1929

derseite eine kreisrunde Bühnenöffnung ausweist. Man erblickt darin ein Bewegungsspiel aus Licht- und Schattenprojektionen, das von 70 weißen und farbigen Birnen und fünf starken Scheinwerfern erzeugt wird (Abb. 23). Die Differenz von Objekt und Raum scheint aufgehoben, sie verschmelzen zu einer dynamischen Totalerscheinung. Ähnliche auflösende Effekte erzeugte z. B. auch der Metalltanz, choreografiert von Oskar Schlemmer im Triadischen Ballett von 1929 (Abb. 24). Die Körperlichkeit der abstrakt gestalteten Figuren geht in einem Licht- und Raumkontinuum auf. So schrieb Schlemmer schon 1922 über sein Konzept:

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6  Gestalten mit Nietzsche. Vom Jugendstil zum Bauhaus

25 László Moholy-Nagy: Balkone am Atelierhaus, 1926

„Das Triadische Ballett, das mit dem Heiteren kokettiert, ohne der Groteske zu verfallen, das Konventionelle streift, ohne mit dessen Niederungen zu buhlen, zuletzt Entmaterialisierung der Körper erstrebt, ohne sich okkultisch zu sanieren, soll die Anfänge zeigen, daraus sich ein deutsches Ballett entwickeln könnte […].“26 Sogar die Architektur, die wohl am stärksten an die Materie gebundene Disziplin, lässt sich von ihrer Schwere befreien, wenn man sie medial entsprechend weiterdenkt: Von unten, aus der bauhaustypischen Bauchnabelperspektive fotografiert beginnen auch Bauten zu schweben. Gerade die Balkonsituation am Prellerhaus, dem Atelierhaus in Dessau, hat im-

26 V  gl. Schlemmers Tagebucheintrag vom September 1922, Tut Schlemmer (Hg.): Oskar Schlemmer. Briefe und Tagebücher, München: Langen Müller 1958, S. 135.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

26 Louis Held: Bauhausfest im Gasthof Ilmschlösschen bei Weimar, 29. November 1924

mer wieder zu schwindelerregenden Ansichten verlockt wie z. B. in der Fotografie von Moholy-Nagy von 1926 (Abb. 25). Die Dinge von ihrer Dinglichkeit zu befreien erzeugte sicherlich keinen Gewinn an Funktionalität. Das Bauhaus schuf vielmehr eine Philosophie des Andersmöglichseins von Dingen. Auch das Unmögliche sollte möglich werden. Die traditionellen Erwartungen an das Aussehen und die Brauchbarkeit der Alltagsgegenstände wollte man hinter sich lassen. Diese Freiheiten des Entwerfens erfährt nur, wer sich lachend über die Funktion hinwegsetzt. Man ließ den Dingen Flügel wachsen, bespielte Utopien oder regte einfach nur zur Freude am Unsinn an. So z. B. auf den legendären Bauhaus-Festen, die ebenso heiter wie grotesk als regelrechte Saturnalienfeste des Designs daherkommen: „Katastrophe“, liest man auf dem Schild, das 1924 auf der Fotografie von Louis Held mittig ins Bild gehalten wird (Abb. 26).

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7 Körper, Bild, Buchstabe. Zur Sinnlichkeit der Typografie

Die Wahrnehmung von Schrift ist oft durch das Vorurteil bestimmt, sie sei doch nur zum Lesen da. Aber sehen wir nicht noch mehr, wenn wir Buchstaben betrachten? Können wir in der Typografie nicht auch eigenständige Formen und Körper entdecken, die uns ästhetisch ansprechen? Dieses Kapitel wendet sich den Bildern zu, die sich in der Schrift verstecken. Damit ist jenes Antlitz des Buchstabens gemeint, das über seine funktionale Lesbarkeit hinaus in ihm schlummert, aber meist nicht beachtet wird. Das Buchstabenbild mag im täglichen Gebrauch von Texten untergehen, doch in Kunst und Gestaltung steht es im Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Grafikdesign der 1960er und 1970er Jahre explodierten die gestalterischen Experimente zur Bildlichkeit der Typografie förmlich. Und auch im Kunstdiskurs dieser Dekade spielte die Schrift eine zentrale Rolle.1 Allerdings verfolgten Kunst und Design mit ihrer Arbeit am Schriftbild recht unterschiedliche Interessen: Die damals tonangebende Konzeptkunst fragte z. B. nach dem sprachphilosophischen Problem, was Bild und Text im Medium der Kunst überhaupt vermitteln können – bis hin zur gänzlichen Infragestellung bzw. Dekonstruktion des Repräsentati-

1

 gl. Michael Glasmeier, Tania Prill (Hg.): Typografie als künstleriV sches Ereignis, Hamburg: Textem 2016.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

onsprinzips. Es regierte die Skepsis, ob überhaupt etwas erscheint, außer dem Medium selbst. Diesen Ansatz möchte ich im Folgenden anhand von Arbeiten des belgischen Künstlers Marcel Broodthaers (1924–1976) vorstellen. Im Grafikdesign galt es hingegen, die sinnliche Fülle der ästhetischen Ansprache auszuschöpfen, die Vielfalt der Bedeutungsweisen und ihrer Ambivalenzen zu betonen. Insbesondere die Typografie erweist sich in diesem Kontext als regelrechte Wunderkammer der Bild- und Sprachspiele: Nie waren die Kippfiguren von Bild und Buchstabe so experimentierfreudig gestaltet wie in den 1960/70er Jahren. Diese Position der Grafik sei im Folgenden durch das Werk bzw. anhand der Sammlung des französischen Grafikers Robert Massin (geb. 1925) skizziert.

7.1 Zur Bildtheorie des Buchstabens Wenden wir uns zunächst der Gestaltung zu, die ich hier eingehender behandeln möchte, um die Ästhetik der angewandten Typografie von der künstlerischen zu unterscheiden. Nicht nur der Laie denkt allzu rasch, in der Typografie gehe es in erster Linie um die Lesbarkeit, um das gute Funktionieren von Schrift. Natürlich wäre ein Schriftbild, das sich überhaupt nicht lesen lässt, auf die Dauer unbefriedigend. Man hätte es nicht mehr mit einem Text, sondern mit einem abstrakten Bild zu tun. Manche postmodernen Ansätze des Grafikdesigns ließen sich aber auch davon nicht abschrecken: Man denke etwa an die surfenden Zeilenwellen des kalifornischen Designers David Carson, die sich bis ins Unleserliche überlagern. Solche Extremfälle bilden die ästhetische Herausforderung der Schriftgestaltung aber nur bedingt ab, denn unser Augenmerk richtet sich in diesem Fall zu sehr auf das absichtlich verhinderte Funktionieren. Subtilere Bezüge erweisen sich als aufschlussreicher, so z. B. das im Buchstaben versteckte Bild, das beim Lesen meist übersehen wird. Denn unser Verstand weigert sich anzuerkennen, dass es eine solche Verquickung von Bild und Buchstabe überhaupt geben kann. Bilderalphabete referieren stets etwas Archaisches. So wähnen wir uns in unserer modernen Schriftkultur über die undifferenzierte Kommunikation alter Hieroglyphen- und Piktogramm-Schriften längst hinaus. Wir empfinden es als fortschrittlich, wenn wir technisch klar codiert lesen und schreiben können. In der Moderne müssen nur noch Schulanfänger

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7  Körper, Bild, Buchstabe. Zur Sinnlichkeit der Typografie

die Buchstaben anhand von Bildern lernen: In der Fibel bezieht das Kind den Buchstaben auf den Anlaut des Begriffs, den es als Bild dargestellt sieht. Ein umständlicher Prozess, der Hören und Sehen, Bildlichkeit und Schriftlichkeit noch zusammen wirken lässt. Wer des Lesens mächtig ist, hat solche Umwege nicht mehr nötig, daher verstehen wir unser Alphabet als bilderfrei, gar als Gegenstück zum Bild. Der sinnliche Verlust, der damit einhergeht, ist uns gemeinhin nicht bewusst. Doch wenn wir Schrift

1 Initial P, Bibliothèque Nationale, Paris, o.D.

2 Arabisches Kalligramm, 19. Jhd.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

3 Ryuichi Yamayshiro: Plakat zum Schutz der Wälder, 1954

als ästhetische Gestaltung betrachten wollen, benötigen wir auch eine Bildtheorie der Typografie: Denn gute Gestaltung spielt allerorts mit der Aufhebung der Grenzen von Bild und Text, von Buchstabe und Bild. Robert Massin widmete sich diesen verdrängten Qualitäten der Typografie nicht nur als Entwerfer, sondern auch als Sammler: Über ein Jahrzehnt arbeitete er daran, eine ebenso umfassende wie einzigartige Sammlung von Bilderbuchstaben aller Epochen und Kulturen zusammenzustellen. Abschließend veröffentlichte er 1970 rund 1.000 Abbildungen dieser Recherche in dem Bildband La Lettre et l’image, der noch im selben Jahr auf Deutsch erschien mit dem Titel Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen.2 Beachten wir zunächst den weiten historischen Bogen, den Massin in dieser Publikation spannt: Bild-Schrift-Verbindungen lassen sich natürlich seit den alten Hochkulturen nachweisen, aber Massins Buch setzt den Akzent auf die Entwicklung seit dem Mittelalter. Denn erst mit der Entstehung der Buchkunst wurde die typografische Gestaltung der Seiten bedeutsam. Die Trennung von Bild und Text, von lesendem und schauendem Sehen, sollte in der christlichen Buchmalerei stets aufgehoben werden, denn nur die sinnliche Zusammenschau vermochte die

2

 obert Massin: La Lettre et l’image. Du signe à la lettre et de la lettre R au signe, Paris: Gallimard 1970, dt. Ausgabe: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg: Otto Maier 1970.

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5 Aufnahme von Robert Massin in New York, o.D. 4 Aufnahme von Robert Massin in Paris, o.D.

göttliche Harmonie und Ordnung widerzuspiegeln. Die kunstvollen Initialen zielen darauf, durch Farbglanz und Leuchtkraft, Vergoldung und Verzierung, Bordüren und Figurationen das Buch zum illuminierten Gesamtkunstwerk zu erheben (Abb. 1). Das Schmücken von Buchstaben war natürlich nicht auf die europäischen Kulturen beschränkt. Aufgrund des Bilderverbots entwickelte auch die islamische Kunst ein reges Interesse daran, das Bild in der Schrift weiterleben zu lassen – sei es kalligrafisch oder als Ornament (Abb. 2). So wie sich die Schriftbildlichkeit in den asiatischen Kulturen geradezu von selbst versteht: Die Schriftzeichen werden noch deutlicher als Bild behandelt als die Buchstaben unseres Alphabets (Abb. 3). Massin zeigt die Buchstabenbilder aber keineswegs als an das Papier bzw. an die Buchseite gebunden – seit der Moderne prägen sie allerorts unsere Umwelt: Buchstaben können als Reklame ganze Fassaden und Straßenzüge ersetzen (Abb. 4). Litfaßsäulen bilden Architekturen, die nur zum Buchstabentragen erfunden wurden. Selbst Menschen können sich in Schriftzeichen verwandeln durch das Tragen von bedruckten T-Shirts oder anderen Mittlern von Botschaften. Gerade die Ästhetik des Protests lebt davon (Abb. 5). Aufmerksamkeit erregt alles, was abweicht und überrascht, was nicht dem Code des Buchstabens entspricht, ein reiner Informant zu sein.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

7 Saul Steinberg, 1961

6 Guillaume Apollinaire: Kalligramm Es regnet, 1918

Figurengedichte bzw. Kalligramme fesseln das Auge nicht minder: Ob in der Dichtung (Abb. 6) oder in den populären Medien, ob als bissige Satire oder als Kinderrätsel, Wörter und Sätze können Linien bilden, die plötzlich zwischen Bild und Text zu schwanken scheinen. Von der barocken Federzeichnung bis zur Karikatur eines Saul Steinberg (Abb. 7) reicht die ungebrochene Tradition des Bilderschreibens, die Massin dokumentiert. Ein ABC lässt sich auch aus Alltagsdingen herstellen, wie banal oder wertlos auch immer. Das Schreiben mit Suppenbuchstaben oder das Konstruieren von Körperalphabeten gilt bis heute als grafische Grund-

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7  Körper, Bild, Buchstabe. Zur Sinnlichkeit der Typografie

8–10 Belebte Buchstaben aus Bilderrätseln, 19. Jhd.

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lagenübung.3 Gefundene Typografie fasziniert, weil sie Logiken vertauscht. Je größer der Kontrast, desto reizvoller. Es wirkt hier die Logik des Trompe-l’œil: Die durchschaute Täuschung erzeugt die Freude der Betrachtung. Eigentlich sollen trockene Buchstaben ja nüchterne Gesellen sein, ein ABC der technischen Ordnung von Schrift. Aber allerorts in Massins Bildbuchstaben regieren Bewegung und Dynamik (Abb. 8–10): Buchstaben können schießen, sie hauen oder besaufen sich – sie haben mit sich zu tun wie Menschen im richtigen Leben. Und daher bevölkern sie allem voran die Alphabete der kindlichen Welt (Abb. 11): Bildbuchstaben führen dort ein geheimes Leben, das sich nur der Kinderseele erschließt – im Schlaf, Halbschlaf oder Traum, hinter den Spiegeln wie in Lewis Carolls Alice oder in anderen Reichen der Fantasie. All die verrückten Buchstabengesellen sieht nur, wer seinen Verstand zu vergessen wagt, wer sich öffnet für die doppelte Lektüre des Buchstabens. Das Verdinglichen und Verkörperlichen bildet dabei das zentrale Thema unserer Bilderlust im Buchstaben. Dem zweidimensionalen technischen Code der

11 Umschlagrückseite eines ABC-Buchs, um 1880

3

 gl. Steven Heller, Gail Anderson: The Typografic Universe. LetterV forms found in Nature, the built World and Human Imagination, London: Thames & Hudson 2014.

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7  Körper, Bild, Buchstabe. Zur Sinnlichkeit der Typografie

Schrift wird eine dreidimensionale Qualität zurückgegeben, ihm wird das körperliche Leben wieder eingehaucht. Doch dieser Prozess verläuft nicht unbedingt friedlich, wie eine skurrile Karikatur aus Massins Sammlung belegt (Abb. 10): Es geht immer auch um die Machtanteile von Visualität und Literalität im Prozess des Bedeutens. Würden wir genauer hinsehen, hätte jedes X einen Körper und ein Gesicht. Doch stellen wir Buchstaben viel zu selten auf einen Sockel, um sie als Skulptur wahrzunehmen. Wie der abgebildete Maler lesen bzw. schreiben wir doch nur ein charakterloses X als bereinigtes Zeichen der Vernunft. Dies steigert zwar die Effizienz des Schreib- und Leseflusses, bedeutet aber auch den Verlust des innewohnenden Bildes. Wie lassen sich Massins Fundstücke nun im Kontext einer Theorie der Typografie verstehen? Im Begriff Typografie steckt einerseits „Typ“ bzw. „Typisierung“, d. h. eine Normierungsleistung, die dazu führt, dass ein A immer als A erkennbar sein muss. Seit der Erfindung des Buchdrucks musste der Abdruck bzw. „Abschlag“ eines Buchstabens seinem Normtyp entsprechen. Was abweicht, gilt als schlecht gedruckt. So verlangt es der technische Code der Typografie. Gleichzeitig meint „Typ“ auch die Ausprägung eines bestimmten Charakters. Im Englischen wie Französischen bedeutet „character“ bzw. „charactère“ sowohl „Buchstabe“ als auch „Temperament“ und „Wesensart“. Mit dieser Konnotation wechselt man letztlich in die bildliche Logik des „character design“: Durch Animation lässt sich jedes Zeichen zur Figur erheben. Gemeinhin kennen wir dies aus Comic, Trickfilm oder Werbung: Ob Menschen- oder Tierdarstellung, ob realer Gegenstand oder reines Fantasiegeschöpf, alles erhält ein Gesicht, wird zur Persönlichkeit erhoben und spielt eine Rolle im Plot. Auch Buchstaben können demnach zu Protagonisten bzw. Charakterdarstellern werden. Die Theorie der Typografie legte jedoch oft Wert darauf, dass wir uns das Sehen des Buchstabenbildes im Leseprozess abgewöhnen. Denn Bilder haben Interpretationsbedarf, sie brauchen Zeit und bleiben letztlich offen in der Deutung. Erst die Arbitrarität des Zeichens, so wissen wir spätestens seit Ferdinand de Saussure, macht dieses so eindeutig und effizient. Die Willkür der Codierung muss das motivierte bzw. mimetische Bild verdrängen, um Präzision zu erzeugen. Versachlichung sollte die modernen Schriften prägen, angelehnt an die zweckmäßige Rationalität eines Industriezeitalters, das nicht mehr romantisch liest, sondern effizient informiert. So schrieb der Schweizer Typograf Adrian Frutiger in seinem Buch Der

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Mensch und seine Zeichen von 1978, dass es in der Geschichte der Schrift zu einer Austreibung des Analogiedenkens kommen musste, damit wir in Ruhe lesen können. Die Kalligramme der Lyriker, von Apollinaire bis Morgenstern, werden daher in seiner Darstellung unter der Sparte „Abweichung vom Grundtyp“ nur noch als störende Spielerei behandelt.4 Der Leser, so Frutiger, habe nämlich im Unbewussten eine feste Vorstellung entwickelt, wie gute Schrift auszusehen habe. Und nur diese vom Leser gewünscht Form sei die „typografisch einwandfreie“.5 Typografie wird bei Frutiger also rein funktional gedacht, als ob sie einem Naturgesetz des Gebrauchs folge: „Die Grundlagen der Lesbarkeit gleichen einer Kristallisation, geformt durch Jahrhunderte langen Gebrauch auserwählter, ausgeprägter Schrifttypen. Das Brauchbare, das sich auf Dauer bewährt hat, bleibt vielleicht für immer als ästhetisches Gesetz im Menschen erhalten.“6 Designhistorisch lassen sich Frutigers Thesen allerdings nicht stützen, gerade Massins Sammlung belegt das Gegenteil. Überhaupt hätten die Gestalter nicht mehr viel zu tun, denn Frutiger folgend würde sich das ästhetische Potenzial der Typografie auf das technische Nachrichtenmodell der Kommunikation reduzieren. In der klassischen Dreiheit von Sender, Medium und Empfänger verläuft der klar gerichtete Pfeil nur in die eine Richtung, so dass der passiv empfangende Rezipient die Botschaft geradezu erleidet.7 Er hat ihr nichts hinzuzufügen, geschweige denn, dass er Raum hätte für die eigene Interpretation. Was von diesem Normvorgang abweicht, gilt umgehend als störendes Rauschen. Alle Bemühung zielt auf das richtige Codieren und Decodieren, ästhetische Spielräume kommen in ihrer Uneindeutigkeit bereits gescheiterter Kommunikation gleich. Dieser Pragmatismus der Kommunikationstheorie kulminierte vielleicht schon in der Feststellung des Philosophen William James, dass das Wort Hund schließlich nicht beißen könne.8 Natürlich ist das richtig:

4   5 6 7 8

 drian Frutiger: Der Mensch und seine Zeichen, Wiesbaden: Marix A 2011, S. 100. Ebd., S. 110. Ebd., S. 113. So z. B. in dem vielzitierten Shannon-Weaver-Modell der Kommunikation von 1949. So James: „The concept ‘dog’ does not bite.“ Vgl. William James: Some Problems of Philosophy: A Beginning of an Introduction to Philosophy, Lincoln: University of Nebraska Press 1996, S. 85.

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7 Körper, Bild, Buchstabe. Zur Sinnlichkeit der Typografie

12 Robert Massin: Gestaltung für Die kahle Sängerin von Eugène Ionesco, 1964

Niemand wurde je von einem Wort gebissen. Und doch scheint uns Massin das Gegenteil beweisen zu wollen: Selbstverständlich können seine Buchstaben schreien, bellen und beißen – sie beherrschen das expressive Vokabular jedes guten Schauspielers auf der Bühne. Dies demonstrierte Massin erstmals mit seiner Gestaltung für La cantatrice chauve (Die kahle Sängerin) von 1964 in den Editions Gallimard. Er inszenierte das bereits 1950 uraufgeführte Theaterstück von Eugène Ionesco buchstäblich auf der Bühne der Buchseiten (Abb. 12). Es war sein erstes Experiment mit expressiver Typografie bzw. mit „typografischem Piktorialismus“, wie Steven Heller es treffend nennt.9 So wie Ionesco als 9

Vgl. Steven Heller: „Massinography“, in: Patrick Raynaud (Hg.), Massin et le livre. La typographie en jeu, Paris: Archibooks 2007, S. 10–14, hier S. 12.

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damals wichtigster Vertreter des absurden Theaters in Frankreich die Grenzen der Sprache auslotete bis hin zu ihrem Zusammenbruch, trieb auch Massin das Spiel der Buchstabenbilder auf die Spitze. Der literarische Text wird hier zum Schauspieler und vermischt sich mit der Figuren-Illustration auf unerhörte Weise. Rahmen werden gesprengt, Bilder überschrieben, alles gerät in Bewegung, auf einer Seite bricht sogar Feuer aus, allerorts fliegen losgelöste Wortfetzen über die Seiten – und doch bleibt alles leserlich. Für die dargestellten Figuren wurden zunächst jene Schauspieler fotografiert, die das Stück damals in Paris aufgeführt hatten. Die Kontaktabzüge der Porträts legte Massin auf eine Frühform des Fotokopierers, den Photostat, und abstrahierte die Abbilder in entsprechenden Cut-outs.10 Damit entstand eine Art „Typofotografie“: Die menschliche Figur wird, einem Buchstaben gleich, auf ihre Silhouette reduziert, welche die visuellen Reste der Person noch in sich trägt. Massin zerlegte den gesprochenen Text radikal und wies jedem Schauspieler einen eigenen Font zu. Im digitalen Zeitalter wäre heute nichts leichter als das, aber Massin arbeitete noch vollständig analog. Nicht einmal Letraset hatte er zur Verfügung, die Anreibebuchstaben waren noch zu teuer und daher unüblich. Er vergrößerte und verkleinerte die Lettern mit dem Epidiaskop und zeichnete sie per Hand ins Reine. Jede Seite durchlief mehrere Durchgänge an zeitraubender Handarbeit – und dieser Aufwand begründet wohl das bis heute faszinierende Ergebnis.

7.2 Vom Bilderstreit zur Kippfigur Massin war Autodidakt, als Grafiker wie als Forscher. Er hatte über die Buchclubs der 1950er Jahre in die Pariser Verlagswelt gefunden und war zum einflussreichsten Art Director seiner Zeit aufgestiegen. Er prägte die grafischen Konzepte, Reihen und Formate der großen Verlagshäuser und vergab Aufträge an Grafiker und Illustratoren. Er verstand sich als Sammler der Möglichkeiten, als Beobachter von Vielfalt und Experimentierfreude; ihn interessierte der Blick für das Ganze mehr als die strikte

10 Vgl. Laetitia Wolff: Massin, London: Phaidon 2007, S. 102ff.

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Entwicklung der eigenen Position. Die geradezu universelle Ausrichtung seiner Sammelleidenschaft zeigt auch die Einrichtung seines Hauses in Étampes südlich von Paris: Auf Fotografien erblickt man in den Wohnräumen eine Art Kuriositätenkabinett der Buchstaben und Dinge, man spürt die Aura und Magie ihrer archaischen Verbundenheit, die jeder semiotischen Arbitrarität hartnäckig zu trotzen scheint.11 Doch interessierte Massin auch die wissenschaftliche Sicht auf die Bildkulturen der Schrift. In seinem Buchstabenbilder-Band versucht er daher eine systematische Deutung der Typografiegeschichte. So argumentiert er, dass der Rationalismus der technisch bereinigten Schrift, wie ihn insbesondere die strenge Schweizer Schule oder die Bauhaus-Tradition vertraten, in der Moderne zur kulturellen Verarmung der Schriftbildlichkeit geführt habe. Massins wendet sich dabei recht deutlich gegen die deutschsprachigen bzw. protestantischen Kulturen.12 Als gäbe es einen germanischen Geist der funktionalen Ordnung, dem er die barocke Fülle der lateinischen Kultur gegenüberzustellen sucht. Diese kulturelle Zuschreibung mag allzu holzschnittartig ausfallen, so säuberlich nach Kulturnationen getrennt verlief die historische Entwicklung sicher nicht. Aber Massins Vorstellung, es gebe zwei grundsätzlich verschiedene Logiken der Buchstaben-Rezeption, möchte ich doch zustimmen. Sein Essay weist sehr anschaulich nach, dass es einen immerwährenden Disput des technischen Buchstabens mit seinem Bild gab. Damit wird eine Codierung der Gestaltung sichtbar, die zwischen Funktion (Lesbarkeit) und Ornament (Bildlichkeit) immer wieder neu und anders wählen muss. Der Bilderstreit des Abendlandes wiederholt sich gewissermaßen in diesem Kernproblem der Typografie. So beschreibt Massin, wie die nordischen Bilderstürmer der Neuzeit, die aus der gotischen Tradition hervorgingen und für Abstraktion, Serifenlosigkeit und Frakturschrift standen, insbesondere gegen die Antike-Rezeption der Renaissance ankämpften, nach der man alle Buchstaben des lateinischen Alphabets auf die Maße des menschlichen Körpers zurückführen sollte – wie z. B. von Geoffroy Tory in seiner Abhandlung zu Schrift und Buchdruck Champ Fleury 1529 ausgearbeitet (Abb. 13) und

11 Ebd., S. 168ff. 12 R. Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete, S. 35.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

13 Abbildungen aus Geoffroy Torys Champ fleury, 1529

in den Arbeiten seines Schülers Claude Garamond fortgeführt.13 Die Gegner der Antiqua-Tradition wollten allem voran der Körperlichkeit des Bilderbuchstabens zu Leibe rücken. Seit dem Mittelalter galt jedoch das Können, Menschen- und Tierkörper in den Buchstaben ununterscheidbar zu vermengen, als die Herausforderung der Buchkunst überhaupt: Karolingische und merowingische Tradition traten gegeneinander an, Flora und Fauna wurden den Buchstaben immer kunstvoller beigemischt, im Wettstreit um die belebteste Verbindung von Bild und Schrift. Parallel zur Ratio des Christentums entwickelte sich in diesen Buchstabenkörpern auch die Lust an der verkehrten Welt, an der Lügengeschichte, die jede Ordnung subversiv zu unterlaufen weiß. Statt der spirituellen Körperfeindlichkeit des Christentums zu huldigen, brachte die Buchkunst die eigenartigsten Leiber auf die Bühne der Buchseiten. Immer waghalsigere Monster und Fabelwesen, Drachen, Teufel und Mensch-Tier-Mischungen erscheinen in den Buchstaben-Fantasien. In den Lettern werden mit Lanzen, Schwertern und Dolchen Kämpfe ausgetragen, bei denen uns heute noch schwindelig werden kann, so ambivalent verhalten sich diese Kippfiguren in der Hölle der Uneindeutigkeit (Abb. 14, 15). Dieser Wettstreit der Illuminatoren ging der Kirche freilich zu weit. Die teuflischen Alphabete drohten sich zu verselbständigen, so

13 Ebd., S. 26ff.

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7  Körper, Bild, Buchstabe. Zur Sinnlichkeit der Typografie

14 Initial Q aus Moralia in Job des Hl. Gregor, 12. Jh.

dass man immer wieder ein Machtwort sprechen musste. Bernard de Clairvaux versuchte z. B. durchzusetzen, dass die Initialen nur noch in einer Farbe ausgeführt und nicht mit Figuren ausgeschmückt werden („Litterae unius coloris fiant et non depictae“).14 Das Wort Gottes sollte ja zählen, nicht die subversive Doppeldeutigkeit des Buchstabengesichts. Die Kulturgeschichte der Typografie, so zeigt Massin, liest sich seit der Gotik als der fortwährende Versuch, die Körper und Bilder im Buchstaben zu züchtigen. Doch schlägt die unterdrückte Seite immer wieder durch, sie

15 Gotisches KupferstichAlphabet, 1499.

14 Ebd., S. 57.

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lässt sich einfach nicht verdrängen. Die These, dass mit der Erfindung der Schrift und der Entwicklung funktionaler Schriftlichkeit ein Verlust der Aura einhergegangen sei, verfolgt die Medientheorie von Platons Schriftkritik bis zu Marshall McLuhans Diktum, das Medium sei die Botschaft. Bild- und Schriftkritik gehen dabei Hand in Hand, da sie jede Form der medialen Vermittlung als trügerisch ablehnen. So beschreibt jener Diskurs auch den Übergang von der Oralität zur Literalität und weiter zu Buchdruck und Massenmedien als das Ende von Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit bei gleichzeitiger Zunahme an technischer Codierung. Doch ist diese Deutung unserer Mediengeschichte überhaupt berechtigt? Massins Designgeschichte der Typografie zeigt doch gerade, dass es immer auch anders möglich war: Von einem Siegeszug der funktional bereinigten Typografie kann in historischer Sicht eigentlich nicht die Rede sein. Die Geschichtsschreibung hat nur zu wenig darauf geachtet, dass auch die magisch-mimetischen, analog-auratischen Sprachbilder und Bildersprachen zu jeder Zeit ihre sinnliche Präsenz behaupten konnten. Diese Perspektive einer offenen Codierung der Schrift- wie Bildlichkeit entwickelte z. B. auch die Semiologie Roland Barthes: Zeitgleich zu Massin verfolgte er ein Interesse an der spezifischen Bilderlogik im Buchstaben. Hierfür erweisen sich insbesondere drei Essays aus Barthes’ 1982 erschienenem Band L’obvie et l’obtus (Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn) als aufschlussreich,15 die nicht zufällig alle aus den 1970er Jahren stammen: Barthes bezieht sich darin auf die Vexierbilder Arcimboldos (Arcimboldo oder Rhétoriqueur und Magier, 197816), auf den Modezeichner Erté (Erté oder An den Buchstaben, 197317) sowie auf das Massins Buch, das er besprochen hat (Der Geist des Buchstabens, 197018). Er versucht einerseits überall dort Sprache zu sehen, wo eigentlich keine ist – z. B. in der Mode oder in der Malerei, die er nach linguistischen Strukturen durchforstet. Auf der anderen Seite widmet er sich aber auch den Bildern, die es in Sprache und Schrift zu entdecken gilt. Die drei Essays zeigen, ganz in Massins Sinne, wie gelungene Gestaltung den ewigen Streit von Bild-

15 V  gl. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn (1982), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. 16 Ebd., S. 136–154. 17 Ebd., S. 110–135. 18 Ebd., S. 105–109.

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7  Körper, Bild, Buchstabe. Zur Sinnlichkeit der Typografie

16 Erté: Buchstaben B und N, 1967

lichkeit und Schriftlichkeit in einer ambivalenten Kippfigur inszeniert. Der Modezeichner Erté (1892–1990, eigentlich Romain de Tirtoff, so dass seine Initialen R und T den Künstlernamen Er-té ergaben) hatte sein einst berühmtes Körper-ABC bereits 1927 begonnen, in einem Stil, den man noch dem Art Deco zurechnen kann. Er beendete es aber erst 1967, um schließlich das vollständige Alphabet in einer Ausstellung zu zeigen (Abb. 16). Das Publikum war begeistert von den eigenartigen Silhouetten. Was wir heute wohl eher als Kitsch abtun würden, faszinierte auch Barthes. Er sah in diesem ABC aus anzüglich gekleideten Frauenleibern magische Bilderrätsel, in denen jede Erotik durch das Buchstabewerden umgehend wieder vernichtet werde: „Zwischen Fetisch und Zeichen ist die Silhouette“, hält Barthes fest.19 Die Silhouette bilde als lineares Gefüge ein grafisches Produkt: „Sie macht aus dem menschlichen Körper einen potentiellen Buchstaben, sie will gelesen werden.“20 Das Chiffrewerden entkörperlicht, aber das Leibliche schlägt im Bild umgehend wieder

  1 9 Ebd., S. 113. 20 Ebd., S. 120.

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zurück. Es balgen sich wiederum zwei Kräfte in dieser Kippfigur: Die sprachliche Grammatik der Darstellung sucht die bildliche Körperlichkeit der abgebildeten Frauen zu entkräften – und umgekehrt. Die Linien dieses Körperalphabets verharren in einem ambivalenten Zwischenstadium, sie sind halb Bild, halb Schrift, so Barthes. Die Buchstabenfrauen werden verkörpert und entkörperlicht zugleich, ohne dass eine Seite je gewinnen könnte. Das unvermeidliche Kippmoment der Lektüre faszinierte Barthes auch an den Gemälden Guiseppe Arcimboldos (1526–1593). Sein Essay betont zunächst, wie universell die gestalterischen Interessen des Künstlers ausgerichtet waren: Weit über die Malerei hinaus schuf Arcimboldo Kirchenfenster, Tapisserien, Orgelgehäuse, hydraulische Maschinen und grafische Wappen. Er inszenierte Umzüge, Hochzeiten und Feste und betätigte sich nicht zuletzt als Spaßmacher an den Höfen Maximilians II. und Rudolfs II., so z. B. auch als Bärenführer und Karussell-Erfinder. Vom romantischen Konzept des Künstler-Genies war die Kunst und Design vereinende Ästhetik des Manierismus also noch weit entfernt. Im Kontext der Komik seien auch die berühmten Rätselbilder des Hofmalers zu sehen (Abb. 17): einerseits Porträt, sogar mit Ähnlichkeit zu lebenden Personen, andererseits einem Thema zugeordnet wie den Vier Jahreszeiten, den Vier Elementen oder auch Berufe darstellend – sowie ganz lapidar Obst und Gemüse, Topf oder Tier zeigend. Der gesunde Menschenverstand werde hier ganz verrückt vor Verschiebung und Analogiebildung. So Barthes: „Die Lektüre kreist, ohne einzurasten; […]. Die Metapher kreist um sich selbst, aber in einer zentrifugalen Bewegung, und schleudert endlos Sinn aus sich heraus. Der Topf macht den Hut, und der Hut macht den Menschen.“21 Diese Gleichzeitigkeit, das Zusammenfallen von Sinn und Sinnlichkeit in der freudigen Vieldeutigkeit unterscheide die visuellen Verfahren von der diskursiven Sprache, die im linearen Nacheinander arbeiten muss. So Barthes über diese Gemälde: „Weil alles auf zwei Ebenen bedeutet, funktioniert die Malerei Arcimboldos wie eine etwas erschreckende Ablehnung der Sprache der Malerei.“22 An Massins Buch über die Bildbuchstaben faszinierte Barthes, dass eine minimale Analogie im Schriftzeichen schon

21 Ebd., S. 137f. 22 Ebd., S. 141.

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17 Guiseppe Arcimboldo: Der Frühling (Rudolf II), um 1590

ausreicht, um diese polysemische Lust an der Vielfalt des Bedeutens auszulösen. Die gesamte ideographische Kultur der Typografie sei folglich als eine barocke Kultur zu betrachten. Barthes schließt seine Besprechung daher mit dem aufschlussreichen Satz: „Der Spielraum, den wir dem einräumen, was man als das Barocke bezeichnen kann […] ist der Ort schlechthin, an dem der Schriftsteller, der Maler, der Grafiker, mit einem Wort der Texperformator arbeiten soll.“23 Als barock beschreibt Barthes folglich eine Praxis, die den Unterschied von Kunst und Gestaltung nicht benötigt, da sie an der Fülle der Sinneswahrnehmungen arbeitet, am ästhetisch erlebbaren Taumel zwischen Bild und Text – und nicht am Aufgehen dieser Ästhetik im philosophischen Diskurs. Die Codierungen sind dabei immer auch anders möglich: Man kann also auch Bilder lesen und Schriften sehen, statt sie nur zu lesen. Das ästhetische Vergnügen, so Barthes am Schluss des Arcimboldo-Essays, besteht im Pendeln zwischen den Seiten: „So schreitet Arcimboldo vom Spiel zur großen Rhetorik, von der Rhetorik zur Magie, von der Magie zur Weisheit.“24 Die grafische Kultur,

23 Ebd., S. 109. 24 Ebd., S. 154.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

so kann man mit Barthes folgern, zeichnet sich durch Ambivalenz aus, sie kennt nicht nur den einen Code der technischen Lesbarkeit, sondern erweist sich als offen für das Andersmöglichsein der Wahrnehmung. Betrachten wir vor diesem Hintergrund nun die Kunst der Dekade: Während man im Grafikdesign Schau- und Leselust freudig miteinander verband, um die Fülle des Sinnlichen zu feiern, entwickelte die Kunst der Zeit eine ganz andere Lesart der Typografie.

7.3 Das Zeichen und die Sinne Das Interesse der damaligen Konzeptkunst galt gerade nicht der Bedeutungsfülle, sondern ihrer Dekonstruktion. Sie demonstriert, wie das Bedeuten im Rahmen unserer medialen Zeichensysteme philosophisch infrage zu stellen ist. Dieser Diskurs steht dem barocken Prinzip der Grafik also diametral gegenüber. Das „Zerstören“ von Bild und Schrift unternahm Marcel Broodthaers wie kaum ein anderer Künstler – mit einem Witz, der in der Kunst seinesgleichen sucht. Broodthaers hatte zunächst eine Karriere als Dichter angestrebt. Aber er musste einsehen, dass mit Poesie kaum Geld zu verdienen war. Der Markt für die bildenden Künste zog das Kapital viel erfolgreicher an, und so wurde auch Broodthaers Künstler, um diese Mechanismen ebenso kritisch wie profitabel auszuleuchten. Seine erste Arbeit, Pense-bête (dt. Denkzettel, Eselsbrücke) von 1964, entstand aus 44 nicht verkauften Gedichtbänden aus seiner Feder, die er in eine Skulptur umarbeitete. Er gipste die Bücher in eine unförmige Masse ein, so dass man diese hätte zerstören müssen, um an den Text zu gelangen. Das würde natürlich niemand tun, wohl wissend, dass die Plastik als Unikat viel mehr wert ist als das reproduzierbare Buch. Der poetische Wert im Inneren tritt nicht mehr hervor, es bleibt nur das unberührbare Fetischobjekt der Kunst. Broodthaers erinnert uns mit seinem „Denkzettel“ daran, dass wir oft äußerlichen Werturteilen und Repräsentationen folgen, ohne nach dem wahren Kern zu suchen. Ähnlich ergeht es dem Betrachter des Kurzfilms La Pluie (Der Regen) von 1969, der im

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7  Körper, Bild, Buchstabe. Zur Sinnlichkeit der Typografie

Untertitel „Projekt für einen Text“ heißt.25 Der Künstler sitzt im Garten seines selbstgeschaffenen Museums und möchte unter freiem Himmel mit Feder und Tinte einen Text schreiben. Aber es beginnt aus einer (im Film nicht sichtbaren, aber erahnbaren) Gießkanne zu regnen (Abb. 18). Es wirkt ungeheuer komisch, wie Broodthaers stoisch dasitzt, als sei er Buster Keaton höchstpersönlich. Wie ein begossener Pudel, stetig weiter schreibend, selbst wenn die Tintensuppe immer schon davonfließt, bevor man auch nur ein Wort lesen kann. Selbst die zaghaften Kleckse, die sich als Formen abzeichnen, werden umgehend vom Wasserstrom weggespült. Eigentlich sind hier alle notwendigen Medien vorhanden, um Poesie bzw. ein Kunstwerk zu erzeugen: das Museum, der Film, das Papier, die Feder, die Tinte – und nicht zuletzt der Künstler selbst. Aber sie stellen nur sich selbst aus. Es erscheint nichts, das ist der Witz. Bei Broodthaers verschwindet das Gemeinte hinter den Medien der Darstellung, es bleiben nur die Bedeutungsträger, die jedoch keine Bedeutung in sich tragen. Statt auf Repräsentation trifft man auf die Präsenz des schieren Nichts. Auch das berühmte Gedicht seines großen Vorbildes Stephane Mallarmé Un coup de dées n’abolira jamais le hasard (Ein Würfelwurf niemals tilgt den Zufall) von 1897, dessen Layout der Poet selbst ausgearbeitet hatte, ließ Broodthaers nicht mehr erscheinen. Er strich es buchstäblich durch – und hielt sich

18 Marcel Broodthaers: Der Regen. Projekt für einen Text, 1969

25 D  er Kurzfilm ist zu sehen unter www.youtube.com/watch?v=3L6JO-U_ts8 vom 1.3.2018.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

19 Marcel Broodthaers: Ein Würfelwurf niemals tilgt den Zufall, 1969

dabei exakt an die vom Dichter gestaltete Vorlage: In seiner Hommage von 1969 sehen wir statt der Schrift nur noch schwarze Balken – als Negation von Wort und Bild gleichermaßen (Abb. 19). Gemeinhin bezeichnen Wörter abwesende Dinge, sie zeigen sie nicht, sondern bezeichnen sie. Indem die Wörter aber unlesbar werden, erscheint das Layout als visuelle Rohmasse. Nur die schwarzen Balken schimmern durch die feinen Papierseiten des Katalogs, aber es erscheint weder Sprache noch Sprachsinn. So hält auch Jacques Rancière zu dieser Arbeit fest: „Das Ding-Werden der Wörter ist also eigentlich ihr Unlesbar-Werden. Das Bild lehnt das Gedicht, das es vollendet, ab, indem es seine Aussage leugnet.“26 Es bleiben nur sinnentleerte Zeichen bzw. deren visuelle Überreste, die nun willkürlich wirken. So hatte Broodthaers das Alphabet auch mit einem Würfel verglichen, der 26 Seiten hat:27 Es erscheint, wenn überhaupt, nur der Zufall selbst. Sich in die Tradition von Marcel Duchamps Urinal und René Magrittes Pfeife (sowie Michel Foucaults Kommentar dazu) stellend, kam Broodthaers letztlich zu dem Schluss, dass es eigentlich auch keine Kunst geben kann: Auch sie stellt nur sich selber aus. Als reines Denkbild über ihr Kunstsein

26 J acques Rancière: „Der Raum der Wörter. Von Mallarmé zu Broodthaers“, in: Sabine Folie (Hg.), Un coup de Dés. Bild gewordene Schrift. Ein ABC der nachdenklichen Sprache, Köln: Walther König 2008, S. 26–38, hier S. 35. 27 Siehe Dorothea Zwirner: Marcel Broodthaers. Objekte, Druckgraphik, Zeichnungen, Bücher, München: Atlas 1992, S. 7; dies.: Marcel Broodthaers. Die Bilder, die Worte, die Dinge, Köln: Walther König, 1997, S. 103.

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20 Marcel Broodthaers, ABC – ABC Image, 1974

vermag sie nicht Wahrheit oder Wirklichkeit zu repräsentieren, sondern nur sich selbst. Nicht nur „Dies ist keine Pfeife“ wie bei Magritte und „Dies ist ein Kunstwerk“ wie bei Marcel Duchamp, sondern vielmehr: „Dies ist kein Kunstwerk“ – so Broodthaers 1972.28 Die Kunst gibt es nur als Negatives. In seiner Brüsseler Ausstellung eines Wintergartens von 1974, den u. a. 36 Palmen und 16 Gartenstühle zierten, zeigte Broodthaers auch ein illustriertes ABC (Abb. 20). Davon existieren mehrere Fassungen, eine gefilmte und eine (offenbar unvollendete) Dia-Doppelprojektion mit 80 Bildern pro Karussell. Die wild zusammengestückelte Enzyklopädie zeigt naturwissenschaftliche Illustrationen, Exotik- und Abenteuerbilder aus der Populärkultur – alles pseudosystematisch bzw. pseudoalphabetisch angeordnet in einer Zufallsabfolge. In der Simultanprojektion entschwinden alle Sinnbezüge, Bild und Buchstabe dürfen gerade nicht zusammenfinden. Zur ersten Fassung dieser Arbeit durfte der Besucher aber ein Flugblatt des Künstlers mitnehmen, auf dem Broodthaers mit Schreibmaschine getippt hatte:

28 V  gl. D. Zwirner: Marcel Broodthaers. Die Bilder, die Worte, die Dinge, S. 126f.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

21 Marcel Broodthaers mit Kamel vor dem Brüsseler Museum, 1974

„Ein Wintergarten. Das ist ein ABCDEF… Vergnügen, eine Vergnügungskunst… GHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ … Zum Vergessen. Zum Schlafen, heiter und gut gesinnt. Neue Horizonte zeichnen sich ab. Ich sehe neue Horizonte auf mich zukommen und die Hoffnung auf ein anderes Alphabet.“29 Aber wie sollte aus diesen Dekonstruktionen ein neues Alphabet entstehen? Man kann nur rätseln, was Broodthaers meinte. Eventuell gibt uns der gelungene Coup zur Eröffnung der Ausstellung einen Hinweis: Broodthaers besorgte sich im örtlichen Zoo ein Kamel und ging mit dem Tier durch das Brüsseler Museum (Abb. 21). Das Kamel war also keine Repräsentation eines Kamels, sondern ein reales Kamel. Ein „Ding an sich“ gewissermaßen, das in der Ordnung der Repräsentation eigentlich hätte unsichtbar bleiben müssen. Aber Broodthaers stellte es einfach aus, als ob es sich zum Kunstwerk deklarieren ließe. Die Komik des

29 Ebd., S. 151 (Übersetzung A.G.).

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7  Körper, Bild, Buchstabe. Zur Sinnlichkeit der Typografie

Akts liegt auf der Hand: Broodthaers, der Zerstörer aller Repräsentationen, bringt einfach die Sache selbst mit – und zeigt uns wiederum die Ungeheuerlichkeit dieses Vorgehens. Das „Ding an sich“ erscheint hier als Unding, gar als Monster, als archaisches Urvieh mit Höckern. Ding und Repräsentation prallen aufeinander, bilden einen logischen Kurzschluss, eine Tautologie. Das Mittelnde bzw. Vermittelnde der Medien hat Broodthaaers wiederum ad absurdum geführt. In der barocken Fülle des Bedeutens bei Massin und der Komik der Zerstörung bei Broodthaers zeigen sich zwei gegenläufige Strategien im Umgang mit Bild und Text. Sollten wir darin nun den Unterschied von Kunst und Design verorten? Auf der Seite der Gestaltung dominiert somit die sinnliche Ansprache, eine ästhetische Sinneslust gar, die das Leibliche der Wahrnehmung ins Bewusstsein rückt, auf der Seite der Kunst steht die diskursive Zersetzung, die Dekonstruktion aller Zeichenrelationen, betrieben mit subversiv intellektuellem Witz. Oder haben barocke Vieldeutigkeit und postmoderne Infragestellung des Bedeutens doch mehr gemein, als man denkt, indem sie gleichermaßen die Offenheit

22 Karl Philipp Moritz: Neues ABC-Buch, 1785

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

23 Kurt Schwitters: i-Gedicht, 1922

und Endlosigkeit des Bedeutungsprozesses thematisieren? Mir bleibt nur festzustellen, dass beide Verfahren als ästhetisch zu denken sind und damit die obsolete Gattungstrennung von freien und angewandten Künsten erfolgreich beseitigen. Doch bleibt auffällig, dass sich in der Gestaltung der hegelianische Gedanke nicht anwenden lässt, dass das Werk erst im Absoluten vollendet sei, d. h. wenn der philosophische Gedanke das sinnlich wahrnehmbare Kunstwerk erfolgreich überwunden hat. Für Broodthaers mag die Kunsttheorie diese Denktradition noch aufrechterhalten können, denn der Künstler thematisierte ja selbst, dass es Kunst nur im Negativen gebe. Und doch bildet auch bei Broodthaers das Material den Ausgangspunkt, jene absonderliche Rohmasse des Sichtbaren, die immer erst unsere sinnliche und leibliche Wahrnehmung anspricht. Einen Mangel an Wahrheit oder Wirklichkeit, wie ihn die arbiträren Zeichen mit sich bringen, muss man in der Aisthetis, jener ursprünglichen Form der Sinneswahrnehmung, nicht befürchten. Im Hinblick auf ihre primären ästhetischen Qualitäten kann zwischen Kunst und Design kein Unterschied gemacht werden, dieser wird immer erst theoretisch und diskursiv eingeführt. Die Sinnlichkeit der Typografie vermögen uns Kinderreime aus einer Schulfibel ebenso deutlich zu machen wie Kunstwerke. So betrachte man nur – bei vollen Sinnen – zwei so unterschiedliche Beispiele wie diese beiden abschließenden: Kindgerechte Beiträge – wie das Neue ABC-Buch (1785/94) von Karl Philipp Moritz, das Ende des 18. Jahrhunderts den Aufbruch der modernen Pädagogik markierte, verbanden Bild und Text mit allen Wahrnehmungsorganen. So lauten die hier illustrierten Merkreime zu A-B-C-D (Abb. 22):

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„A – Das offene Auge sieht ins Buch, B – Das Buch macht junge Kinder klug, C – Den Ton der Cymbeln hört das Ohr, D – Der Duft von Weihrauch steigt empor.“30 Alle sinnlichen Erfahrungen des Kindes werden hier einbezogen und in der komplexen Wahrnehmbarkeit von Welt weitergedacht. Dass diese Prinzipien nicht nur angewandte Lernmittel für Kinder sinnvoll gestalten können, sondern auch hohe Kunst und gute Gestaltung, führt uns z. B. Kurt Schwitters sehr anschaulich vor Augen und Ohren. Sein i-Gedicht von 1922 (Abb. 23) sollen wir laut beigefügter Anleitung wie folgt lesen: „Rauf – runter – rauf“. Das ist räumlich formuliert. „Pünktchen drauf.“31 Das reimt sich akustisch. Und nicht zuletzt sehen wir das i-Gedicht, ganz im Sinne Massins, als Bild und Buchstabe zugleich.

30 K  arl Philipp Moritz: Neues ABC-Buch, Bild 1, Originalausgabe vgl. Bibliotheca Augustana: www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/ Chronologie/18Jh/Moritz/mor_ab00.html vom 18.1.2018. 31 Vgl. Kurt Schwitters: Das literarische Werk, Bd. 1: Lyrik, hg. von Friedhelm Lach, Köln: DuMont 1998, S. 206.

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8 Das animierte Bild. Illustration als Illusion

Im Rahmen einer Ästhetik der Gestaltung stellt sich auch die Frage nach dem Bild: Gibt es ein Design der Bilder? Ich möchte hier nicht im Sinne der philosophischen Bildtheorie untersuchen, was ein Bild überhaupt ist, sondern erörtern, was die visuelle Gestaltung von Bildern zu bewirken sucht. Gestaltete Bilder, so meine These, unterscheiden sich einerseits von den Bildern der Kunst, denn wir betrachten sie mit anderen Augen, sie lassen sich nicht nach den Kriterien des Kunstsystems erfassen. Sie unterscheiden sich aber auch von den rein informativen Bildern, deren Botschaften wir z. B. in Piktogrammen oder Infografiken, in Passfotos zur Identifikation sowie Wegweisern, Gebrauchsanweisungen oder Leitsystemen vorfinden. Solche Bilder wurden natürlich auch entworfen, aber wir „lesen“ sie eher, als sie auf ihre Bildlichkeit hin wahrzunehmen. Die Kraft der gestalteten Bilder, um die es hier gehen soll, liegt aber nicht in ihrer guten Lesbarkeit, sondern in einem spezifischen Effekt der Illusion und Animation. Sie zielen auf das Erschaffen von Welten – ganz gleich ob real oder fiktiv, ob möglich oder unmöglich – jene Welten sollen als wirklich und echt wahrgenommen werden. Das animierte Bild formuliert die Aussage: „Was ich zeige, ist lebendig.“ Animation wird hier also nicht nur als eine Technik des Bewegtbildes verstanden, sondern als eine medienübergreifende Form, Bilder als belebt zu gestalten. Dieser Bildbegriff ist sicherlich eng gefasst, er meint nur ein spezifisches Design der Bilder und natürlich gibt es noch viele weitere Arten, Bilder zu gestalten. Doch möchte ich diese Bildlichkeit einmal gesondert betrachten, da sie in

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

der Designtheorie kaum Beachtung findet. Die Animation ist eine Technik der Illusion, die in den verschiedensten bildgebenden Medien erzeugt werden kann. Es handelt sich nicht um eine spezifische Bildgattung, sondern um einen Effekt der Gestaltung, der auf die Rhetorik von Bildern zielt. Design ist hier als visuelle Rhetorik zu verstehen, als Wirkweise und Überzeugungskraft, die sich über die Medienspezifik hinweg entfalten kann – z. B. in Fotografie und Film, in Zeichnung und Illustration von der Buchgestaltung über die Karikatur zum Comic.  Es kann sich um stille oder bewegte Bilder handeln, um Momentaufnahmen oder sequenzielle Bilderfolgen, um Handzeichnungen oder Aufnahmen von Apparaten, um Trick- oder Realfilme usw. Nicht die Medien sind entscheidend, sondern die Machart und die Wahrnehmung seitens des Rezipienten: Wir sollen bzw. wollen glauben, was wir sehen. Der Effekt eines „Es ist so!“ fasziniert ästhetisch, auch wenn wir wissen, dass nicht sein kann, was diese Bilder zeigen. Das animierte Bild verstärkt letztlich einen Wesenszug, der allen Bildern eigen ist: Kein Bild ist je wahr oder realitätsgetreu, es zeigt immer nur Ausschnitte und Inszenierungen von vermeintlicher Wirklichkeit. Bilder sind Medien des Andersmöglichseins per se, sie können nur erfinden. Wie realistisch die Darstellung auch immer ausfällt, ein Bild bleibt stets ein ausgedachtes Bild. Jede bildlich erzeugte Welt zielt zudem auf die Immersion des Betrachtes, es appelliert an ihn, in die Darstellung einzutauchen. Das Bild macht für alle teilbar, greifbar und erlebbar, was man sich sonst nur geistig vorstellen könnte. Bilder übersetzen erdachte Szenen in sichtbare Materialität, sie illustrieren unsere Einbildungen. Jedes Bild projiziert – ob auf Papier, Leinwand oder digitale Datenträger –, es gibt unseren Fantasien ein Gesicht, es macht wahrnehmbar, was man sonst nicht gemeinsam betrachten könnte: φαντασία bedeutet wörtlich „Erscheinung, Vorstellung, Traumgesicht“. Medien sind also Mittler des Inkommensurablen, sie visualisieren erdachte Welten und kopieren keinesfalls die Wirklichkeit. In dieser Funktion des Sichtbarmachens sind alle Medien technische Medien, mit welchem Werkzeug auch immer hergestellt (Finger, Pinsel, Stift usw.) – ihr Ziel ist die Illustration unserer Imagination. Den Effekt der Animation möchte ich hier also in einem erweiterten Sinne verstehen: Er ist keinesfalls reduziert auf filmische Animationstechniken, die über die Wiedergabe von Einzelbildern mit ca. 24 Bildern pro Sekunde den Eindruck einer flüssigen Bewegung erzeugen. Der Trickfilm und das Kino bilden nur den

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8  Das animierte Bild. Illustration als Illusion

vorläufigen Endpunkt einer Geschichte der bildlichen Belebung, die mit der Höhlenmalerei in der Steinzeit begann. Der Mensch lernte zu malen, weil er zum Leben erwecken will – im ursprünglichen Sinne des lateinischen animare: beseelen und beleben bzw. Geist und Seele einhauchen. Bewegung und bewegte Bilder bilden dabei nur ein mögliches Zeichen von Lebendigkeit, doch kann auch jedes stille Bild animieren, was es darzustellen sucht. Dass diese Bilder lügen und betrügen, ist offensichtlich, müssen wir uns also vor ihnen fürchten? Der Homo sapiens weiß eigentlich um den Grad der Täuschung, dem er bei der Betrachtung erliegt. Die menschliche Kreativität, so der Intelligenzsprung, der sich mit der Höhlenmalerei vollzog, versteht nicht nur unsere Vorstellung von Welt durch unzählige Parallelwelten zu erweitern, sondern reflektiert gleich mit, dass es diese Bilderwelten nicht geben kann. Die Fähigkeit, Bilder zu erzeugen und zugleich ihre optische Täuschung zu durchschauen, macht das Bild als Entwurfsleistung des Menschen aus.1 Weil gestaltete Bilder nicht beanspruchen, eine Kopie der Wirklichkeit zu sein, beschäftigen sie sich damit, das Wirkliche anzureichern. Das animierte Bild ist frei und ungebunden, es kann zum Leben erwecken, was es will und wie es will: Vom lateinischen illustrare – erleuchten, preisen – geht die Bildlichkeit dabei eigene Wege, sie ist nicht reduzierbar auf einen vorgegebenen Text oder Inhalt. Im Unterschied zum informativen Bild im obigen Sinne folgt die Illustration nicht dem Wissen, sondern der Erfindung. Dabei macht sie stets mehr sichtbar, als es ihr Auftrag war, sie inszeniert und übertreibt. Das animierte Bild kann gar nicht anders, als sich in den Vordergrund zu schieben: Illustrationen bilden rhetorisch gesehen eine Hyperbel, sie schießen über ihr Ziel hinaus, sie übertreffen und überbieten den Vorstellungsinhalt. Jedes einfache Strichmännchen zeugt davon: Es schafft die Illusion einer menschlichen Figur, indem es alles Körperliche verzerrt und entstellt, reduziert und karikiert, es ist immer verzeichnet – und wirkt deshalb so unterhaltsam und gekonnt. Wer mit den einfachsten Mitteln bzw. der einfachsten Skizze den Eindruck zu erzeugen weiß, dass etwas aussieht wie echt und lebendig, hat die Idee des gestalteten Bildes begriffen – so wie ein Kind, wenn es in jungen 1

 gl. Nigel Spivey: Wie Kunst die Welt erschuf, Stuttgart: Reclam 2006. V Spivey beschreibt, wie die prähistorische Malerei als „Geburt der Fantasie“ die menschliche Intelligenz ermöglicht habe.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Jahren entdeckt, dass seine Zeichnung Welten animiert (Abb. 1). Jeder Strich ist hier das Versprechen einer Illusion, die nach Glaubwürdigkeit strebt. Daher übte sich auch ein Albrecht Dürer in ulkigen Kritzeleien, die zwischen traditioneller Groteske und heutigem Emoji zu schwanken scheinen, sie sollten die Briefe beleben, die er an seinen Gönner Willibald Pirckheimer schrieb (Abb. 2). Trotz allem ist die Geschichte der gestalteten Bilder prekär, aus religiösen oder philosophischen Gründen wurden sie immer wieder verachtet und verbannt. Ihr Auskommen mussten sie meist in den niederen Genres und den populären Künsten fristen. Skizzieren wir zunächst einen Überblick zu dieser Kritik, bevor wir uns der Funktionsweise dieser Bilder eingehender widmen.

8.1 Gestaltete Bilder von der Höhlenmalerei zum Kino Die Geschichte der Bildkritik ist vermutlich so alt wie die Bilder selbst, gerade die westliche Kultur ist von Ikonoklasmus geprägt: Bilderstürmer liefen zu allen Zeiten an gegen die Kraft der Animation, hier im Namen der Wahrheit, dort im Namen der Religion. Letztlich ging es allen um den richtigen Glauben: Nur rechtschaffene Bilder könnten die Welt auf moralisch gute Weise abbilden. Auch Platon formulierte seine Bildkritik in diesem Sinne, er war kein grundsätzlicher Feind des Bildes, sondern versuchte vielmehr, legitime von illegitimen Bildern zu unterscheiden. In seinem Idealstaat war daher alles zu untersagen, was Illusion erzeugt. Ob die Schauspielkunst auf der Bühne, die Sprachspiele der Rhetoren oder die mimetischen Abbilder der Maler oder Bildhauer – was der Täuschung eines „als ob“ dient, trübe die Sinne, verführe den Verstand und leite in die Irre. So zeigte Platon im berühmten Höhlengleichnis: Der animierte Schatten der Dinge verhindert, dass wir die Ideen selbst sehen, die wir nur im Inneren der Seele finden können. Schattenbilder sind nach Platon willkürlich und referenzlos, aber so faszinierend, dass wir ihnen stets erliegen. Ihr grundsätzlicher Mangel an Wahrheit mache sie anfällig für rhetorische Manipulation, in den Händen von Tyrannen bilden sie daher eine gefährliche Waffe. Modern formuliert fürchtete Platon vor allem Propaganda und Fake News, falsch und schädlich dargestellte Wirklichkeiten, an die die Menschen dennoch glauben. Nur abstrakte Bilder ohne Illusionscharakter wollte er daher in

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8  Das animierte Bild. Illustration als Illusion

1 Giovanni Francesco Caroto: Knabe mit Zeichnung, um 1520

2 Albrecht Dürer: Kritzelei in einem Brief an Willibald Pirckheimer, 1506

seinem Staat erlauben, so z. B. die anschauliche Darstellung mathematischer Gesetze oder andere abstrahierende Abbildungen wie Pläne oder Konstruktionszeichnungen, die uns das Erkennen und Begreifen erleichtern. Daher fasste auch Ernst H. Gombrich in Kunst und Illusion (1959) als zentrales Argument der platonischen Bildkritik zusammen:

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

„Was der Künstler nachbilden könne, sei eben nichts anderes als die bloße Erscheinung der Dinge. Die Welt des Künstlers ist für Plato eine Welt der Illusion, dem Spiegel verwandt, der unserer Augen täuscht. Wäre der Künstler tatsachlich imstande, Dinge zu machen, wie ein Tischler, könnte der Philosoph, der Sucher nach Wahrheit, sich mit ihm abfinden. Aber als Nachahmer der trügerischen, flüchtigen Welt der Sinne zieht er uns von der Wahrheit ab und muss aus dem Idealstaat verbannt werden.“2 Das Wesen der Animation hatte Platon gut erkannt, doch traute er dem Publikum nicht zu, die Täuschung zu durchschauen. Weil die Betrachter nicht zu differenzieren wüssten, bilde die Verwendung von Illusionsmedien eine Gefahr für den Staat. Man kann die Entwicklung des westlichen Kunstbegriffs durchaus als Folge von Platons Verdikt lesen: Es sollte sich eine Hochkultur der geistig-philosophischen Bilder von den gestalteten Bildern der Populärkultur abspalten. In der Kunst muss dem Bild die Kraft der Animation immer erst ausgetrieben werden – durch Wahrheit und Intellekt, durch Abstraktion und Avantgarde. Seither steht die hohe Ideenkunst der niederen Illusionskunst unvereinbar gegenüber. So wie in der Religion allein dem abstrakten Geist Gottes gehuldigt werden darf und nicht dem Blendwerk der Götzenbilder. Das gestaltete Bild muss in unserer Kultur folglich als anti-platonisch verstanden werden, es huldigt offen dem Augenkitzel, es ist nihilistisch und anarchistisch, da es an keine Wahrheit und Idee gebunden ist, an keinen Gott und Geist. Entfalten konnte sich das animierte Bild nur in der Volkskunst und in den niederen Genres bzw. den freieren Gattungen der Kunst vom Trompe-l’œil zum Capriccio.3 Im Grotesken und Burlesken, im Absurden und Unmöglichen darf die Illusionskunst uns weiterhin das Fürchten lehren oder zum Lachen bringen. Das Unheimliche und Monströse einerseits, das Komische und Satirische andererseits bilden bis heute das Rückgrat der populären Künste – in

2 3

 rnst H. Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der E bildlichen Darstellung (1959), Berlin: Phaidon 2002, S. 99. Vgl. Ekkehard Mai (Hg.): Das Capriccio als Kunstprinzip. Zur Vorgeschichte der Moderne von Arcimboldo und Callot bis Tiepolo und Goya, Mailand: Skira 1996.

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8  Das animierte Bild. Illustration als Illusion

Comic und Kino, in Karikatur und Zeichentrick. In diesen Genres ist jeder Unsinn erlaubt, solange er gut animiert ist. Die Illusion bildet somit den ewigen Gegenspieler der Kunst, doch kommt Letztere nicht ohne dieses Faszinosum aus. So führt Gertrud Koch in ihrer Studie zur Wiederkehr der Illusion (2016) aus, dass die Kunst die Täuschung des Bildes zwar grundsätzlich zu überwinden habe, aber dies nie vollständig gelingen könne. So zitiert sie Adorno, der seinerseits zu dem Schluss kam: „Die Dialektik der modernen Kunst ist in weitem Maße die, dass sie den Scheincharakter abschütteln will wie Tiere ein angewachsenes Geweih.“4 Kaum hat man sich der Illusion entledigt, wächst sie wieder nach. Aspekte der Animation erweisen sich auch in der Hochkultur als höchst beständig, denn kaum ein Bild vermag auf diese genuine Kraft des Bildlichen zu verzichten. So vermerkt auch Koch: „Das ‚ineffabile’ Gespenst der Illusion ist ein Wiedergänger der Kunst, der auf die Logik der Kunst verweist und nicht als ihr vormoderner Antagonist zu historisieren ist.“5 Kurzum: Die Kunst darf sich der Illusion nur bedienen, wenn sie den erzeugten Effekten durch Geist und Gedanke umgehend widerspricht, die gestalteten Bilder hingegen reizen diese Aspekte offen aus – das ist der wesentliche Unterschied. Was zeichnet nun die gute Gestaltung eines Bildes aus? Welche Regeln gelten für das freie Erfinden von immer anders möglichen Bilderwelten? Die Gestaltung vertraut dem Pakt mit dem Zuschauer, sie teilt die platonische Skepsis also nicht: Ein Bild darf lügen, weil der Betrachter um die Lüge weiß. Weil die Täuschung durchschaut wird, dürfen wir sie genießen. So ist z. B. Walt Disneys berühmte Mickey Mouse von 1928 sicherlich kein Porträt einer gewöhnlichen Maus, sie ist character design im buchstäblichen Sinne (Abb. 3)6: eine frei erfundene, künstlich generierte Persönlichkeit, die überhaupt nicht sein kann. Sie ist nicht das Abbild einer Maus, verweist auch auf keine Idee des Mausseins an sich –

 4

5  6

 eodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, in: ders., Gesammelte SchrifTh ten, Bd. 7, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 157. Hier zit.n. Gertrud Koch: Die Wiederkehr der Illusion. Der Film und die Kunst der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 9. G. Koch: Die Wiederkehr der Illusion, S. 9. Die Zeichentrickfigur Mickey Mouse wurde 1928 mit dem DisneyKurz-film Steamboat Willie berühmt, dem ersten Zeichentrickfilm, der neben der Begleitmusik den Figuren auch eine Stimme gab.

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Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

3 Walt Disneys Mickey Mouse in Steamboat Willie, 1928

Mickey Mouse ist eine glatte Lüge, sie ist geradezu die unmöglichste Übertreibung einer Maus. So hielt auch der russische Filmpionier Sergei Eisenstein in seiner unvollendeten Schrift Disney (1941) zum zentralen Effekt der Animation fest: „Wir wissen doch, dass es Zeichnungen sind und keine lebendigen Wesen. Wir wissen doch, das es die Projektionen von Zeichnungen auf der Leinwand sind. Wir wissen doch, dass es ‚Wunder’ und technische Tricks sind, dass es derartige Wesen auf der Erde nicht gibt. Und davon untrennbar empfinden wir sie als lebendige, empfinden wir sie als handelnde, empfinden wir sie als existierende oder sogar denkende Wesen!“7 Der medienkompetente Zuschauer verwechselt das Kino zwar nicht mit der Wirklichkeit, er weiß um den Fortbestand der Realität, wenn der Film zu Ende ist. Doch für die Länge der Vorführung will er glauben und miterleben, was die Illusion auf die Leinwand zaubert – als „willentliche Aussetzung von Ungläubigkeit“ wie es der Dichter Samuel Taylor Colerid-

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 ier zitiert nach Cord Riechelmann, Brigitte Oetker (Hg.): Toward an H aesthetics of living beings / Zu einer Ästhetik des Lebendigen, Jahresring 62, Berlin 2015, S. 93. Vgl. weiterführend Sergei Eisenstein: Disney, hg. von Olga Bulgakova, Dietmar Hochhuth, Berlin: Potemkin Press 2011.

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4 Walt Disney als Präsentator, 1955

ge 1817 formulierte.8 Technische Medien, wie z. B. belichtende Apparate oder Lichtspielprojektionen, brauchte es dafür nicht. Die Geschichte der Animation begann in den Höhlen unserer Vorfahren, davon war auch schon Walt Disney überzeugt. In seiner Film-Dokumentation The Story of the Animated Drawing von 1955 führt der Trickfilmproduzent persönlich durch die Geschichte der Animationstechniken und Apparate (Abb. 4)9 – nicht von ungefähr in einer höchst illusionistischen Mischung aus Realfilm und Trickfilm. Man mag die Animation für eine moderne Erfindung halten, so startet Disney seine Erzählung, aber begonnen habe sie in den Höhlen von Lascaux, Alta Mira u. a. Die ersten Künstler hatten bei dem Versuch, bewegte Tiere abzubilden, die Beinpaare verdoppelt, so dass man sie sequenziell im Neben- bzw. Nacheinander sieht. Das abgefilmte Foto eines steinzeitlichen Bisons beginnt sich daraufhin zu bewegen, im Trickfilm sieht man das Tier nun rennen, da die Beinpaare in rascher Abfolge abwechselnd gezeigt werden. Dem Storyboard bzw. Comic ähnliche sequenzielle Bilderserien gab es auch bei den alten Ägyptern, so dass die Disney-Dokumentation auch diese zu beleben beginnt: Zwei Männer in Lendenschurz beginnen beherzt miteinander zu ringen und

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 amuel Taylor Coleridge: Biographia Literaria (1817), Oxford, 1907, S Bd. II, Kapitel XIV, S. 6. Die ersten Teile der Dokumentation sind zu sehen unter www.youtube.com/watch?v=5xnQSLxJmMg vom 18.1.2018.

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5 Ägyptische Wandmalerei in den Grabkammern von Beni Hasan, um 2000 v. Chr.

zu raufen (Abb. 5). Anschließend lässt es sich Walt Disney nicht nehmen, auch die berühmte Proportionsstudie Der vitruvianische Mensch (1492) von Leonardo da Vinci zum Vorläufer des Animationsfilms zu erklären: Denn auch diese Zeichnung weist verdoppelte Arm- und Beinpaare auf (Abb. 6), so dass sie sich hervorragend animieren lässt – und daher umgehend vor den Augen des Betrachters ein zappeliges Tänzchen mit musikalischer Pointe unternimmt. Disneys anschließende Vorführung der historischen Apparate bzw. Animationstechniken von Thaumatrop über Phenistoscop und Zoetrop zum Praxinoskop usw. demonstriert die Geschichte der optischen Theater in einer bis heute sehenswerten Aufführung. Die Erfindung des Realfilms erscheint mit einem Mal nur noch als späte Kopie des gezeichneten Kinos bzw. des nichtfotografischen Zeichentrickspiels eines Charles-Émile Reynaud. Der Animationsfilm – das wird oft unterschlagen – ging dem Realfilm um einige Jahre voraus. Reynauds optisches Theater, das mit Spiegeln bzw. sogenannten Zauberlaternen bewegte Bilder auf realistisch gemalte Hintergründe projizierte, erreichte zwischen 1888 und 1900 eine halbe Millionen Zuschauer, nahm aber seinen raschen Niedergang, nachdem die Gebrüder Lumière ihren Kinematographen eingeführt hatten. Der von Disney präsentierte Siegeszug der Animation von der Höhlenmalerei zum Kino fällt sicher recht heroisch aus, aber er entspricht durchaus den Fakten. Wie überzeugend die Illusionstechniken der Steinzeit schon funktionierten, belegt auch die archäologische Forschung. So schreibt z. B. Gerhard Bosinski zur prähistorischen Bewegungsdarstel-

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6 Leonardo da Vinci: Der vitruvianische Mensch, um 1490

lung durch die Verdoppelung der Beinpaare von Tieren: „Dabei ist die Genauigkeit, mit der dieser Bewegungsablauf beobachtet und gezeichnet wurde, erstaunlich. Die im 19. Jahrhundert mit komplizierten Verfahren durchgeführten Analysen des Bewegungsablaufs beim Galopp eines Pferdes kommen zu keinem besseren Ergebnis.“10 Zudem gilt heute als gesichert, dass die Bilder im Inneren der Höhlen in einem inszenierten Gesamtkunstwerk aus Licht- und Schattenspielen zur Aufführung gebracht wurden. Das Feuer, das die Höhlen immer erst erhellen musste, setzte man keineswegs neutral ein, sondern nutzte es zur effektvollen Steigerung und Dramatisierung der ersten Bewegtbilder unserer „Kinogeschichte“. Das Medienzeitalter begann also schon mit den ersten Lampen des Steinzeitmenschen: Man strich brennbaren Talg in die Mulden von Steinen und konnte die mobile Lichtquelle wie eine Taschenlampe nutzen, um die gezeichneten Szenarien in Bewegung zu setzen. Werner Herzogs Dokumentarfilm Höhle der vergessenen Träume (2010) lässt uns diese Faszination der ersten animierten Bilder in einer 3D-Kinoversion

10 G  erhard Bosinski: „Das Bild in der Altsteinzeit“, in: Klaus SachsHombach (Hg.), Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 31–73, hier S. 66.

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7 Sequenzielle Darstellung eines Berglöwen in der Chauvet-Höhle

nacherleben: Eindrucksvoll beleuchtet und belebt Herzog die sequenziell nebeneinander gezeichneten Tiere der südfranzösischen Chauvet-Höhle mit dem Lichtstrahl tragbarer Lampen (Abb. 7). Man begreift angesichts der Unmittelbarkeit und Lebendigkeit jener Darstellungen, warum auch Pablo Picasso ausgerufen haben soll: „Wir haben nichts dazugelernt!“, als er 1941 die gerade erst entdeckte Höhle von Lascaux besuchte. 11

8.2 Animation als Dynamisierung von Raum und Zeit Wie der Film seine Bildlichkeit animiert, liegt auf der Hand, er bildet Bewegung in bewegten Bildern ab. Doch wie können stille Bilder (ohne Beleuchtung oder Projektion als Lichtspiel) lebendig und bewegt wirken? Um den kinematographischen Effekt z. B. auch in Zeichnungen zu entdecken, benötigt man eine Sicht auf den Film, die über Mediengrenzen hinweg denkt. Eine solche Perspektive formulierte der Kunsthistoriker Erwin Panofsky in seinem mehrfach überarbeiteten Aufsatz Stil und Medium im Film (1936/1947).12 Mit diesen Ausführungen wollte er für die

11 V  gl. N. Spivey: Wie Kunst die Welt erschuf, S. 24. 12 Erwin Panofsky: Stil und Medium im Film & Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers, Frankfurt a.M.: Fischer 1999. Zu den verschiedenen Fassungen des Aufsatzes vgl. S. 10f.

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Anerkennung und Aufwertung des damals noch jungen Mediums werben.13 Die Filmkunst, so betont Panofsky, sei sicher keine „große Kunst“, sie müsse vielmehr über ihre Ursprünge in der Volkskunst begriffen werden. Denn der Film bilde – wie auch Karikatur und Gebrauchsgrafik – eine unterhaltende Kunst, die „wirklich lebt“.14 Auch ohne den philosophischen Diskurs der Hochkultur vermag sie ästhetische Freiheiten auszuloten: „Indem sie mitteilbar sein muss, ist die kommerzielle Kunst vitaler als nichtkommerzielle, und deshalb hat sie weit mehr Wirkungsmöglichkeiten, im guten wie im schlechten.“15 Panofsky ordnet das Kino also den gestalteten Bildern zu, über die Engführung von Realfilm und Trickfilm beschreibt er in diesem Zuge die zentralen Kriterien der Animation. Wie ich zeigen möchte, lässt sich diese Perspektive auch sehr gut auf nicht-filmische Bilder anwenden. In seinem Aufsatz grenzt Panofsky die Bildlichkeit des Films zunächst von den darstellenden Künsten der Bühne ab. Das Kino sei keine Weiterentwicklung des Theaters, sondern habe allem voran gezeichnete Bilder in Bewegung gebracht: „Die Werke ohne Bewegungsgehalt, die die frühesten Filme lebendig werden ließ, waren tatsächlich Bilder: schlechte 19. Jahrhundert-Gemälde und -Postkarten oder Wachsfiguren à la Madame Tussaud, dazu comic strips, eine sehr bedeutsame Wurzel der kinematographischen Kunst, und die Thematik von Gassenhauern, Romanheftchen und Groschengeschichten.“16 Gerade als niedere, frei fantasierende Illusionskunst, zwischen Sensation und Zauberei, moralisierender Romanze und krudem Humor, gelang es dem Kino die Grenzen der alten Guckkastenbühne zu sprengen. Die Kameraführung erlaubte fortan eine zeitliche wie räumliche Dynamisierung, die dem damaligen Theater fremd war.

13 M  it dem ursprünglichen Vortrag an der Princeton University wollte Panofsky für den Aufbau eines Filmarchivs am MoMA werben. Aus diesem ist heute eine der bedeutendsten Filmsammlungen der Welt hervorgegangen. Vgl. Horst Bredekamp: „On Movies. Erwin Panofsky zwischen Rudolf Arnheim und Walter Benjamin“, in: Thomas Koebner, Thomas Meder (Hg.), Bildtheorie und Film. München: edition text + kritik 2006, S. 239–252. 14 E. Panofsky: Stil und Medium im Film, S. 22. 15 Ebd., S. 52. 16 Ebd., S. 23.

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Zwar habe der Zuschauer im Kino einen festen Sitzplatz, aber, so Panofsky: „ästhetisch ist er in ständiger Bewegung, indem sein Auge sich mit der Linse der Kamera identifiziert, die ihre Blickweite und -richtung ständig ändert. Ebenso beweglich wie der Zuschauer ist aus demselben Grund der vor ihm erscheinende Raum. Es bewegen sich nicht nur Körper im Raum, der Raum selbst bewegt sich, nähert sich, weicht zurück, dreht sich, zerfließt und nimmt wieder Gestalt an […] – nicht zu reden von Spezialeffekten wie Erscheinungen, Verwandlungen, Unsichtbarwerden, Zeitlupen-, Zeitraffer-, Negativ- und Trickaufnahmen. Eine Welt von Möglichkeiten öffnet sich, von denen das Theater niemals träumen kann.“17 Den Ausbruch aus dem starren System der Guckkastenbühne schreibt Panofsky vor allem dem Animationsfilm zu. So hält er mit Bezug auf Walt Disneys Zeichentrick-Musical Fantasia von 1940 fest: „Innerhalb ihrer selbstgewählten Grenzen stellen die frühen Disneyfilme und einzelne Passagen aus den späteren das sozusagen chemisch reinste Destillat der filmischen Möglichkeiten dar.“18 Hier wird erneut deutlich: Im Zentrum der filmischen Idee stand der illusionistische Trick und nicht die Abbildung von Realität. Die Erfindung des Kinos folgte der animierten Zeichnung, denn ihr gelang es, andere Welten bzw. das radikale Andersmöglichsein von Welt frei zu erfinden und stilistisch auszumalen. Der dokumentarische Gestus der Gebrüder Lumière fand in Panofskys Filmgeschichte folglich keine Erwähnung.19 Der von ihm beschriebene Effekt einer „Dynamisierung des Raumes“ bzw. einer „Verräumlichung der Zeit“20 erweist sich als das zentrale Motiv: Auf diese Weise kommt Leben in die Bilder. Es müssen aber nicht die Bilder selbst sein, die sich filmisch bewegen, vielmehr

17 Ebd., S. 25f. 18 Ebd., S. 32. 19 Vgl. Norbert M. Schmitz: „Weshalb die Brüder Lumière nicht den Film erfanden – Überlegungen zur medialen Form des kinematographischen Bewegungsbildes“, in: Lars Christian Grabbe u. a. (Hg.), Narration, Serie und (proto-)filmische Apparate, Köln: Herbert von Halem 2014, S. 115–140. 20 E. Panofsky: Stil und Medium im Film, S. 25.

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8 Filmplakat zu Dsiga Wertows Der Mann mit der Kamera, 1929

wird das sehende Auge der Kameraführung als bewegt und beweglich wahrgenommen. Diese Funktion des mobilen Kameraauges hat z. B. auch der russische Filmemacher Dsiga Wertow für das frühe Kino aufschlussreich in Szene gesetzt. Panofsky erwähnt ihn zwar nicht, aber das Beispiel mag an dieser Stelle hilfreich sein: Wertows alltagspoetischer Experimentalfilm Der Mann mit der Kamera (1929) kann geradezu als Fibel der filmischen Mittel verstanden werden; er war vom Autor auch als Volksaufklärung in Form eines Films über den Film gedacht. Die Kamera selbst erscheint hier als der Hauptdarsteller, Wertow personifiziert sie als eine Art sehendes Lebewesen (Abb. 8) und schreibt daher in seinem Manifest Kinoki – Umsturz (1923) auch aus ihrer Perspektive: „Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann. Von heute an und in alle Zukunft befreie ich mich von der menschlichen Unbeweglichkeit. Ich bin in ununterbrochener Bewegung, ich nähere mich Gegenständen und entferne mich von ihnen, ich krieche unter sie, ich klettere auf sie, ich bewege mich neben dem Maul eines galoppierenden Pferdes, ich rase in voller Fahrt in die Menge, ich renne vor angreifenden Solda-

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ten her, ich werfe mich auf den Rücken, ich erhebe mich zusammen mit Flugzeugen, ich falle und steige zusammen mit fallenden und aufsteigenden Körpern.“21 Wertows Beschreibung stellt ebenfalls die visuelle Dynamik von Raum und Zeit in den Vordergrund: Der Realfilm animiert das Dargestellte, indem er die Wirklichkeit derart übersteigert, dass sie in die Illusion kippt. Denn niemand vermag die Realität tatsächlich so zu sehen wie die Kamera. An Täuschung und Betrug dachte Wertow natürlich nicht, im Gegenteil, er hatte vollstes Vertrauen in den Pakt mit dem Zuschauer. Die offensichtliche Lüge der Bilder machte er z. B. durch eine gewitzte Trickfilmsequenz deutlich: In einer der letzten Szenen erweckt er seine Kamera förmlich zum Leben. Auf wackeligen Beinen alleine vor einer Wand stehend, beginnt sie sich zu bewegen, ohne dass sie jemand bedient oder berührt. Sie bringt sich das Laufen bei, so wie sich auch die Kameratasche selber packt und die beiden sich aufmachen, nun autonom und selbstbewusst, ihre eigenen Filme zu drehen. Die Komik der Szene verdeutlicht dem Betrachter einmal mehr, dass einfach nicht sein kann, was man da sieht. Die Freude an der entdeckten Täuschung überwiegt, man weiß um den Trick und fällt nicht darauf herein. Der Witz schützt den Zuschauer in den populären Künsten davor, das Bild mit der Wirklichkeit oder Wahrheit zu verwechseln – wie Platon es einst befürchtet hatte. Wie kann es Zeichnung, Karikatur und Comic gelingen, mit dem bewegten Auge einer Kamera mitzuhalten? Anhand von drei Zeichnern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts möchte ich zeigen, wie das animierte Bild schon in der Zeit vor dem Film bzw. zu Beginn des Filmzeitalters unser filmisches Sehen anregte. Grandville (eigentlich Jean Ignace Isidore Gérard 1803–1847), Wilhelm Busch (1832–1908) und Winsor McCay (1871–1934) sind zwar im Hinblick auf Leben und Werk kaum zu vergleichen, ihre jeweiligen Schaffenskontexte in Frankreich, Deutschland und den USA unterschieden sich erheblich. Grandville verstand sich als reiner Zeichner und ließ die Texte, wenn er überhaupt welche vorsah, meist von anderen schreiben, Busch hingegen war begnadeter 21 D  siga Wertow: „Kinoki – Umsturz“ (1923), in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 2003, S. 36–50, hier: S. 45f.

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Dichter und Illustrator zugleich. McCay konnte um 1900 bereits auf die modernen Massenmedien zurückgreifen, er gilt daher nicht nur als Wegbereiter des Comics, sondern etablierte sich auch als Begründer des frühen Zeichentrick- bzw. Animationsfilms. Doch manche Erfahrung verband sie auch: Alle drei waren als Zeichner zwar beliebt und erfolgreich zu ihrer Zeit. Aber ihr Status als Gestalter war dem eines Künstlers nicht vergleichbar, die kulturelle Anerkennung blieb ihren Werken lange verwehrt. So hatte Grandville schon zu Lebzeiten verfasst, was auf seinem Grabstein stehen sollte: „Hier liegt J.J. Grandville. Er beseelte Alles und machte, nach Gott, Alles leben, sprechen oder gehen, er verstand es aber nicht, den rechten Weg zu seinem Glück einzuschlagen.“22 Grandville endete im psychischen Wahn, Busch in der Sucht, und auch McCay musste am Ende seiner Karriere enttäuscht feststellen, dass es die Animationstechniken nicht geschafft hatten, künstlerische Anerkennung zu finden: „Keine Kunst, bloß ein Geschäft. Was ein Unglück!“, so McCay.23 Nach den Codierungen der Kunst kann man ihre Werke tatsächlich nicht bewerten, sie arbeiteten an anderen Themen und Diskursen: Die drei Zeichner beschäftigten sich mit den kollektiven Phantasmen ihrer Zeit – in Form von Träumen und Traumata, Wünschen und Ängsten, Utopien und Dystopien. Die radikale Übertreibung des jeweils Wirklichen wie Unwirklichen schälte dabei skurrile Welten heraus. Die Bilder sprengen ihre Rahmen, sie werden fantastisch in Bezug auf den Inhalt wie auf die Form. Alles Unmögliche wird hier möglich, man trifft auf Illusionskunst in Reinform. Die gerade beschriebenen Kriterien der räumlichen und zeitlichen Dynamisierung machen daher auch ihre Illustrationen aus – so betrachte man z. B. die Illusion eines zeitlichen Bewegungsablaufs: Das stille Bild der Zeichnung kann hier zu ebenso einfachen wie wirksamen Mitteln greifen. Es kann z. B. die Handlung im Nacheinander von Bilderfolgen auflösen oder, noch gewitzter, noch unmöglicher, in Einzelbildern die Personen oder Dinge mehrfach bzw. simultan darstellen. Raum und Zeit fallen somit zusammen, indem das Nebeneinander immer auch ein Nach-

22 H  ier zitiert nach Gottfried Sellos Einleitung zu Grandville: Das gesamte Werk, 2 Bde., München: Rogner und Bernhard 1969, S. 6. 23 Hier zitiert nach Alexander Braun: Winsor McCay. Comics, Filme, Träume, Bonn: Bocola 2012, S. 304.

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einander in Szene setzt. Wilhelm Busch zeichnete auf diese Weise ein höchst bewegtes Klavierspiel in Der Virtuos. Ein Neujahrskonzert von 1865 (Abb. 9).24 Besagter Klaviervirtuose führt in seinem Privatkonzert für nur einen Zuhörer „durch alle Wunder seiner Kunst“, so Buschs einführende Zeilen. Die Tempi des aufgeführten Stücks werden im „Stummfilm“ der Bilderfolge visuell hörbar gemacht – was in sich schon ein Widerspruch ist. Die Untertitel helfen beim Wahrnehmen der anfänglichen Stille (Silentium) über die pathetische Introduzione, das heitere Scherzo, das gefühlvolle Adagio usw. hin zur dichterisch frei erfundenen Fuga del diavolo sowie der fulminanten Steigerung im Forte vivace, Fortissimo vivacissimo und dem abschließenden Finale furioso. Die Bildunterschriften allein wären hier bedeutungslos, erst die groteske Übertreibung des Bildes macht den heiteren Sinn und Unsinn der Geschichte aus. Das Abbilden der körperlichen Bewegung im rasenden Nebeneinander der Finger, des Kopfes und des kecken Taschentuchs, das dem Pianisten als ebenso emotional teilnehmender Mitspieler aus der Hosentasche ragt, lässt

24 V  gl. in voller Länge in Wilhelm Busch: Das dicke Busch-Buch, hg. von Wolfgang Teichmann, Berlin: Eulenspiegel 1988, S. 376–378.

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9 Wilhelm Busch: Der Virtuos. Ein Neujahrskonzert, 1865 (Ausschnitt)

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10 Grandville: Spaziergang am Himmel, 1847

uns die Szene protofilmisch deuten.25 Körper und Dinge werden zum Leben erweckt, das Taschentuch ringelt und verknotet sich als Teil der musikalischen Interpretation – bis sich zuletzt auch die Töne als wild herumwirbelnde Noten und Notenschlüssel zu materialisieren scheinen. Die hier vollzogene Simultanschau, so hielt der Maler August Macke später in einem Brief an den Galeristen Herwarth Walden fest, werde immer als große Erfindung der Futuristen gefeiert, dabei sei sie schon die Leistung Wilhelm Buschs gewesen. Er habe erstmals Zeit und Bewegung in ein Bild gebannt.26 Und wir können anfügen: Auch die Chronofotografie von Eadweard Muybridge, Étienne-Jules Marey u. a., die als verzeitlichte Bewegungsdokumentation ebenfalls als Vorläufer des Kinos gilt, nahm Busch in seinen Zeichnungen bereits vorweg. Wie die Verräumlichung der Zeit in eine Verzeitlichung des Bildes übergehen kann bzw. sich beides zu einem unauflösbaren Ver-

25 Vgl. Bernd Dolle-Weinkauff: „Vom Einzelbild zur Erzählung. Narrative Dynamik in Bildgeschichte und Comic“, in: Lars Christian Grabbe u. a. (Hg.), Narration, Serie und (proto-)filmische Apparate, Köln: Herbert von Halem 2014, S. 81–114. 26 Vgl. Eva Weissweiler: Wilhelm Busch. Der lachende Pessimist. Eine Biographie, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007, S. 143f.

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wirrspiel vermengt, zeigte auch schon Grandville, z. B. in der eigenartigen Verwandlungsszene Spaziergang am Himmel von 1847 (Abb. 10).27 In der Betrachtung lässt sich eigentlich nicht unterscheiden, ob die abgebildeten Gegenstände alle gleichzeitig präsent sind oder ob wir hier einer langsam voranschreitenden Metamorphose beiwohnen. Grandville zeigt die Szene letztlich von einem unmöglichen Betrachterstandpunkt aus, man meint, ein frei in der Luft schwebendes, geradezu göttliches Kameraauge vor sich zu haben. Unrealistische Vogelflugperspektive setzte Grandville immer wieder ein, um die „Guckkastenbühne“ der alten Bildtradition zu sprengen. So zeigt er z. B. in seinem Bildroman Un autre monde von 1843/44 als Titelbild des Kapitels „Die Erde aus der Vogelperspektive“ eine Zirkusreiterin, waghalsig auf einem galoppierenden Pferd stehend, mit aufgebläht flatterndem Tuch an der Bande der Manege kreisend, als steil von oben wie aus der Zirkuskuppel „gefilmt“ (Abb. 11).28 In dieser schwindelerregenden Perspektive scheint sich alles zu drehen und zu bewegen. Was lebt, hat sich in Raum

11 Grandville: Die Erde aus der Vogelperspektive in Un autre monde, 1843/44

27 I llustration aus Le Magasin pittoresque (1847), in: Grandville: Das gesamte Werk, Bd. 1, S. 313. 28 Ebd., Bd. 2, S. 1184.

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12 Winsor McCay: Little Nemo in Slumberland, 21. Juli 1907 (Ausschnitt)

und Zeit zu bewegen, das wusste McCay nicht erst zu Beginn des Trickfilms, sondern schon als Comiczeichner: Das Durcheinander einer Prügelei wird in seinem berühmten Comicstrip Little Nemo in Slumberland (1905–1914) z. B. als regelrechter Drehkreisel aus den simultan abgebildeten Körperteilen eines unauflösbaren Figurenknäuels dargestellt (Abb. 12).29 Wie Grandville spielte auch McCay sehr oft mit einem frei im Raum fliegenden imaginären Aufnahmestandpunkt: Der Little-Nemo-Comic einer rasanten Rutschpartie von 1909 (Abb. 13)30 hat keinen anderen Inhalt als die schwindelerregende „Kamerafahrt“, ein Treppengelände entlang, das seinerseits zu leben scheint, da es die hinabrutschenden Helden der Geschichte herumschleudert und abwirft wie ein toll gewordenes Reittier. In einer nicht enden wollenden Spirale windet sich die animierte Treppe in das Weltall hinein, um schlussendlich den kleinen Nemo mutterseelenallein ins schwerelose Nichts zu schleudern – bevor der Junge, wie in diesem Strip üblich, am Ende aus seinem Traum erwacht, da er aus dem Bett fällt. Ob zeitliche Simultanschau oder räumlich undenkbare Aufnahmeperspektiven – bei29 W  insor McCay: Little Nemo in Slumberland. 1905–1914, Köln: Taschen 2000, S. 101. 30 Ebd., S. 192.

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de Blickweisen sind letztlich unmöglich und animieren umso besser das surreale Niemandsland unserer Phantasmen. Die Bewegung von Zeit und Raum sprengt alle Vernunft des Sehens. Die animierte Bildlichkeit stellt sich hier selbst aus. Je absurder das Thema, desto gekonnter die szenische Belebung – wie z. B. die Idee, einen Nieser in einer Serie von Einzelbildern abzubilden, was McCay und Busch gleichermaßen unternahmen: McCay erfand für seine mehrere Jahre laufende Comicserie Little Sammy Sneeze (1904–1906) eine Figur, die nichts anderes zu tun hat, als ein gewaltiges Hatschi hervorzubringen (Abb. 14).31 Der Spannungsaufbau vom ersten Kitzeln in der Nase bis zur explosionsartigen Entladung wird sequenziell inszeniert, als werde hier ein Katastrophenfilm parodiert. Alexander Braun zieht hier einen treffenden Vergleich zur Chronofotografie: „McCay richtete seinen Bildausschnitt auf den Jungen Sammy aus, wie Muybridge seine Kamera auf Rennpferde.“32

13 Winsor McCay: Little Nemo in Slumberland, 18. April 1909 (Ausschnitt)

31 Winsor McCay: Little Sammy Sneeze, Bonn: Bocola 2010, S. 10f. 32 A. Braun: Winsor McCay, S. 63f.

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14 Winsor McCay: Little Sammy Sneeze, 11. September 1904 (Ausschnitt)

Diese Dynamik interessierte auch Wilhelm Busch in seiner Schnupftabak-Geschichte Die Prise von 1868 (Abb. 15)33. Anders als im Little-SammyStrip geht es hier weniger um die Auswirkungen des Niesers auf die Umwelt, sondern um die Grimassen, die der Herr schneidet, bis sich das erlösende Hatschi endlich einstellt. Der ulkig hinausgezögerte Moment vor dem Moment wird hier zum Thema der Geschichte, als absichtlich gedehnte Zeit, die eine fotografische Momentaufnahme nie leisten könnte. Der Text unterstreicht diese Funktion, indem der Dichter an den Leser appelliert: „Die Spannung steigt, der Drang wird groß – Nur still! Gebt acht! – gleich drückt er los!“34 Die Animationsstrategien aller drei Zeichner verhandeln also Raum und Zeit als Illusionstechnik des Bildes, sie liefern die Koordinaten unserer Wahrnehmung jenem Verwirrspiel aus, das gute Unterhaltung ausmacht. Es gilt, den Rahmen des Möglichen zu sprengen – dreist und unverblümt, anarchisch und chaotisch, bis wir den Boden unter den Füßen verlieren.

33 Vgl. in voller Länge W. Busch: Das dicke Busch-Buch, S. 418f. 34 Ebd., S. 419.

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15 Wilhelm Busch: Die Prise, 1868

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8.3 Der gesprengte Rahmen: Zum Code des Cartoons Karikatur und Illustration, Comic und Zeichentrick sind bis heute nihilistische Genres geblieben, sie sprengen lustvoll den Rahmen des Möglichen. Die Strategien des Unwahrscheinlichen wirken dabei auch zerstörerisch, sie verlassen nicht nur die Vernunft unserer Alltagswahrnehmung, sie zersetzen auch den Rahmen der Abbildung selbst. Wenn die Protagonisten aus ihren eigenen Bildern bzw. Bilderrahmen zu fallen scheinen, wirken sie umso lebendiger. Sie steigen aus dem eigenen Bildregime aus, um in andere Realitäten einzutauchen oder sich gleich in die unsere hineinzuwagen. Sie handeln so autonom und selbstbewusst, als hätte man ihnen Leben eingehaucht. Metabilder, die durch die Zerstörung ihres Rahmens das eigene Bildsein thematisieren,35 findet man wiederum in allen Medien und Genres: McCays Little Sammy verlässt die Bühne seiner bildlichen Existenz, indem er den tradierten Guckkasten einfach niesend wegsprengt (Abb. 16)36 – doch wo befindet er sich nun? Die Thematisierung des Bilderrahmens kennt man natürlich schon vom Trompe-l’œil, das die abgebildeten Figuren und Gegenstände durch optische Illusion in die Welt vor dem Bild drängen ließ (Abb. 17). Kinematographische Ausstiege aus dem Film bzw. aus einem Film im Film sind nicht minder beliebt, so denke z. B. an Buster Keatons Sherlock Junior von 1924 (Keaton als Filmvorführer schläft während einer Vorstellung ein und erwacht plötzlich als Held des Films, den er gerade zeigt) oder an Woody Allens The Purple Rose of Cairo von 1985 (der Held eines Spielfilms, den eine Frau immer wieder im Kino ansieht, spricht sie als Zuschauerin plötzlich unmittelbar an und steigt schließlich noch aus der Leinwand heraus, um lebendig vor ihr zu stehen, Abb. 18).37 Die Mittel des animierten Bildes machen sich hier selbst zum Gegenstand der Abbildung, sie decken ihren Täuschungscharakter auf, indem sie sich bloßstellen als Illusion. Die imaginäre Vierte Wand zwischen Bühnen- und Zuschauer-

35 Z  um Begriff des Metabildes vgl. Victor Stoichiță: Das selbstbewusste Bild: Der Ursprung der Metamalerei, München: Wilhelm Fink 1998. 36 W. McCay: Little Sammy Sneeze, S. 80. 37 Vgl. Victor I. Stoichita: „Trompe l’œil kinematographisch“, in: Bärbel Hedinger (Hg.), Täuschend Echt. Illusion und Wirklichkeit in der Kunst, München: Hirmer 2010, S. 48–51.

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16 Winsor McCay: Little Sammy Sneeze, 24. September 1905

17 Pere Borrell del Caso: Flucht vor der Kritik, 1874

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18 Woody Allen: The Purple Rose of Cairo, 1985

raum, die normalerweise den Pakt mit dem Zuschauer besiegelt, wird hier durchbrochen. Eben dieser Durchbruch verstärkt die Illusion nur, denn die Figuren wirken umso belebter – der Animationseffekt steht nun selbst auf der Bühne. Die Lust am Schauen nimmt zu, je aggressiver der Rahmen des Bildes gesprengt wird: So erweckt Grandville z. B. ein Gemälde im Museum zum Leben, das auch noch beginnt, seine Betrachter zu attackieren (Abb. 19). Die Bildlegende hält daher fest: „Die Aufseher werden gut daran tun zu verhindern, daß die Besucher diesen Bildern zu nahe kommen, denn es könnte ein Unfall geschehen.“38 Narrativ noch verstrickter unternahm McCay einen Durchbruch der Vierten Wand in einem Strip aus der Serie Dream of a Rarebit Fiend39 (1904–1925): Der Held des Comics wendet sich hier direkt an den Betrachter, um sich über seinen eigenen Zeichner zu beschweren (Abb. 20).40 So macht er sich darüber lustig, wie der Illustrator ihn heute wieder einmal einkleidet. Er habe sich nie träumen lassen, als Tuschezeichnung für eine Herrenmodekollektion zu enden. Der Zeichner selbst kommt dabei nicht zu Wort, er scheint aus dem Gespräch von Protagonist und Betrachter ausgeschlossen. Aber er rächt sich umgehend an der Figur, die so unverschämt über seine Zeichenkunst lästert, indem er beginnt, sie mit Tintenklecksen zu bespritzen. Der Held wiederum hält seinen Schöpfer nun für gänzlich unfähig oder 38 G  randville: Das gesamte Werk, Bd. 2, S. 1222. 39 In der Serie geht es um nächtliche Alpträume: Der ausgiebige Genuss von Käsetoast („welsh rarebit“) schlägt den Protagonisten jeweils so sehr auf den Magen, dass im Schlaf die absonderlichsten Träume hervorgerufen werden. 40 Vgl. Alexander Braun, Max Hollein (Hg.): Pioniere des Comics. Eine andere Avantgarde, Ostfildern: Hatje Cantz 2016, S. 58.

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19 Grandville: Die Kunstausstellung der Marionetten in Un autre monde, 1843/44

20 Winsor McCay: Dream of the Rarebit Fiend, 4. Juli 1907

gar betrunken und schreit ihn nur an, er möge ein neues Bild zeichnen, er wolle lieber im Papierkorb landen, als noch weiter verschandelt zu werden. Das Sprengen und Verschachteln des Rahmens bzw. die entsprechende

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21 Grandville: Die Planetenbrücke in Un autre Monde, 1843/44

22 Grandville: Das Tier im Mond, 1838

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Entgrenzung des Raumes bilden neben den zuvor beschriebenen dynamischen Aufnahmestandpunkten, Kamerafahren und Simultanschauen die wohl wichtigste Animationstechnik zur Belebung von Bildern. Besonderer Beliebtheit erfreut sich dabei das Motiv des lebenden Mondes und anderer ferner Planeten, die das Andersmöglichsein von Welt kaum anschaulicher vor Augen führen könnten. Die Erweiterung des Realraumes in die unendlichen Weiten des Alls hat die Funktion, frei erfundene Paralleluniversen als möglich und denkbar erscheinen zu lassen, als könnte man einfach hinüberspazieren wie auf der „Planetenbrücke“ in Grandvilles Bildroman Un autre monde (Abb. 21). In einer Illustration zu Jean de La Fontaines Fabel Das Tier im Mond (1678) setzt Grandville unseren Nachbarplaneten ins Zentrum eines weiteren optischen Raumrätsels (Abb. 22).41 Die Fabel La Fontaines erzählt von einem Philosophenstreit, der das Fernrohr hinterfragt: Sieht man durch das optische Gerät die fernen Planeten realitätsgetreu oder medial so verzerrt, dass man gar dort lebende Wesen zu erkennen meint? Einmal habe sich eine Maus im Fernrohr versteckt, die man sogleich als Tier im Mond zu identifizieren meinte. In verschachtelter Trompe-l’œil-Technik, das Zwei- und Dreidimensionale vermischend, spielt Grandvilles Illustration der Geschichte mit unserem räumlichen Wissen und Sehen, beides lässt sich hier partout nicht zusammenbringen. So dichtete auch La Fontaine: „Es trügt mein Auge nimmer mich, obwohl es immer lügt. Schenkt’ ich ihm Glauben, nun, da müßt’, wie viele meinen, Mitten im Monde mir ein Weiberkopf erscheinen. Kann einer drin sein? Nein. Was ist des Pudels Kern? Nur ein paar Linien sind’s die wirken so von fern.“42 Trefflicher lässt sich die Illusionskunst kaum beschreiben, die Moral der Fabel mag auffordern, ihr zu widerstehen, doch Grandvilles Illustration lässt uns die Täuschung nur umso mehr genießen. Wenn der Mond von den Menschen aus der Ferne betrachtet wird, bleibt er in den Plots meist ein friedlicher Geselle mit freundlichem Charakter. Auch wenn 41 Grandville: Das gesamte Werk, Bd. 1, S. 537. 42 Hier zitiert nach: gutenberg.spiegel.de/buch/lafontaines-fabeln8478/145 vom 18.1.2018.

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er von sich aus personifiziert auf die Erde kommt, um dem hiesigen Treiben beizuwohnen, begegnet man in der Regel dem archetypisch gutmütigen Mondgesicht, z. B. mit einer Pfeife im Mundwinkel wie in Wilhelm Busch Schnurrdiburr oder Die Bienen von 1872 (Abb. 23).43 Eine üble Wendung der Erzählung kann aber eintreten, wenn die Menschen sich anschicken, selbst ins All zu fliegen oder gar ferne Planeten zu erobern. Das beunruhigende Gefühl, wenn sich die Raumerfahrung ins Unendliche ausweitet, sich als nicht mehr greifbar und grenzenlos erweist, musste Comic, animierten Trickfilm und das frühe Kino besonders interessieren. Wenn Heim und Heimat verloren gehen und sich dem Reisenden nun „un-heimliche“ Welten eröffnen, bis hin zur Begegnung mit Außerirdischen, kann das animierte Bild besonders unter Beweis stellen, wie gekonnt es das Unwirkliche und Unmögliche illusionistisch zu beleben weiß. Auch die Geschichte des Kinos ist bekanntlich eng mit dem Motiv des Mondes verbunden: In seiner berühmten Reise zum Mond von 1902 lässt Kinopionier Georges Méliès die Raketenkapsel der ersten Astronauten ausgerechnet in dessen Auge landen, was den Planeten gehörig verärgert (Abb. 24). Ebenso unfriedlich verläuft anschließend die erste Begegnung der Menschen mit den einheimischen Mondbewohnern, die mit viel pyrotechnischem Bühnenfeuerwerk aus dem Weg geschafft werden müssen. Knallerei und Explosion sprengen das Bild gleich mit, das die Protagonisten abzubilden sucht. Alle filmischen Tricks, die Méliès außerdem einsetzt (Stop-Motion, Split Screen, Doppelbelichtung usw.), zielen darauf, den Rahmen des vernünftigen, weil realistischen Bildes zu zerstören. Was es nicht geben kann, reizt als animierte Bildlichkeit besonders – und so ist es kein Zufall, dass die frühen Filme so oft als Science Fiction angelegt wurden.44 Ein unberechenbarer, zerstörerisch gesinnter Mond war auch in Méliès’ Kurzfilm La Lune à un mètre von 1898 (Abb. 25) zu sehen: Ein Astronom, der durch sein Fernrohr sieht, hat mit einem Mal den Mond in nur einem Meter Abstand vor sich. Es kommt zum Kampf, der

43 V  gl. gutenberg.spiegel.de/buch/schnurrdiburr-oder-die-bienen4172/1 vom 18.1.2018. 44 Siehe dazu die Romane Von der Erde zum Mond von Jules Verne (1865) und Die ersten Menschen auf dem Mond von H.G. Wells (1901), die Méliès sichtlich inspiriert haben.

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8  Das animierte Bild. Illustration als Illusion

23 Wilhelm Busch: Schnurrdiburr oder Die Bienen, 1872

24 Georges Méliès: Die Reise zum Mond, 1902

damit endet, dass der Mond den Forscher samt Teleskop auffrisst, um ihn anschließend wieder auszuspucken.45 An das Motiv des bösen Mondes knüpfte McCay auch im Comic an, so z. B. in Nemos Alptraum von 1905: Zunächst verliert sich das fliegende Bett des traumreisenden Jungen in den Tiefen des Alls, um schließlich auf einem grotesken Monstermond zu laden, der das gefräßige Maul bedrohlich weit aufsperrt (Abb. 26).46

45 Vgl. A. Braun: Winsor McCay, S. 108. 46 Vgl. A. Braun, M. Hollein: Pioniere des Comics, S. 49.

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25 Georges Méliès: La Lune à un mètre, 1898

Anstatt in dieser unwirtlichen Höhle Platz zu nehmen, versucht der kleine Nemo zu fliehen und läuft dem Mond über das Gesicht, er findet auf der Kugel aber keinen Halt und stürzt ins Bodenlose. Das Fressen und Gefressenwerden aller Dinge und Figuren, das Zerstören und Sprengen aller räumlichen Rahmen bildet den Code des Cartoons, der auch ins Kino übernommen wurde. Die Wucht von Explosionen in Bildern einzufangen muss die Gestaltung per se interessieren, denn man könnte das Geschehen mit dem eigenen Auge kaum wahrnehmen. Nur ein fiktives Kameraauge kann so nah herantreten und so lang hinsehen, um Eruptionen und Entladungen als lebendig wiederzugeben. Das Weltall- und das Explosions-Thema verband z. B. McCays, auf der Serie Dream of a Rarebit Fiend beruhender, Zeichentrickfilm The Flying House von 1921 (Abb. 27)47. Ein Ehepaar verwandelt sein Wohnhaus in einen Flugapparat, um den sozial ungerechten Verhältnissen auf der Erde zu entfliehen. Sie reisen zum Mond, um sich dort niederzulassen, werden aber von einem bösartigen „Mann im Mond“ mit einer Art Fliegenklatsche vertrieben. Buchstäblich lost in space irren sie nun durch ferne Galaxien und haben bald keinen Treibstoff mehr. Derweil testet ein Forscher auf der Erde eine neue Kanone, die den Mond

47 D  er Film ist zu sehen unter www.youtube.com/watch?v= obnRKhgRFXA vom 18.1.2008.

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8  Das animierte Bild. Illustration als Illusion

26 Winsor McCay: Little Nemo in Slumberland, 1905 (Ausschnitt)

27 Winsor McCay: The Flying House, 1921

erreichen soll – aber natürlich das reisende Haus trifft und in Stücke reißt. Die mutigen Helden fallen und fallen, bis sie auch aus diesem Alptraum erwachen. Den visuellen Höhepunkt bildet dabei die Explosion, die keineswegs chaotisch, sondern höchst ästhetisch und poetisch inszeniert wird: Die beiden Figuren drehen sich schwerelos tanzend im Kreis, während die zerfetzten Reste ihres Hauses um sie herum kreisen wie kleine Monde. Die Ästhetik der Zerstörung feierte natürlich auch schon Wilhelm Busch: Dass es in einem Comic ordentlich zu knallen und zu rumsen hat, zu bersten und zu brechen, weiß bis heute jedes Kind. Weil im

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Alltag möglichst wenig kaputtgehen darf, erfreuen wir uns in der Fiktion umso mehr, wenn die Fetzen fliegen. Außerdem eignen sich Explosionen und Entladungen hervorragend für die animierte Zeichnung, da sie keine Regeln und Ordnungen vorgeben – der Illustration werden hier alle Freiheiten zugestanden. So denke man an die höchst unwahrscheinliche Darstellung in Buschs weltbekannter Bildergeschichte Max und Moritz von 1865: Darin steckt sich im vierten Streich der Lehrer Lämpel in aller Behaglichkeit die Meerschaumpfeife an – ohne zu ahnen, dass diese von den beiden Bösewichten mit Flintenpulver gefüllt worden ist (Abb. 28). Es berichtet also der Text: „Rums!! – Da geht die Pfeife los Mit Getöse, schrecklich groß Kaffeetopf und Wasserglas Tobaksdose, Tintenfaß, Ofen, Tisch und Sorgensitz – Alles fliegt im Pulverblitz.“48 Einen solchen „Pulverblitz“ zu beschreiben ist sprachlich kaum möglich, das gelingt auch Wilhelm Busch nur im Bild: Er entwirft eine urknallartige, strahlenförmige Explosion, die auch den Rahmen des Bildes zu zersetzen droht. Schwerelos fliegen die Dinge durch den Raum, jede irdische Ordnung ist in diesem nihilistischen Akt aufgehoben, als würde sich die anarchische Kraft des Bildes gleich mitentladen. Alles Unmögliche wird möglich, die Bosheit der Kinder, wie auch die Rache der Erwachsenen, deren Brutalität die kindlichen Lausbubenstreiche letztlich in den Schatten stellt.49 Gut und Böse sind in der alles zersetzenden Logik des Comics nicht mehr zu unterscheiden. Auch Grandville versuchte bereits, den Gipfel des Unmöglichen in einem Explosions-Motiv zu fassen. Wie bei Busch im oben erwähnten Virtuos steht die Visua48 Vgl. W. Busch: Das dicke Busch-Buch, S. 22. 49 Vgl. Gert Ueding: Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Ueding schreibt z. B. über Buschs Sicht der damaligen Erziehungsmoral: „Max und Moritz sind aus seiner Sicht die Provokateure, die die tabuierten, unterdrückten Trieb- und Willensregungen der Eltern und Erzieher zum Vorschein bringen.“ (S. 81)

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8  Das animierte Bild. Illustration als Illusion

28 Wilhelm Busch: Max und Moritz, 4. Streich, 1865

lisierung von Musik im Vordergrund, man soll Töne hier bildlich hören können: Als Stücke eines automatisierten „Dampfkonzerts“ imaginiert und illustriert Grandville eine explosiv anmutende „Melodie für 200 Posaunen“, eine „Niederdruck-Symphonie für eine Lokomotive“ sowie eine Art dampfbetriebenen Dada-Gesang von Automatenmenschen.50 Dass dabei zu guter Letzt eine Tonexplosion mit der Bildlegende „Mehreren Dilettanten wurden die Ohren zerfleischt“ (Abb. 29)51 entstand, mag daher nicht verwundern. Entsprechend explosive Finale haben sich natürlich auch im Kino bewährt. Die vielleicht schönste und längste Explosion der Filmgeschichte inszenierte Michelangelo Antonioni in Zabriskie Point von 1970: In der Schlussszene steht die Heldin der Geschichte in sicherer Entfernung zu einer hypermodernen Traumvilla in der Wüste (Abb. 30). In diesem Hause finden sich aus ihrer Sicht symbolisch alle Übel und Fehlentwicklungen der Welt repräsentiert – Herrschaft und Patriarchat, Kolonialismus, Kapitalismus und das Regime der Technik. Ob nur in ihrer 50 A  usführlich zeigt dies nur die Originalausgabe von Grandville: Un autre monde. Paris, 1844, S. 18–24 (Reprint 2012). 51 Grandville: Das gesamte Werk, Bd. 2, S. 1183.

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29 Grandville: Das Dampfkonzert in Un autre Monde, 1843/44

Fantasie oder durch eine von ihr gelegte Bombe mag unklar bleiben, aber der Film zeigt in einer genussvoll ausgedehnten Szene die Explosion des Anwesens als finale Vernichtung jener verhassten Welt. Erst tonlos wie in einem Stummfilm, dann begleitet von der psychedelischen Musik von Pink Floyd animiert Antonioni die grandiose Zerstörung über fünf Minuten.52 Der Film thematisiert hier die Mittel des Films selbst: 13-mal wird die Explosion hintereinander gezeigt, in Zeitlupe und aus den verschiedensten Blickwinkeln, um schließlich in einem geradezu barocken Feuerwerk an schwerelos durch die Luft tanzenden Alltagsgegenständen vor strahlend blauem Himmel eine ganz eigene, heiter-poetische Schönheit

52 D  ie Szene ist zu sehen unter www.youtube.com/watch?v= x4DhYAT-Feg vom 18.1.2018.

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30, 31 Michelangelo Antonioni: Zabriskie Point, 1970

zu entwickeln. Kühlschränke, Fernseher, Gartenstühle, Kleider, Zeitungen, Bücher, aber auch ein Truthahn und Champagnerflaschen, kurzum: alle vermeintlichen Errungenschaften der Zivilisation wirbeln umher (Abb. 31). Die Explosion steht für das lustvolle Aufbrechen aller Ordnung, im Sinne jener Anarchie, die nur in Bildern möglich ist.

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Fazit Gestaltete Dinge und Bilder, in den Medien und Techniken aller Disziplinen des Designs von der Mode zur Grafik und Illustration, von der Produktgestaltung zu Film und Fotografie usw., tragen dazu bei, dass wir die Welt nicht hinnehmen müssen, wie sie ist. Sie erweist sich als Entwurf der menschlichen Kreativität und ist immer auch anders denkbar. Design, so möchte ich diesen historischen Überblick zu einigen Topoi der Disziplin schließen, bearbeitet nur jenen Anteil der Dinge, der tatsächlich frei verhandelbar ist. Dem technisch-ökonomischen Soseinmüssen von Dingen wird ein Andersmöglichsein aller Formen und Bedeutungen an die Hand gegeben. Darin gründet sich das ästhetische Potenzial des Entwerfens. Und nur in dieser ästhetischen Logik ist auch Kritik und Widerstand möglich gegen die Zwangsläufigkeit von Funktion und Konsum – oder auch gegen die Zwänge der Natur. So dass man mit Hans Blumenberg folgern kann, dass die menschliche Kreativität stets mehr leisten will als die Nachahmung bzw. Vollstreckung von Naturgesetzen. Gestaltung ist immer auch „Entstaltung“, so Blumenberg: „Es ist oft gesagt und gezeigt worden, dass die Welt, in der wir leben, eine Welt bewusster, ja pathetischer Überbietung, Entmachtung und Entstaltung der Natur, eines tiefen Ungenügens am Gegebenen ist. […] Nicht weil Not erfinderisch macht, ist ‚Erfindung’ der signifikative Akt in der modernen Welt; und nicht, weil unsere Wirklichkeit so mit technischen Strukturen durchsetzt ist, tauchen sie in den Kunstwerken der Zeit abbildlich auf – hier ist vielmehr die prägende Kraft des homogenen Impulses zu verspüren, der auf Artikulation eines radikalen Selbstverständnisses des Menschen drängt.“ 1 Wer nicht hinnehmen will, was ist oder vermeintlich sein muss, muss andere Welten entwerfen als die, die er vorfindet. Aus diesem Impuls entsteht die Gestaltung als ureigener Ausdruck von menschlicher Selbstermöglichung.

1

 ans Blumenberg: „Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der H Idee des schöpferischen Menschen“, in: ders., Schriften zur Technik, hg. von Alexander Schmitz, Bernd Stiegler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015, S. 86–125, hier S. 88.

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Abbildungsverzeichnis

Kap. 1 Abb. 1 Lars Müller, Museum für Gestaltung Zürich (Hg.): Max Bill – Sicht der Dinge. Die gute Form: eine Ausstellung 1949, Zürich: Lars Müller Publishers 2015, S. 46. Abb. 2 Lars Müller, Museum für Gestaltung Zürich (Hg.): Max Bill – Sicht der Dinge. Die gute Form: eine Ausstellung 1949, Zürich: Lars Müller Publishers 2015, S. 42. Abb. 3 Lars Müller, Museum für Gestaltung Zürich (Hg.): Max Bill – Sicht der Dinge. Die gute Form: eine Ausstellung 1949, Zürich: Lars Müller Publishers 2015, S. 70. Abb. 4 Lars Müller, Museum für Gestaltung Zürich (Hg.): Max Bill – Sicht der Dinge. Die gute Form: eine Ausstellung 1949, Zürich: Lars Müller Publishers 2015, S. 78. Abb. 5 Lars Müller, Museum für Gestaltung Zürich (Hg.): Max Bill – Sicht der Dinge. Die gute Form: eine Ausstellung 1949, Zürich: Lars Müller Publishers 2015, S. 90.

Abb. 6 Lars Müller, Museum für Gestaltung Zürich (Hg.): Max Bill – Sicht der Dinge. Die gute Form: eine Ausstellung 1949, Zürich: Lars Müller Publishers 2015, S. 110. Abb. 7 www.kulturundkontext.de/img/medien/ max_bill/Ulmer_Hocker_MaxBill_1954_ Foto_max-binia-jakob-bill-Stiftung_Copy right_VG_Bild-Kunst.JPG Abb. 8 Jesko Fezer, Martin Schmitz (Hg.): Lucius Burckhardt Writings. Rethinkings Man-made Environments, Wien, New York: Springer, 2012, S. 161. Abb. 9 Sabine Schulz, Ina Grätz (Hg.): Apple Design, Ostfildern: Hatja Cantz 2011, S. 55. Abb. 10 www.martin-schmitz-verlag.de/Lucius_ Burckhardt/DieFahrtnachTahiti_1987.jpg Abb. 11 www.martin-schmitz-verlag.de/Lucius_ Burckhardt/Autofahrerspaziergang_1993. jpg

303

Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Abb. 12 Victor Papanek, James Hennessy: Nomadic Furniture, New York: Pantheon Books, 1973, Back Cover. Abb. 13 Victor Papanek: Design for the Real World. Human Ecology and Social Change (Reprint der 2. überarbeiteten Auflage von 1984), London, 2011, S. 58. Hier: https:// www.disegnodaily.com/article/beyond-thetin-can-radio Abb. 14 Victor Papanek: Design for the Real World. Human Ecology and Social Change (Reprint der 2. überarbeiteten Auflage von 1984), London, 2011, S. 225. Hier: https:// www.disegnodaily.com/article/beyond-thetin-can-radio Abb. 15 https://www.treehugger.com/slideshows/ sustainable-product-design/adhocismthe-case-for-improvisation/

Kap. 2 Abb. 2 http://marc-newson.com/media/thumb nails/lockheed-lounge/Lockheed_ 02.jpg.1920x1000_q90_crop-scale.jpg Abb. 3 http://compassionatekozhikode.in/ uploads/Donate/MonoblocChair1_jpgb fac0928-a046-436d-96c2-01abca7afb 80Original.jpg

Abb. 6 Friedrich Friedl, Gerd Ohlhauser (Hg.): Das gewöhnliche Design, Darmstadt 1976. Abb. 7 https://commons.wikimedia.org/wiki/File: A-line1913.jpg#file Abb. 8 https://www.netcarshow.com/cadillac/19 27-lasalle/ Abb. 9 http://classicorphancars.com/2015/06/25/ 1927-40-lasalle/ Abb. 10 Michael Whiteway (Hg.): Shock of the Old: Christopher Dresser’s Design Revolution. New York, London, 2004, S. 13. Abb. 11 Michael Whiteway (Hg.): Shock of the Old: Christopher Dresser’s Design Revolution. New York, London, 2004, S. 49. Abb. 12 Michael Whiteway (Hg.): Shock of the Old: Christopher Dresser’s Design Revolution. New York, London, 2004, S. 50. Abb. 13 Michael Whiteway (Hg.): Shock of the Old: Christopher Dresser’s Design Revolution. New York, London, 2004, S. 157. Abb. 14 https://www.metmuseum.org/art/collection/ search/207539

Abb. 4 Martí Guixé: open-end. Oostkamp: Stichting Kunstboek, 2008, S. 23.

Abb. 15 https://en.wikipedia.org/wiki/News_from_ Nowhere

Abb. 5 Jasper Morrison, Naoto Fukasawa: „Super Normal – Sensations of the Ordinary“, Baden 2007. https://www.lars-muellerpublishers.com/super-normal

Abb. 16 https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Mon te_Verita_Ackerbau_(1907).JPG

304

Abbildungsverzeichnis

Abb. 2 supercars.net/blog/1955-citroen-ds-19/

Abb. 17 Sabine Schulze, Claudia Banz, Leonie Beiersdorf (Hg.): Jugendstil – Die große Utopie. Katalog des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg, 2015, S. 71.

Abb. 3 cdn2.expertreviews.co.uk/sites/expertrevie ws/files/3/20//mac_mini_2014_intro.jpg

Abb. 18 http://assets.maharam.com/images/story_ images/large/667/stories_rawsthorn_ 19.01.jpg?1460581006

Abb. 4 Cover von Lewis Mumford: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. Frankfurt 1977.

Abb. 19 http://static.wixstatic.com/media/b5018d_ a009b12e35d0efd5f4baae1f370bd538. jpg_srz_2063_1881_85_22_0.50_1.20_0. 00_jpg_srz

Abb. 5 www.planet-wissen.de/technik/computer_ und_roboter/geschichte_des_compu ters/computer-grossrechner-100~_v-gse agaleriexl.jpg

Abb. 20 de.wikipedia.org/wiki/Diogenes_von_ Sinope

Abb. 6 www.yify-torrent.org/movie/29200/down load-charlie-chaplin-modern-times-1936mp4-yify-torrent.html

Abb. 21 commons.wikimedia.org/wiki/File:Fuseli ArtistMovedtoDespair.jpg Abb. 22 http://www.classicon.com/de/product/daybed.html Abb. 23 https://artwareeditions.com/products/idaybed-i-by-rachel-whiteread Abb. 24 www.kulturundkontext.de/img/medien/ max_bill/Ulmer_Hocker_MaxBill_1954 _Foto_max-binia-jakob-bill-Stiftung_Copy right_VG_Bild-Kunst.JPG Abb. 25 https://www.artsy.net/artwork/donald-juddchair

Kap. 3

Abb. 7 https://i.pinimg.com/originals/71/87/ae /7187ae66fd6310a872f715523cdc6810.jpg Abb. 8 images-na.ssl-images-amazon.com/ images/I/71GUEEkasDL._SL1500_.jpg Abb. 9 Foto: Johannes Ben Jurca, Privataufnahme Abb. 10 buchstabenplus.de/wp-content/uploads/ 2016/08/0600.jpg buchstabenplus.de/wp-content/uploads/ 2016/08/0639.jpg

Kap. 4 Abb. 1 https://en.wikiarquitectura.com/wp-cont ent/uploads/2017/01/Torten_1.jpg

Abb. 1 corbusierhaus-berlin.org (Foto: Bärbel Högner)

305

Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Kap. 5

Abb. 2 Winfried Nerdinger: Walter Gropius, Berlin 1985, S. 89.

Abb. 1 http://shop.pictoplasma.com/product/ not-a-toy/

Abb. 3–6 www.nilsemde.de/leben-mit-walter

Abb. 2 http://shop.gestalten.com/doppelganger. html

Abb. 7 https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Erd mann_Hummel

Abb. 3 https://de.wikipedia.org/wiki/Josephine_ Baker

Abb. 8 http://museum-boppard.de/wp-content/ uploads/2015/09/palais-lichtenstein_full.jpg Abb. 9 In: Simplicissimus, Heft 13, 23. Juni 1920, S. 195, siehe http://www.simplicissimus.info Abb. 10 https://de.wikipedia.org/wiki/Caspar_Da vid_Friedrich#/media/File:Kersting_-_ Caspar_David_Friedrich_in_seinem_Ate lier_1811.jpg Abb. 11 In: Hans Ottomeyer u.a. (Hg.): Biedermeier. Die Erfindung der Einfachheit, Ostfildern 2006, S. 197. Abb. 12 https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Stickerin#/media/File:Georg_Friedrich_Ker sting_-_Die_Stickerin_-_1._Fassung.jpg Abb. 13 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/8/83/Georg_Friedrich_Ker sting_-_Der_elegante_Leser.jpg Abb. 14 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/e/e8/Kersting_-_Paar_am_ Fenster.jpg Abb. 15 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kant_doerstling2.jpg

Abb. 4 https://de.wikipedia.org/wiki/Marc-Antoine_ Laugier Abb. 5 https://watchingphotographs.wordpress. com/2013/03/04/man-ray-portraits/ Abb. 6 http://www.harpersbazaar.de/read/zeitgeist/ die-sprache-der-mode-12175.html Abb. 7 http://www.philamuseum.org/collections/ permanent/65450.html Abb. 8 http://www.puretrend.com/media/premie res-photos-de-la-collection_m378222 Abb. 9 http://www.fondation-pb-ysl.net/fr/Histoire214.html Abb. 10 Pinterest.com Abb. 11 https://de.wikipedia.org/wiki/Wunder kammer Abb. 12 http://www.ngv.vic.gov.au/essay/stowedaway-emmanuel-fremiets-gorilla-carry ing-off-a-woman-2-2/

306

Abbildungsverzeichnis

Abb. 2 https://i.pinimg.com/originals/21/7b/8d/21 7b8d54931aaaaa3bfa0bdd1e3440c5.jpg

Abb. 13 https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Harry_Clarke_-_The_Murders_in_the_ Rue_Morgue.jpg

Abb. 3 https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Walter_Crane_001.jpg

Abb. 14 https://blockbusterchronicles.wordpress. com/2015/10/01/horror-wood-blog-athon-king-kong-1933/

Abb. 4 http://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Behrens

Abb. 15 15 https://mubi.com/notebook/posts/thedetails-his-eyes-have-it

Abb. 5 http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/pan 1895_96_1/0004

Abb. 16 http://www.allocine.fr/personne/fichepers onne-212/photos/detail/?cmediafile=188 25972

Abb. 6 http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/pan 1895_96_1/0012

Abb. 17 https://en.wikipedia.org/wiki/Fedor_Jefti chew

Abb. 7 http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/pan 1895_96_1/0013

Abb. 18 https://de.wikipedia.org/wiki/Tognina_ Gonsalvus

Abb. 8 http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/pan 1895_96_1/0026

Abb. 19 http://www.thefashionisto.com/viviennewestwood-man-fall-2010-campaign-andreas-kronthaler-vivienne-west wood-by-juergen-teller/

Abb. 9 http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/pan 1895_96_1/0132 Abb. 10 http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/pan 1895_96_1/0128

Abb. 20–22 http://www.photography-now.com/instituti on/artist/loftgalerie/fergus-greer Abb. 23–25 https://frankzumbach.wordpress.com/2014/ 02/13/francois-desprez-vignettes-for-rabe lais-gargantua-and-pantagruel/

Kap. 6 Abb. 1 de.wikipedia.org/wiki/Darmstädter_Künst lerkolonie#/media/File:Musikzimmer HausBehrensSchiedmayer.jpg)

Abb. 11 https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Behrens_Der_Kuss.jpg Abb. 12 https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Wand_Decoration_Obrist_1895.png Abb. 13 http://commons.wikimedia.org/wiki/File: Max_Klinger-Der_pinkelnde_Tod.jpg

307

Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Abb. 14 http://www.zeno.org/Kunstwerke/B/Klin ger,+Max%3A+Opus+XI,+»Vom+Tode. +Erster+Teil«,+Auf+den+Schienen

Abb. 24 Jeannine Fiedler, Peter Feierabend (Hg.): Bauhaus, Potsdam 2006, S. 21. Abb. 25 https://designhistoryresearch.wordpress. com/category/laszlo-moholy-nagy/

Abb. 15 http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Stöhr Abb. 16 http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/sub_ image.cfm?image_id=1259&language= german

Abb. 26 http://bauhaus-online.de/atlas/werke/bau hausfest-im-ilmschloesschen-bei-weimar

Abb. 17 https://commons.wikimedia.org/wiki/File: 1907_Peter_Behrens_Plakat_AEG-Metall fadenlampe.jpg

Kap. 7 Abb. 1 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 34.

Abb. 18 https://www.bauhaus100.de/de/damals/ werke/grafik-typografie/kathedrale/ Abb. 19 http://www.sothebys.com/en/auctions/eca talogue/2007/deutscher-werkbund-tobauhaus-an-important-collection-of-germandesign-n08459/lot.56.html Abb. 20 Jeannine Fiedler, Peter Feierabend (Hg.): Bauhaus, Potsdam 2006, S. 21. Abb. 21 Jeannine Fiedler, Peter Feierabend (Hg.): Bauhaus, Potsdam 2006, S. 313. Abb. 22 Foto Jens Weyers, © Wilhelm Wagenfeld Stiftung, Bremen http://www.kulturundkontext.de/medien service/wilhelm-wagenfeld.html Abb. 23 https://www.bauhaus100.de/de/damals/ werke/kunsthandwerk/licht-raummodulator/

Abb. 2 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 175. Abb. 3 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 176. Abb. 4 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 10. Abb. 5 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 25. Abb. 6 https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Guillaume_Apollinaire_-_Calligramme_-_ Il_pleut.png

308

Abbildungsverzeichnis

Abb. 7 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 211.

Abb. 15 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 51.

Abb. 8 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 114.

Abb. 16 Marshall Lee (Hg.): Erté. Das druckgraphische Werk, Berlin 1983, S. 77 und 89.

Abb. 9 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 117. Abb. 10 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 115. Abb. 11 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 126. Abb. 12 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 225. Abb. 13 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 30.

Abb. 17 https://de.wikipedia.org/wiki/Giuseppe_ Arcimboldo#/ Abb. 18 https://www.lost-painters.nl/art-cologne2016-eins-zwei-wechselschritt/ Abb. 19 www.theoriedesigngraphique.org Abb. 20 https://www.modernartoxford.org.uk/ event/kaleidoscope-vanished-reality/ Abb. 21 Cord Riechelmann, Brigitte Oetker (Hg.): Zu einer Ästhetik des Lebendigen, Jahresring 62, Berlin: Sternberg, 2015, S. 47. Abb. 22 http://www.hs-augsburg.de/~harsch/germa nica/Chronologie/18Jh/Moritz/mor_ab0a. html Abb. 23 Kurt Schwitters: Das literarische Werk, Bd. 1: Lyrik, hg. von Friedhelm Lach, Köln 1998, S. 206.

Kap. 8 Abb. 14 Robert Massin: Buchstabenbilder und Bildalphabete. Vom Zeichen zum Buchstaben und vom Buchstaben zum Zeichen, Ravensburg 1970, S. 45

Abb. 1 https://de.wikipedia.org/wiki/Giovanni_ Francesco_Caroto#/media/File:Giovanni_ Francesco_Caroto_001.jpg

309

Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs

Abb. 14 Winsor McCay: Little Sammy Sneeze, Bonn 2010, S. 10f.

Abb. 2 http://www.mittelbayerische.de/imgserver/ _thumbnails/images/34/3068900/3068986 /fb_1200x.jpg

Abb. 15 Wolfgang Teichmann (Hg.): Das dicke Busch-Buch. Berlin 1988, S. 418f.

Abb. 3 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ en/4/4e/Steamboat-willie.jpg

Abb. 16 Winsor McCay: Little Sammy Sneeze, Bonn 2010, S. 80.

Abb. 4 https://www.amazon.com/Story-AnimatedDrawing-Walt-Disney/dp/B012U33SBM Abb. 5 https://en.wikipedia.org/wiki/History_of_ animation

Abb. 17 https://de.wikipedia.org/wiki/Pere_Borrell_ del_Caso#/media/File:Escaping_ criticism-by_pere_borrel_del_caso.png

Abb. 6 https://de.wikipedia.org/wiki/Vitruviani scher_Mensch

Abb. 18 https://www.jer-cin.org.il/sites/default/ files/purple_rose_of_cairo_3.pn

Abb. 7 http://www.kino.de/film/die-hoehle-dervergessenen-traeume-2010/#

Abb. 19 Grandville: Das gesamte Werk, 2 Bde., München 1969, Bd. 2, S. 1222.

Abb. 8 https://absolutmedien.de/bilddatenbank/ bilder/5608/pict4.jpg

Abb. 20 Alexander Braun, Max Hollein (Hg.): Pioniere des Comics. Eine andere Avantgarde, Ostfildern 2016, S. 58.

Abb. 9 Wolfgang Teichmann (Hg.): Das dicke BuschBuch, Berlin 1988, S. 376–378.

Abb. 21 Grandville: Das gesamte Werk, 2 Bde., München 1969, Bd. 2, S. 1254.

Abb. 10 Grandville: Das gesamte Werk, 2 Bde., München 1969, Bd. 1, S. 313.

Abb. 22 Grandville: Das gesamte Werk, 2 Bde., München 1969, Bd. 1, S. 537.

Abb. 11 Grandville: Das gesamte Werk, 2 Bde., München 1969, Bd. 2, S. 1184.

Abb. 23 http://images.zeno.org/Literatur/I/big/ bwe2062a.jpg

Abb. 12 Winsor McCay: Little Nemo in Slumberland, 1905–1914, Köln 2000, S. 101. Abb. 13 Winsor McCay: Little Nemo in Slumberland. 1905–1914, Köln 2000, S. 192.

Abb. 24 https://de.wikipedia.org/wiki/Georges_ Méliès Abb. 25 https://pbs.twimg.com/media/CNdzAl HUwAA4mDN.jpg

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 26 Alexander Braun, Max Hollein (Hg.): Pioniere des Comics. Eine andere Avantgarde, Ostfildern 2016, S. 49. Abb. 27 http://list.lisimg.com/image/3161434/ 500full.jpg Abb. 28 Wolfgang Teichmann (Hg.): Das dicke Busch-Buch, Berlin 1988, S. 22. Abb. 29 Grandville: Das gesamte Werk, 2 Bde., München 1969, Bd. 2, S. 1183. Abb. 30 http://m.imdb.com/title/tt0066601/media viewer/rm2341223680 Abb. 31 https://www.pinterest.co.uk/ pin/540924605218485229/

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