Tradition und Moderne - Schuldrecht und Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform: Festschrift für Horst Ehmann zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428516360, 9783428116362

André Pohlmann erörtert die Fragestellung, ob der von einem Dritten abgemahnte Wettbewerber einen nachfolgenden Abmahner

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German Pages 248 Year 2005

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Tradition und Moderne - Schuldrecht und Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform: Festschrift für Horst Ehmann zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428516360, 9783428116362

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Festschrift für Horst Ehmann zum 70. Geburtstag

Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 318

Tradition und Moderne Schuldrecht und Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform Festschrift für Horst Ehmann zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Holger Sutschet

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 3-428-11636-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Horst Ehmann wurde am 7.2.1935 in Heilbronn geboren. Er studierte, promovierte und habilitierte in Heidelberg bei Hermann Weitnauer. 1974 wurde Ehmann zum Wissenschaftlichen Rat und Professor in Göttingen ernannt, 1975 folgte die Ernennung zum Ordinarius am neu gegründeten Fachbereich Rechtswissenschaft an der Universität Trier. Hier übernahm er die Geschäfte des Gründungsdekans und prägte die Fakultät maßgeblich. Auch in den Folgejahren, insbesondere während seines zweiten Dekanats im Jahre 1993/1994, war sein Engagement für die Fakultät stets nachhaltig. Von 1978 bis 1988 war er im Nebenamt Richter am Oberlandesgericht Koblenz. Zum Ende des Wintersemesters 2002/2003 wurde Horst Ehmann emeritiert. Tradition und Moderne: das ist kein Gegensatz, wie das beides vereinende Wirken Ehmanns zeigt. Horst Ehmann ist ein Konservativer im besten Sinne, ein Bewahrer. A m deutlichsten tritt dies zutage in der Bewahrung der causa-Lehre. Im Jahre 1929 erschien das Lehrbuch des Allgemeinen Schuldrechts von Hugo Kreß. Dieses Buch wurde Hermann Weitnauer zur ratio scripta, welche er unter seine Schüler säte und die bei Horst Ehmann auf fruchtbaren Boden fiel. In zwei Beiträgen setzte sich Ehmann mit der Lehre von der Erfüllung auf dem Boden der /forschen causa-Lehre auseinander (JZ 1968, 549 ff. und NJW 1969, 1833 ff.) und widerlegte damit die Theorie der realen Leistungsbewirkung; freilich braucht auch das Richtige zuweilen etwas Zeit, um als richtig erkannt zu werden und sich durchzusetzen. Die Theorie der realen Leistungsbewirkung wird womöglich demnächst deswegen fallen, weil sie einer sachgerechten Lösung der Fälle der Lieferung eines besseren aliud durch den Verkäufer entgegenzustehen scheint. Bislang glaubte man, die Zweckvereinbarungstheorie mit dem Hinweis auf die Erfüllung durch einen Geisteskranken beiseite schieben zu können. Welche Meinung gerade „herrscht", ergibt sich daraus, welcher Fall gerade im Vordergrund der Betrachtung steht. Die wahren Gründe für die Richtigkeit seiner Auffassung hat Ehmann in seiner Abschiedsvorlesung über die causa-Lehre nochmals dargelegt (JZ 2003, 703 ff.). Ihm ist es nicht darum zu tun, welche Theorie welches Fällchen besser löst. Er zeigt, wie alles mit allem zusammenhängt: ein ganzes Gebäude und dessen Fundament. Die Weitergabe des Überlieferten macht Horst Ehmann zu einem Traditionalisten, und er hat viel weiterzugeben. Tradition und Moderne sind auch die Begriffe, welche das Wirken Ehmanns um die Modernisierung des Schuldrechts prägen. Bewährtes bewahren und nicht

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Vorwort

mehr Zeitgemäßes modernisieren: das sollten die Ziele einer Reform sein. Nachdem die Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts 1992 ihren Bericht vorgelegt hatte, veranstaltete Horst Ehmann hierzu ein Seminar, aus dem eine ganze Reihe von Doktorarbeiten hervorgegangen ist, unter anderem auch diejenigen der meisten Autoren dieser Festgabe. Von diesem Gedankengut ist jedoch außer der Arbeit von Wilhelm Reinhardt (Die Gefahrtragung beim Kauf, 1998) inhaltlich kaum etwas in dem übereilten Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt worden. Die Regelungen, die nunmehr Gesetz geworden sind, berücksichtigen daher nur teilweise, welche traditionellen Regelungen sinnvoll waren und wo Anpassungsbedarf bestand und teilweise noch besteht. Dadurch entstehende Mängel des Gesetzes müssen nun durch ein Verständnis beseitigt werden, welches die Regelungen für die Moderne zu einem brauchbaren Recht macht: als ein Vernünftiges sind die Regeln zu begreifen (Ehmann/Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht, S. 7 ff.). Im Arbeitsrecht hat Horst Ehmann so früh wie kaum ein anderer sein Augenmerk auf eine moderne arbeitsrechtliche Entwicklung gelenkt, nämlich den Einzug der neuen Technologien in die Arbeitswelt. Mit seiner Monographie „Arbeitsschutz und Mitbestimmung bei neuen Technologien" (1981) und zahlreichen weiteren Beiträgen hat er die rechtswissenschaftliche Entwicklung auf diesem Gebiet maßgeblich mitgeprägt. Die Befassung mit den Grundlagen des Themas hat ihn über das Datenschutzrecht schließlich zum Informationsrecht geführt, welches sodann Gegenstand seines Vortrages vor der Zivilrechtslehrervereinigung wurde (AcP 188 (1988), S. 230 ff). Die Gegenüberstellung von Tradition und Moderne des Informationsrechts hat Ehmann zu dem pointiertesten Kritiker des grundsätzlichen Datenverarbeitungsverbots (§ 4 BDSG) werden lassen. Auch hier scheint der aus der Tradition entwickelte Ansatz Ehmanns in neuerer Zeit zunehmend Gehör zu finden. Dem Arbeitsrechtler liegt es nahe, moderne politische Vorgänge zu beobachten. Hierbei hat Horst Ehmann ein Gespür entwickelt, das seinesgleichen sucht. Im Jahre 1987 hat er den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus vorausgesehen (Wandlungen des Arbeitsrechts in der Dämmerung des Sozialismus, in: Sozialismus - Ende einer Illusion, hrsg. v. Hans Giger und Willy Linder, 1988, S. 581 ff.). Ihm war auch zu dieser Zeit schon klar, daß infolge des Prinzips der kommunizierenden Röhren der deutsche Wohlfahrtsstaat in damaliger Form nicht zu halten sein wird; eine Erkenntnis, die mit nahezu zwanzigjähriger Verspätung nun auch die Schaltstellen der Politik erreicht hat. Aber nicht nur die deutschen Sozialsysteme können unter den Vorzeichen der Globalisierung nicht in bisheriger Form bestehen, auch der FlächentarifVertrag wird es nicht können. Noch hat die Botschaft vom Ende des FlächentarifVertrags, die Ehmann schon so lange wie sonst wohl niemand verkündet, deren Adressaten nicht zum notwendigen Umdenken bewogen; wer aber zu spät kommt, den bestraft das Leben (siehe hierzu auch den Beitrag von Thomas Lambrich (unten S. 169 ff.), vor und mit Fußnote 3).

Vorwort

Anläßlich der Emeritierung von Horst Ehmann fand die in seiner Person bestehende glückliche Verbindung von Tradition und Moderne einen sinnfälligen Ausdruck: die Vorlesung über die causa-Lehre („Sätze über den Grund kausalen und abstrakten Wollens") wurde als wohl erste rechtswissenschaftliche Vorlesung live im Internet übertragen. Vieles wäre noch der Erwähnung wert, etwa die Kommentierungen Ehmanns im Erman, vor allem zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem Recht des Auftrags. Sein umfangreiches wissenschaftliches Werk, welches in anhängender Bibliographie verzeichnet ist, enthält zahlreiche Schätze, welche zu heben für Theorie und Praxis lohnt. Horst Ehmann überzeugt nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Mensch. Geradlinig ist er, einer, der Wort hält, auf den man sich verlassen kann. Sein Engagement fur die Sache ist stets kraftvoll, sein Streben bar jeder Rücksicht auf persönliche Vor- und Nachteile. Damit hat er sich viel Respekt erworben. Seine Doktoranden haben immer ein offenes Ohr und die Bereitschaft gefunden, sich auf die Sache einzulassen, sie kritisch zu begleiten und stets von Neuem zu fordern und zu fordern. Seiner Frau Katrin und seinen Söhnen Erik und Timo , alle Juristen, ist Horst Ehmann nicht nur Ehemann und Vater, sondern auch Gesprächspartner und Ratgeber in fachlichen Fragen. In seiner Familie findet er den Rückhalt, der das konsequente Einstehen für seine Überzeugungen ermöglicht. Zur Drucklegung dieser Festschrift hat Herr Rechtsanwalt Dr. FriedrichWilhelm Lehmann, Krefeld, einen großzügigen Beitrag geleistet, wofür ihm Dank gebührt. Herrn Dr. Florian Simon danke ich für die freundliche Aufnahme in die Schriften zum Bürgerlichen Recht und Herrn Lars Hartmann für die sorgfältige Betreuung des Manuskriptes. Die Autoren dieser Festgabe sind Schüler von Horst Ehmann. An uns hat er weitergegeben, was er von seinen Lehrern gelernt hat; dieser Tradition sind wir verpflichtet und wollen sie für die Moderne nutzen. Zum 70. Geburtstag wünschen wir unserem verehrten Lehrer alles Gute, Gesundheit, Glück und den langen Erhalt der ungebrochenen Schaffenskraft! Trier, im Februar 2005

Holger Sutschet

Inhaltsverzeichnis

André Pohlmann Aufklärungspflichten des abgemahnten Wettbewerbers

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Kai Kuhlmann und Bernd Nauen Neues und Altes von der vorübergehenden Unmöglichkeit - Primärleistungspflicht und Sekundäransprüche 31 Holger Sutschet Schutzansprüche und Schutzpflichten Dritter im Lichte des § 311 III BGB Ulrich Rust Die Schadensersatzhaftung bei mangelhaften Kaufsachen nach reformiertem Schuldrecht

95

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Wilhelm Reinhardt Gefahrtragungsregeln beim Kauf unter besonderer Berücksichtigung des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes 135 Thomas Β. Schmidt Der „Arbeitnehmer-Verbraucher" - Zwischenbilanz eines Paradigmenwechsels 153 Thomas Lambrich Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

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Bibliographie

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Verzeichnis der Autoren

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Aufklärungspflichten des abgemahnten Wettbewerbers André Pohlmann

I.

Einleitung

Die an den Wettbewerber gerichtete Abmahnung ist eine vorprozessuale Aufforderung, sich für die Zukunft zu verpflichten, einen bereits begangenen oder bevorstehenden Wettbewerbsverstoß zu unterlassen. Zugleich werden in der Abmahnung gerichtliche Maßnahmen angedroht, wenn die verlangte Unterlassungserklärung nicht abgegeben wird. Das von der Rechtsprechung entwickelte Institut der Abmahnung wird in § 12 Abs. 1 des neuen, am 8. Juli 2004 in Kraft getretenen UWG zum ersten Mal ausdrücklich erwähnt 1. Der Abmahnung kommt im Wettbewerbsrecht als Instrument zur Verhinderung von gerichtlichen Wettbewerbsstreitigkeiten eine erhebliche Bedeutung zu. So erledigen sich 90 bis 95% aller gerügten Wettbewerbsverstöße in Abmahnverfahren 2. Die Abmahnung dient der Vermeidung von Kostennachteilen für den Gläubiger im Falle eines anschließenden Prozesses: Nimmt der Gläubiger gerichtliche Hilfe in Anspruch, ohne den Verletzer vorher abzumahnen, so läuft er Gefahr, die Kosten zu tragen, wenn der Beklagte den geltend gemachten Anspruch sofort anerkennt und er durch sein Verhalten keine Veranlassung zur Erhebung der Klage gegeben hat (§93 ZPO). Die Abmahnung ist also kein Zulässigkeitserfordernis für das gerichtliche Verfahren, sondern eine Obliegenheit des Klägers zur Vermeidung von Kostennachteilen3. Nur in Ausnahmefällen kann eine vorherige Abmahnung entbehrlich sein, wenn vorauszusehen ist, daß die Abmahnung von vornherein als aussichtslos erscheint oder in einem so geringen Maße Erfolg verspricht, daß die mit der Abmahnung einhergehende Verzögerung unter Berücksichtigung der im konkreten Fall gegebenen Eilbedürftigkeit unzumutbar ist 4 . Außerdem soll durch die Unterwerfung des Abgemahnten erreicht werden, daß die Gefahr einer Wiederholung des Wettbewerbsverstoßes 1 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) vom 3. Juli 2004, im Internet zu finden unter http://217.160.60.235/BGBL/bgbllf/bgbll04sl414.pdf . 2 Teplitzky, Wettbewerbsrechtliche Ansprüche, Kapitel 41 Rdz. 3. 3 Gloy, Handbuch des Wettbewerbsrechts, § 60 Rdz. 3. 4 OLG Düsseldorf WRP 1976, 699; OLG Frankfurt WRP 1976, 775; OLG Hamburg WRP 1974, 632; OLG Celle WRP 1975, 242; Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, UWG Einl Rdz. 542 ff.

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André Pohlmann

ausgeräumt und ein gerichtliches Verfahren vermieden wird 5 . Dementsprechend stellt § 12 Abs. 1 S. 1 UWG (neu) jetzt klar, daß die zur Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs Berechtigten den Wettbewerber vor Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens abmahnen sollen, um ihm die Gelegenheit zu geben, den Streit durch Abgabe einer mit einer angemessenen Vertragsstrafe bewehrten Unterlassungsverpflichtung beizulegen. Die Rechtsprechung hat in den vergangenen Jahren in verschiedenen Fällen Aufklärungspflichten des abgemahnten Störers bejaht. Hauptanwendungsfall ist die sogenannte Drittunterwerfimg: Danach ist der abgemahnte Störer verpflichtet, den Abmahnenden zur Vermeidung eines überflüssigen und aussichtslosen Prozesses über eine wegen derselben Verletzungshandlung einem Dritten gegenüber abgegebene UnterwerfungsVerpflichtung aufzuklären 6.

I I . Aufklärungspflicht im Falle der Drittunterwerfung Nach einer Entscheidung des BGH vom 2. Dezember 1982 entfällt mit der Abgabe der ersten ausreichenden Unterwerfungserklärung die Wiederholungsgefahr grundsätzlich inter omnes, das heißt gegenüber allen potentiellen Unterlassungsgläubigern7. Dabei ist es eine Frage des Einzelfalles, ob die Wiederholungsgefahr durch die einem Gläubiger gegenüber abgegebene Verpflichtungserklärung beseitigt ist. Die Beantwortung dieser Frage wird von einer Reihe verschiedener Kriterien beeinflußt, so z. B. der Person und den Eigenschaften des Vertragsstrafegläubigers und der Art seiner Beziehung zum Schuldner. Ist dem Abmahnenden ein anderer Unterlassungsgläubiger zuvorgekommen, so läuft er Gefahr, einen von vornherein unbegründeten Anspruch gerichtlich geltend zu machen. Um dieses Risiko zu vermeiden, hat die Rechtsprechung dem Verletzer eine Aufklärungspflicht über den Inhalt der von ihm gegenüber einem Dritten abgegebenen Unterlassungserklärung und über die Person des Dritten auferlegt. Der Bundesgerichtshof äußerte sich erstmals im Jahr 1986 zur Aufklärungspflicht des Abgemahnten8. In dem zugrunde liegenden Fall war die Beklagte 5

Teplitzky, aaO, Rdz. 7 m.w.N. BGH GRUR 1987, 54,55; BGH GRUR 1987, 640, 641; BGH GRUR 1988, 716, 717; OLG Frankfurt WRP 1989, 391, 392; KG WRP 1989, 659, 660. 7 BGH GRUR 1983, 186. Die Unteilbarkeit der Wiederholungsgefahr mit der Folge, daß eine uneingeschränkte, bedingungslose und strafbewehrte Unterlassungserklärung die Wiederholungsgefahr gegenüber allen Unterlassungsgläubigem entfallen läßt, ist inzwischen gefestigte Rechtsprechung, s. BGH GRUR 1987, 640; WRP 1989, 90; WRP 1990, 276; WRP 1990, 670. Zu der Drittwirkungsproblematik ausführlich Schulte in Pastor/Ahrens, Der Wettbewerbsprozeß, Kapitel 16, Rdz. 27 ff. m. w. N. 8 BGH GRUR 1987, 54 mit Anmerkung Lindacher. 6

Aufklärungspflichten des abgemahnten Wettbewerbers

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wegen der unzulässigen Ankündigung einer Sonderveranstaltung von einem Wettbewerbsverein abgemahnt worden und hatte daraufhin eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben. Auch die Klägerin mahnte die Beklagte ab. Erst nachdem die Klägerin eine einstweilige Verfügung erwirkt hatte, wies die Beklagte im Widerspruchsverfahren auf die gegenüber dem Wettbewerbsverein abgegebene Unterwerfungserklärung hin. Daraufhin hob das LG die einstweilige Verfügung mit der Begründung auf, daß der Anspruch der Klägerin durch die Abgabe der Unterwerfungserklärung gegenüber dem Wettbewerbsverein erloschen sei. Im Rahmen der Zwangsvollstreckungsgegenklage gegen den Kostenerstattungsanspruch machte die Klägerin geltend, daß ihr ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte zustünde, da die Beklagte ihr die Abgabe der Unterlassungserklärung gegenüber dem Wettbewerbsverein mit dem Ziel verschwiegen habe, der Klägerin nach Aufhebung der einstweiligen Verfügung erhebliche Kosten entstehen zu lassen. Der BGH bejahte eine Anspruchsgrundlage für den Schadensersatzanspruch mit der Begründung, daß sich die „beliebige Sonderbeziehung" zwischen den Wettbewerbern „durch die rechtswidrige Wettbewerbshandlung der Beklagten zu einem gesetzlichen Schuldverhältnis der Parteien konkretisiert" habe. Dieses gesetzliche Schuldverhältnis sei wie jede Rechtsbeziehung den Grundsätzen von Treu und Glauben unterworfen und sei weiter dadurch konkretisiert worden, daß die Klägerin als Verletzte die Beklagte als Verletzerin abgemahnt habe, so der BGH. Aus diesem ,Abmahnverhältnis" erwachse für die Beklagte die Pflicht, den Abmahnenden darüber aufzuklären, daß eine Unterwerfung wegen derselben Verletzungshandlung bereits einem Dritten gegenüber erfolgt sei. Denn für den Abmahnenden bestehe anderenfalls die erhebliche Gefahr eines überflüssigen und aussichtslosen Prozesses. Für diesen Schaden habe der abgemahnte Störer aus dem Gesichtspunkt der positiven Forderungsverletzung bei schuldhafter Verletzung der Aufklärungspflicht einzustehen. Diese Rechtsprechung hat der BGH seit seiner Entscheidung vom 19. Juni 1986 mehrfach bestätigt9. Ob das Schweigen des abgemahnten Wettbewerbers gegenüber dem Dritten einen Schadensersatzanspruch auslösen kann, soll im folgenden untersucht werden. In Betracht kommt ein Schadensersatzanspruch wegen schuldhafter Verzögerung einer Leistungspflicht (dazu unten 1), wegen Verletzung einer vorvertraglichen Schutzpflicht (dazu unten 2 a)) oder wegen Verletzung einer Schutzpflicht auf der Basis eines , Abmahnverhältnisses" (dazu unten 2 b)).

9 BGH GRUR 1988, 313; BGH GRUR 1990, 381; BGH; GRUR 1990, 542; BGH GRUR 1995, 167. Weitere Entscheidungen siehe oben Fn. 6.

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André Pohlmann

1. Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistungspflicht (§ 280 Abs. 2 BGB) Ein Schadensersatzanspruch wegen Verzugs setzt voraus, daß der Schuldner eine Schutzpflicht verletzt und dadurch seine Leistungspflicht nicht rechtzeitig (trotz Fälligkeit und Mahnung) erfüllt. Anders als Leistungspflichten sind Schutzpflichten nicht auf die Bewegung der Güter, nicht auf die Mehrung des Vermögens des Gläubigers, d.h. auf Befriedigung, Erfüllung gerichtet, sondern auf die Vorbeugung vor Gefahren, auf den Schutz der Güter 10 . Schutzpflichten können nicht erfüllt (§ 362 BGB), auch nicht unmöglich, sondern nur beachtet oder verletzt werden. Die Aufklärungspflicht erlischt daher nicht durch Erfüllung gemäß § 362 BGB, weil sie eine Schutzpflicht ist, die nur beachtet oder verletzt werden kann. Liegt in dem Schweigen auf eine berechtigte Abmahnung die Nichterfüllung einer Leistungspflicht? Der BGH scheint davon jedenfalls in dem folgenden Fall ausgegangen zu sein 11 : Die Klägerin mahnte die Beklagte wegen einer wettbewerbswidrigen Ankündigung eines nicht angezeigten Räumungsverkaufs ab und forderte sie auf, binnen Wochenfrist eine vorbereitete strafbewehrte Unterlassungserklärung abzugeben. Als diese ausblieb, reichte die Klägerin acht Tage später beim zuständigen Landgericht die angedrohte Unterlassungsklage ein. Noch vor Zustellung der Klage ging der Klägerin die strafbewehrte Unterlassungserklärung der Beklagten zu. Der BGH sah einen Anspruch der Klägerin auf Erstattung der bis zum Zugang der Unterlassungserklärung der Beklagten angefallenen prozessualen Anwalts- und Gerichtskosten auf der Basis des § 286 Abs. 1 BGB a. F. (§§ 280 Abs. 2, 286 BGB) als gegeben an. Wörtlich heißt es in dem Urteil: „Erfüllt der zu Recht abgemahnte Störer seine aus der wettbewerbsrechtlichen Sonderbeziehung nach Treu und Glauben erwachsende Pflicht, auf die Abmahnung fristgemäß durch Abgabe einer ausreichend strafbewehrten Unterlassungserklärung oder deren Ablehnung zu antworten, nicht, so kommt ein Schadensersatzanspruch des abmahnenden Verbandes aus § 286 Abs. 1 BGB in Betracht, es sei denn, der Störer hat die nicht fristgemäße Erfüllung seiner Antwortpflicht nicht zu vertreten. Dieser Schadensersatzanspruch umfaßt insbesondere die durch das in Rede stehende Verhalten des abgemahnten Störers verursachten Rechtsverfolgungskosten des Verbands." Nach § 280 Abs. 2 BGB kann der Gläubiger unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 286 BGB Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung verlangen. Unter § 280 Abs. 2 BGB fällt nur der Verzögerungsschaden. Ver-

10 Grundlegend zu der Trennung von Leistungs- und Schutzpflichten s. Kreß, Lehrbuch des Allgemeinen Schuldrechts (1929), S. 1 ff., 578 ff.; Ehmann/Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), § 4 III. 11 BGH GRUR 1990, 381 = ZIP 1990, 1433.

Aufklärungspflichten des abgemahnten Wettbewerbers

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langt der Gläubiger aufgrund des Verzugs Schadensersatz statt der Leistung, so müssen gemäß § 280 Abs. 3 BGB die zusätzlichen Voraussetzungen des § 281 BGB vorliegen 12 . Wie bisher setzt der Verzug begrifflich auch nach dem neuen Recht schuldhafte Nichtleistung trotz Fälligkeit und Mahnung voraus (§ 286 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 BGB) 1 3 . „Nichtleistung" knüpft an die Verzögerung einer Leistungspflicht an, dem auf der Gläubigerseite ein vollwirksamer und durchsetzbarer Anspruch gegenübersteht 14. Selbst wenn man davon ausgeht, daß infolge Wettbewerbsverstoßes und Abmahnung zwischen dem Störer und dem Abmahnenden ein pflichtenauslösendes Schuldverhältnis entsteht, so ist die vom BGH angenommene Informationspflicht jedenfalls keine Leistungspflicht. Weder hat der Abmahnende einen Anspruch auf Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung noch ist der Störer dazu verpflichtet. Eine Klage auf Abgabe einer Unterwerfungserklärung ist ausgeschlossen15. Ein Schadensersatzanspruch aus §§ 280 Abs. 2, 286 BGB (§ 286 Abs. 1 BGB a. F.) scheidet daher bereits mangels Bestehens einer Leistungspflicht aus. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß in dem „Schweigen" des Störers keine nicht rechtzeitige Erfüllung einer Leistungspflicht liegt, sondern allenfalls die Verletzung einer Schutzpflicht 16 . §§ 280 Abs. 2, 286 BGB scheiden daher als Anspruchsgrundlage für den Ersatz der dem Abmahnenden entstandenen Kosten aus.

2. Schadensersatz wegen Verletzung einer Schutzpflicht (§ 280 Abs. 1 BGB) Gemäß § 241 Abs. 2 BGB kann das Schuldverhältnis nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten. § 241 Abs. 2 BGB erkennt damit die Existenz von Schutzpflichten an, sagt jedoch nichts über den Entstehungsgrund der Schutzpflichten. Wie bisher müssen die Schutzpflichten der Vereinbarung der Parteien, erforderlichenfalls durch ergänzende Auslegung des Vertrags (§§ 133, 157 BGB),

12

Ehmann!Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), § 2 IV 3. Siehe dazu Ehmann!Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), § 2 IV 2. 14 Heinrichs in Palandt, § 286 Rdz. 12. 15 Köhler, FS für Pieper (1996), S. 309, 313. 16 Zu der Frage, ob die Verletzung der „Antwortpflicht" einen Schadensersatzanspruch auslösen kann, siehe unten 2 b) und IV. 13

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André Pohlmann

dem dispositiven Recht 17 oder Treu und Glauben (§ 242 BGB) entnommen werden 18 . Nach der einheitlichen zentralen Haftungsnorm des § 280 Abs. 1 BGB soll der Schuldner zum Schadensersatz verpflichtet sein, wenn er schuldhaft (§ 276 BGB) eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt. Die „Pflicht aus dem Schuldverhältnis" ist in jedem Fall eine Schutzpflicht, die auf einer vertraglichen, vorvertraglichen oder sonstigen rechtlichen Sonderverbindung basieren kann 19 .

a)

Verletzung einer vorvertraglichen

Schutzpflicht

(§ 311 Abs. 2 BGB)

Zum Teil wird die Auffassung vertreten, daß der Abgemahnte aus culpa in contrahendo verpflichtet sei, den Abmahnenden über bestimmte Umstände aufzuklären 20. Nach dieser Auffassung besteht zwischen dem Abmahnenden und dem Abgemahnten eine vorvertragliche Sonderbeziehung, deren Ziel die Schließung eines Unterlassungsvertrags ist. Daher könne aus dem Gesichtspunkt der culpa in contrahendo die Aufklärungspflicht des Abgemahnten abgeleitet werden, dem Abmahnenden mitzuteilen, daß er sich bereits gegenüber einem Dritten unterworfen habe. Seit dem 1. Januar 2002 hat das ungeschriebene Rechtsinstitut der culpa in contrahendo in § 311 Abs. 2 und 3 BGB eine normative Grundlage gefunden. § 311 Abs. 2 BGB nennt drei Tatbestände, bei denen ein Schuldverhältnis nach § 241 Abs. 2 BGB entsteht: Die Aufnahme von Vertragsverhandlungen (Nr. 1), die Anbahnung eines Vertrags, bei welcher der eine Teil im Hinblick auf eine etwaige rechtsgeschäftliche Beziehung dem anderen Teil die Möglichkeit zur Einwirkung auf seine Rechte, Rechtsgüter und Interessen gewährt oder ihm diese anvertraut (Nr. 2), sowie ähnliche geschäftliche Kontakte (Nr. 3). Selbst wenn man in der Abmahnung bereits ein Angebot auf Abschluß eines Unterwerfungsvertrags sieht 21 , so wird man allein darin noch keine Aufnahme von Vertragsverhandlungen im Sinne des § 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB erblicken können. 17 Z. B. §§ 374 Abs. 2, 384 Abs. 2, 447 Abs. 2, 536 a, 538, 541, 590 a, 602, 603, 617-619, 665, 666, 677, 681 BGB etc., s. dazu im einzelnen Ehmann!Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), § 4 III 3 b. 18 Kreß y Lehrbuch des Allgemeinen Schuldrechts (1929), S. 580; Ehmann!Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), § 4 III 3; dies., JZ 2004, 69. 19 Ehmann!Sutschet y Modernisiertes Schuldrecht (2002), § 2 III 1. 20 Traub, WRP 1989, 393, 394; Ulrich, ZIP 1990, 1377, 1381; Selke, WRP 1999, 286, 288 f.; Heinrichs in Palandt, § 311 Rdz. 18; Roth in MünchKomm, § 241 Rdz. 107; OLG Köln GRUR 1991, 74, 75. 21 So Selke, WRP 1999, 286, 288; aA Spätgens in FS für Gaedertz (1992), S. 545, 554.

Aufklärungspflichten des abgemahnten Wettbewerbers

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Auch die Anbahnung eines Vertrags im Sinne des § 311 Abs. 2 Nr. 2 BGB scheidet aus, da der Abmahnende dem Abgemahnten keine Einwirkung auf Rechte, Rechtsgüter oder Interessen gewährt oder diese ihm anvertraut. In der neueren Literatur wird die Meinung vertreten, das durch die Abmahnung „konkretisierte" Rechtsverhältnis sei ein „ähnlicher geschäftlicher Kontakt" im Sinne des § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB 2 2 . Bei der Frage, was unter einem ähnlichen geschäftlichen Kontakt zu verstehen ist, hilft das Gesetz nicht weiter. Die Regelung der Nr. 3 stellt einen Auffangtatbestand dar, der sich kaum zur Subsumtion eignet23. Dem Rechtsanwender bleibt nichts anderes übrig, als die vor der Kodifizierung der culpa in contrahendo von der Lehre und Rechtsprechung entwickelten Rechtsgrundsätze und Fallgruppen anzuwenden. Sieht man mit der herrschenden Auffassung den Grund für die Haftung in der „Gewährung von in Anspruch genommenem Vertrauen" 24 , so ist die Abmahnung nicht geeignet, einen Schadensersatzanspruch aus culpa in contrahendo zu begründen. Die Abmahnung des Abmahnvereins oder Wettbewerbers ist aus der Sicht des Abgemahnten lästig und unerwünscht. Ähnlich wie eine unbestellte Leistung 25 kann auch eine ungebetene Abmahnung kein vorvertragliches Vertrauensverhältnis aufbauen. Ein Schadensersatzanspruch auf der Basis der §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 BGB scheidet daher aus26.

b)

Verletzung einer Schutzpflicht auf der Grundlage des „Abmahnverhältnisses" (§ 241 Abs. 2 BGB)

In seiner Entscheidung vom 19. Juni 1986 hatte der BGH sich auch nicht auf das Institut der culpa in contrahendo zur Begründung der Aufklärungspflicht des Abmahnenden berufen. Vielmehr leitete er die Aufklärungspflicht aus dem Gedanken her, daß die rechtswidrige Wettbewerbshandlung und die anschließende Abmahnung die „beliebige Sonderbeziehung" zwischen den Wettbewerbern zu einem gesetzlichen Schuldverhältnis der Parteien konkretisiert habe27. Dem hat Köhler zu Recht entgegengehalten, daß ein Wettbewerbsverstoß zwar einen Schadensersatzanspruch zur Folge haben könne, es jedoch sehr fraglich 22 So Heinrichs in Palandt, § 311 Rdz. 18; Roth in MünchKomm, § 241 Rdz. 107; a. Α. Emmerich in MünchKomm, § 311 Rdz. 73. 23 Ehmann!Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), § 6 I; Sutschet, unten S. 95 ff. um Fn. 33. 24 Beierstedt, AcP 151, 501, 507; BGHZ 60, 226; BGH NJW 1981, 1035; Heinrichs in Palandt, § 311 Rdz. 11; dazu ausfuhrlich Pohlmann, Die Haftung wegen Verletzung von Aufklärungspflichten, S. 54 ff. 25 § 241 a Abs. 1 BGB stellt klar, daß die unbestellte Leistung durch einen Unternehmer keinen Anspruch gegen den Verbraucher begründet. 26 Emmerich in MünchKomm, § 311 Rdz. 73. 27 BGH GRUR 1987,54,55.

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sei, ob dieser Verstoß ein gesetzliches Schuldverhältnis mit weitergehenden Pflichten begründen könne, deren Verletzung einen Schadensersatzanspruch aus „positiver Forderungsverletzung" (§ 241 Abs. 2 BGB) hervorrufe 28. Auch Traub kritisierte, daß die vom BGH angenommene „Konkretisierung" des Schuldverhältnisses aus unerlaubter Handlung dazu führe, das ,Arsenal der culpa in contrahendo und der positiven Vertragsverletzung in das Vorfeld der unerlaubten Handlung zu rücken" 29 . Ballerstedt betonte in seiner grundlegenden Schrift zur culpa in contrahendo, daß die Festlegung eines gesetzlichen Schuldverhältnisses ohne „innerliche" Begründung „rein positivistisch" sei 30 . Die Berufung auf Treu und Glauben (§ 242 BGB) genügt nicht, gesetzlich nicht statuierte Informationspflichten zu begründen 31. Zur Legitimierung des gesetzlichen Abmahnverhältnisses stellte der BGH in seiner Entscheidung vom 19. Juni 1986 entscheidend auf den Zweck der Abmahnung ab 32 : „Die durch eine Verletzungshandlung veranlaßte Abmahnung dient, da sie das Streitverhältnis bereits auf einfache und billige Weise vorprozessual beendigen und einen Rechtsstreit vermeiden soll, im Regelfall dem wohlverstandenen Interesse beider Parteien und verbindet diese daher in einer wettbewerbsrechtlichen Sonderbeziehung eigener Art, deren Inhalt wegen der jedenfalls im Regelfall gegebenen Interessenüberschneidungen in besonderem Maße durch Treu und Glauben bestimmt wird. Nach der somit im Einzelfall erforderlichen Interessen- und Pflichtenabwägung erscheint es aber geboten, den Verletzer, der durch sein unerlaubtes Handeln dem Verletzten Anlaß zur Abmahnung und - für den Fall des Schweigens auf diese - zum prozessualen Vorgehen gegeben hatte, als nach Treu und Glauben verpflichtet anzusehen, den Abmahnenden darüber aufzuklären, daß eine Unterwerfung wegen derselben Verletzungshandlung bereits einem Dritten gegenüber erfolgt ist..." (Hervorhebung vom Verf.). Ähnlich begründete der BGH die sich aus der wettbewerbsrechtlichen Sonderbeziehung ergebende Pflicht des abgemahnten Störers, auf die Abmahnung fristgerecht zu antworten 33: „Eine solche Pflicht ergibt sich bei wettbewerbsrechtlichen Sonderbeziehungen der genannten Art und den dabei im Regelfall ergebenden Interessenüberschneidungen aus der nach Treu und Glauben gebotenen Rücksichtnahme auf die Interessen auch des anderen Teils... άie in einer Abmahnung zum Ausdruck kommende Rücksichtnahme auf die Interessen des Störers macht es nach Treu und Glauben erforderlich, im Wettbewerbsrecht den Störer im Gegenzuge als verpflichtet anzusehen, auf eine Abmahnung fristgemäß ... zu antworten, um den Abmahnenden nicht in einen Pro-

28 29 30 31 32 33

Köhler in FS für Pieper (1996), S. 309, 310. Traub, WRP 1989, 393, 394. AcP 151,501 ff. Kur, Beweislast und Beweisführung im Wettbewerbsprozeß, S. 290. BGH GRUR 1987,54,55. BGH GRUR 1990, 381, 382. Siehe oben II 1.

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zeß zu drängen, der für ihn möglicherweise mit vermeidbaren ungebührlichen Kostennachteilen verbunden ist..." (Hervorhebung vom Verf.). Mit anderen Worten ließ sich der BGH von dem Gesichtspunkt leiten, daß der Abmahnende auch im Interesse des Abgemahnten tätig werde und daher erwarten könne, über Umstände informiert zu werden, die einen Prozeß vermeiden könnten. Wird der Abmahnende jedoch überhaupt im Interesse des Abgemahnten tätig? Davon scheint der BGH auszugehen, da er den zu Recht Abgemahnten für die Abmahnkosten aus dem Gesichtspunkt der Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677, 683, 670 BGB) aufkommen läßt 34 . So heißt es in der „Fotowettbewerb"-Entscheidung: „Nun ist es in der Rechtsprechung anerkannt, daß derjenige, der vom Störer die Beseitigung der Störung verlangen kann, gemäß § 683 BGB Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungen als Geschäftsführer ohne Auftrag hat, soweit er seinerseits bei der Beseitigung der Störung hilft und dabei im Interesse und im Einklang mit dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Störers tätig wird (vgl. RGZ 167, 55, 58 f.; BGH in NJW 1966, 1360). Diese Voraussetzungen sind auch in Fällen der vorliegenden Art gegeben. Denn hier ist eine vorprozessuale Abmahnung des Störers allein nicht geeignet, zur beschleunigten Beseitigung der entstandenen Unklarheiten beizutragen, sondern sie liegt zugleich im Interesse des Störers, der dadurch Gelegenheit erhält, einen kostspieligen Rechtsstreit zu vermeiden. Angesichts der bereits erwähnten Gepflogenheiten auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes kann der Gläubiger jedenfalls davon ausgehen, daß er die Aufwendungen für eine solche Abmahnung im Einklang mit dem mutmaßlichen Willen des Störers erbringt." Die Entscheidung der Rechtsprechung, den Abgemahnten auch im Falle schuldlosen35 Verstoßes die Abmahnkosten auf der Basis der Geschäftsführung ohne Auftrag aufzubürden, ist in der Literatur auf breite Kritik gestoßen36. So merkte bereits Klaka an, daß die Abmahnung bei einem Wettbewerbsverstoß kaum mit Fällen verglichen werden könne, in denen die Unterhöhlung eines Bahndammes beseitigt werde, eine drohende Grundwasserverseuchung abgewendet werde oder für den verreisten Nachbarn gefährliche Eiszapfen oder Dachlawinen von dessen Haus beseitigt werden 37. Ehmann zählt den Erstattungsanpruch für Abmahnkosten bei unverschuldeten Wettbewerbsverstößen zu den Fallgruppen, in denen die Anwendung des Rechts der Geschäftsführung

34

BGHGRUR 1970, 189. Handelt der Verletzer schuldhaft, kommen Schadensersatzansprüche des Wettbewerbers aus Delikt oder Sondergesetzen in Betracht (§ 9 i.V.m. § 3 UWG, § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit Nebengesetzen, § 826 BGB). Diese Ansprüche stehen Fachverbänden jedoch nicht zu, s. OLG Stuttgart WRP 1994, 61, 63. 36 Klaka, GRUR 1970, 190 f.; Kurbjuhn, NJW 1970, 604 f.; Borck, WRP 1981, 438 f.; Prelinger, NJW 1982, 211 f.; Roth, DB 1982, 1916 f.; Melullis, WRP 1982, 1 f.; Gaede!Meister, WRP 1984, 246, 247 f.; Ulrich, GRUR 1984, 368 f.; Schmid, GRUR 1999, 312, 313 f.; Köhler in FS für Erdmann (2002), S. 845, 846 ff.; Ehmann in Erman, § 677 Rdz. 13; Sprau in Palandt, § 683 Rdz. 4. 37 Klaka, GRUR 1970, 190, 191. 35

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ohne Auftrag überdehnt werde. Seiner Auffassung nach kann trotz der Unlauterkeit der Wettbewerbsstörung eine vorprozessuale Abmahnung nicht mehr dem Willen des Abgemahnten entsprechen 38. In der Tat überzeugt das Argument, in der Abmahnung liege ein Geschäft des Abmahnenden für den Abgemahnten, nicht. Die Abmahnung kann nicht mit der Situation verglichen werden, daß jemand eine von einem Dritten hervorgerufene oder von diesem ausgehende Störung beseitigt. Die Abmahnung beseitigt keine Störung, sondern erschöpft sich in der Aufforderung an den Abgemahnten, in der Zukunft weitere Störungen zu unterlassen 39. Die Beseitigung des Störzustandes erfolgt durch die strafbewehrte Unterlassungserklärung des Verletzers, nicht durch die Abmahnung des Verletzten 40 . Die Abmahnung leitet die Beseitigung der Störung auch nicht ein oder bereitet sie vor, sie kann dem Störer lediglich den Anstoß geben, selbst und aus eigenem Antrieb (durch Abgabe einer Unterlassungserklärung) tätig zu werden 41. Eine Mithilfe zur Störungsbeseitigung durch die Abmahnung liegt daher nicht vor. Ebensowenig greift das Argument durch, die Abmahnung sei ein Geschäft für den Abgemahnten, weil durch sie ein Kosten verursachendes gerichtliches Verfahren vermieden würde. Allenfalls die auf einem eigenständigen, freiwilligen Entschluß beruhende Unterwerfungserklärung kann ein gerichtliches Verfahren verhindern, nicht jedoch die Abmahnung 42 . Richtigerweise dient die Abmahnung ausschließlich dem Interesse des Abmahnenden an der Minderung seines prozessualen Kostenrisikos (Vermeidung einer Kostenentscheidung nach § 93 ZPO). Dies wird, worauf Melullis zu Recht hingewiesen hat, dadurch bestätigt, daß in den Fällen, in denen die Abmahnung für entbehrlich erachtet wird, allein auf das Interesse des Abmahnenden abgestellt wird 4 3 . Wie bereits oben erwähnt 44, wird die Abmahnung als unnötig erachtet, wenn sie aus der Sicht des Verletzten besonders dringlich erscheint oder offensichtlich nutzlos ist. Die Interessen des Abgemahnten werden dagegen ignoriert, was zeigt, daß der Abmahnende bei der Abmahnung ausschließlich von Eigeninteressen geleitet wird. Schließlich kann auch in dem Hinweis auf das wettbewerbswidrige Verhalten des Abgemahnten keine Geschäftsbesorgung gesehen werden. Die Belehrung des Verletzers über seinen Verstoß und den darin liegenden Rechtsbruch ist ein

38 39 40 41 42 43 44

Ehmann in Erman, § 677 Rdz. 13 m. w. N. Melullis, WRP 1982, 1,2. Borck, WRP 1981, 438, 439; Roth, DB 1982, 1916. Roth, DB 1982, 1916, 1917. Siehe unten c) (2). Melullis, WRP 1982, 1,2. Siehe oben I.

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ungebetener Rat, den der Abmahnende im eigenen Interesse erteilt, damit der Verletzer die beanstandete Wettbewerbsstörung zukünftig unterläßt 45. Wäre der Hinweis auf das unrechtmäßige Handeln eine Geschäftsführung, so könnte jeder Rechtskundige Abmahnungen aussprechen und anschließend Ersatz der Kosten für Rechtsberatung ohne Auftrag beanspruchen, unabhängig davon, ob ein Wettbewerbsverhältnis gegeben ist oder nicht 46 . Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß der Abmahnende mit der Abmahnung ein eigenes Geschäft führt. Er verfolgt einen eigenen Anspruch auf Unterlassung, und er ist es, der an der Unterlassung zukünftiger Wettbewerbsverstöße interessiert ist. Darüber hinaus ist der Verletzte auch deshalb an der Abmahnung interessiert, weil er dadurch dem Kostenrisiko des § 93 ZPO entgeht47. Ein Aufwendungsersatzanspruch läßt sich auf der Basis der §§ 677, 683, 670 BGB kaum begründen 48. Vor diesem Hintergrund überzeugt die „innerliche Begründung", die der BGH zur Begründung des schutzpflichtbegründenden gesetzlichen Abmahnverhältnisses gegeben hat, nicht 49 . Die Abmahnung dient nicht dem „wohlverstandenen Interesse beider Parteien", sondern einzig und allein dem Interesse des Abmahnenden. Die Annahme, daß sich die „beliebige Sonderbeziehung" zwischen den Parteien durch den Wettbewerbsverstoß und die anschließende Mahnung „konkretisiert" habe, kann nicht als dogmatische Begründung von Aufklärungspflichten des Abgemahnten dienen.

45

Melullis, WRP 1982, 1, 2; Roth, DB 1982, 1916. Schulz, WRP 1990, 658, 659; Oppermann, AP 193 (1993), 497, 522 Fn. 111. 47 Nicht verschwiegen werde sollte auch, daß der Abmahnende in manchen Fällen deshalb an den Abmahngebühren interessiert ist, um auf diese Weise Geld zu verdienen. Zu den jüngsten Auswüchsen des Abmahnwesens s. Roth, Forschung gegen den Abmahnwahn (im Internet unter http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/17038/1.html); Jörns, Mit Abmahnungen kann man in der IT-Branche noch Geld verdienen (im Internet unter http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/9047/! .html). 48 Nach § 12 Abs. 1 S. 2 UWG (neu) kann der Abmahnende Ersatz der erforderlichen Aufwendungen verlangen, soweit die Abmahnung berechtigt ist. Dadurch soll laut Begründung des vorangegangenen Entwurfs „die Rechtsprechung nachvollzogen [werden], die über die Regeln der Geschäftsführung ohne Auftrag einen Aufwendungsersatzanspruch des Abmahnenden hergeleitet hat". Obwohl sich die Herleitung einer Kostenerstattung dogmatisch nicht befriedigend lösen läßt, mag der Kostenerstattungsanspruch rechtspolitisch legitim sein, da er den Wettbewerbern einen Anreiz gibt, Wettbewerbsverstöße (deren Ahndung auch im öffentlichen Interesse liegt und daher nicht allein dem Risiko des Verletzten überlassen werden sollte) zu bekämpfen und wettbewerbsrechtliche Streitigkeiten außergerichtlich zu lösen, siehe dazu Oppermann, AcP 193 (1993), 497, 525 ff.; Köhler in FS Tür Erdmann (2002), S. 845, 851. 49 Ebenso Emmerich in MünchKomm, § 311 Rdz. 73, der die Begründung dieses „eigenartigen" gesetzlichen Schuldverhältnisses als „offenkundige Fehlentwicklung" der Praxis ansieht. 46

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c)

Eigener Lösungsvorschlag

Durch die Abgabe einer ernsthaften strafbewehrten Unterlassungserklärung erkennt der Verletzer gegenüber dem Adressaten der Erklärung den Unterlassungsanspruch an 50 . Die Unterwerfungserklärung führt zu einem Neubeginn der Verjährung (§212 Abs. 1 Nr. 1 BGB) und widerlegt die Vermutung der Wiederholungsgefahr der beanstandeten wettbewerbswidrigen Handlung. Die Unterwerfungserklärung hat jedoch auch unmittelbare Auswirkungen auf alle anderen von dem Wettbewerbsverstoß betroffenen Dritten, die nicht Adressaten der Unterwerfungserklärung sind, da sie die Wiederholungsgefahr nämlich nicht nur im Verhältnis zwischen dem Verletzer und dem Adressaten der Erklärung, sondern inter omnes beseitigt 51 . Insoweit führt der Abgemahnte durch die Unterwerfung nicht nur ein Geschäft für den Adressaten der Erklärung, sondern darüber hinaus auch für alle weiteren von demselben Wettbewerbsverstoß betroffenen Parteien. Gegenüber diesen Dritten wird der Verletzer als Geschäftsführer ohne Auftrag tätig, weshalb ihn die Pflicht trifft, dem abmahnenden Dritten mitzuteilen, daß er bereits eine Unterwerfungserklärung abgegeben hat 52 . Wie im folgenden dargelegt wird, treffen sämtliche Voraussetzungen der auftraglosen Geschäftsführung auf den vorliegenden Fall zu. (1) Geschäftsbesorgung Der Begriff der Geschäftsbesorgung wird im Rahmen der auftraglosen Geschäftsführung als Tätigkeit im fremden Interesse verstanden 53. „Tätigkeit" umfaßt die Vornahme von Rechtsgeschäften, rechtsähnlichen und tatsächlichen Handlungen gleich welcher Art 5 4 . Die Unterlassungserklärung ist eine auf einen Unterwerfungsvertrag gerichtete Willenserklärung 55 . Somit kann die Abgabe ei-

50

Baumbach/Hefermehl y Wettbewerbsrecht, Einl UWG Rdz. 269; Heinrichs in Palandt, § 212 Rdz. 4. 51 Siehe oben II. 52 Vgl. §§ 677, 681 S. 2, 666 Alt. 1 BGB. 53 Ehmann in Erman, § 677 Rdz. 2; Sprau in Palandt, § 677 Rdz. 2. 54 Sprau in Palandt, § 662 Rdz. 6. 55 Bereits die mit dem Zugang (§ 130 Abs. 1 BGB) wirksame Unterwerfungser£/ärung beseitigt die Wiederholungsgefahr. Davon zu trennen ist der schuldrechtliche Unterwerfungsver/rag, der ein besonderes Pflichtenverhältnis zwischen den Parteien begründet. Zu der (hier nicht zu erörternden) Frage, ob die Unterwerfungserklärung schon die Annahme oder erst das Angebot zum Abschluß eines Unterwerfungsvertrags darstellt, s. Teplitzky, Wettbewerbsrechtliche Ansprüche, Kapitel 41 Rdz. 5 m. w. N.; Pokrant in FS für Erdmann (2002), S. 863, 865 ff.; Eichmann in FS für Helm (2002), S. 287, 297 ff.

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ner wettbewerbsrechtlichen Unterwerfimgserklärung eine Geschäftsbesorgung im Sinne des § 677 BGB darstellen.

(2) Für einen anderen Weiterhin muß der Geschäftsführer für einen anderen tätig werden, d. h. das Geschäft nicht nur als eigenes, sondern zumindest auch als fremdes besorgen 56. Dabei ist es nicht erforderlich, daß dem Geschäftsführer die Person des Geschäftsherrn bekannt ist. Der Geschäftsführer kann handeln für den, den es angeht, ausreichend ist, daß er das Geschäft irgendeines anderen führen will. Die Geschäftsführung kann auch mehrere Geschäftsherren betreffen 57. Die ernsthafte strafbewehrte Unterwerfungserklärung beseitigt die Vermutung der Wiederholungsgefahr künftiger neuer Verstöße, die mit dem schon begangenen Wettbewerbsverstoß übereinstimmen. Durch die Beseitigung der Wiederholungsgefahr erlischt der Unterlassungsanspruch des Verletzten. Eine Klage müßte nach Abgabe der Unterwerfungserklärung als unbegründet abgewiesen werden 58. Der Verletzer vermeidet also durch die strafbewehrte Unterlassungserklärung eine Klage und führt insoweit ein Geschäft, das den Interessen beider Parteien dient 59 . Da die ernsthafte Unterlassungserklärung auch gegenüber Dritten die Wiederholungsgefahr beseitigt, wahrt der Verletzer auch deren Interessen. Der Verletzer handelt mit Fremdgeschäftsfuhrungswillen, denn er weiß und will, daß durch die Abgabe der Unterlassungserklärung sämtliche Unterlassungsansprüche erlöschen und Klagen Dritter vermieden werden. In der Abgabe der Unterwerfungserklärung liegt daher zumindest ein „auchfremdes Geschäft" gegenüber allen von derselben wettbewerbswidrigen Handlung Betroffenen. Auf die Abgabe einer strafbewehrten Unterwerfungserklärung besteht weder ein Anspruch des Verletzten, noch ist der Verletzer kraft Gesetzes dazu verpflichtet 60 . Der Störer mag viele Gründe haben, keine Unterwerfungserklärung abzugeben, sei es, daß er sein Verhalten nicht als wettbewerbswidrig ansieht, 56

Ehmann in Erman, § 677 Rdz. 3; Sprau in Palandt, § 677 Rdz. 3. Ehmann in Erman, § 677 Rdz. 4; Sprau in Palandt, § 677 Rdz. 8. 58 BGH GRUR 1973, 208; BGH NJW 1983, 941. 59 Anknüpfungspunkt für die Geschäftsführung des Abgemahnten ist die Unterwerfungserklärung, nicht die Abmahnung. Die Abmahnung ist eine der Unterlassungserklärung vorausgehende und aus der Sicht des Abgemahnten ungebetene und unerwünschte Aufforderung zur Unterwerfung. Daher ist die Abmahnung ein Eigengeschäft des Abmahnenden (siehe oben II 2 b)). Dagegen ist die freiwillige Unterwerfung ein Geschäft des Abgemahnten, das dieser zumindest auch im Interesse aller von dem Wettbewerbsverstoß Betroffenen fuhrt. 60 OLG Stuttgart WRP 1994, 61, 64. 57

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sei es, daß er mit den Konditionen der ihm vorgelegten Unterwerfungserklärung nicht einverstanden ist. In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, daß die strafbewehrte Unterlassungserklärung, obwohl der Summe nach erheblich niedriger als eine Zwangsvollstreckung nach § 890 ZPO, gegenüber der Verurteilung zu einem Ordnungsgeld unter Umständen wesentlich riskanter sein kann. So wird für die Verhängung eines Ordnungsmittels nach § 890 ZPO ein Verschulden des Unterlassungsschuldners verlangt, während für die Verwirkung einer Vertragsstrafe das „Vertretenmüssen" ausreicht. Letzteres beinhaltet eine Zurechnung nach § 278 BGB, so daß der Schuldner des Unterwerfungsversprechens ohne Möglichkeit eines Entlastungsbeweises für das Verhalten seines Erfüllungsgehilfen einsteht. Da zudem der Begriff des Erfüllungsgehilfen sehr weit verstanden wird, muß der Schuldner möglicherweise die vorgesehene Vertragsstrafe zahlen, weil er für das schuldhafte (und unter Umständen sogar weisungswidrige) Verhalten eines Erfüllungsgehilfen gemäß § 278 BGB haftet, obwohl er selbst seiner Unterlassungspflicht nachgekommen ist 61 . Festzuhalten bleibt, daß die Unterwerfungserklärung auf einem freien Entschluß des Schuldners beruht. Der Wettbewerbsverstoß begründet einen gesetzlichen Unterlassungsanspruch, aber keinen Anspruch auf und demzufolge auch keine Verpflichtung zur Abgabe eines strafbewehrten Unterlassungsversprechens. In der freiwilligen Unterwerfung des Verletzers liegt ein Geschäft für alle Verletzten, da ihnen ein unter Umständen zeit- und kostenaufwendiger Prozeß erspart bleibt.

(3) Ohne Auftrag oder sonstige Berechtigung Schließlich scheidet eine Geschäftsführung ohne Auftrag aus, wenn der Geschäftsführer durch Rechtsgeschäft, Organstellung, amtliche Bestellung oder familienrechtliche Befugnis zur Geschäftsführung berechtigt oder kraft Gesetzes verpflichtet war 62 . Eine rechtsgeschäftliche Berechtigung oder gesetzliche Verpflichtung zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung besteht im vorliegenden Fall nicht. Die Voraussetzungen einer auftraglosen Geschäftsführung im Sinne des § 677 BGB liegen also vor.

61

BGH GRUR 1985, 1065, 1066; BGH GRUR 1987, 648, 649; BGH GRUR 1988, 561; dazu ausführlich Traub, FS für Gaedertz (1992), 563. 62 Ehmann in Erman, § 677 Rdz. 8.

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d)

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Folge

In der freiwilligen Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung liegt nicht nur eine Geschäftsbesorgung gegenüber dem Adressaten, sondern auch (ohne Auftrag) gegenüber allen anderen von demselben Wettbewerbsverstoß betroffenen Parteien. Entschließt sich der Störer zu einer freiwilligen Unterwerfung, so hat er dieses Geschäft so zu führen, wie das Interesse der Dritten mit Rücksicht auf deren wirklichen oder mutmaßlichen Willen es erfordert. Diese Hauptpflicht bei der Ausführung der Geschäftsführung konkretisiert sich in der Nebenpflicht des § 681 BGB, der auf die §§ 666-668 BGB verweist. Relevant ist in diesem Zusammenhang die Pflicht des Verletzers, dem abmahnenden Dritten gegenüber „die erforderlichen Nachrichten zu geben" 63 . Dazu zählt insbesondere die Pflicht, den Dritten darüber aufzuklären, daß der Abgemahnte bereits eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben und insoweit ein Geschäft für den Dritten geführt hat. Ein Aufwendungsersatzanspruch des Verletzers gegenüber den nachfolgenden Abmahnenden nach §§ 677, 683, 670 BGB scheidet aus, da in der Regel davon auszugehen ist, daß der Abgemahnte infolge der Abgabe der Unterwerfungserklärung keine Ausgaben oder Aufwendungen hatte. Die Begründung einer Schadensersatzpflicht auf der Basis auftragloser Geschäftsführung hat den Vorteil, daß ein solcher Ersatzanspruch auch dann gegeben sein kann, wenn das Vorliegen eines Wettbewerbsverstoßes zweifelhaft ist. Die Konstruktion eines Ersatzanspruchs auf der Grundlage eines durch Wettbewerbsverstoß und Abmahnung konkretisierten , Abmahnverhältnisses" bricht zusammen, wenn das Vorliegen eines Wettbewerbsverstoßes nicht oder nicht sicher vorliegt 64 . Der Abgemahnte mag sich zu einer freiwilligen Unterwerfung entschließen, obwohl er davon überzeugt ist, daß kein Wettbewerbsverstoß vorlag, um etwa einen möglicherweise jahrelangen Rechtsstreit über das Vorliegen einer wettbewerbswidrigen Handlung im Interesse aller Beteiligten zu vermeiden. Auch in diesem Fall kann er verpflichtet sein, den nachfolgenden Drittabmahner über die bereits abgegebene Unterwerfungserklärung zu informieren. Sieht man in der Abgabe der Unterlassungserklärung eine Geschäftsführung für den Dritten, die diesem einen zeit- und kostenraubenden Prozeß er-

63

Vgl. § 666 Alt. 1 BGB. Folgerichtig stellte der BGH fest, daß der Empfänger einer unbegründeten Abmahnung nicht verpflichtet sei, den Abmahnenden darüber aufzuklären, daß er für den beanstandeten Wettbewerbsverstoß nicht verantwortlich sei (BGH WRP 1995, 300 mit Anmerkung Ulrich). Der BGH betonte, daß es mangels Wettbewerbsverstoßes an einer wettbewerbsrechtlichen Sonderbeziehung zwischen Abmahnenden und Abgemahnten fehle, so daß ein Schadensersatz mangels Anspruchsgrundlage unbegründet sei (S. 301). 64

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spart, so läßt sich eine Aufklärungspflicht des Abgemahnten auch dann zwanglos bejahen, wenn nicht feststeht, ob ein Wettbewerbs verstoß vorlag.

III.

Aufklärungspflicht nach Vertragsschluß

Für den Abgemahnten können vertragliche Aufklärungspflichten auf der Grundlage des zwischen ihm und dem Abmahnenden geschlossenen Unterwerfungsvertrags entstehen. Eine derartige Aufklärungspflicht des Unterwerfungsschuldners bejahte der BGH beispielsweise in dem folgenden Fall 65 : Die Beklagte hatte sich mit einer strafbewehrten Unterwerfungserklärung gegenüber der Klägerin verpflichtet, eine beanstandete Werbung zukünftig zu unterlassen. Dennoch erschien wenige Tage später eine vergleichbare Werbung der Beklagten, die jedoch - wie sich später herausstellte - von der Zeitung eigenmächtig ohne entsprechenden Auftrag der Beklagten geschaltet worden war. Daraufhin erwirkte die Klägerin eine Beschlußverfügung, durch die der Beklagten die beanstandete Werbung untersagt wurde. Erst im Widerspruchsverfahren machte die Beklagte geltend, daß die Veröffentlichung der nach Abgabe der Abschlußerklärung veröffentlichten Werbung auf einem Versehen der Zeitung beruhte. Die Klägerin beantragte daraufhin Feststellung der Erledigung der Hauptsache, da die für ihren Unterlassungsanspruch erforderliche Wiederholungsgefahr nicht mehr bestehe. Die Beklagte widersprach der Erledigung, woraufhin die Kosten der Klägerin durch Urteil auferlegt wurden. Nach Umstellung des Klagebegehrens verlangte die Klägerin von der Beklagten, ihr die entstandenen unnötigen Kosten der Rechtsverfolgung zu erstatten, da die Beklagte sie darüber hätte aufklären müssen, daß die maßgebliche Anzeige von der Zeitung eigenmächtig publiziert worden war. Der BGH betonte, daß der zwischen den Parteien zustande gekommene Unterlassungsvertrag in besonderem Maße von Treu und Glauben bestimmt werde, woraus sich je nach den Umständen auch Pflichten zur Aufklärung ergeben können. Die Beklagte konnte davon ausgehen, daß die Klägerin von einer (mangels Wiederholungsgefahr erfolglosen) gerichtlichen Verfolgung Abstand nehmen würde, wenn sie erfahren hätte, daß die erneute Schaltung der Anzeige keine Wiederholungstat der Beklagten war, sondern auf einem Versehen der Zeitung beruhte. Der BGH hob hervor: „Aus dieser Konstellation erwuchs der Bekl. eine Aufklärungspflicht gegenüber ihrer Vertragspartnerin; denn es verstößt in hohem Maße gegen die aus Treu und Glauben erwachsende Pflicht zur Rücksichtnahme auf - in engem Zusammenhang mit der eingegangenen eigenen Vertragshauptpflicht stehende - Belange des anderen Vertragsteils, diesen aufgrund eines als unmittelbare Folge der ursprünglichen Verletzungshandlungen entstandenen falschen Anscheins bewußt in einen - nach eigener Vorstellung aussichtslosen - Prozeß und damit - so die plastische Formulierung der Klägerin in der Berufungsbegründung - hinsichtlich der Kosten „ins offene Messer" laufen zu lassen."

65

BGH GRUR 1990,542.

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Ein Rückgriff auf Treu und Glauben ist dann nicht erforderlich, wenn die Schutzpflichten eines konkreten Vertrags der Vereinbarung der Parteien (notfalls durch Auslegung des Vertrags, § 157 BGB) entnommen werden können66. Infolge der strafbewehrten Unterlassungserklärung des Verletzers kommt zwischen diesem und dem Abmahnenden ein Unterwerfungsvertrag zustande, der den Abgemahnten zur Unterlassung und zur Zahlung der versprochenen Vertragsstrafe für den Fall einer schuldhaften Zuwiderhandlung verpflichtet. Neben der Unterlassungspflicht als Leistungspflicht (§ 241 Abs. 1 S. 2 BGB) begründet der Vertrag Schutzpflichten für den Abgemahnten (§ 241 Abs. 2 BGB). Zu den Schutzpflichten zählt die Pflicht des Abgemahnten, den Abmahnenden darüber aufzuklären, daß entgegen dem Anschein ein erneuter Verstoß gegen die vertraglich übernommene Unterlassungspflicht nicht vorliegt, weshalb eine Klage mangels erneuter Wiederholungsgefahr keinen Erfolg hat. Der Abmahnende, der trotz Wissens um Erfolglosigkeit der Klage schweigt und den anderen ins „Kostenmesser laufen läßt", verletzt eine vertragliche Aufklärungspflicht. Diese Aufklärungspflicht läßt sich damit begründen, daß der Abgemahnte mit Abgabe der Unterlassungserklärung für den Abmahnenden ein Geschäft besorgt, welches auftragsrechtliche Pflichten nach sich zieht. Die auftragsrechtlichen Schutzpflichten, zu denen auch die Informationspflichten der §§ 665 S. 2, 666 BGB zählen, haben vertragsübergreifenden Charakter und können auf alle entgeltlichen und unentgeltlichen Verträge Anwendung finden 67 .

IV.

Sonstige Aufklärungspflichten

Wie gezeigt worden ist, ist der Abgemahnte auf der Basis einer auftraglosen Geschäftsführung verpflichtet, den nachfolgenden Abmahner über das Vorliegen einer gegenüber einem Dritten abgegebenen Unterwerfungserklärung zu informieren. Ebenso verpflichtet der Unterwerfungsvertrag den Abgemahnten zur Aufklärung über nach Vertragsschluß eingetretene Umstände, so ζ. B. darüber,

66

Ehmann!Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), § 4 III 1. Bei Zugrundelegen eines weiten Geschäftsbesorgungsbegriffs kann in jeder vertraglich übernommenen Leistungspflicht eine Geschäftsbesorgung, d. h. ein „Tätigwerden für einen anderen" liegen (s. Isele, Die Geschäftsbesorgung, S. 149; Ehmann in Erman, Vor § 662 Rdz. 12; Ehmann!Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), § 4 III 3 b bb (7); Pohlmann, Die Haftung wegen Verletzung von Aufklärungspflichten, S. 86 ff m. w. N.). Trotz des Wortlauts des § 675 Abs. 1 BGB, der eine Eingrenzung auf bestimmte Dienst- und Werkverträge nahe legt, haben die auftragsrechtlichen Schutzpflichten vertragsübergreifenden Charakter und sind im Prinzip „auf jeden Vertrag anwendbar" (Ehmann in Erman, Vor § 662 Rdz. 12), sei er entgeltlicher oder unentgeltlicher Natur. 67

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daß eine scheinbar erneute Wettbewerbsverletzung auf dem Versehen eines Dritten beruht und daher keine Wiederholungsgefahr besteht. Darüber hinaus haben die Gerichte auch in weiteren vereinzelten Entscheidungen Aufklärungspflichten des Abgemahnten gegenüber dem Abmahner bejaht: So soll nach einer Entscheidung des OLG Hamburg aus dem Jahr 1969 der Abgemahnte verpflichtet sein, den Abmahnenden darüber aufzuklären, daß er eine beanstandete Verletzungshandlung (Werbeanzeige) nicht zu verantworten habe68. Nach Ansicht des OLG Köln verletzt der Abgemahnte seine Aufklärungspflicht, wenn er den Abmahnenden nicht rechtzeitig darauf hinweist, daß er die beanstandete Ausstattung bereits seit vierzehn Jahren verwendet 69. In anderen Fällen wurde eine Aufklärungspflichtverletzung als gegeben angenommen, weil der Abgemahnte auf eine Abmahnung schweigt, die ursprünglich berechtigt war, jedoch nunmehr (infolge Produktionsänderung oder nach Erteilung einer zunächst fehlenden Prüfhummer) unberechtigt ist 70 . Schließlich soll auch der fehlende Hinweis auf eine nicht vorhandene Passivlegitimation einen Schadensersatzanspruch wegen Verletzung einer Aufklärungspflicht auslösen71. In all diesen Fällen läßt sich das Vorliegen einer Aufklärungspflicht jedoch nicht begründen. Informationspflichten bedürfen einer rechtlichen Grundlage 72. Zum Zeitpunkt der Abmahnung besteht zwischen den Parteien weder ein Vertrag noch ein vorvertragliches Schuldverhältnis im Sinne des § 311 Abs. 2 BGB. Auch die Konstruktion eines infolge Wettbewerbsverstoßes und Abmahnung konkretisierten gesetzlichen Schuldverhältnisses überzeugt als Basis für eine dogmatische Begründung von Informationspflichten nicht. Ebenso wenig ist der Abgemahnte verpflichtet, auf die Abmahnung fristgerecht durch Abgabe einer Unterwerfungserklärung oder deren Ablehnung zu antworten 73. Abgesehen davon, daß es für die Begründung einer solchen Antwortpflicht an einer dogmatischen Grundlage fehlt, eignet sich eine solche Pflicht auch kaum als Basis eines Schadensersatzanspruchs. Wie bereits betont, ist der Abgemahnte nicht verpflichtet, sich strafbewehrt zu unterwerfen. Deshalb ist auch die Annahme einer Antwortpflicht durch Abgabe einer solchen freiwilligen Erklärung verfehlt. Darüber hinaus könnte der Abgemahnte zunächst die Abgabe einer Unterlassungserklärung gegenüber dem Abmahnenden kategorisch ablehnen, sich jedoch später eines Besseren besinnen und die ver68

OLG Hamburg WRP 1969, 119. OLG Köln WRP 1979, 392. 70 OLG Stuttgart WRP 1984, 651 ; OLG Frankfurt WRP 1979, 311. 71 OLG Köln GRUR 1991,74. 72 Umfassend zum Informationsrecht Ehmann, AcP 188 (1988), 230 ff.; Kur, Beweislast und Beweisführung im Wettbewerbsprozeß, S. 290. 73 So aber BGH GRUR 1990, 381; dazu oben II 1 und II 2 b). 69

Aufklärungspflichten des abgemahnten Wettbewerbers

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langte Erklärung (zwischen Einreichung und Rechtshängigkeit der Klage) unterzeichnen. In diesem Fall hätte er „pflichtgemäß" geantwortet, weshalb ein Ersatzanspruch auf die bis zum Zugang der Unterwerfungserklärung entstandenen Anwalts- und Gerichtskosten nicht gegeben wäre 74 . Liegt kein Vertragsverhältnis vor und ist der Abgemahnte auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer auftraglosen Geschäftsführung zur Aufklärung verpflichtet, so kommt eine Schadensersatzpflicht allenfalls unter den Voraussetzungen des § 826 BGB in Betracht, nämlich dann, wenn der Störer den Abmahnenden bewußt in „die Kostenfalle" laufen läßt 75 .

V.

Fazit

a) Nach der Rechtsprechung des BGH läßt eine ernst gemeinte und ausreichende Unterwerfungserklärung des Störers die Wiederholungsgefahr im Verhältnis zu allen potentiellen Unterlassungsgläubigern entfallen. Daher ist es für den nachfolgenden Abmahner wichtig, über eine bereits gegenüber einem Dritten abgegebene Unterwerfungserklärung informiert zu werden, da er anderenfalls Gefahr läuft, einen von vornherein unbegründeten Anspruch gerichtlich geltend zu machen. Die in der Praxis sehr bedeutsame Aufklärungspflicht des Abgemahnten im Falle einer Drittunterwerfung läßt sich jedoch nicht auf der Basis eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses im Sinne des §311 Abs. 2 BGB ableiten, da die ungebetene und unerwünschte Abmahnung ein solches Schuldverhältnis nicht begründen kann. Die Tatsache, daß ein Teil der Literatur nach Inkrafttreten der Schuldrechtsmodernisierung die bloße Abmahnung eines Wettbewerbers als schadensersatzbegründenden „geschäftlichen Kontakt" im Sinne des § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB versteht, zeigt deutlich, welche Gefahren der Fehldeutung und Irreführung dieser , Auffangtatbestand" in sich birgt. Die culpa in contrahendo läßt sich nicht abschließend definieren. § 311 Abs. 2 BGB kann daher diesem ungeschriebenen Rechtsgrundsatz kaum gerecht werden 76 . Auch der Rückgriff auf das durch Wettbewerbsverstoß und Abmahnung „konkretisierte" gesetzliche ,Abmahnverhältnis" eignet sich kaum, vertragsähnliche Schutzpflichten im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB zu begründen. Der Hinweis auf die den Interessen beider Parteien dienende Abmahnung überzeugt als „innerliche Begründung" eines solchen gesetzlichen Schuldverhältnisses nicht, da die Abmahnung einzig und allein den Interessen des Abmahnenden dient. Nach der hier vertretenen Auffassung läßt sich eine Aufklärungspflicht des Abgemahnten im Falle der Drittunterwerfung jedoch auf der Grundlage der 74 75 76

Köhler, FS für Pieper (1996), 309, 312. Kur, aaO, S. 293. Ehmann/Sutschet, Schuldrechtsmodernisierung (2002), §61.

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André Pohlmann

auftraglosen Geschäftsführung herleiten: Der Abmahnende fuhrt mit Abgabe der Unterwerfungserklärung nicht nur ein Geschäft für den Adressaten der Erklärung, sondern für alle von demselben Wettbewerbsverstoß Betroffenen. Die ernst gemeinte und ausreichende Unterwerfungserklärung beseitigt die Wiederholungsgefahr inter omnes und erspart allen Beteiligten eine gerichtliche Auseinandersetzung. Der Abgemahnte als auftragloser Geschäftsführer ist daher verpflichtet, dem Zweitabmahner „die erforderlichen Nachrichten zu geben", ihm also mitzuteilen, daß er bereits eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben habe, so daß die Wiederholungsgefahr auch gegenüber dem Dritten weggefallen ist. b) Darüber hinaus begründet der Unterlassungsvertrag zwischen dem Abmahnenden und dem Abgemahnten vertragliche Schutzpflichten. Dazu zählt zum Beispiel die Pflicht, den Unterlassungsgläubiger auf die Erfolglosigkeit einer scheinbar begründeten Unterlassungsklage hinzuweisen. c) Weitere Aufklärungspflichten lassen sich weder auf der Basis des § 280 Abs. 2 BGB noch auf der Grundlage des § 280 Abs. 1 BGB herleiten. Eine allgemeine Aufklärungspflicht des Abgemahnten existiert außer in den oben beschriebenen Fällen nicht. Zur Erstattung der Prozeßkosten ist der Abgemahnte allenfalls unter den Voraussetzungen des § 826 BGB verpflichtet, wenn es ihm von vornherein darauf ankam, den Abmahnenden zu schädigen.

Neues und Altes von der vorübergehenden Unmöglichkeit - Primärleistungspflicht und Sekundäransprüche Kai Kuhlmann und Bernd Nauen

I.

Einleitung

Die vorübergehende Unmöglichkeit ist dadurch gekennzeichnet, daß die Leistungserbringung zum Fälligkeitszeitpunkt nicht möglich ist, aber innerhalb des Erfüllungszeitraums - also desjenigen Zeitraums, in dem nach dem Inhalt des Schuldverhältnisse die Leistungspflicht noch erfüllt werden kann - möglich wird. 1 Soweit die Voraussetzungen der rechtserheblichen Leistungserschwerung (s. §§ 275 Abs. 2, 3 2 ) lediglich fur einen vorübergehenden Zeitraum vorliegen und im Erfüllungszeitraum wegfallen, liegt ein vergleichbares Hindernis - vorübergehende Leistungserschwerung - vor. Das Ende der Unmöglichkeit oder der Leistungserschwerung kann von vornherein feststehen, aber auch ungewiß sein. Entscheidend ist, daß die Leistungserbringung zu einem Zeitpunkt nachholbar ist, zu dem die Leistung nach Inhalt und Natur des Schuldverhältnisses wenngleich auch als verzögerte - noch als die geschuldete anzusehen ist. Damit scheiden diejenigen Konstellationen aus, bei denen die versprochene Leistung kraft Vereinbarung oder infolge ihrer Eigenart lediglich zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt erbracht werden kann, so daß bereits durch Zeitablauf dauerhafte Unmöglichkeit der Leistung eintritt. 3 Da die Leistungszeit in den allermeisten Fällen nicht Inhalt der Leistungsverpflichtung, sondern lediglich als

1 Vgl. Arnold, JZ 2002, S. 866; Huber, in: FS Gaul (1997), S. 217, 218 ff; Planck-Äber, vor §§ 275 ff Anm. II 1, § 275 Anm. 2 b; Ehmann/Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), § 3 IV 1 (S. 55); jüngst Lobinger, Die Grenzen rechtsgeschäftlicher Leistungspflichten (2004), S. 304 ff. 2 Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind die der am 29.11.2001 in BGBL. I, S. 3138 verkündeten Fassung des BGB. Die Vorschriften der hiermit außer Kraft gesetzten Fassung - hier: BGB 1900 genannt - werden als „a.F." zitiert. Der Entwurf der Schuldrechtskommission von 1992 wird als KE, der Diskussionsentwurf vom 4.8.2000 als DE, die konsolidierte Fassung vom 6.3.2001 als KF und der Regierungsentwurf vom 18.6.2002 als RE zitiert. 3 Vgl. U. Huber, Leistungsstörungen Bd. II (1999), § 56 I 7 (S. 710 f); Ehmann/Sutschet, § 3 IV 1 (S. 55).

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eine Modalität derselben anzusehen ist 4 , sind solche Fälle absoluter Fixgeschäfte sehr selten.5 Das reformierte Recht trägt den Unterschieden ebenso wie zuvor § 361 a.F. Rechnung, indem § 323 Abs. 2 Nr. 2 für den Fall, daß der Fortbestand des Leistungsinteresses an die Rechtszeitigkeit der Leistung gebunden wurde, dem Gläubiger ein Rücktrittsrecht einräumt. 6 Die Gründe vorübergehender Leistungshindernisse sind vielschichtig. Kriegs-, krisen- oder naturbedingte Handelssperren, Embargos, aber auch streikbedingte Lieferschwierigkeiten gehören ebenso hierher wie etwa die Blockade von Transportwegen aufgrund von Naturkatastrophen. Auch soweit der persönlich verpflichtete Schuldner einer Werkleistung erkrankt oder die verkaufte Sache noch nicht existent ist (Verkauf der Ernte), liegt oftmals eine vorübergehende Störung vor. Die zur Entscheidung stehenden Fragen lauten: Ist der Schuldner - etwa in dem Fall, daß die temporäre Sperrung des Suez-Kanals den Transport der versprochenen Ware um das Kap der guten Hoffnung erforderlich macht - für die Zeit der vorübergehend erschwerten Leistungserbringung befreit oder besteht die Verpflichtung ungeachtet des Hindernisses fort? Aus der Sicht des Gläubigers ist zudem zu überlegen, wie die Einbußen, die er unter Umständen aufgrund einer eingetreten Verzögerung der Leistung erleidet, ersetzt werden können. Auch muß geklärt werden, ob der Gläubiger bis zum Wegfall des Hindernisses an den Vertrag gebunden bleibt oder ob er den Schwebezustand dadurch beenden kann, daß er zurücktritt, so etwa, wenn der Kunde die versprochene Ware zum vereinbarten Zeitpunkt nicht erhält, weil die erforderliche Ausfuhrgenehmigung noch nicht erteilt wurde. Sind die Geschäftsunterlagen vom Lieferanten nicht rechtzeitig oder bei der falschen Behörde eingereicht worden, stellt sich schließlich die Frage, ob eine zu vertretende Pflichtverletzung vorliegt und der Kunde wegen der vorübergehenden Störung Schadensersatz verlangen kann.

4 Kreß, Lehrbuch des Allgemeinen Schuldrechts, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1929 (1976), § 11, 2c, 3 A a (S. 193); § 18, 1 a (S. 374); Nauen, Leistungserschwerung und Zweckvereitelung im Schuldverhältnis (2001), S. 189, 250; MüKo-£ras/, § 323 Rn 109. 5 Schulbeispiele:Verpflichtung einer Tanzkapelle zum Jubiläum; Bestellung eines Hochzeitskleids; Taxifahrt zum Flughafen. 6 Vgl. 2. Teil, 3 e) (aa).

Neues und Altes von der vorübergehenden Unmöglichkeit

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I I . Primärleistungsanspruch bei vorübergehender Unmöglichkeit der Leistung und vorübergehenden Leistungshindernissen 1.

Grundsatz der Naturalerfüllung

Die Vertragspartner bezwecken im Austauschvertrag den Erhalt der wechselseitig versprochenen Leistungen. Dabei ist dem deutschen Recht - anders als etwa dem angloamerikanischen Rechtskreis 7 - der Grundsatz der Naturalerfüllung beigelegt.8 Dem Schuldrecht liegt die Trennung und Unterscheidung der Haftung auf Ersatz des Interesses neben der Primärleistung von der Haftung auf Schadensersatz anstelle des Primärleistungsanspruches (Schadensersatz statt der Leistung) zu Grunde. Durch diese Trennung soll die Durchführung einer der Grundentscheidungen des BGB gewährleistet werden: Der strenge Zwang zur Primär- oder Naturalerfüllung 9. Der Schuldner hat nach diesem Prinzip grundsätzlich in natura, d.h. genau so, wie er es versprochen hat, zu leisten. Das Bekommensollen des Gläubigers kann im Fall der Nichterfüllung der Leistungspflicht dabei auch gegen den Willen des Schuldners durchgesetzt werden (Erfüllungshaftung). 10 Schadensersatz ist demgegenüber als Ersatz des primär Ge-

7 ZweigertlKötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts (1996), S. 178 ff. 8 Eingehend Kuhlmann, Leistungspflichten und Schutzpflichten (2001), S. 171 f; Nauen, S. 40, 247 ff. Zur Entstehung des Erfüllungszwanges im Schuldverhältnis, vgl. Kütten, in: Festschrift für Gernhuber( 1993), S.939 ff. 9 Zum gesetzgeberischen Hintergrund Jakobs/Schubert, Die Beratungen des Bürgerlichen Gesetzbuches in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Bd. I (1978), S. 259 ff; Himmelschein, AcP 135 (1932), S.255, 263 ff; Jakobs, Unmöglichkeit und Nichterfüllung (1969), S.27 ff. 10 Den in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffen „Schuld" und „Haftung" werden nach wie vor unterschiedliche Bedeutungen beigelegt, vgl. Siber, JherJb 50, S. 88; Jakobs, Unmöglichkeit, S. 20; Weber-Will/Kern, JZ 1981, S. 260; Palandt-//ewrichs, BGB (61.Aufl) Vor. § 241 Rn 13; MK-Ernst, Vor § 275 Rn 15, § 275 Rn 5, 9. So wird „haften" nicht selten als Synonym für die Schadensersatzverpflichtung infolge zu vertretender Schutzpflichtverletzung verstanden (z.B. Weber-Will/Kern, a.a.O.; Jakobs, a.a.O.), mithin alles aus dem Haftungsbegriff verbannt, was mit der Naturalerfüllung zu tun hat und nicht auf eine Schutzpflicht zurückgeführt werden kann (vgl. Siber, a.a.O.; s. auch unter III, 2). Demzufolge wäre der Rechtsbegriff des „Schuldens" allein auf die Leistungsverpflichtung zu beziehen, mag diese auch erst klage- oder zwangsweise durchgesetzt werden. „Haften" kann aber auch als eine besondere Form der Leistungsverpflichtung angesehen werden, nämlich als zwangsweises Unterworfensein des Schuldners unter den Klage- und/oder Vollstreckungszugriff des Gläubigers, vgl. Palandt-Heinrichs, a.a.O.; Medicus, Schuldrecht I, Allgemeiner Teil (2003), § 3 I 2 (S. 10), der dies als „Schatten der Schuld" bezeichnet. Zur genauen Einordnung von § 275 in diesen Zusammenhang vgl. unter 1. a.E. (Fn. 22).

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schuldeten erst sekundärer Gegenstand der Obligation. 11 Die Wahl zwischen Primärleistung und Schadensersatz steht dem Schuldner nicht zu. Das Prinzip des Erfüllungszwanges oder der Naturalerfiillung wird im BGB nach wie vor nicht lehrbuchartig herausgestellt. Es liegt dem Schuldrecht aber zugrunde, da ein Anspruch auf eine andere als die im Schuldverhältnis geschuldete Leistung durchgehend nur unter besonderen Voraussetzungen entsteht, § 281, § 283. 12 Nur sekundär treten an die Stelle der primären Erfüllungsansprüche unter diesen Voraussetzungen Ansprüche auf Schadensersatz statt der Leistung und werden durch eben diese Voraussetzungen als sekundär gekennzeichnet. Weder hat der Gläubiger ohne weitere Voraussetzungen als die, die das Schuldverhältnis begründen, einen solchen sekundären Anspruch, noch hat der Schuldner ohne weiteres die Möglichkeit, seine Verbindlichkeit durch eine andere als die geschuldete Leistung zu erfüllen, gleichsam nach seinem Belieben dem Gläubiger die Leistung des Interesses aufzudrängen. Im Hinblick auf diese wechselseitige Beschränkung und Bedingtheit von Primäranspruch und Sekundärrechten ist die Formulierung der Verfasser des BGB 1900 immer noch beispielgebend. Mit Blick auf die in anderen Rechtsordnungen aufgetretenen Schwierigkeiten heißt es zum Vorrang der Primärleistung dort 13 : „Durch den § 240 in Verbindung mit §§ 242, 24314 ist weiter der Grundsatz des französischen und schweizerischen Rechtes abgelehnt, wonach sich die Verbindlichkeit, etwas zu thun, im Falle des Verzuges sofort in die Verbindlichkeit zum Schadensersatz auflöst 15. Nur wenn die gänzliche oder theilweise Unmöglichkeit der Leistung feststeht bzw. auf dem Weg des § 24316 kann der Gläubiger das Interesse we-

11 Soweit der Erfüllungszwang reicht, vgl. unter 4 b); ausf. Ehmann/Sutschet, § 3 I (S.41 ff). 12 Vgl. nur Abschlußbericht Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts (1992), S.30 (zum KE) sowie die Begründung zum RE, BT-Drs. 14/6040, S. 203. 13 Mot. II, S.49 = Mugdan II, S.27 14 §§ 240, 242, 243 E I = §§ 280 I, 280 II, 283 BGB a.F. 15 Vgl. Code Civil Art. 1142: „Toute obligations de faire ou de ne pas faire se résout en dommages et intérêts en cas d'inexecution de la part du débiteur." Nach dieser Vorschrift verwandelt sich eine auf eine Handlung gerichtete Verbindlichkeit im Falle der Nichterfüllung also in den Anspruch auf Schadensersatz, der Schuldner hat es damit in der Hand, dem Gläubiger den Schadensersatz statt der Primärleistung aufzudrängen. (Vgl. auch § 111 des Schweizerischen Obligationenrechtes.) In dieser Regelung findet sich das alte Prinzip des „nemo cogi potest ad factum"; vgl. zu Art 1142 Code Civil auch eingehend Jakobs, S.193 ff, Rütten, a.a.O. S.939, 945 f. Auch im angelsächsischen Rechtskreis ist der Vorrang des Anspruchs auf Naturalerfüllung (specific performance) die Ausnahme. Aus dem Bruch des Erfüllungsversprechens (breach of contract) entsteht regelmäßig ein Anspruch, der grundsätzlich nur auf Schadensersatz in Geld geht; vgl. Stathopoulos, AcP 194 (1994) S.543 ff. Zu den Problemen und Schwächen des UNKaufrechts, vgl. Nauen, S. 303, 307. 16 § 243 E I = § 283 BGB a. F.

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gen Nichterfüllung fordern. (...) Aus den §§ 240, 243, wie aus § 22417 folgt auch, daß der Schuldner nicht nach seinem Belieben etwa dem Gläubiger statt der Naturalerfüllung die Leistung des Interesses aufdrängen kann." Die §§ 280 Abs. 3, 281 ff. zeigen, daß weiterhin der Satz zutrifft, daß die schlichte Nichterfüllung der Leistungsverpflichtung die Umwandlung auf das Interesse noch nicht bewirkt, da sie ja die geschuldete Primärleistung noch nicht ausschließt. Der Schuldner bleibt also zur Erbringung der Primärleistung verpflichtet; der Anspruch des Gläubigers ist hierauf beschränkt. So sicher die Erweiterung der Rechte der Vertragspartner - für das System des BGB begründungsbedürftige Ausnahme zum Grundsatz pacta sunt servanda 18 - spezifischer Umschalttatbestände bedarf, so wenig ist damit jedoch präjudiziell, welchem Prinzip diese folgen. Zwar folgt aus der Unmöglichkeit der Leistung, daß der Schuldner diese tatsächlich nicht erbringen wird. Daß aber kein Anspruch auf eine unmögliche Leistung bestehen kann, daß dieser notwendigerweise auszuschließen ist, folgt hieraus nicht. Die juristische Schuld und die Befugnis kraft des Leistungsanspruchs von einem anderen Erfüllung in Natur verlangen zu können, sind hiervon unberührt. 19 Nur wenn man Sein und Sollen verwechselt, wird man hierin einen Widerspruch zu den Gesetzen der Logik erblicken. Die Grenzen der juristischen Gestaltungskraft 20 vernünftig auszuloten, ist damit eine wesentliche Aufgabe des Leistungsstörungsrechts, ohne deren Bewältigung eine geordnete Bewegung von Wirtschaftsgütern nicht denkbar wäre. Im Zusammenhang mit den hier interessierenden Fällen vorübergehender Unmöglichkeit

17 Die Verfasser des ersten Entwurfes verweisen damit auf den Haftungsgrundsatz des § 224 E I, setzen diesen also ausdrücklich in Beziehung zum Problem des Vorrangs des Primärleistungsanspruches. 18 Vgl. AnwaltK-Dauner-Lieb, § 275 Rn 6 f. 19 Vgl. Nauen, S. 254 f.; Kuhlmann, S. 171 ff. Dasselbe Ergebnis des Gläubigerschutzes wurde in der Vergangenheit auf anderem Wege erreicht, nämlich durch die sog. „perpetuatio obligationis". Vgl. Jakobs, S.178 ff m.w.N.; Wieacker, in: Festschrift Nipperdey (1965) S.783, 795 f, 802 ff. Nach dieser wurde im Falle eines dem Schuldner zurechenbaren Sachunterganges dem äußeren Anschein nach sogar der Fortbestand der Sache fingiert - dies deshalb, um die eigentlich aus den strengrechtlichen Formeln folgende Konsequenz des Freiwerdens des Schuldners zu vermeiden. Diese setzten voraus, daß die zu gebende Sache noch existiert. Wie insbesondere Jakobs, a.a.O. nachgewiesen hat, dürfte eine Deutung der Rechtsfigur näher liegen, die die Fiktion des Fortbestandes auf die Obligation im Sinne eines Verpflichtung und Haftung umfassenden Rechtsverhältnisses bezieht. Bei dieser Konstruktion ist die Gefahr, daß der Schuldner dem Gläubiger das Interesse statt der ursprünglich geschuldeten Leistung aufdrängt, gebannt, denn die Primärleistungspflicht wird als fortbestehend betrachtet. Den Verfassern des ersten Entwurfes war diese Möglichkeit gegenwärtig, gleichwohl sahen sie sie kritisch: Es sei „doktrinär und nicht ganz unbedenklich, vom Fortbestand der Obligation auszugehen, da, so wichtig die Annahme der Fortdauer der Obligation ist, die Verbindlichkeit zum Schadensersatze jedenfalls einen anderen Gegenstand hat." So Mot. II S.50; Mot. II S.27. 20 Kreß, § 19 2 A a (S. 417); Ehmann!Kley, Jus 1998 S. 490.

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(und Leistungserschwerung) gilt es zu verdeutlichen, wie lange der Erfüllungsanspruch besteht. Eine Antwort hierauf gibt für das reformierte Recht prima facie § 281 Abs. 4, wonach der Anspruch auf die Leistung ausgeschlossen ist, sobald der Gläubiger statt der Leistung Schadensersatz verlangt hat. Die Problematik würde indes nicht vollständig erfaßt, ließe man es hierbei bewenden. Genannte Norm setzt offenbar voraus, daß der Leistungsanspruch nicht bereits aus anderen Gründen, wie sich das reformierte Gesetz in § 275 Abs. 1 ausdrückt, ipso iure „ausgeschlossen" ist oder mittels einer Einrede des Schuldners gemäß § 275 Abs. 2, 3 „verweigert" werden kann. 21 Es handelt sich um die zentralen Bestimmungen des reformierten Rechts zur Beantwortung der Frage, wie weit der Erfullungsanspruch, respektive die Erfüllungshaftung, verstanden als das Recht des Gläubigers, klageweise Naturalerfüllung verlangen zu können, reicht. 22

2.

Zweispurigkeit des reformierten Leistungsstörungsrechts

Die Struktur des reformierten Rechts ist Konsequenz der Umsetzung der überwiegend berechtigten Kritik am untauglichen Versuch von KE und DE, die Kategorie der Unmöglichkeit der Leistung vollständig aus dem Gesetz zu verbannen.23 Nicht durch die Wiederaufnahme der Unmöglichkeit in den Regelungszusammenhang „Grenzen des Primäranspruchs", sondern infolge der Ausprägung, welche die Unmöglichkeitslehre nach ihrer (auch taktisch bedingten24) „Wiederentdeckung" durch die Reformer erfahren hat, ist es zu der eigentümlichen Zweispurigkeit des Leistungsstörungsrechts 25 gekommen, die sich im Hinblick auf die Fälle vorübergehender Unmöglichkeit stärker auswirkt als bei anderen Leistungsstörungen. Es ist zu unterscheiden: Auf der einen Seite - finden Fall der Befreiung von der Primärleistungspflicht nach § 275 - ergeben sich die Rechtsfolgen gemäß § 275 Abs. 4 aus den §§ 280, 283-285, 311 a Abs. 2 21

Aus diesem Grund findet § 281 Abs. 4 auch keine Erwähnung bei § 283. Die durch § 275 ausgesprochene Begrenzung der Befugnis des Gläubigers, kraft seines Leistungsanspruchs forma specifica zu verlangen, hat damit Bedeutung für die Erfolgsaussichten der auf Erfüllung in Natur gerichteten Leistungsklage einschließlich der Prozeßkosten und den Kosten etwaiger Zwangsvollstreckungsmaßnahmen. Ob der Gläubiger im Wege der Zwangsvollstreckung den rechtskräftig titulierten Anspruch auch tatsächlich durchsetzen kann, bleibt hiervon unberührt. § 275 trifft hierzu keine Regelung, vgl. unten, 4 b). 23 Vgl. Huber, ZIP 2000, S. 2147, 2141 ff; eingehend zu den Irrtümern der Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts, Nauen, S. 270 ff; Kley, Unmöglichkeit und Pflichtverletzung (2001). 24 Ehmann!Sutschet, § 1 I 3 (S. 5). 25 P. Huber/Faust, Schuldrechtsmodernisierung (2002), § 1 Rn 5 f; MüKo-Ernst, Vorb. § 275 Rn 15. 22

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(Schadensersatz statt der Leistung) und § 326 (Rücktritt). Auf der anderen Seite - namentlich in den Fällen der Spät- oder Schlechtleistung, also bei gegebener Nachholbarkeit von forma specifica - sind die Rechtsfolgen den §§ 280, 281 f., 323 zu entnehmen.26 Allgemein gilt: Lediglich soweit der Erfüllungsanspruch besteht, stehen dem Gläubiger Sekundäransprüche zu, die neben seinen Erfüllungsanspruch treten. Im Hinblick auf die Interessenlage in den Fällen vorübergehender Unmöglichkeit 27 ist eine Reihe dieser Sekundäransprüche nur bei Qualifizierung derselben als Nichterfüllung einer bestehenden und fälligen, insbesondere nicht einredebehafteten (§ 275 Abs. 2, 3) Leistungspflicht unproblematisch begründbar. So ist etwa der Ersatz der Verzögerungsschäden bei schuldhafter Nichterfüllung einer fälligen (bestehenden) Leistungspflicht gegeben, §§ 280 Abs. 2, 286. Auch der wegen der Verzögerung eintretende Nichterfüllungsschaden ist gemäß §§ 280 Abs. 3, 281 - zwar nicht an die sonstigen Voraussetzungen des Verzugs (§ 286), sondern lediglich an das Erfordernis der Fristsetzung bzw. deren fruchtlosen Ablauf gebunden - mit dem Bestand eines fälligen Leistungsanspruchs verknüpft. 28 Ob die Rechtsfolgen, die das Gesetz gemäß § 275 Abs. 4, also unter Verzicht auf das Nachfristsystem der §§ 280 Abs. 3, 281, an den Fortfall der Leistungspflicht knüpft, hierfür ein Äquivalent enthalten, steht hinsichtlich der Prämissen wie auch der praktischen Ergebnisse dagegen auf schwankendem Boden. 29 Die entscheidende Weichenstellung zwischen den Rechtsfolgen bei Nichterfüllung einer bestehenden Leistungsverpflichtung und denen bei Ausschluß derselben ist für das reformierte Recht daher anhand der Tatbestände des § 275 Abs. 1 - Ausschluß des Anspruchs auf Leistung ipso iure, soweit diese für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist - zu treffen. Unter bestimmten Umständen sind auch die Einredetatbestände wegen grober Unverhältnismäßigkeit zwischen Aufwand und Leistungsinteresse des Gläubigers gemäß § 275 Abs. 2 sowie bei Unzumutbarkeit der Leistung nach § 275 Abs. 3 in Betracht zu ziehen. 26

Eingehend unten, III. I a.E. 28 § 275 hat damit über das unter Fn. 22 Gesagte hinaus auch insofern materiellrechtliche Bedeutung, als daß mit dem Ende der Leistungspflicht der Verzug des Schuldners beendet und dessen Ersatzpflicht begrenzt, indem - soweit die spezifischen Haftungsvoraussetzungen vorliegen - ein Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung (§ 283) begründet wird, vgl. unten, III e) (2). Bereits entstandene Sekundäransprüche bleiben hiervon unberührt. Beispiel: Der Verkäufer, der einen Verzögerungsoder Integritätsschaden verursacht hat, bleibt hierfür auch dann zum Schadensersatz verpflichtet, wenn die Kaufsache sodann untergeht und also der Erfüllungsanspruch nicht mehr besteht. 29 Zu den Einzelheiten hinsichtlich Verzögerungsschaden, Schadensersatz statt der Leistung, Rücktrittsrecht und Gegenleistungsanspruch, vgl. III 4. und 5. 27

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3. Vorübergehende Unmöglichkeit und Ausschluß des Anspruchs auf Naturalerfüllung gemäß § 275 Abs. 1 a)

Der Tatbestand im Überblick

In § 275 Abs. 1 kommt - verglichen mit den §§ 275, 279, 306, 308 a.F. alles zusammen: Die ipso iure angeordnete Befreiung von der primären Leistungspflicht greift nach dem eindeutigen Wortlaut („... unmöglich ist") und dem systematischen Verhältnis zu § 311 a Abs. 1 sowohl in den Fällen anfänglicher als auch nachträglicher Unmöglichkeit der Leistungserbringung ein. 30 Dabei ist gleichgültig, ob die Unmöglichkeit zu vertreten ist oder nicht. Gleichgültig ist auch, ob sie fur jedermann (objektive Unmöglichkeit, § 275 Abs. 1 2. Alt.) oder für den Schuldner (subjektive Unmöglichkeit, § 275 Abs. 1 1. Alt. = Unvermögen i.S.v. § 275 Abs. 2 a.F.) besteht. Ist eine Leistung teilbar, liegt Teilunmöglichkeit vor; die Rechtsfolge der Befreiung von der Primärleistungspflicht tritt dann - ausgedrückt durch die Formulierung „... ist ausgeschlossen, soweit..." - lediglich hinsichtlich dieses Teils der Leistung ein. 31

b) Primärleistungsanspruch nach BGB 1900 und im Gesetzgebungsverfahren der Schuldrechtsreform Der Reformgesetzgeber hat keine ausdrückliche Bestimmung zur vorübergehenden Unmöglichkeit getroffen. Anders noch das BGB 1900, das für die Fälle vorübergehender anfänglicher (objektiver) Unmöglichkeit in § 308 a.F. insofern eine Teilregelung enthielt, als daß die ansonsten durch § 306 a.F. statuierte Grenze der Vertragsfreiheit (Nichtigkeit des Schuldverhältnisses i.w.S.) unbeachtlich sein sollte, wenn die anfängliche Unmöglichkeit noch im Erfüllungszeitraum behoben werden konnte und der Vertrag für den Fall geschlossen wurde, daß die Leistung möglich wird. Hierbei handelt es sich um eine aufschiebende Bedingung, die regelmäßig angenommen werden konnte, wenn die Parteien wußten, daß die Leistung vorerst nicht erbracht werden konnte. Solange die Bedingung nicht ausfiel - mit dem Wegfall des Schwebezustandes (infolge des Ausfalls der Bedingung) kam es zur Anwendung von § 306 a.F - war also vom Bestand des Erfüllungsanspruchs, seiner Fälligkeit ab Vertragsschluß (§ 271 Abs. 1 a.F.) und somit der Erfüllungshaftung des Schuldners auszugehen. Der Gläubiger hatte die Möglichkeit, den Schuldner in Verzug zu setzen und nach fruchtlosem Verstreichen der gesetzten Nachfrist zurückzutreten oder den Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung geltend zu machen, 30

war.

31

Genauer: nachdem der Vertrag geschlossen und die Leistung zunächst möglich Vgl. BT-Drs. 14/6040, S. 128.

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§ 326 Abs. 1 a.F. 32 Insofern war für einen Teilbereich auch klargestellt, daß die vorübergehende Unmöglichkeit bei der Leistungserbringung keine Unmöglichkeit der Leistung darstellt. 33 Allerdings sollte die Leistungsverpflichtung nicht bestehen, wenn die vorübergehende Unmöglichkeit vom Schuldner nicht zu vertreten war. Hier wurde dem Schuldner ein gleichfalls vorübergehendes Leistungsverweigerungsrecht eingeräumt. Grund für diese teilweise vordergründig auf den Wortlaut des § 275 a.F. („soweit") gestützte Auslegung des Gesetzes dürfte die Befürchtung gewesen sein, ansonsten eine weitgehende Zufallhaftung zu statuieren. 34 Da nach dem BGB 1900 alle Leistungsurteile nach rechtskräftiger Verurteilung und Fristablauf auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung umgestellt werden konnten, mußte - um die Haftung auf Schadensersatz auszuschließen - der Primärleistungsanspruch suspendiert werden. 35 Schließlich bestand für den Gläubiger ansonsten die Möglichkeit, ein Leistungsurteil zu erwirken, um anschließend über § 283 Abs. 1 a.F. Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen zu können, ohne daß es auf ein Vertretenmüssen des Schuldners noch angekommen wäre. Von dieser Konstellation abgesehen, namentlich wenn die vorübergehende Unmöglichkeit vom Schuldner zu vertreten war, sollte dagegen keine Befreiung von der Leistungspflicht des Schuldners eintreten. 36 Maßgeblich dürfte dabei die Erkenntnis gewesen sein, daß die für die Sekundäransprüche des Gläubigers bei vorübergehenden Störungen nahe liegenden Verzugsregeln von einer bestehenden und fälligen Leistungspflicht ausgehen.37

32 Vgl. Palandt-Heinrichs, BGB (61.Aufl.) § 306 Rn 5, 275 Rn 17; Soergel-Wiedemann, BGB (12. Aufl.) § 280 Rn 13; U. Huber, Leistungsstörungen Bd. I (1999), § 4 II 2 f (S. 110). 33 Ebenso die Regelung des § 2171, die dies in ungebrochener Kontinuität für die anfängliche vorübergehende Unmöglichkeit beim Vermächtnis zum Ausdruck bringt. 34 RGZ 117, 127,129; Planck-Stoer, BGB vor §§ 275 ff Anm. II 1 a, § 275 Anm. 2 b; Soergel- Wiedemann, (12. Aufl.) § 275 Rn 42; Jakobs, S. 83 ff; U. Huber, Bd. I § 3 I 2 b (S. 66), Ehmann!Sutschet, § 3 IV 2 (S.56). 35 Zu dem in diesen Fällen unter bestimmten (engen) Voraussetzungen - dem Schuldner kann wegen der Ungewißheit der Behebung der Unmöglichkeit die Einhaltung des Vertrags nicht zugemutet werden - angenommenen Übergang zur endgültigen Unmöglichkeit mit der Folge des § 323, vgl. BGHZ 83, 197, 200; Soergel -Wiedemann (12. Aufl), § 275 Rn 42 f.; Staudinger-LövWscA (2004), § 275 Rn. 43. 36 RGZ 168, 321, 327 sowie die in Fn. 34 Genannten. 37 Soergel-Wiedemann, (12. Aufl.) § 280 Rn 13, 29. Lediglich soweit bereits bei Erlaß eines Leistungsurteils festgestanden hatte, daß seine Vollstreckung ausgeschlossen sei, sollte das (sinnlose) Verlangen des Gläubigers gerichtet auf forma specifica dennoch suspendiert sein. Der Gläubiger mußte in den Fällen feststehender (unstreitiger, bewiesener, zugestandener) Unmöglichkeit seinen Antrag nach § 264 Nr. 3 ZPO auf die Schadensersatzforderung umzustellen, wollte er nicht abgewiesen werden und die Kosten nach § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO tragen, vgl. RGZ 54, 28, 32, RGZ 88, 76, 78; BGH NJW

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Kai Kuhlmann und Bernd Nauen

Mit der Streichung von § 306 a.F. durch den Reformgesetzgeber ist auch § 308 a.F. ersatzlos aufgehoben worden. Dies ist konsequent: So wie der auf eine endgültig unmögliche Leistung gerichtete Vertrag nunmehr als wirksam angesehen wird (§ 311 a Abs. 1), bedarf es keiner besonderen Erwähnung mehr, daß der ehrwürdige Satz „impossibilium nulla obligatio est" 38 ebenfalls keine Geltung beanspruchen soll, wenn die Unmöglichkeit lediglich vorübergehender Natur ist. Wie § 311 a Abs. 1, 2; § 275 Abs. 1 zeigen, soll der also wirksame Vertrag - jedenfalls in den Fällen dauernder Unmöglichkeit - jedoch keine primäre Leistungspflicht hervorbringen. Eine eindeutige Antwort darauf, ob dies auch gelten solle, wenn die Unmöglichkeit lediglich von vorübergehender Dauer ist, enthielt noch die KF wie auch der nachfolgende Regierungsentwurf vom 9.5.2001. Mit der Formulierung von § 275 Abs. 1 KF/RE, wonach der Anspruch auf Leistung ausgeschlossen ist, „soweit und solange diese... unmöglich ist", wurde die vorübergehende Unmöglichkeit der dauernden vollkommen gleichgestellt.39 Die mit der Gleichstellung einhergehende Befreiung vom Primärleistungsanspruch für die Dauer der vorübergehenden Unmöglichkeit hätte dazu geführt, die hierauf gerichtete Klage des Gläubigers als derzeit unbegründet abzuweisen. Der Erfüllungsanspruch wäre demzufolge erst gegeben, die hierauf gerichtete Klage begründet, sobald das Hindernis wegfällt. Die Kritik des Bundesrats an dieser bereits mit Blick auf das Schicksal und praktische Handhabung der Primärleistungspflicht nicht ganz unbedenklichen Festschreibung 40 wurde zwar zunächst noch zurückgewiesen.41 Ausschlaggebend dafür, daß es in der Folgezeit auf die Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags42 dennoch zur Streichung der Worte „und solange" und damit zur geltenden Fassung des Gesetzes gekommen ist 43 , waren dann aber die bereits bei der Vorstellung der konsolidierten Fassung geäußerten Zweifel an der praktischen Tragfähigkeit dieser Lösung. 44 Vornehmlich aus der Perspektive einer interessengerechten und zugleich konsistenten Begründung der Ansprüche auf der Sekundärebene vorgetragen, sollten die in-

1985, S. 1773, BGH NJW 1986, S. 1676; Ehmann/Kley, Jus 1998, S. 490; eingehend Nauen, S. 252 m.w.N. 38 D 50, 17, 185 (Celsus), vgl. hierzu einerseits Harke, in: JbJZivR 2001, S. 55 andererseits Canaris , DB 2001, 1818. 39 BT-Drs. 14/6040, S. 129, 189. 40 BT-Drs. 14/6040, S. 128 verweist den Gläubiger deshalb auf die Möglichkeit innerhalb der Grenzen von § 259 ZPO auf zukünftige Leistung zu klagen. 41 Vgl. die Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drs. 14/6857, S. 47 zur Stellungnahme des BR, BT-Drs. 14/6857, S. 11. 42 Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drs. 14/7052, S. 271. 43 Erstmals mit dem als Synopse veröffentlichtem Entwurf „BGB-BE" vom 17.9.2001. 44 Vgl. Canaris , JZ 2001, S. 508ff, 515 f; ders., ZRP 2001, S. 334.

Neues und Altes von der vorübergehenden Unmöglichkeit

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folge der Zweispurigkeit des reformierten Rechts der Leistungsstörungen prima facie unausweichlichen Konsequenzen einer starren Zuordnung der vorübergehenden Unmöglichkeit zum Unmöglichkeitsrecht vermieden werden. 45 Damit wurde die Frage nach der Gleichstellung von vorübergehender und dauerhafter Unmöglichkeit Rechtswissenschaft und Rechtsprechung zur Beantwortung vorgelegt.46 Diese ist beauftragt, das richtige Verständnis der Norm im Wege der systematischen Auslegung des vernünftigen, objektiven Sinns des Gesetzes herauszuarbeiten.47 Hierzu sind mittlerweile eine ganze Reihe unterschiedlicher Auffassungen vorgelegt worden. Im wesentlichen stehen sich gegenüber diejenigen Ansichten, die vorübergehende Leitungshindernisse im Hinblick auf den Primärleistungsanspruch - freilich ohne im einzelnen zwischen den verschiedenen Tatbeständen näher zu unterscheiden- §275 Abs. 1-3 zuordnen wollen 48 und jene, die vom Bestand des Erfüllungsanspruchs ausgehen, mit der Folge, daß die §§ 280 Abs. 2, 286; §§ 281, 323 zur Anwendung kommen. 49 Andere wiederum wollen den Ausschluß der Leistungspflicht bejahen und dennoch - getreu der Devise des Gesetzgebers50 - hinsichtlich der Rechtsfolgen diejenigen Vorschriften anwenden, die vom Bestand eines fälligen Leistungsanspruchs ausgehen, namentlich die §§ 280 Abs. 2, 286 und §§ 281, 323. Konstruktiv wird dies erreicht, indem ein fälliger Anspruch auf forma specifica bei der Prüfung der genannten Normen der Sekundärebene fingiert und § 275 Abs. 4 für unanwendbar erklärt wird. 51 Die bei nahezu allen Begründungen ganz im Vordergrund stehende Orientierung an den für passend gehaltenen Rechtsfolgen 52 ist, wie oben skizziert, verständlich. Sie ist angesichts der Interessenlage auch erforderlich, zumal, wie § 275 Abs. 4 zeigt, die Bestimmung der Rechtsfolgen unter systematischen Gesichtspunkten fest mit dem Tatbestand der Befreiung des Schuldners verknüpft ist. Hinreichend ist sie allerdings nicht. Die 45

Canaris, JZ 2001, S. 508 ff, 510, 515f. Eingehend unten III 1,4. Zweifelhaft daher MüKo-£r«i/, § 275 Rn 132, mit der Behauptung, daß die Miterfassung der vorübergehenden Unmöglichkeit „in der Sache" dennoch nicht in Frage gestellt worden sei. 47 Zur Auslegung des Reformgesetzes, vgl. Ehmann/Sutschet, § 1 II (S. 7 ff). 48 MüKo-Ernst, § 275 Rn 134; Palandt -Heinrichs, Schuldrechtsmodèrnisierungsgesetz (2002), § 275 Rn 10: Leistungsbefreiung des Schuldners „nach dem Rechtsgedanken de § 275"; wortgleich ders. in: Palandt, a.a.O. (61. Aufl.), § 275 Rn 17; Lobinger, S. 308; Ρ .Huber/Faust, § 8 Rn 6; ohne nähere Begründung auch Maier-Reimer, in Dauner-Lieb/Konzen!Schmidt (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der Praxis (2002), S. 305. 49 Offenbar Ehmann/Sutschet, § 3 IV 4 (S. 58 f); Dedek, in: Henssler/von Westphalen (Hrsg), Praxis der Schuldrechtsreform (2003) , § 275 Rn 6; Medicus, in: Haas/Medicus/Rolland/Schäfer/Wendtlandt, Das neue Schuldrecht (2002), Kap. 3 Rn 50; Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen (2003), § 4 III 2 (S. 64). 50 BT-Drs. 14/7052, S. 183 51 Arnold, JZ 2002, S. 869; zuvor bereits Canaris, JZ 2001, S. 516; 52 In diesem Sinne MüKo-Ernst § 275 Rn 143, 145, 148; Lobinger, S. 307; ErmanH.P.Westermann (11. Aufl.), § 275 Rn. 12; Maier-Reimer, S. 305 ff. 46

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Kai Kuhlmann und Bernd Nauen

Antwort auf die mit der vorübergehenden Unmöglichkeit der Leistung verbundene Frage nach dem Schicksal der Leistungspflicht des Schuldners ist Voraussetzung und nicht Folge der Sekundäransprüche.

c) Traditionslinien des Ausschlusses des Leistungsanspruchs bei § 275 Abs. 1 Mit der Regelung des § 275 wird dem Gesetzgeber zwar attestiert, einen Neuanfang versucht zu haben53, zugleich soll es aber lediglich um eine „tatbestandliche Präzisierung" der bisherigen Grundsätze gehen.54 Die Beobachtung, daß § 275 Abs. 1 den Anspruch auf Leistung nach seinem eindeutigen Wortlaut unabhängig von einem Vertretenmüssen des Schuldners ausschließt, also die Befreiung ganz und gar mit dem Begriff der Unmöglichkeit (für jedermann oder für den Schuldner) verknüpft ist, legt nahe, daß die Reform diejenigen Aussagen zum BGB 1900 fortfuhrt, welche von Rechtsprechung und Wissenschaft im Anschluß an die Lehre Rabeis und Sibers zu §§ 275 ff a.F 55 mehrheitlich vertreten wurden, und zwar ungeachtet der Tatsache, daß dieses Verständnis historisch betrachtet mit einiger Sicherheit nicht zutreffend ist. 56 Mit Blick auf die Interpretation von § 275 Abs. 1 BGB ist damit von folgenden Auslegungsmaximen auszugehen: -

Die Unmöglichkeit der Leistung für jedermann (§ 275 Abs. 1 2. Alt) ist Grund der Befreiung des Schuldners ex lege und damit zugleich Grenze seiner Leistungspflicht in natura (Dogma von der Unmöglichkeit als Befreiungsgrund 51).

-

Die subjektive Unmöglichkeit oder wie sich § 275 Abs. 1 1. Alt. ausdrückt: der Fall, daß die Leistungserbringung für den Schuldner unmöglich ist, bezeichnet trotz aller Unklarheiten, die über den Tatbestand dieses AußerStande-Seins im Detail bestanden (und bestehen), nicht etwas von der objektiven Unmöglichkeit Verschiedenes, sondern lediglich eine bestimmte Erscheinungsform derselben (Dogma des Unvermögens als Nichtleistenkönnen des Schuldners 5*).

53

MüKo-Ernst, § 275 Rn 4; Anv/a\tK-Dauner-Lieb § 275 Rn 1. Canaris, JZ 2001, S. 505. 55 Nachweise bei Nauen, S. 192 ff, 204 ff. 56 Grundlegend Jakobs, a.a.O. (Fn. 8); s.a. Wilhelm, JZ 2001, S. 861; Wilhelm!Deeg, JZ 2001, S. 223 ff; Knütel, JR 2001, S. 353 ff; Harke, in: JbJZivR 2001 S. 29 ff; Huber, ZIP 2000, S. 2137 ff; MüKo -Emmerich, (3. Aufl.) Vor § 275 Rn 18 ff. 57 Vgl. zum BGB 1900 Nauen, S. 192 ff m.w.N. 58 Vgl. nur MüKo-Zsr/is/, § 275 Rn 51 : „wenn der Schuldner die Leistung keinesfalls erbringen kann". 54

Neues und Altes von der vorübergehenden Unmöglichkeit

-

43

Die für die Leistungserbringung geschuldete Sorgfalt ist systematisch und funktionell den sekundären Ersatzverpflichtungen zuzuordnen, nämlich als Rechtsbedingung für den Schadensersatzanspruch statt der Leistung im Fall ihrer Nichterfüllung, § 280 Abs. 1 S. 2; § 276; §§ 280 Abs. 3, 283 {Dogma von der Dualität der Befreiung von Schuldner und Gläubiger 59).

Die Parallelitäten setzen sich fort, betrachtet man die Konsequenzen, die sich aus vorstehend geschildertem Verständnis ergeben: Ebenso wie die unter dem Unmöglichkeitsdogma der herrschenden Ansicht zum BGB 1900 praktizierte Herausweisung der Sorgfaltsanforderungen aus dem Inhalt der Leistungspflicht des Schuldners auf der Ebene des materiellen Rechts praeter legem zur Entwicklung neuer Instrumente zur Begrenzung der Primärleistungspflicht des Schuldners geführt hat 60 , bemüht der Reformgesetzgeber nunmehr die Autorität der Kodifikation, um mittels der § 275 Abs. 2, 3 - wiederum bezogen auf die Grenze der Primärleistungspflicht 61 - ebenfalls ergänzende Regelungen aufzustellen. Offenbar soll der Schuldner vor dem bei strenger Durchführung der oben genannten Prinzipien als grob unverhältnismäßig eingestuften Verlangen nach Naturalerfüllung geschützt werden.

d)

Konsequenzen fur die Interpretation

von § 275 Abs. 1

Die Regelung soll nach der Auffassung des Gesetzgebers denjenigen Leistungshindernissen primärschuldbefreiende Bedeutung zuerkennen, die ein Leistungsurteil als sinnlos erscheinen lassen, weil feststeht, daß der Leistungserfolg auch durch den gegen den Schuldner gerichteten Vollstreckungszwang nicht erreicht werden kann. 62 Es kann an dieser Stelle dahinstehen, ob dies die einzige oder gar zutreffende Funktion des Unmöglichkeitstatbestandes ist. Sicher ist jedoch, daß mit dem zugleich Gesetz gewordenen Verzicht auf das Merkmal des „Vertretenmüssens" ein Verständnis einhergehen muß, das den Inhalt der Lei-

59

Eingehend zu diesem Problemkreis Nauen, S. 204 f. Sei es die Lehre von faktischen oder praktischen Unmöglichkeit, der wirtschaftlichen Unmöglichkeit oder mit anderen blumigen Vokabeln betitelten Unmöglichkeit auf der einen oder aber die Indienststellung der Geschäftsgrundlage auf der anderen Seite, vgl. Nauen, S. 206, 214 ff, 221 f.; anschaulich AnwaltK-Dauner-Lieb, § 275 Rn 2 f. 61 Und zwar nur für diese, weshalb der wünschenswerte Gleichlauf zwischen den beiden Ebenen der Obligation - Erfüllungshaftung und Voraussetzungen und Umfang der sekundären Schadensersatzverpflichtung - weiterhin verpaßt wird. Zu den Schwierigkeiten und Lösungsmöglichkeiten, die aufgrund der in diesem Sinne weiterhin dualistischen Befreiungsregel bestehen, Ehmann/Sutschet, § 3 I, II (S. 44 ff, 47, 5Iff); MüKo-£r«5/, § 275 Rn 10, 25 ff, der im Hinblick auf die bei korrekter Auslegung des BGB 1900 unbekannten Abstimmungsschwierigkeiten des reformierten Rechts („Schwellenproblem") zuletzt auf § 242 verweist, a.a.O. Rn 29 f. 62 BT-14/6040, S. 128. 60

44

Kai Kuhlmann und Bernd Nauen

stungspflicht des Schuldners bei § 275 Abs. 1 als eine durch ein Rechtsgebot gesicherte Erfolgsanwartschaft des Gläubigers charakterisiert. 63 Folge: So wie diese erreicht werden kann, wenn sich der Schuldner unsorgfältig verhält, kann das Bekommensollen des Gläubigers in natura auch durch ein willentliches Verhalten des Schuldners vereitelt werden, zum Beispiel durch absichtliche Zerstörung der verkauften Sache.64 Auf der Basis eines solchen Verständnisses können nur sehr wenige, eng umrissene Tatbestände zur Befreiung nach § 275 Abs. 1 fuhren. Andernfalls würde der Vorrang des Anspruchs auf Naturalerfüllung vollkommen zur Disposition des Schuldners gestellt, so daß die Regelung kaum mehr in Einklang mit der Grundannahme des Gesetzes zu den Grenzen des Primärleistungsanspruchs stünde. Zwar hat auch bei der Auslegung von § 275 Abs. 1 die Ermittlung der geschuldeten Leistung vorauszugehen, so daß auf Basis des reformierten Rechts für die Bestimmung der Grenze der Primärleistungspflicht es nicht nur wichtig ist zu wissen, was Unmöglichkeit bedeutet, sondern zunächst, was die versprochene Leistungspflicht ist und was nicht. 65 Nur so sind schließlich die Distinktionen hinsichtlich der Annahme von Unmöglichkeit bei einer Stückschuld im Vergleich zu einer Gattungsschuld (vor Konkretisierung) oder der weiterhin bestehende Grundsatz einer Garantie für das finanzielle Leistungsvermögen des Schuldners - gleichgültig, ob Geld als Leistungsgegenstand oder aber zur Leistungserbringung erforderlicher Geldaufwand geschuldet wird - überhaupt begründbar. 66 Und so sind denn auch weiterhin die Fälle so genannter Zweckstörungen (Zweckerreichung, Zweckfortfall) als Unmöglichkeitstatbestände einzuordnen. 67 Freilich darf dies aber nicht so verstanden werden, daß die Grenze des Bekommensollens des Gläubigers bei § 275 Abs. 1 durch normative Anlagerungen - sei es durch Gleichlauf der Grenzen der Leistungspflicht mit den Grenzen der Einstandspflicht für die Nichterfüllung derselben (§ 276) oder mittels der Lehre von der Geschäftsgrundlage (§ 313) - bestimmt wird. § 275 Abs. 1 liegt ein wirklichkeitsgetreuer Unmöglichkeitsbegriff zugrunde.

63

Grundlegend Planck-Siber, § 242 Anm. III A 2. Womit freilich der Haftungsgrund für die Sekundäransprüche gegeben ist, vgl. MüKo-£r/ii/, § 275 Rn56. Eingehend hierzu 3. Teil, unter 2.; Ehmann!Sutschet, § 4, 2 (S. 63 ff). 65 MüKo-£rws/, § 275 Rn 33. Grundlegend Himmelschein, AcP 135 (1932) S. 282; Kreß, § 8 1 C c (Fn. 84); Jakobs, Gesetzgebung im Leistungsstörungsrecht (1985), S. 44; Wiedemann , in: FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr Feier der Universität zu Köln (1988), S. 370. 64

66 67

s. nur. MÜKO-E/TW/, Vor. 275 Rn 13, 34. Vgl. MüYLo-Ernst, §275 Rn 151 ff; AnwaltK-Dauner-Lieb, § 275 Rn 9; zum

BGB 1900, vgl. Nauen, S. 45 f (Fn. 151).

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(1) Unmöglichkeit für jedermann Die objektive Unmöglichkeit der Leistung (§ 275 Abs. 1 2. Alt) ist als Notwendigkeit des Nichtgeschehenkönnens des geschuldeten Leistungserfolges zu verstehen. Hierher gehört etwa der physische Untergang der verkauften Sache68, die Nichtexistenz des Leistungsgegenstands69 oder aber der Verkauf einer dem Schuldner bereits gehörenden Sache.70 Bei höchstpersönlichen Leistungen, wie den meisten künstlerischen oder wissenschaftlichen Leistungen, bei denen es nicht auf den Leistungserfolg schlechthin, sondern auf dessen Bewirken gerade durch den Schuldner ankommt, liegt der Tatbestand demnach ebenfalls vor, wenn der Schuldner an der Leistungserbringung gehindert ist. 71

(2) Unmöglichkeit für den Schuldner Auf gleicher Linie liegt die Interpretation von § 275 Abs. 1 1. Alt. Ungeachtet der Schwierigkeiten, die mit dem zutreffenden Verständnis des Unvermögens nach § 275 Abs. 2 a.F. im Detail verbunden waren 72 , soll der Tatbestand nach der Konzeption des Reformgesetzgebers nunmehr allein diejenigen Fälle betreffen, in denen das Leistungshindernis - etwa der Verlust der Dispositionsmöglichkeit über die verkaufte Sache infolge ihres Diebstahls - vom Schuldner nicht einmal theoretisch, praktisch also um keinen „Preis in der Welt" wiedererlangt werden kann. 73 Beschaffungs- und Wiederbeschaffungsmöglichkeiten, notfalls unter Zuhilfenahme Dritter, schließen den Tatbestand daher ebenso aus wie (nach zutreffender Ansicht) den des § 275 Abs. 2 a.F. 74 Fälle solchermaßen nicht behebbarer Hindernisse werden in der Welt des 21. Jahrhunderts selten sein, so daß sich die Fragestellung regelmäßig in Richtung auf die finanzielle Leistungsfähigkeit des Schuldners - also einen richtigerweise für § 275 insgesamt unbeachtlichen Umstand - verschiebt. Hinzu kommt, daß um des gewoll-

68

Zum Beispiel: Der versprochene Picasso verbrennt. Beispiel: Verkauf einer nicht existenten Forderung. 70 Weiteres Beispiel für die Nichtanerkennung des angestrebten Erfolgs durch die Rechtsordnung: Veräußerung des Nießbrauchrechts, § 1059. 71 Zum Beispiel bei Verhaftung eines Künstlers vor der Aufführung, vgl. Huber, Bd. II § 56 I 6 (S. 709 f). Die Auseinandersetzung mit der Gegenansicht (MüKo-Emmerich (3. Aufl.), § 275 Rn 71; Nauen, S. 195 f), die für das BGB 1900 einen Fall des Unvermögens angenommen hat, ist aufgrund der Streichung von § 306 a.F. nicht mehr relevant. 72 Vgl. MüKo -Emmerich (3. Aufl.), § 275 Rn 73 ff; Nauen, S 195 ff, 202 ff. 73 BT-Drs. 14/6040, S. 129, 131. 74 Nach dem bisherigen Recht wurde der Schuldner nicht schon bei einem zeitweiligen behebbaren Hindernis befreit; vgl. BGHZ 141, 179, 181; BGH NJW 1997, S. 938 f; Ehmann!Sutschet WuB IV A, § 516 a.F. unter 1.00. 69

Kai Kuhlmann und Bernd Nauen

46

ten Vorrangs der Naturalerfullung willen bereits der Zweifel, ob der Schuldner innerhalb der Erfüllungszeit noch leisten kann, zu seinen Lasten gehen muß. 75 Konsequenz: So wie bei der Kategorie des Unvermögens (§ 275 Abs. 2 a.F.) 76 wird man daher auch im Hinblick auf § 275 Abs. 1 1. Alt zweifeln können, ob die Regelung überhaupt einen nennenswerten Anwendungsbereich hat. Die Kategorie der subjektiven Unmöglichkeit hätte als Ausdruck begriffsjuristischer Verwirrung daher auch ohne Schaden aufgegeben werden können.

e)

Schlußfolgerungen

im Hinblick auf die vorübergehende Unmöglichkeit

Die im Wege der „historischen Spekulation" herauspräparierten Grundannahmen zu § 275 Abs. 1, bestätigt durch die Beispielsfälle für beide Tatbestandsalternativen, weisen darauf hin, die vorübergehende Unmöglichkeit, gleichgültig, ob sie bei Vertragsschluß oder aber erst nachträglich eingetreten ist, nicht mit der ipso iure angeordneten Befreiung nach dieser Vorschrift in Verbindung zu bringen. Der mit § 275 Abs. 1 identifizierte Grundgedanke des reformierten Rechts, wonach der Schuldner, der die Leistung nicht erbringen kann, hierzu auch nicht verpflichtet sein soll, trifft bei demjenigen Schuldner, der vorübergehend nicht leisten kann, nicht zu. Im Unterschied zur gegenständlich teilbaren Leistung selbst, ist die Unmöglichkeit ihrer Erbringung, verstanden als Notwendigkeit des Nichtgeschehenkönnens, jedenfalls unteilbar. Damit scheidet auch eine nur vorübergehende Primärschuldbefreiung nach § 275 Abs. 1 aus. Schließlich bedeutete es einen Wertungswiderspruch, wenn das Bekommensollen des Gläubigers gerichtet auf forma specifica nach § 275 Abs. 1 bis an die Pforten der Notwendigkeit des Nichtgeschenkönnens reichen soll, ohne zugleich auch dem Umstand, daß die Leistungserbringimg im Erfüllungszeitraum, also demjenigen Zeitraum, in dem der Schuldner nach dem Vertragsinhalt die Leistung noch als die geschuldete erbringen kann, wieder möglich wird, tatbestandsausschließende Bedeutung beizumessen. Auf der begrifflichen Ebene läßt sich die Problematik in befriedigender Weise daher nur lösen, wenn man klar erkennt, daß die vorübergehende Unmöglichkeit im Unterschied zur (an sich überflüssigen) befreienden subjektiven Unmöglichkeit im Sinne von § 275 Abs. 1 1. Alt. nicht durch das Fehlen der Möglichkeit, die Leistungsfähigkeit wieder zu erlangen - also etwas rein Negatives - , gekennzeichnet ist. Bezeichnend ist vielmehr, daß die Leistung noch im Erfüllungszeitraum nachholbar ist, und zwar unabhängig von einer Tätigkeit des Schuldners, die auf die Überwindung entgegenstehender Hindernisse gerichtet ist. Indem bereits dieser Umstand dem Aus75 76

Zutreffend M Ü K O - £ / T I S / , § 275 Rn 52. Eingehend Nauen, S. 196 ff, 198.

Neues und Altes von der vorübergehenden Unmöglichkeit

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schluß des Leistungsanspruchs nach § 275 Abs. 1 entgegensteht, wird auch deutlich, daß die allgemeine Frage, welche Anspannung der geistigen, körperlichen und finanziellen Kräfte vom Schuldner zur Überwindung von Leistungshindernissen abverlangt wird 7 7 , keine unmittelbaren Berührungspunkte mit der vorübergehenden Unmöglichkeit hat. 78 Gesetzlicher Anknüpfungspunkt für diese Frage sind nunmehr die §§ 275 Abs. 2, 3. Dabei handelt es sich um Regelungen, die nur vordergründig dem Unmöglichkeitsdogma, so wie es § 275 Abs. 1 zu Grunde liegt, verpflichtet sind. Kein Fall vorübergehender Unmöglichkeit ist daher auch gegeben, wenn der Suez-Kanal zeitweilig gesperrt wird, weil dies zur Folge hat, daß die versprochene Leistung - Transport der Ware - nicht unmöglich, sondern lediglich temporär erschwert ist. 79 Vorübergehende (juristische) Unmöglichkeit liegt dagegen vor, wenn die erforderliche Ausfuhrgenehmigung bei Fälligkeit der Leistung noch nicht vorliegt, so daß der Lieferant nicht leisten kann, die Erlaubnis aber innerhalb der Erfüllungszeit erteilt wird.

( 1 ) Vorübergehende Unmöglichkeit und absolutes Fixgeschäft Die anhand der Entwicklungslinien von § 275 Abs. 1 begrifflich-systematisch abgesicherte Auffassung, lediglich der dauerhaften Unmöglichkeit primärschuldbefreiende Wirkung beizulegen, korrespondiert mit der auch auf Basis des reformierten Rechts weiterhin zutreffenden Beobachtung, daß ein bestimmter Leistungszeitpunkt regelmäßig nicht zum Inhalt der Leistungspflicht gehört. 80 Die vorübergehende Unmöglichkeit als Tatbestand im Sinne von § 275 Abs. 1 aufzufassen, ist immer dann problematisch, wenn die Vereinbarung einer fixen Leistungszeit - wie in den allermeisten Fällen - lediglich als sogenannte Modalität der Verpflichtung des Schuldners anzusehen ist. § 323 Abs. 2 Nr. 2 trägt den Interessen des Gläubigers in diesen Fällen ebenso wie bisher § 361 a.F. insofern Rechnung, als daß in diesen Fällen neben der Möglichkeit, den Schuldner in Verzug zu setzen, ein Rücktrittsrecht eingeräumt wird. Dies ist aber nur erklärlich, wenn die Verpflichtung des Schuldners un-

77

222 ff; 78

Sog. Spannung der Schuld, vgl. Ehmann!Kley, Jus 1998 S. 6; Nauen, S. 185 ff,

Unzutreffend daher Arnold, JZ 2002, S. 870, der für den Fall der Zerstörung der Fabrik, aus der die Lieferung allein erfolgen kann, vorübergehende Unmöglichkeit annimmt. Daß die Leistung nach Wiederaufbau der Fabrik erbracht werden kann, ist zutreffend, wirft indes aber die im Vorfeld von § 275 Abs. 2 liegende - regelmäßig zu verneinende Frage - auf, ob der Schuldner hierzu auch verpflichtet ist. Die versprochene Leistung ist dagegen nicht lediglich vorübergehend unmöglich. Ohne Differenzierung auch Lobinger, S. 308. 79 Zum vorübergehenden Vorliegen der Voraussetzungen von § 275 Abs. 2, 3, vgl. unter 4. 80 Vgl. oben Fn. 4.

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verändert fortbesteht. § 323 Abs. 2 Nr. 2 bringt also den allgemeinen Grundsatz zum Ausdruck, daß die schlichte Nichterfüllung der Leistungspflicht das Forderungsrecht des Gläubigers, respektive die Verpflichtung des Schuldners nicht zu Fall bringt 81 - eine Feststellung, die in dieser Allgemeinheit wohl unbestritten ist, im Zusammenhang mit der Problematik vorübergehender Leistungsstörungen jedoch nicht immer wahrgenommen wird. Lediglich in den seltenen Fällen, in denen die Leistung nach dem Fälligkeitszeitpunkt sinnlos ist, weil der vereinbarte Austauschzweck82 bereits mit Überschreiten dieses Zeitpunkts verfehlt wird, so daß auch die gegebene Möglichkeit der Leistungserbringung zu einem späteren Zeitpunkt das Bekommensollen des Gläubigers in natura nicht mehr bewirken kann (absolutes Fixgeschäft), liegt daher eine Unmöglichkeit der Leistung vor. Die Einordnung der vorübergehenden Unmöglichkeit als Tatbestand der Unmöglichkeit im Sinn von § 275 Abs. 1 würde daher nicht nur den Unterschied zwischen relativen und absoluten Fixgeschäften einebnen. Sie liegt auch quer zu den weiterhin speziell geregelten Leistungsstörungskategorien, namentlich dem Verzug und seinem Verhältnis zum Unmöglichkeitsrecht in der Ausprägung der §§ 275, 280, 283 ff, 311 a. Zwar hatte noch die Begründung zum Regierungsentwurf davon gesprochen, die vorübergehende Unmöglichkeit als „Teilunmöglichkeit in der Zeit" aufzufassen. 83 Eine solche Einordnung ist mit der Grundkonzeption des reformierten Rechts jedoch ebenso wenig zu vereinbaren wie der in dieser Hinsicht durchaus vergleichbare Versuch von Himmelschein* A, für das BGB 1900 einen weiten, auf sämtliche Pflichten und Modalitäten der Leistung (insbesondere Zeit und Ort der Leistung) bezogenen Unmöglichkeitsbegriff zu begründen. Obwohl vom logischen Standpunkt einwandfrei 85 , weil die zeitige Leistung nicht mehr nachgeholt werden kann, wird der dem BGB (nach wie vor) zugrunde liegende Unmöglichkeitsbegriff hiermit nicht getroffen. 86 Daß die Vorschriften über die Teilunmöglichkeit nicht herangezogen werden können, um einen weiten Unmöglichkeitsbegriff zu stützen, belegt bereits der Wortlaut der einschlägigen Regelungen. Die §§ 283 S. 2, 281 Abs. 1 S. 2 bzw. §§ 326 Abs. 5, 323 Abs. 5 S. 1 stellen darauf ab, daß der Schuldner wenigstens eine Teilleistung bewirkt hat. Der Gläubiger erhält bei der vorübergehenden Unmöglichkeit jedoch zunächst nichts, also noch nicht

81

Zur richtigen Einordnung der Nichterfüllung in den Zusammenhang der Schadensersatzhaftung (§§ 280, 281 ff) vgl. Ehmann!Sutschet, § 4 II 2 b) (S. 64 ff) sowie unten III 2, 3 c). 82 Zum Austauschzweck s. Nauen, S. 179 ff, 223 ff. 83 BT-Drs. 14/6040, 189. Ebenso P. Huberl Faust, § 3 Rn 12. 84 Himmelschein, AcP 135 (1932) S. 279 ff, 288, 299. 85 s. Müko-£r«i/, Vor. § 275 Rn 13 86 Zutreffend daher EhmannlSutschet, § 3 IV 1 (S. 54), wonach die Annahme von Teilunmöglichkeit in der Zeit lediglich bei Dauerschuldverhältnissen (z.B. Miete) in Betracht komme; ebenso Arnold, JZ 2002, S. 868.

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einmal eine Teilleistung. 87 Endgültig widerlegt darf die Einordnung der vorübergehenden Unmöglichkeit als „Teilunmöglichkeit in der Zeit" durch die Beobachtung gelten, daß der zugrunde liegende weite Unmöglichkeitsbegriff ansonsten dazu führen müßte, selbst den Verzug als einen Fall der Unmöglichkeit der (Gesamt)Leistung des Schuldners einzuordnen. 88 Der Verzug des Schuldners ist jedoch auch weiterhin nicht nur im Hinblick auf das Erfordernis einer vorherigen Mahnung eigenständig geregelt. Über die §§ 286 ff. wird daher nach wie vor auch nicht jedwede Verzögerung der ordnungsgemäßen Erfüllung erfaßt. 89 Weiterhin: Wenn jede (zu vertretende) Nichterfüllung zur teilweisen Unmöglichkeit der Leistung führte, muß daraus auch folgen, daß das Forderungsrecht des Gläubigers gerichtet auf Naturalerfüllung weitgehend hinter die Schadensersatzverpflichtung zurücktritt. Mit der Funktion der Unmöglichkeit in den §§ 275 Abs. 4, 280, 283-285, 311 a als qualifizierter Umschalttatbestand zwischen der Verpflichtung, in natura zu leisten und den Sekundärrechten, namentlich dem Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung, ist dies jedoch nicht vereinbar.

(2) Zur Funktion der Unmöglichkeit der Leistung als Umschalttatbestand zwischen Naturalerfüllung und Sekundärrechten Die Unmöglichkeit der Leistung war nach dem BGB 1900 in erster Linie als Umschalttatbestand zwischen der Verpflichtung zur Leistung in natura und der Schadensersatzverpflichtung aufzufassen. 90 So wurde die Schadensersatzverpflichtung des § 280 a.F. nicht lediglich an die zu vertretende Nichterfüllung genauer: die Verletzung einer relativen Schutzpflicht, die zur Nichterfüllung geführt hat - , sondern zusätzlich an die weitere Voraussetzung der Unmöglichkeit geknüpft. 91 Indem zum Ausdruck gebracht wurde, daß die Primärleitung trotz Nichterfüllung der Leistungspflicht - zum Beispiel hinsichtlich der Zeit weiterhin als möglich angesehen wurde, konnte der beabsichtigte Vorrang der Naturalerfüllung abgesichert werden. Die Vorstellung, bei bloßem Verzug des Schuldners den Übergang auf die Schadensersatzverpflichtung eintreten zu lassen, wurde bei den Beratungen des Gesetzes deshalb auch als „mit dem geltenden Recht nicht in Einklang stehend" abgelehnt.92 Erst unter den zusätzlichen 87

Canaris , JZ 2002, S. 510 (Fn. 111). Hierzu Nauen, S. 250. 89 Die Mahnung im Sinn von § 286 Abs. 1 ist insbesondere keine Voraussetzung für die Rechte des Gläubigers bei mangelhafter Leistung, §§ 434, 437 ff, 633, 634 ff. 90 Vgl. Nauen, S. 250 f. 91 Zur Einordnung des Unvermögens im Sinne von § 275 Abs. 2 a.F. in diesen Zusammenhang, vgl. Nauen, S. 257. 92 Mot. II, S. 49; Prot. I, S. 302; Jakobs/Schubert, S. 259, 262. 88

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Voraussetzungen des Interessefortfalls nach §§ 286 Abs. 2, 326 Abs. 2 a.F. oder bei fruchtlosem Verstreichen der Nachfrist des § 326 Abs. 1 a.F. oder im Fall des § 283 a.F. konnte der Gläubiger Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen. Ohne den Interessefortfall oder fruchtloses Verstreichen der Nachfrist führte die schuldhafte Nichterfüllung durch den Schuldner lediglich zum Ersatz des „durch den Verzug entstehenden Schadens". Ansonsten blieb er zur Primärleistung weiter angehalten, § 286 Abs. 1, 326 Abs. 1 S. 2 a.F. Bei den genannten Tatbeständen handelte es sich um, verglichen mit der Unmöglichkeit der Leistung, äquivalente Normen, weil das negative Erfolgsmoment der Unmöglichkeit der Leistung mit erfolglosem Verstreichen der Frist oder Wegfall des Interesses gleichsam fingiert wurde. Ohne Fristsetzung oder Interessefortfall mußte also die Notwendigkeit des Nichtgeschehenkönnens, eben die dauerhafte gegenständliche Unmöglichkeit der Leistung vom Gläubiger nachgewiesen werden, um über den Verzug hinaus weitere Sekundäransprüche zu begründen. Freilich waren dann auch die Voraussetzungen der §§ 286, 326 a.F. obsolet. Das reformierte Recht bindet die Rechte des Gläubigers bei Ausschluß des Primärleistungsanspruchs ebenfalls an den Tatbestand der Unmöglichkeit. 93 Nach den §§ 275 Abs. 4, 280 Abs. 1, 3, 283, ist dabei insbesondere die für den Übergang zum Schadensersatzanspruch statt der Leistung ansonsten erforderliche Nachfristsetzung (§ 281 Abs. 1) entbehrlich 94 - zu Recht, denn eine Fristsetzung zur Bewirkung der Leistung ist bei dauerhafter Unmöglichkeit derselben sinnlos. Aus diesem Grund befreit § 275 Abs. 1 den Schuldner auch ex lege.95 Die Unmöglichkeit der Leistung im reformierten Recht ist also ebenfalls als qualifizierter Umschalttatbestand zu verstehen, der es dem Schuldner bei Vorliegen der weiteren Haftungsvoraussetzungen 96 ermöglicht, unmittelbar Schadensersatz statt der Leistung zu fordern. Der vorübergehenden Unmöglichkeit kommt diese Funktion nicht zu, denn hier ist es eben nicht sinnlos, das Nachfristsystem des § 281 zu aktivieren. 97 Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Unter den im Hinblick auf die Grundnorm des § 280 Abs. 1 „zusätzlichen Voraussetzungen" (§ 280 Abs. 3) des § 281 ist es für den Gläubiger sogar sinnvoll, eine Nachfrist zur Leistungserbringung zu setzen. Wie bislang (§ 326 Abs. 1 S. 2 a.F.) kann der Gläubiger bereits mit der Fristsetzung zum Ausdruck bringen,

93 Nach Dauner-Lieb, in: Dauner-Lieb/Heidel/Lepa/Ring (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der anwaltlichen Praxis (2002), § 2 Rn 23 sogar „prinzipiell schärfer" als beim BGB 1900; vgl. auch Ehmann/Sutschet y § 2 I, III (S. 15, 19). 94 Ebenso bei anfänglicher Unmöglichkeit (§311 a Abs. 2) und bei § 326 Abs. 5 im Hinblick auf das Rücktrittsrecht des Gläubigers. 95 BT-Drs. 14/6040, S. 179. 96 §§241 Abs. 2, 311 II i.V.m. §§ 280 Abs. 1 S. 2, 276, 287. Näheres zum Haftungstatbestand, III 2, 3. 97 Ebenso Arnold, JZ 2002, S. 868 f; bei anderem Ausgangspunkt auch MüKoErnst, § 275 Rn 145; a.A. P. Huber/Faust, § 9 Rn 12.

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nach ihrem fruchtlosen Ablauf Schadensersatz statt der Leistung geltend zu machen. Die Erfüllungszeit, also derjenige Zeitraum innerhalb dessen sich der Schuldner durch Erbringung der Leistung von der Naturalleistungsverpflichtung befreien kann - gleichgültig ob er sich bereits in Verzug befindet 98 - wird dann durch die(se) angemessene Fristsetzung determiniert. Erfüllt der Schuldner die ihm im Fall vorübergehender Unmöglichkeit prinzipiell mögliche Leistung in zu vertretender Art und Weise nicht innerhalb dieser Frist, ist er nunmehr zum Schadensersatz statt der Leistung verpflichtet. 99 Nicht die vorübergehende Unmöglichkeit der Leistung, sondern das fruchtlose Verstreichen der Nachfrist in Verbindung mit der Ankündigung des Gläubigers, hiernach das positive Interesse geltend zu machen, bewirken die Umstellung der Obligation. Im Unterschied zum BGB 1900 (§ 326 a.F.) ist ein solches Vorgehen jedoch nicht zwingend. Anders als § 326 Abs. 1 S. 2 a.F. ordnet § 281 Abs. 4 kein ipso-iure-Erlöschen des Erfullungsanspruchs an. Indem die Norm auf das Verlangen von Schadensersatz statt der Leistung abstellt, liegt der Übergang von der Primärleistungsebene zum Ersatz des Erfüllungsinteresses weitgehend in der Hand des Gläubigers. 100 Dieser kann demnach auch nach erfolglosem Fristablauf weiterhin die Leistung verlangen, solange er nicht bereits erkennbar Schadensersatz statt der Leistung gefordert hat. Dem Gläubiger ist daher anzuraten, von seinem Gestaltungsspielraum nach § 281 Abs. 4 Gebrauch zu machen. Aufgrund der Möglichkeiten, die ihm das reformierte Recht einräumt, läßt sich so nämlich auch die Ungewißheit über die Dauer des Hindernisses, namentlich seine Qualifizierung als endgültiger oder lediglich vorübergehender Störungstatbestand, einer befriedigenden Lösung zuführen 101 . Die aus der Schwebelage resultierenden Belastungen des Schuldners - dieser muß sich bis zur eindeutigen Erklärung des Gläubigers prinzipiell erfüllungsbereit halten- sind zwar nicht zu leugnen, gleichwohl aber als Folge der klaren Anordnung des § 281 Abs. 4 hinzunehmen. Sie können jedoch kautelaijuristisch bewältigt werden.

98

Ehmann/Sutschet, § 2 IV 3 (S. 26 f). Eine andere Frage ist, ob Fristsetzung nach § 281 Abs. 2 2. Alt im Einzelfall ausnahmsweise dennoch entfallen kann, etwa weil feststeht, daß das vorübergehende Hindernis innerhalb einer als angemessen zu bezeichnenden Frist nicht behoben werden kann oder - in Anlehnung an die Lösung der Rspr. zum BGB 1900 (oben Fn. 35) - der Leistungsinhalt durch die Verzögerung völlig verändert würde. Dies halten MüKoErnst, § 275 Rn 145, Arnold, JZ 2002, S. 869 für möglich; ebenso Wieser, MDR 2002, S. 861 für die gleichartige Problematik bei § 323 Abs. 2 Nr. 3. Hier wird es auf die Gegebenheiten und Umstände des Einzelfalls ankommen. Der Übergang von der vorübergehenden zur endgültigen Unmöglichkeit ist fließend. Auch deshalb ist der Fortbestand der Leistungspflicht und die Anwendung des Nachfristsystems aber auch Vorzugs würdig. 100 Zu den verschiedenen Wahlmöglichkeiten des Gläubigers, vgl. III 4 c) (aa) (2). 101 Maßgebender Zeitpunkt für die Unterscheidung ist nach der h. M. der Eintritt der Unmöglichkeit (des Leistungshindernisses), s. nur Staudinger-LdwscA (2004), § 275 Rn. 47. 99

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Leider werden hieraus jedoch nicht immer die zutreffenden Schlüsse gezogen und statt dessen versucht, den bei Bejahung von § 275 Abs. 1 zwingenden Verweis auf die verglichen mit dem Vorgehen nach dem Nachfristsystem des § 281 weniger geeigneten §§ 280, 283-285, 311 a, 326 durch Obsolenzerklärung von § 275 Abs. 4 auszuschließen.102 Vorzugswürdig ist dagegen, unmittelbar bei § 275 Abs. 1 anzusetzen und dem Zusammenhang zwischen der Funktion der Unmöglichkeit als Umschalttatbestand für die Ansprüche gemäß den §§ 275 Abs. 4, 283-285 103 und der notwendigen Struktur des Tatbestandes Rechnung zu tragen. Freilich kann der vorübergehenden Unmöglichkeit dann auch keine primärschuldbefreiende Wirkung im Sinne von § 275 Abs. 1 beigemessen werden werden.

4.

Vorübergehende Leistungshindernisse und Ausschluß des Anspruchs auf Naturalerfüllung gemäß § 275 Abs. 2, 3

§ 275 Abs. 2, 3 soll den Schuldner auf materiell-rechtlicher Ebene in extremen Ausnahmefällen 104 vom Verlangen des Gläubigers gerichtet auf Naturalerfüllung befreien. Zugleich soll dem Schuldner - aus welchen Gründen auch immer - die Möglichkeit zur überobligationsmäßigen Leistungserbringung erhalten bleiben. 105 Der Ausschluß der Leistungspflicht und der über § 275 Abs. 4 gleichfalls angeordnete Übergang auf die Sekundäransprüche verlangt daher im Unterschied zur ipso iure Befreiung nach Absatz 1, daß sich der Schuldner auf das als Einrede formulierte grobe Mißverhältnis zwischen Aufwand und Leistungsinteresse des Gläubigers (§ 275 Abs. 2) oder die Unzumutbarkeit der Leistung bei höchstpersönlicher Verpflichtung (§ 275 Abs. 3) beruft.

a)

Zum intendierten Anwendungsbereich der Bestimmungen

Die §§ 275 Abs. 2, 3 wollen Sachverhalte im Vorfeld der Befreiung nach § 275 Abs. 1 regeln. Nach der Begründung des Reformgesetzgebers soll die Anwendung der ausführlich formulierten Abwägungskriterien offenbar in Fällen, in denen die Beseitigung oder Überwindung des Hindernisses zwar theoretisch möglich, aber von keinem vernünftigen Gläubiger erwartet werden kann, zum Zug kommen. Die vom Reformgesetzgeber genannten Beispiele sind dabei nicht unbedingt von praktischem Interesse: Der Schuldner kann wegen des un102

Arnold, JZ 2002, S. 869; wohl auch Canaris, JZ 2001, S. 510, 516. Ebenso hinsichtlich der anderen Rechtsfolgen, §§311 a Abs. 2, 326. 104 Anv/ditK-Dauner-Lieb, § 275 Rn 19. 105 BT-Drs. 14/6040, S. 129. Diese Möglichkeit war auch nach dem BGB 1900 nicht ausgeschlossen, vgl. Nauen, S. 238 ff, 245. 103

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verhältnismäßigen Aufwands, der erforderlich ist, um die verkaufte Sache von einem Dritten zurückzuerwerben oder vom Grund eines Sees zu bergen, die Einrede nach Absatz 2 erheben 106 ; § 275 Abs. 3 will Sängerinnen, deren Kinder lebensgefährlich erkrankt sind, durch Erhebung der Einrede davor schützen, trotzdem auftreten zu müssen.107

b)

Mit Blick auf vorübergehende Leistungshindernisse

Auf der Tatbestandsebene handelt § 275 Abs. 2, 3 von faktisch überwindbaren Hindernissen. In einem intransitiven Sinn mag man daher von einer vorübergehenden Leistungsstörung sprechen, zumal dem Schuldner offen steht, die Einrede zu erheben. Die Frage, auf die die Regelungen eine Antwort zu geben versuchen, ist jedoch scharf von der Problematik vorübergehender Leistungsstörungen, so wie eingangs beschrieben, zu trennen: hier die Spannung der Schuld, das heißt wie weit der Schuldner sich und seine Mittel zur Erfüllung seiner Verpflichtung in natura einzusetzen hat, dort die Problematik, ob es für den Ausschluß der Leistungspflicht bedeutsam ist, daß die Voraussetzungen der Primärschuldbefreiung nach §§ 275 Abs. 2, 3 voraussichtlich lediglich für einen vorübergehenden Zeitraum vorliegen und im Erfüllungszeitraum wegfallen. Die Problematik vorübergehender Leistungserschwernisse ist im Laufe der Beratungen zu § 275 Abs. 2, 3 nicht näher thematisiert worden. Die Entscheidung, die Worte „und solange" aus dem RE zu streichen, ist im „Windschatten" der Diskussion zur vorübergehenden Unmöglichkeit bei § 275 Abs. 1 ergangen. 108 Ob die primärschuldbefreiende Wirkung von § 275 Abs. 2, 3 eintreten soll, wenn die Voraussetzungen der Norm lediglich für einen vorübergehenden Zeitpunkt vorliegen und im Erfüllungszeitraum weggefallen sind, läßt sich auch nicht aus den vom Gesetzgeber genannten Beispielsfällen erschließen. Während der Wegfall des Hindernisses für den Fall des „Rings auf dem Meeresgrund" überhaupt als ausgeschlossen gelten darf und im Hinblick auf die Rückerwerbsmöglichkeit von einem Dritten auf dessen Sinneswandel spekuliert werden muß, wird man im „Sängerinnenfall" eine lediglich vorübergehende Störung zwar annehmen können. 109 Der Nachweis für die allgemeine Anerkennung der Primärschuldbefreiung bei vorübergehenden Leistungserschwernissen läßt sich anhand der „Lehrbuch-Gesetzesbegründung" in den Bundestagsdrucksa106

BT-Drs. 14/6040, 129, 131. BT-Drs. 14/6040 S. 129. Die Leistungsverweigerung aus anderen Gewissengründen soll nach der unverständlichen Ansicht des Gesetzgebers dagegen nicht hierunter fallen, a.a.O. S. 130. Grundsätzlich zur Einordnung ideeller Leistungserschwerungen, vgl. Nauen, S. 41. 108 Vgl BT-Drs. 14/7052, S. 183. 109 Arnold, JZ 2002 S. 870. 107

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chen jedoch nicht führen - dies schon deshalb, weil in genanntem Fall statt § 275 Abs. 3 richtigerweise § 275 Abs. 1 zur Anwendung kommt. Regelmäßig vereinbart ist eben nicht irgendein künstlerischer Vortrag, sondern der Auftritt eines bestimmten Künstlers/Schuldners, so daß die Leistungserbringung - ungeachtet der Gründe für die Weigerung aufzutreten - als objektiv unmöglich anzusehen ist. 1 1 0 Überdies dürfte auch die Annahme einer absoluten Fixschuld und mit ihr der Eintritt dauerhafter Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 allein durch Zeitablauf - bei Überschreiten des Fälligkeitszeitpunkts - hier oftmals ebenso nahe liegen. 111 Die spätere Genesung des Kindes ist dann gleichfalls unerheblich. Konstellationen, in denen ein Leistungshindernis lediglich vorübergehend vorliegt, ohne daß zugleich ein Fall vorübergehender Unmöglichkeit (§ 275 Abs. 1) gegeben ist, werden daher in erster Linie im Zusammenhang mit der Einrede des grob unverhältnismäßigen Aufwands auftreten (§ 275 Abs. 2). Hierher gehört etwa der eingangs geschilderte Fall einer absehbar vorübergehenden Sperrung eines Handelswegs, die zu einem erheblichen Umweg für den Transport der Ware zum Gläubiger fuhrt, unter Umständen auch Embargo- oder kriegsbedingte Lieferschwierigkeiten. 112 Soweit eine vertretbare Handlung geschuldet ist, ist zugleich diejenige Fallgestaltung getroffen, bei der für die Begrenzung des Bekommensollens des Gläubigers in natura überhaupt ein praktisches Bedürfnis besteht. 113 Im Gegensatz zu den in der Gesetzesbegründung aufgeführten Fallbeispielen ist hier immerhin denkbar, daß der Primärleistungsanspruch im Wege der Zwangsvollstreckung (§ 887 ZPO) durchgesetzt werden kann. 114

110 Vgl. Otto, Jura 2002, S. 3, der hier weiterhin objektive Unmöglichkeit annehmen will; vgl. auch Palandt-Heinrichs, § 275 Rn 30: Absatz 3 sei gegenüber Absatz 1 „subsidiär" sowie oben um Fn. 71. 111 Folge ist die Anwendung der §§ 283, 326. Hält man § 275 Abs. 3 dennoch für einschlägig erschöpft sich die Bedeutung der Regelung darin, daß der Gläubiger die(se) Sekundärrechte bei vorheriger Erhebung der Einrede des § 275 Abs. 3 auch schon vor dem Fälligkeitszeitpunkt geltend machen kann. 112 Bei letzteren wird jedoch häufig ein dauerhaftes Hindernis vorliegen, vgl. MüKoErnst, § 275 Rn 141. Zur Handhabung der Ungewißheit über die Dauer des Hindemisse, vgl. 4 b) (cc). 1,3 Zu den Grenzen der Zwangsvollstreckung überzeugend Ehmann/Sutschet, § 3 I Ι ό (S. 41 ff, 44); ebenso Wilhelm, JZ 2001, S. 865; Wilhelm/Deeg, JZ 2001, S. 231; Anw\tK-Dauner-Lieb y § 275 Rn 7; vgl. auch Dedek, § 275 Rn 25. 36 ff. 114 Ehmann/Sutschet, § 3 III 1 (S. 52) geben in diesem Zusammenhang folgendes Beispiel: Ein Bauunternehmer verspricht dem Bauherrn die Errichtung eines Hochhauses zu einem Festpreis von 100 Mio; bei dem vorbereitenden Bodengutachten blieb unentdeckt, daß der Baugrund bis zu einer Tiefe von 60 m versandet ist, so daß das Fundament gleichfalls vertieft werden muß. Aufgrund dieses dauerhaften Hindernisses würden sich die Kosten des Vorhabens verdreifachen.

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(1) Grundlinien der Befreiung nach § 275 Abs. 2 Der tragende Grund fur die Befreiung von der Primärleistungspflicht nach § 275 Abs. 2 ist durchaus unklar. Die Gesetzesbegründung - ausgestattet mit dem ganzen Arsenal blanker Schlagworte zur Unterscheidung und Abgrenzung der sogenannten „faktischen oder praktischen Unmöglichkeit" (§ 275 Abs. 2) von der „echten" oder „objektiv oder subjektiv wirklichen Unmöglichkeit" (§ 275 Abs. 1) auf der einen und der Regelung zur Geschäftsgrundlage (§313) auf der anderen S e i t e 1 1 5 - will den Ausschluß des Primärleistungsanspruchs offenbar mit der Unmöglichkeitslehre in Verbindung bringen. 116 Träfe dies zu, handelte die Norm schlicht von einem (weiteren) stark normativ geprägten, gleichwohl aber unmöglichkeitsähnlichen Tatbestand.117 Allerdings hat sich diese Anschauung nicht im Wortlaut der gesetzlichen Regelung niedergeschlagen. § 275 Abs. 2 enthält gerade kein der Unmöglichkeit der Leistungserbringung äquivalentes Werturteil, sondern seinerseits wertungsbedürftige Abwägungskriterien 118. Und so werden denn auch die Dinge durch das Hinüberziehen von § 275 Abs. 2 zur Unmöglichkeitslehre geradezu auf den Kopf gestellt, denn der Schuldner ist nach der Vorschrift ja nicht befreit, weil die Leistungserbringung unmöglich ist. Vielmehr ist von einer Regelung der praktischen oder faktischen Unmöglichkeit die Rede, damit der Schuldner überhaupt befreit werden kann 119 , ohne der Gefahr zu erliegen, daß die Norm ständig zu Lasten des Grundsatzes vom Vorrang der Naturalerfüllung über ihren intendierten Anwendungsbereich hinausschießt.120 Und da auch die Redeweise vom Schutz des Schuldners, vor der Verpflichtung allzu hohe Aufwendungen zu tätigen 121 , entweder sehr bedenklich 122 oder aber weitgehend überflüssig ist, weil für die intendierte Begrenzung des Schuldneraufwands auf ein zumutbares Maß im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen des Zwangsvollstreckungsrechts 115 Vgl. hierzu treffend Ehmann! Sutschet, § 3 III 1; § 6 IV 5 b) (S. 53, 184); Schwarze, Jura 2002, S. 76 f. 116 Vgl. BT-Drs. 14/6040, S. 128, 129 wo von der Sinnlosigkeit des Erfüllungsverlangens die Rede ist, da die UnVerhältnismäßigkeit des Leistungsaufwandes ein unmöglichkeitsähnliches Ausmaß habe, vergleichbar der praktischen oder faktischen Unmöglichkeit. 117 Dezidiert dafür Canaris , JZ 2001, S. 505 f. 118 Dies belegt auch die Rechtsfolge der Norm: Indem der Schuldner die Einrede erheben muß, um sich von der Leistungsverpflichtung zu befreien, steht ihm auch die Möglichkeit offen, überobligationsmäßige, gleichwohl aber mögliche Anstrengungen zu erbringen. Hierzu allg. Nauen, S. 225. 119 Vgl. Stoll, JZ 2001, S. 592, der klar erkennt, daß bei § 275 „Verschiedenes miteinander vermischt wird". 120 Ebenso AnwltK-Dauner-Lieb, § 275 Rn 6, 9. 121 Vgl. BTDrs. 14/6040, S. 129. 122 Vgl. um Fn. 67: Grundsatz der Unbeachtlichkeit finanzieller Leistungsschwäche des Schuldners.

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lediglich bei vertretbaren Handlungen ein Bedürfnis besteht 123 , wird wohl erst die Praxis erweisen, ob die Norm nahezu als pro non scripta zu behandeln ist. (2) Die vorübergehende Leistungserschwerung ist kein unmöglichkeitsähnlicher Tatbestand Ungeachtet der hier nur gestreiften Grundsatzfragen zu § 275 Abs. 2 ist seine Qualifikation durch den Reformgesetzgeber als unmöglichkeitsähnlicher Tatbestand allerdings insofern bezeichnend, als daß hierdurch verdeutlicht wird, daß das Ergebnis des in Wahrheit erforderlichen Abwägungsprozesses - in erster Linie orientiert am Wert des Gläubigerinteresses im Verhältnis zu dem unter Beachtung von Treu und Glauben geschuldeten Leistungsaufwand des Schuldners 124 - , mithin also die tragende Begründung für die Befreiungsmöglichkeit des Schuldners durch Erhebung der Einrede gegenüber dem Gläubigeranspruch, nicht zutrifft, wenn und soweit lediglich ein vorübergehendes Hindernis in Rede steht. Der Grund für die Befreiung des Schuldners trifft hier ja genau so wenig zu wie im Hinblick auf die vorübergehende Unmöglichkeit bei § 275 Abs. 1. Dabei kann es keine Rolle spielen, daß § 275 Abs. 2 im Vorfeld von § 275 Abs. 1 angesiedelt ist. Auch bei § 275 Abs. 2 muß das Leistungshindernis dauerhaft vorliegen, weil ansonsten keinesfalls die Rede davon sein kann, daß das Verlangen gerichtet auf Naturalerfüllung sinnlos sei. 125 Richtig ist dagegen auch im Hinblick auf vorübergehende Leistungserschwernisse, und zwar gleichgültig, ob diese vor oder nach Vertragsschluß eingetreten sind, gleichgültig, ob der Eintritt des Hindernisses zu vertreten ist oder nicht 126 , daß der Gläubiger redlicherweise erwarten kann, der Schuldner werde die wirtschaftlich erschwerte Leistung un-

123

Freilich wurde der Zusammenhang zwischen den Grenzen der Zwangsvollstrec??kung und der materiell-rechtlichen Befreiung des Schuldners vom Primäranspruch auch auf der Grundlage des BGB 1900 kaum näher thematisiert, vgl. MK-Emmerich (3. Aufl .) Vor § 275 Rn 24 ff; Staudinger-Lövv/sc/j, (13. Auf.) § 275 Rn 9 f. 124 M Ü K O - £ / T I S / , § 275 Rn 69 f; im Ergebnis ebenso Ehmann!Sutschet, § 3 I I I 1 (S. 54) sowie im Zusammenhang mit dem (untauglichen) Versuch, eine Abgrenzungslinie zwischen §§ 275 Abs. 2 und § 313 aufzuzeigen auch Canaris , ZRP 2001, S. 330, ders. JZ, 2001, S. 502. 125 Anschaulich MüKo-Ernst, § 275 Rn 90, der davon spricht, daß sich die Erbringung der Leistung in Natur „geradezu verbietet" oder „evident und in hohem Maße unsinnig" sei. 126 Zur umstrittenen Interpretation der Berücksichtigung des Vertretenmüssens gemäß § 275 Abs. 2 S. 2 für das Zumutbarkeitsurteil im Allgemeinen, vgl. einerseits BTDrs. 14/6040, S. 131; P. Huberl Faust, § 2 Rn 65 fund andererseits MüKo-£rw.s/, § 275 Rn 72, 101 ff.

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ter Umständen zwar verspätet, aber noch innerhalb des Erfüllungszeitraums, daß heißt als die geschuldete, erbringen. 127 Ungeachtet der den Gesetzgeber offenbar leitenden Vorstellung zum Grund der Primärschuldbefreiung nach § 275 Abs. 2 ist die Ergänzung des Tatbestandes um das Wort „solange" aber auch deshalb problematisch, weil die Einrede des grob unverhältnismäßigen Aufwands an Kriterien anknüpft, die sich nur schwer in den Zusammenhang lediglich vorübergehender Leistungsstörungen einfügen. Grundlegend ist bei § 275 Abs. 2 das Urteil über den Leistungsaufwand des Schuldners im Verhältnis zum Leistungsinteresse des Gläubigers. 128 Es ist deshalb auch davon auszugehen, daß sowohl Veränderungen des Gläubigerinteresses als auch des Aufwands des Schuldners zur Leistungserbringung in die Betrachtung einzustellen sind. Die Folge: Indem auf Seiten des Schuldners nicht lediglich auf den Mehr-, sondern auf den Gesamtaufwand zur Leistungserbringung abzustellen ist 1 2 9 , muß die Begründung der Einrede auch vor der Prognose über den zukünftigen Aufwand des Schuldners zur Erbringung der geschuldeten Leistung Bestand haben. Dem Leistungsaufwand gegenüberzustellen ist dabei das Gläubigerinteresse am Erhalt der Leistung in natura. Das Gläubigerinteresse entspricht nach zutreffender Ansicht regelmäßig genau demjenigen Betrag, den der Gläubiger (fiktiv) als Schadensersatz statt der Leistung zu fordern berechtigt wäre. 130 Allerdings kann der Gläubiger gemäß § 281 Abs. 4 zur Geltendmachung des Interesses auch über den Zeitpunkt der Fälligkeit der Leistung hinaus zuwarten. 131 Der Anknüpfungszeitpunkt für den Leistungsaufwand des Schuldners sollte dann konsequenterweise „mitziehen". Aus dem objektiven Gesamtzusammenhang der gesetzlichen Regelung ergibt sich somit, daß Veränderungen des Leistungsaufwands des Schuldners - bis hin zum Wegfall des Leistungshindernisses - für den Abwägungsprozeß bei § 275 Abs. 2 auch insofern noch relevant sind, als daß sie nach dem Fälligkeitszeitpunkt, aber noch innerhalb des Erfüllungszeitraums eingetreten sind. Auch aus diesem Grund ist es daher vorzugswürdig, bei lediglich vorübergehenden Leistungserschwernissen regelmäßig keine Befreiung von der Leistungspflicht anzunehmen.

127

Vgl. auch MüKo-£ras/, § 286 Rn 90 a.E., wonach die bloße UnWirtschaftlichkeit dem Gläubiger nicht schade. 128 Kritisch zur offenbar angestrebten Irrelevanz der Interessen des Schuldners in diesem Zusammenhang Anwa\tK-Dauner-Lieb, § 275 Rn 8; Stoll, JZ 2001, S. 591 (Fn. 15); Wilhelm, JZ 2001, S. 867; Zimmer, NJW 2002, S. 11. 129 Ebenso MüKo-Ernst, § 275 Rn 83; P. Huber/Faust, § 2 Rn 43. 130 Ehmann/Sutschet, § 3 III 1 (S. 54); MüKo-£r^/, § 275 Rn 79. Anders P. Huber/Faust, § 2 Rn 67. 131 Vgl. oben 3 e) (bb).

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(3) Die vorübergehende Leistungserschwerung ist kein Umschalttatbestand Das reformierte Recht bindet die Rechte des Gläubigers bei Ausschluß des Primärleistungsanspruchs gemäß §275 Abs. 2 in gleicher Weise wie bei Unmöglichkeit der Leistungserbringung an den Tatbestand des Leistungsverweigerungsrechts des Schuldners. Nach den §§ 275 Abs. 2, 4, 280 Abs. 1, 3, 283 entfällt auch hier die für den Übergang zum Schadensersatzanspruch statt der Leistung ansonsten erforderliche Nachfristsetzung gemäß §281 Abs. 1. Die gesetzgeberische Entscheidung ist konsequent. Ungeachtet der Festlegung, daß der Schuldner bei § 275 Abs. 2 nicht ipso iure, sondern erst ab Erhebung der Einrede befreit ist, erscheint eine Fristsetzung zur Leistungserbringung unter Voraussetzungen, die mit einem Leistungsaufwand gleichzusetzen sind, den gerade kein vernünftiger Mensch betreiben würde, in der Tat sinnlos. Die Leistungserschwerung im Sinne von § 275 Abs. 2 ist im reformierten Recht also ebenfalls als qualifizierter Umschalttatbestand zu verstehen. Dem Gläubiger wird ermöglicht, statt der Primärleistung unmittelbar Schadensersatz statt der Leistung zu fordern. 132 Das für das Regel-Ausnahmeverhältnis zwischen dem Erfordernis einer Nachfristsetzung auf der einen und den spezifischen Voraussetzungen für die ausnahmsweise Entbehrlichkeit derselben auf der anderen Seite entscheidende Kriterium trifft bei vorübergehenden Leistungserschwerungen ebenso wenig zu wie bei der vorübergehenden Unmöglichkeit. Die Gleichsetzung der vorübergehenden Erschwerung der Leistung mit einem dauerhaften Hindernis, respektive die auch nur vorübergehende Leistungsbefreiung, mißt also der vorübergehenden Leistungserschwerung eine Bedeutung zu, die sie vernünftigerweise nicht haben kann. Auch hier legt das im Nachfristsystem der Schuldrechtsreform zutreffende Vorgehen nahe, gemäß den im Hinblick auf die Grundnorm des § 280 Abs. 1 „zusätzlichen Voraussetzungen" (§ 280 Abs. 3) des § 281 vorzugehen: Entweder kann der Gläubiger eine Nachfrist setzen und mit der Aussage verbinden, im Fall des Fristablaufs Schadensersatz statt der Leistung zu verlangen, wodurch derjenige Zeitraum, innerhalb dessen sich der Schuldner durch Erfüllung befreien kann, determiniert wird. Mit Blick auf die weitere Entwicklung, namentlich die Ungewißheit über die Dauer des Hindernisses, kann der Gläubiger aber auch von seinem Gestaltungsspielraum nach § 281 Abs. 4 Gebrauch machen und die Frist verlängern oder wiederholt stellen, bis er endlich durch seine eindeutige Erklärung die Sekundärrechte gerichtet auf das Erfüllungsin-

132

Es sei denn die Nichterfüllung ist nicht zu vertreten, §281 Abs. 1 S. 2. Zur Einordnung des Haftungstatbestandes (§ 241 Abs. 2, 311 II), vgl. III 2., 3.

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teresse aktiviert oder die Vertragsauflösung durch Rücktrittserklärung betreibt.' 33 Die systematische, am objektiven Sinn des Gesetzes orientierte Auslegung des Gesetzes fördert auch in dieser Hinsicht vernünftige Ergebnisse zu Tage. 134 Dies sollte bei der Interpretation von § 275 Abs. 2 beachtet werden. Die Ergänzung des Gesetzes durch das Wort „solange" ist damit ebenfalls nicht angezeigt.

5.

Notwendigkeit der Leistungsbefreiung aus anderen Gründen?

Nach dem BGB 1900 konnten alle Leistungsurteile prinzipiell auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung umgestellt werden. Gemäß § 283 a.F. war lediglich Voraussetzung, daß der rechtskräftig zur Naturalleistung verurteilte Schuldner die Leistung nicht erbrachte und auch der eingeschränkte Entlastungsbeweis im Zweitprozeß nicht gelang. Bei Bejahung des Primärleistungsanspruchs konnte es also zur Schadensersatzhaftung gerichtet auf das positive Interesse kommen, und zwar ungeachtet der Tatsache, daß die Durchsetzung des titulierten Anspruchs im Wege der Zwangsvollstreckung oftmals wenig aussichtsreich war. Hinzu kam, daß sich der Schuldner aufgrund der eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten im Zweitprozeß auch nicht mehr darauf berufen konnte, daß ihm die Leistung vor rechtskräftiger Entscheidung des Erstprozesses ohne sein Verschulden unmöglich war. 135 Wollte man die in diesem Sinne geschärfte Schadensersatzhaftung ausschließen, mußte der Bestand oder wenigstens die prozessuale Durchsetzbarkeit des Erfüllungsanspruchs verneint werden. 136 Eine weitgehend verschuldensunabhängige Haftung im Fall der schlichten Nichterfüllung einer bestehenden Verbindlichkeit kennt das reformierte Recht nicht mehr. Mit der ersatzlosen Streichung von § 283 a.F. gibt es also auch keinen Grund mehr für die Begrenzung des Primärleistungsanspruchs bei vorübergehenden Leistungsstörungen. Auch für die Fälle unverschuldeter zeitweiliger Unmöglichkeit oder Leistungserschwernis ist dies entbehrlich, denn die Schadensersatzhaftung des Schuldners knüpft bei Fortbestehen des Erfüllungsanspruchs nach der insoweit eindeutigen Gesetzessystematik an die §§ 280 Abs. 1, 281 ff. und damit an den Umstand an, daß der Schuldner eine relative

133

Das zur Entbehrlichkeit der Fristsetzung bzw. dem Übergang zur endgültigen Leistungserschwerung Gesagte (Fn. 100) gilt sinngemäß auch hier. 134 Eingehend unter III. 135 Vgl. Nauen, S. 252 ff; Schur, NJW 2002, S. 2519. 136 Vgl. oben 3 b) (Fn. 35).

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(Schutz-)Pflicht aus dem Schuldverhältnis in zu vertretender Weise verletzt hat. 137 Ist der Bestand des Erfüllungsanspruchs für den Schuldner aufgrund der Streichung von § 283 a.F. demzufolge ungefährlich und kann der Leistungsanspruch im Wege der Zwangsvollstreckung - selbst bei bloßen Leistungshindernissen im Sinne von § 275 Abs. 2 - regelmäßig nicht durchgesetzt werden, solange das Hindernis besteht 138 , wird man sich allerdings fragen müssen, welchen Sinn der Anspruch hat. 139 Die Antwort hierauf ergibt sich für die hier untersuchte Problematik im wesentlichen aus dem zuvor Gesagten zur Funktion der Tatbestände des § 275 als Umschalttatbestände zwischen dem Anspruch auf Naturalerfüllung und den an seine Stelle tretenden Sekundäransprüchen, namentlich dem Schadensersatzanspruch statt der Leistung. 140 Indem der Primärleistungsanspruch im Fall vorübergehender Unmöglichkeit oder Leistungshindernisse fortbesteht, mithin auch das rechtliche Sollen des Schuldners trotz des Hindernisses, welches lediglich in tatsächlicher Hinsicht und dies auch lediglich zeitweilig die Leistungserbringung ausschließt, juristisch anerkannt wird 1 4 1 , stehen diejenigen Ansprüche zur Verfügung, die für die Behandlung dieser Leistungsstörungsart angemessen sind. 142 Der aus den Grundlinien der Befreiung des Schuldners und dem

137

Der Einwand fehlenden Verschuldens ist dabei auch nicht nach § 767 Abs. 2 oder aufgrund der materiellen Rechtskraft des Leistungsurteils ausgeschlossen: Das Schicksal des Primärleistungsanspruchs ist bei § 275 Abs. 1 unabhängig vom Vertretenmüssen, bei § 275 Abs. 2 handelt es sich lediglich um einen sekundären Abwägungsfaktor, vgl. Schur, NJW 2002, S. 2519; MüKo-Ernst, § 275 Rn 72, 104. 138 Aus diesem Grund besteht auch erst recht kein Bedürfnis die subsidiäre und hinsichtlich ihrer Voraussetzungen kaum passende „Regelung" zur Geschäftsgrundlage zu bemühen, so wie dies vom KE und DE noch vorgeschlagen wurde, vgl. BT-Drs. 14/6040, S. 176; Nauen, S. 285 ff; MüKo-Ernst, § 275 Rn 74 ff. 139 So Ehmann!Sutschet, § 3 II (S. 46), die mit Blick auf die unverschuldete dauerhafte Unmöglichkeit der Leistung feststellen, daß der Fortbestand des Erfüllungsanspruchs lediglich den „Makel" einer Verurteilung sowie die Prozeß- und die Kosten des Versuchs der Zwangsvollstreckung verteile. 140 Übersehen bei Arnold, JZ 2001, S.869. 141 Zu den grundlegenden Unterschieden, vgl. Kuhlmann, S. 178, Nauen, S. 255 m.w.N. 142 Insofern relativiert sich auch die zum Teil noch gänzlich übersehene Problematik (vgl. Anders/Gehle, Das Assessorexamen im Zivilrecht (2002), Rn 476), wonach die Leistungsklage für den Gläubiger aufgrund der unbedachten Streichung von § 283 a.F. zur Kostenfalle wird, nämlich dann, wenn der Schuldner den Anspruch sofort anerkennt (§§ 307, 93 ZPO) und er von der Zwangsvollstreckung nichts zu befürchten hat: Nur wenn der Erfüllungsanspruch fortbesteht, ist es dem Gläubiger möglich, den Schuldner in Verzug zu setzen oder mittels Fristsetzung nach § 281 Abs. 1 vorzugehen. Rührt sich dieser hiernach nicht, gibt er Anlaß zur Klage, vgl. Thomas!Putzo, Zivilprozeßordnung (2003), § 93 Rn 6 f. Dem Gläubiger ist daher ebenso wie für das BGB 1900 - vgl. Eh-

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61

systematisch-objektiven Gesamtzusammenhang des reformierten Rechts hergeleitete Fortbestand des Primärleistungsanspruchs bei vorübergehenden Leistungsstörungen ist - juristisch betrachtet - also keine leere Hülle oder ein Recht, das dem Gläubiger nichts nützt, sondern, wie sogleich zu zeigen ist, ein vernünftiges Recht zur interessengerechten Behandlung der einschlägigen Fallkonstellationen.

III.

Sekundäransprüche bei zu vertretender, vorübergehender Unmöglichkeit

Die Stellung der vorübergehenden Unmöglichkeit zwischen Leistungsverzögerung und Unmöglichkeit hat zur Folge, daß die ganze Bandbreite der Fragen, die bei Leistungsstörungen auftreten können, einer Antwort bedarf. Für den Schuldner ist von erheblicher Bedeutung, ob er für die Dauer des Hindernisses zur Leistung verpflichtet bleibt und daher seine Bemühungen zur Erbringung der Leistung fortsetzen muß. Darüber hinaus ist für ihn von Bedeutung, ob und mit welchen Risiken er zur Leistung verurteilt werden kann. Auch die Sicht des Gläubigers wird zunächst hier ansetzen, wenn auch unter anderem Blickwinkel: Für ihn ist eine wichtige Frage zunächst, ob sein Leistungsanspruch noch besteht und wie lange er auf die Geltendmachung dieses Leistungsanspruchs beschränkt ist. Nicht minder bedeutsam ist in praktischer Hinsicht für den Gläubiger die Frage, unter welchen Voraussetzungen er sekundäre Ansprüche, also Schadensersatz geltend machen kann. In der Praxis wird dies regelmäßig zwei Erwägungen beinhalten: Den Anspruch auf Ersatz eines etwaigen Verzögerungsschadens (dazu unten 4 b) und die Geltendmachung des Nichterfüllungsschadens, bei dem der Schadensersatzanspruch an die Stelle des primären Leistungsanspruchs tritt (dazu unten 4 c). Schließlich wird der Gläubiger auch überlegen, ob und unter welchen Voraussetzungen er sich von dem Vertrag und damit von den gegenseitigen Rechten und Pflichten lösen kann (dazu unten 5).

1.

Behandlung der Rechtsbehelfe des Gläubigers im Gesetzgebungsverfahren

Wie zuvor geschildert, war die vorübergehende Unmöglichkeit durch die Formulierung „soweit und solange" von § 275 Abs. 1 und 2 des Regierungsentwurfs zunächst noch erfaßt. Geregelt war damit nicht nur das Schicksal der primären Leistungspflicht, sondern die vorübergehende Unmöglichkeit nahm auch an der Rechtsfolgenverweisung des § 275 Abs. 3 des Regierungsentwurfes teil, mann!Kley, Jus 1998, S.486; MüKo-Emmerich, (3.Aufl) § 275 Rn 96 - auch weiterhin dringend anzuraten, den Schuldner in Verzug zu setzen.

62

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der für die Rechte des Gläubigers auf die §§ 280, 283 bis 285, 311a und 326 verwies. Schon früh wurde auf die Probleme hingewiesen, die diese Einbindung der vorübergehenden Unmöglichkeit in § 275 auf der Rechtsfolgenseite aufwirft. 1 4 3 Fraglich schien insbesondere, ob der Gläubiger seinen Verzugsschaden geltend machen oder vom Vertrag zurücktreten kann, da beides nach den §§ 280, 286 und 323 eine fällige Leistungspflicht zur Voraussetzung hat - woran es wegen § 275 Abs. 1 bzw. Abs. 2 fehlte 144 . Im weiteren Gesetzgebungsverfahren nahm der Bundesrat diese Kritik auf und schlug deshalb vor 1 4 5 , die Rechtsfolgenverweisung des § 275 Abs. 3 durch einen Satz 2 zu erweitern: ,J$raucht der Schuldner nach Absatz 1 oder 2 vorübergehend nicht zu leisten, gilt außerdem § 323 entsprechende Für den Gläubiger bestehe ein praktisches Bedürfnis, eine endgültige Bereinigung der Rechtslage herbeizuführen. Weiterhin gab der Bundesrat zu bedenken, ob die Anwendung des § 283 auf die vorübergehende Unmöglichkeit angemessen sei. 146 Es gehe beispielsweise zu weit, dem Gläubiger sofort ein umfassendes Recht auf Schadensersatz zuzuerkennen, wenn der Wegfall des Leistungshindernisses bereits erkennbar ist. Als Korrektiv schlug der Bundesrat vor, die Wertung des im damaligen Entwurf befindlichen § 281 Abs. 1 Satz 3 BGB solle entsprechende Anwendung finden, nach der der Gläubiger Schadensersatz nur verlangen kann, wenn sein Interesse dies erfordert. 147 Schließlich sei auch erforderlich, auf das Schicksal der Primärleistungspflicht einzugehen. Habe der Gläubiger seinen Anspruch auf Schadensersatz geltend gemacht, müsse dasselbe gelten wie nach § 281 Abs. 3 (heute § 281 Abs. 4), d.h., der Gläubiger müsse mit dem Anspruch auf Leistung grundsätzlich ausgeschlossen sein.

143

Z. B. Canaris , JZ 2001, S. 499, 508, 510, 515 f. Canaris , JZ 2001, S. 508 ff, 510, 515 f hatte daraufhingewiesen, daß der Gläubiger mangels eines bestehenden Leistungsanspruches nicht zurücktreten könne. Aus diesem Grund ist in der Entwurfsfassung vom 17. 9. 2002 das Rücktrittsrecht des § 326 Abs. 1 S. 3, daß sich lediglich auf die fehlerhafte Leitungserbringung bezog, als § 326 Abs. 5 auf die Fälle des § 275 Abs. 1 - 3 erstreckt worden. Die Einbeziehung der vorübergehenden Unmöglichkeit in § 275 wurde aufgehoben, § 326 Abs. 5 jedoch blieb unverändert. 145 BT-Drs. 338/01 Punkt 23. 146 BT-Drs. 338/01 Punkt 32. 147 § 281 Abs. 1 S. 3 RE: „Hat der Schuldner teilweise oder nicht wie geschuldet geleistet, so kann der Gläubiger Schadensersatz statt der ganzen Leistung nur verlangen, wenn sein Interesse an der geschuldeten Leistung dies erfordert." Nicht näher erläutert wird dabei durch den Bundesrat, wie das Interesse des Gläubigers an der Leistung denn geartet sein müßte, um den sofortigen Übergang auf den Nichterfüllungsschaden zu rechtfertigen. Am ehesten scheint dies wohl gegeben bei einer zeitlichen Fixierung des Interesses an der ursprünglichen Leistung. 144

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63

In ihrer Gegenäußerung 148 räumte die Bundesregierung angesichts der vielfachen Kritik ein, daß die Regelung der vorübergehenden Unmöglichkeit noch nicht befriedigend sei und kündigte an, im weiteren Gesetzgebungsverfahren adäquate Lösungen zu schaffen. Dazu kam es nicht, denn der Rechtsausschuß des Bundestages beschloß, in § 275 Abs. 1 und 2 jeweils die Worte „und solange" zu streichen 149 , um die vorübergehende Unmöglichkeit aus dem Anwendungsbereich des § 275 zu nehmen - womit sich auch die Frage der Regelung der Rechtsfolgen durch den Gesetzgeber erledigte. 150 Die Rechtswissenschaft hat sich des Themas angenommen und dabei ganz unterschiedliche Lösungsansätze entwickelt. Vorgeschlagen wird ζ. B., die vorübergehende Unmöglichkeit einheitlich nach Verzugsrecht zu behandeln.151 Demgegenüber stehen die Ansichten, die eine Leistungsbefreiung „nach dem Rechtsgedanken des § 275" annehmen152 bzw. unmittelbar Unmöglichkeitsrecht anwenden.153 Beide Lösungsansätze führen auf der Rechtsfolgenseite zu gewichtigen Problemen, die von ihren Vertretern nur mit erheblichem (und zweifelhaftem) rechtskonstruktiven Aufwand umgangen werden können. Wenn man vom Unmöglichkeitsrecht ausgeht und in direkter oder entsprechender Anwendung des § 275 eine Suspendierung der Leistungspflicht annimmt, hindert dies auch die Fälligkeit der Leistungspflicht, die aber Voraussetzung für den Ersatz eines Verzögerungsschadens (§§ 280 Abs. 2, 286) bzw. den Schadensersatzanspruch statt der Leistung aus §§ 280 Abs. 3, 281 ist. 154 Hinzu kommt, daß der Weg zu § 286 überhaupt erst eröffnet ist, wenn man trotz der Anwendung von § 275 dessen Abs. 4 ignoriert, denn dieser sieht für die Rechte des Gläubigers die Geltendmachung eines Verzugsschadens nicht vor. Der Schadensersatzanspruch aus §§ 280 Abs. 3, 283 hingegen erscheint für die vorübergehende Unmöglichkeit wenig angemessen, weil ein sofortiger Übergang 148

Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drs. 14/6857 (zu Nummer 19 - zu Artikel 1 Abs. 1 Nr. 6, § 275 Abs. 1 und 2 BGB). 149 BT-Drs. 14/7052 S.183 150 Aufgrund der Beschlüsse des Rechtsausschusses kam es aber zur Einfügung des § 326 Abs. 5, der dem Gläubiger in den Fällen des § 275 ein fristloses Rücktrittsrecht gibt, BT-Drs. 14/7052 S.226. 151 Dedek, § 275 Rn 6. 152 Palandt-Heinrichs, § 275 Rn 10, ähnlich Canaris , JZ 2001 S. 499, 508 und Arnold, JZ 2002 S. 866, 869. 153 P. Huberl Faust, § 8 Rn 6 ff. Unklar insoweit MüKo-£ras/, der für die Anwendung von § 280 Abs. 1 bzw. die entsprechende Anwendung von § 281 plädiert und dies mit Zweckmäßigkeit begründet, § 275 Rn 146 ff. 154 Vorgeschlagen wird deshalb, den Verzögerungsschaden aus § 283 abzuleiten. Der durch diese Vorschrift gewährte Schadensersatzanspruch statt Leistung könne auch als Schadensersatzanspruch statt rechtzeitiger Leistung verstanden werden (P. Huberl Faust, § 8 Rn 3 ff). Das allerdings ist eine rechtskonstruktive Willkür, die im systematischen Zusammenhang der §§ 280 ff keinerlei Rechtfertigung findet.

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auf den sekundären Anspruch auf das positive Interesse nur dort gerechtfertigt ist, wo eine Behebung des Leistungshindernisses ausgeschlossen ist und eine Fristsetzung daher keinen Sinn macht, nicht aber dort, wo die Leistung noch nachholbar ist. Schließlich wäre dem Gläubiger auch der Rücktritt nach § 323 verstellt. 155 Aber auch die Gleichstellung mit der Verzögerung wird nur durch rechtskonstruktive Zugeständnisse bei der Frage der Befreiung von der Primärleistungspflicht erreicht. Wer die §§ 280 Abs. 2, 3, 286 und 281 anwenden will, braucht als Anknüpfungspunkt die fällige Leistungspflicht. Um jedoch die Konsequenz zu vermeiden, daß der Schuldner auch für die Dauer des Leistungshindernisses im Rechtssinn zur Leistung verpflichtet bleibt und verurteilt werden könnte, wird vorgeschlagen, eine Leistungsbefreiung nach § 275 zwar zu bejahen, bei der Prüfung der Rechtsfolgen aber die Suspendierung der Leistungspflicht außer Betracht zu lassen und zu fragen, ob ohne das Hindernis eine fällige Leistungspflicht bestünde.156 Der Wunsch, die berechtigten Interessen von Schuldner und Gläubiger gleichermaßen zu berücksichtigen und deshalb die Befreiung von der Primärleistungspflicht mit den angemessenen Rechtsbehelfen für den Gläubiger kombinieren zu können, ist verständlich, darf aber nicht dazu führen, daß die Rechtsanwendung in bedenklicher Abkehr vom Gesetz vorgenommen wird.

2.

Verletzung von Schutzpflichten und Nichterfüllung der Leistungspflicht

Für die zutreffende Bestimmung der Rechtsfolgen einer zu vertretenden, vorübergehenden Unmöglichkeit ist es notwendig, sich zunächst auf die grundlegenden Zusammenhänge der Befreiung von der Primärleistung, Schutzpflichtverletzung und Sekundäransprüchen im Schuldrecht zu besinnen. Angesprochen sind damit die zentralen Elemente einer jeden Schuldrechtsordnung, die als dogmatisches Urgestein das System des Leistungsstörungsrechts bestimmen.

155

Um dieser unliebsamen Konsequenz zu entgehen, wird vertreten, die vorübergehende Unmöglichkeit könne als sog. „Teilunmöglichkeit in der Zeit" behandelt werden, so daß die §§ 283 S. 2, 281 Abs. 1 S. 2 bzw. §§ 326 Abs. 5, 323 Abs. 5 S. 1 Anwendung finden können. Die Rechtsbehelfe seien dem Gläubiger in entsprechender Anwendung dann eröffnet, wenn er kein Interesse daran hat, die Leistung nach Beendigung der Unmöglichkeit noch zu erhalten. Die Umdeutung als „Teilunmöglichkeit in der Zeit" ist nicht neu, sie wurde schon von Himmelschein (AcP 135 (1932) S. 255, 286, 291 ff, 297) versucht. Sie ist jedoch eine Hilfskonstruktion, die nicht überzeugt. Zutreffend weisen Ehmann/Sutschet, § 3 IV 1 (S. 55) daraufhin, daß diese Annahme lediglich bei Dauerschuldverhältnissen trägt. 156 So Arnold, JZ 2002 S. 869 f.

Neues und Altes von der vorübergehenden Unmöglichkeit

65

Weil eine materielle Privatrechtsordnung Güterschutz und Güterbewegung zu gewährleisten hat 1 5 7 , sind die zentralen Instrumente des Schuldrechts die Erwerbsansprüche, denen Leistungspflichten korrespondieren, und die Schutzansprüche, denen Schutzpflichten korrespondieren. 158 Leistungspflichten und Schutzpflichten bilden zusammen mit Gestaltungsbefugnissen und sonstigen Rechtslagen159 das Schuldverhältnis, das zwischen Gläubiger und Schuldner besteht. Der Erwerbsanspruch des Gläubigers steht im Dienste der Güterbewegung, ihm entspricht eine Leistungspflicht des Schuldners; dieser Anspruch ist regelmäßig auf eine Handlung (positive Leistung) des Schuldners gerichtet. 160 Der Schutz der privaten Rechtsgüter erfolgt demgegenüber primär über die Einräumung von Schutzansprüchen, für den Fall der Zuwiderhandlung durch sekundäre Restitutions- oder Schadensersatzansprüche. Stets zu unterscheiden ist daher die Verletzung einer Schutzpflicht von der Nichterfüllung einer Leistungspflicht. Schutzpflichten sind nicht auf Erfüllung i.S.d. § 362 gerichtet, sondern auf Beachtung.161 Handelt der Schuldner seiner Schutzpflicht zuwider, liegt darin daher keine Nichterfüllung dieser Pflicht, sondern eine Verletzung. Der Schutzanspruch des Gläubigers ist zunächst regelmäßig „unentwickelt" 162 , erst seine Nichtbeachtung durch den Schuldner, die eine Verletzung des durch ihn geschützten Gutes verursacht, führt zur Entwicklung dieses Anspruchs zum Schadensersatzanspruch 163; zu ersetzen ist grundsätzlich das Inter-

157

S. 18.

158

So auch schon grundlegend Kreß, S. 1 f; vgl. auch Kreß in seiner Rektoratsrede,

Grundlegend dazu schon Kreß, §§1, 2, 23. Die Trennung von Schutz- und Erwerbsansprüchen läßt sich zurückführen auf Stahl (Die Philosophie des Rechts, Bd.11,1 III. Buch § 52 - zitiert nach Ehmann, Einführung S.XXIII): „Alle Forderungen haben den Zweck, eine Vermögensmittheilung entweder ursprünglich zu begründen oder als Ersatz für vorher verursachten Schaden, jene in Folge von Vorgängen, die nach der Absicht der Parteien oder nach ihrer eigenen Natur auf Begründung eines Rechtsverhältnisses abzielen (Geschäft im weitesten Sinne), diese in Folge einer Schuld des zu Verpflichtenden. " 159 Z.B. Einziehungsberechtigungen und Empfangszuständigkeiten. 160 Ausnahmsweise auch auf eine Unterlassung, nämlich auf Duldung des Eingriffs des Gläubigers, vgl. Kreß, S.3. 161 Kreß, S. 585 f. 162 Kreß S. 5 ff, insb. S. 578 ff. 163 Kreß, a.a.O. In die gleiche Richtung gehen die Ausführungen von Siber, Grundriß des Deutschen Bürgerlichen Rechts (1931) S.2, der bald nach Kreß bezüglich der Pflichten im Schuldverhältnis grundsätzlich unterscheidet: „Leistung ist Wertbewegung zwischen zwei Interessenkreisen: ein Tun oder Unterlassen, das nicht Leistung an einen Empfänger ist, kann Inhalt einer Pflicht, aber...nicht Inhalt eines Anspruchs sein." Aufgegriffen wird der auf Kreß zurückgehende Gedanke der „Entwicklung" schon wenig später beispielsweise von J. Hedemann in seinem Lehrbuch des Schuldrechts (1931) § 15 (S. 91 ff).

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esse des Geschädigten an dem Nichteintritt der Verletzung. 164 Der Grund eines Schadensersatzanspruchs liegt also stets in einer schuldhaften Schutzpflichtverletzung, die Nichterfüllung der Leistungspflicht gewinnt demgegenüber Bedeutung für die Befreiung vom Erfüllungsanspruch und den Umfang des Schadensersatzanspruchs. Gemeinsamer Zweck aller Schutzansprüche ist der Schutz der schon erworbenen Güter und Interessen des Gläubigers sowie im Falle der Güterbewegung auch der Schutz des zu erwerbenden Gutes, also des Leistungsgegenstandes selbst. Der Schuldner soll durch die Drohung der Entwicklung des Schutzanspruchs zum Schadensersatzanspruch von seiner Nichtbeachtung abgehalten werden. 165 Im Fall einer zu vertretenden, vorübergehenden Unmöglichkeit hat demnach der Schuldner in schuldhafter Weise eine seiner Schutzpflichten verletzt (z.B. gegen die Pflicht zur sorgfältigen Auswahl und Untersuchung des Leistungsgegenstandes sowie zu dessen Obhut und Erhaltung 166 ), was zu seiner zeitweiligen Leistungsunfahigkeit geführt hat. Bis zur Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit kann er den Primäranspruch des Gläubigers nicht erfüllen, aus dessen Sicht liegt eine Nichterfüllung vor. Für den Gläubiger stellt sich damit die Frage, ob sich sein Schutzanspruch aufgrund der Pflichtverletzung des Schuldners zu einem sekundären Schutzanspruch, also zum Schadensersatzanspruch entwickelt hat. Zum anderen ist für den Gläubiger wichtig, welches Interesse dieser Schadensersatzanspruch ausgleicht, insbesondere ob der Schadensersatzanspruch neben seinen Erfüllungsanspruch tritt oder ob er diesen ersetzt. Im folgenden soll nachgezeichnet werden, ob und wie sich diese Konstellation, d.h. die zeitweilige Nichterfüllung der Leistungspflicht aufgrund einer Schutzpflichtverletzung des Schuldners im neuen Haftungssystem des BGB sachgerecht bewältigen läßt. 164 Kreß, S. 4, 286 i.V.m. Fn 28; Jakobs, S. 33 f; Schmidt, Nachwort zum Neudruck der Abhandlungen von Staub (positive Vertragsverletzung) und Jhering (culpa in contrahendo) [1969], S. 131, 137, 141; G. Kopeke, Typen der positiven Vertragsverletzung (1965), S. 134, 150 ff. 165 Kreß, S. 5, 10, 578. Von einem unentwickelten Anspruch kann deshalb dann nicht gesprochen werden, wenn die Verpflichtung nach dem Willen der Beteiligten unmittelbar geltend gemacht werden kann; Kreß, S. 580 (Fn. 5). 166 Dazu wird in den Motiven des BGB ausgeführt: „Es ist nach dem konkreten Schuldverhältnisse zu prüfen, ob dem Schuldner eine Verpflichtung zur Bewahrung oder Beaufsichtigung des Gegenstandes seiner Verpflichtung obliegt. Trifft dies zu, so hat er die ihm nach dem betreffenden Schuldverhältnisse obliegende Sorgfalt auch in der besonderen Richtung auf die Verwahrung (custodia) zu bethätigen; übrigens ist es, falls in einem Schuldverhältnis die Verpflichtung zur custodia überhaupt oder nur in Beziehung auf eine gewisse Gefahr besonders übernommen oder auferlegt wurde, Sache der Auslegung den Sinn dieser Verpflichtung zu ermitteln." (Mugdan II, S. 15 zu § 224 des ersten Entwurfes).

Neues und Altes von der vorübergehenden Unmöglichkeit

3.

67

Rechtssystematische Aspekte der §§ 280-286

Das rechtssystematische Zentrum der neuen Haftungsvorschriften wird durch einen Grundtatbestand der Schadensersatzhaftung des Schuldners für jede Schutzpflichtverletzung gebildet: „ Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstandenen Schadens verlangen ", § 280 Abs. 1 S.l. Diese Vorschrift bildet den Anfang der Regelungen über die Haftung. Sie ist die Konsequenz aus der Kritik, die sich in der Entwurfs- bzw. Gesetzesbegründung findet und aus dem Abschlußbericht der Schuldrechtskommission aus dem Jahr 1992 schon hinlänglich bekannt ist. 1 6 7 Wie schon von den Gutachtern zum Leistungsstörungsrecht und der Schuldrechtskommission wird - neben weiteren Punkten - vor allem bemängelt, daß das allgemeine Leistungsstörungsrecht die Unmöglichkeit zur beherrschenden Kategorie erhebe. 168 Darüber hinaus sei die gesetzliche Regelung der Haftung im allgemeinen Schuldrecht unvollständig, da sie nur zwei Arten der Leistungsstörung kenne 169 , nämlich Verzug und Unmöglichkeit als typisierte Störungstatbestände. Nicht erfaßt wäre deshalb die sog. Schlechtleistung; der Gläubiger könne zu einem Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung ohne Unmöglichkeit oder Interessewegfall nur über § 283 BGB 1900 kommen. 170 Das aus dieser Begrenztheit der gesetzlichen Störungstatbestände entstandene Nebeneinander von gesetzlich geregelten und ungeschriebenen, von der Rechtsprechung entwickelten Ansprüchen wegen Leistungsstörungen sei nicht hinnehmbar, da diese Ansprüche auch untereinander nicht klar abgegrenzt werden könnten und die unterschiedlichen Rechtsfolgen, zu denen sie führten, keine einleuchtende rechtspolitische Grundlage hätten. 171 Das Rechtsin167

Die Kritik an dieser Konzeption des Leistungsstörungsrechts in seiner alten Fassung setzte früh ein (Exemplarisch ist die Kritik von Rabel, Ges. Aufs. S.l ff (1907); S.56 ff (1911); teilweise auch Heinrich Stoll, AcP 136 (1932) S. 257, 266 ff; kritisch zu Rabel wiederum Himmelschein, AcP 135 (1932) S. 255, 262; AcP 158 (1959/1960) S. 273 ff (posthum). Langfristig angelegte Arbeiten zu einer grundlegenden Reformierung des Schuldrechts wurden in den siebziger Jahren aufgenommen, sie mündeten nach ausfuhrlichen Vorarbeiten und Gutachten schließlich in den KE nebst dazugehörigem Abschlußbericht. KE und Abschlußbericht bildeten das Fundament für den DE. Diesem ersten Entwurf folgten rasch mehrere, sich ständig ändernde Fassungen. Der legitimierende Verweis des Bundesjustizministeriums auf die Vorarbeiten der Schuldrechtskommission von 1992 mochte für den ersten DE daher noch angehen, in Bezug auf das heutige Gesetz aber kann er nicht mehr greifen, denn spätestens mit der KF lösten sich die Reformbemühungen in zentralen Bereichen von diesen Vorarbeiten vollständig, vgl. zum Gesetzgebungsverfahren Ehmann!Sutschet, § 1 I (S. 1 ff). 168 Abschlußbericht, S. 16. 169 Abschlußbericht S. 128. 170 Abschlußbericht S. 133. 171 Abschlußbericht, S. 17 f.

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stitut der pVV belege besonders deutlich, daß das kodifizierte System des Leistungsstörungsrechts in wichtigen Bereichen unvollkommen sei. 172 Nachdem im neuen Gesetz mit § 280 Abs. 1 der Grundtatbestand der Haftung formuliert wird, werden ftir zwei spezifische Arten des Schadensersatzes anschließend in Absatz 2 und 3 weitere, strengere Voraussetzungen normiert, die das Tatbestandsmerkmal der Pflichtverletzung des Absatzes 1 ergänzen: Gemäß § 280 Abs. 2 kann der Gläubiger Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 286 verlangen, für den sog. Schadensersatz statt der Leistung müssen gemäß § 280 Abs. 3 die Voraussetzungen der §§ 281, 282 oder 283 vorliegen. In systematischer Hinsicht ist § 280 Abs. 1 der Grundtatbestand jeder vertraglichen Haftung. 173 Absatz 2 und Absatz 3 stellen ebenso wenig wie die Vorschriften, auf die sie verweisen, eine Haftungsgrundlage dar, sondern durch diese wird der Grundtatbestand des ersten Absatzes zur Tatbestands- und Rechtsfolgenseite hin abgeändert bzw. ergänzt. 174 Mit § 280 Abs. 1 und seinen folgenden beiden Absätzen stehen sich der Grundsatz der allgemeinen Haftung für schuldhafte Schutzpflichtverletzung und seine besonderen Ausformungen in Rechtsfolge und Voraussetzung gegenüber. Es ist dies nichts anderes als eben das systematische Vorgehen, das auch das allgemeine Leistungsstörungsrecht des BGB 1900 prägte: Mit den an Unmöglichkeit und Verzug anknüpfenden Vorschriften wurden besondere Ausformungen des allgemeinen Haftungstatbestandes gegeben, deren Normierung sich durch die Abweichung von der Grundregel erklärt. 175 Insoweit stellt das System - entgegen häufig zu lesenden Darstellungen - keine Neuerung dar.

172 Abschlußbericht, a.a.O. Kritisiert wurde auch die vom allgemeinen Schuldrecht getrennte Regelung des Gewährleistungsrechts bei Kauf- und Werkvertrag; die fehlende Abstimmung zwischen den beiden Regelungskomplexen bilde seit dem Inkrafttreten des BGB eine unerschöpfliche Quelle von Streitigkeiten. 173 Eigenständige Haftungsnorm stellen lediglich noch die §§ 311 a Abs. 2, 536a und 651 f dar (anfängliche Leistungshindernisse). 174 H. M., vgl. nur Palandt-Heinrichs, § 280 Rn 4. Obwohl dieses Verhältnis von Anspruchstatbestand und Voraussetzungsmodifikation in § 280 Abs. 2 und 3 für die §§281 ff klar niedergelegt ist, wird gelegentlich die gegenteilige Meinung vertreten. Das mag insbesondere daran liegen, das in den §§ 281, 282 und 283 trotz der vorangegangenen Erwähnung des Grundtatbestandes in den §§ 280 Abs. 2 und 3 noch einmal auf § 280 Abs. 1 Bezug genommen wird. Diese in der Tat schwer nachvollziehbare tatbestandliche Doppelung bringt das angestrebte Verhältnis von Grundtatbestand und Ergänzung wieder aus dem Takt (vgl. insoweit auch Antrag Nr. 22 des Bundesrates, Drucksache 338/01). Ehmann!Sutschet, § 4 V 2a (S. 104) halten die Entscheidung dieser rechtssystematischen Frage für entbehrlich, da sie keinerlei Einfluß auf die Rechtsfolgen hat. 175 Vgl. auch den dementsprechenden Aufbau des Entwurfs einer Regelung der Leistungsstörungen von Larenz für die Akademie für Deutsches Recht (1940); abgedruckt

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Eine Neuerung 176 liegt aber in anderer Hinsicht vor: Das neue System wählt den umgekehrten Weg der alten §§ 280 ff., indem es die Betrachtung der einheitlichen Rechtsfolgen als Ausgangspunkt der Regelung nimmt. Der Schwerpunkt wird von den Tatbestandsvoraussetzungen zu den Rechtsfolgen hin verlegt. 177 Die verschiedenen Störungstatbestände sind nicht mehr wie im alten Leistungsstörungsrecht gedanklicher Ausgangspunkt, sondern Anlaß zur Modifikation der durch das einheitliche Tatbestandsmerkmal „Pflichtverletzung" ausgelösten Rechtsfolgen. Das Leistungsstörungsrecht des BGB 1900 hatte hingegen vielfach als Ausgangspunkt seiner Regelung den jeweiligen Störungstatbestand 178 gewählt und daran anknüpfend die Rechtsfolgen dieses Störungstatbestandes normiert. Dies hatte zur Folge, daß gleiche oder ähnliche Rechtsfolgen (Leistungsbefreiung, Voll- oder Teilrücktritt, Schadensersatz etc.) mehrfach 179 geregelt waren und eine Reihe von Störungstatbeständen als Voraussetzungen der jeweiligen Rechtsbehelfe entstanden.180 Mit der Unmöglichkeit und dem Verzug wurden Störungstatbestände aufgenommen, die zwei der möglichen Störungen im Schuldverhältnis tatbestandlich klar eingrenzen. Löst man die diesen Störungstatbeständen zugrunde liegende Verflechtung von Leistungspflichten und Schutzpflichten, um die Vorgänge im Organismus Schuldverhältnis freizulegen, so stellen zu vertretende Unmöglichkeit und Verzug schon die Folgen dar, die von einer anderen, davor liegenden Schutzpflichtverletzung für die Leistungspflicht ausgehen: Unmöglichkeit und Verzug sind bei genauerer Betrachtung die dauerhafte bzw. vorübergehende Nichterfüllung der Leistungspflicht, die ih-

bei W. Schubert (Hrsg.), Akademie für Deutsches Recht 1933-1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. III, 5 (1993), S.l 10 ff. 176 Eine weitere Neuerung des Leistungsstörungsrechts stellt der duale Ansatz bezüglich der Schuldnerbefreiung von Primär- und Sekundärpflicht dar: Das Schicksal der Primärleistungspflicht und die Haftung des Schuldners auf Schadensersatz als Sekundärleistung werden unabhängig voneinander geregelt. 177 Diese Verlegung des Schwerpunkts der Regelung auf die Rechtsfolgen gibt manchen Gesetzesanwendern Anlaß zu ungewöhnlichem Vorgehen: Recker (in NJW 2002 S. 1247) ζ. B. fordert auf, die Zuordnung eines Sachverhalts nun nicht mehr von der Tatbestandsseite her vorzunehmen, sondern nur noch von der Rechtsfolgenseite. 178 H; Leser, in: Festschrift für E. Wolf( 1985) S. 373, 384 spricht insoweit von einer Konkretisierung der allgemeinen Haftung in Einzelformen; U. Huber, in: Festschrift für von Caemmerer (1978) S. 837, 868 von typischen Einzeltatbeständen; Wiedemann , in: FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr Feier der Universität zu Köln (1988), S. 367, 369 bezeichnet diese Vorgehensweise als Ausrichtung nach Störungsarten bzw. nach der Art des Hindernisses. 179 Diese Mehrfachregelung gleicher Rechtsfolgen wurde noch verstärkt durch die jeweils eigene Regelung für ein- bzw. gegenseitige Schuldverhältnisse. 180 Eine Zusammenfassung der Regelungen erreicht das BGB erst wieder bei den weiteren Rechtsfolgen der Rechtsbehelfe; diese sind in §§ 249-254 für den Schadensersatz und in §§ 346 - 361 für den Rücktritt grundsätzlich einheitlich geregelt.

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ren Grund in einer Schutzpflichtverletzung des Schuldners hat, §§ 280, 284 ff., 325, 326 BGB 1900. Im Falle der zu vertretenden Unmöglichkeit fuhrt eine Schutzpflichtverletzung zum dauerhaften Ausbleiben der Erfüllung der Leistungspflicht; im Falle des Verzuges führt eine Schutzpflichtverletzung zum vorübergehenden Ausbleiben der Erfüllung der Leistungspflicht. 181 Ihren Zusammenhang mit der Haftung gewinnt die Nichterfüllung aber erst aus der kausalen Verknüpfung mit dem Sorgfaltspflichtverstoß, der in der Schutzpflichtverletzung liegt; für sich gesehen hat die Nichterfüllung keine zwingende Verbindung zu einem Schuldnerverhalten und vermag deswegen auch keine Haftung auszulösen. In den §§ 280, 325 BGB 1900 zeigte sich auf diese Weise auch deutlich der schon geschilderte Vorrang der Naturalerfüllung 182 : Solange die Erfüllung der Primärleistung noch grundsätzlich möglich ist, waren Schuldner und Gläubiger auf diese beschränkt. Eine Schutzpflichtverletzung, die auf den Bestand der Primärleistungspflicht ohne Einfluß ist, führte daher lediglich zur Schadensersatzpflicht auf das Interesse am Nichteintritt der Verletzung, das neben die Leistungspflicht tritt. 1 8 3

4.

a)

Schadensersatzansprüche des Gläubigers bei vorübergehender Unmöglichkeit § 280 Absatz 1 als allgemeiner Haftungstatbestand

Als Grundtatbestand der Schadensersatzhaftung des Schuldners formuliert § 280 Abs. 1 S.l:

181 Die §§ 280, 284 ff, 325 und 326 BGB 1900 waren also eine tatbestandliche Momentaufnahme, die schon die Folge des sorgfaltswidrigen Schuldnerverhaltens für die Schutzpflicht und den Erwerbsanspruch wiedergab und daran eine Rechtsfolge knüpfte: Schadensersatz wegen Nichterfüllung konnte nicht schon bei bloßer (also unter Umständen vorübergehender) Nichterfüllung vom Schuldner erbracht bzw. vom Gläubiger verlangt werden, sondern nur, wenn und soweit die Leistung unmöglich geworden war. 182 Mot. II S. 49 f; Jakobs!Schubert, Das Recht der Schuldverhältnisse I, S. 274; I. Neumann, Leistungsbezogene Verhaltenspflichten (1989), S. 73 ff; Himmelschein, AcP 135 (1932) S. 258, 274; Stoll , AcP 136 (1932) S. 257, 273 ff m. w. N.; Brehm, JuS 1989 S. 539. 183 Eine Sonderstellung nahm insoweit § 283 BGB 1900 ein. Diese Vorschrift halfvereinfacht dargestellt - dem Gläubiger einer gegenseitigen Leistungspflicht, wenn das Ausbleiben der Leistung keiner der Störungsformen Unmöglichkeit und Verzug eindeutig zugeordnet werden kann, indem er zunächst weiter auf Erfüllung klagen kann und nach ergebnislosem Fristablauf dann gemäß § 325 Abs. 2 BGB 1900 das ius variandi des § 325 Abs. 1 BGB 1900 hatte. Diese Vorschrift eröffnete dem Gläubiger also die Möglichkeit, sich auch ohne den Nachweis von Verzug oder Unmöglichkeit von seiner vertraglichen Bindung zu lösen bzw. Schadensersatz wegen Nichterfüllung zu verlangen.

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„ Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstandenen Schadens verlangen. " Gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 gilt dies jedoch nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. 184 Satz 2 stellt damit die Verschuldensabhängigkeit der Haftung auf Schadensersatz klar. 1 8 5

(1) § 280 Absatz 1 vor dem Hintergrund der culpa-Hafitung Die Gesetzesverfasser verstehen den allgemeinen Haftungstatbestand als eine Weiterentwicklung und Verallgemeinerung der Grundsätze über die Haftung wegen positiver Forderungsverletzung. Für das Merkmal der Pflichtverletzung soll es nicht von Bedeutung sein, auf welchen Gründen sie beruht oder welche Folgen sie hat. Insbesondere sei es nicht entscheidend, ob die Pflichtverletzung darin liege, daß dem Schuldner die Leistung von Anfang an unmöglich war oder daß sie ihm nachträglich unmöglich geworden ist. Unmöglichkeit und Verzug sollen damit nicht mehr besondere und eigenständig geregelte Formen der Leistungsstörung sein. Rechtsfolge einer schuldhaften Pflichtverletzung ist, daß der von der Pflichtverletzung betroffene Gläubiger Anspruch auf Ersatz des adäquat kausal entstandenen Schadens hat; dieser Anspruch tritt neben den Erfüllungsanspruch. Ersetzt wird nach § 280 Abs. 1 das Interesse am Nichteintritt der Verletzung, ausgeglichen wird also die Beeinträchtigung des sog. Integritätsinteres™ 186 ses. Mit § 280 Abs. 1 ist dem wichtigen Problem der allgemeinen Haftung für Schutzpflichtverletzungen die ausdrückliche Lösung wieder gegeben worden, die durch die Streichung des § 224 I seines ersten Entwurfes dem BGB verloren ging. So begrüßenswert das im Ergebnis ist, so sehr muß jedoch auch daran erinnert werden, daß die allgemeine Haftung für schuldhafte Schutzpflichtverletzung keine Fortentwicklung ist, sondern eine Rückbesinnung auf die Anfänge des BGB, auf eine Gesetzgebungsgeschichte, angesichts derer diese Frage überhaupt nie hätte zum Problem werden dürfen. Einer der tragenden Gründe für die zahlreichen Mißverständnisse und die am Leistungsstörungsrecht in seiner alten Fassung geübte Kritik ist die scheinbare Beschränkung des allgemeinen Schuldrechts auf die Regelung der Leistungs184

Die Behauptungs- und Beweislast für das fehlende Verschulden liegt (entsprechend der §§ 282, 285 a. F.) beim Schuldner, wie sich aus der Fassung der Vorschrift ergibt. 185 Zum Verschulden vgl. Ehmann/Sutschet, § 4 V 2a (S. 102 f.). 186 Vgl. auch Ehmann/Sutschet, § 2 III lb, § 4 V 2a (S. 20 und 104 f ) und insgesamt in § 4 zur Unterscheidung von Integritätsinteresse und negativem Interesse. Unzutreffend z.B. Recker in NJW 2002, S. 1247.

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pflicht und ihrer Störungsformen Unmöglichkeit und Verzug, die letztlich dazu führte, daß sich die Haftungsfigur der positiven Vertragsverletzung etablierte, um die Verletzung der Schutzpflichten erfassen zu können. Unnötigerweise, denn gleich zu Beginn der Vorarbeiten zum BGB hatte ein allgemeiner Haftungstatbestand Eingang in die Vorschriften über die Wirkungen der Schuldverhältnisse im Allgemeinen gefunden. 187 Dieser Haftungstatbestand wurde auch in den ersten Entwurf des BGB übernommen, der mit § 224 daher noch eine allgemeine und ausdrückliche Haftungsgrundlage enthielt, die die culpa-Haftung wiedergab: „Der Schuldner ist verpflichtet, die nach dem Schuldverhältnis obliegende Leistung vollständig zu bewirken. Er haftet nicht blos wegen vorsätzlicher sondern auch wegen fahrlässiger Nichterfüllung seiner Verbindlichkeit. ( ... )". Haftungsgrund nach § 224 des ersten Entwurfs ist also die schuldhafte Verletzung einer Schutzpflicht. Dies ergibt sich aus dem Begriff des vollständigen Bewirkens, wie die Kommission ihn ausweislich der Materialien verstand. 188 Die Kommission sah im vollständigen Bewirken nämlich nicht nur die Erfüllung der Leistungspflicht, sondern auch die umfassende Sorgfalt (custodia) des Schuldners zum Schutz der Güter des Gläubigers. Eine ausdrückliche, im Zusammenhang mit § 224 als Grundtatbestand für Pflichtverletzungen stehende Normierung allgemeiner Nebenpflichten, die dem Schutz des Gläubigers und des Schuldners dienen, erschien den Verfassern jedoch überflüssig. Sie sollten in jedem einzelnen Fall durch Auslegung des Parteiwillens gefunden werden bzw. wurden stellenweise bei den einzelnen Schuldverhältnissen normiert 189 , da es von der Kommission für unmöglich gehalten wurde, „den

187

Die Entstehungsgeschichte des § 276 BGB 1900 ist bis zu der Abhandlung von Himmelschein, AcP 135 (1932) S. 253 ff, nicht herangezogen worden. Sie ist auch später (durch Heck, AcP 137 (1933) S. 259 ff) nur noch ein Mal (in Erwiderung zu den Ausführungen Himmelscheins) im Rahmen der Auseinandersetzung um einen allgemeinen Haftungstatbestand untersucht worden. Himmelschein a.a.O. S. 315, 316 versucht dies mit der geschichtsfeindlichen Wirkung einer jeden Kodifikation und der Ablösung der historischen Schule durch die Begriffsjurisprudenz zu erklären. Im Anschluß an Jakobs, S. 17 ff, der 1969 diesen unentbehrlichen Begründungsansatz wieder aufgriff ist die Gesetzgebungsgeschichte jedoch erneut in den Blickpunkt gerückt, vgl. z.B. F. Westhelle, Nichterfüllung und positive Vertragsverletzung (1978), S. 16 ff; Evans-von Krbek in AcP 179 (1979) S. 89, 105; U Huber, in: Festschrift für von Caemmerer (1978), S 837, 840 ff ; Jakobs a.a.O. und Gesetzgebung im Leistungsstörungsrecht (1985) S. 16 ff; C. Wollschläger, Die Entstehung der Unmöglichkeitslehre (1970), S. 180; E. Picker, AcP 183 (1983) S. 369, 467 ff; S. Weber-Will! R. Kern, JZ 1981 S. 257, 260 f; Neumann, S. 45 ff; G. Brüggemeier, Referat auf dem DJT 1994, abgedruckt in Bd. II/l, Referat Κ 56 ff der Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentags. 188 Mot. II, S. 26 ff; vgl. auch S. 460 und Rust , in diesem Band unter III 2 a). 189 Bei diesen haben die Verfasser des ersten Entwurfes eine Vielzahl einzelner Obhuts-, Fürsorge-, Anzeige- und sonstiger Sorgfaltspflichten normiert; vgl. die Aufzählung der Vorschriften bei Kreß, S. 7 fund S. 580.

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Umfang und den Inhalt einer Schuldverbindlichkeit Nebenpunkten genau zu beschreiben ". 190

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nach allen Richtungen und

Erst durch die Redaktionskommission wurde § 224 des ersten Entwurfs in die §§ 157, 242, 276, 277 BGB 1900 zerstückelt, so daß der allgemeine Haftungstatbestand für jede Schutzpflichtverletzung nicht mehr klar aus dem Gesetz abzulesen war. Der Weg war damit frei für das hartnäckige MißVerständnis, das BGB kenne keinen allgemeinen Haftungstatbestand. Auch das Reichsgericht, das im Bewußtsein der allgemeinen culpa-Haftung noch lange nach Inkrafttreten des BGB zur Begründung der Haftung § 276 BGB 1900 heranzog 191, trennte sich schließlich von diesem Ansatz und bediente sich stattdessen der Grundsätze des positiven Vertragsverletzung, um zur Begründung eines Rücktrittsrechts 192 auf die analoge Anwendung von § 326 BGB 1900 zurückgreifen zu können. 193 Die positive Vertragsverletzung war aber eine Fehlentwicklung und ein Rückschritt 194 gegenüber einer gesicherten Rechtserkenntnis insofern, als sie das anerkannte und auch positivrechtlich im BGB nachweisbare Prinzip der allgemeinen Haftung für jede schuldhafte Pflichtverletzung verdeckte, indem sie eine vermeintliche Lücke zu schließen versuchte. Ob eine derartige Lücke überhaupt bestand, ist zweifelhaft. Durch die Neufassung bzw. Aufspaltung des § 224 I des ersten Entwurfes war keinesfalls ein eigenmächtiger Bruch mit der anerkannten culpa-Haftung beabsichtigt. Daß der Schuldner verpflichtet ist, seiner ihm nach dem Schuldverhältnis obliegenden Verpflichtung Jhrem ganzen Umfange nach, insbesondere auch in Ansehung aller Nebenpunkte" nachzukommen und im Falle der Pflichtverletzung gemäß dem allgemeinen Haftungstatbestand, § 224 Schadensersatz zu leisten habe 195 , war dem Gesetzgeber eine Selbstverständlichkeit. Eine Normierung dieses Haftungsgrundsatzes empfand die Redaktionskommission daher als überflüssig und sie beschränkte sich darauf, mit den Vorschriften über Unmöglichkeit und Verzug

190

Mot. II, S. 26. U. Rust, Das kaufrechtliche Gewährleistungsrecht (1997), § 3 I 4 b weist zutreffend daraufhin, daß das Reichsgericht uneingeschränkte Zustimmung verdient hätte, wenn es die allgemeine Verschuldenshaftung an den §§ 157, 242, 276 BGB 1900 festgemacht hätte. 192 In den Fällen der Gefährdung des Vertragszwecks durch Erfüllungsverweigerung, Schlechtlieferung in Sukzessivlieferungsverträgen und bei Unzumutbarkeit der Vertragsfortsetzung. 193 Markant tritt diese Erwägung zutage in der Formulierung J. W. Hedemanns, Schuldrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (1931) S. 168: „Unzweifelhaft ist ein praktisches Bedürfnis gegeben,...dem Gläubiger wahlweise auch ein Rücktrittsrecht einzuräumen. (...) Darum ist es am beliebtesten, die Lehre von den positiven Vertragsverletzungen auf eine Analogie zu...den §§ 325 und 326 BGB aufzubauen." 194 So auch Himmelschein, AcP 158 (1959/60) S. 273, 278. 195 Vgl. Mugdan II, Motive S. 14. 191

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lediglich besondere Ausformungen dieser Grundregel als Störungstatbestände zu normieren. 196 Bei der Unmöglichkeit besteht diese Abweichung zur Grundregel, die zur eigenständigen Normierung drängt, darin, daß die sekundäre Haftung auf das positive Interesse an die Stelle der primären Leistungspflicht tritt; beim Verzug hingegen ergibt sich diese Abweichung daraus, daß für die Haftung zu der schuldhaften Pflichtverletzung noch die erfolglose Mahnung als weitere Voraussetzung hinzutreten muß. Der neue § 280 Abs. 1 füllt also keine Lücke, sondern ist vielmehr insoweit deklaratorisch, als das Prinzip der allgemeinen Haftung für jede schuldhafte Schutzpflichtverletzung dem BGB schon immer zugrunde lag und aus seinen Normen und Zusammenhängen abzulesen war. 197 Eine Gesetzeslücke wäre durch § 280 Abs. 1 nur geschlossen worden, wenn die Voraussetzung der Geltung des allgemeinen Haftungstatbestands seine ausdrückliche Normierung in einer eigenen Vorschrift gewesen wäre. Ungeachtet der Frage, ob eine Lücke, die es durch die p W zu schließen galt, jemals vorgelegen hat, sollte aber spätestens seit dem Inkrafttreten des neuen Schuldrechts einheitlich davon abgesehen werden, im Zusammenhang mit der allgemeinen Haftung noch von der Anwendung der Grundsätze der pVV zu sprechen. Es dürfte unnötige Verwirrung stiften, diese Figur im zivilrechtlichen Haftungskanon - auch nur terminologisch - weiterzufuhren.

196

Schon früh fand sich in der Literatur die Auffassung, daß der Gesetzgeber es gerade wegen der Selbstverständlichkeit eines allgemeinen Haftungstatbestandes als überflüssig erachtet hat, einen solchen zu normieren. So schreibt H. Lehmann 1911 (Die Unterlassungspflicht im Bürgerlichen Recht, S. 276 f), daß man diesen Grundsatz dem Gesetzgeber als einen selbstverständlichen, in seiner Allgemeinheit nicht ausgesprochenen zuschreiben müsse, eine Ausgestaltung der Ersatzpflicht im allgemeinen Teil des Rechts der Schuldverhältnisse erscheine eben nicht nötig. Allein deshalb seien diese Fälle im Gesetz nicht besonders geregelt, nicht aber, weil die Rechtsfolge der Ersatzpflicht abgelehnt werden solle. In diesem Sinne äußert sich auch Jakobs (Gesetzgebung im Leistungsstörungsrecht (1985), S. 16 ff)· Jakobs sieht die Gründe für das Vorgehen der Redaktionskommission keineswegs in einem Versehen, sondern in einer bewußten Entscheidung. Die Verfasser hätten hinsichtlich des Maßstabes der Verständlichkeit des Gesetzes einen Juristen im Auge gehabt, der in der Gegenwart jedenfalls nicht in genügendem Maße zu finden sei. Aufgabe der Kodifikation sei es gewesen, den sich von selbst verstehenden Grundsatz durchzuführen und im Gesetz sei deshalb nur zu denjenigen Fragen etwas zu sagen, deren Entscheidung durch die Prinzipien nicht mit Selbstverständlichkeit gegeben ist. Das Fehlen eines solchen ausdrücklichen Grundtatbestandes reduziere sich damit fast auf eine Geschmacksfrage. 197 Himmelschein, AcP 158 (1959/69), S. 273, 293, ist uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er ausführt: „Eine Theorie, die die angebliche Lückenhaftigkeit des Gesetzes ... erklären will, baut daher auf ganz sandigem Grund."

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(2) § 280 Abs. 1 und vorübergehende Unmöglichkeit Im Beispielsfall wird sich der Kunde des säumigen Lieferanten bald die Frage stellen, ob und auf welcher gesetzlichen Grundlage er den Schaden geltend machen kann, der ihm daraus entsteht, daß er das vertraglich geschuldete Gut nicht erhält. Prima facie scheint ihm schon § 280 Abs. 1 einen Anspruch auf Schadensersatz zu geben, denn dessen Tatbestandsvoraussetzungen liegen vor. Erste Tatbestandsvoraussetzung ist, daß der Lieferant eine Schutzpflicht gegenüber dem Kunden hat. Dies ist der Fall, denn der Lieferant hat aufgrund des Vertrages mit dem Kunden die Schutzpflicht, für sein Leistungsvermögen im Zeitpunkt der Fälligkeit Sorge zu tragen. Der Frage, welche leistungsbezogenen Pflichten den Schuldner treffen, soll an dieser Stelle vertieft nachgegangen werden. Zu bedenken ist dabei vor allem, daß dem Leistungsanspruch des Gläubigers nicht lediglich eine eindimensionale Pflicht des Schuldners korrespondiert. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich diese Pflicht vielmehr als ein Bündel von Einzelpflichten, die darauf bezogen sind, den vereinbarten Leistungserfolg zu bewirken (§ 362) oder seine Gefährdung zu verhüten. Diese Pflichten dienen also der Erbringung, Förderung und Sicherung des Erfüllungsinteresses. 198 Inhaltlich sind die Schutzpflichten, die den Bereich der Erfüllung, ihrer Vorbereitung und Durchführung betreffen, vielgestaltig. In Betracht kommen Pflichten zur sorgfältigen Auswahl und Untersuchung des Leistungsgegenstandes sowie zu seiner Obhut und Erhaltung, aber auch Auskunfits-, Aufklärungs- und Beratungspflichten, Rechenschaftsund Mitwirkungspflichten. 199 Darüber hinaus ist der Schuldner verpflichtet, alles zu unterlassen, was den Leistungserfolg während, nach oder vor der Erfüllungsphase gefährden oder vereiteln könnte. Der Gesetzgeber hat die Konkretisierung dieser Verhaltenspflichten im allgemeinen Schuldrecht der Vertragsauslegung im Einzelfall überlassen. Das ist einleuchtend, denn das zur Erreichung des Vertragszweckes erforderliche Verhalten des Schuldners ist zwar am gemeinsam vereinbarten Zweck auszurichten und insoweit auch von Art und Inhalt des Schuldverhältnisses geprägt, es läßt sich aber wegen der Verschiedenheit der einzelnen Situationen und Anforderungen kaum konkret vorherbestimmen. 200

198

Die Hauptleistungspflicht ist vor diesem Hintergrund nur ein abstrakt umrissener Leistungserfolg, der je nach Art und Verknüpfung im Schuldverhältnis den Typus des betreffenden Schuldverhältnisses bestimmt. Sie erscheint zudem, betrachtet man sie zu irgendeinem Zeitpunkt nach Vertragsschluß aus der Gläubigerperspektive, als der letzte Akt, die Verwirklichung des Leistungserfolges. 199 Die Mitwirkungspflichten können unter Umständen auch den Gläubiger betreffen. 200 Vgl. zu den Schutzpflichten Ehmann!Sutschet, § 4 III (S. 71 ff).

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Im Beispielsfall ergibt sich im Wege der Vertragsauslegung (§§ 133, 157) unter Berücksichtigung des Vertragszwecks die Pflicht des Lieferanten, rechtzeitig die Ausfuhrgenehmigung einzuholen, um im Zeitpunkt der Fälligkeit an seinen Kunden leisten zu können. Diese Schutzpflicht hat er verletzt, da er die rechtzeitige Beantragung der Genehmigung versäumt hat. Die Schutzpflicht ist die objektive Sorgfaltspflicht im Sinne des § 276 Abs. 1, ihre Verletzung begründet zugleich die Rechtswidrigkeit, die Teil des Verschuldens ist. Die Verletzung muß darüber hinaus jedoch auch schuldhaft erfolgt sein, d.h. die Sorgfaltspflichtverletzung muß vorhersehbar und vermeidbar gewesen sein, § 276 Abs. I . 2 0 1 Dieser innere Sorgfaltspflichtverstoß ist ebenfalls zu bejahen, da der Lieferant den Zeitraum, den die Erteilung der Genehmigung gewöhnlich in Anspruch nimmt, kennt, trotzdem aber nicht rechtzeitig gehandelt hat. Die Voraussetzungen für einen Anspruch aus § 280 Abs. 1 liegen damit vor. 2 0 2 Gleichwohl reicht das Vorliegen dieser Voraussetzungen für einen Anspruch des Gläubigers nicht. Aus der oben geschilderten Systematik ergibt sich, daß weitere Voraussetzungen hinzutreten müssen203, denn der Schaden, den der Gläubiger geltend macht, entsteht ihm durch das vorübergehende Ausbleiben der Leistung. Für den Schaden wegen Verzögerung der Leistung ist aber gemäß § 280 Abs. 2 der § 286 lex specialis, für den darüber hinausgehenden Schadensersatzanspruch statt der Leistung gibt § 280 Abs. 3 den §§ 281-283 BGB tatbestandlichen Vorrang.

b)

§§ 280 Abs. 2 i. V.m. 286, Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung

Im Anschluß an § 280 Abs.l findet sich mit Abs. 2 die erste Modifizierung der allgemeinen Haftung: „Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung kann der Gläubiger nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 286 verlangen. "

201 Fahrlässigkeit als die innere (subjektive) Sorgfaltspflichtverletzung, vgl. Ehmann/Sutschet, § 4 V 2 b (1) (S. 102). 202 Die erforderliche Kausalität zwischen der schuldhaften Pflichtverletzung und dem eingetretenen Vermögensschaden liegt unproblematisch vor. 203 Anders wohl MÜKO-£/TJS/, der § 280 Abs. 1 mit der Begründung anwenden will, daß die Herbeiführung der vorübergehenden Unmöglichkeit eine Pflichtverletzung i.S.d. § 280 Abs. 1 darstellt, vgl. § 275 Rn 146.

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( 1 ) Verzug im neuen Haftungssystem In Inhalt und Voraussetzungen nahezu unversehrt, nimmt das neue Recht damit den Störungstatbestand Verzug wieder in ihr System auf. Der Konzeption entsprechend, nach der § 280 Abs. 1 den Grundtatbestand für jede Schadensersatzpflicht darstellt, setzt der , Anspruch auf Ersatz des Verzögerungsschadens" als erstes eine Schutzpflichtverletzung voraus. Diese liegt darin, daß der Schuldner die mögliche Leistung trotz Einredefreiheit und Fälligkeit der Forderung nicht erbringt. 204 Die Schutzpflichtverletzung führt zum objektiven Ausbleiben des rechtzeitigen Leistungserfolgs, zur Leistungsverzögerung. 205 Entsprechend der bisherigen Rechtstradition soll die bloße schuldhafte Leistungsverzögerung jedoch für eine Schadensersatzpflicht (und weitere Nachteile) des Schuldners nicht ausreichen. Vielmehr sollen derartige Nachteile den Schuldner erst im Verzug treffen, der durch die erfolglose Mahnung begründet wird. 2 0 6 § 280 Abs. 2 verweist daher auf die zusätzlichen Voraussetzungen des § 286, der im wesentlichen die bisherigen §§ 284, 285 a. F. ersetzt. Davon ausgehend, daß die Nichtleistung bei Fälligkeit eine Schutzpflichtverletzung ist, wird mit dem zusätzlichen Erfordernis der Mahnung eine Haftung des Schuldners ausgeschlossen, die nach dem allgemeinen Haftungstatbestand (§ 280 Abs. 1) bereits eingetreten sein müßte.

204 Wie bei der zu vertretenden Unmöglichkeit verstellt auch beim Verzug die Typisierung der Störung und die damit einhergehende Verflechtung von Leistungspflichten und Schutzpflichten den Blick für die eigentlichen Vorgänge im Organismus Schuldverhältnis. Unscharf bzw. kontrovers sind dementsprechend auch die gängigen Beschreibungen der zu vertretenden Leistungsverzögerung. Häufig anzutreffen ist die vage Formulierung, betroffen sei beim Verzug die Art und Weise der Erfüllung nicht als eigenständige Pflicht, sondern als Modalität der Leistungspflicht, so zum Beispiel Esser/Schmidt, Schuldrecht Bd. I, Teilband 1 (8. Aufl.) § 6, § 15 II 3; Neumann a.a.O. S. 106. Vertreten wird auch, Verzug sei zeitliche Schlechterfüllung (Fikentscher, (8. Aufl.) S. 209) oder die Verletzung einer formell in die Leistungspflicht integrierten Verhaltens- oder Sorgfaltspflicht zur Bewirkung der Leistung zur rechten Zeit (Evans-von Krbek, AcP 179 (1979) S. 85, 124 f, 139). Noch einen anderen Ansatzpunkt nahmen die Ansichten ein, die im Verzug nur einen Fall teilweiser Unmöglichkeit, nämlich in Anbetracht der Zeit der Leistung sahen, vgl. z.B. Himmelschein, AcP 135 (1932) S. 255, 286, 291 ff, 297). 205 Anv/a\tK~Dauner-Lieb, § 280 Rn 43, vertritt die Ansicht, daß auch bei jeder Schlechterfüllung die Verzugs Vorschriften zur Anwendung kommen könnten, da die Schlechterfüllung immer auch eine Verzögerung der ordnungsgemäßen Erfüllung mit sich bringe. Dagegen zutreffend MüKo-£ray/, vor § 275 Rn 13. 206 Zum doppelten Verschuldenserfordernis (§ 286 Abs. 4 ) vgl. Ehmann!Sutschet, § 4 V 3 b (S. 113), Krause, Jura 2002 S. 217, 222, Schimmel!Buhlmann, MDR 2002 S. 609,612.

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Der Schadensersatzanspruch nach §§ 280 Abs. 2, 286 tritt neben den Leistungsanspruch des Gläubigers. 207 Er umfaßt den Schaden des Gläubigers, der gerade darauf beruht, daß die Leistung nicht rechtzeitig erbracht wurde, der also adäquat durch die Schutzpflichtverletzung verursacht wurde, wie ζ. B. einen etwaigen Nutzungsausfall, Kosten fur vorübergehenden Ersatz und entgangenen Gewinn. Die Formulierung des § 280 Abs. 2, nach dem „Schadensersatz wegen Verzögerung" nur unter den Voraussetzungen des § 286 verlangt werden kann, ist in zweifacher Hinsicht unglücklich gewählt. Zum einen, da es einen Schadensersatzanspruch wegen der bloßen Verzögerung ja gerade nicht geben soll 2 0 8 , zum anderen aber, weil unter dem „Schadensersatz wegen Verzögerung" auch der wegen der Verzögerung eingetretene Nichterfüllungsschaden verstanden werden kann, der allerdings nicht § 286 unterfällt. 209 Die Gesetzesverfasser wären daher gut beraten gewesen, es nicht nur tatbestandlich beim Verzug zu belassen, sondern auch dementsprechend terminologisch beim „Verzugsschaden". Daß sie ohne Not den (im BGB bisher unbekannten) Begriff des „Verzögerungsschadens" einführten, mag am unreflektierten Rückgriff auf den Diskussionsentwurf von 1992 liegen, der entsprechend seiner Grundkonzeption versucht hatte, alle Störungstatbestände einschließlich des Verzugs im Tatbestand der Pflichtverletzung aufzulösen und daher in seinem § 280 Abs. 2 Satz 2, der zum heutigen § 280 Abs. 2 nahezu wortgleich ist, auch terminologisch vom Verzug Abschied nehmen wollte. Eine weitere, systematische Unstimmigkeit zeigt sich bei den Fällen der Mahnungsentbehrlichkeit, die Absatz 2 aufzählt. In Abweichung zu den frühen Entwurfsstadien ist dem Gesetz mit § 286 Abs. 2 Nr. 3 ein weiterer Tatbestand eingefügt worden, der beim Verzug zur Mahnungsentbehrlichkeit führt. Nr. 3 bestimmt, daß es der Mahnung nicht bedarf, wenn „der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert". Diese Fallkonstellation ist jedoch insoweit für § 286 ein Fremdkörper, als die endgültige Verweigerung der Leistung zur dauerhaften Nichterfüllung führt und damit durch § 281, den Schadensersatz statt der Leistung erfaßt wird. Dieser Schadensersatzanspruch erfaßt (zumindest

207 Daneben tritt gemäß § 287 eine Haftungsverschärfung für den Schuldner ein. Erhöht wird durch § 287 die Spannung der Schuld, vgl. Kreß, S. 434. Wird die Leistung während des Verzuges durch Zufall (d.h. durch von keiner der Parteien zu vertretende Umstände) unmöglich, so ist der Schuldner in der Regel ohne weiteres verantwortlich. 208 Aus Sicht der Gesetzesverfasser wäre es daher konsequent und sachlich zutreffender gewesen zu formulieren: „Bei Verzögerung der Leistung kann der Gläubiger Schadensersatz nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 286 verlangen". Problematisch wäre diese Formulierung aber, weil auch § 281 einen Schadensersatzanspruch bei Verzögerung geben kann. 209 Sondern § 281 Abs. 1. Hierauf weisen schon Ehmann/Sutschet, § 2 I V 3 , § 4 V 2 b (S. 26, 106) hin.

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nach altem Recht) auch einen etwaigen Verzögerungsschaden, so daß der zusätzliche Rückgriff auf die Verzugsregeln überflüssig ist.

(2) §§ 280 Absatz 2 i. V. m. 286 und vorübergehende Unmöglichkeit Im vorangegangenen Abschnitt wurde festgestellt, daß im Beispielsfall der vorübergehenden Unmöglichkeit (Leistungsverzögerung wegen fehlender Ausfuhrgenehmigung) zwar die Tatbestandsvoraussetzungen des § 280 Abs. 1 vorliegen, für einen Schadensersatzanspruch des Kunden zu dem Grundtatbestand jedoch weitere Voraussetzungen hinzutreten. In der Praxis wird der Schadensersatz wegen Verzugs wohl im Vordergrund des Gläubigerinteresses stehen, da er auf diese Weise den Ausgleich der entstandenen Schäden mit seinem (fortbestehenden) Leistungsanspruch kombinieren kann, was häufig seiner tatsächlichen Interessenlage entspricht. Will der Kunde den Schaden geltend machen, der ihm aus der Leistungsverzögerung entstanden ist (z.B. Gewinnausfall), so muß er den Lieferanten zunächst in Verzug setzen. Liegt (z.B. wegen eines festen Leistungstermins, § 286 Abs. 2 Nr. 1) keine Mahnungsentbehrlichkeit vor, erreicht er das durch eine erfolglose Mahnung, § 286 Abs. 1. Da der Lieferant sich nicht für die Suspendierung seiner Leistungspflicht auf einen der Fälle des § 275 berufen kann, stellt es zum einen für den Kunden kein Problem dar, daß der Verzug die Fälligkeit der Leistung voraussetzt, zum anderen ist für ihn der Umstand unerheblich, daß § 275 Abs. 4 als Recht des Gläubigers die Geltendmachung eines Verzugsschadens nicht vorsieht.

c)

§ 280 Absatz 3 i. V. m. §§ 281, 282, 283, Schadensersatz statt der Leistung

Die zweite Abweichung vom Grundtatbestand des § 280 Abs. 1 ist der „Schadensersatz statt der Leistung", für den § 280 Abs. 3 auf drei unterschiedliche Normen verweist, nämlich auf die §§ 281, 282 und 283.

( 1 ) §281, Schadensersatz statt der Leistung wegen nicht oder nicht wie geschuldet erbrachter Leistung Wie im alten BGB soll auch im neuen Leistungsstörungsrecht der Vorrang der Erfüllung der Primärleistung vor dem sekundären Schadensersatzanspruch,

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der an dessen Stelle tritt, sichergestellt werden. 210 Relevant wird dies in § 281 Abs. 1, denn § 281 Abs. 1 erfaßt Konstellationen, in denen die Verletzung einer Schutzpflicht nicht zum dauerhaften Ausbleiben der Leistung fuhrt, die Erfüllung der Leistung also noch möglich ist. Daß gleichwohl dem Gläubiger der Übergang auf die sekundäre Schadensersatzebene ermöglicht wird, bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung. An die Stelle des Störungstatbestandes Unmöglichkeit als objektiver Bezugspunkt für den Übergang soll die neue Regelung diese Rechtfertigung in der erfolglosen Fristsetzung finden 211: Der Vorrang der Erfüllung wird dadurch sichergestellt, daß der Gläubiger Schadensersatz statt der Leistung grundsätzlich erst dann verlangen kann, wenn eine dem Schuldner gesetzte angemessene Frist für die Leistung 212 ergebnislos verstrichen ist. 213

(a) Abweichungen vom Grundtatbestand Der „Schadensersatz statt der Leistung" nach § 281 modifiziert die Grundregel des § 280 Abs. 1 für den Fall der Nicht- oder Schlechterfüllung der Leistungspflicht also in zweierlei Hinsicht: Zum einen tritt zur schuldhaften Schutzpflichtverletzung die erfolglose Fristsetzung als weitere Voraussetzung des Schadensersatzanspruches hinzu, zum anderen erweitert sich auf der Rechtsfolgenseite der Haftungsumfang zum Ersatz des positiven Interesses. Anders als in § 280 Abs. 1 tritt der Schadensersatzanspruch des Gläubigers nicht neben seinen primären Erfüllungsanspruch, sondern an dessen Stelle (§281 Abs. 4). Der Haftungsumfang orientiert sich am Nichterfüllungsschaden, ersetzt wurde jedoch der bisherige Begriff „Schadensersatz wegen Nichterfüllung" durch den „Schadensersatz statt der Leistung". Warum es im neuen Haftungssystem notwendig war, den im BGB 1900 gewährten „Schadensersatz wegen Nichterfüllung" terminologisch abzulösen, bleibt unklar. Keinesfalls war dies erforderlich um klarzustellen, daß auch die Leistung von Schadensersatz Erfüllung bedeuten kann, nämlich die der sekundären Verpflichtung auf Schadensersatz.214 Diese Begründung vermag in keiner Hinsicht zu überzeugen, denn zum einen hat der Begriff des „Schadensersatzes wegen Nichterfüllung" im geltenden Recht niemals Anlaß zu derartigen Mißverständnissen gegeben, zum anderen aber ist die Erfüllung der primären Ver-

2,0

Begründung zum RE, BT-Drs. 14/6040, S. 93. Vgl. auch die parallele Regelung im Rücktrittsrecht, § 323 Abs. 1 S. 1. 212 Oder Nacherfüllung. 213 Häufig beklagt wird die damit einhergehende Absenkung der Schwelle für den Übergang auf die Sekundärebene. 214 So aber die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 280 Abs. 3. 211

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pflichtung etwas grundlegend anderes als die Erfüllung des sekundären Schadensersatzanspruches; die Leistung von Schadensersatz stellt eben gerade nicht Erfüllung des primären Leistungsanspruches dar. Der Schadensersatzanspruch ist vielmehr ebenso wie der ihm zu Grunde liegende Anspruch auf Beachtung der Schutzpflicht ein Schutzanspruch. 215 Zwar kann der Schutzmechanismus nicht mehr in der vorbeugenden Abwendung der Schädigung liegen, wie es beim unentwickelten Schutzanspruch der Fall ist, denn diese präventive Funktion ist der Schädigung sachlogisch vorgelagert. Doch entwickelt sich auch der Schutzmechanismus gewissermaßen mit der schuldhafiten Pflichtverletzung von der vorbeugenden Abwendung durch Drohung hin zum nachträglichen Schutz durch den Ausgleich der eingetretenen Schädigung. Schadensersatzpflichten sind also nicht auf die Mehrung der Güter des Gläubigers im Sinne der Erfüllung eines Erwerbsanspruches gerichtet, sondern ihr Zweck ist der Schutz durch die Wiedergutmachung eines eingetretenen Schadens. Ein solcher Schadensersatzanspruch kann wie ein Erwerbsanspruch verlangt, erfüllt und durchgesetzt werden, da er in der Regel in einer Geldleistungsschuld besteht; der unentwickelte Schutzanspruch wird nach seiner Entwicklung also von den Vorschriften, die für Leistungsansprüche und -pflichten gelten, erfaßt. 216 Gleichwohl ist er nach wie vor von dem der Güterbewegung dienenden Erwerbsanspruch zu unterscheiden, denn auch in der Entwicklung verliert der Schutzanspruch nicht seinen Schutzzweck217; er dient dem Schadensausgleich, nicht aber der Güterbe218

wegung. Ebenso befremdlich ist es in sprachlicher Hinsicht, warum § 281 Abs. 1 S. 1 und § 323 Abs. 1 S. 1 nicht in sprachlichen Gleichklang gebracht worden sind. In § 281 heißt es: „Soweit der Schuldner die fällige Leistung nicht oder nicht wie geschuldet erbringt,...", während für § 323 Abs. 1 S. 1 formuliert wurde: „Erbringt bei einem gegenseitigen Vertrag der Schuldner eine fällige Leistung nicht oder nicht vertragsgemäß,...". Gemeint ist aber das gleiche, nämlich die Nicht- und Schlechterfüllung.

215 Vgl. Kreß, S. 4 ff, S. 22, 587 ff: Der Anspruch auf Wiedergutmachung oder Schadensersatz ist ein entwickelter Schutzanspruch. 216 Vgl. Kreß, S. 10. Ebenso kann der Schuldner eines Schadensersatzanspruches in Verzug kommen, der Anspruch kann teilweise erfüllt oder abgetreten werden etc. 217 Ähnlich betont auch Picker, AcP 183 (1983) S. 369, 398 f, daß die Leistungsverpflichtung, die auf eine Mehrung des Vermögens des Gläubigers abzielt, schon begrifflich und deshalb immer in klarem Gegensatz zu der Schadensersatzverbindlichkeit steht, die ein Minus im Vermögen des Gläubigers ausgleichen soll und die in der zurechenbaren Herbeiführung des Minus ihren materiellen Geltungsgrund hat. 218 Vgl. dazu insgesamt Kreß, §§1,2 und 23. Zur Frage der Identität von primärem Leistungsanspruch und sekundärem Schadensersatzanspruch siehe eingehend Kuhlmann, S. 181 f.

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Näherer Betrachtung bedarf § 281 Abs. 4, der bestimmt: „Der Anspruch auf die Leistung ist ausgeschlossen, sobald der Gläubiger statt der Leistung Schadensersatz verlangt hat. " Anders als im alten Recht, wo der Anspruch des Gläubigers ipso iure, nämlich gemäß § 326 Abs. 1 S. 2 letzter Halbsatz BGB 1900 nach dem erfolglosen Ablauf der Frist erlosch, ist dies im neuen Recht erst der Fall, wenn der Gläubiger zusätzlich zum erfolglosen Fristablauf klar zum Ausdruck bringt, daß er nun von seinem ursprünglichen Erfüllungsanspruch zugunsten des sekundären Anspruchs Abstand nimmt. Kein praktischer Unterschied entsteht dadurch in denjenigen Fällen, in denen der Gläubiger schon die Fristsetzung mit der Aussage verbindet, im Falle des erfolglosen Fristablaufs Schadensersatz wegen Nichterfüllung zu verlangen. Dieses Vorgehen entspricht der aus dem BGB 1900 bekannten Fristsetzung mit Ablehnungsandrohung 219. Unterschiede zeigen sich aber, wenn der Gläubiger zwar eine Nachfrist gesetzt, jedoch noch nicht seinem Willen Ausdruck verliehen hat, auf den sekundären Schadensersatz wegen Nichterfüllung überzugehen. Denn der Gläubiger kann dann, d.h. auch nach erfolglosem Fristablauf, weiterhin die Leistung verlangen und der Schuldner diese erbringen. 220 Durch § 281 Abs. 4 liegt der Bestand bzw. das Ende des Erfüllungsanspruchs letztlich ganz eigenständig und unabhängig von objektiven Kriterien in der Hand des Gläubigers. Dem Gläubiger ist damit ein Mehr an Gestaltungsspielraum gegeben, allerdings auf Kosten des Schuldners: Bis der Gläubiger den Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangt, besteht für den Schuldner eine unbefriedigende Schwebelage, während derer er nicht weiß, ob und wie lange er seine Bemühungen zur Erfüllung der Leistungspflicht noch aufrechterhalten muß. 221

(b) § 280 Abs. 3 i. V. m. § 281 und vorübergehende Unmöglichkeit Will der Gläubiger im Falle der vorübergehenden Unmöglichkeit ein Interesse geltend machen, das über den aus dem Verzug entstandenen Schaden hinausgeht, kann er dafür den Weg über §§ 280 Abs. 1, 3, 281 wählen und vom 219 Das neue Recht hat in seinen Haftungsnormen (und in seinem Rücktrittsrecht) entgegen der Vorentwürfe bewußt auf die zwingende Verbindung der Fristsetzung mit einer Ablehnungsandrohung verzichtet, um den Gläubiger vor dem Risiko der unwirksamen Fristsetzung zu schützen. 220 Ungenau ist es daher, wenn Ehmann!Sutschet, § 4 V 3 a (S. 109) formulieren, die Frist des § 281 bestimme den „Erfüllungszeitraum, innerhalb sich der Schuldner durch Erfüllung vom Schuldverhältnis befreien kann." Zutreffend ist dies für § 326 Abs. 1 BGB 1900. 221 In der kautelaijuristischen Praxis wird dies häufig durch Regelungen aufgefangen, nach denen der Gläubiger innerhalb einer bestimmten, durch den Schuldner gesetzten Frist äußern muß, ob er den Schadensersatz statt Leistung geltend macht.

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Schuldner Schadensersatz statt der Leistung verlangen. Da sich der Schuldner nicht auf § 275 berufen kann, stellt das Erfordernis der Fälligkeit der Leistung kein Hindernis dar. Im Beispielsfall der verzögerten Lieferung wegen fehlender Ausfuhrgenehmigung muß der Kunde seinem Lieferanten also zunächst eine angemessene Frist zur Leistungserbringung setzen. Wie sich aus § 281 Abs. 4 ergibt, muß der Gläubiger diese Frist nicht mit dem Hinweis versehen, im Falle des erfolglosen Fristablaufs sein positives Interesse geltend zu machen. Leistet der Lieferant auch nach Ablauf der gesetzten Frist nicht, sind dem Kunden mehrere Möglichkeiten eröffnet: So kann er trotz des erfolglosen Fristablaufs weiterhin auf der Erfüllung seines Leistungsanspruchs bestehen und gleichzeitig seinen Verzugsschaden geltend machen. Denn die nach § 281 Abs. 1 S. 1 erforderliche Fristsetzung enthält regelmäßig eine Leistungsaufforderung und damit auch eine Mahnung; hergestellt wird dadurch der tatbestandliche Gleichklang mit § 286. 222 Der Kunde kann jedoch nach Fristablauf auch erklären, Schadensersatz statt der Leistung zu beanspruchen. In diesem Fall muß der Lieferant ihn so stellen, wie er bei vertragsgemäßer Erfüllung gestanden hätte (positives Interesse). Hierunter fällt der Ersatz des Wertes der zu liefernden Sache, darüber hinaus aber auch des Gewinns, den der Gläubiger z.B. durch die Weiterveräußerung hätte oder der Kosten eines evtl. Deckungsgeschäftes. Macht der Gläubiger auch seinen Verzugsschaden geltend, kann er ihn wahlweise als Rechnungsposten in den Nichterfüllungsschaden einbeziehen oder aber neben diesem geltend machen, Anspruchsgrundlage bleibt jedoch § 280 Abs. 1, 2 i.V.m. § 286. 223 Schließlich ist dem Gläubiger durch die Fristsetzung die Möglichkeit eröffnet, vom Vertrag insgesamt zurückzutreten, denn die Frist des § 281 Abs. 1 ist auch tatbestandlich deckungsgleich mit der des § 323 Abs. 1 (vgl. zum Rücktrittsrecht unten 5). Die Mehrfachfunktion der Fristsetzung ist für den Gläubiger also ausgesprochen vorteilhaft. Eine einzige Rechtshandlung eröffnet ihm die Möglichkeit, zurückzutreten oder 224 zwei unterschiedliche Schadensersatzarten geltend zu machen, und beide Ansprüche sind ihm eröffnet, ohne daß damit über den Fortbestand seines Erfüllungsanspruchs entschieden ist. Letzteres ist die Konsequenz aus § 281 Abs. 4, nach dem nicht schon der erfolglose Fristablauf zum Untergang des Leistungsanspruchs des Kunden führt, sondern erst das Schadensersatzverlangen des Gläubigers. Wegen der Verknüpfung dieses Verlangens mit 222

BT-Drs. 14/6040 S. 138; kritisch dazu Krause, Jura 2002 S. 299. Zu beachten ist, daß der Verzug in den Fällen des § 286 Abs. 2 (Mahnungsentbehrlichkeit) nicht umgekehrt die Fristsetzung gemäß § 281 Abs. 1 entbehrlich macht. 223 Vgl. Pdlandt-Heinrichs, §281 Rn 17; §286 Rn 44 mit Nachweisen der Rechtsprechung; vgl. auch AnwaltK-Dauner-Lieb, § 280 Rn 50. 224 Zur Kumulation von Rücktritt und Schadensersatz vgl. unter 6).

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dem Schicksal des Leistungsanspruchs ist insoweit zu fordern, daß der Gläubiger eindeutig zu erkennen gibt, sich anstelle der Leistung auf den Schadensersatz beschränken zu wollen. 225

(2) § 282, Schadensersatz statt der Leistung wegen Verletzung einer Pflicht nach § 241 Abs. 2 Nach § 282 kann der Gläubiger „iunter den Voraussetzungen des §280 Abs. / " , d.h. ohne Fristsetzung Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen, wenn der Schuldner eine Pflicht nach § 241 Abs. 2 verletzt hat und ihm infolgedessen die Leistungserbringung durch den Schuldner nicht mehr zumutbar ist. Erfaßt werden sollen durch diese Vorschrift Konstellationen, in denen die Schutzpflichtverletzung des Schuldners die Erbringung der Leistung bzw. deren Erbringbarkeit unberührt läßt, jedoch das Vertrauensverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner derart nachhaltig stört, daß dem Gläubiger die weitere Vertragsdurchführung nicht zugemutet werden kann.

(a) § 282 als besondere Norm för Schutzpflichtverletzungen Im BGB 1900 wurden dem Gläubiger in solchen Fällen nach den Grundsätzen der pVV die Rechte aus § 326 Abs. 1 BGB 1900 (ohne Fristsetzung) zugebilligt. Auch im neuen Recht hätte es für die Gesetzesverfasser deshalb nahe gelegen, diese Fälle dort anzusiedeln, wo sie die Grundsätze der p W „weiterentwickelt und verallgemeinert haben", nämlich in § 280 Abs. 1. Der Gläubiger könnte dann geltend machen, daß die Leistungsannahme infolge der Schutzpflichtverletzung für ihn unzumutbar geworden ist, die Nichterfüllung also auf eben jener Schutzpflichtverletzung beruht. Daß die Gesetzes Verfasser stattdessen den Weg einer eigenständigen Normierung gewählt haben, dürfte daran liegen, daß sie noch nicht die Unterteilung von „leistungsbegleitenden Pflichten" und „nicht leistungsbezogenen Pflichten" überwunden haben. 226 Leistungsbegleitende Pflichten 227 sollen nach diesem Verständnis dem Schutz des Lei-

225

Nicht ausreichend ist deswegen z.B. die Ankündigung, sich die Geltendmachung alle Recht einschließlich des Schadensersatzes vorzubehalten. 226 Ebenso Ehmann/Sutschet, § 4 V 5a (S. 118). 227 In der Literatur ist ihre Benennung uneinheitlich, vielfach werden sie als leistungsbegleitende, leistungsbezogene oder leistungssichernde Nebenpflichten oder auch als Sorgfaltspflichten bzw. weitere Verhaltenspflichten bezeichnet. Überwiegend werden diese Nebenpflichten im Anschluß an die derartige Kennzeichnung den Schutzpflichten gegenübergestellt. Argumentiert wird, weil sie sich auf den Leistungsgegenstand beziehen, seien sie keine Schutzpflichten mehr.

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stungsgegenstandes oder der Leistungserbringung dienen, die nicht leistungsbezogenen Pflichten hingegen dem Schutz anderer Rechtsgüter des Gläubigers. Dieses auf den Schutz der bereits vorhandenen Rechtsgüter beschränkte Verständnis der Schutzpflichten ist allerdings zu eng. 228 Je nach Vertragstyp und -inhalt kann sowohl das Integritäts- als auch das Erfüllungsinteresse betroffen sein, die Schutzpflichten dienen dann dem vollständigen Schutz des Gläubigers. Das zu schützende Interesse des Gläubigers ist in diesen Fällen nicht beschränkt auf den Bestand der Rechtsgüter vor dem Vertragsschluß, sondern erstreckt sich vielmehr auch auf den Bestandszuwachs, den er durch die ordnungsgemäße Erfüllung des jeweiligen Vertrages erlangen soll. Mit anderen Worten: Geschützt wird das Interesse des Gläubigers daran, daß der Bestandszuwachs nicht gefährdet oder beeinträchtigt, sein Erwerb nicht durch pflichtwidriges Handeln des Schuldners geschmälert wird. Die Einordnung als „Leistungssicherungspflichten" oder „leistungsbezogene Nebenpflichten" besagt zwar insofern etwas Richtiges, als die Schutzpflichten in diesen Konstellationen notwendigerweise im Zusammenhang mit der Erfüllung einer Hauptleistungspflicht stehen. Sie muß jedoch die Erklärung schuldig bleiben, worin diese Verbindung zur Hauptleistungspflicht besteht. Denn diese Pflichten begleiten und flankieren die Hauptleistungspflicht nicht ohne Sinn und Zweck, sondern um zu gewährleisten, daß die von den Vertragspartnern vereinbarte Leistung bewirkt und ihre Gefährdung verhütet wird, mithin zum Schutz des Erfüllungsinteresses. 229 Die sprachliche Trennung von den integritätsbezogenen Schutzpflichten ist also inkonsequent und irreführend, denn sie suggeriert eine grundsätzliche und strukturelle Verschiedenheit der so gekennzeichneten Nebenpflichten auf Kosten der Klarstellung ihrer übergreifenden Gemeinsamkeit. Neben den vielfachen inhaltlichen und strukturellen Gemeinsamkeiten230 ist es vor allem auch ihre einheitliche Funktion als haftungsbegründendes Element: ihre Verletzung impliziert den objektiven Sorgfaltspflichtverstoß des Schuldners und führt im Falle des Verschuldens gemäß § 276 deshalb zur Haftung auf Ersatz des entstandenen Schadens, gleichviel ob eine erfüllungs- oder integritätsbezogene Nebenpflicht verletzt ist. 231 Zusammenfassend lassen sich die Schutzpflichten dahingehend kennzeichnen, daß Schuld228

So auch Ehmann/Sutschet, § 4 V 5a (S. 118). Vgl. dazu auch Ehmann/Sutschet, § 4 III 1 (S. 69, Fn 9). 230 Ausführlich dazu Kuhlmann, S. 109 ff, 112 ff. 231 Wie Leistungspflichten können auch Schutzpflichten im Synallagma stehen, d.h. gegen das vertragliche Versprechen einer Gegenleistung ausgetauscht sein. Sie bilden dann die Hauptpflicht des Vertrages, z.B. bei wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsverträgen, Wettbewerbsverboten von Handelsgehilfen und Handelsvertretern, Unterbindung bestimmter Grundstücksnutzungen etc. Ungleich häufiger treten die Schutzpflichten aber im Zusammenhang mit Leistungspflichten auf, die die Hauptpflicht des Schuldverhältnisses bilden, also als Nebenpflichten, die die Leistungspflicht flankieren. 229

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ner und Gläubiger ihr Verhalten so einzurichten haben, daß die bei der Begründung und Abwicklung der schuldrechtlichen Beziehungen berührten Güter und Interessen einschließlich des Leistungsgegenstandes nicht verletzt oder beeinträchtigt werden. 232 Auch § 241 Abs. 2, der im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung angefügt wurde und statuiert: „Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten" 233, ist derart umfassend zu verstehen. 234 Diese Vorschrift nimmt gleichermaßen Bezug auf die integritätswahrenden wie auch auf die erfüllungssichernden Schutzpflichten, also die Schutzpflichten, die die Erfüllung der Leistungspflicht vorbereiten, fördern und sichern sollen.

(b) § 280 Absatz 3 i. V. m. § 282 und vorübergehende Unmöglichkeit Relevant wird dieses umfassende Verständnis des § 241 Abs. 2 auch im Beispielsfall der vorübergehenden Unmöglichkeit wegen der fehlenden Ausfuhrgenehmigung. Denn der Umstand, daß der Lieferant seiner Verpflichtung schuldhaft (§ 276) 2 3 5 zuwidergehandelt hat, für sein Leistungsvermögen im Fälligkeitszeitpunkt zu sorgen, stellt die Verletzung einer der Schutzpflichten des § 241 Abs. 2 dar. Die erste Voraussetzung des § 282 ist demnach erfüllt. Der Schadensersatzanspruch scheitert im Beispielsfall jedoch an der zweiten Voraussetzung, also der Unzumutbarkeit der Leistung für den Gläubiger aufgrund der Schutzpflichtverletzung. Denn die zu vertretende Leistungsverzögerung macht die Annahme des Gutes für den Gläubiger nicht unzumutbar, es treten durch das Leistungshindernis ja auch keinerlei Umstände hinzu, die diese Unzumutbarkeit der Leistungsannahme begründen könnten. Unzumutbar für den Gläubiger könnte im Beispielsfall lediglich das Warten auf die Behebung bzw. den Fortfall des Leistungshindernisses sein. Eben dies ist aber durch § 281 erfaßt, dessen Nachfristsetzung (Abs. 1) letztlich die Antwort auf die Frage konkretisiert, ab wann der Gläubiger nicht mehr auf die Erfüllung seines Leistungsanspruchs warten muß, sondern auf die Sekundärebene wechseln kann.

232

Kreß, S. 582, 578 ff. Die Bezugnahme auf den „Inhalt" des Schuldverhältnisses soll - unnötig umständlich- ausdrücken, daß die vertraglichen Nebenpflichten, wo sie nicht ausdrücklich vereinbart wurden, durch Auslegung gemäß §§ 133,157 BGB festzustellen und in Inhalt und Schutzgut durch den jeweiligen Vertrag geprägt sind. 234 Zur systematischen Auslegung des vernünftigen, objektiven und normativen Sinns des Gesetzes vgl. Ehmann! Sutschet, § 7 II 1 (S. 7 ff). 235 Innere, subjektive Sorgfaltspflichtverletzung (Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit), vgl. Ehmann!Sutschet, § 4 IV 2 (S. 86 ff). 233

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(3) § 283, Schadensersatz statt der Leistung bei Ausschluß der Leistungspflicht § 283 formuliert: „Braucht der Schuldner nach § 275 Abs. 1 bis 3 nicht zu leisten, kann der Gläubiger unter den Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 Schadensersatz statt der Leistung verlangen." Für die Fälle, in denen die Leistungspflicht wegen Unmöglichkeit oder einer der durch § 275 Abs. 2 und 3 erfaßten Konstellationen einer Leistungserschwerung ausgeschlossen ist, entfällt durch den Verweis auf § 280 Abs. 1 das Erfordernis der Nachfristsetzung.

(a) § 283 als besondere Norm für die Nichterfüllung

der Leistungspflicht

Nach Wortlaut, Stellung und insbesondere wegen § 280 Abs. 3 entsteht der Eindruck, daß § 283 rechtssystematisch eine Modifikation des allgemeinen Haftungstatbestands § 280 Abs. 1 darstellt. Tatsächlich ist § 283 aber keine Modifikation von § 280 Abs. 1 (denn § 280 Abs. 1 fordert keine Fristsetzung), sondern von § 281 Abs. 1, der das Erfordernis der Fristsetzung für den Schadensersatz statt der Leistung aufstellt. Konkret: § 283 erklärt genau jenes Tatbestandmerkmal für unnötig, das § 281 Abs. 1 dem Grundtatbestand hinzufugt (nämlich die Fristsetzung), macht also die Ergänzung des Grundtatbestandes rückgängig. Der Inhalt von § 283 ist dem Vorrang des Erfüllungsanspruchs geschuldet, denn dieser Vorrang weicht naturgemäß, wo die Leistung ausgeschlossen ist. Eine Fristsetzung, die diesen Vorrang sichern soll, ist also sinnlos. Um dies zu erfassen, ist aber weder ein derart umständliches und rechtskonstruktiv zweifelhaftes Vorgehen erforderlich, wie es die Normierung in § 283 mit sich bringt, noch ist überhaupt die Regelung in einer eigenen Norm nötig. 236 Der Wegfall des Mahnungserfordernisses wegen Ausschluß der Leistungspflicht hat seinen legitimen Platz in § 281 Abs. 2, wo schon andere Fälle der Mahnungsentbehrlichkeit als Ausnahmeregelung zu § 281 Abs.l normiert sind. 237 Warum die Gesetzesverfasser gleichwohl der simplen Tatbestandskorrektur Raum in einer eigenen Norm gegeben haben, läßt sich nur dadurch erklären, daß sie die Fälle, in denen eine Schutzpflichtverletzung zur Nichterfüllung der Leistungspflicht

236

Die Entbehrlichkeit der Fristsetzung ergab sich im Diskussionsentwurf noch mühelos aus § 282 Abs. 2 1. Alt: „...der Aufforderung bedarf es nicht, wenn offensichtlich ist, daß sie keinen Erfolg hätte,...". 237 Zutreffend weisen Ehmann!Sutschet § 4 V 4 b (S. 117) darauf hin, daß der Schuldner die Frist des § 281 Abs. 1 auch dann setzen sollte, wenn er von einer Unmöglichkeit der Leistungserbringung ausgeht, und erst nach Ablauf der Frist Klage erhebt, weil er sonst Gefahr läuft, die Prozeßkosten zu tragen, wenn der Schuldner die Leistung doch noch erbringt.

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fuhrt, als etwas wesenhaft Verschiedenes zu anderen Schutzpflichtverletzungen begreifen. Daß dies ein zu enges Verständnis ist, das übersieht, daß jede Schadensersatzverpflichtung ihren Grund in einer schuldhaften Schutzpflichtverletzung hat, ist schon oben dargelegt worden. Als Mißverständnis spiegelt es sich auch in der Bezeichnung des § 283 wider, der den Schadensersatz statt der Leistung an den ,Ausschluß der Leistungspflicht" knüpft. Grund des Schadensersatzanspruchs ist aber nicht der Ausschluß der Leistungspflicht, sondern eine zu vertretende Schutzpflichtverletzung des Schuldners, die zur Leistungserschwerung oder Unmöglichkeit geführt hat, was sich erst umständlich aus der Verweisungskette auf § 275 sowie § 280 Abs. 1 ergibt.

(b) § 280 Absatz 3 i. V. m. § 283 und vorübergehende

Unmöglichkeit

Der Weg über § 283 ist dem Kunden des säumigen Lieferanten in den geschilderten Beispielsfällen verschlossen, da § 283 tatbestandlich zur Voraussetzung hat, daß der Schuldner sich auf einen der Absätze des § 275 berufen kann. Dies ist, wie gezeigt, jedoch nicht der Fall. Der Wegfall des Fristsetzungserfordernisses für den Übergang auf das positive Interesse wäre bei der vorübergehenden Unmöglichkeit auch unangemessen, weil ein sofortiger Übergang auf den Sekundäranspruch nur in denjenigen Konstellationen gerechtfertigt ist, bei denen eine Behebung des Leistungshindernisses ausgeschlossen ist. In dem Fall der Lieferungsverzögerung wegen fehlender Ausfuhrgenehmigung ist die Lieferung jedoch noch möglich, und eine Fristsetzung ist sinnvoll, da die Leistung nachholbar ist. Es bleibt damit lediglich die Frage, ob § 283 Anwendung finden könnte, wenn die vorübergehende Unmöglichkeit der dauernden Unmöglichkeit gleichgestellt wird, weil das Leistungshindernis die Erreichung des Geschäftszwecks in Frage stellt und dem anderen Teil das Festhalten am Vertrag nicht mehr zuzumuten ist. 238 Diese Gleichstellung ist für das neue Leistungsstörungsrecht jedoch abzulehnen. Sie hatte ihren Grund darin, daß das alte Leistungsstörungsrecht dem Gläubiger bei einem vom Schuldner nicht zu vertretenden Leistungshindernis keine Möglichkeit zum Rücktritt gab. 239 Im neuen Leistungsstörungsrecht hat das verschuldensunabhängige Rücktrittsrecht des § 323 Abs. 1 diese Lücke geschlossen, so daß der rechtskonstruktive Umweg unnötig geworden ist.

238 So die Rechtsprechung zum BGB 1900, z.B. RGZ 105 S. 387; BGHZ 83 S. 197; ähnlich auch die Entwurfsbegründungen BT-Drs. 14/6040 S. 129; BT-Drs. 14/7052 S. 183 und Palandt-Heinrichs § 275 Rn 11. 239 Zutreffend Arnold, JZ 2002 S. 870.

Neues und Altes von der vorübergehenden Unmöglichkeit

5. a)

89

Rücktritt bei vorübergehender Unmöglichkeit Grundsätzlicher Zusammenhang von Unmöglichkeit, Fristsetzung und Rücktrittsrecht

Für den Übergang von der Primärleistungspflicht auf den Schadensersatz wegen Nichterfüllung war festgestellt worden, daß nur wenige, eng gefaßte Konstellationen die Durchbrechung des Zwangs zur Erfüllung in forma specifica zu rechtfertigen vermögen. Ganz ähnlich sind die Wertungen und Zusammenhänge bei den Voraussetzungen für ein Rücktrittsrecht. Der Rechtsbehelf Rücktritt steht dabei im grundsätzlichen Spannungsfeld zwischen der Bindung an den Vertrag, dem Grundsatz des „pacta sunt servanda" und dem Bedürfnis der Parteien, sich in bestimmten Konstellationen aus dieser vertraglichen Bindung lösen zu können. Der Grundsatz des „pacta sunt servanda" ist für das Recht der Leistungsstörungen bildlich gesprochen die Gegenkraft zu den für eine Vertragsauflösung sprechenden Umständen, also die Kraft, die im Falle und trotz einer Vertragsstörung auf eine Vertragserhaltung bzw. Vertragserfüllung hin abzielt. Eine wichtige Rolle übernimmt im Schuldrecht zunächst die Kategorie der Unmöglichkeit der Leistung, die dem Grundsatz des „pacta sunt servanda" entgegensteht. Mit der Orientierung der Lösung von den Vertragspflichten am Kriterium der Unmöglichkeit der Leistungspflicht werden zunächst alle Störungen der Leistungspflicht erfaßt, die zu ihrer dauerhaften Nichterfüllung führen. 240 Das ist auch folgerichtig, denn wo die Nichterfüllung der Leistungspflicht als eine dauerhafte feststeht, hat die Störung offensichtlich ein Ausmaß, das die Möglichkeit einer Lösung vom Vertrag zwingend erforderlich macht. Der Fortbestand der Bindung an den Vertrag ist angesichts der synallagmatischen Verknüpfung der Leistungspflichten sinnlos, wenn eine der Leistungspflichten nicht mehr erfüllt werden kann. 241 Ähnlich liegt es in den Fällen, wo die Nichterfüllung der Leistungspflicht, anders als bei der Unmöglichkeit, keine dauerhafte, sondern eine vorübergehende ist. Auch hier muß zur Nichterfüllung der Leistungspflicht noch ein weiteres hinzutreten, das die Störung als eine so gravierende kennzeichnet, daß sie - wie die dauerhafte Nichterfüllung - zur Möglichkeit des Rücktritts vom Vertrag zwingt. Eine Sonderstellung nimmt diesbezüglich zunächst das Fixgeschäft ein. Bei diesem kann die Leistungspflicht durch absolute Terminbestimmung in der Art geprägt sein, daß ihre Erfüllung nach dem Termin für den Gläubiger sinnlos ist. Wie bei der Unmög240

Vgl. § 326. Eine Konsequenz daraus ist, daß eine Teilunmöglichkeit die Lösung vom Vertrag allein noch nicht zu rechtfertigen vermag. Vielmehr muß ein weiteres entscheiden, nämlich das Ausmaß der Beeinträchtigung, das die Teilunmöglichkeit für das Interesse des anderen Teils darstellt. 241

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lichkeit steht damit die Nichterfüllung - dauerhaft - fest, so daß die Aufhebung der beiderseitigen Leistungspflichten gerechtfertigt ist. 242 Wo der Leistungsinhalt nicht derart festgelegt ist, muß entscheidend sein, ob die Nichterfüllung aufgrund anderer Umstände als feststehend gilt, nämlich aufgrund einer erfolglosen Fristsetzung. Erfüllt der Schuldner seine Leistungspflicht trotz Nachfristsetzung nicht, so muß die Nichterfüllung als feststehend angesehen werden und die Vertragsstörung erreicht - ungeachtet der grundsätzlichen Erbringbarkeit der Leistung - damit ein Ausmaß, das der dauerhaften Nichterfüllung gleichsteht. 243 Diese durch die Fristsetzung bewirkte Gleichstellung ist entbehrlich, wo die Nichterfüllung schon deshalb ein eben solches Gewicht wie die dauerhafte hat, weil der Gläubiger infolge der Nichterfüllung das Interesse an der Leistung verloren hat.

b)

Das verschuldensunabhängige Rücktrittsrecht

der §§ 323, 324

Das neue Leistungsstörungsrecht hat ein zentrales und einheitliches, verschuldensunabhängiges Rücktrittsrecht eingeführt. 244 Grundsätzlich verbunden ist das Recht zum Rücktritt mit der Setzung einer Nachfrist: „Erbringt bei einem gegenseitigen Vertrag der Schuldner eine fällige Leistung nicht oder nicht vertragsgemäß, so kann der Gläubiger, wenn er dem Schuldner erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat, vom Vertrag zurücktreten", § 323 Abs. 1. Absatz 2 umfaßt die Fälle, in denen die Setzung der Frist entbehrlich ist, Absatz 4 erfaßt den Rücktritt vor Fälligkeit, und in Absatz 5 sowie 6 schließlich sind Fälle des Ausschlusses des Rücktrittsrechts geregelt. § 324 ergänzt dieses zentrale Rücktrittsrecht in paralleler Formulierung zu § 282 um ein Rücktrittsrecht für Schutzpflichtverletzungen, die keine Nichterfüllung zur Folge haben: „Verletzt der Schuldner bei einem gegenseitigen Vertrag eine Pflicht nach § 241 Abs. 2, so kann der Gläubiger zurücktreten, wenn ihm ein Festhalten am Vertrag nicht zuzumuten ist." 242

In diesen Zusammenhang gehört auch das sog. relative Fixgeschäft des § 361, bei dem das Rücktrittsrecht im Falle der Fristüberschreitung als im Zweifel vereinbart angesehen wird. 243 Vor diesem Hintergrund fügen sich die §§ 283, 326 BGB 1900 ein: Bei diesen Vorschriften liegt zwar keine Unmöglichkeit i.S.d. §§ 280, 323, 324 f BGB 1900 vor, jedoch muß es reichen, wenn die endgültige Nichterfüllung der Primärleistung ebenso wie bei der Unmöglichkeit als feststehend gilt. 244 Für die Dauerschuldverhältnisse normiert das neue Recht mit §314 ein eigenständiges Kündigungsrecht für die Kündigung aus wichtigem Grund.

Neues und Altes von der vorübergehenden Unmöglichkeit

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Faßt man die Änderungen, die sich dadurch gegenüber den gesetzlichen Regelung des BGB 1900 ergeben, kurz zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Rechtskonstruktiv löst sich das neue Rücktrittsrecht von der Anbindung an Unmöglichkeit, Verzug bzw. Interessefortfall. Die Kennzeichnung des Gewichts der Vertragsstörung als ein zur Vertragsaufhebung zwingendes, die im Leistungsstörungsrecht des BGB 1900 durch die Typisierung verschiedener Störungsformen der Leistungspflicht, insbesondere die Unmöglichkeit erreicht wurde, ersetzt § 323 Abs. 1 nun durch den erfolglosen Ablauf der Nachfrist. Betrachtet man die Störungsfälle, bei denen durch die rechtskonstruktiven Änderungen ein Rücktrittsrecht eröffnet ist, das die gesetzliche Regelung des BGB 1900 nicht vorsah, so sind dies die Fälle der Schutzpflichtverletzungen, die sich nicht als Nichterfüllung der Leistungspflicht niederschlagen (§ 324), sowie die Fälle der nicht zu vertretenden vorübergehenden Nichterfüllung der Leistungspflicht (§ 323). 245 Die Ausblendung des Verschuldens im Rahmen des Rücktrittsrechts ist zu begrüßen. Sie gibt den Blick dafür frei, daß es nicht die Art der verletzten Pflicht oder das Vertretenmüssen ihrer Verletzung ist, die über die Rücktrittsberechtigung entscheidet, sondern das Ausmaß der Vertragsstörung, das durch die Pflichtverletzung verursacht wurde. Angeschlossen wird damit an eine dogmatische Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts, deren Erkenntnisse bis in die Gesetzgebungsarbeiten zum BGB 1900 hineinreichen und die auch in den gesetzlichen Bestimmungen des Schuldrechts noch ihre Spuren hinterlassen konnte, aber durch die Kodifikation des BGB noch weit vor ihrer Vollendung festgeschrieben wurde. 246 Letztlich wird die Erweiterung der gesetzlichen Rücktrittsmöglichkeit allerdings weniger durch die Verschuldensunabhängigkeit erreicht, als vielmehr dadurch, daß das Rücktrittsrecht sich über die Fälle der Nichterfüllung der Leistungspflicht hinaus für die Verletzung von Schutzpflichten öffnet, die keine Auswirkungen auf die Erfüllbarkeit haben. Daß diese Erweiterung gesetzestechnisch auf zwei Vorschriften verteilt wurde, ist jedoch unnötig und - ebenso wie bei § 282 - eine Folge der einseitigen Orientierung an der Leistungspflicht.

c)

§ 323 und vorübergehende Unmöglichkeit

In den geschilderten Beispielsfällen (Lieferungsverzögerung wegen fehlender Ausfuhrgenehmigung bzw. Handelsembargo) kann der Kunde des Lieferanten auch den Weg des Rücktritts wählen. In dem Fall, daß der Lieferant wi245

Also die Störungen, die vor der Schuldrechtsmodernisierung mit der Anwendung der pVV praeter legem der Möglichkeit des Rücktritts zugeführt wurden. 246 Vgl. dazu Kuhlmann, S. 234 ff.

92

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der besseren Wissens nicht rechtzeitig die Ausfuhrgenehmigung für das zu liefernde Gut erwirkt hat, liegt eine schuldhafte Schutzpflichtverletzung vor, die dazu geführt hat, daß er die vertraglich vereinbarte Leistung bis zum Erhalt der Genehmigung nicht erfüllen kann. Dem Kunden bieten sich damit zwei Anknüpfungsmöglichkeiten für sein Rücktrittsrecht, nämlich die Nichterfüllung seines Leistungsanspruchs und die schuldhafte Schutzpflichtverletzung des Lieferanten. Stellt er die Nichterfüllung in den Vordergrund, kann er dem Lieferanten eine Frist zur Erbringung der Leistung setzen, § 323 Abs. 1. Gelingt es dem Lieferanten nicht, innerhalb dieser Frist die Genehmigung zu bekommen und das Gut dem Kunden zu übergeben, kann dieser zurücktreten. Das gleiche gilt für den Fall des Handelsembargos. In beiden Fällen spielt die Frage einer Schutzpflichtverletzung keine Rolle. Anders liegt es, wenn der Kunde für sein Rücktrittsrecht den Weg über § 324 wählt. Denn bei § 324 wird für den Rücktritt zunächst an ein sorgfaltswidriges Verhalten des Schuldners angeknüpft, § 241 Abs. 2. Diese Voraussetzung ist im Falle der fehlenden Ausfuhrgenehmigung erfüllt, denn der Lieferant hatte seiner Verpflichtung, für sein Leistungsvermögen im Fälligkeitszeitpunkt Sorge zu tragen, schuldhaft (§ 276) 2 4 7 zuwidergehandelt. Verletzt ist damit eine der (leistungsbezogenen) Schutzpflichten des § 241 Abs. 2. 2 4 8 Hinzutreten muß jedoch ein weiteres, nämlich die Unzumutbarkeit für den Kunden, am Vertrag festzuhalten. Entsprechend der oben aufgezeigten Wertungen ist dafür zu verlangen, daß der Vertragszweck durch die Schutzpflichtverletzung derart gefährdet ist, daß dem Kunden das Festhalten an dem Vertrag nach Treu und Glauben nicht zugemutet werden kann. 249 Für den Beispielsfall der fehlenden Genehmigung dürfte dies zu verneinen sein, denn angesichts des Umstandes, daß nicht das „ob" der Genehmigungserteilung fraglich ist, sondern nur das „wann", kann noch nicht von einer Gefahrdung des Vertragszwecks gesprochen werden. Anders könnte die Subsumtion ausfallen, wenn der Schuldner eine leistungsbezogene Schutzpflicht vorsätzlich verletzt hat oder der Gläubiger ein dem Schuldner bekanntes, zeitlich fixiertes Interesse an der Erfüllung seines Leistungsan-

247

Vgl. oben Fn. 185. Weil § 324 aufgrund des umfassenden Verständnisses des § 241 Abs. 2 auch die Fälle der Verletzung einer leistungsbezogenen Schutzpflicht umfaßt, ist § 323 Abs. 2 Nr. 1 unnötig. Diese Regelung erfaßt die Situation, daß der Schuldner unmißverständlich und endgültig die Leistung verweigert. Verletzt ist in diesem Fall die Schutzpflicht zur Leistungstreue, die Pflicht der Vertragspartner, das Vertrauen in die Erfüllung des Vertrages, in die Vertragstreue des anderen Teiles nicht emsthaft zu erschüttern. Dieser Fall wird sachgerecht durch die Gewährung des sofortigen Rücktritts gemäß § 324 erfaßt, sollte also nicht in § 323 Abs. 2 Nr. 1 als Fall der Fristentbehrlichkeit aufgeführt werden. 249 So die alte Rechtsprechung zum Rücktritt aufgrund positiver Vertragsverletzung, vgl. auch die Begründung des RE zur gleich lautenden Regelung des § 282. 248

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93

spruchs hat 250 , da dann nach Treu und Glauben eine Gefährdung des Vertragszwecks bejaht werden kann. Wertet man die Interessenlage und Schutzbedürftigkeit der Vertragsparteien, erscheint es angemessen, daß dem Kunden im Falle der vorübergehenden Unmöglichkeit unter den genannten Voraussetzungen der Rücktritt eröffnet ist. Die frühzeitige und klare Lösung von den Vertragspflichten hat für den Vertragstreuen Teil unmittelbare und entscheidende Bedeutung, denn er muß gerade zur Geringhaltung des Schadens neue Entscheidungen für die Zukunft treffen können, ohne durch die Bindung aus dem bisherigen Vertrag belastet zu bleiben. Der Schadensersatz wegen Nichterfüllung kann insoweit nicht helfen, denn der Schadensersatz für die nicht erbrachte Leistung ist inhaltlich etwas ganz anderes als die ursprünglich geschuldete Vertragserfüllung. Neben den Anspruch auf Schadensersatz für die Störung des Vertrages tritt deshalb als gleichrangiges Interesse die Wiederherstellung der Dispositionsfreiheit durch Lösung vom Vertrag. Erst die Befreiung von den alten Vertragspflichten erlaubt eine Ersatzbeschaffung oder anderweitige Disposition. Für dieses berechtigte Interesse des Vertragstreuen Teiles an der Wiedergewinnung seiner Dispositionsfreiheit ist es aber ohne Bedeutung, ob die Nichterfüllung dauerhaft oder vorübergehend ist.

6.

Kumulation der Rechtsbehelfe

Die durch § 325 gesetzlich ermöglichte Kumulation der beiden elementaren Rechtsbehelfe Schadensersatz und Rücktritt ist angesichts der offenen Korrektur, welche die im alten BGB durchgeführte Alternativität von Schadensersatz und Rücktritt durch die Differenztheorie in ständiger und lang geübter Praxis erfahren hat, zu begrüßen. Der Umstand, daß schon das Reichsgericht von Anfang an mit Entschiedenheit und im Anschluß an die Rechtsprechung zum alten HGB die Differenztheorie vertrat, veranschaulicht mit großer Deutlichkeit, wie wenig die alternative Regelung der §§ 325, 326 a. F. letztlich den praktischen Bedürfnissen des Gläubigers im Falle der Nichterfüllung seines Leistungsanspruches gerecht zu werden vermochte.

250 In diesem Fall wird der fristlose Rücktritt zugleich auch nach § 323 Abs. 1 und 2 Nr. 3 berechtigt sein.

Schutzansprüche und Schutzpflichten Dritter im Lichte des § 311 I I I BGB Holger Sutschet

I.

Einleitung

Gemäß §311 I I I 1 BGB 1 kann „ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 ... auch zu Personen entstehen, die nicht selbst Vertragspartei werden sollen." Damit kann gemeint sein, daß diese „Person" - wir nennen sie (mit § 311 I I I 2) den Dritten - Ansprüchen einer (zukünftigen) Vertragspartei ausgesetzt sein soll oder - umgekehrt - daß der Dritte Ansprüche gegen eine der (zukünftigen) Vertragsparteien haben soll. Jene Konstellation ist bekannt unter dem Stichwort „Sachwalterhaftung", diese als „Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte". Die Sachwalterhaftung ist unzweifelhaft in § 311 III 1 geregelt, wie sich aus § 311 I I I 2 ergibt. Umstritten ist, ob auch der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte unter die „Regelung" des § 311 I I I 1 fällt.

II.

Schutzanspruch, Schutzpflicht und Schuldverhältnis 1.

Schutzansprüche und Schutzpflichten

Die Doktrin ist - wohl seit Heinrich Stoll - dem Begriff der Schutzpflicht verhaftet geblieben, während der Begriff des Schutzanspruches (Hugo Kreß 1) weitgehend in Vergessenheit geraten ist 3 . Die heutige Zeit hat sich von dem Anspruch als Leitbild des Schuldverhältnisses noch weiter entfernt 4, gar geglaubt, auch für den Fall der Nichterfüllung des Anspruchs nicht auf den Anspruch abstellen zu müssen, sondern auf eine „Pflichtverletzung" des Schuldners (§ 280

1

Im folgenden sind alle genannten Vorschriften solche des BGB. Lehrbuch des Allgemeinen Schuldrechts (1929), § 23. 3 s. aber MüKo/Kramer, Einleitung vor § 241 Rdz. 84. 4 Eine wohltuende Ausnahme bildet das Lehrbuch von Schapp/Schur, Bürgerliches Recht, 3. Aufl., 2003. 2

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I) abstellen zu können5. Die Globalisierung der Wirtschaft wird eine zunehmende Globalisierung des Rechts mit sich bringen, wodurch eine Rückkehr des deutschen Rechts zum Primat des Anspruchsdenkens ausgelöst werden wird, weil das infolge der Pflichtenbetonung verweichlichte deutsche Schuldrecht international nicht wettbewerbsfähig ist. Man kann sich den Schutzanspruch vorstellen als Spiegelbild der Schutzpflicht(en): es ist diejenige Rechtsposition des Gläubigers, die dadurch geschützt ist, daß der oder die Schutzpflichtigen nicht schuldhaft in sie eingreifen dürfen. Der sich aus Rechtsgeschäft ergebende Schutzanspruch ist gegen den anderen Teil des Rechtsgeschäfts, in Verträgen also gegen den Vertragspartner gerichtet, er ist ein relativer Schutzanspruch. Der sich aus Gesetz ergebende Schutzanspruch (z.B. §§ 823 ff.; 812 ff.) ist gegen jedermann gerichtet, er ist ein absoluter Schutzanspruch. Der relative Schutzanspruch kann sich ausnahmsweise aus dem Gesetz ergeben (z.B. § 618), der absolute Schutzanspruch aber niemals aus Vertrag, weil Verträge zu Lasten Dritter nicht anerkannt werden 6. Ebenso wie der Verkäufer einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises gegen den Käufer hat und letzterer nicht bloß zur Zahlung verpflichtet ist, hat der Verkäufer auch einen Anspruch darauf, daß der Käufer seine (des Verkäufers) Sachen nicht beschädigt. Demgegenüber geht auch die herrschende Meinung wohl zwar davon aus, daß der Käufer dazu verpflichtet ist, die Sachen des Verkäufers nicht zu zerstören 7, scheint aber keinen dahingehenden Anspruch des Verkäufers anzuerkennen; jedenfalls ist nur von Pflichten, nicht von einem Anspruch die Rede8. Das mag damit zusammenhängen, daß Schutzansprüche regelmäßig 9 nicht klagbar sind 10 . Die Klagbarkeit und die materiell-rechtliche Position müssen aber nicht notwendig zusammenfallen, wie etwa die Unklagbarkeit des Eheversprechens (§ 1297 I) zeigt. Der Schutzanspruch ist zwar re-

5 Dies mußte nicht zuletzt wegen der Beweislastfrage mißlingen, weshalb nunmehr der Begriff der Pflichtverletzung uminterpretiert und auf solchem Wege zur „Nichterfüllung" gemacht wird; so etwa HubertFaust, Schuldrechtsmodernisierung, S. 113 f.; MüKo/Ernst (4. Aufl., Band 2a), § 280 Rdz. 14 ff.; unklar Lorenz/Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, S. 90 f. 6 MüKo/Gottwald, § 328 Rdz. 172 ff.; PalandtJHeinrichs, Einf ν § 328 Rdz. 10; Jauernig/Vollkommer, § 328 Rdz. 7; Kittner, Schuldrecht, 3. Aufl. (2003), Rdz. 803. 7 Zu den Nebenpflichten des Käufers Palandt/Putzo, § 433 Rdz. 49 ff. 8 ?άζηά\Ι Heinrichs, § 241 Rdz. 6 f.; Jauernig/Vollkommer, § 241 Rdz. 10. 9 Zur Klagbarkeit der Schutzansprüche aus § 618 BGB BAG NJW 1999, 162; Jauermg!Schlechtriem, §619 Rdz. 5; MüKo/ΛΖ. Lorenz, §618 Rdz. 62 ff.; MünchHdbArbR/Blomeyer, § 96 Rdz. 27 f.; MünchHdbArbR/07o/zte, § 209 Rdz. 21 ff. 10 Dazu Ehmann/Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), S. 72 ff.; MüKo/Kramer, § 241 Rdz. 12; Jauernig/ Vollkommer, § 241 Rdz. 10; Stürner, JZ 1976, 384; Motzer, JZ 1983, 886.

Schutzansprüche und Schutzpflichten Dritter im Lichte des § 311 III BGB

97

gelmäßig vor seiner Verletzung nicht klagbar 11 , er ist aber dennoch existent; er ist ein unentwickelter Schutzanspruch 12. Durch die schuldhafite Verletzung entwickelt sich der Schutzanspruch zum Anspruch auf Ersatz des durch die Verletzung entstandenen Schadens13. Die Schadensersatzpflicht des Schuldners läßt sich nur damit erklären, daß er vor der Verletzung dazu verpflichtet war, die Verletzung zu unterlassen. Wenn er aber hierzu verpflichtet war, so hatte der Gläubiger einen Anspruch auf Unterlassen der Verletzung, mag dieser Anspruch klagbar gewesen sein oder nicht. Im Zweipersonenverhältnis ist es unschädlich, zwischen Schutzpflicht und Schutzanspruch nicht zu unterscheiden; auch ist es nur dogmatisch fehlerhaft, praktisch aber unschädlich anzunehmen, es gebe keinen der Schutzpflicht entsprechenden Schutzanspruch, solange man die Klagbarkeit schlechthin ablehnt. Sobald aber die Klagbarkeit schon vor der Verletzung anerkannt werden soll, ist auch im Zweipersonenverhältnis nicht mehr ohne die Vorstellung des Schutzanspruches auszukommen, denn auf was soll denn die Klage gerichtet sein, wenn nicht auf Durchsetzung eines Anspruches? 14 Trägt der Kläger vor, seine Klage sei auf etwas gerichtet, worauf er keinen Anspruch habe, so wäre seine Klage als unschlüssig abzuweisen, wenn nicht der Grundsatz iura novit curia 15 ihn vor diesem Schicksal bewahrte. Im Dreipersonenverhältnis des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte zeigt sich ganz unabhängig von der Frage der Klagbarkeit des Schutzanspruches die Notwendigkeit, seine Existenz anzuerkennen 16. Der Dritte kann einen Schaden nur dann ersetzt verlangen, wenn der Schuldner dazu verpflichtet war, die Schädigung zu unterlassen. Alleine das Bestehen oder Nichtbestehen dieser Pflicht kann aber nicht die Frage beantworten, ob der Dritte den Schaden ersetzt verlangen kann. Denn wenn der Schuldner nur dem Gläubiger gegenüber, nicht aber dem Dritten selbst gegenüber zum Unterlassen der Verletzung verpflichtet war, hat der Dritte keinen Anspruch auf Schadensersatz. Im Nitrierofenfall 17 11

Ein Beispiel eines klagbaren Schutzanspruches findet sich in BGH NJW 1975, 344, wo der beklagte Nachbar entgegen einer zugunsten des Klägers bestehenden Vereinbarung mit der Wohnungsbaugesellschaft über eine bestimmte Traufhöhe hinaus bauen wollte. Die Klagbarkeit beruht darauf, daß die Verletzung der Pflicht in diesem Fall notwendig zur Verletzung des geschützten Interesses des Nachbarn führen muß, während üblicherweise eine Verletzung nur mögliche, aber nicht notwendige Folge der Schutzpflichtverletzung ist: man kann auf einem Gemüseblatt ausrutschen, muß es aber nicht. Näher dazu Sutschet y Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 93 f. 12 Kreß, S. 5 f. 13 Kreß, S. 5. 14 Hierzu ausführlich Stein-ionzs!Schumann, ZPO, 21. Aufl. (1997), vor § 253 Rdz. 7 ff. 15 Vgl. nur Jauernig, Zivilprozeßrecht, 27. Aufl. (2002), § 25 I (S. 86). 16 Dazu Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 56 f. 17 BGH JZ 1997,358.

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hatte das Berufungsgericht den Anspruch des klagenden Dritten hergeleitet aus der Pflicht der Beklagten, das Nitriergut in trockenem, fettfreiem und sauberem Zustand bei ihrem Vertragspartner, der Firma G., anzuliefern. Richtig bemerkt der Bundesgerichtshof dazu: „Für die Begründung von Schutzpflichten auch zugunsten weiterer Kunden der Firma G. läßt sich daraus wenig ableiten" 18 . Also bedarf es weiter der Klärung, ob dem Schuldner die Schutzpflicht gegenüber dem Gläubiger oder gegenüber dem Dritten oblag; das ist aber nichts anderes als die Frage danach, wer Gläubiger des Schutzanspruchs ist.

2.

Schuldverhältnis über Schuldverhältnis

Wenn ein echter Vertrag zugunsten Dritter abgeschlossen wird, so entsteht ein Schuldverhältnis im weiteren Sinne (Vertrag) zwischen Versprechendem und Versprechensempfanger; dieses Schuldverhältnis im weiteren Sinne enthält mehrere Schuldverhältnisse im engeren Sinne, nämlich den Anspruch des Versprechensempfangers auf Leistung an den Dritten, den Anspruch des Versprechenden gegen den Versprechensempfänger auf die etwaige Gegenleistung, relative Schutzansprüche zwischen Versprechendem und Versprechensempfänger. Gleichzeitig entsteht ein Schuldverhältnis (im engeren Sinne) zwischen dem Versprechenden und dem Dritten, kraft dessen dieser von jenem die versprochene Leistung verlangen kann 19 , weiter aber auch relative Schutzansprüche des Dritten gegenüber dem Versprechenden und - nach Akzeptation durch den Dritten 20 - auch relative Schutzansprüche des Versprechenden gegenüber dem Dritten 21 . Auch zwischen dem Versprechenden und dem Dritten entsteht somit ein Schuldverhältnis im weiteren Sinne 22 , welches mehrere Schuldverhältnisse im engeren Sinne enthält. Dieses Schuldverhältnis zwischen Versprechendem und Drittem entspringt dem Schuldverhältnis zwischen Versprechendem und 18 19

923.

BGH JZ 1997,358,360. Α. A. ohne Begründung Hirsch, Allgemeines Schuldrecht, 4. Aufl. (2002), Rdz.

20 Die Akzeptationstheorie wurde zwar durch den Gesetzgeber abgelehnt, dazu Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 86; jedoch hat dies nur Bedeutung für die Frage, ob die Berechtigung des Dritten von dessen Zustimmung abhängig ist. Die Verpflichtung des Dritten in dem Sinne, daß er Schuldner relativer Schutzansprüche des Versprechenden wird, setzt hingegen die Akzeptation durch den Dritten voraus, weil Verträge zu Lasten Dritter nicht anzuerkennen sind (oben Fn. 6). 21 MüKo/Gottwald y § 328 Rdz. 30; Jauemig/Vollkommen § 328 Rdz. 11,18; Raab, Austauschverträge mit Drittbeteiligung (1999), S. 495 ff.; diff. Bayer, Der Vertrag zugunsten Dritter (1995), S. 348 ff. 22 Die Literatur entzieht sich durch Verwendung umschreibender Formulierungen wie etwa „Vollzugsverhältnis" (Staudinger/Jagmann, § 328 Rdz. 26; MüKo/Gottwald, § 328 Rdz. 29) oder „lockere Verbindung" (Medicus, Schuldrecht I: Allgemeiner Teil, 13. Aufl. (2002), Rdz. 764) dieser Kennzeichnung.

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99

Versprechensempfänger. Es ist kein gesetzliches Schuldverhältnis, sondern ein rechtsgeschäftliches Schuldverhältnis, weil sein Geltungsgrund das zwischen Versprechendem und Versprechensempfänger abgeschlossene Rechtsgeschäft ist. Weil das Schuldverhältnis rechtsgeschäftlich ist, ergibt sich sein Inhalt aus dem Willen der Parteien, der ausdrücklich oder stillschweigend erklärt sein kann oder dem Vertrag im Wege ergänzender Vertragsauslegung zu entnehmen ist (§ 328 II) 2 3 . Die Vorstellung eines rechtsgeschäftlichen Schuldverhältnisses, welches einem Vertrag entspringt, bereitet offenbar Schwierigkeiten, welche durch und infolge der Neuregelung des § 311 I I I zu der Unklarheit darüber führen, ob und inwieweit Voraussetzungen und Folgen der §§ 328 ff. (noch) auf den Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte anwendbar sind. Florian Faust meint: „Der generell gebräuchliche Ausdruck des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte ist dabei unglücklich. Denn unmittelbarer Haftungsgrund ist nicht der Vertrag, an dem der Dritte nicht beteiligt ist, sondern ein eigenes Schuldverhältnis zwischen dem Dritten und einer Vertragspartei; § 241 Abs. 2 stellt dies eindeutig klar. Dieses Schuldverhältnis, an dem der Dritte beteiligt ist, hat freilich seinerseits seine Grundlage in einem anderen Schuldverhältnis, an dem er nicht beteiligt ist. Dieses andere Schuldverhältnis ... muss nun keineswegs ein Vertrag sein, sondern kann auch ein gesetzliches Schuldverhältnis sein. ... Man sollte daher zumindest allgemeiner von einem „Schuldverhältnis mit Schutzwirkung für Dritte" sprechen."24 Wird ein echter Vertrag zugunsten Dritter geschlossen, so erwirbt der Dritte hieraus einen Anspruch auf die Leistung, weil dies von Versprechendem und Versprechensempfänger so gewollt und vereinbart ist. Als Folge dieser Vereinbarung entsteht ein Schuldverhältnis zwischen Versprechendem und Drittem. In der Sprache Fausts wäre freilich so zu formulieren: Der generell gebräuchliche Ausdruck des Vertrags zugunsten Dritter ist dabei unglücklich. Denn unmittelbarer Haftungsgrund ist nicht der Vertrag, an dem der Dritte nicht beteiligt ist, sondern ein eigenes Schuldverhältnis zwischen dem Dritten und einer Vertragspartei; § 241 Abs. 1 stellt dies eindeutig klar. Dieses Schuldverhältnis, an dem der Dritte beteiligt ist, hat freilich seinerseits seine Grundlage in einem anderen Schuldverhältnis, an dem er nicht beteiligt ist. Es ist offensichtlich, daß solche Ausführungen allenfalls geeignet wären, das Wesen des Vertrags zugunsten Dritter zu verdunkeln. So richtig es ist, daß zwischen Drittem und Versprechendem ein „eigenes Schuldverhältnis" entsteht, so verfehlt ist die Annahme, weil ein solches „eigenes Schuldverhältnis" bestehe, könne nicht der Vertrag der „unmittelbare Haftungsgrund" sein. In solcher Sichtweise wäre der Vertrag zugunsten Dritter nicht mehr Rechtsgrund, sondern 23

Zur Bedeutung des § 328 II als Auslegungsvorschrift Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 107 f. 24 Hubert Faust, Schuldrechtsmodernisierung, S. 71.

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nur noch Rechtsbedingung des „eigenen Schuldverhältnisses" zwischen Versprechendem und Drittem, welches sodann wohl konsequenterweise als gesetzliches Schuldverhältnis begriffen werden müßte. So verfehlt die Sichtweise Fausts für den echten Vertrag zugunsten Dritter wäre, so verfehlt ist sie für den Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte. Die Betonung des „eigenen Schuldverhältnisses" zwischen Versprechendem und Drittem fuhrt zu einer Loslösung des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte von den Voraussetzungen und Folgen der §§ 328 f f , weil seine Herleitung aus diesem Schuldverhältnis nicht mehr als erheblich erscheint. Die Folgen seiner Auffassung, die Faust selbst darlegt, erscheinen unrichtig. Er möchte aus seinen Thesen ableiten, daß ein Kind nicht bloß dann geschützt sein soll, wenn es seine Mutter beim Gemüsekaufen begleitet, sondern auch dann, wenn es seine Mutter bei der Regulierung eines deliktischen Schadensersatzanspruchs begleitet25. Im Gemüseblattfall 26 aber begründete der Bundesgerichtshof die Einbeziehung des Kindes in den vorvertraglichen Schutz mit der Erwägung, der Verkäufer hätte sich dem Ansinnen der Mutter, ihrem Kind den gleichen Schutz zu gewähren wie ihr selbst, redlicherweise nicht entziehen können 27 . Diese Erwägung trifft im Falle der Regulierung eines deliktischen Schadensersatzanspruches nicht zu. Wenn die Mutter schadensersatzpflichtig ist und dem Geschädigten erklärte, er solle ihrem sie bei der Schadensregulierung begleitenden Kind denselben Schutz zukommen lassen wie ihr selbst, so kann dies dem Geschädigten doch redlicherweise nicht angesonnen werden. Näherliegend ist es, daß der Geschädigte erklärte, die Mutter solle doch alleine kommen, er wolle nicht Gefahr laufen, ihrem Kind ersatzpflichtig zu werden. Eine solche Erklärung kann wohl kaum dazu führen, daß der Geschädigte in Annahmeverzug gerät. Der entscheidende Unterschied zum Gemüseblattfall besteht darin, daß der Geschädigte bereits einen Anspruch hat, der lediglich noch zu erfüllen ist; er hat keinerlei Anlaß, zusätzliche Schutzpflichten zu übernehmen. Das dennoch mitgebrachte Kind ist in solchem Falle nicht schutzlos gestellt, sondern durch § 823 ff. geschützt. Es besteht weder Anlaß noch Bedürfnis, dem Geschädigten weitere Schutzpflichten gegen seinen Willen aufzubürden, denn es ist der Wille der Mutter, das Kind mitzubringen, und alleine aus ihrem Willen kann nicht eine höhere Pflichtigkeit des Geschädigten folgen. Zuzugeben ist freilich, daß die Unklarheit darüber, welcher Art das zwischen Versprechendem und Drittem bestehende Schuldverhältnis ist, in der Regelung des § 311 III angelegt ist. Wenn zwischen Versprechendem und Drittem ein „eigenes", gesetzliches Schuldverhältnis entsteht, so ist damit ein Anknüpfungspunkt an Voraussetzungen und Folgen der §§ 328 ff. nicht mehr ersicht25 26 27

AaO S. 71. BGHZ 66, 51. BGHZ 66, 51, 59.

Schutzansprüche und Schutzpflichten Dritter im Lichte des § 311 III BGB

101

lieh und daher auch kaum möglich, das Schuldverhältnis auf „§§ 311 Abs. 3, 328" 28 zu stützen. Die Loslösung des „eigenen" Schuldverhältnisses zwischen Versprechendem und Drittem von dem es erzeugenden Schuldverhältnis zwischen Versprechendem und Versprechensempfänger hat letztlich zur Folge, daß §311 III 1, soweit es um seine Anwendbarkeit auf den Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte geht, eine Norm ohne Voraussetzungen wird, denn die bisherigen Kriterien hierzu sind aus dem Vertrag zwischen Versprechendem und Versprechensempfänger entwickelt worden. Auch läßt sich nach solcher Sichtweise die (entsprechende) Anwendung der §§ 328 f f , insbesondere des § 334 29 , nicht mehr überzeugend begründen; Näher dazu unten IV.

III.

Schutzansprüche Dritter

Gemäß §311 I I I 1 kann „ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach §241 Abs. 2 ... auch zu Personen entstehen, die nicht selbst Vertragspartei werden sollen." Bei unbefangener erster Betrachtung scheint damit der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte Eingang in das Gesetz gefunden zu haben, indem die Vorschrift sagt: Schutzpflichten des Schuldners entstehen nicht bloß zugunsten des Gläubigers, sondern auch zugunsten solcher Personen, die nicht selbst Vertragspartei werden sollen. Diese Lesart ist allerdings nicht zwingend. Die Vorschrift könnte auch sagen: es entstehen Schutzpflichten zugunsten des Gläubigers nicht bloß in der Person des Schuldners, sondern auch in Personen, die nicht selbst Vertragspartei werden sollen. Daß das Gesetz in letzterem Sinne zu verstehen ist, kann wegen § 311 I I I 2 nicht zweifelhaft sein. Die Frage ist nur, ob das Gesetz ausschließlich in diesem Sinne zu verstehen ist 30 oder ob es daneben auch den anderen Sinn hat 31 . Bevor wir uns dieser Frage näher widmen, ist allerdings noch eine Bemerkung zu § 311 I I Nr. 3 geboten. In der Regierungsbegründung heißt es hierzu:

28

MüKo/Emmerich, § 311 Rdz. 90. Ohne weiteres geht die Literatur weiterhin von der entsprechenden Anwendbarkeit des § 334 aus; Brox/Walker, Allgemeines Schuldrecht, 28. Aufl. (2002), § 33 Rdz. 15; Palandt/Heinrichs, § 328 Rdz. 20; Jauernig/Vollkommer, § 328 Rdz. 30. 30 So Dörner/Staudinger, Schuldrechtsmodernisierung (2002), S. 43; Palandt/Heinrichs, §311 Rdz. 60 ff.; Medicus, in: Haas/Medicus/Rolland/Schäfer/ Wendtland, Das neue Schuldrecht (2003), S. 118 f.; ders., Schuldrecht I: Allgemeiner Teil, 13. Aufl. (2002), Rdz. 772 ff.; Hirsch, Allgemeines Schuldrecht, 4. Aufl. (2002), Rdz. 936; Jauernig /Vollkommer, BGB, 10. Aufl. (2003), § 311 Rdz. 49; Rohe/Winter, JuS 2003, 874. 31 So Kittner, Schuldrecht, 3. Aufl. (2003), Rdz. 804; Schwab, in: Schwab/Witt, Einführung in das neue Schuldrecht (2002), S. 10 f.; ders., JuS 2002, 873; Canaris, JZ 2001, 520; Teichmann, BB 2001, 1492; MüKo/Kramer, Einleitung vor § 241 Rdz. 84; Lorenz/Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht (2002), S. 189 ff.; Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl. (2003), S. 124 f.; Eckebrecht, MDR 2002,427 f. 29

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„Voraussetzung für eine Haftung ist, daß es sich um die an dem potenziellen Vertrag Beteiligten handelt. Nicht ohne weiteres32 erfasst werden Dritte, die in einem Näheverhältnis zu einer der Vertragsparteien stehen. Diese werden allerdings geschützt, wenn sie in den Schutzbereich des Schuldverhältnisses einbezogen sind. Das ist nach den Grundsätzen über den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter zu entscheiden, die auch weiterhin auf vorvertragliche Schuld Verhältnisses (s/c!) anzuwenden sind."33 Der Begriff des „ähnlichen geschäftlichen Kontakts" ist in solcher Weise unbestimmt, daß nicht bloß derjenige (Nichtjurist), der im BGB über den „wirklichen Bestand des deutschen allgemeinen Schuldrechts Auskunft" 34 sucht, in dieser Regelung den Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte kaum wird entdecken können, sondern dies wird wohl auch jedem Juristen mißlingen, der nicht der Theorie vom faktischen Vertragsverhältnis 35 folgt. Daß letztere zur dogmatischen Grundlage des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte gemacht werden sollte, ist aber der Regierungsbegründung nicht zu entnehmen. Ist die Vorstellung, dieses Institut könne in § 311 I I Nr. 3 geregelt sein 36 , demnach kaum nachvollziehbar, so darf sie getrost ignoriert werden.

1. a)

Wortlaut

Dritter als „ Person "

Sprachlich ist es nicht ausgeschlossen, die Vorschrift des § 311 I I I sowohl in der den Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte umfassenden wie auch in der anderen Richtung zu verstehen 37. Die Offenheit ergibt sich aus der Formulierung, ein Schuldverhältnis könne „zu Personen" entstehen. Ein Schuldverhältnis entsteht nicht „zu", sondern zwischen Personen, von denen eine Schuldner und die 32 Wenn Dritte „nicht ohne weiteres erfasst" (gemeint ist: von § 311 II Nr. 3 erfaßt) werden, so soll dies wohl bedeuten, daß sie unter Umständen doch erfaßt werden, was wie sich aus dem folgenden ergibt - unter den bisherigen „Voraussetzungen" des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter angenommen werden soll. Irreführend daher Köhler/Fritzsche, Fälle zum neuen Schuldrecht (2002), S. 99, die aus der zitierten Stelle schließen wollen, daß nicht § 311 II Nr. 3, sondern die Grundsätze über den Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte anwendbar seien. Das ist m.E. zwar zutreffend, ergibt sich aber gerade nicht aus der Regierungsbegründung. 33 BT-Drucks. 14/6040, S. 163. 34 Das soll nach BT-Drucks. 14/6040, S. 162 Aufgabe der Regelung des § 311 sein. 35 Haupt, FS Siber II, S. 1 ff.; Dölle, ZStaatsW 103 (1943), 67 ff. 36 S. aber MüKo/Emmerich, § 311 Rdz. 201 mit inhaltlich unzutreffenden Verweisen auf Hubert Faust, Schuldrechtsmodernisierung, S. 71 f. und Lieb, in: DaunerLieb/Heidel/Lepa/Ring (Hrsg.), Das Neue Schuldrecht (2002), S. 142 f. Vgl. auch Lorenz/Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, S. 191 Fn. 426. 37 Canaris, JZ 2001, 520; Lieb, in: Dauner-Lieb/Heidel/Lepa/Ring (Hrsg.), Das Neue Schuldrecht (2002), S. 142 f.

Schutzansprüche und Schutzpflichten Dritter im Lichte des § 311 III BGB

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andere Gläubiger genannt wird, wenn ein Schuldverhältnis in engerem Sinne in Rede steht. Aus einem zwischen Schuldner und Gläubiger bestehenden Schuldverhältnis entstehen Pflichten des Schuldners und Ansprüche des Gläubigers; durch die Benennung der Person als Schuldner oder Gläubiger ist festgelegt, ob ihn eine Pflicht trifft oder ob er einen Anspruch erwirbt. Ein Schuldverhältnis, das „zu Personen" entsteht, läßt offen, ob diese Personen als Schuldner oder als Gläubiger in Erscheinung treten. Die Vermeidung der Begriffe Schuldner und Gläubiger in § 311 I I I sollte womöglich dem Zweck dienen, keine Unklarheit darüber aufkommen zu lassen, daß diese Personen ja gerade nicht Vertragspartei werden sollen. Die Frage, ob jemand Vertragspartei wird und die Frage, ob er Schuldner oder Gläubiger ist, sind indessen zu unterscheiden. Wenn ein Schuldverhältnis „zu Personen" entstehen soll, und genau das ist ja der Sinn der Vorschrift des § 311 III, dann muß diese Person zwingend Schuldner oder Gläubiger dieses Schuldverhältnisses sein, welches zur Entstehung gebracht wird, denn der Begriff des Schuldverhältnisses erfordert das Vorhandensein von Schuldner und Gläubiger, und wo es hieran fehlt, kann ein Schuldverhältnis nicht existieren 38. Es kommt lediglich darauf an, verschiedene Schuldverhältnisse auseinander zu halten. In dem abzuschließenden Vertrag sind die Parteien - im gegenseitigen Vertrag wechselseitig - Gläubiger und Schuldner. In dem Schuldverhältnis, welches § 311 I I I meint, ist eine der Vertragsparteien Gläubiger und die Person, die nicht Vertragspartei werden soll, Schuldner; wenn auch der vertragliche Drittschutz umfaßt ist, dann ist eine der Vertragsparteien Schuldner und die Person, die nicht Vertragspartei werden soll, Gläubiger 39 .

b)

Beschränkung auf vorvertraglichen Drittschutz

Durch die Verwendung der Worte „werden sollen" versetzt das Gesetz sich und seinen Leser in die Lage zeitlich vor Vertragsabschluß, denn eine Vertragspartei „werden sollen" kann nur, wer es noch nicht geworden ist und nicht Vertragspartei „werden sollen" daher nur, wer es noch nicht nicht geworden ist. Das Gesetz umfaßt nach diesem Verständnis also etwa den bekannten Gemüseblattfall 40 : eine Frau besuchte einen Einkaufsladen, wobei ihr Kind, das nicht Vertragspartei werden sollte, vor Kaufabschluß auf einem Gemüseblatt ausrutschte und sich verletzte. Fälle hingegen, in denen ein Dritter nach Vertragsabschluß verletzt wird, wären nach solchem Verständnis nicht von § 311 I I I 1 umfaßt, denn diese „sollen" ja nicht mehr nicht Vertragspartei werden, sondern sie sind es bereits nicht geworden 41. Auf den ersten Blick scheint diese zeitliche Zäsur 38 39 40 41

MüKoIKramer, § 241 Rdz. 5. MüKo/Kramer, Einleitung vor § 241 Rdz. 84. BGHZ 66, 51. Hierzu Löhnig, JuS 2003, 727 f.

104

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der inneren Rechtfertigung zu entbehren, weil doch Schutzansprüche zugunsten Dritter, wenn sie denn schon vor dem Vertragsschluß bestanden haben, regelmäßig auch danach weiter bestehen. Für eine solche Differenzierung spricht jedoch der Umstand, daß es einfacher fällt, aus dem Vertrag heraus Schutzansprüche Dritter abzuleiten als aus den Vertragsverhandlungen. Der Vertragsschluß enthält einen tauglichen Anknüpfungspunkt zur ergänzenden Vertragsauslegung, die zwar bei Vertragsverhandlungen nicht ausgeschlossen ist, aber gekünstelt wirkt. Der Drittschutz im Rahmen der Vertragsverhandlungen bedarf also deswegen eher einer gesetzlichen Regelung, weil er auf dogmatisch unsicherer Grundlage steht als der Drittschutz innerhalb des Vertrags. Die Zäsur ist also nicht eine zeitliche, sondern eine inhaltliche. Auf den ersten Blick liegt der Gedanke nahe, daß das Gesetz, wenn es sich für eine solche zeitliche Zensur entschieden habe, damit die sog. Umschlagstheorie 42 anerkannt habe, denn immerhin wäre der Geltungsgrund des vertraglichen Drittschutzes vor und nach Vertragsschluß ein verschiedener. Demnach läge es nahe, daß diejenigen dem aufgezeigten Verständnis des Gesetzes widersprechen, die auch der der Umschlagstheorie ablehnend gegenüber stehen43. Indessen kann aus der gesetzlichen Regelung in keiner Lesart auf die Anerkennung dieser Lehre geschlossen werden. Zwar wäre beiden das Merkmal der zeitlichen Zäsur immanent. Die Umschlagstheorie nimmt aber lediglich deliktische Schutzpflichten in den Blick und meint, diese würden durch den Vertragsschluß in vertragliche Schutzpflichten transformiert. Im Rahmen des § 311 III 1 hingegen geht es keinesfalls lediglich um deliktische Schutzpflichten, denn wenn es lediglich um solche Pflichten ginge, so könnte die Norm nicht die Sachwalterhaftung in sich aufnehmen, die ja aber gerade umfaßt sein soll, wie § 311 I I I 2 unzweifelhaft belegt. Der Sachwalter haftet aber nicht wegen Verletzung einer deliktischen Pflicht, sondern regelmäßig wegen Verletzung einer Aufklärungspflicht 44, die nicht bereits als deliktische Pflicht besteht. Folgt aus dem dargelegten Verständnis des Gesetzes nicht, daß es die Umschlagstheorie anerkannt habe, so kann daraus folglich weder ein Argument für noch gegen ein solches Verständnis abgeleitet werden.

42 Für diese Theorie wird BGH JZ 1964, 654, 655 angezogen; in dieser Entscheidung ging es aber nicht um den verschiedenen Geltungsgrund inhaltlich identischer Pflichten vor und nach Vertragsschluß, sondern um die Eigenhaftung des Vertreters vor Vertragsschluß, für welchen der Vertragspartner nach Vertragsschluß gem. § 278 BGB einzustehen hätte, mithin um die Person des Schuldners. 43 So insbesondere Canaris , JZ 1965,475 ff.; dagegen Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 73 f. H. H. Jakobs ist entgegen MüKo/Kramer, Einleitung vor § 241 Rdz. 83 Fn. 335 nicht zu den Befürwortern eines gesetzlichen Schutzpflichtverhältnisses zu zählen; vgl. Jakobs, Unmöglichkeit und Nichterfüllung (1969), S. 38 ff. mit Fn. 69. 44 MüKo/Emmerich, § 311 Rdz. 207.

Schutzansprüche und Schutzpflichten Dritter im Lichte des § 311 III BGB

105

Die Auffassung, daß § 311 I I I 1 lediglich für das vorvertragliche Stadium gilt, wird gestützt durch die Begründung des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts. Hierin heißt es, in § 311 Abs. 2 und 3 BGB-RE würden die typischen Fallgruppen eines solchen vorvertraglichen Schuldverhältnisses bestimmt 45 und die culpa in contrahendo deutlicher ausdifferenziert 46. An anderer Stelle heißt es, die bisherige Vorschrift des § 305 a. F. werde „ergänzt um Regelungen über das Entstehen von Schuldverhältnissen vor Vertragsschluss (§311 Abs. 2 RE) und zu dritten Personen (§311 Abs. 3 RE)." 4 7 Diese Aussage läßt zwar die Deutung zu, nur § 311 I I sei auf das vorvertragliche Stadium beschränkt, wohingegen § 311 I I I für das Verhältnis zu Dritten insgesamt gelte; diese Deutung verbietet sich indessen im Hinblick darauf, daß an sämtlichen anderen Stellen der Begründung, die auf § 311 I I und III Bezug nehmen, nur vom vorvertraglichen Stadium die Rede ist 48 ; so wird noch auf derselben Seite ausgeführt, der neue § 311 fasse den Inhalt des bisherigen § 305 und die neuen Vorschriften über die culpa in contrahendo zu einer Vorschrift zusammen49.

2.

Historische Auslegung

Mit § 311 III sollten die Fälle erfaßt werden, in denen Dritte, die nicht selbst Vertragspartner werden sollen, einer Vertragspartei gegenüber haften. Diese Fälle wurden zusammen mit den in § 311 I I geregelten Fällen als Ausprägungen der culpa in contrahendo verstanden 50. Von der umgekehrten Konstellation der Haftung eines (künftigen) Vertragspartners gegenüber einem Dritten findet sich kein Wort. Offenbar sollte also diese Konstellation nicht geregelt werden 51, auch das wird aber nicht ausgesprochen. Die Auffassung Emmerichs 52, mit § 311 I I I sei bezweckt worden, gleichermaßen die Aktiv- wie die Passivlegiti-

45

BT-Drucks. 14/6040, S. 94. BT-Drucks. 14/6040, S. 125. 47 BT-Drucks. 14/6040, S. 161. 48 In § 311 II und III werde ein Sonderfall der isolierten Schutzpflichten, „nämlich diejenigen aus Vertragsanbahnung", gesetzlich erwähnt (S. 125); aus § 311 II und III folge, daß auch die mit der culpa in contrahendo erfaßten Schutzpflichten solche aus Schuldverhältnissen seien (S. 135); der neue § 311 fasse den Inhalt des bisherigen § 305 und die neuen Vorschriften über die culpa in contrahendo zu einer Vorschrift zusammen (S. 161). 49 BT-Drucks. 14/6040, S. 161. 50 BT-Drucks. 14/6040, S. 160 ff. 51 MüKo/Gottwald, § 328 Rdz. 101. 52 MüKo/Emmerich, § 311 Rdz. 196. 46

106

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mation Dritter zu regeln, läßt sich jedenfalls aus den Materialien nicht bele-

3.

Systematische Auslegung

Der Vertrag mit Schutzwirkung ftir Dritte wird von einem Teil der Literatur als gesetzliches Schuldverhältnis angesehen54, von der herrschenden Meinung hingegen aus der ergänzenden Auslegung des drittschützenden Vertrages abgeleitet 55 . Die Frage, ob der vertragliche Drittschutz nunmehr in § 311 I I I 1 geregelt ist, hängt somit davon ab, welche Art von Schuldverhältnissen nach der Systematik dieser Vorschrift unterfallen kann und ob der vertragliche Drittschutz hierzu gehört oder nicht.

a)

§ 311 III als Schuldverhältnis

aus Vertrag?

Innerhalb des Zweiten Buches findet § 311 I I I 1 seinen Platz in Abschnitt 3, „Schuldverhältnisse aus Verträgen", Titel 1, „Begründung, Inhalt und Beendigung", Untertitel 1, „Begründung". Die Vorschriften dieses Untertitels befassen sich also - so sollte man hiernach meinen - mit der Begründung von Schuldverhältnissen aus Verträgen. § 311 III 1 nimmt - wie gezeigt - die Situation vor Vertragsschluß in den Blick, setzt also voraus, daß ein Vertrag noch nicht geschlossen, ein vertragliches Schuldverhältnis noch nicht begründet wurde. § 311 I I bezieht sich ebenfalls auf diesen Zeitraum und ordnet für ihn die Entstehung eines Schuldverhältnisses mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 zwischen denjenigen an, die Gläubiger und Schuldner werden sollen. Man kann also annehmen, daß insoweit die Wirkung des späteren Vertrages partiell zeitlich vor den Vertragsschluß erstreckt wird und es sich also insoweit um die Begründung von Schuldverhältnissen aus Verträgen handelt.

53 Richtig Lieb, in: Dauner-Lieb/Heidel/Lepa/Ring (Hrsg.), Das Neue Schuldrecht (2002), S. 142; Eckebrecht, MDR 2002, 427. 54 Erman/Westermann, § 328 Rdz. 12; Esser!Schmidt, Schuldrecht 1/2, § 34 IV 2; Gernhuber, Das Schuldverhältnis, § 21 II 6 d; Musielak, Haftung für Rat, Auskunft und Gutachten, S. 38; Eckebrecht, MDR 2002, 427 f.; wohl auch Schwarze, AcP 203 (2003), 353 ff.; Eggert, KritV 2002, 102 f.; weitere Nachweise bei Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 29 Fn. 47. 55 BGHZ 56, 269, 273; BGH NJW 1969, 41, NJW 1968, 1929, 1931; BB 1996, 2009; BGH NJW-RR 2004, 1464, 1465 und NJW 2004, 3035, 3036; Staudinger/Jagmann, Vorbem. zu §§ 328 ff. Rdz. 102; Palandt/Heinrichs, § 328 Rdz. 14; Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 96 ff.

Schutzansprüche und Schutzpflichten Dritter im Lichte des § 311 III BGB

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Die systematische Erklärung des § 311 I I I 1 fällt sehr viel schwerer. Denn hier sind es nicht mehr die Vertragsparteien, zwischen denen Rechte und Pflichten aufgrund des Vertrags oder bereits aufgrund des lediglich intendierten Vertragsschlusses entstehen, sondern es geht um „Personen", zwischen denen per defuiitionem kein Vertrag geschlossen werden soll. Es geht also gerade nicht um die Begründung eines Schuldverhältnisses aus Vertrag, jedenfalls nicht, wenn Vertrag heißt: Vertrag zwischen den Beteiligten.

b)

Rechtsgeschäftsähnliche

und vertragsähnliche

Schuldverhältnisse

Nun ist freilich zu beachten, daß nicht mehr bloß die Überschriften der Bücher, Abschnitte, Titel und Untertitel Bestandteil des Gesetzes sind, sondern auch die Überschriften der einzelnen Vorschriften. Auch diese sind somit bei der systematischen Auslegung nunmehr heranzuziehen. Die Vorschrift des § 311 trägt die Überschrift „Rechtsgeschäftliche und rechtsgeschäftsähnliche Schuldverhältnisse". Der Begriff des „rechtsgeschäftsähnlichen" Schuldverhältnisses ist dem Gesetz bislang fremd gewesen; Rechtsprechung 56 und Lehre 57 kannten zwar den Begriff der (rechts)geschäfitsähnlichen Handlung, deren prominenteste Vertreterin die Mahnung ist 58 . nicht jedoch den Begriff des (rechts)geschäftsähnlichen Schuldverhältnisses. Üblich war und ist es, die Anspruchsgrundlagen nach Kategorien einzuteilen; eine dieser Kategorien sind die „vertragsähnlichen Ansprüche", worunter die culpa in contrahendo, die Haftung des Stellvertreters aus § 179 und die Geschäftsführung ohne Auftrag gefaßt werden 59. Nun ist „rechtsgeschäftsähnlich" und „vertragsähnlich" freilich nicht dasselbe, denn wenn ein Akt einem Rechtsgeschäft ähnlich ist, so ist er eben kein Rechtsgeschäft (und damit erst recht kein Vertrag), wenn der Akt aber einem Vertrag ähnlich (und also kein Vertrag) ist, so kann er immer noch ein Rechtsgeschäft (aber eben kein Vertrag) sein. Die Frage, ob die Haftung aus culpa in contrahendo eine Haftung aus Vertrag ist, ist sicher zu verneinen. Wie ist es aber mit der Einordnung als rechtsgeschäftliche Haftung? Stützt man die Haftung auf die Auslegung der Vertragsverhandlungen - wogegen die Gesetzesbegründung60 jedenfalls nicht mit schlagender Kraft 61 ins Feld geführt wer-

56

So etwa BAG NJW 2001, 989, 990 zu § 16 BRTV Bau. Z. B. Michalski, NZG 1998, 248. 58 S. nur MüKo/Ernst, § 286 Rdz. 46. 59 Leipold, BGB I: Einführung und Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (2002), Rdz. 1268. 60 BT-Drucks. 14/6040, S. 162 bezeichnet die culpa in contrahendo ausdrücklich als gesetzliches Schuldverhältnis. 61 Zur Bedeutung des „Willens des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzgebers" für die Auslegung Ehmann/Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), S. 7 ff. 57

108

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den kann 62 - , so ist dies doch wohl als rechtsgeschäftlich (wenn auch nicht vertraglich) zu qualifizieren. Ein „rechtsgeschäftsähnliches" Schuldverhältnis wäre demnach innerhalb der Vorschrift des § 311 alleine die Konstellation des § 311 III 1. Begreift man hingegen die Haftung für culpa in contrahendo nicht als rechtsgeschäftliche Haftung, so stellt sich das Gesetz auch diesem Verständnis nicht in den Weg, denn der Überschrift ist nicht zu entnehmen, ob nur die Regelung des Absatzes 3 oder auch diejenige des Absatzes 2 als „rechtsgeschäftsähnliches" Schuldverhältnis zu verstehen sein soll. Jedenfalls eines dieser „Institute" muß aber, nimmt man die Überschrift ernst, kein Rechtsgeschäft sein. Lautete die Überschrift „Vertragliche und vertragsähnliche Schuldverhältnisse", so lägen die Dinge anders: dann stünde nichts im Wege, sowohl die Regelung des Absatzes 2 wie diejenige des Absatzes 3 als rechtsgeschäftlich zu begreifen. In der Begründung zu § 311 ist zunächst nicht der Begriff „rechtsgeschäftsähnlich", sondern der Begriff „vertragsähnlich" gebraucht worden 63 . Zu diesem Zeitpunkt sollte die Überschrift noch lauten „Rechtsgeschäftliche Schuldverhältnisse"64; der Zusatz „und rechtsgeschäftsähnliche" wurde erst auf Vorschlag der Kommission Leistungsstörungsrecht eingefügt, die offenbar die culpa in contrahendo als nur rechtsgeschäftsähnlich und daher sowohl das Schuldverhältnis des § 311 I I wie dasjenige des § 311 I I I als rechtsgeschäftsähnlich angesehen hat 65 . Dieser Entwicklung läßt sich nicht eindeutig entnehmen, ob man sich des Unterschieds zwischen vertragsähnlichen und rechtsgeschäftsähnlichen Schuldverhältnissen bewußt gewesen ist. Jedenfalls erhellt daraus, daß man glaubte, in § 311 I I und I I I nur die culpa in contrahendo, nicht aber den vertraglichen Drittschutz zu regeln, daß sich auch die Überlegungen zur Überschrift des § 311 nur hierauf bezogen haben. Hätte man sich die Frage vorgelegt, ob auch der vertragliche Drittschutz der Regelung des § 311 III unterfällt, so wäre womöglich eine andere Überschrift gewählt worden, um dem Umstand Rechnung zu tragen, daß Geltungsgrund des vertraglichen Drittschutzes nach herrschender Meinung die ergänzende Vertragsauslegung ist 66 . Aus dem Fehlen dieser Überlegungen ergibt sich daher, daß die Systematik weder für noch gegen die Einbeziehung des vertraglichen Drittschutzes in die Regelung des § 311 III sprechen kann.

62 Es dürfte allgemein anerkannt sein, daß es nicht in der Macht des Gesetzgebers steht, der Wissenschaft dogmatische Sätze vorzugeben. 63 „Absatz 3 Satz 1 bestimmt, daß ein vertragsähnliches Schuldverhältnis auch mit Personen entstehen kann, die gar nicht selbst Vertragspartei werden sollen"; Hervorhebung von mir. 64 BT-Drucks. 14/6040, S. 12. 65 BT-Drucks. 14/7052, S. 190. 66 Oben Fn. 55.

Schutzansprüche und Schutzpflichten Dritter im Lichte des § 311 III BGB

4.

109

Teleologische Auslegung

Darf demnach festgestellt werden, daß sowohl Wortlaut wie Systematik die Einbeziehung des vorvertraglichen Drittschutzes in die Regelung des § 311 I I I zulassen und die historische Auslegung zumindest nicht entgegensteht, fragt es sich schließlich, ob diese Einbeziehung dem Sinn des Gesetzes entspricht. Hierzu bedarf es eines Vergleichs zwischen der Rechtslage, wie sie sich infolge einer solchen Einbeziehung und ohne diese darstellt. Bislang ist der vorvertragliche Drittschutz nicht anders behandelt worden als der vertragliche Drittschutz selbst, das Hauptaugenmerk also nicht auf die Frage gelegt worden, ob der designierte Vertragspartner bereits vor Vertragsschluß haftet, sondern auf die Frage, ob der Dritte, der von vornherein nicht Vertragspartei werden soll, in den vorvertraglichen Schutz einbezogen werden kann. Der Bundesgerichtshof hat im Gemüseblattfall die Haftung des Verkäufers auf culpa in contrahendo gestützt, welche ein gesetzliches Schuldverhältnis sei, in das auch Dritte einbezogen werden könnten 67 . Die dogmatische Begründung ist dennoch inkonsistent geblieben, denn letztlich begründet der Bundesgerichtshof seine Entscheidung mit der ergänzenden Auslegung der Vertragsverhandlungen, indem er ausführt, gegen die Erstreckung der Schutzwirkung bestünden jedenfalls dann keine Bedenken, „wenn - wie hier - der Schädiger sich dem Ansinnen der die Vertragsverhandlungen fuhrenden Mutter, ihrem später zu Schaden gekommenen Kind von vornherein ausdrücklich den gleichen Schutz wie ihr selbst einzuräumen, redlicherweise nicht hätte widersetzen können."68 Mit dieser Begründung bewegt sich der Bundesgerichtshof wieder ganz in seiner sonstigen, an das Reichsgericht 69 anschließenden Rechtsprechung zum Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte, die dessen Rechtsgrund in ergänzender Vertragsauslegung sieht 70 . Das kurze Zwischenspiel, in dem der Bundesgerichtshof die Frage offen ließ, ob der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte seine Rechtsgrundlage nicht doch in objektivem Recht finde 71, ist durch die neuere Rechtsprechung 72 längst überholt.

67

BGHZ 66, 51, 58. BGHZ 66, 51, 59. 69 RGZ 87, 64; 91, 21; 98, 210; 102, 231; 127, 218; RG Warn 1915, 306; 1918, 171; 1921, 114; RG JW 1919, 820. 70 BGHZ 56, 269, 273; NJW 1969, 41; NJW 1968, 1929, 1931; NJW 1965, 1757, 1758; BB 1996, 2009 sowie in den unten Fn. 72 zitierten Entscheidungen. 71 BGHZ 66, 51, 56 f.; BGHZ 70, 327, 330. 72 BGH VersR 1987, 262, 264; VersR 1986, 814, 815; JZ 1985, 951, 952; NJW 1984, 355; dazu Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter, S. 27 f. 68

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110

Die Frage der Anwendbarkeit des § 311 I I I auf den vorvertraglichen Drittschutz spitzt sich daher zu auf die Frage, ob der Drittschutz in solchem Falle auf objektivem Recht beruht oder der ergänzenden Auslegung der Vertragsverhandlungen zu entnehmen ist. Welche Unterschiede dazwischen bestehen, soll am Beispiel der Auskunftshaftung gezeigt werden.

IV. Die Haftung für fehlerhafte Beratung zwischen Schutzanspruch und Schutzpflicht 1.

Der Auskunftsvertrag als Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte

Wird aufgrund eines Vertrages eine Auskunft erteilt oder ein Gutachten erstellt, so ist es oftmals ein Dritter, der sich auf deren Richtigkeit verläßt. Auf welcher Grundlage der Auskunftgebende dem Dritten haftet, ist lange Zeit umstritten gewesen; in Betracht gezogen wurden 73 stillschweigende Auskunftsverträge, Haftung aufgrund beruflicher Stellung, § 826, Drittschadensliquidation. Durchgesetzt hat sich schließlich die Auffassung, daß diese Fälle dem Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte zu unterstellen sind 74 . Der Vertrag zwischen dem Auskunftgebendem und seinem Vertragspartner wird also meist durch ergänzende Vertragsauslegung so verstanden, daß die Vertragsparteien Dritte, denen das Gutachten bestimmungsgemäß vorgelegt wird, in den Schutzbereich des Vertrages einbezogen haben. Gegen diese Konstruktion wurde eingewendet, die Interessen des Vertragspartners und des Dritten seien gegenläufig, weshalb nicht angenommen werden könne, der Vertragspartner sei an der Einbeziehung des Dritten in den Schutzbereich des Vertrages interessiert 75. Dieses Argument verfängt indessen nicht, weil die Interessen des Dritten und des Vertragspartners nicht gegenläufig, sondern in gleicher Weise auf ein richtiges Gutachten gerichtet sind 76 . Daß ein Teil, soweit - wie meist - ein Wertgutachten in Rede steht, an einer hohen Summe, der andere Teil an einer niedrigen Summe interes-

73

Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 137 ff. BGH NJW 1997, 1235; VersR 1989, 375, 376; VersR 1987, 262, 264; VersR 1986, 814, 815; JZ 1985, 951 f. m. abl. Anm. Honsell; NJW 1984, 355 f.; NJW 1983, 1053, 1054; NJW 1982, 2431; Musielak,, Haftung für Rat, Auskunft und Gutachten (1974), S. 32 ff.; Staudinger/Jagmann, Vorbem. Zu §§ 328 ff. Rdz. 99 und § 328 Rdz. 84; Soergel/Hadding, Anh. § 328 Rdz. 30; Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 144 ff. 75 Canaris , ZHR 163 (1999), 215 ff.; Schindhelm/Grothe, DStR 1989, 447; Bell,, Anwaltshaftung gegenüber Dritten, S. 113; Nißl y Die Haftung des Experten, S. 116; Huber/Faust, Schuldrechtsmodernisierung, S. 72; Schäfer, AcP 202 (2002), 827 f. 76 BGH VersR 1989, 375, 376; JZ 1989, 951, 952; A. Lang, Wpg 1989, 61 f.; ders., WM 1988, 1006; Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 147 ff.; Ehmann/Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), S. 159 f. 74

Schutzansprüche und Schutzpflichten Dritter im Lichte des § 311 III BGB

111

siert ist, hindert die Annahme gleichen Interesses an einem richtigen Gutachten nicht, weil es nicht auf das faktische Interesse, sondern auf das rechtliche Interesse ankommt. Dieses kann aber nicht darin gefunden werden, daß der Verkäufer an einem falschen hohen Preis interessiert sei, denn er ist jedenfalls an einem richtigen Preis interessiert, weil das Gutachten ansonsten nicht brauchbar und daher wirtschaftlich nicht verwertbar wäre.

2.

Die Stellungnahme der Regierungsbegründung

In der Begründung des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts heißt es zu §311 I I I 2: „Solche Fälle werden derzeit nicht durchgängig als Anwendungsfälle des Rechtsinstituts der culpa in contrahendo begriffen. Teilweise wird eine Haftung nur angenommen, wenn zwischen dem Sachverständigen oder der Auskunftsperson und einem der Verhandlungspartner (oder beiden) ein Auskunfts- oder Beratungsvertrag zustande gekommen ist, was auch durch schlüssiges Verhalten geschehen sein kann. Teilweise werden diese Fälle aber auch als Anwendungsfälle der culpa in contrahendo angesehen. Diese setzt eine vertragliche Bindung gerade nicht voraus, die in diesen Fällen oft nicht einfach zu bejahen ist. Bei Anwendung der culpa in contrahendo kommt es entscheidend darauf an, ob Vertrauen in Anspruch genommen worden ist oder nicht. Die Vorschrift soll der Rechtsprechung aufzeigen, daß diese Fälle auch auf diesem Wege zu lösen sind."77 Zunächst verwundert die Aussage, diese Fälle würden nicht durchgängig als Anwendungsfälle der culpa in contrahendo begriffen. Richtig ist, daß diese Fälle von der bislang herrschenden Meinung 78 als solche des Vertrags mit Schutz Wirkung für Dritte begriffen wurden, der doch jedenfalls nicht als Anwendungsfall der culpa in contrahendo bezeichnet zu werden pflegt und wohl auch kaum als solcher bezeichnet werden kann. Alleine der Hinweis, die Vorschrift solle der Rechtsprechung aufzeigen, daß diese Fälle auch auf diesem Wege zu lösen seien, zeigt, daß auch die Regierungsbegründung davon ausgeht, daß die Rechtsprechung diese Fälle derzeit nicht über das Institut der culpa in contrahendo löst. Im übrigen ist es schon sehr merkwürdig, der Rechtsprechung in einer Gesetzesbegründung „aufzuzeigen", daß diese Fälle auch auf diesem Wege zu lösen sind. „Zu lösen sind" heißt wohl: gelöst werden können, nicht aber gelöst werden müssen79; ansonsten hätte das Wort „auch" in dem Satz keine Funktion, insbesondere kann man sich ja wohl nicht die Bedeutung vorstellen, daß diese Fälle „auch" auf diesem Wege gelöst werden müssen, zudem also „auch" noch auf anderem Wege. Daß die Rechtsprechung einen Weg gehen

77 78 79

BT-Drucks. 14/6040, S. 161. Oben Fn. 74. Α. A. Schwab, JuS 2002, 877; richtig Teichmann, BB 2001, 1492.

112

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kann, den sie nicht gehen muß, darauf muß sie wohl nicht hingewiesen werden 80 ; insbesondere nicht im Rahmen einer Gesetzesbegründung, welche die bisherigen Lösungsmodelle, die der Rechtsprechung längst bekannt sind, glaubt unberücksichtigt lassen zu können. Den Vorzug der Lösung der Auskunftshaftung über § 311 III sieht die Begründung offenbar darin, daß diese nicht einen Vertragsschluß, sei es zwischen dem Auskunftgebenden und dem Geschädigten, sei es zwischen dem Auskunftgebenden und einem anderen, voraussetzt 81; vielmehr soll die Inanspruchnahme von Vertrauen genügen. Der besondere Vorteil des Verzichts auf die vertragliche Bindung wird darin gesehen, daß diese „oft nicht einfach zu bejahen ist". Ob die Schwierigkeit in tatsächlichen oder rechtlichen Umständen gesehen wird, bleibt offen. Nun spielt es für das Vorhandensein einer vertraglichen Bindung freilich keine Rolle, ob diese einfach oder schwierig zu bejahen ist; rechtlich von Bedeutung ist alleine, ob sie vorhanden oder nicht vorhanden ist. Die Begründung glaubt demgegenüber, wegen der Schwierigkeit der Bejahung einer vertraglichen Bindung von vornherein ganz auf sie verzichten zu können. Ebenso gut könnte man das Erfordernis des Rechtsbindungswillens bei Verträgen, die „gerade so" über Gefälligkeitsverhältnisse hinausgehen, für entbehrlich erklären, weil es „oft nicht einfach zu bejahen ist" 8 2 . Daraus, daß es tatsächlich oder rechtlich schwierig ist, einen Umstand nachzuweisen oder zu begründen, folgt doch nicht, daß dieser Umstand entbehrlich ist!

3.

Die erste Rechtsprechung

Noch nach altem Recht zu beurteilen 83 ist der wohl erste Fall, in dem der Bundesgerichtshof die Vorschrift des § 311 I I I im Zusammenhang mit der Auskunftshaftung erwähnt 84. Der etwas vereinfachte Sachverhalt war folgender: Κ hatte eine stille Beteiligung an einer Gesellschaft in Erwägung gezogen, um Steuern zu sparen; die Möglichkeit der Steuerersparnis war ihm von dem Geschäftsführer der beklagten Steuerberatungsgesellschaft, die an den Verhandlungen über die etwaige Gesellschaftsbeteiligung in nicht näher mitgeteilter 80

Insbesondere dürfte die Rechtsprechung auch ohne diesen Hinweis zur Kenntnis nehmen, daß sich in jüngerer Zeit Canaris (ZHR 163 (1999), 206 ff., 220 ff.) für die Lösung solcher Fälle mittels der „Vertrauenshaftung" ausgesprochen hat. 81 Ebenso Schwab, JuS 2002, 876. 82 Zu dieser Problematik Soergel/M Wolf, Vor § 145 Rdz. 83 ff., der seinen zutreffenden Ansatz konsequent auf die Auskunftshaftung überträgt (Rdz. 87). 83 Gem. Art. 229 §5 EGBGB; Ehmann/Sutschet, Modernisiertes Schuldrecht (2002), S. 315. 84 BGH NJW-RR 2003, 1035; unergiebig hierzu Frassek, JuS 2004, 285 ff.

Schutzansprüche und Schutzpflichten Dritter im Lichte des § 311 III BGB

113

Weise beteiligt war, aufgezeigt worden. Im folgenden beteiligten sich zwar nicht K, aber die Kläger in der vorgesehenen Weise und erlitten Verluste, die sie nunmehr von der Beklagten ersetzt verlangten. Zu dem Rechtsverhältnis zwischen Κ und der Beklagten führt der Bundesgerichtshof aus: „Dabei kann offen bleiben, ob im Streitfall zwischen Κ und der Bekl. durch schlüssiges Verhalten ein Auskunftsvertrag zu Stande gekommen ist ... Die Bekl. hat durch ihren Geschäftsführer, der für sie handelte und Κ persönlich bekannt war, im besonderen Maße Vertrauen für sich in Anspruch genommen und dabei die Eingehung der stillen Gesellschaft zwischen den Kl. und der Inhaberin erheblich beeinflusst, so daß zumindest ein vorvertragliches Schuldverhältnis zu den Kl. bestanden hat (vgl. jetzt § 311 III BGB). Denn sie hat mit ihren Erklärungen den Beweggrund für die Anlageentscheidung in der Vorstellung der Kl. geschaffen." 85 In dieser Passage vollzieht das Gericht einen unklaren Wechsel von der Person des Κ hin zu den Klägern. Offengelassen wird zunächst, ob zwischen der Bekl. und Κ ein Auskunftsvertrag geschlossen wurde 86 , um sodann festzustellen, jedenfalls habe ein vorvertragliches Schuldverhältnis zu den Klägern bestanden. Diese Unklarheit rührt daher, daß der Obersatz nicht offengelegt wird: erfordert die Haftung der Beklagten gegenüber den Klägern ein zwischen der Beklagten und Κ bestehendes Schuldverhältnis, welches Schutzwirkung zugunsten der Kläger entfaltet oder erfordert die Haftung der Beklagten gegenüber den Klägern ein Schuldverhältnis zwischen diesen Parteien? An anderer Stelle führt der Bundesgerichtshof aus: „Das BerGer. hat zutreffend angenommen, daß die Aufklärungspflichten der Bekl. aus ihrem Rechtsverhältnis mit Κ Schutzwirkung zu Gunsten der Kl. entfalteten." 87 Das kann doch nur so verstanden werden, daß das Gericht annimmt, es bestehe zwischen der Bekl. und Κ ein Auskunftsvertrag oder sonstiges Schuldverhältnis, welches Schutzwirkung zugunsten der Kläger entfaltet. Damit wird wohl die vorherige Aussage, es bestehe zwischen der Beklagten und den Klägern ein Schuldverhältnis i.S.d. § 311 III, wieder aufgehoben. Oder aber das Gericht nimmt an, es bestehe zwischen der Bekl. und den Klägern ein Schuldverhältnis i.S.d. §311 III, weil das zwischen der Bekl. und Κ bestehende Schuldverhältnis Schutzwirkung zugunsten der Kläger entfaltet. Dann aber wären die Voraussetzungen des § 311 I I I 2 durch die Voraussetzungen des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte ersetzt, ohne daß dies sich mit dem Gesetzeswortlaut in Einklang bringen ließe.

85 86 87

BGH NJW-RR 2003, 1035, 1036. Zu dessen Voraussetzungen jüngst BGH NJW 2003, 1521, 1523. BGH NJW-RR 2003, 1035, 1036.

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Man könnte nun meinen, wegen des Widerspruches der zitierten Stellen bleibe letztlich offen, ob der Bundesgerichtshof ein eigenes Schuldverhältnis zwischen der Beklagten und den Klägern annehme oder von einer Schutzwirkung des Schuldverhältnisses zwischen Κ und der Beklagten zugunsten der Kläger ausgehe. Jedoch fuhrt der Bundesgerichtshof weiter aus: „Der Revision ist zwar zuzugeben, daß eine solche nachträgliche Schutzerstreckung dann hätte problematisch sein können, wenn dadurch das Haftungsrisiko der Bekl. vervielfältigt worden wäre. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Das Haftungsrisiko der Bekl. hat sich durch den Eintritt der Kl. in das Anlagevorhaben anstelle von Κ nach Art und Höhe nicht verändert." 88 Damit ist klargestellt, daß der Bundesgerichtshof den Anspruch der Kläger nicht aus einem eigenen Schuldverhältnis mit der Beklagten ableitet, sondern aus der Schutzwirkung des Schuldverhältnisses zwischen der Beklagten und Κ zugunsten der Kläger. Denn die Vervielfältigung des Haftungsrisikos ist ein Topos, der für den Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte 89 , nicht hingegen für § 311 III Bedeutung hat, denn diese Vorschrift bietet keinen Anhalt dafür, das „besondere Vertrauen", dessen Inanspruchnahme das Schuldverhältnis hervorbringen soll, davon abhängig sein zu lassen, ob dieses besondere Vertrauen dem Sachwalter von einigen wenigen vorher bestimmbaren Personen oder von einer unüberschaubaren Vielzahl von Personen entgegengebracht wird, zumal § 311 III 2 entgegen den üblichen Voraussetzungen einer „Vertrauenshaftung" lediglich das Merkmal der „Inanspruchnahme" von Vertrauen als Voraussetzung aufstellt, auf das weitere Merkmal der „Gewährung" dieses Vertrauens hingegen verzichtet 90. Indem die Kläger sich statt des Κ in der vorgesehenen Weise beteiligt haben, hat sich der Schaden von Κ auf die Kläger verlagert, was Anlaß geboten hätte, die Anwendbarkeit der Drittschadensliquidation auf diesen Fall in Erwägung zu ziehen. Hierzu verschweigt sich das Urteil des Bundesgerichtshofs. In einem früheren Urteil wurde ein Fall der Auskunftshaftung mittels Drittschadensliquidation gelöst91. Dieser Begründung folgte die Literatur zu Recht nicht 92 , weil dort keine Schadensverlagerung, sondern eine Schadenskumulation aufgetreten

88

BGH NJW-RR 2003, 1035, 1037. Hierzu Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 114 f. 90 Nur nebenbei sei bemerkt, daß dies mit dem Verschuldensprinzip nicht in Einklang zu bringen ist, denn eine Haftung für schuldhaft verursachte Schäden erfordert, daß die Pflichtwidrigkeit für den Schaden kausal geworden ist, woran es fehlt, wenn das in Anspruch genommene Vertrauen nicht gewährt, der Vertrag aber dennoch geschlossen wurde. Zu helfen ist hier mit der Erwägung, daß in solchem Falle der Dritte nicht „dadurch", daß er Vertrauen in Anspruch genommen hat, die Vertragsverhandlungen erheblich beeinflußt hat. 91 BGH VersR 1972, 199 f. 92 Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 143 m.w.N. 89

Schutzansprüche und Schutzpflichten Dritter im Lichte des § 311 III BGB

115

war, und auch der Bundesgerichtshof selbst hielt die Begründung später nicht mehr aufrecht 93. Daraus läßt sich indessen nicht ableiten, daß die Drittschadensliquidation in Fällen der Auskunftshaftung von vornherein ausgeschlossen wäre, denn in dem hier gegebenen Fall kann doch nicht bezweifelt werden, daß keine Schadenskumulation, sondern eine zufällige und unbillige Schadensverlagerung gegeben ist, womit die Voraussetzungen der Drittschadensliquidation an sich gegeben sind.

4. Nochmals: Der Auskunftsvertrag als Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte Wir sehen uns demnach der Situation gegenüber, daß in einem Fall wie dem nunmehr entschiedenen drei Lösungsansätze in Betracht kommen: der Anspruch des Dritten kann auf § 311 III, auf Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte oder auf Drittschadensliquidation gestützt werden. Die Voraussetzungen sind völlig unterschiedliche: die Drittschadensliquidation erfordert eine zufällige und unbillige Schadensverlagerung, § 311 I I I erfordert die erhebliche Beeinflussung der Vertragsverhandlungen durch Inanspruchnahme besonderen Vertrauens, der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte schließlich gründet sich auf ergänzende Vertragsauslegung, für welche die von der Rechtsprechung entwickelten „Voraussetzungen" (Leistungsnähe, Gläubigerinteresse, Erkennbarkeit, Schutzbedürftigkeit) als Regelkriterien dienen 94 . Auch hinsichtlich der Rechtsfolgen ergibt sich ein Unterschied 95: Während §311 I I I wie auch die Drittschadensliquidation nur zu dem Ergebnis gelangen können, der Schaden sei zu ersetzen oder nicht zu ersetzen, bietet der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte, weil auf ihn die §§ 328 ff. zumindest entsprechend anwendbar sind 96 , die Möglichkeit, Einwendungen aus dem Deckungsverhältnis, insbesondere eine etwaige Haftungsbeschränkung, berücksichtigen zu können, soweit § 334 nicht abbe-

93

BGH NJW 1996, 2734, 2735 f. Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 108 f. 95 Dies verkennt MüKo/Emmerich, § 311 Rdz. 232. 96 Für direkte Anwendbarkeit der §§ 328 ff. RGZ 91, 21; 98, 210; 127, 222; Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 80 ff. Unklar MüKo/Gottwald, § 328 Rdz. 100: der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte sei ein gesetzliches Schuldverhältnis, „auf das die §§ 328 ff. großenteils nicht anwendbar sind". Handelte es sich um ein gesetzliches Schuldverhältnis, so wären die §§ 328 ff. selbstverständlich nicht, und zwar insgesamt nicht anwendbar, und nicht nur „großenteils nicht". Wenn sie aber und sei es nur teilweise - doch anwendbar sein sollten: woraus ergibt sich denn dann die Anwendbarkeit, wenn nicht aus dem Vorliegen eines Vertrags zugunsten Dritter? Zufolge der Anwendbarkeit der §§ 328 ff. bedarf es nicht der von Eggert (KritV 2002, 105 ff.) vorgeschlagenen Regelung. 94

116

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düngen ist 97 . Eine kleine Abwandlung des dargestellten Falles zeigt die Notwendigkeit einer solchen Berücksichtigung deutlich auf: hätte Κ mit dem Steuerberater eine Haftungsbeschränkung vereinbart, so müßte diese auch gegenüber den Klägern gelten, denn diese sollen doch, wenn sie sich statt des Κ beteiligen, nicht besser als dieser gestellt werden. Was für diesen speziellen Fall gilt, gilt allgemein für die Fälle der Auskunftshaftung. Die entscheidende allgemeine Erwägung für den Vorrang des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte in solchen Fällen ist der Umstand, daß dieser sowohl hinsichtlich der Voraussetzungen wie auch hinsichtlich der Rechtsfolgen die erforderliche Flexibilität 98 gewährleistet99. Jüngst hat der BGH (freilich noch nach altem Recht) entschieden, daß Prospekthaftung und Haftung aus Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte nebeneinander bestehen, weil sie auf unterschiedlichen Grundlagen beruhen 100 . Damit ist der Weg der Rechtsprechung zu dem hier vertretenen Verständnis der Neuregelung des § 311 I I I vorgezeichnet: diese Vorschrift gilt insoweit, als sich eine Haftung dogmatisch als „Vertrauenshaftung" kennzeichnen läßt. Soweit hingegen eine aus der Parteivereinbarung abgeleitete Haftung zugunsten des Dritten in Rede steht, gilt § 311 I I I hierfür nicht 101 .

97

Zum stillschweigenden Ausschluß des § 334 BGH JZ 1995, 306; Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 147 ff. 98 Welche mit der Begründung über ergänzende Vertragsauslegung sichergestellt wird; ΫζλζηάΜ Heinrichs, § 328 Rdz. 14; Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 96 ff., S. 145 f. 99 Für den Vorrang des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte auch Pa\andt/Heinrichs, § 311 Rdz. 60 a.E.; Rohe/Winter, JuS 2003, 876; wohl auch Hirsch, Allgemeines Schuldrecht, 4. Aufl. (2002), Rdz. 939 ff. 100 BGH NJW 2004, 3420, 3422. 101 Sondern es gelten die §§ 328 ff., und zwar unmittelbar (Sutschet, Der Schutzanspruch zugunsten Dritter (1999), S. 80 ff., 94 f.). Der BGH meint zwar noch, der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte stehe „neben" dem Vertrag zugunsten Dritter, anerkennt aber inzwischen, daß „der Dritte jedoch in der Weise in die vertraglichen Sorgfalts- und Obhutspflichten, aber auch Hauptleistungspflichten, einbezogen ist, dass er bei deren Verletzung vertragliche Schadensersatzansprüche geltend machen kann" (BGH NJW 2004, 3420, 3421). Wenn der Dritte einen vertraglichen Schadensersatzanspruch nicht bloß im Falle der Verletzung von Sorgfalts- und Obhutspflichten haben kann, sondern auch im Falle der Verletzung von Hauptleistungspflichten, dann nimmt der Dritte nicht nur an der Schutzwirkung des fremden Vertrages teil, sondern der Vertrag begründet einen eigenen Anspruch.

Die Schadensersatzhaftung bei mangelhaften Kaufsachen nach reformiertem Schuldrecht Ulrich Rust

I.

Einleitung

Im Rahmen dieser Festschrift würden Eulen nach Athen getragen, wenn Anlaß, Motive und Historie des zum 2. Januar 2002 in Kraft getretenen Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes (nochmals) einleitend dargestellt würden. Hat doch der Jubiliar anläßlich des Gesetzgebungsverfahrens und der diversen Kommissionsarbeiten stets die Beachtung der unveränderbaren schuldrechtlichen Grundprinzipien kritisch angemahnt und diese an seine Schüler weitergegeben. Es sei daher unmittelbar zum Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung übergeleitet: Das kaufrechtliche Gewährleistungsrecht in der Fassung von 1900 krankte bekanntlich nach herrschender Meinung daran, daß sein Verhältnis zum allgemeinen Lesistungsstörungsrecht nicht hinreichend geklärt war und keine allgemeine Verschuldenshafitung für Sachmängel existiert habe. Nachfolgend ist zu untersuchen, inwieweit es dem Gesetzgeber nunmehr durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz gelungen ist, eine taugliche Verschuldenshafitung „für Sachmängel" zu installieren und dadurch allgemeines und besonderes Leistungsstörungsrecht zu integrieren. 1

II.

Systematik des reformierten Schuldrechts

Die Neuregelung des Kaufvertragsrechts in den §§ 433 ff. BGB zielt nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers „vor allem darauf ab, die vom geltenden Recht vorgesehene eigenständige Regelung des Gewährleistungsrechts zu beseitigen und die Ansprüche des Käufers in das allgemeine Leistungsstörungsrecht einzufügen". 2

1

Dazu kürzlich noch Ehmann!Sutschet, JZ 2004, 62. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drs. 14/6040, Seite 94 (nachfolgend zitiert: „Begründung"). 2

Ulrich Rust

118

1.

Pflicht zur mangelfreien Lieferung

Dieses Ziel soll primär dadurch erreicht werden, daß der Verkäufer nach § 433 Abs. 1 S. 2 BGB nunmehr ausdrücklich verpflichtet ist, dem Käufer die Sache nicht bloß - wie zuvor schon, vgl. 434 BGB a.F. - frei von Rechtsmängeln, sondern auch frei von Sachmängeln zu verschaffen. Eine entsprechende gesetzliche Verpflichtung galt bisher nur für den Gattungskauf, bei welchem dem Käufer neben den Gewährleistungsrechten auch ein (Nach-) Erfüllungsanspruch gemäß § 480 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. zustand. Mit der Schaffung des § 433 Abs. 1 S. 2 BGB (Pflicht zur sachmangelfreien Verschaffung) geht der Gesetzgeber davon aus, das Gewährleistungsrecht nunmehr in den allgemeinen Haftungsmaßstab der Pflichtverletzung nach § 280 Abs. 1 BGB integriert zu haben.3 Ferner wollte der Gesetzgeber mit § 433 Abs. 1 S. 2 BGB den alten Streit zwischen der Gewährleistungs- und der Nichterfüllungstheorie 4 zu Gunsten Letzterer entscheiden. Denn die Vorstellung, der Verkäufer erfülle mit der Leistung einer fehlerhaften Sache seine vertragliche Verpflichtung (so die Gewährleistungstheorie), ist nunmehr durch den vielbemühten Federstrich des Gesetzgebers gegenstandslos geworden. 5

2.

Schadensersatzregelungen

Die Rechte des Käufers bei Mängeln der Kaufsache richten sich nunmehr bekanntlich nach § 437 BGB. Danach kann der Käufer 1. nach § 439 BGB Nacherfüllung verlangen, 6 2. nach den §§ 440, 323 und 326 Abs. 5 BGB von dem Vertrag zurücktreten oder nach § 441 BGB den Kaufpreis mindern und 3. nach den §§ 440, 280, 281, 283 und 31 la BGB Schadensersatz oder nach § 284 BGB Ersatz vergeblicher Aufwendungen verlangen. Die Leistung einer fehlerhaften Sache soll dabei als Verletzung einer Pflicht aus dem Schuldverhältnis" im Sinne des § 280 BGB zu verstehen sein. Folge ist, daß der Käufer unter den Voraussetzungen der §§ 280, 281, 283 und 311a BGB Schadensersatz verlangen kann. Da die „Verletzung" der Leistungspflicht nach § 280 Abs. 1 S. 1 BGB allerdings als objektive, d. h. verschuldensunabhängige Pflichtverletzung zu verstehen ist, setzt der Schadensersatzanspruch „bei Sachmängeln" zusätzlich voraus, daß der Verkäufer die Pflichtverletzung 3 4 5 6

Begründung, S. 208. Siehe dazu ausführlich unten. Ehmann!Sutschet y § 7 I. Vgl. dazu zuletzt Wilhelm, DB 2004, 1599.

Die Schadensersatzhaftung bei mangelhaften Kaufsachen

119

zu vertreten hat. Nach der Formulierung des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB soll er dabei den Beweis zu fuhren haben, daß ihm kein Schuldvorwurf zu machen ist. 7 Das reformierte Schuldrecht sieht somit nach herrschender Meinung eine allgemeine verschuldensabhängige Haftung für den „zu vertretenden Sachmangel" vor 8 , wobei § 280 Abs. 1 BGB die über das Erfüllungsinteresse des Käufers hinausgehenden Vermögensnachteile des Käufers erfaßt (nach überkommener Diktion: Mangelfolgeschäden). Ersatz des Erfüllungs- bzw. Äquivalenzinteresses (nach überkommener Diktion: Mangelschäden) soll der Käufer demgegenüber nach § 281 BGB verlangen können. Dabei soll der Schadensersatzanspruch auf den „kleinen Schadensersatz" beschränkt sein, d. h. auf Ersatz des „durch den Mangel verursachten Minderwerts der Kaufsache". Den großen Schadensersatz kann der Käufer nach § 281 Abs. 1 S. 3 BGB nur bei Interessenfortfall verlangen. 9 Neben der allgemeinen Verschuldenshaftung soll es trotz der Streichung des § 463 BGB a.F. nach wie vor eine Schadensersatzhaftung und zwar auf das Erfüllungsinteresse - sowohl beim Fehlen zugesicherter Eigenschaften als auch beim arglistigen Verschweigen eines Mangels bzw. dem arglistigen Vorspiegeln einer nicht vorhandenen Eigenschaft geben. Denn die Zusicherung einer Eigenschaft soll künftig als Übernahme einer Garantie im Sinne der §§ 276 Abs. 1, 442, 444 BGB zu verstehen sein, die nach den §§ 280 bis 284 BGB schadensersatzbewehrt ist. 10 Das arglistige Verschweigen eines Mangels oder das arglistige Vorspiegeln einer nicht vorhandenen Eigenschaft soll demgegenüber als vorsätzliche Pflichtverletzung zu verstehen sein, die gemäß § 276 BGB zum Schadensersatz verpflichtet. In beiden Fällen (Eigenschaftszusicherung und Arglist) ist die Haftung des Verkäufers auf das Erfüllungsinteresse - berechtigterweise - als Garantiehaftung zu verstehen, da der Käufer (wider besseres Wissens) eine Leistung versprochen hat, die er nicht erbringen kann und deswegen für sein Versprechen einstehen muß. Dies ist im Arglistfall i. S. eines Strafschadens auch dann gerechtfertigt, wenn der Vertrag bei pflichtgemäßem Verhalten des Verkäufers in der Regel gar nicht zu Stande gekommen wäre und der Käufer nach allgemeinen Äquivalenzerwägungen lediglich sein negatives Interesse liquidieren könnte, nicht aber das Erfüllungsinteresse.11

7

Vgl. Ehmann/Sutschet, § 7 II und Finkenauer, WM 2003, 665 sowie Heinrichs, in: Palandt, BGB, 62. Auflage 2003, § 280, Rdn. 34. 8 Zu Recht kritisch Ehmann!Sutschet, JZ 2004, 62, 67. 9 Begründung, Seite 225. 10 Richtig Ehmann!Sutschet, JZ 2004, 62, 65 m.w.N. 11 Vgl. Ehmann!Sutschet, § 7 VIII. 1.

120

3.

Ulrich Rust

Zu vertretender Sachmangel als unzutreffende Haftungsgrundlage

Es wäre vorschnell, die oben beschriebenen Schadensersatzregelungen bei mangelhaften Kaufsachen als gelungene Integration des Gewährleistungsrechts in das allgemeine Leistungsstörungsrecht zu bewerten, auch wenn durch die allgemeine Verschuldenshaftung nach den §§ 437, 280 BGB die vermeintliche Lücke zwischen Zusicherungs- und Arglisthaftung nach § 463 BGB a.F. nunmehr geschlossen scheint. Wesentlicher Kritikpunkt gegen die neu eingeführte, allgemeine Verschuldenshaftung ist, daß sie unzutreffenderweise auf die falsche Haftungsgrundlage, nämlich auf den „zu vertretenden Sachmangel" bzw. die „zu vertretende Schlechtleistung" abstellt, die nicht klar nach der der Gewährleistungshafitung immanenten Trennung zwischen der Nichterfüllung von Leistungspflichten und der Verletzung von Schutzpflichten differenziert. Dies wird exemplarisch deutlich beim Stückkauf, wenn dem Kaufgegenstand ab initio ein Sachmangel anhaftet, der nicht behebbar ist (der gebraucht gekaufte Pkw ist nicht unfallfrei; das von Privat erworbene Gemälde stammt nicht von Rubens). Nach den §§ 437 Nr. 3, 311 a Abs. 2 BGB ist der Verkäufer zum Schadensersatz statt der Leistung und somit zum Ersatz des Äquivalenzinteresses des Käufers verpflichtet, es sei denn, daß er den Mangel nicht kannte und seine Unkenntnis auch nicht zu vertreten hat. Dieser Haftungssystematik (die Refomer sehen § 311 a Abs. 2 BGB dabei ausdrücklich als Verschuldenshaftungstatbestand12) liegt die unzulängliche Vorstellung des Gesetzgebers zu Grunde, daß der Verkäufer, der eine fehlerhafte Sache liefert, auch in bezug auf eine etwaige Schadensersatzpflicht seine Leistungspflicht (objektiv) „verletze". Ob er dies zu vertreten hat nach § 276 BGB, soll davon abhängen, ob er die Kaufsache vor dem Verkauf hätte untersuchen müssen und dabei den Fehler hätte erkennen können.13 Hätte der Verkäufer aber seiner Untersuchungspflicht genügt und den Käufer über das Ergebnis zutreffend informiert 14 , so wäre es wohl nicht zum Vertragsschluß gekommen. An sich hätte der Käufer dann nur Anspruch auf Ersatz des Vertrauensinteresses, aber nach § 31 la Abs. 2 BGB soll der Grundsatz der Kausalität zwischen Verletzung und Schaden außer Betracht bleiben und

12 Begründung, S. 164 f.; Canaris , JZ 2001, 506 (anders aber in Karlsruher Forum 2992, S. 40 f.); Dauner-Lieb, in: Dauner-Lieb u.a., Das Neue Schuldrecht, 2002, § 2, Rdn. 42; Kindl, WM 2002, 1317; Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl., 2003, S. 321. 13 Vgl. etwa Lorenz, NJW 2002, 2497 ff. 14 Obwohl es sich bei § 311 a Abs. 2 BGB um einen Verschuldenshaftungstatbestand handeln soll, stellt die Norm allerdings gerade nicht auf die Information des Käufers ab, sondern ausschließlich auf die Unkenntnis des Verkäufers.

Die Schadensersatzhaftung bei mangelhaften Kaufsachen

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das Erfüllungsinteresse liquidiert werden. 15 Die Außerachtlassung des Kausalitätserfordernisses zwischen Pflichtverletzung und Schaden mag zwar bei einer Verschuldenshaftung für arglistig verschwiegene Mängel als Strafschaden berechtigt sein, nicht jedoch bei reiner Fahrlässigkeit. Der Haftungstatbestand des „zu vertretenden Sachmangels" führt nicht zu einer sachgerechten Risikoverteilung zwischen Käufer und Verkäufer. Der dogmatische Fehler dieser Konstruktion besteht darin, daß bei der objektiven Pflichtverletzung nach § 280 Abs. 1 S. 1 BGB auf die objektive Leistungspflicht zur sachmangelfreien Verschaffung des Kaufgegenstandes nach § 433 Abs. 1 S. 2 BGB abgestellt wird. Bei der Verschuldensfrage nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB wird demgegenüber auf eine gänzlich andere Pflicht, nämlich auf eine Schutzpflicht, abgestellt, beispielsweise auf die Pflicht zur Untersuchung der Kaufsache und die Unterrichtung des Käufers. Die Unklarheiten in Bezug auf § 311 a Abs. 2 BGB haben Ehmann/Sutschet dazu veranlaßt, die Norm in Weiterentwicklung der Pflicht zur mangelfreien Verschaffung nach § 433 Abs. 1 S. 2 BGB sowie des Nacherfüllungsanspruchs nach § 439 Abs. 1 BGB als Garantiehaftung einzuordnen, die vom Erfordernis der Kausalität der Pflichtwidrigkeit befreit sei, da die Pflichtwidrigkeit gerade nicht Grundlage der Haftung sei. 16 Allerdings bleibt bei dieser Betrachtung die Frage offen, welche dogmatische Funktion der Enthaftung nach § 311 a Abs. 2 S. 2 BGB (nicht zu vertretende Unkenntnis des Mangels) zukommen soll, wenn nicht dem Versuch allgemeiner, unsystematischer Billigkeit in Gesetzesform.

4.

Verletzung „leistungsbezogener Nebenpflichten 46

Neben der Haftung für die „zu vertretende Schlechtleistung" soll das reformierte Schuldrecht in § 280 Abs. 1 BGB auch eine Haftung für die Verletzung von „leistungsbezogenen Nebenpflichten" enthalten. Damit sollen der Schlechtleistung nahestehende Fälle gemeint sein, in denen „der Schuldner mangelfrei leistet, der Gläubiger aber Schaden erleidet, weil der Schuldner leistungsbezogene Nebenpflichten zur Aufklärung, Beratung, Verpackung, ordnungsgemäßen Anlieferung oder Auslieferung verletzt\ 17 Auf solche Fallgestaltungen soll das Gewährleistungsrecht mit den §§ 437, 438 BGB nicht anwendbar sein und sich der Schadensersatzanspruch unmittelbar aus § 280 Abs. 1 BGB ergeben. Darüber hinaus sollen für diese Plichtverletzungen die allgemeinen 15 Zu Recht kritisch Ehmann/Sutschet, § 7 VII. 1.; ähnlich Finkenauer, a.a.O., Seite 667 und 669. 16 JZ 2004, 62, 65 f. 17 Heinrichs, in: Palandt, § 280 Rdn. 22 f. m.w.N.; Ehmann/Sutschet, JZ 2004, 62,

69.

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VerjährungsVorschriften gelten (§§ 195, 199 BGB: relative Frist von drei Jahren, absolute Frist von zehn oder 30 Jahren), nicht aber die besonderen Fristen für die Sachmängelhaftung (§ 438 BGB: für Mobilien regelmäßig zwei Jahre) 18. Die Verletzung „leistungsbezogener Nebenpflichten" ist nach der subjektiven Fehlertheorie häufig gleichbedeutend mit Sachmängeln i.S.d. § 434 BGB: Wenn etwa der Dauerabnehmer über die Änderung der Produktbeschaffenheit nicht informiert 19 oder der Käufer nicht über die Risiken eines Klebers unterrichtet wird 2 0 , ist damit automatisch die Lieferung eines mangelbehafteten Kaufgegenstands verbunden. Wegen der unterschiedlichen Verjährungsfristen ist es somit keine bloße akademische Übung, auch nach reformiertem Schuldrecht den „zu vertretenden Sachmangel" von der Verletzung einer „leistungsbezogenen Nebenpflicht" abgrenzen zu müssen. Das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz reicht insofern Wasser statt Wein, wenn für das Gewährleistungsrecht zwar eine allgemeine Verschuldenshaftung nunmehr ausdrücklich im Gesetz festgeschrieben ist, beim Sachmangel allerdings unterschiedliche Haftungsmodelle mit divergierenden Fristen konkurrieren und unter ähnlichen Schwierigkeiten wie bisher von einander abgegrenzt werden müssen.

I I I . Leistungs- und Schutzpflichten in der Gewährleistungshaftung Diese offensichtlichen Systemfehler der Schuldrechtsreform geben Anlaß zu einer näheren Untersuchung, wie sich in einer idealen Sachmängelhaftung Leistungs- und Schutzpflichten gegenüberstehen und inwieweit die These von Ehmann/Sutschet zutreffend ist, daß eine völlige Gleichstellung der Rechte des Käufers im Falle fehlerhafter Leistungen mit den Rechten wegen Nichterfüllung in der Schuldrechtsnovelle nicht gelungen ist und nicht gelingen konnte, „weil die Leistung einer fehlerhaften Sache eine Besonderheit darstellt, die sich von der Nichtleistung und der nicht rechtzeitigen Leistung unterscheidet. Darüber hinaus aber wohl auch deswegen nicht, weil es nicht möglich ist, sich vollständig von den Kategorien des römischen Rechts zu lösen, die in allen nationalen Rechtsordnungen Europas in ähnlicher Form weiter gelten"? x Dem Gewährleistungsrecht liegt richtigerweise eine Differenzierung nach den Störungstatbeständen der Nichterfüllung der Leistungspflicht zur mangelfreien Verschaffung einerseits und der Verletzung (unentwickelter) Schutz18

Heinrichs, in: Palandt, § 280 Rdn. 22 f. BGHZ 107,336; 132, 175. 20 BGHZ 88, 135. 21 Ehmann!Sutschet, § 7 I. 19

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123

pflichten andererseits zu Grunde. Auf der Rechtsfolgenseite verläuft hier die entsprechende Trennlinie zwischen verschuldensunabhängiger und verschuldensabhängiger Haftung.

1.

Die gewährleistungsrechtliche Garantiehaftung

Die theoretischen Grundlagen der verschuldensunabhängigen Rechtsbehelfe (nach reformiertem Schuldrecht: Nachbesserung, Rücktritt, Minderung und Schadensersatz wegen Garantie; nach altem Recht: Wandelung, Minderung und Schadensersatz nach § 463 S. 1 BGB a.F. (Zusicherungshaftung)) liegen in der Nichterfüllung der Leistungspflicht des Verkäufers zur mangelfreien Verschaffung des Kaufgegenstandes und entsprechen damit allgemeiner Leistungsstörungssystematik.

a)

Die Pflicht zur mangelfreien Leistung als Haftungsgrundlage

Dieses Verständnis beruht auf der sog. Nichterfüllungstheorie, welche von der Existenz einer Pflicht zur mangelfreien Verschaffung der Kaufsache ausgeht und nunmehr in § 433 Abs. 1 S. 2 BGB normiert ist. 22 Grundlage dieser Theorie sind die Erkenntnisse Flumes zum Vertragsinhalt, wonach die Beschaffenheitsvereinbarung Inhalt des Kaufvertrages ist und der Vertrag demzufolge auf die Leistung der Kaufsache in fehlerfreiem Zustand gerichtet ist. 23 Daraus ist zu folgern, daß der Verkäufer eine fehlerfreie Sache schuldet und er die Pflicht hat, den Vertrag durch Lieferung der Kaufsache in fehlerfreiem Zustand zu erfüllen. 24 Ist die gelieferte Kaufsache mangelhaft, so hat der Verkäufer eine seiner Leistungspflichten überhaupt nicht und den Vertrag somit nur teilweise erfüllt. Dieses Verständnis der verschuldensunabhängigen Sachmängelhaftung hielt auch vor der Schuldrechtsreform den Gegenargumenten der Gewährleistungstheorie stand, wonach eine Verkäuferpflicht zur mangelfreien Verschaffung der Kaufsache nicht bestehen sollte. 25 So war es für die Existenz der Pflicht zur mangelfreien Lieferung der Kaufsache ohne Bedeutung, daß dieser Pflicht nach der damaligen Konzeption der Gewährleistungshaftung weder ein durchsetzbarer Anspruch auf Mängelbeseitigung noch auf Schadensersatz wegen Nichter22 Statt aller: Soergel!Huber, BGB, Bd. 3, 12. Aufl., 1991, Vor § 459, Rdn. 145 ff. m. w. N. 23 Flume , Eigenschaftsirrtum und Kauf, 1948, S. 33 ff. 24 So Huber, Zur Haftung des Verkäufers, AcP 177 (1977), S. 281 [293 f.]; diese Konsequenz will Flume , Die Haftung für Fehler kraft Wissenszurechnung, AcP 197 (1997), S. 441 [447 ff.], jedoch nicht ziehen. 25 Siehe insb. Larenz, SchR II/l, 1986, § 41 II e), S. 66 ff.

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füllung entsprach. Denn eine derartige Pflicht war und ist nicht durch einen durchsetzbaren Erfüllungs- oder Schadensersatzanspruch bedingt. Vielmehr ist Huber dahingehend zuzustimmen, daß es keinen juristischen Grundsatz gibt, wonach einer schuldrechtlichen Verpflichtung stets ein Anspruch auf Erfüllung in Natur korrespondieren müsse.26 Mangels Erfüllungsanspruchs wurde die Pflicht zur mangelfreien Verschaffung der Kaufsache (lediglich) zu einer unentwickelten Pflicht 27 , nach der Schuldrechtsreform auf Grund des Nacherfüllungsanspruchs zu einer entwickelten Pflicht.

b)

Die Pflicht zur Mangelfreiheit

als Leistungspflicht

Die schuldrechtlichen Pflichten sind grundsätzlich einzuteilen in Leistungsund Schutzpflichten, die entweder der Bewegung oder dem Schutz der Rechtsgüter dienen.28 Die Pflicht zur mangelfreien Verschaffung ist dabei als vormals unentwickelte Leistungspflicht zu qualifizieren. Sie hat entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung des Äquivalenzverhältnisses zwischen Kaufpreis und Gegenleistung und ist Teil des genetischen Synallagmas des Kaufvertrages. Das ,,Leistensollen" des Schuldners entspricht dem „Bekommensollen" des Gläubigers 29 im Hinblick auf die Mangelfreiheit, so daß diese Pflicht bereits nach altem Recht trotz der damals fehlenden Durchsetzbarkeit als Leistungspflicht des Verkäufers einzuordnen ist. Unterstützt wird dieses Verständnis auch durch den BGH, der bereits nach altem Recht einen Anspruch des Käufers auf das stellvertretende commodum auch bei Schlechtleistungen mit der Begründung bejahte, daß der Sachmangel zugleich als Teilunmöglichkeit zu subsumieren sei. 30 Das setzt voraus, daß die Pflicht zur mangelfreien Verschaffung als Leistungspflicht verstanden wird. Nach neuem Recht sind die Nacherfüllung, der Rücktritt, die Minderung sowie die Schadensersatzhaftung bei Garantie, nach altem Recht die ädilizischen Rechtsbehelfe und die Nacherfüllung beim Gattungskauf die Sanktionen für die nicht vollständige Erfüllung der Leistungspflichten des Verkäufers. Ein etwaiger Sorgfaltspflichtverstoß auf Verkäuferseite ist nicht erforderlich. Vielmehr 26

In: Soergel, Vor § 459, Rdn. 173. Zur Kategorisierung der Pflichten in entwickelte und unentwickelte sowie in Leistungs- und Schutzpflichten siehe nur Kreß, Allg. SchR, 1929, § 1, S. 1-9 und § 23, S. 578 ff. 28 Grundlegend Kreß, Allg. SchR., §§ 1 u. 23; zur weiteren Ausdifferenzierung Emmerich in: MK, Bd. 2, 3. Aufl., 1994, Vor § 275, Rdn. 264 ff. u. 282 ff.; Canaris , Ansprüche wegen positiver Forderungsverletzung, JZ 1965, 476 und Thiele, Leistungsstörung und Schutzpflichtverletzung, JZ 1967, 649. 29 Dazu PlanckJSiber, BGB, Bd. 11/1,4. Aufl., 1914, Vorbem. III, S. 16. 30 BGH NJW 1995, 1737 (Urt. v. 10.03.1995 - V ZR 7/94). 27

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muß der Verkäufer vollständig, also mangelfrei leisten, weil die Fehlerfreiheit - mittlerweile kraft gesetzlicher Klarstellung - Vertragsinhalt geworden ist. Die obigen Rechtsbehelfe sind demnach Ausdruck der Garantiehaftung, die der Verkäufer aufgrund seines vertraglichen Einstandswillens übernommen hat. Auch die Haftung wegen Fehlens einer zugesicherten Eigenschaft (§ 463 S. 1 BGB a.F.) bzw. die neue Garantiehaftung nach den §§ 276 Abs. 1, 442, 444 BGB sanktionieren die reine Nichterfüllung der Leistungspflicht, wobei der Umfang der Haftung auf den gesamten Nichterfüllungsschaden auf der gesteigerten Einstandspflicht des Verkäufers beruht. Anders als die Reformer sehen Ehmann!Sutschet ferner die Schadensersatzhaftung nach § 311 a Abs. 2 BGB für den anfänglich unbehebbaren Sachmangel als Garantiehaftung. 31

2.

Die Verschuldenshaftung

Von größerer praktischer Bedeutung als die dogmatische Einordnung der verschuldensunabhängigen Rechtsbehelfe ist die Frage nach der Existenz und Grundlage einer allgemeinen Culpa-Haftung des Verkäufers mangelhafter Kaufgegenstände, auch wenn diese nach Ehmann!Sutschet hinsichtlich des Mangelschadens nur noch bei unbehebbaren Mängeln Relevanz haben soll. 32 Eine derartige Haftung sah § 463 BGB a.F. nicht vor, sorgte so für eine breite tatbestandliche Lücke zwischen Garantie- und Vorsatzhaftung und soll nunmehr durch den zu vertretenden Sachmangel nach §§ 437 Nr. 3, 280 Abs. 1 BGB geschlossen sein. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hatte besagte Lücke bekanntlich durch einen Rückgriff auf die positive Forderungsverletzung teilweise geschlossen. Sie differenzierte nach Schadensarten und gewährte grundsätzlich nur für Mangelfolgeschäden einen Schadensersatzanspruch aus positiver Forderungsverletzung, während für die reinen Mangelschäden dem § 463 BGB a.F. eine Ausschlußfunktion zukommen sollte. 33 Diese differenzierende Lösung war in der Literatur berechtigterweise Gegenstand scharfer Kritik geworden. So wurde die Abgrenzungsnotwendigkeit zwi31

s.o., II. 3. JZ 2004, 62: Für die Fälle des behebbaren Mangels sichert der Nacherfüllungsanspruch das Erfüllungsinteresse durch eine Garantiehaftung zumindest gegen Mangelschäden ab. 33 Nicht ersatzfähige Mangelschäden sollten im Äquivalenzinteresse des Käufers begründet sein, während ersatzfähige Mangelfolgeschäden in der Verletzung des Integritätsinteresses beruhen sollten. Siehe nur BGHZ 66, 315 = MDR 1976, 836 (Urt. v. 24.05.1976 - VIII ZR 10/74); BGHZ 77, 215 = MDR 1980, 839 (Urt. v. 02.06.1980 VIII ZR 78/79); BGH MDR 1994, 670 (Urt. v. 09.02.1994 - VIII ZR 282/93); für eine umfassende Darstellung vgl. Soergel!Huber, § 463 Anh., Rdn. 29 ff. 32

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126

sehen Mangel- und Mangelfolgeschaden zu Recht als ein willkürlich wirkendes, ergebnisorientiertes Instrument betrachtet, um einzelne Schäden mehr oder weniger beliebig zuordnen zu können. 34 In der Literatur fand daher eine unbeschränkte Verschuldenshaftung des Verkäufers neben § 463 BGB a.F. zu Recht immer mehr Anklang. 35

a)

Die allgemeine, dem BGB immanente Culpa-Haftung

Das BGB beinhaltete bereits vor der Schuldrechtsreform und entgegen der damals wohl herrschenden Meinung das Prinzip einer allgemeinen Culpa-Haftung für die Verletzung (unentwickelter) Schutzpflichten. Der vermeintlichen Lückenschließung in Gestalt der positiven Forderungsverletzung hat es daher nie bedurft. Allerdings war dieses Haftungsprinzip dem BGB nicht mehr klar entnehmbar, nachdem § 224 des ersten Entwurfs zum BGB (El) von der zweiten Kommission in die §§ 157, 242, 276, 277 BGB a.F. zerstückelt wurde. § 224 E l lautete noch: „Der Schuldner ist verpflichtet, die nach dem Schuldverhältnis obliegende Leistung vollständig zu bewirken. Er haftet nicht blos wegen vorsätzlicher, sondern auch wegen fahrlässiger Nichterfüllung seiner Verbindlichkeit [,..]". 36 Im Gegensatz zum § 276 BGB a.F., der tatsächlich nur noch eine Definition der Fahrlässigkeit enthielt, war § 224 E l eine klare Anspruchsgrundlage für eine umfassende Culpa-Haftung. 37 Durch die Aufspaltung des § 224 E l war nun aber keinesfalls ein Abrücken vom Prinzip der CulpaHaftung beabsichtigt. Vielmehr war dies den Redaktoren zum BGB so selbstverständlich, daß erne Aufnahme in den Gesetzestext für überflüssig gehalten wurde. 38 b)

Die umfassende Culpa-Haftung des Verkäufers

Die obigen Ausführungen zur Existenz einer allgemeinen Culpa-Haftung sind auf den Leistungsstörungstatbestand der Lieferung einer fehlerhaften Kaufsache uneingeschränkt zu übertragen. 39 Dementsprechend haftet der Verkäufer 34 Statt aller Emmerich, Verschulden bei Vertragsverhandlungen, FS Jahr, 1993, S. 267 [270] m.w.N. 35 So Esser/Weyers, Schuldrecht II, 7. Aufl., 1991, § 6 II, S. 69 ff.; Soergel/Huber, Vor § 459, Rdn. 55 ff. und Emmerich in: MK, Vor § 275, Rdn. 234 ff. jeweils m.w.N. 36 Vgl.: Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, 1888, S. 51. 37 Siehe nur Emmerich in: MK, Vor § 275, Rdn. 3 f. und 220 ff. m. w. N. 38 Anders bekanntlich Staub, Die positiven Vertragsverletzungen, 1902, S. 29, 41, 44 ff. 39 Aus den Motiven zum BGB ist kein anderes Ergebnis herleitbar (dazu ausführlich Rust , Gewährleistungsrecht, § 7 I. 1. b.), auch wenn die wohl h. M. § 463 BGB eine

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eines mangelhaften Kaufgegenstandes ganz allgemein dann auf Schadensersatz, wenn er eine unentwickelte Schutzpflicht schuldhaft verletzt. Dabei ist kein Unterschied nach der Art des verletzten Interesses zu machen, so daß die verletzte Schutzpflicht sowohl die Liquidation des Integritäts-, als auch des Äquivalenzinteresses nach sich ziehen kann, je nachdem, worauf der Schutzzweck der Pflicht gerichtet ist. Die gegenteilige Auffassung, wonach die Schutzpflichten nur dem Schutz des Integritätsinteresses dienen, während das Äquivalenzinteresse durch die Leistungspflichten gewahrt bleibt, ist demgegenüber unzutreffend 40 und wird im refomierten Schuldrecht - abgesehen von den unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen - nicht mehr fortgeführt. Schutzpflichten können also nicht nur dem Schutz anderer Rechtsgüter, sondern auch dem Schutz des Leistungsgegenstandes (hier: der Kaufsache) selbst dienen. Das Prinzip der Haftung für Schutzpflichtverletzungen ist im Einklang mit dem historischen Gesetzgeber zum BGB von 1900 als umfassende Anspruchsgrundlage zur Wahrung des gesamten Gläubigerinteresses zu verstehen, das ergänzend neben die ausschließlich auf Erfüllung gerichteten Leistungspflichten zur Bewegung der Güter tritt. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Sachmangel können die Schutzpflichten aufgrund des umfassenden Funktionsbereichs der Culpa-Haftung durchaus das gesamte Interesse, also das Integritätsund das Äquivalenzinteresse des Käufers schützen41, wobei die Vorrangigkeit eines bestimmten Interesses auf Gläubigerseite nicht feststellbar ist. 42

c)

Die denkbaren Schutzpflichten

Den Verkäufer können unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls eine Vielzahl von Schutzpflichten treffen, deren Verletzung zu einem Sachmangel und sonstigen Schädigungen von Käuferinteressen führen

Ausschlussfunktion gegenüber einer allgemeinen Culpa-Haftung beimessen will; Flume , AcP 197(1997), S. 441 [448]. 40 Näher Rust , Gewährleistungshaftung, § 7 I; zur gegenteiligen Auffassung siehe Canaris , JZ 1965, 475 [477] und Thiele, JZ 1967, 649 [650 f.], jeweils m.w.N.; vgl. auch die systematischen Darstellungen von Emmerich in: MK, Vor § 275. 41 Zu nennen ist nur der Fall, in dem eine Aufklärungspflicht über eine Eigenschaft der Kaufsache sowohl hinsichtlich des Leistungserfolges als auch hinsichtlich der Erhaltung sonstiger Rechtsgüter geschuldet ist; dazu näher Emmerich in MK, Vor § 275, Rdn. 219 m.w.N. und Rdn. 282 ff., der bei derartigen Pflichten den mehrdeutigen Begriff der Nebenpflicht aufgreift, welche je nach Fallgestaltung einer Leistungs- oder einer Schutzpflicht näher stehen soll. 42 Zuzugestehen ist allerdings, daß die Herleitung relativer Schutzpflichten dann leichter fällt, wenn sich der absolute Charakter der Schutzpflicht bereits aus dem Deliktsrecht ergibt, was beim Schutz etwaiger Erwerbsinteressen grundsätzlich ausscheiden muß.

128

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kann. Entgegen der Begründung zur Schuldrechtsreform 43 ist bei der Identifizierung etwaiger Schutzpflichten nach wie vor zwischen Gattungs- und Spezieskauf zu differenzieren: 44 Beim Gattungskauf hat der Verkäufer dem Käufer die Sache aus einer vorhandenen Gattung nach mittlerer Art und Güte auszusondern. Eine schuldhafte Schutzpflichtverletzung kann dabei in der mangelhaften Herstellung des Endprodukts oder der Beschaffung eines mangelhaften Vorprodukts liegen. 45 Ist der Verkäufer lediglich Händler, so kann ihm der Vorwurf einer Schutzpflichtverletzung in Gestalt der fahrlässigen Konkretisierung der Kaufsache gemacht werden, wenn er die Kaufsache nicht hinreichend auf ihre Vertragsmäßigkeit untersucht. 46 Weiter ist beim Gattungskauf der Fall denkbar, daß der gewerbliche Verkäufer mit einiger Sachkenntnis dem Käufer die Verwendung einer bestimmten Gattung empfiehlt, die jedoch zur Realisierung des vom Käufer angestrebten Vertragszwecks ungeeignet ist. 47 Beim Spezieskauf steht als Standardfall der einer Kaufsache anfänglich anhaftende, dem Verkäufer unbekannte Sachmangel im Vordergrund. Ist der Fehler prinzipiell erkennbar, so können den Verkäufer Schutzpflichten zur Untersuchung der Kaufsache und Aufklärung des Käufers treffen. 48 Weiter kann dem Verkäufer die Schutzpflicht obliegen, die Kausache nach Vertragsschluß bis zur Übergabe sorgfaltsgemäß zu behandeln und zu verwahren und die Verursachung eines Sachmangels zu vermeiden. Zusammenfassend läßt sich folgendes festhalten: Entscheidend muß stets sein, ob im konkreten Einzelfall eine derartige Schutzpflicht tatsächlich vorliegt. Dies kann gem. der §§ 157, 242 BGB nur durch Auslegung des Parteiwillens und der (objektiven) normativen Ordnung unter Berücksichtigung der

43

Begründung, S. 94. Siehe dazu ausführlicher Soergel/Huber, Anh. § 463, Rdn. 30 ff. 45 BGHZ 101, 337 = MDR 1988, 138 (Urt. v. 16.09.1987 - VIII ZR 334/86); BGH MDR 1989, 537 (Urt. v. 25.01.1989 - VIII ZR 49/88). 46 Die Rechtsprechung ist zurückhaltend in der Konstituierung solcher Untersuchungspflichten, die über die allgemeine Konkretisierungspflicht hinausreichen; siehe nur BGH MDR 1981, 749 (Urt. v. 18.02.1981 - VIII ZR 14/80); eine Untersuchungspflicht wurde etwa bejaht in BGH BB 1953, 992 (Urt. v. 11.11.1953 - II ZR 242/52). 47 BGHZ 59, 158 = MDR 1972, 1026 (Urt. v. 14.06.1972 - VIII ZR 75/71); vgl. auch BGHZ 50, 200 = MDR 1968, 752 (Urt. v. 29.05.1968 - VIII ZR 77/66). Ein anderer Aspekt ist, daß in derartigen Fällen meistens das Vorliegen einer zugesicherten Eigenschaft vorrangig diskutiert wird. 48 Die Rechtsprechung verhält sich auch hier zurückhaltend in der Annahme einer solchen Untersuchungspflicht; siehe nur BGH MDR 1981, 666 (Urt. v. 21.01.1981 VIII ZR 10/80); Untersuchungspflicht bejaht in BGH MDR 1983, 306 (Urt. v. 03.11.1982 VIII 282/81); instruktiv Finkenauer, a.a.O. 44

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Umstände des Einzelfalls geschehen.49 Zweck der obigen Aufreihung denkbarer Schutzpflichtverletzungen soll keinesfalls sein, den Pflichtenkatalog des Verkäufers ins Unvernünftige und Uferlose auszudehnen. Vielmehr soll es dabei bleiben, daß der Verkäufer zwar grundsätzlich nicht zur Untersuchung der Sache verpflichtet ist, wohl aber ausnahmsweise dann, wenn Verdachtsmomente vorliegen, die Zweifel an der Mangelfreiheit rechtfertigen, oder wenn eine entsprechende Verkehrssitte besteht.50 Jedenfalls kann der Grundsatz des caveat emptor in der heutigen Industriegesellschaft nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit vertreten werden, wie dies noch zum Inkrafttreten des BGB der Fall war.

3.

Die Kausalität zwischen Schutzpflichtverletzung und Schaden

Den Verkäufer einer mangelhaften Sache trifft demnach wie jeden anderen Schuldner eine umfassende Haftung, den Schaden zu ersetzen, der durch seine schuldhafte Schutzpflichtverletzung verursacht wurde. 51 Zu ermitteln bleibt, welche zur Lieferung einer mangelhaften Kaufsache führenden Schutzpflichtverletzungen für welche konkreten Schäden kausal geworden sind. Ersatzfähigkeit ist in diesem Zusammenhang nur gegeben, wenn der Schaden bei Beachtung der konkreten Schutzpflicht, also bei sorgfaltsgemäßem Verhalten nicht entstanden wäre. Das Integritätsinteresse des Käufers einer mangelhaften Sache am Schutze seiner sonstigen Rechtsgüter wäre nicht beeinträchtigt worden, wenn sich der Verkäufer entsprechend der (unentwickelten) Schutzpflicht verhalten hätte: Bei ordnungsgemäßer Herstellung, Konkretisierung oder Empfehlung der richtigen Gattung hätte der Käufer eine mangelfreie Kaufsache erhalten, so daß seine sonstigen Rechtsgüter nicht durch die Mangelhaftigkeit beeinträchtigt worden wären. So verhält es sich im Ergebnis auch bei der Schutzpflichtverletzung in Gestalt der unterlassenen Untersuchung einer fehlerhaften Speziessache. Hätte sich der Verkäufer sorgfaltsgemäß verhalten und den Käufer über die Fehlerhaftigkeit aufgeklärt, wäre der Vertrag vom Käufer (so) gar nicht geschlossen worden, so daß dieser ohne die Erlangung der mangelhaften Kaufsache keinesfalls an seinen sonstigen Rechtsgütern beeinträchtigt worden wäre. Die Verletzung einer zur Lieferung einer mangelhaften Kaufsache führenden Schutzpflicht kann mithin kausal für die Beeinträchtigung des Integritätsinteresses werden und zwingt zum Ersatz desselben. 49

Dazu insg. Mot. II, S. 26; ausführlicherer^, § 1, S. 5 ff. u. § 23, S. 578 ff. Ehmann!Sutschet, JZ 2004, 62, 66, 71 m.w.N.; mit Nachdruck zur notwendig einzelfallabhängigen Prüfung Emmerich, in MK, Vor § 275, Rdn. 118 f. und 237 ff. 51 Im Ergebnis, aber ausgehend von einer anderen Haftungsgrundlage auch MK/Emmerich, Vor § 275, Rdn. 236, der dies als Selbstverständlichkeit bezeichnet. 50

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Im Hinblick auf die kausale Beeinträchtigung des Äquivalenzinteresses ist zwischen Gattungs- und Spezieskauf zu differenzieren. Wenn der Verkäufer beim Gattungskauf das erforderliche Maß an Sorgfalt aufgebracht hätte, wäre eine mangelfreie Kaufsache geliefert worden. Das Erfüllungsinteresse des Käufers wäre vollständig gewahrt geblieben, da die Kaufsache mit dem kalkulierten Wert in das Käufervermögen integriert worden wäre. Eine umfassende Schadensersatzpflicht auf den gesamten verursachten Schaden ist demnach beim Gattungskauf konstruktiv möglich. Anders verhält es sich demgegenüber beim Spezieskauf In der wohl typischen Konstellation des Sachmangels haftet der Kaufsache ein Fehler an, den der Verkäufer bei bestehender Untersuchungspflicht hätte erkennen müssen. Diese Schutzpflicht steht allerdings weder zum Sachmangel noch zum eventuell betroffenen Äquivalenzinteresse des Käufers in einem KausalitätsVerhältnis. Denn bei ordnungsgemäßer Untersuchung der Kaufsache und Information des Käufers durch den Verkäufer wäre der Vertrag i.d.R. überhaupt nicht zustande gekommen, so daß eine Verletzung des Äquivalenzinteresses ausscheiden muß. In diesen Fällen ist lediglich das negative und das Integritätsinteresse des Käufers zu ersetzen, da nur diese durch die Schutzpflichtverletzung beeinträchtigt werden können.52 Wie bereits ausgeführt, wird diese Fallkonstellation nunmehr in den §§ 437 Nr. 3, 311a Abs. 2 BGB (nach dem Willen der Refomer ein Verschuldenshaftungstatbestand) entgegen den oben angeführten Kausalitätserwägungen anders beurteilt, da der Gesetzgeber anläßlich der Schuldrechtsreform von dem unrichtigen Schadensersatztatbestand des „zu vertretenden Sachmangels" anstelle einer separat zu ermittelnden Schutzpflicht und deren schuldhafter Verletzung ausgeht. Der Ersatz des Äquivalenzinteresses nach 311a Abs. 2 BGB könnte allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn man diese Norm mit Ehmann/Sutschet entgegen dem Verständnis der Reformer als Teil der gewährleistungsrechtlichen Garantiehaftung qualifiziert. 53

4.

Das Verhältnis der Schutzpflichten zur Leistungspflicht

Zu klären bleibt, in welchem Verhältnis die hier diskutierten haftungsbegründenden Schutzpflichten zu der Leistungspflicht stehen, die Kaufsache fehlerfrei zu liefern. Diesbezüglich ist zu beachten, daß die Tatbestände der Schutzpflichtverletzung und des Sachmangels als Nichterfüllung der Leistungspflicht nicht deckungsgleich sind. 54 Denn einerseits muß der Verkäufer einer mangelhaften Sache nicht notwendigerweise eine Schutzpflicht verletzen, so 52 53 54

Überzeugend Flume , in AcP 197 (1997), S. 441 [450]. s.o., II. 3. Zuletzt Ehmann/Sutschet, JZ 2004, 62, 67.

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131

etwa, wenn den Verkäufer überhaupt keine Untersuchungspflicht hinsichtlich des Kaufgegenstandes trifft. Andererseits kann der Verkäufer einer mangelfreien Sache durchaus eine unentwickelte Schutzpflicht verletzt haben, sei es, daß er der bestehenden Untersuchungspflicht bei zufälliger Mangelfreiheit nicht nachkommt, sei es, daß der Verkäufer eine Instruktionspflicht über den Gebrauch der mangelfreien Kaufsache verletzt. 55 Daher kann der derzeitigen gesetzlichen Vorgabe nicht gefolgt werden, die zwar eine umfassende Verschuldenshaftung des Verkäufers annimmt, diese jedoch aus der schuldhaften Nichterfüllung der Leistungspflicht zur mangelfreien Verschaffung statt aus der Verletzung einer Schutzpflicht ableitet. 56 Die Herleitung der Culpa-Haftung aus der Verletzung der Leistungspflicht beinhaltet - wie bereits ausgeführt - den Schwachpunkt, daß der erforderliche konkrete Kausalzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden überspielt wird. Demnach führt nach den §§ 437 Nr. 3, 311a Abs. 2 BGB auch der Fall der sorgfaltswidrig unterbliebenen Untersuchung der fehlerhaften Speziessache zum Ersatz des Äquivalenzinteresses, obwohl der Vertrag bei sorgfaltsgemäßem Verhalten wohl überhaupt nicht geschlossen worden wäre. Die Vermeidung eines solchen, dem Kausalzusammenhang widersprechenden Ergebnisses ergibt sich nach dem Haftungstatbestand der Schutzpflichtverletzung bereits konstruktiv. Die Tatsache, daß in den diskutierten Konstellationen auch die Leistungspflicht zur fehlerfreien Verschaffung nicht erfüllt wird, ist für die allgemeine Verschuldenshaftung nicht haftungsauslösend, sondern vielmehr eine gewährleistungstypische, aber nicht notwendige Folge der Schutzpflichtverletzung. Die Nichterfüllung der Leistungspflicht vermag nur die Garantiehaftung für den Leistungserfolg auszulösen57, i.e. nach neuem Recht die Nacherfüllung, die Minderung, den Rücktritt oder Schadensersatz wegen Garantieübernahme sowie nach Ehmann!Sutschet Schadensersatz nach § 311 a Abs. 2 BGB. In diesem Zusammenhang ist auch auf ein Urteil des BGH vom 13. März 1996 hinzuweisen, welches bereits nach altem Recht die obigen Ausführungen zum Haftungsgrund bestärkte. 58 In diesem Urteil unterließ der Verkäufer nach langjähriger Geschäftsbeziehung eine Aufklärung über die geänderte Beschaffenheit der Kaufsache. Das zur Schuhherstellung gelieferte Leder war nunmehr regendurchlässig und daher mangelhaft. Der BGH gewährte den verlangten

55

Z.B. BGHZ 47, 312 = MDR 1967, 758 (Urt. v. 05.04.1967 - VIII ZR 32/65). Vgl. auch Soergel!Huber, Vor § 459, Rdn. 53 ff. und Emmerich in: MK, Vor § 275, Rdn. 226, die terminologisch auf den „zu vertretenden Sachmangel" bzw. die schuldhafte ,JSchlechterfällung" abstellen. 57 Ausführlicher /fas/, Gewährleistungsrecht, § 7 I. I.e. 58 BGH MDR 1996, 697 (VIII ZR 333/94); ähnlich BGHZ 107, 331 = MDR 1989, 46 (Urt. v. 31.05.1989 - VIII ZR 140/88) und BGH MDR 1996, 457 (Urt. v. 10.01.1996-VIII ZR 81/95). 56

132

Ulrich Rust

Schadensersatz und stützte diesen Anspruch unmittelbar auf die schuldhafte Verletzung einer Neben- (besser: Schutz-)Pflicht in Gestalt der unterlassenen Aufklärung anstatt auf die schuldhafte Nichterfüllung der Leistungspflicht zur mangelfreien Beschaffung bzw. auf einen „zu vertretenden Sachmangel". Im übrigen umfaßte der Schadensersatzanspruch unter anderem den entgangenen Gewinn des Käufers. Nach der überkommenen Differenzierung vor Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes müßte dieser Anspruch abgelehnt werden, da es sich beim entgangenen Gewinn um einen reinen Mangelschaden handelt, der in das Äquivalenzinteresse des Käufers fällt. 59 Statt dessen erklärte der BGH jeden kausal auf der Schutzpflichtverletzung in Gestalt mangelnder Aufklärung beruhenden Schaden, und somit auch den entgangenen Veräußerungsgewinn, für ersetzbar. Nach neuem Recht müßte in diesem Fall allerdings zunächst die überflüssige Abgrenzungsfrage beantwortet werden, ob sich der Schadenseratzanspruch wegen des „zu vertretenden" Sachmangels über § 437 Nr. 3 BGB oder unmittelbar aus § 280 Abs. 1 BGB („Verletzung einer leistungsbezogenen Nebenpflicht") ergibt, was zu unterschiedlichen Verjährungsfristen führt (§ 438 BGB oder §§ 195, 199 BGB, s.o., 2. d)).

IV. Ergebnis und Ausblick Die Sachmängelhaftung beruht idealiter auf zwei Grundprinzipien: Zum einen leiten sich die verschuldensunabhängigen Rechtsbehelfe aus der Nichterfüllung der Leistungspflicht zur mangelfreien Verschaffung der Kaufsache her. Zum anderen trifft den Verkäufer einer mangelhaften Sache eine allgemeine, das gesamte Käuferinteresse umfassende Verschuldenshaftung, falls er eine (unentwickelte) Schutzpflicht subjektiv sorgfaltswidrig verletzt. Diese Grundprinzipien finden sich zwar im Schuldrechtsmodernisierungsgesetz wieder und fuhren zu einer Integration des Gewährleistungsrechts in das allgemeine Leistungsstörungsrecht. Der Gesetzgeber verkannte dabei jedoch, daß Haftungsgrundlage für die allgemeine Verschuldungshaftung nicht die schuldhaft verletzte Leistungspflicht, sondern eine selbstständig zu ermittelnde schuldhafte Schutzpflichtverletzung ist. § 311a Abs. 2 BGB ist insoweit phänotypisch für dieses Fehlverständnis, soweit man die Norm mit den Reformern als Verschuldeshaftungstatbestand betrachtet und nicht mit Ehmann/Sutschet als - in § 311 a Abs. 2 S. 2 BGB wiederum aus Billigkeitsgründen entschärfte Garantiehaftung. Ferner bringt das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz eine sachlich nicht gerechtfertigte und mit divergierenden Veijährungsregelungen einhergehende Differenzierung zwischen dem zu vertretenden Sachmangel und 59

Insg. zweifelnd von Olshausen, JR 1997, 62 [63].

Die Schadensersatzhaftung bei mangelhaften Kaufsachen

133

der Verletzung von leistungsbezogenen Nebenpflichten mit sich. Richtig kann demgegenüber nur eine Einheitslösung sein, die die Schadensersatzhaftung unabhängig vom jeweiligen Schuldverhältnis auf die schuldhafte Verletzung einer Schutzpflicht zurückführt. De lege ferenda ergeben sich hieraus die Forderungen, die Schadensersatzregelung des Gewährleistungsrechts in § 437 Nr. 3 BGB zu streichen und Schadensersatzansprüche bei der Lieferung mangelhafter Kaufgegenstände unter sachgerechter Zuordnung vertraglicher Schutzpflichten sowie konsequenter Anwendung des Äquivalenzprinzips unmittelbar aus den §§ 280 ff. BGB herzuleiten.

Gefahrtragungsregeln beim Kauf unter besonderer Berücksichtigung des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes Wilhelm Reinhardt

I.

Einleitung 1

Die Gefahrtragungsregeln beim Kauf behandeln das Problem, welche Vertragspartei im Falle des zufälligen Untergangs der gekauften Sache den Schaden zu tragen hat. Das durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz überarbeitete BGB regelt diese Frage in den §§ 446, 447 und 474 Abs. 2 BGB. Der Regelungsvorschlag der Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts von 1992 sah ursprünglich eine Streichung des § 447 BGB vor. Bei Abschaffung des § 447 BGB wäre beim Versendungskauf nicht mehr der Käufer, sondern generell der Verkäufer mit der Gefahr des zufälligen Untergangs belastet worden. Weiterhin schlug die Kommission eine Streichung des § 446 I I BGB aF vor, der die Frage der Gefahrtragung beim Grundstückskauf regelt. Zu einer gänzlichen Streichung des § 447 BGB konnte man sich letztlich nicht durchringen. Vielmehr findet § 447 BGB nur im Falle des Verbrauchsgüterkaufs keine Anwendung (§ 474 Abs. 2 BGB). § 446 Abs. 2 BGB aF wurde hingegen gestrichen.

II.

Ratio Legis des § 446 B G B

1.

Das Beherrschbarkeitsprinzip

Ganz überwiegend wird als Rechtfertigung für § 446 BGB das Prinzip der Beherrschbarkeit herangezogen. Wer die Herrschaft über eine Sache habe, solle für diese auch die Gefahr tragen. Er sei aus tatsächlichen Gründen besser in der 1 Der Beitrag beruht auf meiner Trierer Dissertation, die in der Reihe „Schriften zum Bürgerlichen Recht" des Verlages Duncker & Humblot, Berlin, unter dem Titel „Die Gefahrtragung beim Kauf unter besonderer Berücksichtigung der Regelungsvorschläge des Schuldrechtsreformentwurfes" erschienen ist. Die Dissertation wurde betreut von Prof. Dr. Ehmann, dem ich zu großem Dank verpflichtet bin.

136

Wilhelm Reinhardt

Lage, sie zu schützen. Trage der Besitzer die Gefahr, so möge er selbst entscheiden, welcher Aufwand ihm die Bewachung und Versicherung wert sei, dieser Aufwand komme ihm zugute. Werde der Besitzer nicht mit der Gefahr belastet, so werde dies für ihn Anlaß minderer Sorgfalt sein.2 Wenn der Satz richtig wäre, daß „grundsätzlich jeder den Zufall zu tragen hat, der sich in seinem Herrschaftsbereich ereignet " 3 , so müßte an und für sich jeder Besitzer die Gefahr des zufälligen Untergangs einer Sache tragen. Eine Betrachtung der Gefahrtragungsregeln im BGB zeigt jedoch, daß diese nicht auf dem Prinzip der Beherrschbarkeit beruhen. a) So trägt bei der Miete und Pacht nicht der Besitzer die Gefahr des zufälligen Untergangs. Eine Ausnahme davon sieht allerdings § 582 a BGB vor. Hiernach trägt der Pächter die Gefahr des zufälligen Untergangs und der zufälligen Verschlechterung des Inventars, wenn der Pächter eines Grundstückes das Inventar zum Schätzwert, mit der Verpflichtung, es bei Beendigung der Pacht zum Schätzwert zurückzugewähren, übernommen hat. In dieser Vorschrift ist also der Gedanke der Beherrschbarkeit nicht verwirklicht worden, denn den unmittelbaren Besitz, der die Gefahrenabwehr ermöglicht, hat der Pächter auch dann, wenn er das Inventar nicht zum Schätzwert übernommen hat, ohne daß ihm deshalb das Gesetz die Gefahr der Wertminderung des Inventars auferlegt. Auch im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis und beim gesetzlichen Rücktritt gemäß § 346 BGB trägt der Besitzer nicht die Gefahr des zufälligen Untergangs. Bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung würde sich nach der gesetzlichen Lage eigentlich eine Gefahrbelastung desjenigen ergeben, der die Sache gerade nicht in seiner Obhut hat. Durch die Anwendung der Saldotheorie wird diese Gefahrbelastung allerdings umgekehrt. Selbst bei Sonderfällen des Kaufs wird der Beherrschbarkeitsgedanke nicht konsequent verwirklicht. So wird beim aufschiebend und auflösend bedingten Kauf der Gedanke zur Lösung der Gefahrtragungsproblematik überwiegend nicht herangezogen. Das gleiche gilt für die Problematik, ob mit der Übergabe im Sinne des § 446 BGB auch die Verschaffung des Besitzes durch die §§ 930, 931 BGB gemeint sein kann. Festzuhalten bleibt somit, daß im BGB keineswegs von einem Parallellauf zwischen Sachherrschaft und Gefahrtragung gesprochen werden kann. b) § 446 BGB regelt die Gefahr des zufalligen Untergangs. 4 Damit werden insbesondere auch Fälle höherer Gewalt umfaßt 5, somit solche, die für den Käu-

2 Vgl. statt vieler Hager, Gefahrtragung beim Kauf, 1982, S. 72 ff.; Soergel/Huber, BGB, 12. Aufl. Vor § 446 Rn. 16; Schildt JR 95, S. 90. 3 Lorenz, Schuldrecht II/l, 13. Aufl. § 42 II a. 4 Zufallig ist ein Untergang, wenn er von keiner Partei zu vertreten ist. Der Haftungsbereich des Verkäufers und des Käufers und der Gefahrtragungsbereich schließen sich also aus.

Gefahrtragungsregeln beim Kauf

137

fer gar nicht beherrschbar sind und daher nicht mit dem Beherrschbarkeitsgedanken erklärt werden können.6 Man kann dem Käufer aber nicht die Gefahr fur einen nicht beherrschbaren Untergang mit der Begründung auferlegen, er hätte diesen beherrschen können, obwohl die Gefahr in concreto gar nicht beherrschbar war. In solchen Fällen versagt das Beherrschbarkeitsprinzip. Bei Anerkennung und Anwendung des Beherrschbarkeitsprinzips müßte daher im Einzelfall noch geprüft werden, ob die Gefahr auch beherrschbar war. Eine solche Prüfung wird aber gerade nicht vorgenommen. 7 c) Die Anwendung des § 446 BGB wird in der Rechtsprechung und Literatur nicht auf die Fälle der höheren Gewalt beschränkt. Die Vorschrift soll auch die beherrschbaren Gefahren erfassen, wobei angenommen wird, daß bei einem Untergang der Kaufsache nicht unbedingt ein Verschulden vorliegen müsse.8 Bei Unterlassen der erforderlichen und üblichen Schutzvorkehrungen wird zwar in der Regel ein Verschulden vorliegen, von § 446 BGB sollen dann aber die Fälle erfaßt werden, in denen durch optimale Sorgfaltsanforderungen, damit sind solche gemeint, die die im Verkehr erforderliche Sorgfalt übersteigen und sich auch nicht aus dem Vertrag ergeben, die Gefahr hätte verhindert werden können. Aufgrund eines rechtmäßigen Verhaltens, nämlich eines solchen, zu welchem der Käufer gegenüber dem Verkäufer nicht verpflichtet ist, wird also eine Gefahrverlagerung vorgenommen. Ein rechtmäßiges Verhalten sollte aber grundsätzlich keine negative Folge in Form der Gefahrverlagerung herbeiführen. d) Teilweise wird dem Beherrschbarkeitsgedanken anscheinend auch eine Obliegenheitspflicht entnommen.9 Läge eine solche Obliegenheitspflicht des Käufers zur Wahrnehmung aller Schutzmöglichkeiten vor, so hätte der Käufer

5 Vgl. Soergel/Huber (Fn. 2), §446 Rn. 31; Staudinger/Köhler, BGB, 13. Aufl., § 446 Rn. 20; zu § 447 BGB vgl. RGZ 88, 389; 92, 128; 93, 106; Soergel/Huber (Fn. 2), § 447 Rn. 66; Staudinger/Köhler (Fn. 5), § 447 Rn. 17. 6 Aus diesem Grunde wird teilweise in der älteren Literatur das Beherrschbarkeitsprinzip als Begründung für § 446 BGB abgelehnt, vgl. Glass, Gefahrtragung und Haftung beim gesetzlichen Rücktritt, 1959, S. 28; Schilcher, JurBl. 1964, S. 400. 7 Vgl. RG 85, 320; Soergel/Huber (Fn. 2), § 446 Rn. 31. Früher wurde in der Literatur ζ. T. eine solche Prüfung befürwortet, vgl. Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929, § 84 Ziff. 2. 8 Vgl. z. b. Brox JuS 1975, S. 4; Schilcher, JurBL. 1964, S. 400. Dies folgt daraus, daß die namentlich Genannten bei einem Vertreten des Käufers § 324 aF BGB anwenden, aber dennoch als Begründung den Beherrschbarkeitsgedanken anführen. Α. A. Soergel/Huber (Fn. 2), § 446 Rn. 37, der auch bei einem Verschulden des Käufers § 446 BGB anwendet. Dies ist aber abzulehnen, da § 446 BGB eine Ausnahmeregelung zu den Regeln der Leistungsstörung darstellt. 9 Vgl. z. B. Erman/Grunewald, BGB, 9. Aufl., § 446 Rn. 1: „Diese Anordnung des Gesetzes beruht auf der überzeugenden Überlegung, daß der Käufer nach der Überga die Kauf sache in seiner Gewalt hat und daher auf sie zu achten hat. "

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138

aber den Untergang grundsätzlich zu vertreten, da ein anderer Sorgfaltsmaßstab gegeben wäre (vgl. § 276 BGB). Wenn der Käufer dieser Pflicht nicht genügt, würde § 446 BGB in den meisten Fällen gar nicht mehr zur Anwendung gelangen, außer in den Fällen der höheren Gewalt, die ohnehin nicht durch das Beherrschbarkeitsprinzip erklärt werden können. Eine solche Begründung würde § 446 BGB daher gerade seinen Anwendungsbereich nehmen und ist daher abzulehnen.

2.

Casum sentit dominus

Da das Beherrschbarkeitsprinzip als Rechtfertigung für die in § 446 BGB statuierte Gefahrverlagerung somit abzulehnen ist, soll zur ratio legis des § 446 BGB Stellung bezogen werden. Neben dem im BGB verwirklichten Übergabeprinzip (Traditionsprinzip) gibt es zwei weitere Prinzipien, nämlich das römisch-rechtliche periculum est emptoris, 10 welches den Gefahrübergang an den Vertragssschluß anknüpft, und das Prinzip casum sentit dominus. 11 Das letztere Prinzip bringt nach bisherigem Verständnis zum Ausdruck, daß der Schaden von der Partei zu tragen ist, bei welcher auf Grund der vorhandenen Vermögensverteilung und des Naturverlaufes der Schaden eingetreten ist. Da das Eigentumsrecht den Gegenstand dem Vermögen des Rechtsinhabers zuordnet, kommt man zu der irrigen Annahme, daß nur der Eigentümer die Gefahr zu tragen hat. Bei richtigem Verständnis von casum sentit dominus ist dies jedoch nicht zwingend der Fall. a) Sicherlich liegt die Gefahr des Rechts, das periculum juris, unvermeidlich bei dem Inhaber des Rechts. Geht die Sache unter, so erlischt natürlicherweise dieses Recht. Der Verlust des Rechts ist Ausfluß des Wegfalls des Gegenstands. Von dem periculum juris denknotwendig zu trennen ist aber das periculum aestimationis, die Wertgefahr. 12 Derjenige, der die Wertgefahr trägt, erleidet den wirtschaftlichen Nachteil in seinem Vermögen. Beide pericula sind voneinander zu unterscheiden. Das Vermögen kann einen wirtschaftlichen Nachteil erleiden, obwohl überhaupt kein Rechtsnachteil eingetreten ist. Oft werden zwar das periculum aestimationis und das periculum juris in einer Person zusammenfallen, da das Eigentumsrecht an einer Sache in der Regel auch den wirtschaftlichen Wert der Sache dem Vermögen des Rechtsinhabers zuordnet. Mit dem Unter10

Dieses Prinzip findet sich heute z. B. noch in den Rechtsordnungen von der Schweiz, Türkei, Chile, Kolumbien, Kuba und Spanien wieder. Vgl. zu diesem Prinzip Ernst, Das Klassische Römische Recht der Gefahrtragung beim Kauf: Periculum est emptoris, 1981; Hager (Fn. 8), S. 67. 11 Dieses Prinzip ist z. B. in England und Frankreich verwirklicht worden. 12 Vgl. Filios, Gefahrtragung beim Kauf (§ 446 BGB) im Rahmen des Synallagmas, 1964, S. 3.

Gefahrtragungsregeln beim Kauf

139

gang des Rechts erleidet dann natürlicherweise auch der Eigentümer einen wirtschaftlichen Nachteil in seinem Vermögen. Da aber die rechtliche und wirtschaftliche Zuordnung voneinander getrennt vorgenommen werden können, ist die Vereinigung in einer Person nicht denknotwendig der Fall. Der wirtschaftliche Wert des Rechts an der untergegangenen Sache braucht für das Vermögen des Rechtsinhabers nämlich nicht gleich dem Wert der Sache zu sein, so daß durch den Untergang der Sache das Vermögen des Eigentümers auch nicht in Höhe des Werts der Sache einen wirtschaftlichen Nachteil erleiden kann. Die Eigentümerstellung kann nur noch rein formaler Art sein, eine „leere Hülse" darstellen. Wenn ζ. B. bei dem Erben eine Sache ohne Verschulden untergeht, die dem Vermächtnisnehmer vermacht ist (vgl. §§ 2174, 275 BGB), kann das Vermögen des Rechtsinhabers infolge des zufälligen Verlusts keinen wirtschaftlichen Nachteil erleiden, da die Sache für das Vermögen des Rechtsinhabers keinen wirtschaftlichen Wert hatte. Aus diesem Grunde ist zu untersuchen, ob das Eigentumsrecht für das Vermögen des Rechtsinhabers überhaupt einen wirtschaftlichen Wert hat. Denn nur dann ist der Eigentümer auch der zunächst wirtschaftlich Betroffene, bei dem der wirtschaftliche Schaden eintritt. Ansonsten hat zunächst derjenige den wirtschaftlichen Nachteil zu tragen, dem die Sache wirtschaftlich zugeordnet ist. Das Erleiden des wirtschaftlichen Nachteils infolge des zufälligen Verlusts oder der zufälligen Verschlechterung des Kaufgegenstands ist dann sein Schicksal, wenn nicht besondere Zurechnungsgründe ihn von diesem Schicksal befreien. Dies ist ζ. B. dann der Fall, wenn die andere Partei den Untergang verschuldete oder sich eine andere Risikoverteilung aus dem Inhalt des Vertrags ergibt. b) Um festzustellen, ob § 446 BGB eine Ausprägung des Satzes casum sentit dominus ist, sind jeweils die Auswirkungen, die das verbleibende Eigentumsrecht des Verkäufers und der schuldrechtliche Anspruch des Käufers in wirtschaftlicher Hinsicht auf das Vermögen der jeweiligen Partei haben, zu betrachten. Mit Übergabe der Kaufsache erlangt der Käufer gegenüber dem Verkäufer eine dinglich geschützte Rechtsposition (vgl. § 986 Abs. 2 BGB). Diese Position ist ihm, die ordnungsgemäße weitere Abwicklung des Kaufvertrags vorausgesetzt, unentziehbar. Der Eigentümer kann die Sache aufgrund seines Eigentumsrechts nicht mehr herausverlangen. Nicht mehr dem Eigentümer kommt nach dem Satz lucrum sentit dominus eine Wertsteigerung des Kaufobjekts zugute, sondern dem Käufer. Der Eigentümer kann und darf über die Sache nicht mehr verfügen. Er besitzt keine rechtliche Herrschaft mehr über die Sache. Weiterhin verliert er mit der Übergabe die Nutzungsmöglichkeiten. Zwar könnte man an dieser Stelle einwenden, daß das Gesetz durchaus in der Lage wäre, einen anderen Zeitpunkt hinsichtlich des Übergangs der Nutzung zu statuieren, dazu sagt Huber aber völlig zu Recht: „Es liegt nun in der Natur der Dinge, daß die Nutzungen mit der Übergabe auf den Käufer übergehen; denn

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der Verkäufer verliert, der Käufer erwirbt mit der Übergabe die Nutzungsmöglichkeiten. " 1 3 Jede andere Regelung wäre offensichtlich unzweckmäßig. Im Regelfall dient das Eigentum nur noch der Sicherung des Kaufpreises. In diesem Fall wäre es aber unangemessen, den nicht sofort zahlenden Käufer gegenüber dem barzahlenden Käufer zu begünstigen. Das Eigentum stellt zwar für den Verkäufer nicht bloß eine „leere Hülse" dar, da es noch den Wert der Sicherung des Kaufpreisanspruchs behält. Der Sicherungswert bleibt nach dem Verkauf aber der einzige wirtschaftliche Wert des Eigentums. Dieser Wert geht dem Verkäufer natürlicherweise auch infolge des Untergangs der Kaufsache verloren. Die Kaufsache selbst kann aber somit wirtschaftlich nicht mehr dem Vermögen des Verkäufers zugeordnet werden. Demzufolge kann der Verkäufer auch keinen größeren wirtschaftlichen Nachteil erleiden, als dies durch den Verlust des Sicherungswerts geschieht. Dies wäre aber der Fall, wenn man dem Verkäufer den Anspruch auf den Kaufpreis wieder entziehen würde. Dagegen hat der Käufer eine unentziehbare Rechtsposition nicht nur gegenüber dem Eigentümer, sondern auch gegenüber jedem Dritten (vgl. § 986 Abs. 2 BGB). Der Käufer erhält schuldrechtlich die Nutzung der Sache zugewiesen. Für die dingliche Zuordnung der Nutzungen bleibt es zwar bei den Bestimmungen des Sachenrechts, aber die dingliche Zuordnung kann, wie bereits ausgeführt, für die wirtschaftliche Betrachtungsweise nicht der entscheidende Gesichtspunkt sein. Eine Wertsteigerung des Kaufobjekts kommt dem Käufer zugute. Ist dem Käufer mit der bloßen Nutzungsmöglichkeit nicht gedient, weil er die Sache zum Zwecke der Weiterveräußerung erworben hat, räumt ihm der Verkäufer regelmäßig mit der Sachherrschaft auch eine Verfügungsermächtigung ein. 14 Die Übergabe markiert somit denjenigen Punkt, an welchem der wirtschaftliche Erfolg des Kaufvertrags im wesentlichen eingetreten ist. 15 Es hat sich demnach wirtschaftlich schon eine Änderung der Vermögenslage vollzogen. Die Kaufsache ist wirtschaftlich dem Vermögen des Käufers zugeordnet, so daß der Käufer auch die wirtschaftlichen Nachteile zu tragen hat, die aus einem zufälligen Untergang oder einer zufälligen Verschlechterung der Sache resultieren. Mit Übergabe der Kaufsache geht demnach nach dem Satz casum sentit dominus das periculum aestimationis auf den Käufer über. Er ist somit im Falle des zufälligen Untergangs bzw. der zufälligen Verschlechterung verpflichtet, den Kaufpreis zu zahlen.

13

Soergel/Huber (Fn. 2), § 446 Rn. 16. Vgl. Hager, Gefahrtragung beim Kauf, S. 68. 15 So auch Staudinger-Köhler, § 446 Rn. 4; BGB, 13. Aufl.; Beuthien, Zweckerreichung und Zweckstörung im Schuldverhältnis, 1969, S. 80; Westermann JA 1978, S. 484. 14

Gefahrtragungsregeln beim Kauf

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I I I . Die Ratio legis des § 447 BGB Die Risikoverteilung, die in § 447 BGB zum Ausdruck kommt, ergibt sich aus dem Wesen des Kaufvertrags beim Versendungskauf Beim Kaufvertrag verpflichtet sich der Verkäufer im Normalfall nur, den Käufer zum Besitzer und Eigentümer der Sache zu machen. Der Erfüllungsort dieser Verpflichtung ist in der Regel gemäß § 269 BGB der Wohnsitz oder die Niederlassung des Schuldners zur Zeit der Entstehung des Schuldverhältnisses. Der Verkauf als solcher belastet den Verkäufer also nicht mit einem Transportrisiko. 16 Übernimmt der Verkäufer auf Verlangen des Käufers die Verpflichtung zur Versendung der Ware, so wird der Verkäufer keineswegs seine Verpflichtung aus dem Kaufvertrag automatisch derart erweitern, daß er alle Pflichten zur Versendung übernimmt, sondern er will in der Regel nur die Absendung der Ware vornehmen. Er hat die Versendung herbei-, nicht durchzuführen. Es liegt eine Schickschuld vor, bei welcher der Verkäufer mit der Übergabe der Kaufsache an den Transporteur alle seine nach dem Kaufvertrag geschuldeten Leistungshandlungen vorgenommen hat. Im Gegensatz dazu steht die Bringschuld, bei der der Verkäufer die Verpflichtung zur Durchführung des Transports übernommen hat. Die Risikoübernahme hinsichtlich des Transports ist dann von dieser Verpflichtung umfaßt, sie ist dem Inhalt dieser Verpflichtung zu entnehmen. Aber diese Verpflichtung besteht gerade nicht bei einer Schickschuld, so daß auch die Risikoübernahme hinsichtlich des Transports nicht mehr von dem Inhalt dieser Verpflichtung umfaßt sein kann. Eine Risikoübernahme des Verkäufers hinsichtlich des Transports ist dem Rechtsgeschäft Versendungskauf somit nicht zu entnehmen. Dagegen wird man eine Risikoübernahme seitens des Käufers aus dem Inhalt des Versendungskaufs herleiten müssen. Gehört es nämlich nicht zu den Vertragspflichten des Verkäufers, den Transport selbst durchzuführen, sondern nur herbeizuführen, so steht der Verkäufer vertraglich für die Durchführung und damit auch gerade für das Gelingen dieses Transports nicht ein, und hat daher auch die mit dem Transport zusammenhängenden Risiken nicht zu tragen. Die Gefahrtragung des Käufers ist somit im Wesen des Versendungskaufs begründet. Wollen die Parteien etwas anderes bestimmen, so bleibt ihnen die Möglichkeit, den Wohnsitz des Gläubigers zum Leistungsort zu machen oder jedenfalls besonders zu vereinbaren, daß der Verkäufer bis zur Ablieferung der Ware am Bestimmungsort die Gefahr tragen soll. So führte Jakubezky bei den Beratungen zum BGB aus:

16

So auch Ernst, der daraus schließt, daß die Versendung von der Art eine Geschäftsbesorgung sei und daher der Käufer die Zufallsrisiken zu tragen habe, ZIP 1993, S. 481 f. Dagegen spricht jedoch, daß die Versendung der Ware beim Versendungskauf eine Vertragspflicht des Verkäufers ist, bei deren Unterlassen sich der Verkäufer schadensersatzpflichtig macht. Der Verkäufer besorgt daher mit der Versendung ein eigenes Geschäft.

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„Es handelt sich nicht um eine positive, aus der rechtsgeschichtlichen Entwicklung der Vorschrift über die Gefahr beim Kaufe zu erklärende Bestimmung, sondern der Übergang der Gefahr mit der Versendung liegt im Wesen des Schuldverhältnisses. Der die Übersendung verlangende Gläubiger muß die Transportgefahr auf sich nehmen, weil der Schuldner nur an dem Erfüllungsort zu leisten verpflichtet ist und damit, daß er auf den Wunsch des Gläubigers den Transport veranlaßt, nicht in eine Änderung des Inhalts seiner Verbindlichkeit einwilligt. Die Gefahr trifft den Gläubiger, weil der Schuldner nach dem Inhalt des Schuldverhältnisses nicht verpflichtet ist, sie zu tragen."17 Der Gefahrübergang nach § 447 BGB ergibt sich somit aus dem Wesen des Versendungskaufs. Nach dem Inhalt des Schuldverhältnisses hat der Käufer die Gefahr zu tragen.

IV. Die Gründe der Kommission zur ursprünglich geplanten Abschaffung des § 447 BGB 1.

Verwirklichung des Prinzips der Beherrschbarkeit

Die ursprünglich eingesetzte Schuldrechtskommission sah den entscheidenden Grund für die beabsichtigte Streichung des § 447 BGB in der grundsätzlichen Erwägung, daß das Risiko des zufälligen Untergangs oder der zufälligen Verschlechterung der Kaufsache von derjenigen Vertragspartei getragen werden solle, die eher als die andere imstande sei, dieses Risiko abzuwenden oder zu verringern. Dies sei beim Versendungsverkauf der Verkäufer. 18 Diese Ansicht beruhte letztlich auf dem Prinzip der Beherrschbarkeit, welches nach herrschender Meinung als Rechtfertigung für § 446 BGB herangezogen wird. Die obige Untersuchung unter I I hat jedoch gezeigt, daß § 446 BGB keine Ausprägung dieses Prinzips ist, sondern eine Ausprägung des Prinzips casum sentit dominus und daher auch nicht als Begründung für eine etwaige Abschaffung herangezogen werden sollte.

2.

Der Widerspruch des § 447 BGB zur Verkehrsauffassung

Als weiteren Grund führte die damalige Kommission an, daß es der heutigen Verkehrsauffassung entspreche, soweit es um den Kauf durch Verbraucher gehe, daß die Ware im Fall ihrer Versendung auf Gefahr des Verkäufers reise. 19 17 Jakubezky, Bemerkungen zu dem Entwürfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, S. 114. 18 Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Abschlußbericht der Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts, 1992, S. 235. 19 Abschlußbericht (Fn. 18), S. 235.

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143

Diese Verkehrsauffassung leitete die Kommission insbesondere aus dem Versandhandel her, da dort der Versandhändler bei Verlust der Ware nicht auf Bezahlung der Ware bestünde. Aus der Begründung der Kommission ergibt sich weiter, daß diese offenbar eine Bringschuld beim Versandhandel annahm.20 In der damaligen Literatur zum Kommissionsentwurf wurde dieses Argument jedoch kritisiert. Man kann sich sicherlich die Frage stellen, wie ein angeblicher Widerspruch des § 447 BGB zur heutigen Verkehrsauffassung eine Streichung des § 447 BGB rechtfertigen soll, der insbesondere aus dem Versandhandelskauf hergeleitet wird, wenn doch die Kommission offenbar eine Bringschuld im Versandhandel annimmt, und sich nach Ansicht der Kommission die Praxis ohnehin nicht auf die Vorschrift des § 447 BGB berief. 21 In der Tat wird man beim Versandhandelskauf eine Bringschuld annehmen müssen.22 Denn der Erfüllungsort ist nach den Umständen, insbesondere aus der Natur des Schuldverhältnisses zu bestimmen. So ist ζ. B. beim Kauf von Heizöl, Kohlen oder größeren Möbeln aus den Umständen auf eine Bringschuld zu schließen, da der Käufer keine eigene Transportmöglichkeit hat. 23 Gleichzustellen hiermit ist der Fall, daß der Verkäufer die Ware gar nicht an seinem Geschäftssitz anbietet, er sie also nicht dem Käufer übergeben kann und der Käufer die Ware dann von sich aus transportiert. Bei den meisten Versandhäusern ist es nicht möglich, oder es wird in den Katalogen jedenfalls nicht daraufhingewiesen,24 eine Bestellung aufzugeben, die zum Inhalt hat, daß der Kunde auf einen Transport der Ware verzichten und diese direkt am Geschäftssitz des Versandhändlers abholen kann. Eine solche Möglichkeit wird das Versandhaus im Regelfall auch nicht einräumen, da dies dem Charakter des Versandhandelskaufs widerspricht und auch nicht auf Akzeptanz der Kunden stoßen würde. Beim Versandhandelskauf ist somit Erfüllungs- und Leistungsort regelmäßig der Wohnsitz des Käufers, so daß im Versandhandel eine Bringschuld anzunehmen ist. 25

20

Vgl. Abschlußbericht (Fn. 18), S. 235. So auch Ernst ZIP 1993, S. 486. In einem Zwischenbericht sagte daher das Kommissionsmitglied Medicus noch, daß für eine Streichung des § 447 BGB kein ausreichendes Bedürfnis bestehe, da im Versandhandel überwiegend eine Bringschuld anzunehmen sei (AcP 188, S. 177). 22 Vgl. zum Versandhandelskauf ausführlich Schiidt JR 1995, S. 89. 23 So erachtete auch das OLG Oldenburg (NJW-RR 1992, 1528) eine AGB-Klausel eines Möbelhauses, nach der die Transportgefahr zu Lasten des Käufers ging, für unwirksam, da der Kunde nicht in der Lage war, Möbelstücke gleich mitzunehmen. 24 So ζ. B. die Kataloge von Heine, Otto, Quelle, Schöpflin, Alba-Mode, Klingel, Neckermann, Bader. 25 Vgl. dazu auch Ernst ZIP 1993, S. 486; Schildt JR 1995, S. 9. 21

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144

3.

Der Gesichtspunkt der besseren Versicherungsmöglichkeit

Von der Kommission war als weiterer Grund für die Abschaffung des § 447 BGB angeführt worden, daß der Verkäufer besser als der Käufer in der Lage sei, das Beförderungsrisiko in dem nach Sachlage gebotenen Umfang unter Versicherungsschutz zu bringen. 26 Bei dieser Argumentation ist zunächst zu bedenken, daß es gar nicht gegen alle Gefahren einen Versicherungsschutz gibt. Gewisse Versicherungen lassen aufgrund ihrer Aufzählung von Einzelfällen einige Risiken ungedeckt. Ist der Verkäufer aber nicht in der Lage, sich gegen alle möglichen Gefahren zu versichern, so kann man ihm nicht generell mit der Begründung die Gefahr tragen lassen, er hätte die Ware versichern können, wenn es gegen die eintretende Gefahr gar keinen Versicherungsschutz gab. Zu bedenken ist ferner, daß die besseren Versicherungskenntnisse des Verkäufers schon in Rechtsprechung und Literatur Berücksichtigung gefunden haben. Es besteht zwar keine Versicherungspflicht des Verkäufers zugunsten des Käufers, da der Verkäufer nicht mit einer Entscheidung belastet werden sollte, die in erster Linie die Interessen des Käufers berührt. 27 Der Verkäufer hat aber beim Kaufvertrag die allgemeine Pflicht, die Interessen des Käufers zu wahren. Aus diesem Grund ist der geschäftskundige Verkäufer verpflichtet, den geschäftsunkundigen Käufer auf Möglichkeit und Zweckmäßigkeit einer Versicherung hinzuweisen,28 da der Abschluß einer Versicherung den Käufer gegebenenfalls vor Schäden bewahren kann. Dies gilt insbesondere für risikoreiche Transporte.

V. Gefahrtragung beim Grundstückskauf (§ 446 Abs. 2 BGB aF) Die Kommission schlug ebenfalls vor, § 446 Abs. 2 BGB aF im Zuge der Schuldrechtsreform abzuschaffen. Gemäß § 446 Abs. 2 BGB aF trug der Käufer eines Grundstücks die Gefahr auch dann, wenn er vor der Übergabe als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen wurde. Diese Bestimmung sollte ein Überbleibsel des Prinzips casum sentit dominus sein. 29 Zwar trug nach dieser Bestimmung der Eigentümer die Gefahr, oben ist aber dargelegt worden, daß nicht immer der Eigentümer nach der Regel casum sentit dominus die Gefahr zu tragen hat, so daß an dieser Stelle zu prüfen bleibt, ob § 446 Abs. 2 BGB aF tat26

Abschlußbericht (Fn. 18), S. 235. Gegen eine Versicherungspflicht sind auch OLG Stuttgart NJW-RR 1995, S. 117; MünchKomm/Westermann, 3. Aufl., §447 Rn. 19; Ernst ZIP 1993, S. 485; Hager (Fn. 2), S. 90; a. A. Soergel/Huber (Fn. 2), Vor § 446 Rn. 61. 28 So auch Ernst ZIP 1993, S. 485. 29 Soergel/Huber, (Fn. 2) § 446 Rn. 26. 27

Gefahrtragungsregeln beim Kauf

145

sächlich eine Ausprägung des richtig verstandenen Prinzips casum sentit dominus darstellt.

1.

Die Begründung der Gesetzesverfasser zu § 446 Abs. 2 BGB aF

In den Motiven heißt es zu dieser Vorschrift, daß es der Natur der Sache und dem Wesen des Kaufs als eines Veräußerungsvertrags widerstreben würde, den Käufer, nachdem er Eigentümer der Sache geworden sei und die volle rechtliche Herrschaft über die Sache erlangt habe, gleichwohl noch von der Gefahr zu befreien. Es sei eigene Sache des Käufers, das Eigentum des Grundstücks nicht zu übernehmen, ohne es sich gleichzeitig übergeben zu lassen und damit die Möglichkeit einer Überwachung zu erlangen. Die Übergabe sei beim Kauf eines Grundstücks im übrigen ein unwesentlicher Teil der Verpflichtung des Verkäufers; und der Übergang der Gefahr könne keinesfalls von der Erfüllung aller dem Verkäufer obliegenden Verpflichtungen abhängig gemacht werden. 30

2.

Die Begründung der Schuldrechtskommission zur Streichung des § 446 Abs. 2 BGB

Die Schuldrechtskommission führte als Begründung für die Streichung des § 446 Abs. 2 BGB an: „Die geltende Regelung in § 446 Abs. 2 BGB, nach der der Grundstückskäufer die Gefahr schon vom Zeitpunkt der Eintragung an trägt, wenn ihm das Grundstück noch nicht übergeben ist, spielt in der Praxis keine Rolle, weil der Käufer nur in seltenen Fällen schon vor der Übergabe als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen wird. Außerdem wird in GrundstückskaufVerträgen regelmäßig eine besondere Vereinbarung über den Gefahrübergang getroffen. Im übrigen erscheint es nicht in allen Fällen interessengemäß, daß der Käufer, der die Sachherrschaft über das Grundstück noch nicht erlangt habe, die Gefahr der zufalligen Verschlechterung vom Zeitpunkt seiner Eintragung an tragen soll." 31

3.

Die Berechtigung von § 446 Abs. 2 BGB aF

GrundstückskaufVerträge erhalten in der Tat häufig eine Klausel über den Zeitpunkt, zu welchem die Gefahr übergehen soll. Dennoch besaß die Vorschrift des § 446 Abs. 2 BGB aF einen eigenen Anwendungsbereich, so daß

30 31

Motive II, S. 203. Abschlußbericht (Fn. 18), S. 234.

146

Wilhelm Reinhardt

man allein aus dem Grund der geringen Bedeutung eine Abschaffung des § 446 Abs. 2 BGB aF nicht begründen sollte. Entscheidend ist allein, ob § 446 Abs. 2 BGB aF eine berechtigte Vorschrift im System der Gefahrtragungsregeln darstellt. Mit Eigentumserwerb ist der Käufer in der Lage, das Grundstück weiterzuveräußern. Die besitzrechtliche Lage hat auf die Verfügung keinen Einfluß. Wenn die Übergabe noch nicht erfolgt ist, so wird, solange der Besitz des Kaufes rechtmäßig ist, eine Art Miet- oder Pachtverhältnis vorliegen. Regelmäßig trägt aber in solchen Verhältnissen, ausgenommen bei § 582 a BGB, der Eigentümer die Gefahr. Der Umstand, daß der Verkäufer noch länger zum Besitz berechtigt ist, wird im Kaufpreis berücksichtigt sein. Auch eine Wertsteigerung des Objekts kommt dem Eigentümer zugute. Die rechtliche Sachherrschaft eröffnet bei einem Grundstückskauf also einen weitgehenden Zugang zur wirtschaftlichen Nutzung des gekauften Grundstückes, so daß § 446 Abs. 2 BGB aF auf das Prinzip casum sentit dominus zurückzuführen ist und demnach eine berechtigte Vorschrift war.

VI. Die endgültige Regelung durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz Die kaufrechtlichen Gefahrtragungsregeln wurden durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz in einigen Punkten geändert. § 446 Abs. 1 BGB aF wurde weitgehend unverändert als § 446 BGB übernommen. Hinzugefügt wurde Satz 3, der zum Inhalt hat, daß der Verkäufer die Gefahr auch dann trage, wenn er mit der Annahme in Verzug ist. § 446 Abs. 2 BGB aF wurde hingegen gestrichen. Beim Versendungskauf sah man von einer vollständigen Streichung des § 447 BGB ab. Es wurde aber der Verbrauchsgüterkauf von der Vorschrift des § 447 BGB ausgenommen. Die vom Gesetzgeber eingeführte Ausnahme in § 474 Abs. 2 BGB hat zur Folge, daß der in § 446 BGB niedergelegte Grundsatz (Gefahrübergang mit Übergabe) künftig auch dann gilt, wenn der Verkäufer die Sache an den Käufer versandt und sie zu diesem Zweck einem Transporteur übergeben hat. Dies bedeutet, daß auch in diesem Fall die Gefahr erst dann auf den Käufer übergeht, wenn er den Besitz an der Sache erlangt hat.

Gefahrtragungsregeln beim Kauf 1.

147

Die Gründe für die erfolgten Änderungen

a)

Hinzufögung von Satz 3 in § 446 BGB aF

Dem Gesetzgeber erschien es sinnvoll klarzustellen, daß der Käufer die Gefahr auch dann trage, wenn er mit der Annahme in Verzug ist. 32

b)

Abschaffung des § 446 II BGB aF

Die Gründe für die Streichung sind im wesentlichen die Gründe, die die ursprüngliche Kommission für eine Streichung des § 446 Abs. 2 BGB aF anführte. 33

c)

Ausnahme für den Verbrauchsgüterkauf

Als Begründung für die für den Verbrauchsgüterkauf statuierte Ausnahme führt der Gesetzgeber an, daß für dieses Ergebnis die grundsätzliche Erwägung spreche, daß das Risiko des zufälligen Untergangs oder der zufälligen Verschlechterung der Ware von der Vertragspartei getragen werden solle, die eher als die andere im Stande sei, dieses Risiko abzuwälzen oder zu verringern oder Vorsorge gegen die Schadensfolgen eines Untergangs oder einer Verschlechterung der Ware zu treffen. Dies sei regelmäßig der Verkäufer, weil er über die Art und den Weg der Beförderung entscheide, den Beförderer auswähle und die Ware aufgrund seiner Vertragsbeziehungen noch während der Beförderung umdisponieren könne. Vor allem sei der Verkäufer besser als der Käufer in der Lage, das Beförderungsrisiko in dem nach Sachlage gebotenen Umfang unter Versicherungsschutz zu bringen. 34 Ferner wird ausgeführt, daß, soweit es um den Kauf eines Verbrauchers gehe, es der heutigen Verkehrsauffassung entspreche, daß die Ware im Fall ihrer Versendung auf Gefahr des Verkäufers reise. Wer als Privatmann zur Lieferung in seine Wohnung Waren bei einem Versandhändler oder Möbel in einem Kaufhaus kaufe, gehe davon aus, daß er den Kaufpreis nur dann zu bezahlen brauche, wenn die Ware bei ihm eingetroffen sei. Gerade die Notwendigkeit eines besonderen Verlangens des Käufers auf Versendung belege, daß § 447 BGB jedenfalls durch den Kauf bei einem Verbraucher der Rechtswirklichkeit kaum noch entspreche. In den weitaus meisten Fällen, die beim Verbrauchsgü-

32 33 34

Zur Begründung vgl. BT Drucksache 14/6040. Zur Begründung vgl. BT Drucksache 14/6040. Zur Begründung vgl. BT Drucksache 14/6040.

Wilhelm Reinhardt

148

terkauf im täglichen Leben unter den bisherigen § 447 gefaßt worden seien, sei ein Verkäufer beteiligt, der ausschließlich als Versandhändler tätig sei, ohne eine Möglichkeit für den Käufer vorzusehen, die gekaufte Sache selbst abzuholen. In diesen Fällen des Versandhandels bliebe dem Käufer gar nichts anderes übrig, als den Versand durch den Verkäufer hinzunehmen. Das besondere „Verlangen des Käufers", daß die Grundlage für den vorzeitigen Gefahrübergang bilde, bleibe in diesen Fällen nicht selten eine reine Fiktion. Als weitere Begründung wird angeführt, daß die Einschränkung ferner den weiteren Vorteil habe, daß bei einer großen Zahl von Versendungskäufen eine Reihe von Streitfragen gegenstandslos würden, die sich an die Auslegung dieser Vorschrift knüpfen. Diese Streitfragen beträfen etwa die Frage, ob die Bestimmungen im Falle der Versendung durch selbständige Dritte oder ob bei der Versendung durch eigene Leute des Verkäufers anzuwenden sei und ob die Vorschrift auch den Fall der Versendung innerhalb derselben politischen Gemeinde und ferner den Fall erfasse, indem die Ware von einem Ort aus versandt worden sei, der nicht der Erfüllungsort (oder ein anderer vereinbarter Ort) sei. Trotz der oben aufgeführten Bedenken hat der Gesetzgeber § 447 BGB für den Verkehr zwischen Unternehmern als zweckmäßig angesehen. Dies insbesondere deswegen, weil die Gefahrtragungsregel des § 447 BGB internationalen Standards (vgl. § 67 UN-Kaufrecht) entspreche.

2.

Beurteilung der erfolgten Änderungen a)

Änderungen in § 446 BGB

Zunächst ist positiv hervorzuheben, daß der Gesetzgeber § 446 Abs. 1 BGB aF in nahezu unveränderter Form als § 446 BGB fortgeführt hat. Wie oben unter II. dargestellt, beruht § 446 BGB auf dem Prinzip casum sentit dominus und ist daher eine berechtigte Vorschrift. Die Hinzufügung von Satz 3 in § 446 BGB hat nichts an der ursprünglichen Rechtslage geändert. Gemäß §§ 324 Abs. 2, 293 BGB aF hatte der Annahmeverzug einen solchen Gefahrübergang bewirkt. Dieser Gefahrübergang stellt auch eine berechtigte Durchbrechung des Prinzips casum sentit dominus dar, da der Verkäufer aufgrund der Leistungsverzögerung, die im Verantwortungsbereich des Gläubigers liegt, keinen Nachteil erleiden sollte. Entscheidend hierbei ist, daß durch die Verzögerung der Lieferung eine Gefahrerhöhung stattfindet. Die Gefahr trifft die Sache dort, wo sie sich bei ordnungsgemäßer Vertragsabwicklung nicht mehr befunden hätte. Bedauerlicherweise hat sich der Gesetzgeber aber für eine Streichung des § 446 Abs. 2 BGB aF entschieden. Die Begründung für die Streichung des

Gefahrtragungsregeln beim Kauf

149

§ 446 Abs. 2 BGB aF vermag nicht zu überzeugen. Wie oben unter V.3. ausgeführt, besaß die Vorschrift des § 446 Abs. 2 BGB aF einen eigenen Anwendungsbereich, so daß man aus dem Grunde der mangelnden Praxisrelevanz die Abschaffung des § 446 Abs. 2 BGB nicht rechtfertigen sollte. Auch hat sich gezeigt, daß § 446 Abs. 2 BGB aF als Ausprägung des Satzes casum sentit dominus eine berechtigte Vorschrift im System der Gefahrtragungsregelung ist, so daß eine Beibehaltung zu empfehlen gewesen wäre.

b)

Ausnahme für den Verbrauchsgüterkauf

beim Versendungskauf

Die Heranziehung des Beherrschbarkeitsprinzips als Grund für die Ausnahme für den Verbrauchsgüterkauf beruht letztlich auf der irrigen Annahme, daß das Beherrschbarkeitsprinzip die tragende Begründung im System der Gefahrtragungsregeln sei. Wie oben unter I I dargestellt, ist dies keineswegs so, so daß diese Begründung für eine Streichung des § 447 BGB im Falle des Verbrauchsgüterkaufs fehlschlägt. Mit der selben Begründung könnte man ja auch ohne weiteres eine Abschaffung des § 447 BGB für den Kauf zwischen Unternehmern rechtfertigen. Davon hat der Gesetzgeber aber zu Recht abgesehen. Wie ausgeführt, kann auch der Gesichtspunkt der besseren Versicherbarkeit nicht hundertprozentig überzeugen, da die besseren Versicherungskenntnisse des Verkäufers schon unter der ursprünglichen Rechtslage hinreichend berücksichtigt waren. Andererseits wird es in der Tat bei einem Verbrauchsgüterkauf häufig so sein, daß der Unternehmer die besseren Versicherungskenntnisse besitzt. Sollte der Unternehmer dem Verbraucher diese besseren Versicherungskenntnisse vorenthalten, so wird der Verbraucher schnell in eine schwierige Lage geraten, im Falle eines Verlustes den Schaden vom Verkäufer ersetzt zu bekommen. Zum einen mag der Verbraucher Beweisschwierigkeiten haben, zum anderen mag er in Unkenntnis der Rechtslage, daß der Unternehmer ihn über die Versicherung aufklären mußte, von einer Verfolgung seiner Ansprüche absehen. Es mag daher durchaus gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber hier ein Schutzbedürfhis des Verbrauchers sieht und von vornherein im Falle des Versendungskaufs beim Verbrauchsgüterkauf die Gefahr erst mit der Übergabe an den Käufer übergehen läßt. Auch der Widerspruch zur Verkehrsauffassung als Begründung überzeugt nicht hundertprozentig, da bezweifelt werden kann, ob für die Ausnahme von § 447 BGB beim Verbrauchsgüterkauf ein ausreichendes Bedürfnis besteht, da im Versandhandel ohnehin überwiegend eine Bringschuld anzunehmen ist. Man wird jedoch dem Gesetzgeber auch hier zugute halten können, daß es für den Verbraucher einfacher und übersichtlicher ist, von vornherein zu bestimmen, daß die Gefahr erst mit der Übergabe auf ihn übergeht. Damit vermeidet man

Wilhelm Reinhardt

150

von vornherein, daß der Verbraucher in eine schwierige Lage gerät, wenn der Unternehmer auf Bezahlung der Ware trotz zufälligen Untergangs drängt. Die durch die Ausnahme für den Verbrauchsgüterkauf angeblich bewirkte Vermeidung vieler Streitfragen vermag indes nicht zu überzeugen. Zum einen werden diese Streitfragen ohnehin bei einem Kauf zwischen Unternehmern wieder auftauchen, zum anderen hat der Gesetzgeber davon abgesehen, § 448 BGB für den Verbrauchsgüterkauf auszunehmen. Nach dieser Vorschrift hat der Käufer die Kosten der Versendung der Sache nach einem anderen Ort als dem Erfüllungsort zu tragen. Es muß damit weiterhin die Unterscheidung zwischen Schick- und Bringschuld getroffen werden. Auch im Falle des Verbrauchsgüterkaufs werden damit nicht alle Fragen gegenstandslos, so zum Beispiel, ob im Falle der Versendung innerhalb derselben politischen Gemeinde eine Schickoder Bringschuld anzunehmen ist. Auch sind die Streitfragen nicht von so elementarer Bedeutung, daß sie die Ausnahme für den Verbrauchsgüterkauf rechtfertigen könnten. In der Praxis spielen diese Streitfragen keine so große Rolle, wie die geringe Anzahl der Entscheidungen zu diesem Problem verdeutlicht.

c)

Beibehaltung des §447 BGB fur den Kauf zwischen Unternehmern

Mit guten Gründen hat der Gesetzgeber von einer Streichung des § 447 BGB im Falle eines Kaufvertrags zwischen Unternehmern abgesehen. Wie oben gezeigt, können die einzelnen Begründungen nicht voll überzeugen. Nur unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes mag die Ausnahme in § 474 Abs. 2 BGB gerechtfertigt sein. Verbraucherschutzgesichtspunkte spielen bei einem Kaufvertrag zwischen Unternehmern keine Rolle. Hingegen wäre eine Divergenz zu internationalen Standards nicht wünschenswert gewesen, da die Bedeutung des Außenhandels im Zuge der Globalisierung und der zunehmenden europäischen Vereinheitlichung immer größer wird und dem UN-Kaufrecht ein maßgebliches Gewicht auf diesem Gebiet zukommt.

VII.

Schlußbemerkung

Das tragende Prinzip der Gefahrtragungsregel des § 446 BGB wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur nicht richtig verstanden. Man geht vom Beherrschbarkeitsprinzip und nicht vom richtig verstandenen Prinzip casum sentit dominus aus. Dies führt zu einer Reihe von Folgefehlern. So vermag die Streichung von § 446 I I BGB aF nicht zu überzeugen. Auch die Ausnahme von § 447 BGB beim Verbrauchsgüterkauf ist rechtsdogmatisch nicht sauber. Allenfalls Verbraucherschutzgesichtspunkte können hierfür sprechen. Wie weit der

Gefahrtragungsregeln beim Kauf

151

Gesetzgeber sich für den Verbraucher verantwortlich fühlen und den Verbraucherschutz ausdehnen sollte, ist eine rechtspolitische und nicht rechtsdogmatische Frage und soll daher hier nicht weiterverfolgt werden.

Der „Arbeitnehmer-Verbraucher" - Zwischenbilanz eines Paradigmenwechsels Thomas B. Schmidt

I.

Einführung

Die Schuldrechtsreform hat nicht nur bestehendes nationales1 und umzusetzendes europäisches2 Verbraucherschutzrecht in das Bürgerliche Gesetzbuch integriert, sondern zugleich auch einen bedeutsamen Bereich unseres Arbeitsrechts in das kodifizierte allgemeine Zivilrecht aufgenommen, namentlich das Recht der Wirksamkeitskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen in Arbeitsverträgen (§§ 305 ff BGB). Gesetzestechnisch erfolgte diese Einbeziehung durch Streichung der vormals in § 23 ABG-Gesetz3 (heute § 310 IV BGB) für Verträge auf dem Gebiet des Arbeitsrechts enthaltenen Bereichsausnahme. Die Streichung fand auf eine Prüfbitte des Bundesrates4 hin gleichsam erst in „letzter Minute" des Gesetzgebungsverfahrens 5 statt und war motiviert durch den Willen des Gesetzgebers, dafür Sorge zu tragen, „daß das Schutzniveau der Vertragsinhaltskontrolle im Arbeitsrecht nicht hinter demjenigen des Zivilrechts zurückbleibt" 6. Seit dieser gleichzeitigen Inkorporation von Arbeitsrecht und Verbraucherschutzrecht in das Bürgerliche Gesetzbuch wird in der arbeitsrechtlichen Literatur kontrovers die Frage diskutiert, ob auch Arbeitnehmer, und zwar in bezug auf ihre spezifisch arbeitsvertraglichen Rechtsbeziehungen, möglicherweise „Verbraucher" i.S. von § 13 BGB sein können. Denn nach der in § 13 BGB ent1

AGB-Gesetz, Verbraucherkreditgesetz, Femabsatzgesetz, Haustürwiderrufsgesetz und Teilzeitwohnrechtegesetz. 2 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 1999/44/EG, Zahlungsverzugsrichtlinie 2000/35/EG und E-Commerce-Richtlinie 2000/31/EG. 3 § 23 I AGBG: „Dieses Gesetz findet keine Anwendung bei Verträgen auf dem Gebiet des Arbeits-, Erb-, Familien- und Gesellschaftsrechts." 4 BT-Drucks. 14/6857, S.17. 5 Im Regierungsentwurf entsprach §310 IV BGB noch beinahe wörtlich §23 I AGBG. § 310 IV BGB-RE: „Dieser Abschnitt findet keine Anwendung bei Verträgen auf dem Gebiet des Arbeits-, Erb-, Familien- und Gesellschaftsrechts." 6 Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BTDrucks. 14/6857, S. 54.

154

Thomas B. Schmidt

haltenen Legeldefinition ist grundsätzlich jede natürliche Person immer dann als Verbraucher zu qualifizieren, wenn sie „ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann". Der klare Wortlaut der Vorschrift sowie der Umstand, daß § 13 BGB als Bestandteil des Allgemeinen Teils des Bürgerlichen Gesetzbuches (spätestens) seit dem 1. Januar 2002 grundsätzlich auch Geltung für das im BGB geregelte Recht der Arbeitnehmer beansprucht 7, streiten auf den ersten Blick sicher dafür, die Figur eines , Arbeitnehmer-Verbrauchers" anzuerkennen. Eine solche Anerkennung wäre allerdings zugleich mit einem beachtlichen Paradigmenwechsel innerhalb des Arbeitsrechts verbunden. Unserer arbeitsrechtlichen Tradition war bisher das Bild eines Arbeitnehmers gänzlich fremd, der innerhalb seines Arbeitsverhältnisses auch als Verbraucher anzusehen ist. Das gewachsene Verständnis dessen, was unter einem „Arbeitsverhältnis" zu verstehen ist, wurde niemals durch Gedanken des Verbraucherschutzes geprägt oder auch nur erkennbar beeinflußt. Es beruht vielmehr auf der Idee eines kollektivrechtlich abgesicherten privatautonomen Rechtsverhältnisses eigener Art, in welchem dem Recht nicht zuletzt die Aufgabe zukommt, eine Balance herzustellen zwischen Fürsorge- und Gehorsamspflicht einerseits sowie zwischen Fremdbestimmtheit und Mitbestimmung andererseits. Ganz im Sinne dieser Tradition konnte das Arbeitsrecht stets als eine historisch gewachsene eigenständige Rechtsmaterie begriffen werden, die sich mit einer gewissen Distanz zum allgemeinen Zivilrecht und einer teilweise durchaus eigenen Dogmatik im Rahmen einer besonderen Gerichtsbarkeit vollzieht und weiterentwickelt. Wohl auch und gerade vor diesem Hintergrund dürfte sich erklären, warum im Kontext der nunmehr geführten Auseinandersetzung selbst bei Autoren 8 , die einer Verbindung von Verbraucher- und Arbeitnehmerbegriff bejahend gegenüber stehen, doch ein gewisses Unbehagen angesichts des bevorstehenden Wandels spürbar vorhanden zu sein scheint. Bei einer nüchternen Bestandsaufnahme wird man unbeschadet aller grundsätzlicher Vorbehalte nach nunmehr knapp vier Jahren Diskussion sowie dem Vorliegen erster arbeitsgerichtlicher Entscheidungen indes feststellen müssen, daß eine herrschende Auffassung sich in Richtung Anerkennung 9 des „Aibeit7

Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 2004, § 611 BGB Rz. 208. Vgl. etwa Däubler (NZA 2001, 1329, 1333 f)> der es wohl zumindest für denkbar hält, daß in der „überkommenen Terminologie" ein „unüberwindbares Hindernis" für die Einbeziehung von Arbeitnehmern in den Verbraucherbegriff gesehen werden könnte. Für den Fall einer solchen Annahme plädiert Däubler für die entsprechende Anwendung der Verbraucherschutzvorschriften auf das Arbeitsverhältnis. 9 LAG Hamm, Urteil v. 09.10.03 - 11 Sa 515/03 - LAG-Report 2004, 11; ArbG Hamburg, Urteil v. 01.08.2002, ZGS 2003, 79; Bram, in: Bader / Bram / Dörner / Wenzel, KSchG, § 1 Rz. 33; Dörner, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 2004, § 616 8

Der „Arbeitnehmer-Verbraucher"

155

nehmer-Verbrauchers" herauszubilden beginnt. Endgültig entschieden ist die Sache freilich noch nicht. Denn zum einen sind die Gegenstimmen10 in Literatur und Rechtsprechung beachtlich und zum anderen hat das Bundesarbeitsgericht 11 die Frage bisher ausdrücklich offen gelassen.

II. Praktische Relevanz der „Verbraucherfrage" Für die arbeitsrechtliche Praxis ist die Beantwortung der aufgeworfenen Frage insbesondere bedeutsam unter den Aspekten der AGB-Kontrolle arbeitsrechtlicher Verträge, des Widerrufsrechts für Arbeitnehmer beim Abschluß arbeitsrechtlicher Vereinbarungen (Arbeits-, Änderungs-, Aufhebungs- und Abwicklungsvertrag) sowie hinsichtlich der Höhe von Verzugszinsen im Arbeitsverhältnis. Diese nachfolgend näher anzusprechenden Konstellationen betreffen allerdings ausschließlich solche Vereinbarungen, die mit einem unmittelbaren Bezug auf das Arbeitsverhältnis und die hieraus resultierenden Verpflichtungen geschlossen werden. Stehen demgegenüber Vertragsverhältnisse in Rede, die der Arbeitnehmer mit seinem Arbeitgeber außerhalb des eigentlichen Arbeitsverhältnisses schließt, z.B. über den Ankauf von Waren, so ist weitestgehend12

Rz. 20; Gotthardt, Arbeitsrecht nach der Schuldrechtsreform, 2002, Rz. 164 ff; Hanau, Anmerkung zu BAG AP Nr.4 zu § 288 BGB; Lieb, in: FS Ulmer 2003, 1231; Lorenz / Riehm, Lehrbuch zum neuen Schuldrecht, 2002, Rz. 93; Müller-Glöge, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, § 620 Rz. 13; Neumann, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2002, vor §§620 ff. Rz.14; Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, §§ 305-310 BGB Rz. 25 und § 611 BGB Rz. 208; dersin: Preis, Der Arbeitsvertrag, 2002, I C Rz. 47; Graf v. Westphalen, in: Henssler / Graf v. Westphalen, Praxis der Schuldrechtsreform, 2001, § 310 Rz. 15; Bülow / Artz, NJW 2000, 2049; Boemke, BB 2002, 96; Däubler, NZA 2001, 1329; Gotthardt, ZIP 2002, 277; Grundstein, FA 2003, 41; Hümmerich / Holthausen, NZA 2002, 173; Holtkamp, AuA 2002, 250; Klevemann, AiB 2002, 579; Lakies, NZA-RR 2002, 337; Lindemann, AuR 2002, 81; Lorenz, JZ 1997, 277; Preis, ZHR 158 (1994), 567; Rieble / Klumpp, ZIP 2002, 2153; Reim, DB 2002, 2434; Reinecke, DB 2002, 587; Schleusener, NZA 2002, 949; Singer, RdA 2003, 194; Thüsing, BB 2002, 2666; Wedde, AiB 2002, 267. 10 LAG Köln, Urteil v. 12.12.02 -10 Sa 177/02, LAGE § 766 BGB Nr.l (mit Anm. Klaas, EwiR 2003, 1129); Palandt-Heinrichs, Kommentar zum BGB, 2004, § 13 Rz. 3; Annuß, NJW 2002, 2844; Bauer, NZA 2002, 169; Bauer / Kock, DB 2002, 42; Berkowsky, AuA 2002, 15; Henssler, RdA 2002, 129; Hromadka, NJW 2002, 2523; Joussen, NZA 2001, 745; Lingemann, NZA 2002, 181; wohl auch Löwisch, NZA 2001, 465; Natzel, NZA 2002, 595; Richardi, NZA 2002, 1004. 11 BAG, Urteil v. 27.11.03 - 2 AZR 135 /03 - , NZA 2004, 597, 600. 12 Einschränkend für den Fall des begünstigten Warenbezuges allerdings Bauer / Kock, DB 2002,46.

156

Thomas

. Schmidt

unzweifelhaft, daß der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber hier als Verbraucher entgegentritt. 13

1.

AGB-Kontrolle arbeitsrechtlicher Verträge

Der Gesetzgeber hat die vormals für den gesamten Bereich des Arbeitsrechts geltende Bereichsausnahme (§ 23 I AGBG) mit der Eingliederung des AGBGesetzes in das BGB aufgehoben. Alle arbeitsrechtlichen Verträge - mit Ausnahme der Kollektiwereinbarungen (Tarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen) - unterliegen nunmehr gem. § 310 IV BGB der AGB-Kontrolle der §§ 305 - 309 BGB. Die Frage, ob Arbeitnehmer beim Abschluß eines derartigen Vertrages auch als Verbraucher anzusehen sind, wird relevant durch die in § 310 I I I BGB getroffenen Bestimmungen. Denn danach gelten fur Verträge, die zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher geschlossen werden (Verbraucherverträge), im Rahmen der AGB-Kontrolle folgende Besonderheiten: a) Es wird zu Gunsten des Verbrauchers vermutet, daß die im Vertrag enthaltenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen vom Unternehmer gestellt worden sind (§310 I I I Nr.l BGB). b) Die Bestimmungen zur Inhaltskontrolle (§§ 307 - 309 BGB), die Unklarheitsregel (§ 305c I I BGB) sowie die Unwirksamkeitsfolgen (§ 306 BGB) gelten auch für solche Vertragsbedingungen, die nur zur einmaligen Verwendung bestimmt sind, soweit der Verbraucher aufgrund der Vorformulierung auf ihren Inhalt keinen Einfluß nehmen konnte (§310 I I I Nr.2 BGB). c) Bei der Beurteilung einer unangemessenen Benachteiligung (§ 307 I, II BGB) des Verbrauchers sind gem. § 310 I I I Nr. 3 BGB neben dem Vertragsinhalt auch die den Vertragsschluß begleitenden Umstände zu berücksichtigen. Bejaht man den Arbeitnehmer-Verbraucher und damit die Anwendbarkeit von § 310 III BGB auf das Arbeitsverhältnis, so würde dies zu einer fast uneingeschränkten Inhaltskontrolle sämtlicher arbeitsrechtlicher Verträge führen. Im Ergebnis käme man damit wohl in die Nähe einer generellen Vereinheitlichung

13 In der Begründung des Regierungsentwurfs zu § 474 BGB (Verbrauchsgüterkauf) heißt es hierzu ausdrücklich: „Es sollten aber nicht die Personen aus dem Verbraucherbegriff ausgenommen werden, die als abhängig Beschäftigte eine Sache zu einem Zweck kaufen, der (auch) ihrer beruflichen Tätigkeit dient, z.B. der Lehrer, der sich einen Computer anschafft, um damit Klassenarbeiten zu entwerfen, oder der Angestellte, der eine Kaffeemaschine für sein Büro kauft. Dies gilt auch für die Rechtsbeziehungen des Arbeitnehmers zu seinem Arbeitgeber" (BT-Drucks. 14/6040, S.243).

Der „Arbeitnehmer-Verbraucher"

157

arbeitsrechtlich zulässiger Vertragsklauseln. 14 Betroffen von der Inhaltskontrolle wären insbesondere auch Aufhebungs- und Abwicklungsvereinbarungen 15, die nur zu einer einmaligen Verwendung bestimmt sind. Gerade bei letzteren erhielte die Einbeziehung der begleitenden Umstände des Vertragsschlusses zusätzlich besondere Relevanz.

2.

Widerrufsrechte

Verträge zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer, die eine entgeltliche Leistung zum Gegenstand haben und die am Arbeitplatz oder in der Privatwohnung des Verbrauchers geschlossen wurden, sind unter den in § 312 BGB näher bestimmten Voraussetzungen widerrufbar. Bejaht man den Arbeitnehmer-Verbraucher, so könnten Arbeits-, Änderungs-, Aufhebungs- 16 und Abwicklungsverträge einem Widerrufrechtsrecht unterliegen und wären zur Ingangsetzung der Widerrufsfrist mit einer entsprechenden Belehrung zu versehen.

3.

Verzugszinsen

Werden aus einem Rechtsgeschäft Verzugszinsen geschuldet, so unterscheidet § 288 BGB bei der Höhe des geschuldeten Zinssatzes danach, ob an dem Rechtsgeschäft ein Verbraucher beteiligt ist oder nicht. Ist ein Verbraucher beteiligt, so beträgt der Verzugszins lediglich fünf Prozentpunkte über dem Basiszinssatz (§ 288 I BGB), anderenfalls liegt er bei 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz (§ 288 I I BGB). Die Frage der Anerkennung des ArbeitnehmerVerbrauchers könnte somit darüber entscheiden, welcher Zinssatz im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses in Fällen des Zahlungsverzuges geschuldet wird. 14 Besonders umstritten sind derzeit Vertragsstrafenklauseln (§ 309 Nr.6 BGB), Ausschlußfristen hinsichtlich Reichweite und Länge (§ 307 II Nr.l iVm §§ 202, 611a IV 2 BGB) und 2-Stufigkeit (§ 309 Nr. 13 BGB) sowie einseitige Leistungsbestimmungsklauseln wie z.B. Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalte (§ 308 Nr.4 BGB). 15 Mit Recht betont Bauer, daß der Gesetzgeber alle arbeitsrechtlichen Verträge und nicht nur den Arbeitsvertrag im engeren Sinne der AGB-Kontrolle unterstellt habe (NZA 2002, 172). Einschränkend BAG, NZA 2004, 597, wonach eine arbeitsrechtliche Beendigungsvereinbarung „in der Regel" schon deshalb keiner Inhaltskontrolle unterliegen soll, weil ihr unmittelbarer Gegenstand Hauptleistungspflichten seien, auf welche §§ 307 II i.V. mit 310 III BGB keine Anwendung finde. 16 Nach BAG, NZA 2004, 597, soll für arbeitsrechtliche Beendigungsvereinbarungen allerdings ein Widerrufsrecht nicht in Betracht kommen, weil derartige Beendigungsvereinbarungen wegen des Fehlens eines „situationstypischen Überraschungsmoments" keine Haustürgeschäfte im Sinne des § 312 I 1 Nr. 1 BGB seien. Das Ergebnis scheint zweifelhaft.

Thomas B. Schmidt

158

III.

Bestimmung des Verbraucherbegriffs 1.

Wortlaut des § 13 BGB

Der Gesetzgeber hat den Begriff des Verbrauchers mittels Legaldefinition in § 13 BGB wie folgt bestimmt: „Verbraucher ist jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann." Die Definition ist ihrem Wortlaut nach eindeutig. Legt man sie zugrunde, so ist der Arbeitnehmer ein Verbraucher. Die von ihm innerhalb des Arbeitsverhältnisses geschlossenen Verträge lassen sich in bezug auf seine Person weder einer gewerblichen noch einer selbständigen beruflichen Tätigkeit zuordnen. Jede Normauslegung hebt am Wortlaut an. Enthält das Gesetz fur einen bestimmten Begriff eine Legaldefinition und ist diese Definition zudem eindeutig, so liegt die Argumentationslast bei demjenigen, der diese Norm trotz erfüllter Tatbestandsvoraussetzungen nicht zur Anwendung bringen will. Die diesbezüglich bislang unternommenen Versuche sollen - geordnet nach Argumentationsmustern - Gegenstand der nachfolgenden Betrachtung sein.

2.

Semantische Korrektur des Wortlauts?

a) Kritiker des Arbeitnehmer-Verbrauchers sprechen bereits dem Wortlaut von § 13 BGB eine weitergehende Relevanz im Rahmen der Auslegung ab. Die semantische Argumentation, so beispielsweise Henssler, stehe auf schwachen Füßen, weil der Wortlaut der §§ 13, 14 BGB evident mißglückt sei. 17 Da nach diesen Vorschriften jeder Vertragspartner beim Abschluß eines Vertrages notwendig entweder Verbraucher oder Unternehmer sein müsse, wären auch private Verkäufer oder Vermieter stets als Verbraucher anzusehen. Dies gelte selbst für familienrechtliche Verträge, wenn etwa der Vater seinem Sohn eine Eisenbahn schenke. Angesichts derartiger Konsequenzen zeige sich, welche Absurdität eine Dichotomie zur Folge hätte, in der es neben Verbrauchern und Unternehmern eine dritte Kategorie nicht gäbe.18 Ebenfalls mit Blick auf den Wortlaut wird weiter darauf hingewiesen, daß bereits der Begriff „Verbraucher" seinem etymologischen Bedeutungsgehalt nach nur auf eine Person anwendbar sei, die als Nachfrager von Sach- und Dienstleistungen am Markt auftrete. Der Arbeitnehmer hingegen biete selbst

17 18

Richardis NZA 2002, 1008; Henssler, RdA 2002, 134. Henssler, RdA 2002, 134.

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Dienstleistungen an und könne daher von vornherein nicht unter den Verbraucherbegriff fallen. 19 Schließlich, so Natzel 20, sei der Arbeitnehmer durch die persönliche Einbindung in den angestrebten unternehmerischen Erfolg seines Arbeitgebers dessen Erfüllungsgehilfe im Wirtschaftsverkehr. Er werde damit nicht privat, sondern beruflich tätig, und zwar im Rahmen der durch seinen Arbeitgeber im Sinne von § 14 BGB ausgeübten gewerblichen oder selbständigen Tätigkeit, welcher er sich mit seiner eigenen Tätigkeit unterordne. 21 b) Die semantische Kritik überzeugt nicht. Der Wortlaut der §§ 13, 14 BGB ist keineswegs mißglückt 22 und zwingt den Rechtsanwender auch nicht in eine absurde Dichotomie von Unternehmern und Verbrauchern. Der diesbezügliche Einwand übersieht, daß die rechtlichen Kategorien „Verbraucher" und „Unternehmer" regelmäßig nur im Kontext solcher Normen Relevanz entfalten, die Bestimmungen über „Verbraucherverträge" (§310 I I I BGB) enthalten. Erst wenn für die Anwendung einer konkreten Verbraucherschutzvorschrift entschieden werden muß, ob den handelnden Subjekten der Status eines Verbrauchers bzw. Unternehmers zukommt, ist auf die Definitionen der §§ 13, 14 BGB zurückzugreifen. Ohne jede rechtliche Konsequenz ist demgegenüber zunächst einmal die Tatsache, daß einer Person im Rahmen eines beliebigen Rechtsgeschäfts, etwa anläßlich eines privaten Geschenkes, bei Zugrundelegung der Definition des § 13 BGB die Eigenschaft „Verbraucher" zugewiesen werden könnte. 23 Der bloße Hinweis auf eine solche Möglichkeit ist deshalb als Argument gegen die Anerkennung eines Arbeitnehmer-Verbrauchers nicht tragfähig. In gleicher Weise zurückzuweisen sind die auf den etymologischen Bedeutungsgehalt des Verbraucherbgriffs gestützten Bedenken. Fraglos zutreffend ist zwar die Feststellung, daß unter einem „Verbraucher" im natürlichen Sprachgebrauch eine Person verstanden wird, die als Nachfrager von Produkten am Markt auftritt und nicht wie der Arbeitnehmer gleichsam als »Arbeitskraftunternehmer" 2 4 Dienstleistungen anbietet. Aufgezeigt werden mit dieser Kritik aber nicht mehr als die tatsächliche ökonomische Funktion des Verbrauchers sowie das bestehende ökonomische Verständnis von einem „Verbraucher". 25 Obwohl dieses Verständnis dem Bild eines Arbeitnehmer-Verbrauchers erkennbar widerspricht, kann es für die zu entscheidende Frage dennoch nicht fruchtbar ge19 Richardz, NJW 2002, 1009; Henssler, RdA 2002, 134; Hromadka, NJW 2002, 2524; Lingemann, NZA 2002, 184. 20 Natzel, NZA 2002, 596. 21 Natzel aaO. 22 Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, § 611 BGB Rz. 208. 23 Rieble / Klumpp, ZIP 2002, 2153. 24 Rieble /Klumpp, ZIP 2002, 2155. 25 Rieble / Klumpp aaO.

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macht werden. Denn - so hat bereits Preis 26 zutreffend angemerkt - der Begriff des Verbrauchers in § 13 BGB ist gerade kein Tatbestandsmerkmal dieser Definitionsnorm, sondern lediglich ein rechtstechnischer Oberbegriff, der inhaltlich erst und ausschließlich durch die in § 13 BGB formulierten Tatbestandsmerkmale ausgefüllt wird. Ob dieser Oberbegriff etymologisch stimmig gewählt wurde, mag bezweifelt werden. Akzeptieren sollte man indes, daß allein aus der Kritikwürdigkeit eines gewählten Oberbegriffes niemals die Berechtigung folgen kann, den gesetzlich bestimmten Tatbestand der definierenden Norm gegen ihren Wortlaut zu berichtigen. Erkennbar verfehlt ist schließlich der Ansatz, den Arbeitnehmer und die von ihm im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses geschlossenen Rechtsgeschäfte begrifflich von vornherein dem unternehmerischen Handeln des Arbeitgebers zuzuordnen. Eine solche Sichtweise ist ausschließlich ökonomisch angelegt und blendet vollständig die Tatsache der rechtlichen Selbständigkeit unterschiedlicher Vertragsbeziehungen aus. Man kann nicht ernstlich in Abrede stellen, daß jeder Arbeitnehmer, gleich ob beim Abschluß eines Arbeits- oder Aufhebungsvertrages, stets subjektiv wie objektiv im eigenen Interesse ausschließlich für sich selbst handelt und nicht etwa als Erfüllungsgehilfe seines Arbeitgebers.

3.

Richtlinienkonforme Auslegung?

Seinem Ursprung nach kann § 13 BGB auf Art. 2 lit. b der MißbräuchlicheKlauseln-Richtlinie (93/13/EWG 27 ) zurückgeführt werden. 28 Die im deutschen Recht vollzogene Definition des Verbraucherbegriffs ist allerdings nicht deckungsgleich mit derjenigen, die das europäische Sekundärrecht 29 vorgibt. Denn dort ist weit umfassender als im deutschen Recht eine Person begrifflich bereits dann kein Verbraucher, wenn sie zu einem Zweck handelt, der ihrer „beruflichen Tätigkeit" zuzurechnen ist. 30 Eine Differenzierung danach, ob es sich um eine selbständige oder eine abhängige Berufstätigkeit handelt, nimmt die Richtlinie 31 nicht vor. Nach europäischem Recht wäre die Figur des Arbeitnehmer-Verbrauchers somit ausgeschlossen.32 Angesichts dieser Differenz hat Lin26

Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, § 611 BGB Rz. 208. AB1EG 1993 Nr. L 95, S. 29. 28 Bülow / Artz, NJW 2000, 2050. 29 Vgl. auch Art. 1 II lit. a. Verbraucherkreditrichtlinie und Art. 2 Haustürgeschäfterichtlinie. 30 Bülow/Artz, NJW 2000, 2050. 31 Es wird im zehnten Erwähnungsgrund der Mißbräuchliche-Klauseln-Richtlinie sogar darauf hingewiesen, daß eine Anwendung auf Arbeitsverträge nicht stattfindet (vgl. Annußy NJW 2002, 2845). 32 Bülow /Artz, NJW 2000, 2050. 27

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gemann gefordert, eine Einordnung des Arbeitnehmers als Verbraucher in richtlinienkonformer Auslegung des § 13 BGB abzulehnen.33 Der Hinweis auf die Vorgaben des europäischen Sekundärrechts ist nicht geeignet, eine einschränkende Auslegung des Verbraucherbegriffs in § 13 BGB zu rechtfertigen. Soweit sich der nationale Gesetzgeber außerhalb der Richtlinien bewegt, ist er in seinen Gestaltungsmöglichkeiten grundsätzlich frei 34 und nicht durch deren Vorgaben in seinen Regelungsbefugnissen behindert. 35 Es kommt hinzu, daß den Mitgliedstaaten bereits durch die einschlägigen Richtlinien 36 selbst gestattet wird, bei deren Umsetzung eine Abweichung zum Schutz der Verbraucher vorzunehmen (Günstigkeitsprinzip). 37

4.

Systematische Einschränkung des Verbraucherbegriffs?

Aus der Systematik der Gegenüberstellung der §§13 und 14 BGB leitet Löwisch die Konsequenz ab, daß es sich bei dem Begriff des „Verbrauchers" allein um einen Gegenbegriff zum „Unternehmer" handele, nicht aber auch um einen Gegenbegriff zum „Arbeitgeber". 38 Obwohl mit dieser eher apodiktischen Feststellung kein eigentlicher Erkenntnisgewinn verbunden ist, so reicht sie doch für einzelne Autoren 39 zur Formulierung der nicht weiter begründeten These aus, die von Löwisch beschriebene Gegenbegrifflichkeit belege, daß der Arbeitnehmer kein Verbraucher sein könne. Gegen das vermeintliche Argument der Gegenbegrifflichkeit hat schon Däubler inhaltlich mit Recht eingewandt, daß gerade die Annahme, es handele sich bei „Verbraucher" und „Unternehmer" um Gegenbegriffe, eher dafür als dagegen spreche, den Arbeitnehmer in den Verbraucherbegriff einzubeziehen.40 Denn mit Hilfe des Attributs „Verbraucher" verfolge der Gesetzgeber augenscheinlich das Ziel, eine wirtschaftliche Zweckdivergenz der Vertragsparteien 33

Lingemann, NZA 2002, 184. Annußy NJW 2002, 2845. 35 Schleusener, NZA 2002, 950. Ganz im Gegenteil ist der nationale Gesetzgeber nach Micklitz (Münchener Kommentar zum BGB, 2001, § 13 BGB Rz. 14) sogar aufgerufen, der Kritik am europäischen Verbraucherbegriff durch zusätzliche partielle Begriffserweiterungen zu begegnen. Micklitz weist hierbei beispielhaft auf § 1 I des österreichischen Konsumentenschutzgesetzes hin, wonach jeder als Verbraucher gilt, für den das Geschäft nicht zum Betrieb seines Unternehmens gehört. 36 Art. 8 der Mißbräuchliche-Klauseln-Richtlinie; vgl. auch Art. 15 der Verbraucherkreditrichtlinie sowie Art. 8 der Haustürgeschäfterichtlinie. 37 Bülow/Artz, NJW 2000, 2050. 38 Löwisch, NZA 2001,466. 39 Joussen, NZA 2001, 749; Lingemann, NZA 2002, 184. 40 Däubler, NZA 2001, 1333. 34

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aufzuzeigen 41, mithin diejenige Vertragspartei zu identifizieren, der die Schutzmechanismen des Verbraucherrechts zugute kommen sollen, und dies sei fraglos die schwächere Seite, mithin der Arbeitnehmer. 42 Tatsächlich scheitert das Argument der Gegenbegrifflichkeit allerdings bereits auf der formal-logischen Ebene daran, daß es voraussetzt, was es begründen will. Denn nur wenn man von der Prämisse ausgeht, eine Person könne in ihrer Arbeitnehmereigenschaft niemals zugleich auch Verbraucher sein, ein sich überschneidender Begriffshof sei mithin ausgeschlossen, läßt sich die These der Gegenbegriffe überhaupt sinnvoll formulieren. Mit der gleichen Berechtigung könnte dann allerdings auch behauptet werden, Käufer, Pauschalreisende oder Leasingnehmer fielen nicht in den Anwendungsbereich des § 13 BGB, weil nicht ihr Vertragstypus, sondern der „Verbraucher" den Gegenbegriff zum Unternehmer bilde. Will man das Argument der Gegenbegriffe retten, so müßte eine unbestreitbare Evidenz als Rechtfertigung der unterstellten Prämisse behauptet werden können. Daß gerade dies nicht der Fall ist, läßt sich unschwer angesichts der kontrovers geführten Debatte erkennen.

5. Begriffliche Reduktion angesichts der Entstehungsgeschichte der Norm? Der Begriff des Verbrauchers ist nicht erst durch § 13 BGB in das deutsche Recht eingeführt worden. Wie bereits angesprochen, beginnt seine Normgeschichte vielmehr mit der Umsetzung europäischen Verbraucherschutzrechts durch den deutschen Gesetzgeber im Jahre 1996 mittels einer Ergänzung des AGB-Gesetzes. Eingefügt in das AGB-Gesetz wurde § 24 a, dessen Eingangssatz bestimmte, daß unter einem Verbraucher eine natürliche Person zu verstehen sei, die einen Vertrag zu einem Zweck schließt, der weder einer gewerblichen noch einer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. Mit dem Gesetz vom 27.06.2000 über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts hat der Gesetzgeber dann zum Zwecke einer Vereinheitlichung der Verbraucherschutzgesetze die Definition des Verbrauchers in § 13 BGB und damit in den Allgemeinen Teil des BGB aufgenommen. Die Normgeschichte der in § 13 BGB enthaltenen Definition des Verbraucherbegriffs ist für Annuß43 das zentrale Argument gegen die Anerkennung ei-

41

Pfeiffer, Der Verbraucher nach § 13 BGB, in: Schulze / Schulte-Nölke (Hrsg.), Die Schuldrechtsreform vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts, 2001, S.140. 42 Däubler, NZA 2001, 1333. 43 Annuß, NJW 2002, 2845.

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nes Arbeitnehmer-Verbrauchers. Er macht darauf aufmerksam, daß vor der Einfügung von § 13 BGB angesichts der in § 23 I AGB-Gesetz normierten Bereichsausnahme für Verträge auf dem Gebiet des Arbeitsrechts die Gesetzessystematik zwingend ausschloß, den Arbeitnehmer im Hinblick auf arbeitsvertragliche Vereinbarungen zugleich als Verbraucher anzusehen. Denn für derartige Verträge galt § 24 a AGB-Gesetz, der neben dem Verbraucherbegriff auch den Verbrauchervertrag definierte, schlicht und einfach nicht. Mit der Schaffung von § 13 BGB, so Annuß, sei die Definition des Verbrauchers nicht geändert worden, da der Gesetzgeber sich ausdrücklich an der Bestimmung des § 24 a AGB-Gesetz orientiert habe, die „inhalts- und wortgleich" in das BGB Eingang finden sollte. 44 Niemand habe beabsichtigt, den Verbraucherbegriff zu erweitern. Es sei im gesamten Gesetzgebungsverfahren nicht ein einziges Wort über Arbeitsverträge verloren worden. 45 Die Argumentation überzeugt, soweit sie den Zeitraum bis zum Inkrafittreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes betrifft. Mit diesem Gesetz hat der Verbraucherbegriff jedoch einen Bedeutungswandel erfahren, der fortan einen Rückgriff auf die ursprüngliche Begrifflichkeit des § 24 a AGB-Gesetz hindert und damit zu einem anderen Auslegungsergebnis führt. Entgegen der Auffassung von Annuß46 ist dieser Bedeutungswandel mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Methodenlehre - was nachfolgend zu belegen sein wird - auch durchaus konsistent begründbar.

6.

Die Aufnahme des „Arbeitnehmer-Verbrauchers" in den gesetzgeberischen Willen

Ausgangspunkte für die Rechtfertigung der These, der Begriff des Verbrauchers habe durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz einen Bedeutungswandel erfahren, sind der den Materialien zu entnehmende historische Wille des Gesetzgebers sowie die Systematik des Unterlassungsklagengesetzes (UKlaG). a) In den Materialien zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz finden sich an zwei Stellen Aussagen des Gesetzgebers zu dem Problemkreis der Arbeitnehmer- und Verbrauchereigenschaft natürlicher Personen. Die erste Passage stammt aus der Begründung des Regierungsentwurfs zum Verbrauchsgüterkauf (§ 474 BGB). Dort heißt es: „Nach § 13 ist Verbraucher jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck vornimmt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen 44

Annuß aaO., mit Hinweis auf die Begründung des Regierungsentwurfs, BTDrucks. 14/2658, S.48. 45 Annuß aaO. 46 Annuß aaO.

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Tätigkeit zugerechnet werden kann. Diese Definition deckt sich mit derjenigen in Artikel 1 II Buchstabe a der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nahezu vollständig, weicht allerdings in einem Punkt hiervon ab: Anders als nach der Richtlinie nimmt § 13 nur die selbständige berufliche Tätigkeit aus dem Verbraucherbegriff aus. Das ist sachlich gerechtfertigt. Die Erwähnung der beruflichen neben der gewerblichen Tätigkeit hat in erster Linie den Zweck, auch die freien Berufe zu erfassen, die traditionell nicht als Gewerbe angesehen werden (Rechtsanwälte, Steuerberater usw.). Es sollten aber nicht die Personen aus dem Verbraucherbegriff ausgenommen werden, die als abhängig Beschäftigte eine Sache zu einem Zweck kaufen, der (auch) ihrer beruflichen Tätigkeit dient, z.B. der Lehrer, der sich einen Computer anschafft, um damit eine Klassenarbeit zu entwerfen, oder der Angestellte, der eine Kaffeemaschine für sein Büro kauft. Das gilt auch für die Rechtsbeziehungen des Arbeitnehmers zu seinem Arbeitgeber. Solche Fälle sind nicht mit denjenigen vergleichbar, in denen selbständig am Wirtschaftsleben Beteiligte Verträge abschließen. Sie sollen deshalb den besonderen Vorschriften über Verbrauchergeschäfte unterstellt werden."47 Auch wenn die zitierte Passage aus der Begründung des Gesetzgebers zu § 474 BGB stammt, so kommt ihr doch eine Relevanz zu, die den Kontext der begründeten Norm übersteigt. Entgegen Hümmerich / Holthausen 4 8 dürfte es zwar zu weit gehen, aus der Formulierung „Das gilt auch für die Rechtsbeziehungen des Arbeitnehmers zu seinem Arbeitgeber" den Schluß zu ziehen, der Gesetzgeber habe hiermit generell die Beziehung von Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu einer Beziehung von Unternehmer und Verbraucher machen wollen. Denn mit den hier angesprochenen Rechtsbeziehungen waren erkennbar solche kaufVertraglicher Natur gemeint.49 Von besonderer Bedeutung und nicht durch den Standort relativierbar ist jedoch die Tatsache, daß der Gesetzgeber im Rahmen seiner Begründung eine klare Aussage zur Reichweite der in § 13 BGB enthaltenen Definition des Verbraucherbegriffs trifft: „Anders als nach der Richtlinie nimmt § 13 nur (Hervorhebung des Verf.) die selbständige berufliche Tätigkeit aus dem Verbraucherbegriff aus." Die in den Willen des Gesetzgebers des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes aufgenommene Begriffsbestimmung des Verbrauchers hat sich mit dieser Klarstellung offen aus dem Begründungszusammenhang von § 24 a AGB-Gesetz gelöst und eine ausschließliche Relation zur Verbraucherdefinition der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie hergestellt, deren Umsetzung das Gesetz u. a. diente. Der deutsche Gesetzgeber stellt fest, daß seine Verbraucherdefinition über die der Richtlinie hinausgeht und daß dies auch sachlich gerechtfertigt ist. In Abweichung von § 24 a AGB-Gesetz formuliert er hierbei als Ergebnis, daß nur die selbständige berufliche Tätigkeit aus dem Verbraucherbegriff des § 13

47 48 49

Begr. RegE, BT-Drucks. 14/6040, S.243. Hümmerich /Holthausen, NZA 2002, 176. Insoweit dürfte die Kritik von Annuß (NJW 2002, 2846) berechtigt sein.

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BGB - nicht etwa aus dem des § 474 BGB! - ausgenommen ist. Der Gesetzgeber hat damit auch den Arbeitnehmer-Verbraucher als möglich akzeptiert. b) An einer zweiten Stelle läßt sich den Materialien mit noch größerer Deutlichkeit das Bekenntnis des Gesetzgebers zum Arbeitnehmer-Verbraucher entnehmen. In der (Gesetz gewordenen) Beschlußempfehlung des Rechtsauschusses zu § 15 UKlaG 5 0 , die im Rahmen der Beschlußempfehlung zu § 310 IV BGB-Ε (Streichung der Bereichsausnahme für Verträge des Arbeitsrechts) abgegeben wurde, heißt es wortwörtlich und ohne jede Einschränkung, daß ,Arbeitnehmer auch Verbraucher sind". Daß es sich bei dieser Feststellung des Rechtsausschusses weder um eine „beiläufige" 51 noch um eine „missverständliche" 52 Äußerung des Gesetzgebers handelt, erschließt sich aus dem Kontext der Aussage: „Die teilweise Zurücknahme der Ausnahme für Arbeitsverträge entspricht der Gegenäußerung der Bundesregierung zu Nummer 50 der Stellungnahme des Bundesrates. Die dort dargestellten Gründe teilt der Ausschuss. Klarzustellen war in redaktioneller Hinsicht... Der Ausschuss ist darüber hinaus der Ansicht, daß mit der Ausweitung der AGBrechtlichen Inhaltskontrolle auf dem Gebiet des Arbeitsrechts nicht gleichermaßen eine Ausweitung im Verfahrensrecht einhergehen sollte, sondern daß im Unterlassungsklagengesetz eine Ausnahme vom Anwendungsbereich für das Arbeitsrecht vorgesehen werden sollte (vgl. § 15 UklaG-BE). Das System der Unterlassungsansprüche erscheint nämlich im Bereich des Arbeitsrechts in der im Unterlassungsklagengesetz vorgesehenen Form in zweierlei Hinsicht nicht zweckmäßig zu sein: Zum einen bestimmt § 6 UKlaG-RE die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte, was ohne die nunmehr in § 15 UKlaG-BE vorgesehene Ausnahme dazu führen würde, daß sich Zivilgerichte mit der Frage unwirksamer Klauseln in Arbeitsverträgen beschäftigen müssten, obwohl dies ein Bereich ist, der typischerweise den Arbeitsgerichten vorbehalten ist. In diesem Zusammenhang wäre auch die schwierige Frage zu entscheiden, ob derartige Klagen in streitigen Verfahren oder im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren entschieden werden sollten. Eine Anwendung des UKlaG würde auch weit über den Bereich hinausgehen, für den bisher im Arbeitsrecht eine Unterlassungsklage diskutiert wird. Dies bedarf ebenso einer besonderen Diskussion wie die Frage, wer solche Ansprüche sollte geltend machen können. Nach § 3 UKlaG-RE sind Verbraucherschutzverbände, soweit sie in der Liste qualifizierter Einrichtungen eingetragen sind, Wettbewerbsverbände sowie die Industrie- und Handelskammern aktivlegitimiert. Da Arbeitnehmer auch Verbraucher sind, könnten sich theoretisch auch Gewerkschaften als qualifizierte Einrichtungen in die Liste des Bundesverwaltungsamtes eintragen lassen. Ob es aber zweckmäßig ist, auf Arbeitnehmerseite andere Verbände als Gewerkschaften für klagebefugt zu erklären, ist zweifelhaft. Daher soll das Gesetz nicht für das Arbeitsrecht gelten."

50 51 52 53

§ 15 UKlaG: „Dieses Gesetz findet auf das Arbeitsrecht keine Anwendung". Singer, RdA 2003, 195. Hromadka, NJW 2002, 2524. BT-Drucks. 14/7052, S.l89 f.

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Analysiert man den Begründungszusammenhang des Bekenntnisses zum Arbeitnehmer-Verbraucher, so läßt sich Folgendes festhalten: aa) Die Aufhebung der Bereichsausnahme für das Arbeitsrecht im materiellen AGB-Recht durch § 310 IV BGB hat den Gesetzgeber veranlaßt, eine neu zu schaffende formell-rechtliche Bereichsausnahme für das Arbeitsrecht in das Unterlassungsklagengesetz (§ 15 UKlaG) aufzunehmen. bb) Der Gesetzgeber hielt die - im Regierungsentwurf zunächst nicht vorgesehene- Bereichsausnahme des § 15 UKlaG für sinnvoll, weil ansonsten nach dem System des UKlaG einerseits die Kontrolle von AGB in Arbeitsverträgen den ordentlichen Gerichten zugewiesen wäre und andererseits neben den Gewerkschaften auch sonstige Verbände auf Arbeitnehmerseite eine Klagebefugnis erhielten. cc) Zur Abwendung dieser nicht gewünschten Konsequenzen war aus Sicht des Gesetzgebers die Schaffung einer Bereichsausnahme für das Arbeitsrecht im UKlaG zwingend notwendig, weil Arbeitnehmer im Hinblick auf ihre spezifisch arbeitsrechtlichen Vertragsbeziehungen ebenfalls als Verbraucher anzusehen seien und deshalb auch für Arbeitsverträge eine verfahrensrechtliche Zuständigkeit der nach § 3 UKlaG anerkannten Verbraucherschutzverbände begründet wäre. Mit § 15 UKlaG ist ein Gesetz geschaffen worden, daß seine Notwendigkeit und zugleich seine einzige Rechtfertigung aus der Tatsache ableitet, daß es den Arbeitnehmer-Verbraucher gibt. Der Gesetzgeber selbst formuliert diese Begründung explizit und zwar veranlaßt durch die Aufhebung gerade derjenigen Norm (Bereichsausnahme des § 23 AGB-Gesetz durch § 310 IV BGB), die bis dahin das zentrale und einzig tragfähige Argument dafür geliefert hatte, den Wortlaut von § 13 BGB begrifflich um den Bereich der Verträge auf dem Gebiet des Arbeitsrechts zu reduzieren und Arbeitnehmern den Verbraucherstatus abzusprechen. Der Gesetzgeber hat mit der Verabschiedung des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes dem Begriff des Verbrauchers in § 13 BGB eine neue - nunmehr dem Wortlaut der Norm entsprechende - Bedeutung zuerkannt. Er hat sich ausweislich der Materialen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wiederholt inhaltlich auf einen Verbraucherbegriff festgelegt, der es zukünftig verbietet, den , Arbeitnehmer" gegen den klaren Wortlaut der Definitionsnorm aus dem Begriff des „Verbrauchers" deshalb auszuschließen, weil dies dem Willen des Gesetzgebers bei Schaffung des § 13 BGB entsprochen habe. Auch wenn der Gesetzgeber seinerzeit einen solchen Willen tatsächlich gehabt haben sollte, so ist er jedenfalls zwischenzeitlich ausdrücklich davon abgerückt.

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c) Das Unterlassungsklagengesetz ist als Artikel 3 des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes verabschiedet worden. Es dient seinem Zweck nach dem Interesse des Verbraucherschutzes sowie der Wahrung eines lauteren Wettbewerbs. 54 Wie bereits oben dargestellt, wurde im Gesetzgebungsverfahren auf Empfehlung des Rechtsausschusses nachträglich ein § 15 in das UKlaG eingefügt, der eine Bereichsausnahme für das Arbeitsrecht bestimmt. Die Einfügung erfolgte vor dem Hintergrund der durch § 310 IV BGB gestrichenen Bereichsausnahme des vormaligen § 23 AGB-Gesetz. Die danach formal wie inhaltlich verbundene Entstehungsgeschichte dieser beiden Normen (§15 UKlaG und § 310 IV BGB) rechtfertigt es, die im UKlaG erkennbare Gesetzessystematik als Auslegungshilfe auch für die Verbraucherrechtsvorschriften des BGB heranzuziehen. Nach § 15 UKlaG findet das Unterlassungsklagengesetz keine Anwendung auf das Arbeitsrecht. Diese Bestimmung einer Bereichsausnahme ist nur dann sinnhaft, wenn man zugleich unterstellt, daß Arbeitnehmer in Anbetracht ihrer genuin arbeitsrechtlichen Vertragsbeziehungen auch als Verbraucher anzusehen sind. 55 Denn allein unter dieser Voraussetzung bestünde überhaupt die mittels § 15 UKlaG gebannte Gefahr bzw. Möglichkeit, daß klagebefugte Vereinigungen zum Schutze der Verbraucher auch die Unwirksamkeit arbeitsvertraglicher AGB in Konkurrenz zu den Gewerkschaften für die Arbeitnehmerschaft gerichtlich verfolgen. Wäre der Arbeitnehmer demgegenüber im arbeitsrechtlichen Bereich von vornherein nicht als Verbraucher zu qualifizieren, so fielen die von ihm geschlossenen Verträge auch nicht in den Anwendungsbereich des UKlaG und den Verbraucherschutzvereinigungen käme eine Klagebefugnis auch ohne die Regelung des § 15 UKlaG nicht zu. Die Systematik des Unterlassungsklagengesetzes, namentlich die Existenz von § 15 UKlaG, bestätigt insoweit noch einmal das bisherige Auslegungsergebnis: Verbraucher im Sinne von § 13 BGB sind auch Arbeitnehmer.

IV.

Fazit

Es bleibt nach alledem festzuhalten, daß derzeit keine überzeugenden juristischen Argumente dafür erkennbar sind, die Verbrauchereigenschaft von Arbeitnehmern auch in bezug auf ihre spezifisch arbeitsrechtlichen Vertragsbeziehungen in Abrede zu stellen. Der Arbeitnehmer ist somit auch innerhalb seines Arbeitsverhältnisses Verbraucher i.S. von § 13 BGB.

54 Vgl. hierzu die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum UKlaG (BT-Drucks. 14/6857, S.69). 55 Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, § 611 Rz. 208.

168

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Dieses Ergebnis bedeutet nun allerdings nicht, daß jede Norm, die Regelungen für „Verbraucher" formuliert, zwangsläufig auch auf Arbeitsverhältnisse Anwendung finden muß. Notwendig ist insoweit vielmehr, im Wege der Auslegung eine am jeweiligen Schutzzweck der Norm ausgerichtete Adressatenbestimmung vorzunehmen, die im Einzelfall durchaus dazu führen kann, daß gerade die gleichzeitige Arbeitnehmereigenschaft des Verbrauchers einer Normanwendung entgegensteht.56 Mit der Ausdehnung des Verbraucherschutzrechts auf das Arbeitsrecht wird eindrucksvoll zugleich eine weitere Etappe eines Paradigmenwechsels eingeläutet, den unser Zivilrecht nicht zuletzt aufgrund europarechtlicher Vorgaben scheinbar unaufhaltsam zu vollziehen hat. Es ist dies der Wechsel von einem freiheitlichen Zivilrechtssystem privatautonomer Prägung hin zu einer alles überlagernden staatlichen Verbraucherschutzrechtsordnung. Wohl kaum etwas hätte die zwischenzeitlich eingetretene Eigendynamik dieser Entwicklung besser widerspiegeln können als die im Gesetzgebungsverfahren von der Bundesregierung geäußerte Sorge, das Schutzniveau im Arbeitsrecht könnte hinter demjenigen des Zivilrechts zurückbleiben. Man mag - je nach persönlicher Weltanschauung - diese Entwicklung begrüßen oder bedauern, aufhalten wird man sie wohl nicht mehr.

56 Im Ergebnis ebenso Preis, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, § 611 Rz. 208; Rieble /Klumpp, ZIP 2002, 2157; Singer, RdA 2003, 196.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang* Thomas Lambrich

I.

Mißglückte gesetzliche Regelung

Die Vorschrift des § 613 a BGB zählt ohne Zweifel zu den meist diskutierten, ja umstrittensten Normen des gesamten deutschen Arbeitsrechts. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Tatbestandsseite der Norm, deren Voraussetzungen maßgeblich von der Rechtsprechung des EuGH zu Anstellungsverhältnissen von Reinigungskräften geprägt worden sind, oder im Hinblick auf die vor nicht allzu langer Zeit legislatorisch etablierten Informations- und Widerspruchsrechte der Arbeitnehmer gemäß § 613 a Abs. 5 und 6 BGB, die der Praxis derzeit einiges an Kopfzerbrechen bereiten 1. Im Mittelpunkt des Interesses standen schon immer auch die Regelungen in § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB, die das Schicksal kollektivvertraglicher, im Veräußererbetrieb geltender Normen nach

* Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser am 06.05.2004 bei dem von Prof. Dr. Reinhard Richardi veranstalteten Praktikerseminar in Regensburg gehalten hat. Wie ein Blick in das in dieser Festschrift abgedruckte Schrifttumsverzeichnis zeigt, beschäftigen die allgemeinen Grundsatzfragen zum Verhältnis tariflicher und betrieblicher Normsetzung, konkret auch deren Auswirkungen auf die von vielen Unternehmen erstrebte Flucht aus den Verbänden und dem Flächentarifvertrag, den Jubilar immer wieder. Die entwickelten Lehren sind ihm, wie der kundige Leser der einschlägigen Beiträge weiß, ein echtes Anliegen. Dem Verfasser war es Freude und Ehre zugleich, an einzelnen dieser Beiträge mitwirken zu dürfen; nicht nur hierbei, sondern insbesondere in vielen langen Gesprächen mit dem Jubilar habe ich sehr, sehr viel gelernt. Die Erkenntnisse des Lehrers in eigenen Vorträgen und Aufsätzen weiter zu tragen, vielleicht mitunter auch weiter entwickeln zu dürfen, ist vornehmliche Aufgabe eines gelehrigen Schülers. Deshalb erscheint es mir passend, die folgenden Ausführungen zu der zu Ehren unseres gemeinsamen Lehrers gefertigten Festschrift beizusteuern, wenngleich dadurch der schuldrechts-dogmatische Gesamtkontext des Bandes gesprengt wird. Der Lehrer möge es dem Schüler noch einmal verzeihen, daß er erneut nicht zum allgemeinen Zivilrecht geschrieben hat. 1 Die im Rahmen dieses Beitrags behandelten Probleme des § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB strahlen auch aus auf die Informationspflicht des Arbeitgebers vor Betriebsübergang; nach § 613 a Abs. 5 Nr. 3 BGB erstreckt sich diese auf die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Betriebsübergangs, wozu auch das Schicksal von in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen niedergelegten Rechten und Pflichten zählt; dazu Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 10.

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Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils auf einen neuen Inhaber betreffen 2. Dabei bedeutet die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den genannten Vorschriften alles andere als bloß juristische Schöngeisterei. Bei nahezu allen Unternehmenstransaktionen - neudeutsch: mergers and acquisitions ( M & A ) und Unternehmensumstrukturierungen stellt das Schicksal von Kollektivvereinbarungen infolge der beabsichtigten Maßnahme eine für die Entscheidungsträger im Unternehmen und ihre Berater wesentliche Frage dar, von deren Beantwortung Erfolg oder Mißerfolg, Sinn oder Unsinn der Transaktion oder Umstrukturierung maßgeblich abhängen können. Doch die kollektivarbeitsrechtlichen Implikationen stellen nicht nur - seitens der Gesellschaftsrechtler lange Zeit gerne übersehene, zumindest unterschätzte - Begleitumstände bei der Gestaltung von Unternehmenskäufen sowie Um- und Restrukturierungsmaßnahmen dar. Wie jeder Kundige weiß, ist das Bestreben vieler Unternehmen, tarifliche Bindungen zu Gunsten einer Unternehmens- und betriebsspezifischen Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen zu lockern, umgekehrt längst zu einem Motor, jedenfalls Katalysator für Betriebsveräußerungen, Unternehmenskäufe und Unternehmensumwandlungen geworden. „Krise des Flächentarifvertrags", „Verbandsflucht" und „Tarifflucht", das sind viel gehörte Schlagworte. Die ökonomischen Notwendigkeiten, welche Unternehmen zu entsprechenden Strategien veranlassen, sind allenthalben bekannt; den von der Politik und den Verbänden gleichermaßen stoisch überhörten Klageliedern zahlreicher Unternehmern und Ökonomen, auch mancher Juristen, soll an dieser Stelle keine weitere Strophe hinzugefügt werden 3. Hat sich ein Unternehmen aus wirtschaftlichen Erwägungen zu einem solchen Schritt entschieden, steht es vor weitreichenden juristischen Schwierigkeiten. Im wahrsten Sinne des Wortes greifbar wird deren Ausmaß, wenn man die unlängst erschienene Habilitationsschrift von Björn Gaul in die Hand nimmt, der für seine Darstellung des „Arbeitsrecht(s) der Betriebs- und Unternehmensspaltung" sage und schreibe 1802 Seiten benötigt4. Und nicht nur die 2 Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 585 zählt gerade diesen Komplex zu „den in der arbeitsrechtlichen Literatur umstrittensten Fragen überhaupt". 3 Jüngst wieder in gewohnter Klarheit und Deutlichkeit Ehmann, Die neue Ordnung 2004, S. 56 ff. Im Jahre 1994 schrieb hingegen Däubler, ZTR 1994, 448, 455 gegen von deutschen Unternehmen erwogene und praktizierte Tariffluchtstrategien mit den Worten an: „Wer auf dem Weltmarkt bessere Angebote machen will, wird sich in erster Linie um eine rationellere Organisation der Arbeitsabläufe und um Innovationen auf allen Ebenen einschließlich der Produkte bemühen müssen. Bisher lag hier die Stärke der deutschen Wirtschaft - warum sollte es in Zukunft anders sein?" Nunmehr 10 Jahre später bleibt hierzu nur unter Rückgriff auf den von Ehmann (a.a.O., S. 64) bemühten berühmten Ausspruch Gorbatschows zu bemerken: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." 4 Gaul, Das Arbeitsrecht der Betriebs- und Unternehmensspaltung, 2002.

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Masse der Schwierigkeiten hat buchstäblich erschlagende Wirkung. Richardi und Annuß konstatieren in ihrer Kommentierung der hier interessierenden Vorschriften des § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB in der 13. Auflage des Staudinger 5: „Die Gesetzesregelung ist missglückt, da sie auf Grund ihres unklaren Wortlauts erhebliche Rechtsunsicherheit schafft." Für die Praxis wurde die bereits in der unklaren Formulierung der Normen angelegte Rechtsunsicherheit überdies lange Zeit noch dadurch verschärft, daß kaum auf - für Klarheit sorgende Entscheidungen des BAG zurückgegriffen werden konnte. Erst in den letzten drei bis vier Jahren ist die Flut der „Tariffluchts"-Fälle mittels Betriebs- oder Betriebsteilveräußerungen nach § 613 a BGB bis hinauf zum BAG angeschwollen und hat diesem Gelegenheit gegeben, die bestehende Rechtsunsicherheit zumindest zu verringern. Freilich sind dabei nicht alle Fragen beantwortet worden, doch hat das Gericht in einigen wichtigen Judikaten der letzten Zeit richtungsweisende Pflöcke eingeschlagen, welche die Orientierung im Dickicht der § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB erleichtern 6. Die Zeit scheint daher bestens geeignet für eine Bestandsaufnahme, deren Sinn ein zweifacher sein soll: Einerseits geht es darum, für die Praxis den geltenden Ist-Zustand der Interpretation der Vorschriften und ihre Auswirkungen auf unterschiedliche Veräußerungs- und Umwandlungsszenarien darzustellen. Andererseits bieten die aktuellen Entscheidungen zu § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB aus wissenschaftlichem Blickwinkel hinreichend Anlaß, die eingetretene Rechtsprechungsentwicklung kritisch auf den Prüfstand zu stellen. Zwar ist der Fortschritt größerer Rechtssicherheit zweifelsohne per se begrüßenswert, die seitens des BAG eingeschlagenen Wege hingegen sind, wie sich zeigen wird, keineswegs frei von Irrungen.

I I . Vorfragen und Weichenstellungen Bevor in médias res gegangen und die wesentlichen Problemstellungen vertieft erörtert werden sollen, erscheint es hilfreich, sich zunächst gewissermaßen vor die Klammer gezogen - einigen allgemeinen dogmatischen, systematischen und teleologischen Vorfragen und Weichenstellungen der hinsichtlich ihres Wortlauts schwierigen Vorschriften in § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB zuzuwenden.

5 St&udinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., §613 a Rz. 172; ähnlich RGRKAscheid, BGB, 12. Aufl., § 613 a BGB Rz. 181. 6 Zu Recht wenden Schief er /Pogge , NJW 2003, 3734, 3735 allerdings ein: „Die von der Rechtsprechung insoweit erzielten Ergebnisse lassen sich dem Gesetzestext häufig nicht unmittelbar entnehmen. Betriebserwerber erleben daher nicht selten unliebsame Überraschungen."

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1.

Entstehungsgeschichte und Zwecksetzung

Die Regelungen sind durch Abs. 1 Nr. 5 des Arbeitsrechtlichen EG-Anpassungsgesetzes vom 13.08.1980 in die bereits bestehende Vorschrift des § 613 a BGB eingefügt worden. Sie beruhen auf der europarechtlichen Vorgabe in der EG-Richtlinie 77/187/EWG vom 14.02.1977. In Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie, jetzt gleichlautend in Art. 3 Abs. 3 der zur Zeit geltenden „Betriebsübergangsrichtlinie" vom 12.03.2002 (RL 2001/23/EG), heißt es: „Nach Übergang erhält der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrags bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags in dem gleichen Maße aufrecht, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren." Basierend auf diesem europarechtlichen Auftrag passen sich die Sätze 2 - 4 des § 613 a Abs. 1 BGB zunächst nahtlos in die allgemeine arbeitnehmerschützende Zwecksetzung der Norm ein. Die Übertragung eines Betriebs oder Betriebsteils auf einen neuen Inhaber soll nicht nur den Bestand der Arbeitsverhältnisse unberührt lassen und ohne Auswirkungen auf die arbeitsvertraglich geregelten Lohn- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer sein, wie § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB es anordnet. Der Bestands- und Erhaltungsschutz zu Gunsten der Arbeitnehmer soll sich auch auf für diese beim Veräußerer auf Grund von Kollektiwereinbarungen geltende Regelungen beziehen. Diesem Schutzzweck kommt § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB nach, in dem angeordnet ist: Sind diese Rechte und Pflichten (gemeint sind in unmittelbarer Anknüpfung an Satz 1 die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen) durch Rechtsnormen eines Tarifvertrags oder durch eine Betriebsvereinbarung geregelt, so werden sie Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer und dürfen nicht vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert werden. Damit ist zunächst der Grundsatz der Regel-Ausnahme-Systematik in den Vorschriften gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB formuliert. Der Bestands- und Erhaltungsschutz hinsichtlich kollektiwertraglicher Regelungen nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB ist jedoch keineswegs schrankenlos gewährleistet. Der europarechtliche Umsetzungsauftrag selbst enthält bereits wichtige Grenzen. Nach Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG sind die in einem Kollektiwertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen nur „bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektiwertrags bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektiwertrags" aufrecht zu erhalten. Diesen Vorgaben ist der deutsche Gesetzgeber in § 613 a Abs. 1 Satz 3 und 4 BGB nachgekommen. § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB schränkt bereits den Anwendungsbereich des Satzes 2 ein („gilt nicht"), wenn die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch Rechtsnormen eines anderen Tarifvertrags oder durch eine andere Betriebsvereinbarung geregelt werden. Die vom Gesetzgeber mit der Vorschrift

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verfolgte Zwecksetzung ist in den Materialien 7 unmißverständlich wiedergegeben: „Satz 3 stellt klar, daß gegenüber der in Satz 2 geregelten individualrechtlichen Verpflichtung die kollektivrechtlichen Verpflichtungen wie üblich vorgehen. Der neue Inhaber ist in diesem Fall nur verpflichtet, die bei ihm bereits geltenden Tarifverträge ... einzuhalten und nicht noch daneben Arbeitsbedingungen, die sich nach Satz 2 aus anderen Tarifverträgen ... ergeben." § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB schützt also nicht die Arbeitnehmer, sondern im Gegenteil den neuen Inhaber, indem dessen infolge des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs entstehenden Verpflichtungen begrenzt werden. Er soll nur verpflichtet sein, bei ihm geltende Tarifverträge einzuhalten; der Bestands- und Erhaltungsschutz der übernommenen Arbeitnehmer gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB soll nicht so weit gehen, daß er, sofern bei ihm Tarifverträge bestehen, daneben noch ursprünglich zu Gunsten der Arbeitnehmer beim Veräußerer geltende Kollektiwerträge beachten muß. Ebenfalls den Schutz der Interessen des neuen Inhabers bezweckt schließlich § 613 a Abs. 1 Satz 4 BGB, der zwei Ausnahmen zu der in Satz 2 statuierten einjährigen Veränderungssperre vorsieht. Vor Ablauf der Frist nach Satz 2 können die Rechte und Pflichten geändert werden, wenn der Tarifvertrag oder die Betriebsvereinbarung nicht mehr gilt (Ausnahme 1) oder bei fehlender beiderseitiger Tarifgebundenheit im Geltungsbereich eines anderen Tarifvertrags dessen Anwendung zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer vereinbart wird (Ausnahme 2). Damit hat der deutsche Gesetzgeber die bereits in Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG dahingehend angelegte Beschränkung des Arbeitnehmerschutzes umgesetzt, daß nur bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektiwertrags (= § 613 a Abs. 1 Satz 4, 1. Alt. BGB) bzw. ... bis zur Anwendung eines anderen Kollektiwertrags (= § 613 a Abs. 1 Satz 4, 2. Alt.) die beim Veräußerer in einem Kollektiwertrag niedergelegten Arbeitsbedingungen aufrecht zu erhalten sind. Den Regelungen in § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB kommt demnach nicht in ihrer Gesamtheit eine (bloß) arbeitnehmerschützende Funktion zu. Ihr Sinn ist, in Gänze betrachtet, ein sachgerechter Ausgleich der Bestandsschutzinteressen der übergegangenen Arbeitnehmer einerseits mit dem Interesse des neuen Arbeitgebers andererseits, sich nicht aufgrund eigener Gebundenheit und wegen des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs einer auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen basierenden zweifachen Bindung an Kollektiwereinbarungen gegenüber zu sehen. Dieser in Ansehung der Systematik der Vorschriften und im Lichte der ihnen auf nationaler und europäischer Ebene zu Grunde liegenden Erwägungen offenkundige Befund scheint so selbstverständlich, daß es einer solch ausführlichen Herleitung an sich nicht bedurft hätte. Die Zwecksetzung 7

BT-Drucks. 8/3317, S. 11.

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der Sätze 3 und 4 des § 613 a Abs. 1 BGB, die Interessen des neuen Betriebsinhaber zu schützen, als erstes Zwischenergebnis deutlich hervorzuheben, ist jedoch für die weiteren Erörterungen richtungweisend. Denn manche der sich hinsichtlich der Weitergeltung und Ablösung von Kollektiwereinbarungen nach Betriebsübergang stellenden Probleme werden - auch durch das BAG 8 - allzu leichtfertig mit einem globalen Verweis auf Arbeitnehmerschutzerwägungen gelöst; hierauf wird an mehreren Stellen zurück zu kommen sein.

2.

Vorrang des Arbeitnehmerschutzes durch kollektivrechtliche Normgeltung

Auch vor Inkrafttreten der § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB hatte ein Betriebsoder Betriebsteilübergang nicht zur Folge, daß kollektiwertragliche Verpflichtungen des Veräußerers notwendig untergingen und vom Erwerber nicht zu beachten waren 9. Rechtsprechung und Wissenschaft lösten die Fragen der Weitergeltung und Ablösung von Kollektiwereinbarungen in den genannten Fällen mit dem traditionellen kollektivrechtlichen Rüstzeug, indem geprüft wurde, ob der neue Inhaber nach allgemeinen Grundsätzen selbst an den betreffenden Kollektivvertrag gebunden war, beim VerbandstarifVertrag also etwa aufgrund eigener Tarifgebundenheit gemäß §§3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG oder wegen Allgemeinverbindlicherklärung (§5 TVG). Es ist konsequent, daß es der Weitergeltung der kollektiwertraglichen Rechte und Pflichten beim Erwerber nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB auch jetzt nach Schaffung dieser Norm nicht bedarf, wenn sich die tarifVertragliche Bindung des Erwerbers bereits aus allgemeinen Prinzipien ableiten läßt. Auch Arbeitnehmerschutzerwägungen greifen insoweit nicht Platz, da die kollektivrechtliche Fortgeltung die Arbeitnehmer hinreichend schützt und § 613 a BGB nur auf Grund eines Betriebs- oder Betriebsteilübergangs entstehende Schutzlücken verhindern, nicht aber die Rechtsstellung der Arbeitnehmer im Zuge des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs verbessern möchte. Entsprechend wird nahezu einhellig angenommen, daß § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB lediglich eine Auffangregelung für den Fall darstellt, daß eine kollektivrechtliche Fortgeltung der Kollektiwereinbarungen beim neuen Inha8

Besonders deutlich BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB (Gutzeit): „Die Gesamtregelungen in § 613 a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB wollen einen Schutz des Arbeitnehmers im Falle eines Betriebsübergangs begründen."; BAG ν. 29.08.2001, DB 2002, 431, 433 spricht undifferenziert von der „Rechtserhaltungsfunktion des § 613 a BGB"; in BAG ν. 21.02.2001, BB 2001, 1847, 1851 heißt es: „Der Schutz durch kollektiwertragliche Regelungen soll erhalten werden." Thüsing/Stelljes, Anmerkung zu BAG v. 21.02.2001, EzA § 613 a BGB Nr. 195, verweisen auf den „Bestandsschutzgedanken"; Gutzeit, Anmerkung zu BAG ν. 01.08.2001, EzA § 613 a BGB Nr. 199 verlangt eine „möglichst bestandsschützende bzw. arbeitnehmerschützende" Interpretation. 9 Dazu überblickartig RGRK-^c/ie/rf, BGB, 12. Aufl., § 613 a BGB Rz. 178.

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ber ausscheidet10. Wichtig ist dies deswegen, da sich die Ablösungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für den Erwerber in diesem Fall im Vergleich zu den in § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB angelegten maßgeblich unterscheiden.

3.

Kollektivrechtliche oder individualrechtliche Lösung?

Nach welchen dogmatischen Mechanismen Kollektiwerträge nach Maßgabe des § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB weitergelten und abgelöst werden können, ist nicht ohne weiteres auf den ersten Blick ersichtlich. Bekannt ist, daß tarifvertragliche Regelungen oder solche in einer Betriebsvereinbarung grundsätzlich nicht zum Inhalt des Arbeitsvertrages werden, sondern von außen, einem Gesetze gleich, auf diesen einwirken. Diese normative Wirkung, die aus rechtsstaatlichen Erwägungen stets einer ausdrücklichen Anordnung des Gesetzgebers bedarf 11, ist für Tarifverträge in § 4 Abs. 1 TVG, für Betriebsvereinbarungen in § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG vorgesehen. Bei § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB scheint der Gesetzgeber anderes im Sinn gehabt zu haben. In der Norm heißt es, daß die Rechte und Pflichten aus einem Tarifvertrag oder einer Betriebsvereinbarung zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer werden. Dies wird von der überwiegenden Ansicht in Rechtsprechung und Lehre dahingehend interpretiert, daß der Gesetzgeber sich bei § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB für eine Transformation der ehemals normativ wirkenden Kollektivregelungen auf die arbeitsvertragliche Ebene, also für eine sog. individualrechtliche Lösung entschieden habe12. Das BAG hat die dogmatische 10 BAG v. 29.08.2001, DB 2002, 431m 432; Steudm&x-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., § 613 a Rz. 175; MünchAxbK-Wank, 2. Aufl., § 124 Rz. 178; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 775; Ascheid, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2002, §613 a Rz. 81; Soergel -Raab, BGB, 12. Aufl., §613 a BGB Rz. 105; Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, S. 125; Ho henstati, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 526; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 77; Heinze, DB 1998, 1861, 1862; derselbe, FS für Schaub, 1998, S. 275, 278; Zöllner, DB 1995, 1401; Kempen, BB 1991, 2006; Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 11, Gutzeit, Anmerkung zu BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB; Hohenstatt/Günther-Gräff, DStR 2001, 1980; Moll, RdA 1996, 275; Kania, DB 1994, 529; Schiefer, DB 2003, 390; Schiefer /Pogge, NJW 2003, 3734, 3438; Prange, NZA 2002, 817, 818; a.A. im älteren Schrifttum Wank, NZA 1987, 505, 507 f.; Röder, DB 1981, 1980; Wiesner, BB 1986, 1636; diese Ansicht konnte sich nicht durchsetzen. 11 BVerfG v. 09.05.1972, BVerfGE 33, 125, 158; Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 48 ff. und 91 f.; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, Rn. 1215; Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 214 ff. 12 ErfK-Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 108; MünchAibK-Wank, 2. Aufl., § 124 Rz. 177; RGRK-Ascheid, BGB, 12. Aufl., § 613 a BGB Rz. 181; derselbe, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2002, § 613 a Rz. 82; MünchKomm-Schaub, BGB, 3. Aufl., § 613 a Rz. 148 und 161 ff.; SoergekRaaò, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 104; Erman-Edenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz. 72; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Um-

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Charakterisierung des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB in seiner Entscheidung vom 21.02.2001, die ansonsten als grundlegend fur die Interpretation besagter Norm anzusehen ist, noch ausdrücklich offen gelassen13. In späteren Entscheidungen geht es dann allerdings ohne jede Begründung davon aus, daß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht die Fortgeltung der Tarifhorm als einer auf das Arbeitsverhältnis einwirkenden Bestimmung, sondern den Eingang des Regelungsgehalts in das Arbeitsverhältnis vorsehe 14. Die Begründung wird im Schrifttum seit jeher unter Rückgriff auf mutmaßliche Erwägungen des Gesetzgebers geliefert (den Gesetzesmaterialien selbst sind entsprechende Überlegungen indessen nicht zu entnehmen!): Der Gesetzgeber habe sich wegen verfassungsrechtlicher Bedenken für die Transformation ehemals kollektiver Normen auf die arbeitsvertragliche Ebene entschieden; gegen eine kollektive Bindung des neuen Betriebsinhabers jedenfalls an normativ wirkende Regelungen eines VerbandstarifVertrags streite das Grundrecht des neuen Betriebsinhabers auf negative Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) 15 . Sicher ist es richtig, daß der Gesetzgeber nicht die Überleitung der Mitgliedschaft des Veräußerers im Arbeitgeberverband auf den Erwerber hätte anordnen können. Dem stünde nicht nur die negative Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG entgegen, sondern auch die höchstpersönliche Natur des Mitgliedschaftsverhältnisses in einem Verein (§ 38 BGB) 1 6 . Zu meinen, mit der unterstellten individualrechtlichen Lösung etwaige verfassungsrechtliche Bedenken selbstre-

strukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 524 und 576; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 84; Henssler, FS für Schaub, 1998, S. 311, 317; Kempen, BB 1991, 2006; Hohenstatt/Günther- Gr äff, DStR 2001, 1980; Kania, DB 1994, 529; Schiefer, DB 2003, 390; derselbe, NJW 1998, 1817, 1829; Schiefer/Pogge, NJW 2003, 3734, 3438; Prange, NZA 2002, 817, 818; Wollenschläger/Poliert, ZfA 1996, 547, 575. 13 BAG, BB 2001, 1847, 1848: „Es kann dahingestellt bleiben, ob die Normen individualrechtlich, d.h. wie arbeitsvertraglich vereinbarte Regelungen weitergelten [...] oder ob entgegen dem Wortlaut von einer beschränkt normativen Weitergeltung wie bei §4 Abs.5 TVG auszugehen ist..." An späterer Stelle in derselben Entscheidung (BB 2001, 1847, 1852) spricht das Gericht aber dennoch von einer „Transformation der tariflichen Regelungen in das Arbeitsverhältnis" und neigt damit deutlich der herrschenden individualrechtlichen Interpretation des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB zu. 14 BAG v. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB (Gutzeit); BAG ν. 29.08.2001, DB 2002, 431, 432; BAG v. 22.01.2003, AP Nr. 242 zu § 613 a BGB. 15 Seiter, Betriebsinhaberwechsel, 1980, S. 96 f.; RGRK-Ascheid, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 181; Kempen, BB 1991, 2006; Kania, DB 1994, 529; Gaul, ZTR 1989, 432; Moll, RdA 1996, 275, 276, der zu Recht daraufhinweist, daß die europarechtliche Vorgabe in Art. 3 Abs. 2 RL 77/187/EG weder für die eine noch die andere Lösung spreche und auch nicht der einen oder anderen Lösung entgegenstehe. Unter Rückgriff auf diese Norm weisen Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, S. 120 zu Recht daraufhin, daß andererseits eine kollektivrechtliche Lösung im Rahmen des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht zur automatischen Ausweitung der Verbandsmitgliedschaft auf den Erwerber führen würde.

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dend vom Tisch wischen zu können, ist jedoch ein Trugschluß. Was den Erwerber eines Betriebs oder Betriebsteils belastet, ist die Tatsache als solche, daß sich die Arbeitverhältnisse der übergegangenen Arbeitnehmer - für ein Jahr zwingend ( ! ) - inhaltlich nach beim Veräußerer geltenden Kollektivvereinbarungen richten, an die er selbst bei einer rein kollektivrechtlichen Betrachtung, gäbe es § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht, nicht gebunden wäre. Mit anderen Worten: Als Belastung empfindet der Erwerber nicht eine mögliche unmittelbare Weitergeltung ehemals normativ geltender Regelungen, sondern deren zwingende Weitergeltung, und dies unabhängig von ihrer dogmatischen Grundlage17. Die negative Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG aber schützt nicht nur vor unmittelbarem oder mittelbarem Koalitionszwang („Fernbleiberecht") 18 , sondern auch davor, ohne mitgliedschaftliche Legitimation unter die Regelungsmacht der Tarifparteien zu fallen („Freiheit vom Tarifvertrag") 19 . Folglich wird auch bei einem individualrechtlichen Verständnis des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB die negative Koalitionsfreiheit des neuen Betriebsinhabers berührt, da dieser nicht durch eigene Verbandsmitgliedschaft die (kollektive) Geltung tariflicher Normen legitimiert. Rechtfertigen läßt sich dies freilich auf Grund des schutzwürdigen Interesses der Arbeitnehmer am Erhalt vormals für sie geltender tariflicher Regelungen, also letztlich mit deren widerstreitendem Grundrecht auf positive Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG). Dies jedoch, nochmals, völlig unabhängig von der § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB unterlegten dogmatischen Konstruktion. Es liegt daher näher, auch im Rahmen des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB von einer kollektivrechtlichen, d. h. normativen Wirkung der weitergeltenden Kollektiwereinbarungen auszugehen20. Die Vertreter der herrschenden Meinung müssen selbst zugeben, daß die Norm bei Zugrundelegung ihres Verständnisses einen gesetzgeberischen „Kunstgriff 2 1 darstelle 22. Ein Kunstgriff im übrigen,

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Ähnlich Zöllner, DB 1995, 1401, 1403: „Wäre die Bindung an tarifliche Regelungen für Nichtmitglieder eines Arbeitgeberverbands verfassungsrechtlich bedenklich, könnten diese Bedenken nicht dadurch ausgeräumt werden, daß man die betreffenden Bedingungen kurzerhand zu Einzelvertragsbedingungen erklärt." 18 Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 275 und 278 f.; Seiter, AöR 1984, 88, 102; Schüren, RdA 1988, 138, 139; Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 172. 19 Zöllner, RdA 1962, 453, 458; derselbe, Die Rechtsnatur der Tarifnormen nach deutschem Recht, 1966, S. 22; Reuter, FS für Schaub, 1998, S. 605, 611; Hablitzel, Verbands- und Betriebsratskompetenzen für rechtsetzende Vereinbarungen im Arbeitsrecht, 1970, S. 55; Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 171. 20 Staudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., §613 a Rz. 173 ff.; Zöllner, DB 1995, 1401, 1402 f.: „beschränkt normative Weitergeltung"; Heinze, FS für Schaub, 1998, S. 275, 278 ff.; derselbe, DB 1998, 1861, 1862 f. 21 Wank, ZfA 1987, 505, 510. 22 Dazu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 780.

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der mit überkommenen privatrechtlichen Prinzipien unserer Rechtsordnung kaum zu vereinbaren, also nicht lege artis ist 23 : Daß Gesetzgeber und Gerichte von Privatrechtssubjekten geschlossene Verträge einer Inhaltskontrolle unterziehen, ist eine Sache; aber daß das Gesetz in den Inhalt von privatrechtlichen Verträgen eigenmächtig eingreift, um ehemals kollektiv wirkende Regelungen in diese zu inkorporieren, dürfte zu weit gehen24. Zu fragen bleibt, ob in Anbetracht des vordergründig für die herrschende individualrechtliche Deutung sprechenden Wortlauts der Norm („werden ... Inhalt des Arbeitsverhältnisses") ein kollektivrechtliches Verständnis des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB überhaupt in Betracht kommt, oder ob der Wortsinn als äußerste Auslegungsschranke dem entgegensteht25. Letzteres ist nicht der Fall, da unter dem Arbeitsverhältnis nicht nur der Arbeitsvertrag, sondern das gesamte Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer verstanden werden kann, einschließlich der von außen auf den Arbeitsvertrag einwirkenden Kollektivnormen 26 . Regelungsgehalt des § 613 a Abs. 1 Satz 2 ist die Anordnung der Überleitung der aus diesen Kollektivnormen resultierenden Rechte und Pflichten vom Veräußerer auf den Erwerber sowie ihrer einjährigen zwingenden Wirkung. § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weist nach hier vertretenem Verständnis damit deutliche Parallelen zur Anordnung der Nachwirkung von Tarifhormen nach Beendigung eines Tarifvertrags in § 4 Abs. 5 TVG auf; mit dem Unterschied freilich, daß im letzteren Fall deren zwingende Wirkung nicht erst nach einem Jahr, sondern unmittelbar entfällt 27 . Rechtsgrundlage der Weitergeltung von Kollektivvereinbarungen nach Betriebs- oder Betriebsteilübergang ist daher hier wie dort weder der Kollektivvertrag selbst noch der auf den Erwerber übergeleitete Arbeitsvertrag mit dem übernommenen Arbeitnehmer, sondern die gesetzgeberische Anordnung der Weitergeltung als solche28. Diese Erkenntnis 23 Daraufhaben Staudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., §613 a Rz. 173 bereits hingewiesen. 24 Erst recht bereitet es Vertretern der herrschenden individualrechtlichen Interpretation des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB Schwierigkeiten, die in der Vorschrift angeordnete einjährige Verschlechterungssperre zu erklären; dazu Zöllner, DB 1995, 1401, 1402. 25 So offensichtlich Moll, RdA 1996, 275, 277. 26 Ähnlich Staudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., §613 a Rz. 174; insoweit übereinstimmend, aber im Ergebnis anders Soergel-/toa&, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 104; kritisch auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 780. 27 Diese Parallelität erkennen ansatzweise auch das BAG (ν. 29.08.2001, DB 2002, 431, 433), das einen weiteren Unterschied allerdings in der mangelnden unmittelbaren Wirkung bei § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB sieht, und im Ergebnis einer individualrechtlichen Lösung zuneigende Vertreter im Schrifttum; vgl. Hunold, NZA-RR 2003, 562, 565; ganz klar bereits bei Zöllner, DB 1995, 1401, 1402; ebenso Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 12. 28 Treffend Heinze, DB 1998, 1861, 1862 und 1864; derselbe, FS für Schaub, 1998, S. 275, 278 ff.; diesem zustimmend Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 11 f.

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wird, so viel sei vorweggenommen, an späterer Stelle fur die Lösung der ein oder anderen Problemstellung äußerst erhellend sein 29 . Folgt man demgegenüber der hier vertretenen kollektivrechtlichen Lösung nicht, sondern geht mit der überwiegenden Ansicht bei § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB von einer individualrechtlichen Weitergeltung aus, darf jedenfalls nicht in Vergessenheit geraten, daß es sich um ehemals normativ wirkende Regelungen handelt und daß § 613 a Abs. 1 Satz 2 dann eben nicht mehr als ein gesetzgeberischer Kunstgriff ist. Aus einem solchen können dogmatisch für die Beantwortung der sich im Rahmen der § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB stellenden Rechtsfragen keine entscheidenden Schlüsse gezogen werden; argumentativ entscheidend muß vielmehr der ehemals kollektivrechtliche Charakter der nach Betriebs- oder Betriebsteilübergang weitergeltenden Regelungen sein 30 .

4.

Einzelrechtsnachfolge und Gesamtrechtsnachfolge

Hinsichtlich des Anwendungsbereichs des § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB sind an dieser Stelle nicht allzu viele Worte zu verlieren.

a)

Betriebs- und Betriebsteilübergang

gemäß § 613 a Abs. 1 BGB

§ 613 a Abs. 1 BGB setzt voraus, daß ein Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft auf einen anderen Inhaber übergeht. Die komplexen Rechtsfra29 Bedeutung erlangt das dogmatische Verständnis des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB bereits für die Frage, auf welche Weise bei mehrfach nacheinander stattfindenden Betriebsübergängen die nach dieser Vorschrift weitergeltenden Kollektivregelungen auf den neuerlichen Betriebserwerber übergehen. Geht man von einer individualrechtlichen Deutung des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB aus, muß man für den Übergang auf den neuerlichen Betriebserwerber konsequenterweise §613 a Abs. 1 Satz 1 BGB anwenden (Soergel-Raab, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 108; Schaub/Koch/Linck, Arbeitsrechtshandbuch, 10. Aufl., S. 1309). Dies erscheint jedoch hinsichtlich der Möglichkeiten zur Änderung der ehemals normativ wirkenden Regelungen nicht sachgerecht, so daß insoweit eine analoge Anwendung der § 613 a Abs. 1 Satz 3 und 4 BGB erwogen wird (Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 783; Soergel-Λααό, BGB, 12. Aufl., §613 a Rz. 125; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 584; offen gelassen von BAG ν. 20.04.1994, AP Nr. 108 zu § 613 a BGB). Einer solchen Analogie bedarf es nach der hier vertretenen kollektivrechtlichen Lösung nicht. Unter dieser Prämisse gelten auch bei mehrfachen Betriebsübergängen stets die Sätze 2 - 4 des § 613 a Abs. 1 BGB direkt, so Staudinger-/?/chardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., § 613 a Rz. 183; Moll, RdA 1996, 275, 279. 30 Hierauf wird zutreffend hingewiesen von Moll, in: Willemsen/Preis, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 137; derselbe, RdA 1996, 275, 276 f.: „ArbeitsVertragsregelungen besonderer Art"; siehe auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 780; Gutzeit, Anmerkung zu BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB.

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gen, die sich hinsichtlich der Tatbestandsseite der Vorschrift stellen, können hier nicht erörtert werden. Es soll der Hinweis genügen, daß es nach der - durch das BAG weitgehend übernommenen 31 - Rechtsprechung des EuGH darauf ankommt, ob eine wirtschaftliche Einheit unter Wahrung ihrer Identität von dem einen auf einen anderen Inhaber übergeht; dies ist im Wege einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Kriterien zu beantworten 32. Unproblematisch gegeben ist § 613 a Abs. 1 BGB, wenn ein Unternehmen die gesamten Vermögenswerte eines Betriebs oder Betriebsteils an ein anderes Unternehmen verkauft und überträgt (sog. „Asset Deal"). Häufig anzutreffen sind in der Praxis indessen Konstellationen, in denen Unternehmen lediglich bestimmte Funktionen (z.B. Vertrieb, IT-Abteilung) auf eine andere, oftmals zum Unternehmensverbund gehörende Gesellschaft übertragen. Der Wunschvorstellung des Unternehmens entspricht es dabei zumeist, daß die Funktionen bei der neuen Gesellschaft mit den bereits vorhandenen Leistungsträgern - allerdings häufig zu geänderten Lohn- und Arbeitsbedingungen- fortgeführt werden sollen, während man sich von weniger leistungsfähigen und -willigen Arbeitnehmern trennen möchte 33 . Nicht selten herrscht dabei die Vorstellung, eine solche Umstrukturierung könne unter Umgehung des § 613 a BGB durchgeführt werden. Dies mag im Einzelfall möglich sein, doch ist insoweit größte Vorsicht geboten. § 613 a BGB findet nicht nur Anwendung, wenn zwischen zwei Gesellschaften ein Vertrag über den Verkauf von Vermögenswerten hinsichtlich eines Betriebs oder Betriebsteils (sog. y yAsset Purchase Agreement") geschlossen wird. Auch ohne ein solches Rechtsgeschäft kann es zu einem verdeckten Betriebs- oder Betriebsteilübergang kommen, etwa dann, wenn der alte Arbeitgeber die Arbeitsverhältnisse mit einem wesentlichen Teil des Personals im Wege von Aufhebungsvereinbarungen beendet und die andere Gesellschaft den betreffenden Arbeitnehmern den Abschluß eines neuen Arbeitsvertrages mit geänderten Konditionen anbietet34. Die Risiken eines solchen verdeckten Betriebsübergangs sind groß 35 : Nicht nur diejenigen Arbeitnehmer, denen neue Verträge angeboten wurden, sondern sämtliche Arbeitnehmer des faktisch übernommenen Betriebs oder Betriebsteils gehen über. Kündigungen, die gegenüber an sich nicht zu übernehmen beabsichtigten Arbeitnehmern ausgesprochen wer31

Grundlegend BAG ν. 22.05.1997, NZA 1997, 3188. Siehe exemplarisch nur EuGH v. 11.03.1997, NZA 1997, 433 (Ayse Süzen). 33 Vgl. die der Praxis entnommene Fallstudie bei Lambrich/Trappehl, Tarifflucht, 2002, S. 129 ff. 34 BAG v. 11.07.1995, NZA 1996, 207; für den Fall der Kündigung durch den alten und den Neuabschluß eines Arbeitsvertrags mit dem neuen Inhaber BAG ν. 20.07.1982, NJW 1982, 472; für Eigenkündigung der Arbeitnehmer und anschließenden Neuabschluß von Arbeitsverträgen mit dem neuen Inhaber BAG ν. 28.04.1987, NZA 1988, 198. 35 Instruktiv Fischer, Individualrechtliche Probleme des verdeckten bzw. zunächst unerkannten Betriebsübergangs, DB 2001, 331. 32

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den, sind in aller Regel gemäß § 613 a Abs. 4 BGB unwirksam. Die Arbeitnehmer gehen überdies zu den beim alten Arbeitgeber geltenden Konditionen über, gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB einschließlich der in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen niedergelegten Rechte und Pflichten. Es dürfte deutlich geworden sein, daß Unternehmen und ihre Berater das Vorliegen der Voraussetzungen des § 613 a BGB vor Durchführung entsprechender „Outsourcing" Maßnahmen genauestens prüfen sollten; sonst kann es zu bösen Überraschungen kommen.

b) Anteilskauf Nicht zur Anwendung gelangt § 613 a BGB hingegen, wenn lediglich z.B. Aktien oder GmbH-Anteile von einer Gesellschaft auf eine andere übertagen werden (sog. Ulnare Sale"). Der Abschluß eines Aktien- oder Geschäftsanteilskaufvertrags und die anschließende Übertragung der Anteile führen lediglich zur Änderung der Beteiligungsverhältnisse, nicht aber zu einem Inhaberwechsel und damit auch nicht zum Übergang der Arbeitgeberstellung auf die neue Gesellschaft.

c)

Gesamtrechtsnachfolge

nach Maßgabe des Umwandlungsgesetzes

Ebenfalls keine Anwendung fand § 613 a BGB lange Zeit auf Unternehmensumwandlungen im Wege der Gesamtrechtsnachfolge. Insoweit ist seit Inkrafttreten des Umwandlungsgesetzes eine Änderung der Rechtslage eingetreten. Dessen § 324 sieht vor, daß § 613 a Abs. 1, Abs. 4 und Abs. 6 BGB durch die Wirkung der Eintragung einer Verschmelzung, Spaltung oder Vermögensübertragung unberührt bleibt. Trotz ihres nicht gerade klaren Wortlauts wird die Norm einhellig als Rechtsgrundverweisung auf die genannten Absätze des § 613 a BGB verstanden, d.h., dessen Voraussetzungen sind in den genannten Umwandlungsfällen zu prüfen. Liegen sie vor, finden die Rechtsfolgen der Vorschrift auch auf diese Fälle der Vermögensübertragung kraft Gesamtrechtsnachfolge Anwendung 36 . Das Umwandlungsgesetz sieht insgesamt 119 mögliche Typen von Unternehmensumwandlungen vor 37 . Im Zusammenhang mit § 613 a BGB sind gottlob nur die folgenden Spielarten von Interesse:

36 Prange, NZA 2002, 817, 818; Zerres, ZIP 2001, 359, 360; allgemein zu den umwandlungsrechtlichen Besonderheiten bei § 613 a BGB Heinze, ZfA 1997, 1 ff.; Wlotzke, DB 1995, 40 ff.; Gaul, NZA 1995, 717 ff.; Bachner, NJW 1995, 2881 ff.; Bauer/Lingemann, NZA 1994, 1057 ff.; Willemsen, NZA 1996, 791 ff.; Kreßel, BB 1995, 925 ff.; Wellenhof er-Klein, ZfA 1999, 239 ff. 37 Bachner, NJW 1995, 2881.

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(1) Den Grundtyp der Umwandlung stellt die Verschmelzung dar. Sie kann in zwei Formen erfolgen: (a) Bei der Verschmelzung durch Aufnahme übertragen ein oder mehrere Rechtsträger ihr Vermögen als Ganzes auf einen anderen, bereits bestehenden Rechtsträger (§ 2 Nr. 1 UmwG). (b) Bei der Verschmelzung durch Neugründung übertragen ein oder mehrere Rechtsträger ihr Vermögen als Ganzes auf einen neu gegründeten Rechtsträger (§ 2 Nr. 2 UmwG). Bei beiden Gestaltungsvarianten erfolgt die Übertragung durch die Gewährung von Anteilen oder Mitgliedschaften des übernehmenden oder neuen Rechtsträgers an die Gesellschafter bzw. Anteilseigner der/des übertragenden Rechtsträger(s). Folge der Verschmelzung ist die Auflösung der/des übertragenden Rechtsträger(s), ohne daß es der Abwicklung bedarf. (2) Gewissermaßen das Gegenstück zur Verschmelzung bildet die Spaltung. Hier sind drei verschiedene Gestaltungsvarianten zu unterscheiden: (a) Bei der Aufspaltung (§ 123 Abs. 1 UmwG) wird das Vermögen einer Gesellschaft ohne Abwicklung gleichzeitig auf zwei oder mehrere Rechtsträger übertragen mit der Folge, daß der übertragende Rechtsträger erlischt. Es entstehen zwei (oder mehr) neue Unternehmen, die partiell in die Vermögensstellung des übertragenden Rechtsträgers eintreten. (b) Im Unterschied hierzu bleibt bei der Abspaltung gemäß § 123 Abs. 2 UmwG der übertragende Rechtsträger bestehen. Er überträgt lediglich einen Teil seines Vermögens (z.B. einen Betrieb) auf einen oder mehrere bereits bestehende (Spaltung durch Aufnahme) oder erst neu gegründete Gesellschaften (Spaltung durch Neugründung). Die als Gegenleistung gewährten Anteile an dem oder den übernehmenden Rechtsträger(n) erhält der Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers. Durch die Abspaltung entsteht somit eine neue Schwestergesellschaft des übertragenden Unternehmens. (c) Der Unterschied zwischen der Abspaltung und der Ausgliederung (§123 Abs. 3 UmwG) liegt lediglich darin, daß bei letzterer nicht eine Schwestergesellschaft, sondern eine Tochtergesellschaft des übertragenden Rechtsträgers geschaffen wird. Der übertragende Rechtsträger selbst - und nicht seine Anteilseigner- erhält die als Gegenleistung für die Vermögensübertragung gewährten Anteile am übernehmenden Rechtsträger. Auch die Ausgliederung kann entweder durch Aufnahme oder Neugründung erfolgen. (3) Im Fall der Vermögensübertragung wird entweder das gesamte (Vollübertragung gemäß § 174 Abs. 1 UmwG) oder ein Teil des Vermögens (Teilübertragung gemäß § 174 Abs. 2 UmwG) von einem auf einen oder mehrere Rechtsträger übertagen. Der Unterschied zu Verschmelzung und Abspal-

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tung bzw. Ausgliederung besteht darin, daß als Gegenleistung nicht Anteile am übernehmenden Rechtsträger, sondern sonstige Vermögensvorteile gewährt werden (z.B. Kaufpreiszahlung in Geld). Die Vermögensübertragung stellt somit eine Sonderform der Umwandlung für öffentlich-rechtliche Körperschaften dar. Der übertragende Rechtsträger löst sich als Folge der Vermögensübertragung auf, ohne daß es der Liquidation bedarf. Die Unterscheidung der unmittelbar in § 613 a Abs. 1 BGB geregelten Einzelrechtsnachfolge von der Gesamtrechtsnachfolge nach Maßgabe des Umwandlungsgesetzes (§ 324 UmwG i.V.m. § 613 a Abs. 1 BGB), aber auch zwischen den verschiedenen Spielarten von Unternehmensumwandlungen ist insbesondere für die Frage wichtig, ob Tarifverträge beim neuen Inhaber kollektivrechtlich oder aber nach Maßgabe des subsidiär anwendbaren Auffangtatbestands des § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB weitergelten und abgelöst werden können.

5.

Zum weiteren Gang der Darstellung

Ob und inwieweit eine kollektivrechtliche Fortgeltung der subsidiären Auffangregelung in § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB vorgeht, ist im folgenden vorab zu erörtern (dazu III. 1). Anschließend sind die Rechtsfolgen der Weitergeltung nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB darzulegen (dazu III.2), bevor der Frage nachgegangen werden soll, unter welchen Voraussetzungen eine Weitergeltung nach Maßgabe des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB wegen Bestehens einer Kollektiwereinbarung beim Erwerber ausscheidet (dazu III.3). Besonderes Augenmerk wird schließlich dem Phänomen der arbeitsvertraglichen Inbezugnahme von Tarifnormen zu widmen sein (dazu IV.). Arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln sind in jüngster Vergangenheit massiv in den Fokus von Rechtsprechung und Wissenschaft getreten; sie können für die Weitergeltung und Ablösung von Tarifnormen nach Betriebs- und Betriebsteilübergängen weitreichende Auswirkungen haben.

I I I . Das Regelungssystem in § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB 1.

Vorrang kollektivrechtlicher Normwirkung

Zur Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen tarifliche Normen kollektivrechtlich fortgelten und es der Auffangregelung in § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB daher nicht bedarf, ist zwischen VerbandstarifVerträgen und FirmentarifVerträgen zu unterscheiden.

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a)

Verbandstarifvertrag

Im Hinblick auf beim Veräußerer kraft seiner Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband geltende Tarifverträge sind nicht viele Worte zu verlieren. Wegen der höchstpersönlichen Natur des Mitgliedschaftsverhältnisses in einem Verein (§ 38 BGB) und auf Grund der negativen Koalitionsfreiheit des Erwerbers (Art. 9 Abs. 3 GG) geht bei einer Betriebs- oder Betriebsteilübertragung die Verbandsmitgliedschaft und damit auch die Bindung an von diesem Verband geschlossene Tarifverträge nicht auf den Erwerber über 38 . Nichts anderes gilt in Fällen der Unternehmensumwandlung nach Maßgabe des Umwandlungsgesetzes39. Obwohl diese zu einer Gesamtrechtsnachfolge von dem übertragenden auf den übernehmenden Rechtsträger führt, kann sie aus den genannten Gründen die Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband und die darauf beruhende Bindung an VerbandstarifVerträge nicht umfassen. Letztere gelten bei dem neuen Arbeitgeber nur dann kollektivrechtlich fort, wenn er selbst Mitglied in demselben Arbeitgeberverband ist, oder im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung (§ 5 TVG); Voraussetzung ist stets, daß der Betrieb nach dem Betriebsübergang noch immer dem fachlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags unterfällt 40 . b) Firmentarifvertrag Für FirmentarifVerträge läßt sich die Frage der vorrangigen kollektivrechtlichen Fortgeltung schwieriger beantworten; hier ist eine differenzierende Betrachtung notwendig: aa) Einzelrechtsnachfolge gemäß § 613 a BGB: Im Schrifttum war lange Zeit umstritten, wann von einer kollektivrechtlichen Fortgeltung eines FirmentarifVertrags nach Betriebs- oder Betriebsteilübergang ausgegangen werden kann; selbst von einer überwiegenden Ansicht konnte insoweit kaum die Rede sein. Teilweise wurde angenommen, entscheidend sei - wie für Betriebsvereinbarungen - das Kriterium der Wahrung der Betriebsidentität 41. Werde der Betrieb

38

BAG ν. 05.10.1993, NZA 1994, 848; Hohenstein, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 565. 39 BAG v. 24.06.1998, DB 1999, 290 (Trappehl/Lambrich); dazu nur Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 568; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 103. 40 ErfK-Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 109; Wiedemann/ Oetker, TVG, 6. Aufl., § 3 Rz. 165, 179; Ascheid, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2002, § 613 a Rz. 83; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 565; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 103; Prange, NZA 2002, 817, 819; Gaul, DB 1994, 529, 533. 41 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 778 f. m. w. Nachw.; Moll, RdA 1996, 275; Kempen, BB 1991, 2006, 2008, Jung, RdA 1981, 360, 361.

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beim Erwerber als selbständige Einheit unverändert fortgeführt, sei dieser an vom Veräußerer geschlossene Firmentarifverträge gebunden. Anders sei zu entscheiden, wenn ein Betrieb oder Betriebsteil beim Erwerber in eine bestehende betriebliche Einheit eingegliedert werde und daher seine Selbständigkeit verliere. Die Gegenansicht ging davon aus, eine kollektivrechtliche Bindung des Erwerbers an einen vom Veräußerer geschlossenen Firmentarifvertrag komme unabhängig von betrieblichen Organisationserwägungen nur in Betracht, sofern sich der Erwerber mit der zuständigen Gewerkschaft auf die Übernahme des Tarifvertrags einige oder mit dieser einen Tarifvertrag gleichen Inhalts schließe42. Das BAG hat sich in einer Entscheidung vom 20.06.200143 der letztgenannten Auffassung angeschlossen. Dies verdient Zustimmung. Zwar ist es üblich, daß sich der Inhalt eines Firmentarifvertrags konkret auf Regelungsgegenstände eines bestimmten Betriebs bezieht; das ist denknotwendig der Fall, wenn ein Unternehmen nur einen Betrieb hat. Anknüpfungspunkt für die rechtliche Bindung an einen FirmentarifVertrag ist nach §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 TVG jedoch das Unternehmen, nicht der Betrieb 44 . Anders als bei einer Betriebsvereinbarung schließt ein Arbeitgeber einen FirmentarifVertrag nicht in seiner Funktion als Organ der Betriebsverfassung ab, sondern als Unternehmen, als Privatrechtssubjekt. Folglich fehlt es beim Betriebsübergang an einer Rechtsgrundlage, nach der die Bindung an den FirmentarifVertrag vom Veräußerer auf den Erwerber übergehen könnte. § 613 a BGB selbst ordnet nur den Übergang der Arbeitsverhältnisse an, weil und soweit ihr Bezugspunkt der übertragende Betrieb ist; hinsichtlich sonstiger vertraglicher Verpflichtungen des Veräußerers ist der Norm nichts zu entnehmen45.

42

MünchArbR-Wank, 2. Aufl., § 124 Rz. 182; derselbe, NZA 1987, 505, 507; RGRK-Ascheid, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 185; Soergel-Raab, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 106; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 99; Kania, DB 1994, 529, 533; Gaul, DB 1994, 529, 534; Hohenstatt/GüntherGräff, DStR 2001, 1980, 1982. 43 NZA 2002, 517, 518 f.; bestätigt durch BAG ν. 29.08.2001, NZA 2002, 513; entsprechend: ErfK-Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 109; Bamberger/Roth-Fwc/w, BGB, § 613 a Rz. 35; Erman-Edenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz. 74; Gaul, Das Arbeitsrecht der Betriebs- und Unternehmensspaltung, 2002, S. 878 f.; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 566 f.; Henssler, ZfA 1998, 517, 531 ff.; Gutzeit, Anmerkung zu BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB; ablehnend: Däubler, RdA 2002, 303, 304. 44 Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 566; Hohenstatt/Günther-Gräff, DStR 2001, 1980, 1982; Picot/ Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 99; Gaul, DB 1994, 529, 534; anders, jedoch ohne jede Begründung Moll, RdA 1996, 275: „Zu dem übernommenen Betrieb gehört eine Betriebs Vereinbarung. Zu ihm gehört in gleicher Weise ein FirmentarifVertrag." 45 Gaul, DB 1994,529,534.

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bb) Gesamtrechtsnachfolge nach Maßgabe des Umwandlungsgesetzes: Der letztgenannte Aspekt unterscheidet Betriebs- und Betriebsteilübertragungen im Wege der Einzelrechtsnachfolge von Unternehmensumwandlungen nach dem Umwandlungsgesetz. Bei der Verschmelzung geht das Vermögen des übertragenden Rechtsträgers einschließlich der Verbindlichkeiten gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG auf den übernehmenden Rechtsträger über. In einer Entscheidung vom 24.06.1998 hat das BAG für den Fall der Verschmelzung durch Neugründung die Auffassung vertreten, die Bindung an einen Firmentarifvertrag stelle eine nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 übergehende Verbindlichkeit dar mit der Folge, daß der übernehmende Rechtsträger an beim übertragenden Rechtsträger geltende Firmentarifverträge kraft eigener Parteistellung kollektivrechtlich gebunden •46

sei . Die - unter dem Gesichtspunkt der negativen Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG (Stichwort: „Freiheit vom Tarifvertrag") nicht unproblematische 47 Ansicht der Rechtsprechung kann zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten führen. Dies ist nicht der Fall in der vom BAG entschiedenen Konstellation der Verschmelzung durch Neugründung, wenn der übernehmende Rechtsträger vom übertagenden Rechtsträger einen Betrieb erwirbt und diesen ohne organisatorische Umgestaltungen selbständig fortführt. Bei der Verschmelzung durch Aufnahme stellt sich indessen die Frage, ob der kollektivrechtlich fortgeltende Firmentarifvertrag auch für solche gewerkschaftsangehörige Arbeitnehmer des übernehmenden Rechtsträgers gilt, die bei diesem bereits vor der Verschmelzung beschäftigt waren und nicht erst infolge dieser übernommen werden 48. Nimmt man die kollektivrechtliche Fortgeltung des Firmentarifvertrags ernst, müßte dies konsequenterweise bejaht werden. Wie weitreichend die praktischen Folgen wären, wird anhand folgender Beispiele offensichtlich:

46 BAG v. 24.06.1998, DB 1999, 290 (Trappehl/Lambrich); entsprechend: Ascheid, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2002, § 613 a Rz. 84; Menget, Umwandlungen im Arbeitsrecht, 1996, S. 182; Däubler, RdA 1995, 136, 140; Bachner, NJW 1995, 2881, 2882; anders zuvor Hanau, ZGR 1990, 548, 554 f.; Gaul, NZA 1995, 717, 723. 47 Dazu bereits Trappehl/Lambrich, DB 1999, 291; siehe auch Kreßel, BB 1995, 925, 930; dagegen basierend auf dem Verständnis der negativen Koalitionsfreiheit als bloßes Fembleiberecht Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 570. Treffend meint Gamillscheg (Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 778): „In Art. 9 Abs. 3 geht es, wie sich auch hier wieder zeigt, um die Tarifautonomie, die Betätigung für sie, nicht so sehr um das Recht zur Vereinigung"; er kritisiert jedoch, die negative Koalitionsfreiheit werde vielfach als „billige Münze der Argumentation" eingesetzt. 48 Wegen einer möglichen Erstreckung auf zuvor beim übernehmenden Rechtsträger beschäftigte Arbeitnehmer generell gegen eine kollektivrechtliche Fortgeltung bei der Verschmelzung durch Aufnahme Hanau, ZGR 1990, 548, 554; Hanau/Vossen, FS für Hilger/Stumpf, 1983, S. 271, 297; Gaul, NZA 1995, 717, 722 ff.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

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Beispiel 1: Die Α-GmbH betreibt einen Metallbetrieb in Stuttgart, die BGmbH betreibt einen Metallbetrieb in Bremerhaven. Die Α-GmbH hat mit der IG Metall einen FirmentarifVertrag abgeschlossen, der einen über dem Flächentarif-Niveau liegenden Lohn vorsieht. Die B-GmbH ist nicht tarifgebunden und zahlt Löhne in Anlehnung an den in ihrer Region geltenden Verbandstarifvertrag. Nun wird die Α-GmbH auf die B-GmbH verschmolzen; die beiden Betriebe in Stuttgart und Bremerhaven werden von dieser unverändert fortgeführt. Können die bereits zuvor in Bremerhaven bei der B-GmbH beschäftigten IGMetall-Mitglieder den im FirmentarifVertrag niedergelegten höheren Lohn verlangen? Beispiel 2: Die wirtschaftlich angeschlagene C-GmbH in Hannover, ein Unternehmen der Metallbranche, hat mit der IG Metall einen FirmentarifVertrag geschlossen, nach dem die Vergütung monatlich 200 € unter dem FlächentarifNiveau liegt. In dem FirmentarifVertrag hat sich die C-GmbH verpflichtet, für zwei Jahre auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten. Die D-GmbH betreibt ebenfalls in Hannover einen metallverarbeitenden Betrieb; sie ist nicht tarifgebunden. Die C-GmbH wird auf die D-GmbH verschmolzen; die beiden Betriebe werden zusammengelegt. Können sich die zuvor bereits bei der D-GmbH beschäftigten IG-Metall-Mitglieder auf das tarifliche Kündigungsverbot berufen? In beiden Beispielen wird die übernehmende Gesellschaft bei Zugrundelegung der Ansicht des BAG nach der Verschmelzung Partei des von der übertragenden Gesellschaft geschlossenen Firmentarifvertrages. Übertrüge man die Ansicht des BAG ohne Einschränkungen auf die beiden Fälle, könnten die zuvor schon bei der übernehmenden Gesellschaft beschäftigten Arbeitnehmer die Vorteile des FirmentarifVertrags für sich in Anspruch nehmen, ungeachtet der Tatsache, daß dessen Inhalt offenkundig auf die Besonderheiten des übertragenen Betriebs zugeschnitten war. Das kann nicht richtig sein. Auch wenn dogmatischer Anknüpfungspunkt für die Bindung an einen FirmentarifVertrag gemäß §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 TVG das Unternehmen ist, sind inhaltlicher Bezugspunkt des FirmentarifVertrags in aller Regel der Betrieb und seine besonderen - etwa organisatorischen, geographischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. Das muß bei der kollektivrechtlichen Fortgeltung von Firmentarifverträgen Berücksichtigung finden. Eine Erstreckung seiner Regelungen auf eine andere als die bei Vertragsschluß bekannte betriebliche Einheit ist vom Willen der Tarifvertragsparteien in aller Regel nicht umfaßt. Unter Hinweis auf den Parteiwillen kann zwar nicht generell die Erstreckung des Tarifvertrags auf bereits zuvor bei dem übernehmenden Rechtsträger beschäftigte, nicht erst im Zuge der Verschmelzung übernommene Arbeitnehmer abgelehnt werden 49. Dies 49 So aber Wellenhofer-Klein, Zerres, ZIP 2001,359, 366.

ZfA 1999, 239, 262; Prange, NZA 2002, 817, 819;

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ginge zu weit, werden Tarifverträge auf Grund möglicher Neueinstellungen doch stets fur einen unbestimmten Personenkreis geschlossen. Der kollektivrechtlich fortgeltende FirmentarifVertrag kann jedoch erstens keine Geltung erlangen für andere, im Zeitpunkt der Verschmelzung bereits bestehende und nach der Verschmelzung selbständig weiter geführte Betriebe des übernehmenden Rechtsträgers 50. Zweitens muß die kollektivrechtliche Fortgeltung eines FirmentarifVertrags entfallen, wenn der übernommene Betrieb, für den er galt, im Zuge der Verschmelzung seine organisatorische Eigenständigkeit verliert, weil er mit einem beim übertragenden Rechtsträger bereits bestehenden Betrieb verschmolzen oder in einen solchen eingegliedert wird 5 1 . Dadurch verliert der FirmentarifVertrag seinen inhaltlichen Bezugspunkt, sein gegenständliches Substrat. In einem solchen Fall findet für die übernommenen Arbeitnehmer vielmehr der Auffangtatbestand des § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 TVG Anwendung. Gilt ein FirmentarifVertrag nach einer Verschmelzung indessen kollektivrechtlich fort, kann dieser beim übernehmenden Rechtsträger auf einen bei ihm bereits zuvor geltenden Verbands- oder FirmentarifVertrag treffen. Bleibt der übernommene Betrieb erhalten und wird er beim übernehmenden Rechtsträger organisatorisch selbständig fortgeführt, gilt für die in ihm beschäftigten Arbeitnehmer im Ergebnis stets der vom übertragenden Rechtsträger abgeschlossene, beim übernehmenden Rechtsträger kollektivrechtlich fortgeltende Firmentarifvertrag 52. Das Prinzip der Tarifeinheit steht, sofern man dieses überhaupt anerkennt 53 , dem nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung kann ein Unternehmen an verschiedene, für unterschiedliche Betriebe geltende Firmentarifverträge gebunden sein 54 . Ebenso ist es möglich, daß für einen bestimmten Betrieb ein FirmentarifVertrag gilt, obgleich das Unternehmen kraft Verbandsmitgliedschaft ansonsten an den einschlägigen VerbandstarifVertrag gebunden ist; in diesem Fall geht der FirmentarifVertrag in diesem Betrieb als speziellere Regelung 50

Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 100; Däubler, RdA 1995, 136, 139; Boecken, SAE 2000, 162, 165. 51 Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 571 f.; Hohenstatt/Günther-Gräff, DStR 2001, 1980, 1985; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Untemehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 101; Trappehl/Lambrich, DB 1990, 291, 292; Prange, NZA 2002, 817, 820; Bachner, NJW 1995, 2881, 2882; für den Fall der Änderung der Tarifzuständigkeit Zerres, ZIP 2001, 359, 366. 52 Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 571; Däubler, RdA 1995, 136, 140. 53 Eine Lanze für das in der Rechtsprechung mehr und mehr zurückgedrängte Prinzip der Tarifeinheit brechen Heinze/Ricken, ZfA 2001, 159, 171 ff.; Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1, 9 ff.; Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, Rz. 158. 54 BAG v. 25.09.1996, AP Nr. 10 zu § 2 TVG Tarifzuständigkeit; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Untemehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 100; Hohenstatt/Günther-Gräff, DStR 2001, 1980, 1985; kritisch hierzu Henssler, ZfA 1998, 517, 521 ff.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

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vor 55 . Das Prinzip der Tarifeinheit lautet: „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag!"; es schließt nur die Geltung mehrerer Tarifverträge in ein und demselben Betrieb, nicht aber bei ein und demselben Unternehmen aus. Zu prüfen bleibt, ob und inwieweit die für die Verschmelzung geltenden Grundsätze auch auf die Unternehmensspaltung übertragen werden können. Insoweit wird namentlich von Däubler 56 vertreten, daß es bei der Abspaltung und Ausgliederung für sämtliche aus einer Unternehmensspaltung hervorgehende Rechtsträger einschließlich des ursprünglichen Rechtsträgers zu einer kollektivrechtlichen Fortgeltung des vom übertragenden Rechtsträgers geschlossenen FirmentarifVertrags komme. Eine solche Vervielfältigung der Parteien eines FirmentarifVertrags auf Arbeitgeberseite mag aus Gewerkschaftssicht und aus Sicht ihnen nahestehender Autoren ganz besonderen Charme haben; sie ist jedoch mit allgemeinen vertragsrechtlichen Grundlagen, die auch das Tarifvertragsrecht nicht verlassen darf, nicht zu vereinbaren 57. Für die Frage der kollektivrechtlichen Fortgeltung von Firmentarifverträgen bei Unternehmensspaltungen ist nach zutreffender Ansicht entscheidend, wie die Parteien deren Schicksal im Spaltungs- und Übernahmevertrag bzw. Spaltungsplan geregelt haben (§ 126 Abs. 1 Nr. 9 UmwG) 58 . Dort kann die Rechtsstellung als Partei eines Firmen-

55

BAG v. 24.01.2001, NZA 2001, 788. RdA 1995, 136, 142; ebenso Kempen/Zachert, TVG, § 3 Rz. 57; siehe auch Gaul, Das Arbeitsrecht der Betriebs- und Unternehmensspaltung, 2002, S. 882, dem sicher nicht der Vorwurf interessengeleiteter Argumentation gemacht werden kann; zuvor bereits derselbe, NZA 1995, 717, 723. 57 Zutreffend Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 573; kritisch auch Boecken, Untemehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, Rz. 207; Wiedemann-Oeifer, TVG, 6. Aufl., § 3 Rz. 156. 58 Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 573; Boecken, Unternehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, Rz. 206; derselbe, SAE 2000, 162, 165; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 101 f. Gegen die Abhängigkeit der kollektivrechtlichen Bindung an den Tarifvertrag vom Parteiwillen könnte die sog. Goethe-Institut-Entscheidung des BAG vom 11.09.1991 (AP Nr. 29 zu Internationales Privatrecht Arbeitsrecht) angeführt werden, sofern man dieser den allgemeinen Grundsatz entnehmen möchte, ein Rechtsträger dürfe sich nicht seiner Rechte und Pflichten aus einem Firmentarifvertrag im Wege der Abspaltung oder Ausgliederung von Betrieben in einer Weise entledigen, durch welche die Arbeitnehmer schutzlos gestellt werden. Unabhängig davon, wie man dieser Entscheidung gegenüber steht (zustimmend: Henssler, FS für Schaub, 1998, S. 311, 328; derselbe, ZfA 1998, 517, 540; kritisch: Löwisch/Rieble, TVG, 1992, § 2 Rz. 59; Heinze, DB 1997, 2122, 2124 f.), sind aus ihr für die vorliegenden Fälle keine Rückschlüsse zu ziehen. Die Besonderheit des Sachverhalts bestand darin, daß die Arbeitnehmer des im Ausland ansässigen Arbeitgebers durch die durchgeführte Umwandlung jeglichen kollektiven Schutzes verlustig gegangen wären; § 613 a BGB fand auf den Auslandssachverhalt keine Anwendung. Dem Arbeitnehmerschutz wird durch die in § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB angeordnete Weitergeltung von Tarifnormen jedoch hinreichend Rechnung getragen, sofern es in Ermangelung einer entsprechenden Festlegung im Spaltungs- und Übernahmevertrag bzw. Spaltungsplan nicht zu 56

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tarifvertrags einem oder mehreren der übernehmenden Rechtsträger zugewiesen werden; nur insoweit kommt es dann zur kollektivrechtlichen Weitergeltung des Firmentarifvertrages 59. Bei Rechtsträgern, für die im Spaltungs- und Übernahmevertrag die Bindung an den FirmentarifVertrag nicht angeordnet worden ist, gelangt für die übernommenen Arbeitnehmer der Auffangtatbestand des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB zur Anwendung. Insgesamt dürfte deutlich geworden sein, daß der Praxis mit der Alternativität zwischen Einzelrechtsnachfolge gemäß § 613 a BGB und Gesamtrechtsnachfolge nach Maßgabe des Umwandlungsgesetzes sowie den unterschiedlichen Optionen, welche das Umwandlungsgesetz selbst bietet, hinsichtlich der Weitergeltung von FirmentarifVerträgen ein großer Gestaltungsspielraum offen steht. Dieser ermöglicht es, die Wahl der Umstrukturierungsform u.a. danach auszurichten, ob die gewünschten tarifrechtlichen Zielsetzungen eher durch Einzelrechtsnachfolge oder umwandlungsrechtliche Umstrukturierung erreicht werden können.

2.

Weitergeltung gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB

Kommt es nicht zu einer kollektivrechtlichen Fortgeltung tariflicher Normen, richtet sich deren Schicksal im Falle des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB.

a)

Beschränkung auf Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis

Ausweislich ihres Wortlauts („diese Rechte und Pflichten") knüpft die Vorschrift unmittelbar an § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB an, wo von Rechten und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen die Rede ist. Daraus folgt, daß die Weitergeltung gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2

einer kollektivrechtlichen Fortgeltung des Tarifvertrags beim übernehmenden Rechtsträger kommt; dazu Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 568; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Untemehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 102. 59 Im Hinblick auf den übertragenden Rechtsträger ist zwischen der Aufspaltung einerseits sowie der Abspaltung und Ausgliederung zu unterscheiden: Bei ersterer erlischt der übertragende Rechtsträger, so daß eine Tarifbindung ipso iure ausscheidet. In den letztgenannten Fällen spricht mehr dafür, unter Rückgriff auf § 3 Abs. 3 TVG anzunehmen, daß der Tarifvertrag so lange fortwirkt, bis er endet; so Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 573; Boecken, Unternehmensumwandlungen und Arbeitsrecht, Rz. 208; für eine Vervielfältigung der Parteistellung Gaul, Das Arbeitsrecht der Betriebs- und Unternehmensspaltung, 2002, S. 882.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

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BGB nur solche Regelungen in Tarifverträgen umfaßt, in denen Rechte und Pflichten zwischen den Arbeitsvertragsparteien festgelegt worden sind. Sie erstreckt sich damit nicht auf den schuldrechtlichen Teil eines Tarifvertrages, der lediglich vertragliche Verpflichtungen zwischen den Tarifparteien zum Gegenstand hat (z.B. relative Friedenspflicht, Durchführungs- und Einwirkungspflicht) 60 . Hinsichtlich des normativen Teils von Tarifverträgen, dem die in § 4 Abs. 1 TVG angeordnete gesetzesgleiche Wirkung zukommt, wird terminologisch gemeinhin zwischen Inhaltsnormen, Beendigungsnormen, Abschlußnormen, Betriebsnormen, betriebsverfassungsrechtlichen Normen (§ 3 Abs. 2 TVG) und Normen über gemeinsame Einrichtungen (§4 Abs. 2 TVG) unterschieden. Nicht alle regeln Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis 61. Bei Inhalts-, Beendigungs- und Abschlußnormen ist das der Fall; sie gelten folglich nach einem Betriebs- oder Betriebsteilübergang gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weiter 62 . Dabei ist im Hinblick auf Abschlußnormen zu bedenken, daß sie Anordnungen hinsichtlich der Aufnahme der Beschäftigung treffen, § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB jedoch nur für bei Betriebs- oder Betriebsteilübergang bereits bestehende Arbeitsverhältnisse greift 63 . Für Abschlußnormen gewinnt die Vorschrift daher nur insoweit Bedeutung, als es sich etwa um Fortsetzungs- oder Wiederaufnahmeklauseln bei ruhenden oder unterbrochenen Arbeitsverhältnissen handelt 64 . Betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen kommt die Besonderheit zu, daß sie gemäß § 3 Abs. 2 TVG bei Tarifbindung des Arbeitgebers für alle Arbeitnehmer des Betriebs unabhängig von 60

Staudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., §613 a Rz. 178; ErfK-Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 113; Erman-Edenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz 82. 61 Zur Frage, ob der deutsche Gesetzgeber mit dieser Einschränkung die europarechtlichen Vorgaben hinreichend umgesetzt hat, Wollenschlâçer/Pollert, ZfA 1996, 547, 583; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 577; Zöllner, DB 1995, 1401 Fn. 3; Loew, Die Betriebsveräußerung im europäischen Arbeitsrecht, 1992, S. 70. 62 Für eine Beschränkung auf Inhaltsnormen Staudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., § 613 a Rz. 179; Prange, NZA 2002, 817, 822. 63 Auch hierin liegt letztlich eine Parallele zu § 4 Abs. 5 TVG; dazu Zöllner, DB 1995, 1401, 1402; das Ergebnis entspricht allgemeiner Meinung: siehe Staudinger-/?/chardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., § 613 a Rz. 181; RG¥K-Ascheid, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 199; MünchKomm-SWiai^, BGB, 3. Aufl., §613 a Rz. 158; Erman-Edenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz 83; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 780; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 574. 64 RGKK-Ascheid, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 193; derselbe, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2. Aufl., § 613 a Rz. 96; MûnchKomm-Sc/iawô, BGB, 3. Aufl., § 613 a Rz. 154; Soergel-/toa£, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 110; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 577; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 106; für einen generellen Ausschluß bei Abschlußnormen hingegen ΕτίΚ -Preis, 4. Aufl., §613 a BGB Rz. 114.

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ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit Geltung erlangen. Rechte und Pflichten der einzelnen Arbeitnehmer werden durch sie selten angeordnet. Ist dies ausnahmsweise der Fall, was durch Auslegung der betreffenden tariflichen Regelung zu ermitteln ist, kommt insoweit eine Weitergeltung nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB in Betracht 65. Generell scheidet § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB schließlich bei Normen über gemeinsame Einrichtungen (§ 4 Abs. 2 TVG) aus66. Solche betreffen von den Tarifvertragsparteien errichtete Organisationen zur Abwicklung bestimmter Leistungen (z.B. Altersversorgung, Urlaubskassen). Dabei bestehen Rechtsbeziehungen zwischen der gemeinsamen Einrichtung und dem Arbeitgeber einerseits (Beitragspflicht) und zwischen der gemeinsamen Einrichtung und den einzelnen Arbeitnehmern andererseits (Anspruch auf Leistungsgewährung). Auf Grund dieser Dreieckskonstruktion handelt es sich nicht um Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis. § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB führt nicht dazu, daß der Erwerber eines Betriebs oder Betriebsteils außer den Verpflichtungen, die ihn im Verhältnis zu den auf ihn übergehenden Arbeitnehmern treffen, irgendwelche Verpflichtungen gegenüber Dritten, hier: der gemeinsamen Einrichtung, übernehmen muß 67 .

65

Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 781; Bamberger/Roth-Fwcfo, BGB, 2003, § 613 a Rz. 37; Soergel -Raab, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 112 f.; entsprechend für Betriebsnormen, nicht aber für betriebsverfassungsrechtliche Normen ErfKPreis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 114; RGRK-Ascheid, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 196; derselbe, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2. Aufl., § 613 a Rz. 96; MünchKomm-Schaub, BGB, 3. Aufl., §613 a Rz. 155 f.; Erman-Edenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz. 81; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S.578; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Untemehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 106. 66 ErfK-Preis, 4. Aufl., §613 a BGB Rz. 114; RGRK-^cÄe/rf, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 197; derselbe, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2. Aufl., § 613 a Rz. 96; MünchKomm-Schaub, BGB, 3. Aufl., § 613 a Rz. 157; Soergel -Raab, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 114; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 578; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Untemehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 106. 67 Teilweise wird erwogen, ob den neuen Betriebsinhaber die Verpflichtung trifft, den Arbeitnehmern eine entsprechende individual vertragliche Zusage zu machen (MünchKomm-ScW>, BGB, 3. Aufl., § 613 a Rz.157; Sotrgt\-Raab, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 114; für Urlaubsansprüche Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 781; Moll, in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 138 f.: Wahlrecht des Arbeitgebers, ob er anderweitige Versicherungsleistungen einkauft oder direkte Zahlungen an den Arbeitnehmer leistet; siehe auch derselbe, RdA 1996, 275, 277 f.), oder zumindest alles Erforderliche zu tun, um die Arbeitnehmer in den Genuß der Leistungen kommen zu lassen (ErfK-Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 114; Hanau/Vossen, FS für Hilger Stumpf, 1993, 291). Worauf diese Pflicht als Rechtspflicht gestützt werden soll, ist jedoch nicht ersichtlich.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

b)

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Statische Weitergeltung

§ 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB hat zur Folge, daß Tarifverträge mit dem Inhalt weitergelten, den sie im Zeitpunkt des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs hatten. An späteren Änderungen des Tarifvertrags, etwa Lohnerhöhungen, nehmen die auf den neuen Inhaber übergegangenen Arbeitnehmer nicht mehr teil 68 . Dies auch dann nicht, wenn die Tarifparteien die Änderung rückwirkend in Kraft setzen69. Der Tarifinhalt wird vielmehr mit dem Besitzstand im Augenblick des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs eingefroren. Hier offenbart sich eine der bereits eingangs angesprochenen Parallelen zwischen § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB und der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG. Zu einer bloß statischen Weitergeltung kommt es nach Ansicht des BAG auch dann, wenn in einem Firmentarifvertrag - dynamisch - auf die jeweils geltenden Regelungen eines Verbandstarifvertrags verwiesen wird 70 . Wird letzterer geändert, partizipieren die übergegangenen Arbeitnehmer hieran nicht mehr. Insoweit anders zu entscheiden als bei zukünftigen Änderungen desselben, nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weitergeltenden Tarifvertrags, wäre in der Tat widersprüchlich 71. Problematisch ist, ob die Arbeitnehmer sich auf zukünftige Tarifentwicklungen berufen können, wenn diese im Zeitpunkt des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs bereits im nunmehr weitergeltenden Tarifvertrag festgelegt waren. Zu denken ist ζ. B. an Stufentarifverträge, die etwa für das erste Jahr ihrer Laufzeit eine Lohnsteigerung um 1,5 % und für das zweite Jahr um weitere 2 % vorsehen. Geht der Betrieb im ersten Jahr auf einen neuen, selbst nicht tarifgebundenen Inhaber über, fragt sich, ob die übernommenen Arbeitnehmer auch die zweite Stufe der Lohnsteigerung verlangen können. Die Frage ist zu bejahen72. 68 BAG v. 29.08.2001, DB 2002, 431, 432;; BAG ν. 13.11. 1985, AP Nr. 46 zu § 613 a BGB; Staudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., § 613 a Rz. 182; RGRKAscheid, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 207; ErfK-Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 113. 69 BAG v. 13.09.1994, AP Nr. 11 zu § 1 TVG Rückwirkung; ErfK-Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 113; Soergel-/teaZ>, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 115; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 578, Däubler, RdA 2002, 303, 304. 70 BAG v. 29.08.2001, DB 2002, 431, 432; ebenso Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Untemehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 107. 71 Insoweit treffend Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 578: „Ansonsten wäre der Betriebserwerber bei Bestehen eines VerweisungstarifVertrags schlechter gestellt als in dem Fall der unmittelbaren Geltung der einschlägigen Verbandstarifverträge." 72 Insbesondere Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 782, der zu Recht ausführt: „Der Erwerber muß die Lasten berechnen können, die er übernimmt"; dem trägt die hier vertretene Meinung Rechnung; im Ergebnis ebenso Staudinger-Ä/chardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., § 613 a Rz. 182; ErfK-Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 113; Erman -Edenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz 81; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Untemehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 106; Moll, in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 141; derselbe,

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Der Sinn des § 613 a BGB liegt darin, daß die Arbeitnehmer infolge des Betriebsübergangs nicht schlechter stehen sollen, als sie stünden, wäre es nicht zum Betriebsübergang gekommen. Ist eine Lohnsteigerung im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bereits in dem für den Betrieb geltenden Tarifvertrag angelegt, führt § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB dazu, daß die tarifliche Regelung in genau dieser Gestalt beim neuen Inhaber weitergilt, d.h. einschließlich ihrer regelungsimmanenten Dynamik. Das ist kein Widerspruch, sondern die konsequente Umsetzung der Weitergeltung von Tarifnormen mit dem Inhalt, wie er sich im Zeitpunkt des Betriebs- oder Betriebsübergangs darstellt 73. Die bloß statische Weitergeltung von Tarifnormen ist ein erster Vorteil, der Unternehmen, welche die tariflichen Lohn- und Arbeitsbedingungen für unangemessen halten und sich deshalb von ihren Tarifbindungen befreien wollen, dazu bewegt, die erstrebte „Tarifflucht" durch Übertragung eines Betriebs- oder Betriebsteils auf eine andere, nicht oder anders tarifgebundene Gesellschaft zu versuchen. Hierdurch kann sich das Unternehmen zumindest von der Verpflichtung zur Weitergabe zukünftiger Tariferhöhungen befreien. Der gleiche Effekt wird im übrigen erreicht, wenn das Unternehmen aus dem Arbeitgeberverband austritt 74 . An die für diesen Fall geltende Fortwirkung der Tarifgebundenheit gemäß § 3 Abs. 1 TVG schließt sich nach - unzutreffender, aber inzwischen wohl unumstößlicher - Rechtsprechung des BAG die Nachwirkung im Sinne des § 4 Abs. 5 TVG an (sog. Nachwirkungslehre) 75. Welcher Weg vorzugswürdig erscheint, wird von taktischen Überlegungen, etwa im Hinblick auf den Zeithorizont des beabsichtigten Fluchtszenarios, bestimmt. Ob die erstrebte „Tarifflucht" im Sinne einer gänzlichen Befreiung von tariflichen Bin-

RdA 1996, 275, 279; anders Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 579 unter Rückgriff auf die Entscheidung des BAG ν. 29.08.2001 (DB 2002, 431), der diese Aussage jedoch nicht zu entnehmen ist. 73 Hierin liegt ein entscheidender Unterschied zu einer dynamischen Verweisung auf einen anderen Tarifvertrag; das verkennt Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 578, der beide Fälle gleich behandeln und die Teilhabe der Arbeitnehmer an zukünftigen Tarifentwicklungen kategorisch ausschließen möchte. 74 Zu den damit verbundenen rechtlichen Hindernissen überblickartig Lambr ich/Trappe hl, Tarifflucht, 2002, S. 103 ff. 75 Etwa BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu §613 a BGB (Gutzeit); BAG ν. 17.05.2000, DB 2001, 654; BAG v. 13.12.1995, DB 1996, 1285 f.; BAG v. 18.03.1992, AP Nr. 13 zu § 3 TVG; BAG v. 14.02.1991, AP Nr. 10 zu § 3 TVG; bestätigt durch BVerfG v. 03.07.2001, NZA 2000, 947; entsprechend Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 728 f.; Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, Rz. 254 f.; ablehnend Löwisch/Rieble, TVG, 1992, § 4 Rz. 242; Rieble, SAE 1995, 77, 78; Heinze/Ricken, ZfA 2001, 159, 162 ff.; Buchner, RdA 1997, 259, 260 f.; Ehmann/Lambrich, NZA 1996, 346, 356; ausführlich dazu Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 427 ff.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

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düngen gelingen kann, hängt davon ab, welche Änderungsmöglichkeiten hinsichtlich der Lohn- und Arbeitsbedingungen bestehen.

c)

Veränderungssperre

gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB

Anders als bei der Nachwirkung im Sinne des § 4 Abs. 5 TVG hat der Gesetzgeber in § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB eine einjährige Veränderungssperre angeordnet und den weitergeltenden Tarifregelungen damit - zeitlich beschränkt zwingende Wirkung beigemessen. Das bedeutet, daß innerhalb dieser Jahresfrist eine Änderung der weitergeltenden Tarifbedingungen zum Nachteil der Arbeitnehmer weder einvernehmlich auf dem Wege der Vertragsänderung noch durch Änderungskündigung erreicht werden kann. Dabei ist das Verbot der Änderungskündigung nicht dahingehend zu verstehen, daß innerhalb der Jahresfrist bereits der Ausspruch einer Änderungskündigung ausscheidet. Entscheidend ist, daß im ersten Jahr nach dem Betriebs- oder Betriebsteilübergang keine Änderung der Arbeitsbedingungen zum Nachteil der Arbeitnehmer eintritt, eine zu diesem Zweck ausgesprochene Änderungskündigung also nicht wirksam werden darf. Es muß daher möglich sein, die Änderungskündigung vor Ablauf der Jahresfrist zu erklären, solange die zu beachtende Kündigungsfrist erst nach Ende der Jahresfrist abläuft 76 . Nur weil dieses Mißverständnis häufig in der Praxis verbreitet ist 77 , sei an dieser Stelle Folgendes klar gestellt: Die Veränderungssperre von einem Jahr gilt nur für Lohn- und Arbeitsbedingungen, die für die übernommenen Arbeitnehmer beim Veräußerer auf Grund Tarifvertrags oder Betriebsvereinbarung normativ galten. Individualvertragliche Rechte und Pflichten, die gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB auf den Erwerber übergehen, können unmittelbar nach dem Betriebs- oder Betriebsteilübergang geändert werden, auch durch eine Änderungskündigung, sofern deren allgemeine Voraussetzungen vorliegen. Das Gesetz kennt keine generelle Veränderungssperre für sämtliche Lohn- und Arbeitsbedingungen nach Betriebs- oder Betriebsteilübergang.

d)

Vorzeitige Änderungsmöglichkeiten

gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 4 BGB

§ 613 a Abs. 1 Satz 4 BGB enthält, wie eingangs überblickartig erwähnt, zwei Ausnahmen von der in Satz 2 der Vorschrift statuierten Veränderungssperre. Eine Änderung der Arbeitsbedingungen zu Lasten der Arbeitnehmer ist

76

Zutreffend Bauer/von Steinau-Steinrück, NZA 2000, 505, 506. So auch die Feststellung von Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 581. 77

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möglich, sobald der Tarifvertrag nicht mehr gilt. Wird der weitergeltende Tarifvertrag also vor Ablauf der Jahresfrist gekündigt oder endet er wegen Fristablaufs, sind einzelvertragliche Änderungen zu Lasten der Arbeitnehmer oder der Ausspruch entsprechender Änderungskündigungen zulässig; im letztgenannten Fall freilich erneut nur bei Vorliegen der allgemeinen kündigungsschutzrechtlichen Voraussetzungen. Aus tarifrechtlicher Sicht beginnt mit der Beendigung des Tarifvertrags die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG, d.h. der Tarifvertrag behält seine unmittelbare, aber verliert seine zwingende Wirkung. Auf letzteres kommt es für § 613 a Abs. 1 Satz 4 BGB an. § 613 a BGB will die Arbeitnehmer infolge des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs nicht schlechter, aber auch nicht besser stellen, als sie ohne diesen stünden. Über § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB kann daher Tarifnormen nicht eine zwingende Wirkung zukommen, die sie ohne den Betriebs- oder Betriebsteilübergang nicht hätten. Daraus folgt, daß Tarifverträge, die bereits beim Veräußerer nurmehr nach § 4 Abs. 5 TVG nachwirken, zwar nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weitergelten 78; an die gesetzgeberisch angeordnete unmittelbare Wirkung auf Grund der einen tritt diejenige auf Grund der anderen Norm. Sie haben indessen von Beginn an keine zwingende Wirkung; die einjährige Sperre ist für die Änderung bloß nachwirkender Tarifregegelungen nicht zu beachten79. Eine zweite Ausnahme macht § 613 a Abs. 1 Satz 4 BGB für den Fall, daß bei fehlender beiderseitiger Tarifgebundenheit im Geltungsbereich eines anderen Tarifvertrags dessen Anwendung zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer vereinbart wird. Mit anderen Worten: Der neue Inhaber kann jeder-

78 BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu §613 a BGB (Gutzeit); Staudinger-tfzchar di/ Annuß, BGB, 13. Aufl., § 613 a Rz. 178; ErfK-Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 113; Ermm-Edenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz 81; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 575; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 105; für eine Überleitung gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB hingegen RGRK-Ascheid, BGB, 12. Aufl., §613 a Rz. 203 (ebenso derselbe, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2. Aufl., § 613 a Rz. 91 ) mit der Begründung, den nachwirkenden Tarifnormen fehle die zwingende Wirkung; daraufkommt es jedoch nicht an; entscheidend für die Anwendung des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB ist, daß sie nach wie vor unmittelbare Wirkung haben; a.A. auch MünchArbR-Wank, 2. Aufl., § 124 Rz. 188; Heinze, DB 1998, 1861, 1862; derselbe, FS für Schaub, 1998, S. 275, 277 ff. 79 BAG v. 29.08.2001, DB 2002, 431, 432; BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB (Gutzeit); ebenso Staudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., § 613 a Rz. 198; ErfK-Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 113; MûnchKomm-ScAûwô, BGB, 3. Aufl., § 613 a Rz.167; Erman-Edenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz 81; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 781; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 575; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskauf und Restrukturierung, 2001, S. 105; Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 12; Moll, in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 139: „teleologische Reduktion"; siehe auch derselbe, RdA 1996, 275, 278.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

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zeit nach Betriebs- oder Betriebsteilübernahme mit den Arbeitnehmern arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln vereinbaren, auf Grund derer der für den Betrieb nach dem tariflichen Geltungsbereich einschlägige Tarifvertrag auf die Arbeitsverhältnisse Anwendung findet. Das gilt unabhängig davon, ob beide Arbeitsvertragsparteien oder nur eine nicht tarifgebunden ist 80 . Der Wortlaut des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB („bei fehlender beiderseitiger Tarifgebundenheit") scheint vordergründig dafür zu sprechen, daß die Vorschrift nur den Fall erfaßt, daß weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer tarifgebunden sind. Die Formulierung knüpft jedoch offenkundig an den terminus technicus „beiderseits Tarifgebundene" in § 4 Abs. 1 TVG an, wovon nach dieser Norm die unmittelbare und zwingende Wirkung tariflicher Regelungen abhängt. An der hierfür erforderlichen beiderseitigen Tarifgebundenheit fehlt es aber bereits, sofern nur eine Partei des Arbeitsvertrags nicht tarifgebunden ist 81 . Für § 613 a Abs. 1 Satz 4 BGB kann dann nichts anderes gelten, zumal die Zwecksetzung der Norm nicht gebietet, Fälle der bloß einseitig fehlenden Tarifgebundenheit auszunehmen82. Der Zweck des § 613 a Abs. 1 Satz 4 BGB liegt darin, daß es der Aufrechterhaltung der ehemals beim Veräußerer geltenden Tarifnormen nicht bedarf, sofern den Schutzinteressen der Arbeitnehmer durch die Anwendung des - für den Erwerber fachlich und räumlich einschlägigen - Tarifvertrags Rechnung getragen wird. Dies soll allerdings nur dann der Fall sein, wenn der Tarifvertrag insgesamt in Bezug genommen wird; nur dann komme ihm - sofern es so etwas überhaupt gibt 83 - Richtigkeitsgewähr zu 84 . Fraglich ist, ob der Arbeitgeber entsprechende Bezugnahmeklauseln vor Ablauf der Jahresfrist auf dem Wege der

80 Staudmger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., §613 a Rz. 199; ErfK-Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 118; Ascheid, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2. Aufl., § 613 a Rz. 115; MünchKomm-Schaub, BGB, 3. Aufl., § 613 a Rz. 172; ErmanEdenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz 93; Gaul, DB 1994, 529, 531; a.A. wegen im Grundsatz zutreffender systematischer Erwägungen, welche die Beschränkung des § 613 a Abs. 1 Satz 4 BGB auf beiderseits fehlende Tarifgebundenheit indessen nicht zwingend gebieten, Zöllner, DB 1995, 1401, 1404. 81 Steudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., § 613 a Rz. 199. 82 MûnchKomm-Sc/iawô, BGB, 3. Aufl., § 613 a Rz. 172 verweist insoweit auf den Zweck, die Überführung des übergegangenen Betriebs in die tarifvertraglichen Regelungen des neuen Wirtschaftsbereichs zu erleichtem. 83 Die Annahme der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags basiert auf der Prämisse, das System von Macht und Gegenmacht sei Garant für die inhaltliche Ausgewogenheit tariflich vereinbarter Arbeitsbedingungen. Das Gegenmachtprinzip führt jedoch nicht zu volkswirtschaftlich richtigen Ergebnissen, sondern auf Grund der Verwirklichung gruppenegoistischer Interessen zu einer monopolistischen Gewinnmaximierung zum Nachteil außenstehender Dritter. Deshalb kommt weder dem Tarifvertrag Richtigkeitsgewähr noch der Tarifautonomie Ordnungsfunktion zu; dazu ausführlich Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 134 ff. 84 ErfK -Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 118; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 582 f.

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Änderungskündigung durchsetzen kann 85 . Dagegen könnte bereits der Wortlaut des § 613 a Abs. 1 Satz 4 BGB ins Feld gefuhrt werden. Die Vorschrift verlangt, daß die Anwendung des Tarifvertrags vereinbart wird, was fur die Notwendigkeit einer einvernehmlichen Regelung sprechen könnte. Charakteristikum der Änderungskündigung ist jedoch, daß der Arbeitgeber ein Änderungsangebot unterbreitet, welches der Arbeitnehmer - meist unter Vorbehalt - annimmt. Das Arbeitsgericht prüft in einem angestrengten Kündigungsschutzprozeß sodann die soziale Rechtfertigung der geänderten Arbeitsbedingungen. Zu Stande kommt die Vertragsänderung, wird die Angemessenheit bejaht, letztlich durch Angebot und Annahme, also auf dem Vereinbarungs wege 86 . Entscheidend ist vielmehr, unter welchen Voraussetzungen man eine Änderungskündigung zum Zwecke der Bezugnahme auf den nunmehr einschlägigen Tarifvertrag zuläßt. Es ist allgemein bekannt, daß die Rechtsprechung für die Wirksamkeit von Änderungskündigungen, sofern Kostenreduzierung deren Zweck ist, immens hohe Hürden aufbaut. Sind diese allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen auch bei einer Änderungskündigung im Rahmen des § 613 a Abs. 1 Satz 4 BGB zu beachten? Oder genügt hier vielmehr das Interesse des Arbeitgebers, die Arbeitsbedingungen für sämtliche Arbeitnehmer - übernommene wie bereits zuvor bei ihm beschäftigte - zu vereinheitlichen? Letzteres wird überwiegend abgelehnt87. Wer solche „Vereinheitlichungskündigungen"88 jedoch für unzulässig und vielmehr die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen der Änderungskündigung für maßgeblich hält, mißtraut im Ergebnis der viel beschworenen Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags und damit der Schutzfunktion der Tarifautonomie. Warum soll es dem Schutzbedürfnis der übernommenen Arbeitnehmer nicht genügen, wenn auf ihr Arbeitsverhältnis nunmehr der - fachlich und geographisch einschlägige (!) - Tarifvertrag Anwendung findet? Sind dessen Regelungen nicht ,»richtig" im Sinne von angemessen? § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB ordnet zu Gunsten der Arbeitnehmer materiellen Schutz an: Sie sollen zeitlich befristet auf Grund eines Betriebs- oder

85 Das wird dem Grundsatz nach weitgehend bejaht: siehe nur MünchKommSchaub, BGB, 3. Aufl., § 613 a Rz. 173; Schaub/Koch/Linck, Arbeitsrechtshandbuch, 10. Aufl., S. 1309; Erman-Edenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz 93; dagegen Willemsen, in: Hromadka, Änderung von Arbeitsbedingungen, 1990, S. 187. 86 In diesem Sinne zu der sich bei § 4 Abs. 5 TVG („andere Abmachung") ähnlich stellenden Problematik Schwab, BB 1994, 781, 782. 87 MünchKomm-Schaub, BGB, 3. Aufl., §613 a Rz.173; zumeist findet sich die Formulierung, die ohne diese Unterwerfung bestehende bessere Stellung des übernommenen Arbeitnehmers sei kein betriebsbedingter Grund für eine nach §§ 1 Abs. 2 Satz 1, 2 Satz 1 KSchG zu beurteilende Kündigung; siehe Erman-Edenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz 93; ähnlich ErfK -Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 118; Moll, RdA 1996, 275, 285; Gaul, DB 1994, 529, 531, zumeist unter Verweis auf BAG ν. 28.04.1982, DB 1982, 1776. 88 Terminologie nach Bauer/Meinel, NZA 2000, 181, 185 ff.

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Betriebsteilübergangs nicht ihrer tariflich verbrieften Lohn- und Arbeitsbedingungen verlustig gehen. § 613 a Abs. 1 Satz 4, 2. Alt BGB stellt dem einen formalen Schutz gegenüber 89: Findet der für den Erwerber einschlägige Tarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis Anwendung, bedarf es des materiellen Schutzes gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht. Änderungskündigungen, mit denen der neue Inhaber die Anwendung des für ihn einschlägigen Tarifvertrags in seiner Gesamtheit durchsetzen möchte, sind daher allein wegen des Interesses des Arbeitgebers an der Einheitlichkeit der Lohn- und Arbeitsbedingungen in seinem Betrieb zulässig90. Anders zu entscheiden hieße zum einen, der Gewerkschaft, die diesen Tarifvertrag abgeschlossen hat, zu unterstellen, sie hätte die Schutzinteressen ihrer Mitglieder vernachlässigt. Zum anderen ist die gegenteilige herrschende Meinung Ausfluß einer vorschnell und zu einseitig herangezogenen (ausschließlich) arbeitnehmerschützenden Zwecksetzung des § 613 a Abs. 1 BGB. Sie vernachlässigt, worauf bereits eingangs hingewiesen wurde, daß es bei dem Ausnahmetatbestand des § 613 a Abs. 1 Satz 4, 2. Alt BGB um etwas anderes geht als bei der Schutznorm des Satzes 2. Mit den Worten Gamillschegs 91 : Dem Gesetz kommt es bei § 613 a Abs. 1 Satz 4, 2. Alt BGB „in erster Linie auf die Einheitlichkeit der Arbeitsbedingungen im Erwerberbetrieb (an)", mit der überdies eine Ungleichbehandlung der Organisierten und Außenseiter vermieden werden soll.

3.

§ 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB - das Tor zur „Tarifflucht"?

Damit wendet sich der Blick zu § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB. Gerade wenn man mit der überwiegenden Meinung für Änderungskündigungen zum Zwecke der Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen beim Betriebserwerber die allgemeinen kündigungsschutzrechtlichen Anforderungen für maßgeblich erachtet, hängt der Erfolg einer erstrebten Lösung von tariflichen Bindungen mittels § 613 a BGB ganz entscheidend von der Reichweite dieser Ausnahmevorschrift zu der in Abs. 2 Satz 2 der Norm angeordneten Weitergeltung tariflicher Regelungen ab. Letztere greift nach Satz 3 nicht ein, wenn die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch Rechtsnormen eines anderen Tarifvertrags oder 89 So für § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB die anschauliche Formulierung von Gutzeit, Anmerkung zu BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB, die auf § 613 a Abs. 1 Satz 4, 2. Alt BGB übertragen werden kann. 90 Zutreffend Meyer, NZA 2002, 246, 253; im Ergebnis entsprechend, aber erst für die Zeit nach Ablauf der Veränderungssperre des §613 a Abs. 1 Satz 2 BGB Bauer/Meinel, NZA 2000, 181, 185 ff, die dadurch letztlich auch den arbeitnehmerschützenden Zweck des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB gegenüber dem in Satz 4, 2. Alt. der Norm geschützten Vereinheitlichungsinteresse des Betriebserwerbers überbetonen. 91 Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 784; im Ansatz ähnlich, aber im Ergebnis anders Gaul, DB 1994, 529, 531.

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durch eine Betriebsvereinbarung geregelt werden. Betrachten wir zunächst den ersten Fall, die Verdrängung durch einen anderen Tarifvertrag.

a)

Tarifvertrag

versus Tarifvertrag

aa) Gegenstandsidentität: Kein Zweifel kann bestehen, daß § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB die Weitergeltung tariflicher Regelungen nur insoweit ausschließt, als der beim Betriebserwerber geltende Tarifvertrag dieselben Regelungsgegenstände enthält. § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB verlangt selbstverständlich nicht inhaltliche Identität, setzt für den Ausschluß der Weitergeltung gemäß Satz 2 jedoch Gegenstandsidentität der beim Veräußerer und Erwerber tariflich geregelten Lohn- und Arbeitsbedingungen voraus. Mit diesem auf den ersten Blick einfachen Befund beginnen sogleich die Schwierigkeiten, wie das folgende, im Schrifttum vielfach bemühte Beispiel 92 veranschaulicht: Beispiel 3: Der beim Betriebsveräußerer kraft Verbandsmitgliedschaft geltende Tarifvertrag sieht neben der Grundvergütung von 12 Monatsgehältern für die Arbeitnehmer einen Anspruch auf ein 13. Monatsgehalt als Weihnachtsgratifikation sowie auf ein 14. Monatsgehalt als Urlaubsgeld vor. Der Betriebserwerber ist kraft Mitgliedschaft in einem anderen Arbeitgeberverband, der mit derselben Gewerkschaft einen anderen Tarifvertrag geschlossen hat, ebenfalls tarifgebunden. Dieser Tarifvertrag sieht jedoch lediglich die Zahlung von 12 Monatsgehältern vor. Behalten die übernommenen Arbeitnehmer ihren Anspruch auf das 13. und 14. Monatsgehalt? Wie ist zu entscheiden, wenn der Tarifvertrag beim Erwerber ein halbes Monatsgehalt als Weihnachtsgeld vorschreibt? Das Beispiel führt zu der allgemeinen Fragestellung, wie die bei § 613 a Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 BGB gegenüber zu stellenden Regelungsgegenstände zu bestimmen sind. Wollte man die widerstreitenden Tarifverträge en detail Regelung für Regelung, Satz für Satz vergleichen 93, würde § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB in Anbetracht der Regelungsdichte und Komplexität moderner Tarifwerke nahezu leer laufen 94. Zu sachgerechten Ergebnissen gelangt man nur dann, wenn man inhaltlich im Sachzusammenhang stehende Regelungen des einen Tarifvertrags zusammenfaßt und in ihrer Gesamtheit den Regelungen des anderen 92

Erstmals wohl bei Hanau/Vossen, FS für Hilger/Stumpf, 1993, S. 271, 292. In diese Richtung zielend aber BAG ν. 20.04.1994, AP Nr. 108 zu § 613 a BGB; für eine komplette Verdrängung aller übernommenen tariflichen Regelungen durch den neuen Tarifvertrag beim Erwerber hingegen Güssen, Die Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen beim Betriebsübergang, 1989, S. 82 f.; eine solche Verdrängung in Bausch und Bogen wird dem Wortlaut des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB nicht gerecht; so zu Recht Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 783. 94 Vgl. Meyer, NZA 2002, 246, 252; derselbe, DB 2004, 1886, 1887. 93

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

201

Tarifvertrags gegenüberstellt 95. Als Vorbild können insoweit das kollektivrechtliche Ordnungsprinzip (sog. Zeitkollisionsregel) dienen, das auch nicht eine detailgetreue Ablösung voraussetzt 96, oder aber die Grundsätze des beim Günstigkeitsprinzip anerkannten sog. Sachgruppenvergleichs. Zur Bestimmung der Sachgruppe kommt es, sofern sich ein Sachzusammenhang nicht bereits unmittelbar aus dem Willen der Tarifvertragsparteien ablesen läßt (sog. subjektiver Sachgruppenvergleich), darauf an, ob eine Regelung bei objektiver Betrachtung ohne eine andere Regelung keine eigenständige Existenz erhält (sog. objektiver Sachgruppenvergleich) 97. Im Hinblick auf Sonderleistungen ist anzunehmen, daß sie, sofern ihre Gewährung nicht an besondere Voraussetzungen geknüpft ist, von den Tarifpartnern in unmittelbarer Abhängigkeit von der Höhe der zu Grunde liegenden Grundvergütung festgelegt werden 98. Die Grundvergütung sowie das 13. und 14. Monatsgehalt sind im genannten Beispiel somit als ein einheitlicher Regelungskomplex zu erachten. Das spricht dafür, daß in dem Beispiel die beim Veräußerer geltenden Vergütungsregelungen insgesamt nicht nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weitergelten, auch wenn in dem für den Erwerber gültigen Tarifvertrag lediglich eine Vergütung von 12 Monatsgehältern geregelt ist, Regelungen hinsichtlich Weihnachts- und/oder Urlaubsgeld hingegen fehlen 99. Eine starke Meinung im Schrifttum entscheidet den Fall anders 100 : Sieht der beim Erwerber geltende Tarifvertrag nur eine Vergütung von 12 Monatsgehältern vor, verdrängt dies die Weitergeltung der beim Veräußerer hinsichtlich der Grundvergütung einschlägigen Regelung. Die Arbeitnehmer behalten jedoch gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB ihren Anspruch auf Gewährung des 13. und 14. Monatsgehalts. In der Fallabwandlung, in welcher der beim Erwerber gel95

Staudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., §613 a Rz. 186; Soergel-/toa6, BGB, 12. Aufl., §613 a Rz. 126; Erman -Edenfeld, BGB, 11. Aufl., §613 a Rz, 91; ErfK -Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 121 spricht ebenfalls von „Regelungsbereichen"; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 588; Zöllner, DB 1995, 1401, 1403; Nicolai, SAE 1995, 205. 96 So Soerge\-Raab, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 126; Meyer, DB 2004, 1886, 1888. 97 Zu dieser Differenzierung Wiedemann-Wank, TVG, 6. Aufl., § 4 Rz. 471 f.; Schmidt, Das Günstigkeitsprinzip im Tarifvertrags- und Betriebsverfassungsrecht, 1994, S. 119 Fn. 196; Belling, Das Günstigkeitsprinzip im Arbeitsrecht, 1984, S. 179. 98 Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 588 f. 99 Im Ergebnis ebenso Soergel-/faa6, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 126; auch ErmanEdenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz. 91: „Man wird Entgeltregelungen als Einheit ansehen müssen."; ebenso Zöllner, DB 1995, 1401, 1403; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 589. 100 Hanau/Vossen, FS für Hilger/Stumpf, 1993, S. 271, 292; Hromadka, DB 1996, 1872, 1875; Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, S. 128; Preis/Steffan, FS für Kraft, 1998, S. 477, 490; neuerdings auch Gaul, Das Arbeitsrecht der Betriebs- und Unternehmensspaltung, 2002, S. 832.

202

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tende Tarifvertrag zumindest ein halbes Monatsgehalt als Weihnachtsgeld vorsieht, entfällt der an sich nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weitergeltende Anspruch auf Zahlung eines vollen 13. Monatsgehalts als Weihnachtsgeld101. Doch auch in diesem Fall gilt der tarifliche Anspruch auf ein 14. Monatsgehalt als Urlaubsgeld gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weiter, da es insoweit in dem beim Erwerber geltenden Tarifvertrag an einer Regelung fehlt. Auch das BAG scheint einer entsprechenden Differenzierung von Grundvergütung einerseits und tariflichen Sonderzuwendungen andererseits zuzuneigen, wie sich aus einer Entscheidung vom 22.01.2003 102 ablesen läßt. Der Sachverhalt wies jedoch die Besonderheit auf, daß sich aus einer „Gemeinsamen Erklärung" der Tarifpartner zu dem beim Erwerber geltenden Tarifvertrag explizit ergab, daß erst in Zukunft Verhandlungen über die Gewährung von Sonderzuwendungen stattfinden sollen. Damit war klar, daß der gültige Tarifvertrag diese bewußt (noch) nicht regeln wollte. Die Entscheidung ist daher nicht verallgemeinerungsfähig, aber wohl dennoch tendenzweisend. Um das für die Frage der erforderlichen Gegenstandsidentität notwendige Problembewußtsein zu schaffen, mögen diese Ausführungen genügen. bb) Kongruente Tartfbindung?: Von noch größerer praktischer Relevanz ist die Problematik, ob für § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB die Tarifgebundenheit des neuen Betriebsinhabers genügt, oder ob vielmehr auch auf Arbeitnehmerseite Tarifgebundenheit erforderlich ist. Das ist gewissermaßen der Lackmustest für die Sinnhaftigkeit der meisten „Tariffluchts"-Szenarien, wie sie in der Praxis erwogen werden. Hieran entscheidet sich, ob § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB ein Tor zur Tarifflucht öffnet oder lediglich einen Weg in eine tarifrechtliche Sackgasse weist, was anhand der folgenden Beispiele schnell verständlich wird: Beispiel 4: Die Α-GmbH, ein metallverarbeitendes Unternehmen in Hoyerswerda, ist Mitglied im regionalen Arbeitgeberverband. In Anbetracht immer härter werdender, aus Osten immer näher rückender Konkurrenz sieht sie sich nicht mehr in der Lage, die im Metall-Tarifvertrag festgelegten Löhne zu zahlen. Man beschließt, eine neue Gesellschaft, die B-GmbH, zu gründen. Diese schließt mit der Christlichen Gewerkschaft Metall (CGM) einen Firmentarifvertrag, der im Vergleich zum Verbandstarifvertrag der IG Metall einen um 20% geringeren Lohn vorsieht. Die Α-GmbH überträgt ihren Betrieb auf die B-

101

Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 783 spinnt das Beispiel an diesem Punkt weiter: War der Verband des Erwerbers der Gewerkschaft für den Verzicht auf jede Sonderleistung bei der Arbeitszeit entgegen gekommen, hat der übernommene Arbeitnehmer alles, die nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weitergeltenden Sonderzuwendungen und die verkürzte Arbeitszeit. Dies spricht dafür, die im arbeitsvertraglichen Synallagma stehenden Bedingungen Lohn und Arbeitszeit als gemeinsame Sachgruppe zu betrachten. 102 AP Nr. 242 zu §613 a BGB.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

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GmbH. Die auf diese übergegangenen IG-Metall-Mitglieder verlangen weiter ihre im VerbandstarifVertrag festgelegte Vergütung. Zu Recht? Und für alle, die - wofür gute Gründe sprechen 103 - den Schulterschluß mit einer Christlichen Gewerkschaft für rechtlich zu problematisch, überdies für unternehmenspolitisch wenig opportun halten, das folgende Beispiel 5: Die C-AG ist ebenfalls Mitglied im regionalen Arbeitgeberverband Metall und an den von dieser mit der IG Metall geschlossenen Verbandstarifvertrag gebunden. In ihrem Betrieb in Pforzheim werden chemische Legierungen für die Metallverarbeitung hergestellt. Die C-AG hält die Arbeitszeitregelungen im Chemie-TarifVertrag (Gleitzeitmodell mit durchschnittlicher wöchentlicher Arbeitszeit von 38 Stunden) für wirtschaftlich sinnvoller als die starre 35-Stunden-Woche im IG-Metall-TarifVertrag. Sie beschließt, eine neue Gesellschaft, die D-GmbH, zu gründen, die Mitglied im zuständigen ChemieArbeitgeberverband wird. Anschließend wird der Betrieb Pforzheim auf die DGmbH übertragen. Können sich die übergegangenen gewerkschafitsangehörigen Arbeitnehmer weiterhin auf die im Metall-VerbandstarifVertrag festgelegte 35Stunden-Woche berufen? Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: In beiden Beispielsfällen kann das unternehmensseitig verfolgte tarifliche Ziel mit den angestrengten Umstrukturierungen nicht erreicht werden. § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB greift nicht ein. Das BAG hat in einer Reihe von Entscheidungen vom 30.08.2000 104 , 21.02.2001 105 und 01.08.2001 106 klar gestellt, daß die Vorschrift kongruente Tarifgebundenheit auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite voraussetzt 107. Mit anderen Worten: Ein weitergeltender Tarifvertrag (§ 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB) wird bei dem neuen Betriebsinhaber nur dann gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB von einem für ihn geltenden Tarifvertrag verdrängt, wenn dieser von derselben Gewerkschaft geschlossen wird, die auch Partei des beim Betriebsveräußerer geltenden Tarifvertrags ist. Andernfalls können sich die auf den neuen Inhaber übergegangenen, dieser Gewerkschaft angehörenden Arbeitnehmer weiterhin auf die 103

Dazu Lambrich/Trappehl, Tarifflucht, 2002, S. 39 ff, 69 f. und 173 f. NZA 2001,510,512. 105 BB 2001, 1847, 1848 ff. 106 EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB (Gutzeit). 107 Aus dem Schrifttum ebenso Steudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., § 613 a Rz. 192 f.; ErfK -Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 119; Gamillscheg,, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 782; MünchArbR-^awÄ:, 2. Aufl., § 124 Rz. 195; Soergel-Ztaûô, BGB, 12. Aufl., §613 a Rz. 125; Erman -Edenfeld, BGB, 11. Aufl., §613 a Rz. 89; Bamberger/Roth-FwcAs, BGB, 2003, § 613 a Rz. 38; Ascheid, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2. Aufl., §613 a Rz. 89; Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 10; Gaul, NZA 1995, 717, 723; Kania, DB 1994, 529, 530; Schiefer, DB 2003, 390, 391; Feudner, DB 2001, 1250, 1252; Bachner, NJW 1995, 2881, 2883; Gutzeit, Anmerkung zu BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB. 104

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ursprünglich beim Veräußerer maßgeblichen, jetzt nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weitergeltenden tariflichen Lohn- und Arbeitsbedingungen berufen. Die Lohn- und Arbeitsbedingungen, die für den Erwerber kraft Tarifgebundenheit gelten, finden für die übernommenen Arbeitnehmer nur Anwendung, sofern sie Mitglied derjenigen Gewerkschaft werden, die den für den Erwerber maßgeblichen Tarifvertrag geschlossen hat. Von einem solchen Gewerkschaftswechsel werden die Arbeitnehmer allerdings tunlichst absehen, wenn die beim Erwerber geltenden Lohn- und Arbeitsbedingungen für sie ungünstiger sind. Damit hat das BAG - auf einen kurzen Nenner gebracht - das Tor zur Tarifflucht über § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB weitgehend verriegelt. Darauf muß oder darf man sich, je nach dem von welcher Seite aus man die Rechtsprechung betrachtet und in der täglichen Praxis anwendet, einstellen. Dem Gericht kann nicht der Vorwurf gemacht werden, seine Auffassung nicht dezidiert begründet zu haben. In der Entscheidung vom 21.02.2001 108 setzt es sich unter Heranziehung der üblichen Auslegungsmodi ausführlich mit im Schrifttum vertretenen gegenteiligen Ansichten auseinander. Ebenso wenig soll das seitens des BAG erzielte Auslegungsergebnis aus einer vordergründig interessengeleiteten Gesinnung kritisiert werden. Dennoch zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß die Begründung des Gerichts nicht überzeugt, das erzielte Ergebnis falsch ist. Das seiner Argumentation vorangestellte Ergebnis des BAG lautet in der genannten Entscheidung: „Die Tarifnormen der Tarifverträge KSH [= Verband der Kölner Spediteure und Hafenanleger e. V.] haben die transformierten Normen der Tarifverträge Druck nicht abgelöst [Hervorhebung des Verf.]. Eine einseitige Tarifbindung des Betriebserwerbers an die Tarifverträge KSH reicht hierfür nicht aus" 109 . Damit offenbart das Gericht, seine Prüfung des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB bereits unter eine unzutreffende Prämisse gestellt zu haben 110 . Rechtsfolge der Vorschrift ist lediglich, daß Satz 2 des § 613 a Abs. 1 BGB „nicht gilt". Es geht also gerade nicht darum, ob und unter welchen Voraussetzungen die ehemals beim Veräußerer kollektiv geltenden, beim Erwerber nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weitergeltenden Tarifnormen durch für diesen geltende Tarifhormen „abgelöst" werden 111 . Mit den Worten Zöllners" 1, der 1995 formulierte: „Wenn Satz 2 nicht gilt, kann das schlechterdings nichts an-

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BB 2001, 1847, 1848 ff. BAG v. 21.01.2001, BB 2001, 1847, 1848. 110 Mo//, in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 145 spricht in Auseinandersetzung mit der im Schrifttum ebenso vertretenen Auffassung von einer „sprachstrategisch geschickten Formulierung der Fragestellung und Problematik". 111 Zutreffend Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 594; Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, S. 133. 112 DB 1995, 1401, 1403. 109

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deres bedeuten, als daß Fortgeltung und Veränderungssperre entfallen. Diese und nur diese Rechtsfolge regelt Satz 2, wie nicht immer klar genug gesehen wird." Die hinreichende Klarheit des Blickes fehlte gut fünf Jahre später auch dem BAG! Ob und inwieweit die nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weitergeltenden Tarifbedingungen durch einen Tarifvertrag beim Erwerber abgelöst werden, ist nach allgemeinen tarifvertragsrechtlichen Prinzipien zu lösen. Insoweit ist die Feststellung des BAG im übrigen inhaltlich zutreffend. Zu einer Ablösung kann es nur bei beiderseitiger Tarifgebundenheit, sei es kraft Verbandsmitgliedschaft, sei es wegen Allgemeinverbindlichkeit, kommen. Hierfür bedürfte es § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB nicht. Hätte die Norm diese Rechtsfolge, wäre durch sie von tarifrechtlicher Warte aus - eine Selbstverständlichkeit geregelt 113 . Doch Rechtsfolge der Norm ist wie gesagt etwas anderes: nicht die Ablösung, sondern lediglich die Verdrängung von gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weitergeltenden Tarifnormen durch Beschränkung des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift („gilt nicht"). Richtig gestellt, lautet die Prüfungsfrage also, ob auch für die Verdrängung der Weitergeltung kongruente Tarifgebundenheit auf Arbeitgeber· und Arbeitnehmerseite erforderlich ist. Die Frage ist im Ergebnis zu verneinen1 1 4 . Grammatikalische und systematische Erwägungen führen auf dem Weg zu diesem Ergebnis nicht recht weiter. Auf den ersten Blick scheint der Wortlaut des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB dafür zu sprechen, daß die Tarifgebundenheit allein auf Arbeitgeberseite ausreicht 115 . Die Norm verlangt lediglich, daß die nach Satz 2 weitergeltenden Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch

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Zöllner, DB 1995, 1401, 1404. Thüsing/Stelljes, Anmerkung zu BAG ν. 21.02.2001, EzA Nr, 195 zu § 613 a BGB sehen den eigenständigen Sinn des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB hingegen in der Ausschaltung des Günstigkeitsprinzips; dies kommt lediglich auf Grundlage des - hier abgelehnten - individualrechtlichen Verständnisses des §613 a Abs. 1 Satz 2 BGB in Betracht und verkennt den ehemals kollektivrechtlichen Charakter der nach Maßgabe dieser Vorschrift weitergeltenden Tarifnormen; zutreffend Gutzeit, Anmerkung zu BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB. 114 Grundlegend Zöllner, DB 1995, 1401, 1402 ff.; ebenso Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, S. 129 ff.; Heinze, DB 1998, 1861, 1866; derselbe, FS für Schaub, 1998, S. 275, 278 f.; Henssler, FS für Schaub, 1998, S. 311, 319 f.; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 590 ff.; Moll, in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 145 ff.; derselbe, RdA 1996, 275, 280 ff; Schiefer, NJW 1998, 1818, 1821. 115 Dies dürfte insbesondere aus Sicht eines juristischen Laien gelten; dazu Schiefer, DB 2003, 390, 393. Anders hingegen Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 13 unter Hinweis auf die wortgleiche Formulierung in § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB („geregelt"), der unstreitig beiderseitige Tarifgebundenheit voraussetzt. Das zeigt im Ergebnis nicht mehr, als daß der Wortlaut nicht eindeutig ist und die Wortlautinterpretation nicht entscheidend sein kann.

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Rechtsnormen eines anderen Tarifvertrags geregelt werden. Auch die Formulierung: „geregelt werden" streitet mehr fur die Annahme, daß bloß einseitige Tarifgebundenheit genüge 116 , erinnert sie doch an § 77 Abs. 3 und § 87 Abs. 1 Satz 1 Einleitungssatz BetrVG. Hinsichtlich beider Normen geht die überwiegende Ansicht davon aus, daß die in ihnen angeordnete Sperrwirkung Tarifgebundenheit auf Arbeitnehmerseite jedenfalls nicht voraussetze 117. Das ist jedoch im Detail alles nicht unbestritten, die Vorschriften stehen zudem in einem völlig anderen Normkontext 118 , und rabulistische Differenzierungen zwischen der Geltung von und der Regelung durch Tarifnormen dürfte der Gesetzgeber bei Formulierung der Vorschriften wohl kaum vor Augen gehabt haben. Heinze tat daher gut an der Empfehlung, den unfruchtbaren Streit zu den betriebsverfassungsrechtlichen Normen nicht auf § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB zu übertragen 119. Betrachtet man die Systematik des § 613 a Abs. 1 BGB, lassen sich auch für die eine wie für die andere Interpretation Argumente finden. Das BAG rekurriert auf einen inneren Zusammenhang zwischen den Sätzen 1 bis 4 des § 613 a Abs. 1 BGB 1 2 0 . In Satz 1 sei von Rechten und Pflichten aus den Arbeitsverhältnissen die Rede, Satz 2 knüpfe unmittelbar hieran an („diese Rechte"), und auch Satz 4 beziehe sich auf die Möglichkeiten zur Änderung der Rechte und Pflichten innerhalb des jeweiligen einzelnen Arbeitsverhältnisses. Wegen dieses inneren Zusammenhangs könne für Satz 3 der Vorschrift nichts anderes gelten; notwendig sei der Bezug zum betreffenden Arbeitsverhältnis, also beiderseitige Tarifgebundenheit. Die systematischen Erwägungen von Zöllner zielen in die entgegengesetzte Richtung 121 : § 613 a Abs. 1 Satz 4, 2. Alt. BGB betreffe ausweislich seines Wortlauts („bei fehlender beiderseitiger Tarifgebundenheit") nur den Fall, daß sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer nicht tarifgebunden seien, und gebe dem neuen Betriebsinhaber die Möglichkeit, die Arbeitsbedingungen vor Ablauf der einjährigen Verschlechterungssperre in § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB durch Verweis auf den für seinen Betrieb einschlägigen Tarifvertrag zu vereinheitlichen. Hieraus folge im Umkehrschluß, daß § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB dem Vereinheitlichungsinteresse eines tarifgebundenen neuen Betriebsinhabers Rechnung tragen wolle, und zwar unabhängig von der Verbandszugehörigkeit auf Arbeitnehmerseite, also bei fehlender ein-

116 Moll y in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 145; derselbe, RdA 1996, 275, 280. 117 Dazu ausführlich Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 366 f. und 391 ff. m. w. Nachw. 118 BAG v. 21.02.2001, BB 2001, 1847, 1850. 119 Heinze, DB 1998, 1861, 1866. 120 BAG v. 21.02.2001, BB 2001, 1847, 1850; BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu §613 a BGB (Gutzeit). 121 Zöllner, DB 1995, 1401, 1404.

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seitiger Tarifgebundenheit. Beide systematischen Argumentationen haben einen gewissen Charme, beide sind jedoch andererseits auch nicht zwingend 122 . Entscheidend ist daher für die Auslegung der Vorschrift, wie meist, welche Interpretation ihrer Zwecksetzung gerecht wird. Davon ging auch das BAG in seiner Entscheidung vom 21.01.2001 123 aus. Dann führt es aus: „Einigkeit besteht insofern, als daß die Gesamtregelung im § 613 a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB einen Schutz des Arbeitnehmers im Falle eines Betriebsübergangs begründen will" 1 2 4 . Unverhohlener kann man einem Regelungssystem, das in seinen einzelnen Teilen unterschiedliche, ja gegenläufige Regelungsziele verfolgt, eine pauschalierende, einseitig arbeitnehmerschützende Zwecksetzung nicht unterstellen. Das Gericht konstatiert, daß der europäische Gesetzgeber zur Verfolgung des (unterstellten) arbeitnehmerschützenden Zweckes eine normative Geltung des neuen Tarifvertrags nicht fordert 125 . Der deutsche Gesetzgeber habe jedoch zu Gunsten des Arbeitnehmers den Bestandsschutz des alten Tarifvertrags noch ausbauen und im Einklang mit dem sonstigen deutschen Tarifrecht eine Anwendbarkeit nur im Fall der Tarifgebundenheit auch des Arbeitnehmers vorsehen dürfen. Doch wollte der deutsche Gesetzgeber das wirklich? An dieser Stelle sind die bereits eingangs zitierten Gesetzesmaterialien 126 in Erinnerung zu rufen, in denen es zu § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB explizit heißt: „Der neue Inhaber ist... nur verpflichtet, die bei ihm bereits geltenden Tarifverträge ... einzuhalten und nicht noch daneben Arbeitsbedingungen, die sich nach Satz 2 aus anderen Tarifverträgen ... ergeben." Es ist selten, daß der Gesetzgeber die mit

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Gegen die systematischen Erwägungen des BAG spricht bereits der Wortlaut des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB („bei dem neuen Inhaber"); Gutzeit (Anmerkung zu BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB) spricht zu Recht von einer bloß „vermuteten inneren Systematik", einer „Hypothese". Gegen die systematischen Erwägungen Zöllners spricht, daß § 613 a Abs. 1 Satz 4, 2. Alt. BGB über seinen Wortlaut hinaus nach seiner Zwecksetzung auch bei bloß einseitig fehlender Tarifgebundenheit Anwendung findet; dazu Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 593 f. 123 BB 2001, 1847, 1850. 124 BAG v. 21.02.2001, BB 2001, 1847, 1851; auch Thüsing/Stelljes betonen in ihrer zustimmenden Anmerkung zu der genannten Entscheidung in EzA Nr. 195 zu § 613 a BGB den Bestandsschutzgedanken als entscheidende Rechtfertigung des durch das BAG gefundenen Ergebnisses; Gutzeit (Anmerkung zu BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB) verlangt eine möglichst bestandsschützende Interpretation des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB. 125 BAG v. 21.02.2001, BB 2001, 1847, 1851; ebenso Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 596; Moll, in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 146; derselbe, RdA 1996, 275, 282. 126 BT-Drucks. 8/3317, S. 11.

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einer Norm verfolgte Zwecksetzung so deutlich artikuliert 127 . Das Regelungsziel der Vorschrift geht nicht - wie teilweise im Schrifttum etwas mißverständlich formuliert wird 1 2 8 - so weit, dem Vereinheitlichungsinteresse des Arbeitgebers zu dienen. Einheitliche Arbeitsbedingungen für übernommene und bereits zuvor bei ihm beschäftigte Arbeitnehmer könnte der Betriebserwerber nur erreichen, wenn § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB ihm die Befugnis verliehe, die ehemals tariflich geregelten, jetzt nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weitergeltenden Lohnund Arbeitsbedingungen zu modifizieren. Eine solche Ermächtigung aber gibt § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB nicht. Das Ziel der Vorschrift liegt darin, das Nebeneinander verschiedener kollektiver Regelungsregime beim neuen Inhaber des Betriebs zu verhindern. Oder um erneut Zöllner zu zitieren: Zweck des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB ist es, „Tarifwirrwarr vermeiden zu helfen" 129 . Die Vorschrift ist somit einfachgesetzlicher Ausfluß des von der Rechtsprechung entwickelten Prinzips der Tarifeinheit 130 . Nach diesem Prinzip soll für jedes einzelne Arbeitsverhältnis (Tarifkonkurrenz), aber auch für den Betrieb (Tarifpluralität) die Geltung von mehr als einem Tarifvertrag verhindert werden 131 . Geht - wie im oben genannten Beispiel 5 - ein Betriebs- oder, was häufiger ist, ein Betriebsteilübergang mit einem Branchenwechsel einher, tritt die Zwecksetzung hinzu, daß der fachlich einschlägige den fachlich nicht mehr einschlägigen Tarifvertrag verdrängen soll 1 3 2 . Nun ist es bekannt, daß sich das seitens des BAG dem Grundsatz nach sowohl für Fälle der Tarifkonkurrenz als auch der Tarifpluralität anerkannte und angewandte Prinzip der Tarifeinheit auf einem schleichenden, aber steten Rückzug befindet 133 . Die Entscheidung des BAG vom 21.02.2001, in der es das Prin127 Moll, in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 146: „Der Grundsatz der Tarifeinheit beim neuen Arbeitgeber könnte deutlicher nicht zum Ausdruck gebracht werden." 128 Hohenstatt/Günther-Gräff, DStR 2001, 1980, 1986; Kania, DB 1994, 529, 530. 129 Zöllner, DB 1995, 1401, 1404. 130 Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 592; Moll, RdA 1996, 275, 280; Schiefer, NJW 1998, 1817, 1821; Heinze, DB 1998, 1861, 1865 sieht den Zweck inhaltlich ähnlich in der Verwirklichung des Ordnungsprinzips. 131 BAG v. 14.06.1989, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; BAG ν. 05.09.1990, AP Nr. 19 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; zur Abgrenzung von Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität allgemein Lömsch/Rieble, TVG, 1992, § 4 Rz. 274 ff. 132 Zöllner, DB 1995, 1401, 1404; Henssler, FS für Schaub, 1998, 311, 320 f.; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 593. 133 Aus der Rechtsprechung LAG Hessen v. 14.07.2003, DB 2004, 1786, 1787 f. für Tarifpluralität bei gemeinsamen Einrichtungen von Tarifvertragsparteien des Baugewerbes; zum Ganzen Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 597 ff.; Thüsing/Stelljes, Anmerkung zu BAG ν. 21.02.2001, EzA Nr. 195 zu § 613 a BGB; anders jetzt aber Thüsing, NZA 2003, 1184,

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zip der Tarifeinheit im Rahmen des § 613 a Abs. 1 BGB maßgeblich weiter zurück gedrängt hat, ist ein weiterer Meilenstein dieser Entwicklung 134 . An dieser Stelle kann und soll weder der Stab über dem Prinzip der Tarifeinheit, noch eine Lanze für dieses Prinzip gebrochen werden. Fest steht jedoch: Es kann nur als widersinnig bezeichnet werden, wenn nach derzeitiger Rechtslage beim Aufeinandertreffen zweier gemäß § 3 Abs. 1 TVG kollektivrechtlich geltender Tarifverträge in einem Betrieb das Prinzip der Tarifeinheit angewandt, im Rahmen des § 613 a Abs. 1 BGB hingegen anders entschieden wird 1 3 5 . Zu welch absurdem Ergebnis diese Rechtsprechung führt, wird deutlich, wenn man das oben erwähnte Beispiel 4 einen Schritt weiter denkt 136 . Zur Erinnerung: Nach Veräußerung des Betriebs von der Α-GmbH an die B-GmbH können die auf letztere übergegangenen, der IG Metall angehörenden Arbeitnehmer wegen § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weiterhin Lohnansprüche entsprechend dem IGMetall-Verbandstarifvertrag geltend machen. Der von der B-GmbH mit der CGM geschlossene Firmentarifvertrag ist insoweit ohne Auswirkungen. § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB greift für IG-Metall-Mitglieder mangels beiderseitiger Tarifgebundenheit nicht ein. Als findiger Anwalt müßte man der B-GmbH nun eigentlich raten, in denselben Arbeitgeberverband einzutreten, der mit der IG Metall den vormals bei der Α-GmbH geltenden Verbandstarifvertrag abgeschlossen hat. Dies hätte zur Folge, daß dieser Tarifvertrag auch für die BGmbH gemäß § 3 Abs. 1 TVG kollektivrechtlich Geltung erlangte. Nach dem nunmehr anwendbaren Prinzip der Tarifeinheit würde der mit der CGM geschlossene FirmentarifVertrag - vorbehaltlich der unter dem Stichwort der so-

1187 unter Verweis auf die Konnexität zwischen Tarifeinheit und Gleichstellungscharakter arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln; allgemein zur Kritik hinsichtlich der Anwendung des Prinzips der Tarifeinheit auf Fälle der Tarifpluralität insbesondere Löwisch/Rieble, TVG, 1992, § 4 Rz. 290 ff.; Rieble, Anmerkung zu BAG ν. 22.03.1994, EzA § 4 TVG Geltungsbereich Nr. 10; Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, 1999, S. 334 ff. und 411 ff.; dem BAG insoweit folgend Heinze/Ricken, ZfA 2001, 159, 171 ff.; Säcker/Oetker, ZfA 1993, 1, 9 ff.; Ηromadkaf M aschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, Rz. 158; zumindest für das Aufeinandertreffen von Tarifverträgen zweier DGB-Gesellschaften Hanau/Kania, FS für Schaub, 1998, S. 239, 252 f.; Hanau, RdA 1998, 65, 70; Kania, DB 1996, 1921 f.; Schaub, BB 1996, 2298, 2300. 134 Auf gleicher Linie lag schon die Entscheidung des BAG ν. 28.05.1997, NZA 1998, 40, 44: In dieser Entscheidung hat das Gericht für Fälle des Aufeinandertreffens eines gemäß § 4 Abs. 5 TVG nachwirkenden und eines nach §§3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG unmittelbar wirkenden Tarifvertrags bereits das Vorliegen einer Tarifpluralität verneint. Die Tendenz des Gerichts ist unübersehbar: Nicht die Rechtsfolge, sondern der Tatbestand des Prinzips der Tarifeinheit wird eng gefaßt, sein Anwendungsbereich wird stetig verkleinert. Das könnte dazu führen, daß die Ausnahmefälle nach und nach zur neuen Regel erstarken; dazu Thüsing/Stelljes, Anmerkung zu BAG ν. 21.02.2001, EzA Nr. 195 zu §613 a BGB. 135 Moll, in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 145; derselbe, RdA 1996, 275, 281. 136 Erstmals bei Bauer/Meinel, NZA 2000, 181, 184.

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zialen Mächtigkeit problematischen Tariffähigkeit der C G M 1 3 7 - als speziellere Regelung Vorrang genießen. Folge wäre, daß die von der Α-GmbH übernommenen IG-Metall-Mitglieder sich nicht mehr auf Lohnansprüche nach Maßgabe des IG-Metall-Verbandstarifvertrags berufen könnten. Das Beispiel mag als anschauliche Argumentationshilfe dienen, als Anregung für die Beratungspraxis sollte es besser nicht aufgefaßt werden. Viel zu groß wäre die Unsicherheit, ob die Gerichte im Streitfall an der Anwendung des Prinzips der Tarifeinheit auf den allgemeinen Fall der Tarifpluralität außerhalb des § 613 a BGB festhalten würden. Warum das BAG das Prinzip der Tarifeinheit jedenfalls im Rahmen des § 613 a Abs. 1 BGB für nicht maßgeblich erachtet, wird in den Gründen seiner Entscheidung vom 21.02.2001 138 explizit ausgeführt: §613 a Abs. 1 Satz 3 BGB sei wegen seiner fehlenden Anordnung, was gelten soll, nur dahin zu verstehen, daß der neue Tarifvertrag ohnehin wegen seiner beiderseitigen Tarifgebundenheit auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden und deshalb keine gesonderte Rechtsfolge vorgesehen werden müsse. Damit gibt der Senat offen zu, der Norm eine Rechtsfolge unterzuschieben, die den Buchstaben des Gesetzes nicht zu entnehmen ist. Warum? Damit gewährleistet sei, daß in jedem Fall entweder die Normen des bisherigen oder der neue Tarifvertrag die Rechte und Pflichten des Arbeitsverhältnisses regelten. So das BAG 1 3 9 . Eine solche Argumentation mit der Gefahr inhaltsleerer Arbeitsverhältnisse, mit dem horror vacui , ist nicht neu. Wir kennen sie aus der Rechtsprechung zu § 4 Abs. 5 TVG, wo mit gleicher Erwägung die Auffassung begründet wird, die Nachwirkung des Tarifvertrags müsse sich nach Verbandsaustritt nahtlos an die Fortwirkung der Tarifgebundenheit gemäß § 3 Abs. 3 TVG anschließen140. Das horror-vacui- Argument ist jedoch hier wie dort 1 4 1 nicht überzeugend 142. Es übersieht, daß die meisten Arbeitsverträge auch tarifgebundener Arbeitnehmer Regelungen vorse-

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An der es wohl fehlen dürfte; bejahend ArbG Stuttgart v. 04.02.1972, EzA Nr. 9 zu Art. 9 GG; offen gelassen von BAG ν. 06.06.2000, NZA 2001, 156; verneint nunmehr von ArbG Stuttgart v. 12.09.2003 - 15 BV 250/96; dazu Richardi, NZA 2004, 1025; Rieble, BB 2004, 885. 138 BB 2001, 1847, 1851. 139 BAG v. 21.02.2001, BB 2001, 1847, 1851, entsprechend Staudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., § 613 a Rz. 193; Soergel-Raab, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 125; Ascheid, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2. Aufl., § 613 a Rz. 89. 140 BAG v. 17.05.2000, DB 2001, 654; BAG ν. 13.12.1995, DB 1996, 1284 f.; BAG v. 14.02.1991, AP Nr. 10 zu § 3 TVG; BAG v. 18.03.1992, DB 1992, 1297; unter besonderem Hinweis auf die Gefahr inhaltsleerer Arbeitsverhältnisse zustimmend Walker, ZfA 1996,353,380. 141 Zur Problematik im Rahmen des § 4 Abs. 5 TVG Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 429 f. 142 Moll, in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 147: „inhaltsleere Arbeitsverhältnisse gibt es nicht".

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hen, welche die Lohn- und Arbeitsbedingungen inhaltlich bestimmen. Preis hat vor gut 10 Jahren empirisch nachgewiesen, daß die weit überwiegende Zahl von Arbeitsverträgen jedenfalls Verweisklauseln auf Tarifverträge enthalten 143 ; in der Praxis hört man nach wie vor entsprechende Schätzungen von etwa 90%. Fehlt ausnahmsweise eine - direkte oder indirekte - inhaltliche Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, kann der neue Inhaber nach dem Betriebsübergang den übernommenen Arbeitnehmern entsprechende Angebote machen, etwa in Gestalt einer Bezugnahme auf den für ihn einschlägigen Tarifvertrag. Kommt es nicht hierzu, hilft als letzte Rettung die zivilrechtliche Auslegungsnorm des § 612 Abs. 2 BGB 1 4 4 . Nach dieser Vorschrift gilt als übliche Vergütung der für den neuen Betriebsinhaber einschlägige Tariflohn. Wegen des synallagmatischen Charakters des Arbeitsvertrages („Lohn gegen Arbeit") findet das Prinzip des § 612 Abs. 2 BGB auch für den Umfang der Gegenleistung Anwendung. Ist mit dem Arbeitnehmer nichts anderes vereinbart, so gilt für ihn die tarifliche Normalarbeitszeit, jedenfalls die betriebsübliche Arbeitszeit. Über Lohn und Arbeitszeit hinaus etwaig bestehende Regelungslücken können durch eine am Willen der Vertragsparteien orientierte ergänzende Vertragsauslegung (§§ 133, 157 BGB) geschlossen werden. Gegen die hier vertretene Interpretation, daß § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB bereits bei einseitiger Tarifgebundenheit des neuen Betriebsinhabers die Weitergeltung tariflicher Normen verhindert, kann nicht die verfassungsrechtliche Keule des Art. 9 Abs. 3 GG hervorgeholt werden. Das BAG greift auf das Koalitionsgrundrecht der von einem Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer in seiner Entscheidung vom 21.02.2001 145 zunächst zurück, um eine vermittelnde Ansicht im Schrifttum 146 zu entkräften. Nach dieser Auffassung soll bei § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB die bloß einseitige Tarifgebundenheit auf Arbeitgeberseite genügen, wenn sowohl die bisherigen als auch die neuen Tarifregelungen mit Gewerkschaften abgeschlossen sind, die dem DGB angehören. Für unser Beispiel 5 hieße das, daß die gewerkschaftsangehörigen Arbeitnehmer sich nicht auf die im IG-Metall-Tarifvertrag festgelegte 35-Stunden-Woche berufen könnten. Dessen Weitergeltung käme wegen § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB nicht in Betracht. Um überhaupt in den Genuß einer tarifvertraglichen Arbeitszeitge-

143

Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993, S. 62. Zöllner, DB 1995, 1401, 1405; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 595; Moll, in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 147; derselbe, RdA 1996, 275,282. 145 BB 2001, 1847, 1852. 146 Grundlegend Kania, DB 1996, 1921 ff.; Hanau/Kania, FS für Schaub, 1998, S. 239, 256; Hanau, Das Arbeitsrecht der Gegenwart, Bd. 34, 1997, S.29; derselbe, RdA 1998, 65, 70; dagegen Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz, 1999, S. 328; Gutzeit, Anmerkung zu BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB. 144

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staltung zu gelangen, müßten die übernommenen Arbeitnehmer aus der IG Metall aus- und in die IG BCE eintreten. Das hält das BAG unter Hinweis auf die negative Koalitionsfreiheit für nicht gerechtfertigt 147. Sonst würde die tatsächliche Möglichkeit, der nunmehr zuständigen Gewerkschaft beizutreten, zu einem rechtlichen Erfordernis erhoben. Die nach der Eigenschaft als DGB-Gewerkschaft differenzierende Literaturmeinung ist bereits aus einer viel einfacheren Erwägung heraus abzulehnen. Es fehlt ihr schlichtweg an jeglicher rechtlichen Grundlage. Im Ergebnis bedeutet sie eine mit nichts zu legitimierende Bevorzugung, ja Machtsicherung der etablierten DGB-Gewerkschaften, die aus vordergründigen politischen Erwägungen jeglichen Koalitionspluralismus im Keim ersticken möchten. Doch damit genug der Polemik, zurück zu den verfassungsrechtlichen Erwägungen des BAG. Diese münden schließlich in die allgemeine Feststellung: „Auch unter dem rechtlichen Kontrollgesichtspunkt der Wahrung der negativen Koalitionsfreiheit ist § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB dahingehend auszulegen, daß seine Voraussetzungen nur erfüllt sind, wenn die anderen Tarifnormen für das infolge Betriebsübergangs mit dem neuen Betriebsinhaber bestehende Arbeitsverhältnis unmittelbar und zwingend gelten" 148 . Dem Gericht ist Beifall dafür zu spenden, das erzielte Auslegungsergebnis nicht entscheidend in den schwindelnden Höhen der Verfassung gesucht zu haben. Doch wenn man die Verfassung schon als rechtlichen Kontrollgesichtspunkt bemüht, darf man das nicht einseitig tun. Die negative Koalitionsfreiheit des neuen Betriebsinhabers, der gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB für ein Jahr zwingend an Tarifnormen gebunden ist, die er nicht mitgliedschaftlich legitimiert hat, blendet das Gericht vollständig aus 149 . Ebenso seine positive Koalitionsfreiheit, die er gerade dadurch ausübt, daß er - sei es durch Verbandsbeitritt oder eigenen Vertragsabschluß - einen Tarifvertrag für sich in Kraft setzt 150 . Die Patt-Situation der widerstreitenden Grundrechtspositionen entscheiden zu wollen, läuft Gefahr, aus einer Rechtsfrage eine Glaubensfrage zu machen 151 . Glücklicherweise muß der Rechtsanwender die Frage gar nicht beantworten. Der Gesetzgeber hat die Abwägungsentscheidung durch die klar formulierte Zwecksetzung des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB eindeutig getroffen, und dies auf Grund seines allgemeinen Gestaltungsspielraums sicher

147

BAG v. 21.02.2001, BB 2001, 1847, 1852. BAG v. 21.02.2001, BB 2001, 1847, 1852. 149 Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 595. 150 Heinze, DB 1998, 1861, 1866. 151 Vgl. auch Moll, RdA 1996, 275, 281. 148

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nicht in verfassungswidriger Weise 152 . Bedauerlich nur, daß das BAG den Willen des Gesetzgebers ignoriert. Für die Praxis bleibt der Befund, daß es die Möglichkeit zur Verdrängung von gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 weitergeltenden Tarifnormen durch einen mit einer anderen Gewerkschaft abgeschlossenen Tarifvertrag nicht gibt. Und zur Ablösung der weitergeltenden Tarifnormen kommt es nach allgemeinen tarifvertragsrechtlichen Grundsätzen nur bei kongruenter Tarifgebundenheit auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Getröstet werden Unternehmen der unterschiedlichen Dienstleistungsbranchen im Schrifttum vielfach mit dem Hinweis auf den Zusammenschluß der DAG mit den ehemaligen fünf Dienstleistungsgewerkschaften des DGB zur Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi 1 5 3 . Hierdurch sei in vielen Bereichen nach einem Betriebsübergang kongruente Tarifgebundenheit anzunehmen, in denen dies vor dem Zusammenschluß auf Grund der Gewerkschafts-Diversifizierung nicht der Fall gewesen wäre. Das ist sicher richtig. Ob und in welcher Weise Verdi hingegen in der Tat nach dem Gewerkschaftszusammenschluß als Partei in die von den fusionierten Gewerkschaften abgeschlossenen Tarifverträge eingetreten ist, wie überwiegend angenommen wird 1 5 4 , ist schon nicht mehr ganz so einfach zu beantworten 155 ; eine Erörterung der sich insoweit stellenden Probleme würde den hiesigen Rahmen sprengen. Unternehmen, die in den Zuständigkeitsbereich von Verdi fallen, sollten den sich aus der Gewerkschaftsfusion möglicherweise ergebenden größeren Gestaltungsspielraum jedoch im Hinterkopf behalten und im Bedarfsfall sorgsam ausloten.

b)

Betriebsvereinbarung

versus Tarifvertrag

Aufgrund des durch das BAG aufgestellten Erfordernisses kongruenter Tarifbindung auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite ist der Anwendungsbereich des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB für die Verdrängimg von Tarifnormen durch 152

Zutreffend Soergel-/W>, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 125, der einen Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit der übernommenen Arbeitnehmer ablehnt, weil § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB lediglich den Ausschluß der Weitergeltung der bisher beim Veräußerer geltenden Tarifnormen regelt, nicht dagegen die Geltung der für den Erwerber maßgeblichen Tarifnormen auf den nichttarifgebundenen Arbeitnehmer erstreckt. Heinze, DB 1998, 1861, 1866 sieht demgegenüber in der Auffassung des BAG eine irreparable Verletzung der positiven und negativen Koalitionsfreiheit des Arbeitgebers. 153 Melms, NZA 2002, 296 ff.; Schiefer, DB 2003, 390, 391 f.; Schiefer /Pogge, NJW 2003, 3734, 3739; Bauer/Haußmann, DB 2003, 610, 611 f.; Prange, NZA 2002, 817, 821. 154 So sämtliche in der vorstehenden Fußnote Genannten. 155 Ablehnend für die Fusion zur Gewerkschaft IG BCE Richardi, FS für Kraft, 1998, S. 509,516.

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eine andere tarifliche Regelung denkbar gering. Letzteres gelingt wie gesehen nur, wenn beim Erwerber ein Tarifvertrag mit derselben Gewerkschaft geschlossen wird, die auch Partei des für den Veräußerer geltenden Tarifvertrags war. In Anbetracht dessen gewinnt umso mehr die Frage an Bedeutung, ob und inwieweit es gelingen kann, die Weitergeltung tariflicher Lohn- und Arbeitsbedingungen (§ 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB) durch Regelungen mit dem Betriebsrat zu verdrängen. § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB spricht auch davon, daß Satz 2 nicht gilt, wenn die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch eine andere Betriebsvereinbarung geregelt werden. Ob eine solche „Überkreuzablösung" tariflicher Regelungen mittels Betriebsvereinbarungen in Betracht kommt, ist eine weitere umstrittene Kernfrage der Interpretation des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB. aa) Zulässigkeit der „Überkreuzablösung": Im Grundsatz zumindest wird eine solche „Überkreuzablösung" überwiegend für möglich gehalten156. Nur vereinzelt finden sich Gegenstimmen. Dabei wird teilweise auf den Wortlaut des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB verwiesen 157 . Dort sei von der Regelung durch Rechtsnormen eines anderen Tarifvertrags oder durch eine andere Betriebsvereinbarung die Rede. Das spreche dafür, daß Bedingungen der einen kollektiven Ebene, Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung, nur durch andere Regelungen derselben Ebene verdrängt werden könnten. Bei vordergründiger Betrachtung liegt das nahe. Ob der Gesetzgeber tatsächlich eine dahingehende Differenzierung im Sinn hatte, erscheint allerdings fraglich. Die Gesetzesmaterialien schweigen hierzu. Europarechtlich wäre eine entsprechende Trennung der Regelungsebenen jedenfalls nicht geboten gewesen; die zu Grunde liegenden europäischen Richtlinien sprechen ohnehin verallgemeinernd nur von Kollektivvereinbarungen 158. Wie stets sollte dem Wortlautargument daher nicht alles ent-

156 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 783; ErfK-Preis, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz. 122; Soergel-/toaZ>, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 129; Erman -Edenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz. 87; Ascheid, in: Schliemann, Das Arbeitsrecht im BGB, 2. Aufl., §613 a Rz. 111; Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Übertragung und Umstrukturierung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 585; Däubler, ZTR 2000, 241, 242; Kempen, BB 1991, 2006, 2010; Moll, in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 143; derselbe, RdA 1996, 275, 283; Schiefer, DB 2003, 390; derselbe, NJW 1998, 1817, 1822; Meyer, NZA 2001, 751 m. zahlr. w. Nachw.; differenzierend Gutzeit, Anmerkung zu BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a: Überkreuzablösung grundsätzlich unzulässig, außer bei nachwirkendem Tarifvertrag oder bei Befristung der Betriebsvereinbarung für ein Jahr. 157 Staudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl. §613 a Rz. 185; Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, S. 134, aber im Ergebnis für die Zulässigkeit von Überkreuzablösungen; Schiefer /Pogge, NJW 2003, 3734, 3740; vgl. auch MünchArbR-Wank, 2. Aufl., § 124 Rz. 206. 158 Siehe den eingangs zitierten Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG; dazu auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 783; Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, S. 134.

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scheidende Kraft beigemessen werden. Denn die Zwecksetzung des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB, die Bindung des neuen Betriebsinhabers an verschiedene kollektive Regelungsregime zu verhindern, streitet dafür, die Weitergeltung tariflicher Normen auch bei Bestehen oder Abschluß von Betriebsvereinbarungen mit identischen Regelungsgegenständen auszuschließen159. Ernster zu nehmen, weil fundamentaler, ist der von Richardi/Annuß erhobene Einwand gegen entsprechende „Überkreuzablösungen": Auch bei der Anwendung des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB sei zu respektieren, daß tarifvertragliche Regelungen einerseits und Betriebsvereinbarungen andererseits unterschiedlichen Ordnungen der Gruppenautonomie entsprängen, die nebeneinander stünden und nicht gegeneinander austauschbar seien 160 . Das Argument führt uns zu den Grundfesten des kollektiven Arbeitsrechts. In ihm offenbart sich der immer wieder behauptete Antagonismus zwischen der durch einen Akt der Selbstbestimmung des einzelnen, nämlich seinen Verbandsbeitritt, legitimierten Tarifautonomie auf der einen und der bloß durch den Gesetzgeber geschaffenen Betriebsverfassung auf der anderen Seite 161 . Letztere wird dabei mit juristischen Kraftausdrücken oft zur „Staatsveranstaltung" 162 oder „korporativen Zwangsordnung" 163 degradiert. Letztlich stehe, so die Kernthese Richardis, die Tarifautonomie dem Gedanken der Privatautonomie näher als das durch Gesetz geschaffene Betriebsratsamt 164. Die Prämisse (oder besser: das Vorverständnis) der artverschiedenen Legitimation tariflicher und betrieblicher Normsetzung, ihrer unterschiedlichen Freiheitsnähe wird immer wieder gerne bemüht, wenn es um einfachgesetzliche Auslegungsfragen im Konkurrenzverhältnis von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen geht, man denke nur an § 77 Abs. 3 BetrVG. Zu Unrecht, denn sie ist falsch: Der Arbeitnehmer tritt durch Abschluß seines Arbeitsvertrags auf Grund seiner privatautonomen Entscheidung in den Betriebsverband ein; auch der Betriebsautonomie kommt daher als Ausfluß der individuellen Vereinigungsfreiheit und Privatautonomie (Art. 9 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG) Verfassungsrang zu. Dies wurde an anderer

159

Moll, in: Preis/Willemsen, Umstrukturierung von Betrieb und Unternehmen im Arbeitsrecht, S. 129, 143; derselbe, RdA 1996, 275, 283; Erman-Edenfeldy BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz. 87; Meyer, NZA 2001, 751. 160 Staudinger-Richardi/Annuß y BGB, 13. Aufl. § 613 a Rz. 185. 161 Die Charakterisierung geht wohl - soweit ersichtlich - zurück auf Dietz, BetrVG, 1. Aufl., § 1 Rz. 18. 162 Riebley Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, Rz. 1411 ff. 163 Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, 1968; S. 316; Heinze, NZA 1989, 41, 42; derselbey NZA 1994, 580, 581; derselbe, ZfA 1992, 53, 62: „Fremdbestimmungsordnung"; Reichold, Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, 1995, S. 495: „Zwangsrepräsentation". 164 Richardi, Betriebsverfassung und Privatautonomie, 1973, S. 13 und 18.

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Stelle ausführlich zu begründen versucht 165 . Das BVerfG ist im Ergebnis der gleichen Auffassung und hat der Betriebsverfassung als Ausfluß der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG Verfassungsrang zugesprochen 166. Im hiesigen Kontext können diese Grundlagenfragen des kollektiven Arbeitsrechts nicht einmal an- und erst recht nicht ausdiskutiert werden. Für die Rechtsanwendung hinsichtlich § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB kommt es vielmehr darauf an, ob sich das BAG bei der Interpretation der Vorschrift ebenfalls von der Vorstellung unterschiedlicher Legitimation tariflicher und betrieblicher Normsetzung hat leiten lassen. Dieser Befund ist nicht einfach zu treffen. Das Gericht hat die Frage der Zulässigkeit von „Überkreuzablösungen" tariflicher Normen durch solche einer Betriebsvereinbarung stets offen lassen können 167 . In seiner Entscheidung vom 29.08.2001 168 führt es allerdings wie selbstverständlich aus: „Vielmehr können diese aufgrund vormaliger Tarifgeltung anzuwendenden Regelungen ihrerseits auch nach dem Betriebsübergang durch ihrerseits unmittelbar und zwingend geltende Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen (Hervorh. d. Verf.) abgelöst werden." Ob das Gericht in der Tat durch dieses obiter dictum die Problematik der „Überkreuzablösung" gewissermaßen en passant lösen wollte, muß die zukünftige Rechtsprechungsentwicklung zeigen. Wäre dem so, könnte dem gefundenen Ergebnis nur zugestimmt werden. bb) Regelungsschranke des Tarifvorbehalts: Hinsichtlich der Frage, ob zwischen dem neuen Betriebsinhaber und seinem Betriebsrat abgeschlossene Betriebsvereinbarungen der Weitergeltung tariflicher Normen entgegenstehen, ist die Feststellung der grundsätzlichen Zulässigkeit solcher „Überkreuzablösungen" im Rahmen des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB indessen nicht mehr als ein Zwischenergebnis. Nun kommt der eben erwähnte TarifVorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG ins Spiel. Für das Verhältnis zwischen den ehemals beim Veräußerer geltenden, nunmehr beim Erwerber weitergeltenden Tarifverträgen einerseits und bei letzterem bestehenden Betriebsvereinbarungen andererseits ist § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB zwar als lex specialis zu § 77 Abs. 3 BetrVG zu erachten 169.

165

Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 175 ff.; die Ausführungen führen den durch den Jubilar, teilweise mit ihm gemeinsam angesponnenen verfassungsrechtlichen Gedanken weiter; siehe Ehmann, ZRP 1996, 314, 317; derselbe, Die Neue Ordnung 1996 (Sondernummer), S. 59; Ehmann/Lambrich, NZA 1996, 346, 351 f. 166 BVerfG, NJW 1987, 827, 828; ebenso Reuter, FS für Schaub, 1998, S. 605, 627 f.; Blomeyer, NZA 1996, 337, 345; Jahnke, ZfA 1980, 1963, 765, 767; vgl. auch Wiese, ZfA 1996,439,474. 167 Siehe ausdrücklich BAG ν. 01.08.2001, EzA Nr. 199 zu § 613 a BGB (Gutzeit); so auch der Befund von Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 13. 168 DB 2002, 431,432. 169 Soergel-/toa6, BGB, 12. Aufl., § 613 a Rz. 129; Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, S. 135.

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Das entbindet den neuen Betriebsinhaber jedoch nicht davon, generell bei der Vereinbarung von Betriebsvereinbarungen den Tarifvorbehalt beachten zu müssen. § 77 Abs. 3 BetrVG aber hat, so wie die Vorschrift durch das BAG verstanden wird, zur Folge, daß die Verdrängung weitergeltender Tarifnormen durch Betriebsvereinbarungen praktisch nahezu vollständig ausscheidet170. Denn nach Auffassung des BAG greift die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG nicht nur in Betrieben tarifgebundener Arbeitgeber, sondern auch für nicht tarifgebundene Unternehmen ein 1 7 1 . Es soll ausreichen, daß der Betrieb in den räumlichen und fachlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrags falle. Das wiederum dürfte in nahezu allen Branchen in nahezu allen Regionen Deutschlands jedenfalls hinsichtlich der wesentlichen Lohn- und Arbeitsbedingungen der Fall sein. Die Auslegung des § 77 Abs. 3 BetrVG durch die Rechtsprechung führt folglich dazu, daß eine unternehmensseitig erwogene Tarifflucht mittels des Mediums einer Betriebs- oder Betriebsteilübertragung auch nicht in einer Betriebsvereinbarung enden kann. Im Schrifttum hat die weite Interpretation des TarifVorbehalts durch das BAG Zustimmung 172 , gerade in jüngerer Vergangenheit aber auch zunehmend Kritik erfahren 173. Dies zu Recht, denn bereits die eigene Begründung des BAG vermag seine Auffassung nicht zu stützen. Das Gericht meint, Zweck des § 77 Abs. 3 BetrVG sei es, die ausgeübte und aktualisierte Tarifautonomie zu schützen. Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sei auch dann gestört, wenn nicht tarifgebundenen Arbeitgebern die Möglichkeit offen stehe, Konkurrenzregelungen in Gestalt von Betriebsvereinbarungen abzuschließen. Die Argumentation übersieht, daß in Betrieben nicht tarifgebundener Arbeitgeber die Tarif170 Wegen des von der Rechtsprechung angenommenen Anwendungsvorrangs des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG kommt hinsichtlich solcher Regelungsgegenstände, die der erzwingbaren Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten unterfallen, in Betrieben nicht tarifgebundener Arbeitgeber der Abschluß von Betriebsvereinbarungen in Betracht; zu den dadurch eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten überblickartig Lambrich, in: Jaeger/Röder/Heckelmann, Praxishandbuch Betriebsverfassungsrecht, 2003, S. 323 f. Da Tarifverträge solche Gegenstände in der Regel nicht betreffen, bleibt diese sogenannte Vorrangtheorie im Rahmen des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB indessen ohne größere praktische Relevanz. 171 BAG v. 05.03.1997, NZA 1997, 951, 953 f.; BAG ν. 24.01.1996, BB 1996, 948; ebenso die instanzgerichtliche Rechtsprechung: LAG Baden-Württemberg v. 16.01.1997, BB 1997, 1258; LAG Hamm v. 17.07.1996, BB 1997,631. 172 Siehe nur Wiedemann- Wank, TVG, 7. Aufl., § 4 Rz. 562; ErfK-Hanau/Kania, 4. Aufl., § 77 BetrVG Rz. 49; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, Rz. 1489 und 1560; Schaub, NZA 1998, 617, 619; Bauer/Diller, DB 1993, 1085, 1086. 173 Richardi, BetrVG, 8. Aufl., § 77 Rz. 260; derselbe, FS für Schaub, 1998, S. 639, 644 ff.; GK-BetrVG-A>ew/z, 7. Aufl., § 77 Rz. 100; Ehmann, FS für Zöllner, 1999, S. 715 ff.; Ehmann/Lambrich, NZA 1996, 346, 356; Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 333 ff.; derselbe, in: Jaeger/Röder/Heckelmann, Praxishandbuch Betriebsverfassungsrecht, 2002, S. 331 f.; Trappehl/Lambrich, NJW 1999, 3217, 3223; Bauer, FS für Schaub, 1998, S. 19, 26.

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autonomie faktisch überhaupt nicht ausgeübt und aktualisiert werden kann 174 . In ihnen erlangen Tarifverträge denknotwendig keine Geltung. Die Auslegung des § 77 Abs. 3 BetrVG durch das BAG führt vielmehr dazu, daß in solchen Betrieben eine kollektive Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen gänzlich ausscheidet. Die Arbeitnehmer werden im Ergebnis repräsentationslos gestellt. Das ist mit dem Fundamentalprinzip des Arbeitnehmerschutzes, dem sowohl Tarifautonomie als auch Betriebsautonomie zu dienen bestimmt sind, nicht zu vereinbaren 175. Der Ausschluß jeglicher kollektiver Gestaltungsmöglichkeit verstößt überdies gegen das Grundrecht auf negative Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) des nicht oder nicht mehr verbandsangehörigen Arbeitgebers 176. Denn diese ist nur dann hinreichend gewährleistet, wenn ihm eine echte Alternative zum Tarifvertrag zur Verfugung steht, um die Lohn- und Arbeitsbedingungen einheitlich mit unmittelbarer Wirkung zu gestalten, eben: die Betriebsvereinbarung. cc) Ausnahmsweise Zulässigkeit tarifiibernehmender Betriebsvereinbarungen'. In der Literatur wird die aus organisatorischen und betriebssoziologischen Gründen bestehende Notwendigkeit zur kollektiven Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen klar gesehen. Insbesondere für Fälle des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs. Daher wird teilweise erwogen, im Rahmen des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB eine teleologische Reduktion des § 77 Abs. 3 BetrVG vorzunehmen177. Teilweise wird dafür plädiert, dem neuen Betriebsinhaber müsse es zumindest möglich sein, mit seinem Betriebsrat die Geltung des für den Betrieb einschlägigen Tarifvertrags für alle Arbeitnehmer, also auch für die vom Veräußerer übernommenen, zu vereinbaren 178. Hierin läge gewissermaßen - in Anlehnung an § 613 a Abs. 1 Satz 4, 2. Alt. BGB - eine Bezugnahmeklausel durch Betriebsvereinbarung. Allgemein wird wegen § 77 Abs. 3 BetrVG die Zulässigkeit solcher sogenannter tarifübernehmender Betriebs Vereinbarungen

174 Richardis FS für Schaub, 1998, S. 639, 645; Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 373. 175 Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 376 ff. 176 Richardis BetrVG, 8. Aufl., § 77 Rz. 260; derselbe, FS für Schaub, 1998, S. 639, 646; Lambrich, Tarif- und Betriebsautonomie, 1999, S. 383 ff.; Bauer, FS für Schaub, 1998, S. 19, 26. 177 Insbesondere Meyer, NZA 2001, 751 ff. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 783 spricht davon, die Betriebsvereinbarung böte sich für die vielen nötigen Anpassungen an; Bedenken wegen § 77 Abs. 3 BetrVG solle man zurückstellen. 178 Socrgd-Raab, BGB, 12. Aufl., §613 a Rz. 129; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 785; dagegen unter Hinweis auf § 77 Abs. 3 BetrVG ErmanEdenfeld, BGB, 11. Aufl., § 613 a Rz. 87; Picot/Schnitker, Arbeitsrecht bei Unternehmenskaufund Restrukturierung, 2001, S. 98 und 108; Moll, RdA 1996, 275, 283; wegen Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) Gaul, NZA 1995, 717, 722; kritisch auch Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Übertragung und Umstrukturierung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 600.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

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jedoch überwiegend abgelehnt 179 . Nur im Rahmen des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB anders entscheiden zu wollen, bleibt meines Erachtens auf halbem Wege stehen. Statt den Tarifvorbehalt nur punktuell in Fällen des Betriebs- oder Betriebsteilübergangs auszuhöhlen, sollte die Rechtsprechung vielmehr generell seine Anwendung für nicht tarifgebundene Arbeitgeber aufgeben. Ist sie hierzu nicht bereit, wovon auszugehen ist, wäre es zumindest ein Schritt in die richtige Richtung, im Rahmen des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB eine Ausnahme zu machen. Zu große Hoffnung sollte man allerdings auch hierauf nicht setzen.

IV. Auswirkungen arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge Betrachtet man die weit überwiegende Mehrzahl der in der Praxis verwendeten Arbeitsverträge, mag die bisherige Darstellung der Weitergeltung und Ablösung von Tarifregelungen als realitätsfremd erscheinen. Denn bislang wurde für die Erörterung der Auslegungsprobleme des § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB so getan, als ob es arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge nicht gäbe. Tatsächlich aber enthalten, wie gesagt, wohl etwa 90 % aller Arbeitsverträge Verweise auf tarifliche Regelungen180. Dies kann ausdrücklich geschehen; die Inbezugnahme tariflicher Inhalte kann allerdings auch konkludent, insbesondere in Form der betrieblichen Übung erfolgen 181 . Auf Tarifverträge kann in ihrer Gesamtheit (sog. Globalverweis), aber auch lediglich hinsichtlich einzelner Regelungsmaterien verwiesen werden (sog. Teilverweis) 182 . Nicht selten findet sich am Ende des Arbeitsvertrages unter „Sonstige Regelungen" die Klausel, daß „ i m übrigen" tarifliche Bestimmungen zur Anwendung gelangen sollen. Im Hinblick auf die Reichweite arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln hat sich die folgende Terminologie eingebürgert 183: (1) Statische Bezugnahmeklausel: Bei dieser wird auf einen bestimmten, an einem näher definierten Stichtag gültigen Tarifvertrag verwiesen, z.B.: „Es gilt der Tarifvertrag X in seiner Fassung vom [...]." (2) Kleine dynamische Bezugnahmeklausel·. Alternativ können die Vertragsparteien die Bezugnahme in zeitlicher Hinsicht dynamisch gestalten, indem sie 179

Siehe nur Richardi, BetrVG, 8. Aufl., § 77 Rz. 288 f. Emeut Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993, S. 62. 181 Dazu m. w. Nachw. Schliemann, ZTR 2004, 502, 507; Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361, 1367. 182 Zu damit in Verbindung stehenden Fragen der Inhaltskontrolle Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361, 1363. 183 Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, Rn. 74 ff.; Heinze, NZA 2001, Sonderheft, S. 73, 74; Annuß, BB 1999, 2558 f.; Seitz/Werner, NZA 2000, 1257, 1259. 180

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auf den fur das Unternehmen einschlägigen oder - was seltener vorkommt - einen branchenfremden Tarifvertrag in seiner jeweils gültigen Fassung verweisen, z.B.: „Es gilt der Tarifvertrag der Y-Branche in seiner jeweils gültigen Fassung." Das dürfte die in der Praxis am häufigsten vorkommende Gruppe arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln sein. (3) Große dynamische Bezugnahmeklausel: Zusätzlich kann die Bezugnahme auch in fachlicher Hinsicht dynamisch gestaltet werden. Dann verweisen die Vertragsparteien auf den jeweils für den Betrieb einschlägigen Tarifvertrag in seiner jeweiligen Fassung, z.B. „Es gilt der jeweils einschlägige Tarifvertrag in seiner jeweils gültigen Fassung." Das BAG nennt solche doppelt dynamischen Bezugnahmeklauseln „Tarifwechselklauseln". Es liegt auf der Hand, daß arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln, nimmt man sie beim Wort, weitreichende Auswirkungen auf die isoliert anhand der gesetzlichen Vorschriften in § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB gefundenen Ergebnisse hinsichtlich der Weitergeltung und Ablösung tariflicher Regelungen nach einem Betriebsübergang haben können. Da durch Verweisklauseln die in Bezug genommenen tariflichen Regelungen nicht normative Geltung erlangen, sondern zum Inhalt des Arbeitsvertrags werden 184 , findet § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB für sie keine Anwendung. Sie gehen vielmehr gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB als Bestandteil der individualvertraglichen Rechte und Pflichten des Arbeitnehmers vom alten auf den neuen Inhaber des Betriebs über. Dabei würde die kleine dynamische Bezugnahmeklausel wegen ihrer zeitlichen Dynamik dazu führen, daß die Arbeitnehmer auch weiterhin an zukünftigen Tarifentwicklungen partizipieren könnten; anders als bei § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB, der ja lediglich eine statische Weitergeltung tariflicher Normen vorsieht. Und Folge der zusätzlichen fachlichen Offenheit einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel könnte sein, daß nach dem Betriebsübergang nicht mehr der ehemals für den Veräußerer geltende Tarifvertrag, sondern ein anderer, beim Erwerber geltender Tarifvertrag Anwendung findet. Ein Ergebnis, das wegen der Rechtsprechung des BAG zum Erfordernis kongruenter Tarifgebundenheit im Rahmen des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB nur eintritt, sofern beide Tarifverträge von derselben Gewerkschaft geschlossen wurden. Sind damit alle gefundenen Ergebnisse wegen der praktischen Dominanz arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln Makulatur?

184

Heute allgemeine Meinung; siehe nur: BAG ν. 22.09.1993, EzA Nr. 8 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Wiedemann-Oeffer, TVG, 6. Aufl., § 3 Rz. 218 ff.; Löwisch/Rieble, TVG, 1992, § 3 Rz. 104; MünchArbR-Richardi, 2. Aufl., § 12 Rn. 16; Annuß, BB 1999, 2558; a.A. von Hoyningen-Huene y RdA 1974, 138, dessen Auffassung trotz ihrer beachtlichen Argumentation im Ergebnis nicht überzeugt; dazu Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193, 194 f.; Waas, ZTR 1999, 540, 542.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

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1. Gleichstellung tarifgebundener und tarifungebundener Arbeitnehmer (BAG) Die Antwort lautet: nein! Der Tarifsenat des BAG hat in einer Vielzahl von Entscheidungen der letzten drei bis vier Jahre den allgemeinen Rechtssatz geprägt, arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge seien in der Regel als sogenannte „Gleichstellungsabreden" zu verstehen 185; er hat seine Auffassung jüngst immer wieder gegen - teils heftige - Kritik im Schrifttum verteidigt 186 . Schließt ein tarifgebundener Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag, der eine Verweisklausel enthält, sieht das BAG den Zweck dieser Abrede in der Regel darin, die fehlende Tarifgebundenheit auf Arbeitnehmerseite mit dem Ziel zu ersetzen, die Arbeitsbedingungen für Gewerkschaftsmitglieder und Tarifaußenseiter im Unternehmen in gleicher Weise zu gestalten. Zweck der Bezugnahmeklausel sei bei Tarifgebundenheit des Arbeitgebers mit anderen Worten die Gleichbehandlung von tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern. Oder noch anders gewendet: Durch die Bezugnahmeklausel solle auf einzelvertraglicher Ebene nur das widergespiegelt werden, was für tarifgebundene Arbeitnehmer ohnehin kraft allgemeiner tarifrechtlicher Grundsätze gelte. Diese Interpretation durch die Rechtsprechung ermöglicht der Praxis für Fälle geänderter Tarifbindung infolge von Verbandsaustritt, Verbandswechsel oder Betriebsübergang den einfachen Schluß: Was für die tarifgebundenen Arbeitnehmer gilt, gilt qua individualrechtlicher Regelung grundsätzlich auch für nicht-tarifgebundene Arbeitnehmer, deren Arbeitsvertrag eine Bezugnahmeklausel enthält. Leading case dieser Rechtsprechung für die hier interessierende Konstellation des Betriebsübergangs war die Entscheidung des BAG vom 29.08.2001 187 , der verkürzt der folgende Sachverhalt zu Grunde lag: Beispiel 6: Die Klägerin war Arbeitnehmerin der G. GmbH & Co. KG. Diese Schloß im Jahr 1992 mit der IG Medien einen Firmentarifvertrag, wonach sich die Vergütung nach den jeweils geltenden Tarifsätzen für Angestellte des Zei185

Richtungsweisend BAG ν. 26.09.2001, BB 2002, 1264 (Lambrich); BAG ν. 29.08.2001, DB 2002, 431; BAG v. 21.02.2001, EzA Nr. 195 zu § 613 a BGB (Thüsing/Stelljes ); BAG v. 25.10.2000, DB 2001, 1891; BAG v. 30.08.2000, NZA 2001, 510; BAG v. 25.10.2000 - 4 AZR 506/99 (unveröff); BAG v. 04.08.1999, NZA 2000, 154; BAG v. 19.01.1999, NZA 1999, 879; BAG v. 04.09.1996, NZA 1997, 271. 186 BAG v. 19.03.2003, NZA 2003, 1207; BAG v. 22.01.2003, NZA 2003, 879; BAG v. 27.11.2002 - 4 AZR 661/01 (unveröff.); BAG v. 27.11.2002 - 4 AZR 540/01 (unveröff.); BAG v. 13.11.2002, AP Nr. 2 zu § 1 AVR Caritasverband; BAG v. 06.11.2002, AP Nr. 27 zu § 611 BGB Lohnanspruch; BAG v. 16.10.2002, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG v. 25.09.2002, NZA 2003, 807; BAG v. 25.09.2002, 4 AZR 295/01 (unveröff.); BAG v. 21.08.2002, NZA 2003, 442; BAG v. 27.02.2002, NZA 2002, 1402; BAG v. 16.05.2002, NZA-RR 2003, 221; BAG v. 20.06.2002, NZA 2003, 232; BAG v. 20.02.2002 - 4 AZR 524/00 (unveröff.); BAG v. 20.02.2002 - 4 AZR 741/00; BAG v. 23.01.2002 - 4 AZR 461/99 (unveröff.). 187 DB 2002, 431.

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tungsgewerbes in Hamburg richtete. Im gleichen Jahr vereinbarte sie mit der Klägerin, daß auf ihr Arbeitsverhältnis dieser Firmentarifvertrag in seiner jeweils gültigen Fassung Anwendung findet. Die Klägerin trat anschließend auch der IG Medien bei. Im Jahr 1997 veräußerte die G. GmbH & Co. KG ihren Betrieb an die Beklagte. Letztere ist selbst nicht tarifgebunden. Die Beklagte gab in den Jahren 1998 und 1999 die Erhöhungen des tariflichen Entgelts für Angestellte im Zeitungsgewerbe nicht an die Klägerin weiter. Diese machte daher Nachzahlung der Gehaltsdifferenz geltend und beantragte weiterhin festzustellen, daß die Beklagte zukünftig zur Vergütungszahlung in Höhe des im VerbandstarifVertrag für das Zeitungsgewerbe festgelegten Gehalts verpflichtet sei. Zu Recht? Nach Maßgabe der § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB ist die Antwort nach unseren bisherigen Erwägungen einfach. Eine vorrangige kollektivrechtliche Bindung des beklagten Arbeitgebers an den von der G GmbH & Co. KG mit der IG Medien geschlossenen FirmentarifVertrag kommt nicht in Betracht. Allein der Betriebsübergang führt nicht dazu, daß die Beklagte als Partei in diesen FirmentarifVertrag eintritt. Gelangt somit nur § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB zur Anwendung, folgt hieraus, daß die Klägerin nicht an weiteren Gehaltserhöhungen des VerbandstarifVertrags, der durch den nach Maßgabe dieser Vorschrift weitergeltenden FirmentarifVertrag in Bezug genommen wurde, teilhat. Die Weitergeltung nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB ist eine bloß statische. Das BAG ging weiter davon aus, daß der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auf Weitergabe zukünftiger Tariflohnerhöhungen auch nicht auf Grund der zwischen ihr und der G. GmbH & Co. KG vereinbarten, gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB auf die Beklagte übergegangenen Bezugnahmeklausel zustehe. Die Bezugnahmeklausel solle lediglich widerspiegeln, was tarifrechtlich gelte. Sie ersetze lediglich die fehlende Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in der tarifschließenden Gewerkschaft und stelle ihn so, als wäre er tarifgebunden. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Was für tarifgebundene Arbeitgeber gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB gilt, nämlich die bloß statische Weitergeltung tariflicher Regelungen, gilt für nicht tarifgebundene Arbeitgeber kraft der einzelvertraglichen Bezugnahmeklausel. Den klaren Wortlaut von Bezugnahmeklauseln, die auf den Tarifvertrag in seiner jeweils gültigen Fassung verweisen (sog. kleine dynamische Bezugnahmeklausel), läßt der Tarifsenat des BAG bei seiner Interpretation gänzlich außen vor. Den Grund hierfür hat das Gericht bereits in einer früheren Entscheidung vom 04.08.1999 188 geliefert: Dort hat der Senat ausgeführt, daß erne Bezugnahmeklausel, sofern der neue Inhaber nach einem Betriebsübergang nicht tarifgebunden sei, ihre „materiell-rechtliche Bedeutung" verliere, sprich:

188

NZA 2000, 154, 155.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

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ihre in der Klausel klar formulierte zeitliche Dynamik einbüße 189 . Denn der Zweck der vertraglichen Gleichstellung von nicht organisierten und tarifgebundenen Arbeitnehmern könne bei einem nicht tarifgebundenen neuen Betriebsinhaber nicht mehr erreicht werden. Wie aber sieht es mit der „materiell-rechtlichen Bedeutung" einer Bezugnahmeklausel aus, wenn mit einem Betriebsteilübergang ein Branchenwechsel einhergeht und der neue Betriebsinhaber anderweitig tarifgebunden ist? Hierzu der zweite leading case des BAG vom 30.08.2000 190 , der sich - wie so oft bei § 613 a BGB - mit der Ausgliederung einer Betriebsküche befaßte: Beispiel 7: Der Veräußerer war an den Tarifvertrag für die Angestellten und Arbeiter in Berliner Privatkrankenanstalten gebunden. Der Erwerber ist Mitglied der Hotel- und Gaststätteninnung Berlin und Umgebung e.V. Nach Übertragung der Betriebsküche wurden die dort beschäftigten Arbeitnehmer nach dem geringeren Niveau des Hotel- und Gaststättengewerbes entlohnt, obwohl in den übergegangenen Formulararbeitsverträgen eine dynamische Verweisung auf den Tarifvertrag für Angestellte und Arbeiter in Berliner Privatkrankenanstalten enthalten war. Die Kernaussage dieser Entscheidung liegt darin, daß kleine dynamische Bezugnahmeklauseln nicht ohne weiteres als große dynamische Bezugnahmeklauseln verstanden werden können mit der Folge, daß sie sich nach einem Branchenwechsel - entgegen ihrem Wortlaut - auf den nunmehr fachlich einschlägigen Tarifvertrag beziehen 191 . Nach einer früheren Entscheidung vom 04.09.1996 192 zum Fall eines Verbandswechsels hätte man einen solchen Tarifwechsel kraft Bezugnahmeklausel durchaus annehmen können. Damals hatte das BAG ausgeführt, der Gehalt einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel erschöpfe sich nicht darin, daß das Arbeitsverhältnis den in ihr genannten Tarifverträgen in der jeweils gültigen Fassung unterstellt werde. Die arbeitsvertragliche Verweisklausel müsse vielmehr dahingehend korrigierend ausgelegt werden, daß die Bezugnahme auf den jeweils geltenden Tarifvertrag erfolge. Aus der kleinen wurde also damals kurzerhand eine große dynamische Bezugnahmeklausel. Nunmehr aber meint der Senat - gewissermaßen in Korrektur seiner korrigierenden Auslegung-, mit einer Gleichstellungsabrede als solcher sei nicht zwingend die Rechtsfolge eines Tarifwechsels verbunden. Zu einem

189

So jetzt ganz klar für den Fall eines Betriebsübergangs BAG ν. 16.10.2002, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; siehe auch Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 13. 190 NZA 2001,510. 191 Bestätigt etwa in BAG ν. 16.10.2002, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag: BAG ν. 25.09.2002 - 4 AZR 294/01 unter II 2 c der Gründe; BAG ν. 25.09.2002 - 4 AZR 295/01 unter II 2 c der Gründe. 192 NZA 1997, 271.

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Wechsel des Bezugsobjekts komme es nach einem Branchenwechsel grundsätzlich nur bei einer großen dynamischen Bezugnahmeklausel; der Senat spricht anschaulicher von einer „Tarifwechsel- oder Transformationsklausel". Eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel sei nur ausnahmsweise als Tarifwechselklausel zu verstehen, wenn besondere Umstände vorlägen, die belegten, daß darin auch die Vereinbarung enthalten sei, es sollten für den Betrieb bzw. den Betriebsteil die jeweils fachlich/betrieblich einschlägigen Tarifverträge anzuwenden sein 193 . Enthalten Arbeitsverträge große dynamische Bezugnahmeklauseln (oder: Tarifwechselklauseln), ist jedoch überdies nach den Grundsätzen der bereits genannten Entscheidung vom 04.08.1999 194 zu prüfen, ob diesen nach einem Betriebs- oder Betriebsteilübergang „materiell-rechtliche Bedeutung" zukommt. Das ist nur der Fall, sofern der neue Betriebsinhaber selbst - anderweitig - tarifgebunden ist. Liegt Tarifgebundenheit nicht vor, begründet die Bezugnahmeklausel weder einen Anspruch auf die in dem für den Veräußerer fachlich einschlägigen Tarifvertrag enthaltenen Bedingungen noch auf diejenigen, welche in dem für den Erwerber fachlich einschlägigen Tarifvertrag normiert sind. Es bleibt bei einer statischen Weitergeltung des ehemals beim Veräußerer in Bezug genommenen Tarifvertrags entsprechend § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB 1 9 5 . Die Leitlinien des BAG zum Schicksal von arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln im Falle des Betriebsübergangs lassen sich somit wie folgt zusammenfassen: (1) War der Veräußerer tarifgebunden, sind Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge als Gleichstellungsabreden zu verstehen. Ihr entscheidender Zweck liegt darin, tarifgebundene und nicht tarifgebundene Arbeitnehmer gleich zu behandeln. (2) Ist der Erwerber nicht tarifgebunden, führen Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge lediglich dazu, daß die Regelungen des in Bezug genommenen Tarifvertrags statisch mit ihrem zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestehenden Inhalt weitergelten. 193

Ebenso Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 13; im vornehmlich arbeitgebemahen - Schrifttum wird nach wie vor die ergänzende Auslegung kleiner dynamischer Bezugnahmeklauseln als Tarifwechselklausel favorisiert; siehe etwa Gaul, ZfA 2003, 75, 97. 194 NZA 2000, 154, 155. 195 So jetzt ganz klar BAG ν. 16.10.2002, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG ν. 25.09.2002 - 4 AZR 294/01 unter II 2 f bb der Gründe und BAG v. 25.09.2002 - 4 AZR 295/01 unter II 2 f bb der Gründe, jeweils unter Verweis auf BAG v. 29.08.2001, AP Nr. 17 zu §1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG ν. 26.09.2001, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG ν. 20.02.2002 4 AZR 524/00; siehe auch Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 13; Gaul, ZfA 2003, 75, 93 f.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

225

(3) Ein Tarifwechsel durch Inbezugnahme des für den Erwerber fachlich einschlägigen Tarifvertrags kommt grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn der Erwerber tarifgebunden ist und es sich um eine sogenannte große dynamische Bezugnahmeklausel handelt.

2.

Allgemeine Auslegungsprinzipien und Inhaltskontrolle

Wie angedeutet, hat die „Gleichstellungsabreden"-Rechtsprechung des Tarifsenats im Schrifttum zahlreiche Kritiker auf den Plan gerufen 196 , in deren Schar sich auch der Verfasser eingereiht hat 197 . Das BAG hat sich in mehreren Judikaten mit dieser Kritik auseinandergesetzt 198, aber ist seiner Linie treu geblieben, weshalb selbst von entschiedenen Widersachern resignativ eingeräumt wird, daß weiterer Widerspruch zwecklos sein dürfte und der Blick sich vielmehr darauf richten sollte, welche praktischen Konsequenzen sich aus der Rechtsprechung ergeben 199. Letztere wurden soeben dargestellt. Dennoch sei gestattet, auch einige kritische Bewerkungen anzubringen. Denn die Auffassung des BAG wird durch stete Wiederholung nicht richtiger, ebenso wenig freilich, wie Kritik hieran durch Wiederholung erfolgversprechender werden dürfte. Unzutreffend ist bereits die grundlegende Prämisse des BAG vom vornehmlichen Gleichstellungscharakter arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge. Deren Gleichstellungszweck wurde von der Rechtsprechung ursprünglich für Arbeitsverhältnisse im Bereich des öffentlichen Dienstes begründet 200 . Dort macht er auch Sinn, da dem BAT für Angestellte des öffentlichen Dienstes gewissermaßen die Bedeutung eines privatrechtlichen Besoldungsgesetzes zukommt, an das öffentliche Arbeitgeber ausnahmslos gebunden sind und das aus Gleichbehandlungserwägungen für tarifgebundene ebenso wie für tarif-

196 Annuß, BB 1999, 2558; derselbe, AuR 2002, 361; derselbe, Anmerkung zu BAG ν. 04.08.1999, RdA 2000, 179; Annuß/Thüsing, Anmerkung zu BAG ν. 19.01.2000, EzA Nr. 11 zu §4 TVG Bundespost; Stein, AuR 2003, 361; Danne, Anmerkung zu BAG v. 04.09.1996, SAE 1998, 111; Däubler, NZA 1996, 225, 228; auch Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Übertragung und Umstrukturierung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 604; kritisch zur Argumentation des BAG, aber letztlich mit gleichem Ergebnis Henssler/Heiden, RdA 2004, 242. 197 Lambrich, BB 2002, 1267; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193; Thüsing/Lambrich, NZA 2002, 1361. 198 Siehe insbesondere BAG ν. 19.03.2003, NZA 2003, 1207 und BAG ν. 21.08.2001, NZA 2003,442. 199 Thüsing, NZA 2003, 1184, 1185; Annuß, AuR 2002, 361. 200 BAG v. 14.02.1973, AP Nr. 6 zu § 4 TVG Nachwirkung (Wiedemann ); BAG v. 29.01.1975, AP Nr. 8 zu § 4 TVG Nachwirkung (Wiedemann ); BAG v. 07.12.1977, AP Nr. 9 zu § 4 TVG Nachwirkung (Herschet)\ BAG ν. 06.12.1990, AP Nr. 2 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG ν. 23.04.1986, AP Nr. 118 zu §§ 22, 23 BAT 1975.

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ungebundene Arbeitnehmer gilt 2 0 1 . Auf den privatrechtlichen Sektor hat das BAG seine „Gleichstellungs"-Theorie zunächst bewußt nicht 202 , dann allerdings ebenso unvermittelt wie unreflektiert übertragen 203. Eine sorgsame Auslegung der in den jeweiligen Entscheidungen zu beurteilenden Bezugnahmeklauseln nach den überkommenen Prinzipien juristischer Hermeneutik fand schlicht nicht statt 204 . Nahezu apodiktisch und mit eindimensional arbeitgeberseitigem Blick 2 0 5 wurde behauptet, tarifgebundene Arbeitgeber verfolgten mit der Vereinbarung von Verweisklauseln auf den Tarifvertrag vornehmlich den Zweck, tarifgebundene und nicht tarifgebundene Arbeitgeber gleich zu behandeln. Das vernachlässigt bereits die weiteren, letztlich nicht minder wichtigen Vorteile einer Inbezugnahme tariflicher Normen für den Arbeitgeber 206 : Man denke an die Vereinfachung der Vertragsgestaltung, das Ersparnis zukünftiger Vertragsanpassungen durch dynamische Bezugnahmeklauseln, die Schaffung von Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt und nicht zuletzt die Verhinderung des Gewerkschaftsbeitritts nicht organisierter Arbeitnehmer. Insbesondere aber wird es dem Arbeitgeber primär darum gehen, die Lohn- und Arbeitsbedingungen mit dem jeweiligen Arbeitnehmer inhaltlich zu gestalten207. Dies ist für sämtliche Austauschverträge der gemeinsame Vertragszweck der Parteien 208 ; beim Arbeitsvertrag kann nichts anderes gelten. Die soeben genannten Erwägungen, warum dies in Anlehnung an tarifliche Normen geschehen soll, einschließlich der damit jedenfalls auch verfolgten Gleichbehandlung, haben im Vergleich zu dem in der Vertragsgestaltung selbst liegenden Zweck lediglich Motivcharakter 209 . Daraus aber folgt nach allgemeinen Grundsätzen, daß ihnen

201

Thüsing/Lambrich, RdA 2002. 193, 197. BAG ν. 22.08.1979, AP Nr. 3 zu § 611 BGB Deputat (Herschel). 203 BAG ν. 20.03.1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz {Hanau/Kania)·, das Schrifttum stimmt der Rechtsprechung überwiegend zu; siehe nur Gaul, ZfA 2003, 75, 76 und 92; Soergel-/toaZ>, BGB. 12. Aufl., §613 a Rz. 130; Bauer/Haußmann, DB 2003,610,611. 204 Siehe die Analyse der Rechtsprechung bei Thüsing/Lambrich^ RdA 2002, 193, 199 f. 205 Kritisch insoweit auch Annuß, BB 1999, 2558, 2559. 206 Hierzu LAG Hamburg v. 15.11.2000, NZA 2000, 562, 565; Hanau/Kania, FS für Schaub, 1998, S. 239, 246; Kania, NZA 2000, Beilage Heft 3, S. 45; Seitz/Werner, NZA 2000, 1257; Schaub, ZTR 2000, 259; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193, 200. 207 Annuß, BB 1999, 2558, 2560. 208 Siehe nur Flume, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl., S. 171 f.; Medicus, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 7. Aufl., S. 213; Wank, RdA 1998, 71, 76. 209 Hanau/Kania, FS für Schaub, 1998, S. 239, 246; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193,200. 202

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

227

für die Auslegung einer vertraglichen Klausel keine entscheidende Bedeutung zukommen kann 210 . Dies gilt erst recht, da der behauptete Gleichbehandlungszweck dem Arbeitnehmer als Vertragspartner weder bekannt noch für ihn erkennbar ist. Betrachten wir die typische arbeitsrechtliche Vertragsanbahnungssituation: In aller Regel ist es der Arbeitgeber, der dem Arbeitnehmer den Abschluß eines - meist vorformulierten - Arbeitsvertrags anbietet. Eine im Arbeitsvertragsformular enthaltene Verweisklausel auf tarifliche Normen wird der Arbeitnehmer, wie alle weiteren vertraglichen Klauseln auch, allein als inhaltliche Regelung des abzuschließen beabsichtigten Arbeitsverhältnisses auffassen 211. Aus seiner Sicht - und nur auf diese kommt es nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen des Empfängerhorizonts a n 2 1 2 - enthält die Bezugnahmeklausel die Zusage, daß hinsichtlich der von ihr erfaßten Regelungsmaterie im Rahmen ihrer gegenständlichen und zeitlichen Reichweite (statisch, zeitlich dynamisch, fachlich dynamisch) die in Bezug genommenen Tarifbedingungen das Arbeitsverhältnis bestimmen sollen. Über etwaige dahinterliegende Motive seines zukünftigen Vertragspartners wird der Arbeitnehmer sich in aller Regel keine Gedanken machen. Erst recht nicht über einen vermeintlich verfolgten Gleichstellungszweck, denn ob der Arbeitgeber tarifgebunden ist, dürfte dem Arbeitnehmer in den allermeisten Fällen gar nicht bekannt sein 213 . Das BAG meint hierzu, die 210

Der von mir vertretenen Auffassung ausdrücklich zustimmend Stein, AuR 2003, 361, 363; siehe auch Annuß, AuR 2002, 361, 363. 211 LAG Frankfurt v. 23.03.1999, NZA-RR 2000, 93, 94 f.; LAG Hamburg v. 15.11.2000, NZA 2001, 562, 566 f.; Annuß, RdA 2000, 179, 180; derselbe, BB 1999, 2558, 2560; Annuß/Thüsing, Anmerkung zu BAG ν. 19.01.2000, EzA Nr. 11 zu §4 TVG Bundespost; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193, 198; Danne, SAE 1998, 111, 114; Hohenstatt, DB 1002, 1678, 1683. 212 Eine - seitens des BAG im hiesigen Zusammenhang dauerhaft ignorierte - zivilrechtsdogmatische Selbstverständlichkeit; siehe nur RG v. 17.09.1919, RGZ 96, 273, 276; BGH v. 03.02.1967, NJW 1967, 673. 213 Annuß, RdA 2000, 179, 180; derselbe, AuR 2002, 361, 363; Annuß/Thüsing, Anmerkung zu BAG v. 19.01.2000, EzA Nr. 11 zu § 4 TVG Bundespost; Däubler, NZA 1996, 225, 228; Stein, AuR 2003, 361, 363. Wenn demgegenüber vereinzelt behauptet wird, der Arbeitnehmer könne bei Vertragsschluß regelmäßig davon ausgehen, daß der Arbeitgeber tarifgebunden sei (so Reichel, Die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf den Tarifvertrag, 2001, S. 82; ähnlich Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 9), verkennt das völlig die durch Verbandsaustritt und Tarifflucht bestimmten Realitäten. Haußmann, FS für Schwerdtner, S. 89, 92 führt an, viele Arbeitgeber wüßten nicht, daß sie zur Anwendung von durch ihren Arbeitgeberverband geschlossenen Tarifverträgen nur Gewerkschaftsmitgliedern gegenüber verpflichtet seien. Überdies wollten Arbeitgeber durch Aufnahme von Bezugnahmeklauseln in den Arbeitsvertrag ihrer gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 10 NachwG bestehenden Nachweispflicht nachkommen, was für die Arbeitnehmer erkennbar sei (Haußmann, a.a.O., 93 f.; Bauer/Haußmann, DB 2003, 610, 613). Daß das Nachweisgesetz bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Praxis so bekannt ist, daß sich ihr Wille bei Abschluß von Arbeitsverträgen danach richtet, kann jedoch nicht emsthaft behauptet werden. Die Argumente sind letztlich untaugliche Ret-

228

Thomas Lambrich

mangelnde Kenntnis sei nicht ausschlaggebend, der Arbeitnehmer könne ja schließlich - anders als der Arbeitgeber - bei der Vertragsanbahnung nach der Verbandsmitgliedschaft seines Vertragspartners fragen 214. Nur: Warum sollte er das tun, wenn er einen Vertrag angeboten bekommt, in dem - offensichtlich unabhängig von der eigenen Tarifgebundenheit - vom Arbeitgeber durch Verweisklausel die Geltung tariflicher Lohn- und Arbeitsbedingungen festgelegt wird 215 ? Das BAG begründet seine gegenteilige Sichtweise maßgeblich mit Hinweis auf die besonderen arbeitsrechtlich vorstrukturierten Bedingungen bei Abschluß des Arbeitsvertrags 216. Der Arbeitgeber kenne zu diesem Zeitpunkt die durch Gewerkschaftsmitgliedschaft begründete Tarifgebundenheit des Arbeitnehmers nicht und dürfe nach dieser auch nicht fragen. Um die Gleichstellung tarifgebundener und nicht tarifgebundener Arbeitnehmer zu erreichen, müsse er daher in sämtliche Arbeitsverträge Bezugnahmeklauseln aufnehmen. Darüber hinaus würden Bezugnahmeklauseln zumeist nicht auf Grund einer entsprechenden Verhandlungsforderung des Arbeitnehmers in den Vertrag aufgenommen; sie seien vielmehr aus dem soeben genannten Grund bereits in dem vom Arbeitgeber vorformulierten Arbeitsvertrag enthalten. Es sei daher nicht Ausdruck eines erkennbaren Regelungswillens des Arbeitnehmers, eine feste dynamische Bezugnahme auf die tarifliche Regelung zu erreichen. Diese, letztlich auf dem Frage verbot hinsichtlich der Gewerkschaftszugehörigkeit beruhenden, objektiven Umstände seien vom Empfängerhorizont des vertragschließenden Arbeitnehmers aus erkennbar. Auf einer von der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers unabhängigen Formulierung einer arbeitsvertraglichen Verweisklausel auf Tarifnormen zu bestehen, obliege daher dem Arbeitnehmer 217 . Für eine solche Verlagerung der Regelungslast vom Arbeitgeber auf den Arbeitnehmer gibt es indessen keinen Grund 218 : Erstens ist es der Arbeitgeber, der die Formulierungsgewalt über von ihm angebotene, meist bei ihm vorformulierte Arbeitsverträge hat. Zweitens besteht überhaupt kein Anlaß für den Arbeitnehmer, auf einer von der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers unabhängi-

tungsversuche, um einen für den Arbeitnehmer erkennbaren Willen des Arbeitgebers zu begründen, der tatsächlich nicht vorliegt, zumindest nicht erkennbar ist. 214 Siehe so insbesondere BAG ν. 19.03.2003, NZA 2003, 1207, 1208. 215 Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193, 199. 216 Grundlegend die Entscheidung BAG ν. 26.09.2001, BB 2002, 1264, 1265 ÇLambrich) ι, auf welche sich der Senat in späteren Entscheidungen insoweit immer wieder stützt; siehe beispielhaft BAG ν. 19.03.2003, NZA 2003, 1207; kritisch zu dieser insoweit Henssler/Heiden, RdA 2004, 242, 243; zum Ganzen Schliemann, ZTR 2004, 502, 509. 217 BAG v. 26.09.2001, BB 2002, 1264, 1266 0Lambrich); so auch Schliemann, ZTR 2004, 502, 509. 2,8 Ganz klar Stein, AuR 2003, 361, 363 f.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

229

gen Formulierung zu bestehen, weil und soweit aus der angebotenen Vertragsklausel nicht ansatzweise erkennbar ist, daß die Bezugnahme auf tarifliche Regelungen wegen eines übergeordneten Gleichstellungszwecks von der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers abhängen soll. Ob letzteres wegen bei Vertragsschluß bestehender Tarifgebundenheit des Arbeitgebers der Fall ist, darüber machen sich die Vertragspartner schlichtweg keine Gedanken. Gedanken hierüber muß sich erst das Gericht machen, sofern es irgendwann, etwa nach einem Betriebsübergang, zu einer Auseinandersetzung über Bedeutung und Inhalt der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel kommt. Erst dann muß aus der Retrospektive eruiert werden, ob der Arbeitgeber bei Vertragsschluß tarifgebunden war. Denn davon soll entscheidend abhängen, ob die Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede zu verstehen sein soll oder - mangels Tarifgebundenheit des Arbeitgebers - einfach nur so, wie sie im Vertragstext niedergelegt wurde: als Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen mittels konstitutiver Bezugnahme auf tarifliche Bestimmungen 219 . Will der Arbeitgeber Bezugnahmeklauseln in Formulararbeitsverträgen als von seiner Tarifgebundenheit abhängige Gleichstellungsabreden verstanden wissen, muß dies im Vertragstext selbst klar und unmißverständlich zum Ausdruck kommen 220 . Das ergibt sich einerseits aus dem nach § 310 Abs. 2 Satz 2 BGB auch für Formulararbeitsverträge geltenden Transparenzgebot in § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB. Dieses verlangt, daß vorformulierte Verträge oder Vertragsteile klar und verständlich verfaßt sein müssen; andernfalls kann sich allein aus der unzureichenden Form eine unangemessene Benachteiligung des Arbeitnehmers im Sinne der Generalklausel des § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB ergeben. Überdies ist die Unklarheitenregelung des § 305 c Abs. 2 BGB zu beachten221, die besagt, daß Zweifel bei der Auslegung Allgemeiner Arbeitsbedingungen zu Lasten des Verwenders, also des Arbeitgebers gehen. Daraus folgt, daß hinsichtlich Inhalt und Reichweite unklare Bezugnahmeklauseln im für die Arbeitnehmer günstigsten Sinne auszulegen sind 222 . In seiner Entscheidung vom 219 Die Voraussetzung der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers für das Verständnis arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge wird insbesondere betont von BAG v. 25.09.2002, NZA 2003, 807 ff.; dazu auch Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 8; derselbe, ZTR 2004, 502, 507; Thüsing, NZA 2003, 1184, 1185; Stein, AuR 2003, 361, 362; zu Recht auf die Inkonsequenz der anhand der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers differenzierenden Rechtsprechung hinweisend Annuß, AuR 2002, 361,363. 220 Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193, 201; geschieht dies nicht, gehen Henssler/Heiden, RdA 2004, 242, 243 f. vom Vorliegen einer Regelungslücke aus, die sie auf dem Wege ergänzender Vertragsauslegung entsprechend dem vom BAG vertretenen Gleichstellungszweck der Bezugnahmeklausel schließen wollen. 221 So auch Stein, AuR 2003, 361, 363; dagegen unter Verweis auf den Vorrang der ergänzenden Vertragsauslegung Henssler/Heiden, RdA 2004, 242, 244. 222 Däubler, NZA 2001, 1329, 1334; Gotthardt, ZIP 2002, 277, 281; Lingemann, NZA 2002, 181, 186.

230

Thomas Lambrich

19.03.2003 hat das BAG den auf der Unklarheitenregelung basierenden Einwand gegen seine Deutung von Bezugnahmeklauseln als Gleichstellungsabreden auszuräumen versucht 223 . Es hält § 305 c Abs. 2 BGB bereits tatbestandlich nicht für einschlägig. Voraussetzung sei, daß Zweifel bei der Auslegung des Formulararbeitsvertrags bestünden. Dies aber sei nach der von ihm ausführlich dargelegten Interessenlage beim Abschluß von Formulararbeitsverträgen nicht der Fall. Zweifel an der Auslegung einer Bezugnahme auf die einschlägigen Tarifregelungen in einem vom Arbeitgeber vorformulierten Arbeitsvertrag als Gleichstellungsabrede seien nicht als berechtigt anzuerkennen. „Der Umstand", so der Senat wörtlich, „daß die Gleichstellungsabrede eindeutiger ... formuliert werden könnte, begründet für sich allein keinen Zweifel im Sinne der Unklarheitenregel." Ende der Begründung. In der Tat: Nur von Zweifeln bei der Formulierung zu sprechen, obwohl die Vertragsformulierung keinerlei Anhaltspunkt für eine Auslegung der Bezugnahmeklausel als Gleichstellungsabrede liefert, greift letztlich sogar zu kurz. Eher kann von Gewißheit die Rede sein, allerdings nicht in Richtung der seitens des BAG unterstellten Interpretation. Dessen Argumentationstaktik ist allzu offensichtlich: Zweifel werden mit Hinweis auf die eigene Auslegung apodiktisch verneint, um berechtigte Zweifel an eben dieser eigenen Auslegung bereits im Keim zu ersticken. Daß man in Anbetracht dergestalt „begründeter" Richtersprüche auf eine Änderung der Rechtsprechung vergebens warten dürfte, daran dürfte wohl leider kein Zweifel bestehen.

3.

Konstitutive Vertragsgestaltung durch Bezugnahmeklauseln

Nach hier vertretenem Verständnis haben arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln auf Tarifverträge den Zweck, die bei beiderseitiger Tarifgebundenheit unmittelbar und zwingend wirkenden Tarifnormen unabhängig von der Organisationszugehörigkeit der Vertragsparteien zum Inhalt des Arbeitsvertrags zu machen 224 . Hieraus folgt, daß solchen Verweisklauseln sowohl für nicht tarifgebundene als auch für tarifgebundene Arbeitnehmer konstitutive Bedeutung zukommt 225 . Da der Arbeitgeber den Arbeitnehmer bei Vertragsanbahnung nicht

223 BAG ν. 19.03.2003, NZA 2003, 1207, 1208 f.; zu Recht kritisch hierzu Thüsing, NZA 2003, 1184, 1185; wie das BAG hingegen Haußmann, FS für Schwerdtner, S. 89, 97. 224 Ebenso LAG Hamburg v. 15.11.2001, 562, 566; Annuß, RdA 2000, 179, 180; derselbe, AuR 2002, 361, 364. 225 So jetzt auch BAG ν. 19.03.2003, NZA 2003, 1207; zuvor bereits LAG Hamburg v. 15.11.2000, NZA 2001, 562, 566 f., Staudinger-Richardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., § 613 a Rz. 202; Annuß, RdA 2000, 179, 180; derselbe, BB 1999, 2558; Hanau/Kania, FS für Schaub, 1998, S. 239, 248; Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 6; derselbe, ZTR 2004, 502, 507; Seitz/Werner, NZA 2000, 1257, 1260; Gaul, BB 2000, 1086, 1087; Bauer/Haußmann, DB 2003, 610, 611; Hohenstatt, in: Willemsen

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

231

nach dessen Gewerkschaftsangehörigkeit fragen darf, könnte er sich auf einen bloß deklaratorischen Verweis auf Tarifnormen nicht verlassen und ist eine solche somit auch nicht gewollt 226 . Auch der Arbeitnehmer wird eine Bezugnahmeklausel auf tarifliche Regelungen aus seinem Empfängerhorizont stets als konstitutive Vertragsklausel begreifen. Er geht davon aus, daß der Arbeitgeber, obwohl dieser hinsichtlich seiner Gewerkschaftszugehörigkeit weder positive noch negative Kenntnis hat, dennoch - in jedem Fall - den Verweis auf Tarifnormen in den Arbeitsvertrag aufnehmen möchte. Für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer finden die in Bezug genommenen Tarifnormen ausschließlich kraft einzelvertraglicher Vereinbarung Anwendung. Für tarifgebundene Arbeitnehmer geht die normative Wirkung gemäß §§3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG vor; die latent daneben bestehende individualrechtliche Geltung erlangt erst dann, aber auch immer dann Geltung, wenn hinsichtlich der beiderseitigen Tarifgebundenheit und damit im Hinblick auf die normative Wirkung der tariflichen Inhalte Änderungen eintreten . Dies ist u.a. der Fall, wenn nach einem Betriebs- oder Betriebsteilübergang der neue Inhaber nicht mehr oder anders tarifgebunden ist. Insoweit ist hinsichtlich der Auswirkungen von arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln nach deren unterschiedlicher Reichweite wie folgt zu unterscheiden:

u.a., Übertragung un Umstrukturierung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 603; Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193, 201 f. 226 Für eine bloß deklaratorische Bedeutung von Bezugnahmeklauseln für tarifgebundene Arbeitnehmer noch BAG ν. 09.12.1981, BAGE 37, 228; offen gelassen von BAG v. 26.09.2001, BB 2002, 1264, 1266 f. CLambrich); Heinze, NZA 2001, Sonderheft, S. 73, 74; Schaub, ZTR 2000, 259; von Hoyningen-Huene, RdA 1974, 138, 146. 227 Das ergibt sich aus einer konsequenten Anwendung des in § 4 Abs. 1 TVG verankerten Günstigkeitsprinzips; dieses verleiht vertraglichen Absprachen nur Vorrang vor unmittelbar wirkenden Tarifhormen, wenn und soweit die vertragliche Regelung im Ergebnis für die Arbeitnehmer günstiger ist; dazu Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193, 202; im Ergebnis ähnlich Schliemann, NZA 2003, Sonderbeilage Heft 16, S. 3, 9: Bezugnahmeklausel geht „ins Leere". Uberwiegend wird eine Anspruchskonkurrenz zwischen der unmittelbar und kraft Verweisklausel geltenden Regelung angenommen; siehe Annuß, RdA 2000, 179, 180; derselbe, BB 1999, 2558; Seitz/Werner, NZA 2000, 1257, 1260; Hromadka, DB 1996, 1872, 1877; im Ansatz so auch BAG ν. 26.09.2001, BB 2002, 1264, 1266 f. (Lambrich); BAG ν. 27.11.2002 - 4 AZR 661/01 unter II 2 b bb (2) der Gründe; wohl auch Schliemann, ZTR 2004, 502, 507: „Kumulierung und Konkurrenz der Wirkungsmethoden". 228 Zu weiteren Fallgestaltungen ausführlich Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193, 202 ff.

Thomas Lambrich

232

a)

Statische Bezugnahmeklauseln

Wird im Arbeitsvertrag auf einen ganz bestimmten Tarifvertrag Bezug genommen, ist ein Betriebs(teil)übergang auf die Bezugnahmeklausel ohne Auswirkungen. Es gilt nach wie vor der explizit in Bezug genommene Tarifvertrag in der vertraglich näher spezifizierten Fassung. Insoweit besteht kein Unterschied zur Rechtsprechung des B A G 2 2 9 . Sorgsam zu prüfen ist, ob die Arbeitsvertragsparteien in der Tat einen ganz bestmimten Tarifvertrag und nur diesen in Bezug nehmen wollten oder ob nicht doch nach dem Parteiwillen über den Wortlaut der Klausel hinaus eine dynamische Verweisung gewollt war; im Zweifelsfall dürfte letzteres anzunehmen sein 230 .

b)

Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln

Unabhängig davon, ob der Erwerber überhaupt oder anderweitig tarifgebunden ist, behalten die Arbeitnehmer auf Grund einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel ihren Anspruch auf die tariflichen Bedingungen des in dieser in Bezug genommenen Tarifvertrags. Sie nehmen insbesondere auch an zukünftigen Tarifentwicklungen teil, haben also etwa einen Anspruch auf Weitergabe zukünftiger Tariflohnerhöhungen 231. Für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer ergibt sich das unmittelbar aus § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB 2 3 2 . Im Hinblick auf tarifgebundene Arbeitgeber greift zunächst § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB. Die Weitergeltung tariflicher Bestimmungen anhand dieser Vorschrift aber ist statisch, die Bezugnahmeklausel hingegen dynamisch, so daß letztere wieder auflebt, sobald sie aus Sicht des Arbeitnehmers auf Grund zukünftiger Tarifänderungen im Vergleich zum Tarifniveau zum Zeitpunkt des Betriebs(teil)übergangs günstigere Lohn- und Arbeitsbedingungen schafft. Zwischen § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB und § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB gilt als allgemeine Kollisionsregel das Günstigkeitsprinzip 233. Dem wird insbesondere entgegen gehalten, daß es hierdurch zu einer „ewigen" dynamischen Bindung an den in Bezug genommenen, im Falle eines mit dem Betriebs(teil)übergang einhergehenden Branchenwechsels für den Erwer-

229

BAG ν. 25.10.2000, DB 2001, 1891. Annuß, AuR 2002, 361; Gaul, NZA 1998, 9, 11; derselbe, ZfA 2003, 75, 98; Bauer/Diller, DB 1993, 1085, 1087. 231 Ebenso Annuß, BB 1999, 2558, 2561; siehe auch Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Übertragung un Umstrukturierung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 612. 232 Hromadka/Maschmann/Wallner, Der Tarifwechsel, 1996, S. 150. 233 Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193, 211. 230

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

233

ber nicht einmal einschlägigen Tarifvertrag kommen könne 234 . Dies mag man aus - wohlgemerkt: einseitigen - ökonomischen Erwägungen fur wenig wünschenswert halten. Doch der Arbeitgeber hat es in der Hand, diese Konsequenz durch sorgsame Formulierung der in seinen Arbeitsverträgen verwendeten Bezugnahmeklauseln zu verhindern. Geschieht dies nicht, besteht kein Anlaß, von einer methodengerechten Auslegung arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln abzusehen und dem Arbeitgeber mit dem diesen unterstellten Verständnis als bloße Gleichstellungsabreden zur Hilfe zu eilen. Ausnahmefällen, in denen eine dynamische Bindung an zukünftige Tarifentwicklungen die Schwelle der Unzumutbarkeit überschreitet, kann überdies im Wege der Vertragsanpassung nach Maßgabe der Grundsätze der Störung der Geschäftsgrundlage begegnet werden 235 .

c)

Große dynamische Bezugnahmeklauseln

Im Einklang mit der Rechtsprechung des BAG ist anzunehmen, daß eine große dynamische Bezugnahmeklausel bei einem Betriebs(teil)übergang, der mit einem Branchenwechsel einhergeht, zum Wechsel des in Bezug genommenen Tarifvertrags führen kann. Anders als das BAG meint, behält eine solche Bezugnahmeklausel allerdings auch dann ihre „materiell-rechtliche Bedeutung", wenn der Erwerber nicht tarifgebunden ist 2 3 6 . Lag Tarifgebundenheit des Veräußerers vor und ist der Arbeitnehmer Mitglied derjenigen Gewerkschaft, die den für den Veräußererbetrieb geltenden Tarifvertrag abgeschlossen hat, kommt es erneut zu einer Kollision zwischen den dieserhalb gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB beim Erwerber weitergeltenden Tarifnormen des für den Veräußerer maßgeblichen Tarifvertrags und dem für den Erwerberbetrieb einschlägigen Tarifvertrag; letzterer findet auf das Arbeitsverhältnis auf Grund der großen dynamischen Bezugnahmeklausel Anwendung. Zur Lösung dieser Kon234

Kania, NZA 2000, Beilage Heft 3, S. 45, 47; Seitz/Werner, NZA 2000, 1257, 1261. Unter Hinweis auf eine behauptete Schlechterstellung tarifgebundener Arbeitnehmer wird teilweise eine analoge Anwendung des § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB erwogen; siehe MünchKomm-Schaub, BGB, 3. Aufl., §613 a Rz. 195; Henssler, FS für Schaub, 1998, S. 311, 322; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, 1997, S. 785; Schipp, NZA 1994, 865, 869; das ist allerdings ein bloßes „Scheinargument", da - wie auch das BAG unterstellt - stets sämtliche Arbeitsverträge ungeachtet der bestehenden oder fehlenden Gewerkschaftszugehörigkeit des Arbeitnehmers Bezugnahmeklauseln enthalten; dazu Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193, 211 f. 235 Zu den Voraussetzungen im einzelnen insoweit Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193, 205 und 212; im Ergebnis entsprechend, aber methodisch auf dem Wege ergänzender Vertragsauslegung Henssler/Heiden, RdA 2004, 242, 245 f. 236 Insoweit ebenso Gaul, ZfA 2003, 75, 93; derselbe, BB 2000, 1086, 1087, der allerdings letztlich wegen des unterstellten Gleichstellungszwecks zu einem abweichenden Ergebnis gelangt.

234

Thomas Lambrich

kurrenz werden im Schrifttum unterschiedliche Wege vorgeschlagen: Annuß will § 613 a Abs. 1 Satz 4, 2. Alt. BGB auch auf Bezugnahmeklauseln anwenden, die bereits vor dem Betriebs(teil)übergang bei dem Veräußerer abgeschlossen wurden 237 . Der Vorschrift sei die allgemeine Aussage zu entnehmen, daß die normative Fortgeltungsanordnung des § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB zurücktreten solle, wenn die Arbeitsvertragsparteien in privatautonomer Gestaltung eine abweichende Regelung getroffen hätten, die infolge der Verweisung auf die einschlägigen Tarifbedingungen einen angemessenen Mindeststandard rechtfertige. Das hat viel für sich, aber den Wortlaut des § 613 a Abs. 1 Satz 4, 2. Alt BGB gegen sich. Die Norm spricht nur davon, daß die Anwendung eines anderen Tarifvertrags zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer vereinbart wird. Sie will dem Vereinheitlichungsinteresse des neuen Betriebsinhabers dienen und ihm zu diesem Zweck Gestaltungsmöglichkeiten an die Hand geben. Im Gegensatz dazu den Arbeitnehmern unter Hinweis auf besagte Vorschrift den Bestandsschutz hinsichtlich bereits mit dem Veräußerer getroffener Absprachen zu nehmen, dürfte zu weit gehen und mit dem arbeitnehmerschützenden Zweck des § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB, demzufolge von dem Veräußerer vereinbarte Bezugnahmeklauseln auf den Erwerber übergehen, eher nicht zu vereinbaren sein. Näherliegend erscheint daher erneut eine Lösung der Kollision anhand des Günstigkeitsprinzips 238. Der Verweis auf den für den Erwerber einschlägigen Tarifvertrag zeitigt folglich erst dann Wirkung, wenn dessen Inhalt zu Gunsten der Arbeitnehmer von dem nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB weitergeltenden Veräußerertarifvertrag abweicht.

V.

Fazit

In Anbetracht der Vielzahl und Vielgestaltigkeit der sich bei § 613 a Abs. 1 Satz 2 - 4 BGB stellenden Probleme seien an Stelle einer Zusammenfassung der gefundenen Ergebnisse abschließend ein paar wenige allgemeine, aus gegebenem Anlaß auch persönliche Bemerkungen erlaubt: Das BAG muß sich sicherlich nicht vorwerfen lassen, bei der Auslegung besagter Vorschriften einseitig zu Gunsten oder zu Lasten der Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite zu ent237 Annuß, RdA 2000, 179, 182; derselbe, BB 1999, 2558, 2561; Staudinger-flzchardi/Annuß, BGB, 13. Aufl., §613 a Rz. 205; Meyer, NZA 2003, 1126, 1129; Schaub/Koch/Linck, Arbeitsrechtshandbuch, 10. Aufl., S. 1311; Bauer/Haußmann, DB 2003, 610, 613; im Ergebnis ebenso Thüsing/Stelljes, Anmerkung zu BAG ν. 21.02.2001, EzA Nr. 195 zu § 613 a BGB; vgl. dazu auch Hohenstatt, in: Willemsen u.a., Übertragung und Umstrukturierung von Unternehmen, 2. Aufl., S. 614 f. 238 Siehe auch bereits Thüsing/Lambrich, RdA 2002, 193, 212, wo noch erwogen wurde, auf Grund praktischer Erfordernisse dem arbeitsvertraglich Vereinbarten den Vorrang zu geben, wenngleich die dogmatisch sauberere Lösung im Rückgriff auf das Günstigkeitsprinzip bestehe; mir persönlich erscheint die reine Lehre überzeugender.

Weitergeltung und Ablösung von Tarifverträgen nach Betriebsübergang

235

scheiden. Mit dem Erfordernis kongruenter Tarifgebundenheit in § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB hat es vielen Arbeitgebern ein vom Gesetzgeber geöffnetes Tor zur Lockerung oder gar Lösung tariflicher Bindungen verschlossen. Mit seiner Auslegung arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln auf Tarifhormen als Gleichstellungsabreden gibt es vielen Arbeitgebern allerdings eine nachträgliche Hilfestellung. Jahrzehntelang eingeschliffene Nachlässigkeiten bei der Formulierung solcher Verweisklauseln werden geheilt, die Gefahr einer „ewigen" dynamischen Bindung an die in Bezug genommenen Tarifverträge wird gebannt. Im Schrifttum wird konstatiert, daß gerade das Anliegen, keine ewigen Tariffesseln anzulegen, anzuerkennen sei, weshalb die Praxis sehr viel eher mit diesem Ergebnis leben könne als die Rechtswissenschaft. Der Richter stehe hier in einer anderen Verantwortung als der Hochschullehrer 239. Deren Verantwortung kann, muß aber nicht gegensätzlich sein. Besonderes Anliegen des Jubilars ist es vielmehr stets, die allgemeinen Grundsätze und Prinzipien des Rechts herauszuarbeiten, dabei aber gerade auch deren Wirkungen für die Praxis im Blick zu halten, getreu der von ihm gerne zitierten Hegeischen Maxime: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig" 240 . Nicht nur uns, seinen Schülern, kann er hierin Vorbild sein.

239 240

Thüsing, NZA 2003, 1184. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hoffineister (Hrsg.), 1995, S. 14.

Bibliographie

I.

Selbständige Schriften

1. Die Gesamtschuld - Versuch einer begrifflichen Erfassung in drei Typen - , 1972 2. Betriebsstillegung und Mitbestimmung - Informationszeitpunkt, Verfahrensdauer, Sanktionen, 1978 3. Betriebsrisikolehre und Kurzarbeit - Zur Verlagerung des Lohnrisikos im Arbeitskampf und Arbeitsfrieden - , 1979 4. Arbeitsschutz und Mitbestimmung bei neuen Technologien, 1981 5. Die Bildschirmarbeitsplatz-Entscheidung des BAG (ν. 6.12.1983), Sonderdruck aus der EzA, 1984 6. Deutschland - eine Standortfrage? - Flucht aus den Tarifverträgen und aus der sozial- und nationalstaatlichen Ordnung, Sonderheft der Neuen Ordnung, Mai 1996 (hrsg. von Wolfgang Ockenfels), 1996 7. Modernisiertes Schuldrecht, Lehrbuch der Grundsätze des neuen Rechts und seiner Besonderheiten, 2002 (mit Holger Sutschet)

II.

Herausgeberschaft

1. Hugo Kreß, Lehrbuch des Allgemeinen Schuldrechts, 1929; neu herausgegeben und mit einer Einleitung versehen, 1974 (mit Hermann Weitnauer) 2. Privatautonomie, Eigentum und Verantwortung - Festgabe für Hermann Weitnauer zum 70. Geburtstag, 1980 (mit Wolfgang Hefermehl und Adolf Laufs)

III.

Kommentierungen

im Erman-Handkommentar zum BGB (Hrsg. Η. P. Westermann): 1. Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Anhang zu § 12 2. Mehrheit von Gläubigern und Schuldnern, §§ 420 - 432 BGB 3. Auslobung, §§657-661a BGB 4. Auftrag und Geschäftsbesorgung, §§ 662 - 676 BGB 5. Geschäftsführung ohne Auftrag, §§ 677 - 687 BGB

238

Bibliographie

IV. Aufsätze, Beiträge zu Sammelwerken 1.

Die Funktion der Zweckvereinbarung bei der Erfüllung, JZ 1968, 549 ff.

2.

Über den Begriff des rechtlichen Grundes iSd § 812 BGB, NJW 1969, 398 ff.

3.

Ist die Erfüllung Realvertrag?, NJW 1969, 1833 ff.

4.

Das Lohnrisiko der an einem rechtmäßigen Arbeitskampf nicht beteiligten Arbeitnehmer (im Habilitationsverfahren am 20.7.1973 vor der Juristischen Fakultät in Heidelberg gehaltener Probevortrag), DB 1973, 1946 ff. und 1994 ff.

5.

Der Arbeitsvertrag, HöD 1976, S. 270 ff.

6.

Das Grundrecht auf Sozialismus, RdA 1976, 175 ff.

7.

Schuldrecht (15 Drucks.) in: Jurisprudenz, Die Rechtsdisziplinen in Einzeldarstellungen, hrsg. von Weber-Fas, Fikentscher und Lenckner, 1978

8.

Die Rechtslage der Arbeitnehmer im Arbeitskampf - Arbeitnehmerrisiko und Sozialversicherung-, DB 1978, 2023 ff.

9.

Der Schutzzweck des Sozialplans -Verwandler des ganzen Arbeitsrechts - , in: Privatautonomie, Eigentum und Verantwortung. Festgabe für Hermann Weitnauer zum 70. Geburtstag, hrsg. von Horst Ehmann (1980), S. 3 ff.

10. Die Rechtsprechung des BAG im Jahre 1979, ZfA 1980, S. 683 ff. 11. Die juristische Beurteilung von Arbeitskämpfen, in: Christliche Ethik und Arbeitskampf (1981), S. 43 ff. 12. Kritische Bemerkungen zur Entwicklung des Arbeitsrechts, in: BAG-Nachrichten 1982, S. 1 ff. 13. Technische Arbeitnehmer-Überwachung und Datensicherung - Zum Mitbestimmungs- und Mitbeurteilungsrecht bei der Eingabe- und Benutzerkontrolle gem. § 6 BDSG - , in: Festschrift für Marie Luise Hilger und Hermann Stumpf, hrsg. von Thomas Dieterich u.a. (1983), S. 125 ff. 14. Lohnrisiko im Arbeitsfrieden und Arbeitskampf, Jura 1983, 181 ff und 238 ff. (mit Franz Schnauder) 15. Daten- und Informationsschutz im Arbeitsverhältnis, Bespr. der Schrift von Wolfgang Zöllner, Daten- und Informationsschutz im Arbeitsverhältnis (1982), RdA 1983, 95 ff. 16. Zur Sozialauswahl bei betriebsbedingter Kündigung, BIStSozArbR 1984, 209 ff. 17. Personal Informationssysteme und Mitbestimmung, in: Datenschutz-Management und Kostendruck, Tagungsband der 7. DAFTA, hrsg. v. Hans Gliss, Bernd Hentschel und Georg Wronka, 1984 18. Sportstättenhaftung - Zur Methode der Aufstellung von Verkehrssicherungspflichten in der neueren Rechtsprechung - , in: Das Recht der Sportstätte, hrsg. vom Württembergischen Fußballverband, 1985 19. Datenverarbeitung und Persönlichkeitsschutz im Arbeitsverhältnis, NZA 1985 Beilage 1, 2 ff.

Bibliographie

20. Arbeitnehmerüberwachung durch elektronische Datenerhebung und Datenverarbeitung - zur richterlichen Rechtsfortbildung des § 87 Nr. 6 BetrVG vom Überwach ungs-zum Datenschutztatbestand-, SAE 1985, 181 ff. 21. Tarifliche Zwangsschlichtung durch Betriebsvereinbarung - eine Klausur zum Schlichtungsvorschlag über die 38,5 Stunden-Woche - , Jura 1985, 436 ff. (mit Klaus Peter Balthasar) 22. Über Datenverarbeitung zur Generalklausel betrieblicher Mitbestimmung, ZfA 1986, 357 ff. 23. Zum Verbot der Fehlzeitenauswertung, NZA 1986, 657 ff. 24. Legitimitätsverlust des Arbeitskampfes?, in: Wirklichkeit als Tabu, hrsg. v. Armin Möhler ( 1986), S. 61 ff. 25. „Leicht beieinander wohnen die Gedanken..." - der Datenschutzexperten aller Parteien und Fraktionen, RDV 1986, 69 ff. 26. Das Lohnrisiko bei SMOG-Alarm, NJW 1987,401 ff. 27. Zukunftsperspektiven der Tarifautonomie, in: Krise der Gewerkschaften - Krise der Tarifautonomie?, hrsg. von Wolfgang Ockenfels (1987), S. 196 ff. 28. Lohnansprüche bei SMOG-Alarm, JURA 1988, 152 ff. (mit Josef Brossette) 29. Neuere Tendenzen des Arbeitsrechts, Personal-Führung 1988, 1 ff. 30. Wandlungen des Arbeitsrechts in der Dämmerung des Sozialismus, in: Sozialismus - Ende einer Illusion, hrsg. von Hans Giger und Willy Linder (1988), S. 581 ff. 31. Informationsschutz und Informationsverkehr im Zivilrecht, AcP 188 (1988), 230 ff. 32. Zur Zweckbindung privater Datennutzung - zugleich ein Beitrag zum Rechtsgut des Datenschutzrechts mit einer Stellungnahme zu den Entwürfen zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes, RDV 1988, 169 ff. und 221 ff. 33. Grenzlinien der Datenverarbeitung auf der Grundlage der Β AG-Rechtsprechung, SAE 1989, 277 ff. 34. Neuere Reformvorstellungen zum Datenschutzrecht, RDV 1989, 64 ff. 35. Bankauskunft und Bankgeheimnis im Lichte des Datenschutzrechts, in: Festschrift für Hans Giger, hrsg. von Walter Habscheid ( 1989), S. 123 ff. 36. Die Einzelklagbefügnis der Wohnungseigentümer, in: Festschrift für Johannes Bärmann und Hermann Weitnauer, hrsg. von Wolf Rüdiger Bub (1990), S. 145 ff. 37. Arbeitsordnung im Wandel - Vom Arbeits- zum Gesellschaftsrecht? Von der Tarifzur Betriebsautonomie?, RdA 1990, 77 ff. 38. Rechtliche Probleme bei der Betriebsdatenerfassung, CIM Management 1990, 52 ff. 39. Vom Arbeitskampfrecht zur Mitbestimmung - Entwicklungen in der Krise des Sozialismus, NZA 1991, 1 ff. 40. Wohnungseigentum ist kein Eigentum mehr, JZ 1991, 222 ff.

240

Bibliographie

41. Rechtsschutzverweigerung für Wohnungseigentümer - Sind alle Wohnungseigentümer prozeßunfähige Querulanten? - , WM 1991, 65 ff. 42. Zweck und Entwicklung der betrieblichen Mitbestimmung - Zugleich ein Beitrag zum Eigentumsbegriff: Vom Privateigentum über Klassenkampf, Arbeitskampf, Tarifautonomie zur sozialen Marktwirtschaft und zur Mitbestimmung - , Die Neue Ordnung 1992, 244 ff. 43. Der mißglückte Vasenkauf, JURA 1992, 539 ff. (mit Anja Breitfeld) 44. Datenschutz und Mitbestimmung bei der Arbeitnehmer-Datenverarbeitung, NZA 1993,241 ff. 45. Surfer im Winde der Ethik - auf der Welle der Vernunft: Utz und das Arbeitsrecht, Die Neue Ordnung 1993, 87 ff. 46. Emma und Anna - Übungsklausur Zivilrecht, JURA 1993, 208 ff. (mit Anja Breitfeld) 47. Kurzarbeit, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, hrsg. von Rolf Birk u.a., Gruppe 12 - Arbeitsrecht, Artikel 1090, S. 1 ff. 48. Praxisgemeinschaft/Gemeinschaftspraxis, Medizinrecht 1994, 141 ff. 49. Zur Rechtsverbindlichkeit von Betriebsvereinbarungen über den Fortbestand eines Betriebes, in: Arbeitsrecht in der Bewährung, Festschrift für Otto Rudolf Kissel, hrsg. von Meinhard Heinze und Alfred Söllner (1994), S. 175 ff. 50. Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge, NZA 1995, 193 ff. (mit Thomas B. Schmidt) 51. Elektronische Datenverarbeitung, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, hrsg. von Rolf Birk u.a., Gruppe 12 - Arbeitsrecht, Artikel 710, S. 1 ff. 52. Die Aufgabe der Zivilrechtslehrer, in: Die Aufgabe der Juristenfakultäten. Festgabe für Otto Theisen, hrsg. von der Juristischen Fakultät der Universität Trier (1996), S. 11 ff. 53. Die Juristen kommen - Über die Gründung der Juristischen Fakultät Trier-, in: Die Aufgabe der Juristenfakultäten. Festgabe für Otto Theisen, hrsg. von der Juristischen Fakultät der Universität Trier (1996), S. 127 ff. 54. Vorrang der Betriebs- vor der Tarifautonomie kraft des Subsidiaritätsprinzips?, NZA 1996, 346 ff. (mit Thomas Lambrich) 55. Erfolgsort bei grenzüberschreitenden Persönlichkeitsverletzungen, AfP 1996, 20 ff. (mit Karsten Thorn) 56. Der Anspruch auf das stellvertretende commodum aufgrund Sachmangels, Jura 1996, 247 ff. (mit Ulrich Rust) 57. Empfiehlt es sich, die Regelungsbefugnis der Tarifparteien im Verhältnis zu den Betriebsparteien neu zu ordnen?, ZRP 1996, 314 ff. 58. Zur Struktur des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, JuS 1997, 193 ff. 59. EU-Datenschutzrichtlinie - Umsetzungsbedarf und Auswirkungen aus der Sicht des Arbeitsrechts, RDV 1997, 3 ff. (mit Holger Sutschet)

Bibliographie

60. Unmöglichkeitslehre - Für Anfänger, Fortgeschrittene und Reformer-, JuS 1998, 481 ff. (mit Britta Kley) 61. Die Persönlichkeit als Grundlage des Arbeitsrechts, in: Festschrift für Günther Wiese zum 70. Geburtstag, hrsg. von Peter Hanau, Egon Lorenz und Hans-Christoph Matthes (1998), S. 99 ff. 62. Die Tarifbindung des Arbeitgebers als Voraussetzung des Tarifvorbehalts, in: Festschrift für Wolfgang Zöllner zum 70. Geburtstag, hrsg. von Manfred Lieb, Ulrich Noack und Harm Peter Westermann (1998), S. 715 ff. 63. Prinzipien des deutschen Datenschutzrechts - unter Berücksichtigung der Datenschutz-Richtlinie der EU vom 24.10.1995 - , RDV 1998, 235 ff. und RDV 1999, 12 ff. 64. Informations- und Meinungsfreiheit in unserer Kinderzeit und heute, in: Festgabe Zivilrechtslehrer 1934, 1935, hrsg. von Walther Hadding {1999), S. 73 ff. 65. Die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, JZ 1999, 853 ff. (mit Ulrich Rust) 66. EG-Überweisungs-Richtlinie und Umsetzung - Regierungsentwurf und Gegenentwurf-, WM Sonderbeilage Nr. 3/1999 (mit Walther Hadding) 67. Examensklausur Wahlfach Arbeitsrecht: Tarifflucht in die Sackgasse?, JURA 1999, 135 ff. (mit Thomas Lambrich) 68. Europäischer Gesundheitsschutz kraft deutscher Mitbestimmung?, in: Arbeitsrecht und Arbeitsgerichtsbarkeit - Bilanz und Perspektiven an der Schwelle zum Jahr 2000, Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Arbeitsgerichtsbarkeit in Rheinland-Pfalz, hrsg. von Klaus Schmidt (1999), S. 19 ff. 69. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht - Zur Transformation unmoralischer in unerlaubte Handlungen, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof - Festgabe aus der Wissenschaft, hrsg. von Claus Wilhelm Canaris , Andreas Heldrich, Klaus J. H opt, Karsten Schmidt, Claus Roxin und Gunter Widmaier (2000), Band 1, S. 613 ff. 70. Die betriebsbedingte Kündigung, JURA 2001, 145 ff. (mit Holger Sutschet) 71. Zur Causa-Lehre, JZ 2003, 702 ff. 72. Schadensersatz wegen kaufrechtlicher Schlechtleistungen - Verschuldensund/oder Garantiehaftung?, JZ 2004, 62 ff. (mit Holger Sutschet)

V.

Anmerkungen

1.

zum Urteil des BGH v. 11.1.1971 - VIII ZR 261/69, BGHZ 55, 176 ff. = NJW 1971, 612 (Jungbullen-Entscheidung), NJW 1971, 612 ff.

2.

zum Urteil des BGH v. 19.1.1973 - V ZR 24/71, NJW 1973, 612 (Zuwendungen an Lebensgefährten), NJW 1973, 1035 ff.

3.

zum Urteil des BAG ν. 15.12.1976 - 4 AZR 531/75 - (Kontoführungsgebühren), SAE 1977, 203 ff.

242

Bibliographie

4.

zum Urteil des BAG v. 19.7.1977 - 1 AZR 376/74 - (Freistellung von Betriebsratsmitgliedern), SAE 1978, 157 ff.

5.

zum Urteil des BAG ν. 6.6.1978 - 1 AZR 495/75 - (zum Begriff der Betriebsänderung iSd § 111 BetrVG), AP Nr. 2 zu § 111 BetrVG 1972

6.

zum Beschluß des BAG ν. 18.7.1978 - 1 ABR 43/75 - (Mitbestimmung des Betriebsrats bei Einstellungen), EzA § 99 BetrVG 1972 Nr. 23

7.

zu den Beschlüssen des BAG ν. 22.12.1980 - 1 ABR 2/79 u. 76/79 - (Femwirkung von Arbeitskämpfen), EzA § 615 BGB Betriebsrisiko Nr. 8 (mit Franz Schnauder)

8.

zum Beschluß des BAG ν. 24.11.1981 - 1 ABR 108/79 - (Mitbestimmungsrecht bei der Auswertung von Zeiterfassungsbögen; Unterlassungsanspruch), SAE 1984, 102 ff.

9.

zu den Urteilen des BAG ν. 24.3.1983 - 2 AZR 21/82 - und vom 20.10.1983 - 2 AZR 211/82 - (Punktetabellen und Auswahlrichtlinien bei Kündigungen), ARBlattei, (D) Kündigungsschutz, Entsch. 239/240.

10. zum Beschluß des BAG ν. 18.2.1986 - 1 ABR 21/84 - (Kienzle-Schreiber), SAE 1986,255 ff. 11. zum Beschluß des BAG ν. 11.3.1986 - 1 ABR 12/84 - betreffend Fehlzeitenauswertung (Opel-Paisy), AR-Blattei, (D) Betriebsverfassung XIV Β 1 Entsch. 2, Forts.-Bl. 10 Rücks. bis Forts.-Bl. 14 Rücks. 12. zum Beschluß des BAG ν. 27.5.1986 - 1 ABR 48/84 - (Telefondaten), AR-Blattei, (D) Betriebsverfassung XIV Β 1 Entsch. 3, Forts.-Bl. 6 13. zum Beschluß des BGH v. 20.4.1990 - VZB 1/90 - zur Geltendmachung sog. Wohngeldansprüche durch einzelne Wohnungseigentümer, JZ 1991, 249 ff. 14. zum Beschluß des BGH v. 6.6.1991 - VII ZR 372/89 - zur Geltendmachung von Gewährleistungsansprüchen durch einzelne Wohnungseigentümer, JZ 1992, 315 ff. (mit Anja Breitfeld) 15. zum Beschluß des BGH v. 2.10.1991 - V ZB 9/91 - zur Einzelklagbefugnis des Wohnungseigentümers, WM 1992, S. 91 ff 16. zum Urteil des OLG Hamm vom 30.06.1992 - 4 U 321/91 - über die Zulässigkeit der Verwertung geschredderter und entwendeter Papierabfälle, AfP 1993, 742 ff. 17. zum Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 30.06.1992 - OGB 1/1991 - zur Maßgeblichkeit bauordnungsrechtlicher Gesichtspunkte im Rahmen der Beurteilung der Abgeschlossenheit einer Wohnung gem. WEG § 3 Abs. 2 S. 1, JZ 1993, 527 ff. (mitAnja Breitfeld) 18. zum Urteil des BGH vom 08.02.1994 - VI ZR 286/93 - und zum Beschluß des BVerfG vom 03.05.1994 - 1 BVR 37/94 - über die Verletzung des Unternehmerpersönlichkeitsrechts durch Weiterverbreitung eines kommentierten Jahresabschlusses, WuB IV A § 823 BGB 2.94 19. zum Beschluß des BAG ν. 26.07.1994 - 1 ABR 6/94 - zur Auswertung von Leistungsdaten einer Arbeitsgruppe, AP Nr. 26 zu § 87 BetrVG 1972 Überwachung

Bibliographie

20. zum Urteil des BGH v. 15.11.1994 - VI ZR 56/94 - zur Verletzung der Persönlichkeit (Caroline von Monaco), LM Nr. 119 zu § 823 (Ah) BGB 21. zum Urteil des OLG Hamburg v. 26.05.1994 - 3 U 13/94 - über Veröffentlichungen des Bildes des Prinzen von Monaco, AfP 1995, 654 22. zum Urteil des BGH v. 15.06.1993 - VI ZR 133/92 - zur Rechtskrafterstreckung auf Gesamtschuldner, WuB IV A § 425 BGB 1.93 23. zum Urteil des LG Berlin v. 22.10.1996 - 27 Ο 403/96 - zum Unterlassungsanspruch im Falle einer irrtümlich unwahren Tatsachenbehauptung in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage, EWiR § 1004, 1/96 (mit Angela Emmert) 24. zum Diskriminierungsurteil des EuGH v. 22.04.1997 - Grundlage, Zweck und Mißbrauch der Sanktionierung des Diskriminierungsverbots, SAE 1997, 253 (mit Angela Emmert) 25. zum Urteil des BGH v. 06.03.1998 - V ZR 244/96 - Zinsen als Bereicherungsschuld - Anspruch auf Wert der Nutzung rechtsgrundlos erhaltener und wirtschaftlich genutzter Geldleistungen, WuB IV A. § 818 BGB 2.00 26. zu den Urteilen des BAG ν. 17.06.1999 - 2 AZR 141/99 und 2 AZR 522/98, gemeinsame Anmerkung zu AP Nr. 101 u. 102 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung (mit Sebastian Krebber) 27. zum Urteil des BGH v. 23.09.1999 - III ZR 322/98 - Erbensucher, LM Nr. 40 zu § 677 BGB 28. zum Urteil des BGH v. 14. 12.1999 - X ZR 34/98, Hamm - Schenkungen an Sparkassenangestellte; Nichtigkeit von Schenkungen an BAT-Angestellte, WuB IV A. § 134 BGB 2.00 29. zum Urteil des BGH vom 30.05.2000 - VI ZR 276/99 - Babycaust, LM Η 1/2001 zu Art. 5 GrundG Nr. 94 30. zum Urteil des BGH v. 23.03.2000 - X ZR 177/97, Frankfurt a.M. - Ansprüche auf Erfüllung und Schadensersatz wegen Nichterfüllung im Falle anfänglichen Unvermögens einer schenkungshalber versprochenen Leistung, WuB IV A. § 516 BGB 1.00 (mit Holger Sutschet) 31. zum Urteil des BGH v. 14.07.2000 - V ZR 82, 99 Hamm - Bereicherungsrechtliche Rückabwicklung nach den Grundsätzen der Saldotheorie im Falle einer arglistigen Täuschung, WuB IV A. § 812 BGB 2.01 32. zum Urteil des BGH v. 29.09.2000 - V ZR 305/99, Oldenburg - Keine Anwendung der Saldotheorie im Falle der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung des Vertrages wegen Geschäftsunfähigkeit, WuB IV A. § 818 BGB .01 33. zum Urteil des BAG ν. 07.11.2000 - 1 AZR 175/00 - Betriebliche „Bündnisse für Arbeit" zur Existenzsicherung, AP Nr. 14 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt (mit Thomas Lambrich) 34. zum Urteil des BGH v. 19.12.2001 - XII ZR 281/99, Kammergericht - Auch bei vermeintlich „eindeutigem" Wortlaut des Vertrages sind die Verhandlungen im

244

Bibliographie

Wege ergänzender Vertragsauslegung zu berücksichtigen, WuB IV A. § 157 BGB 2.02 35. zum Urteil des BGH v. 9.7.2002 - XI ZR 323/01 - Zur Kündigung eines Darlehens gegenüber einem Mitdarlehensnehmer und zur Abgrenzung von gleichgründiger Gesamtschuld und Sicherungsgesamtschuld, WuB I F 1 c Sonstige Mithaftung 6.02 36. zum Urteil des BGH v. 26.6.2003 - VII ZR 126/02 - Gewährleistungsrechte als Gesamtschuld, JZ 2004, 248 ff.

VI. Rezensionen 1. Arwed Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht, 4. Aufl. (1969), NJW 1969, 1891 ff. 2. Gerhard Schlund, Das Zahlenlotto - Eine zivilrechtliche Untersuchung - (1972), AcP 174 (1974), 552 ff. 3. Dieter Medicus, Unmittelbarer und mittelbarer Schaden (1977), AcP 178 (1978), 551 ff 4. Adrian Flühmann, Die Auswirkungen von Arbeitskämpfen im Arbeitsvertragsrecht (1976), RdA 1979, 129 f. 5. Eugen Stahlhacke (Hrsg.), Handbuch zum Arbeitsrecht ( 1976), RdA 1980, 232 f. 6. Wolfgang Hromadka, Das Recht der leitenden Angestellten (1979), DB 1980, Heft 51/52, S. VIII 7. Wolfgang Zöllner, Daten- und Informationsschutz im Arbeitsverhältnis (1982), RdA 1983,95 ff. 8. Friedhelm Jobs und Jürgen Samland, Personalinformationssysteme in Recht und Praxis (1984), NZA 1986, 56

Verzeichnis der Autoren Kai Kuhlmann Dr. iur., Bereichsleiter Electronic Business-Recht, Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien Thomas Lambrich Dr. iur., Rechtsanwalt, wissenschaftlicher Assistent an der Bucerius Law School in Hamburg Bernd Nauen Dr. iur., Mitglied der Geschäftsführung, Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) André Pohlmann Dr. iur., LL.M. (Norwich, UK), Rechtsanwalt bei der Kanzlei Lovells in Alicante Wilhelm Reinhardt Dr. iur., Rechtsanwalt bei der Kanzlei Latham & Watkins in Frankfurt Ulrich Rust Dr. iur., LL.M. (London), Syndikusanwalt bei der RWE Aktiengesellschaft in Essen Thomas B. Schmidt Dr. iur., Dr. phil., Fachanwalt für Arbeitsrecht, Fachanwalt für Insolvenzrecht, Partner der Kanzlei König Rechtsanwälte in Trier, Lehrbeauftragter für Insolvenzrecht und Wirtschaftsrecht der FH Trier Holger Sutschet Dr. iur., wissenschaftlicher Assistent an der Universität Trier