Freiheit und Eigentum: Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428497867, 9783428097869

Mehr als 50 Professoren des Staats- und Verwaltungsrechts sowie der Wirtschaftswissenschaften aus Deutschland, Frankreic

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German Pages 1072 [1075] Year 1999

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Freiheit und Eigentum: Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428497867, 9783428097869

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Freiheit und Eigentum Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 800

Freiheit und Eigentum Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Josef Isensee Helmut Lecheler

Duncker & Humblot • Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Freiheit und Eigentum : Festschrift für Walter Leisner zum 70. Geburtstag / hrsg. von Josef Isensee ; Helmut Lecheler. Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 800) ISBN 3-428-09786-6

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09786-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Widmung an Walter Leisner Freiheit und Eigentum - die klassische Formel steht für drei Jahrhunderte verfassungsstaatlichen Denkens in Europa, von Locke bis Leisner. In ihr verkörpern sich menschenrechtliche Vorgaben des Staates, Ziele und Schutzgüter, Grundlagen und Grenzen. Das Begriffsgespann repräsentiert die geistigen und die gegenständlichen Elemente des Verfassungsstaates - eine notwendige, gleichwohl prekäre Einheit, die, obgleich im Feuer großer Verfassungskämpfe gehärtet, immer wieder in Frage gestellt wird. Freiheit und Eigentum ist ein wesentlicher Leitgedanke im Werk Walter Leisners, der ihn aus seinen staatstheoretischen Voraussetzungen begründet, in seinen verfassungsdogmatischen Strukturen entfaltet, auf die konkreten Fälle des Rechtslebens anwendet, ihn gleichermaßen ins Grundsätzliche vertieft und ins Rechtspraktische übersetzt. Die Impulse, die Leisner gibt, werden von vielen Abhandlungen aufgenommen, die in dieser Festschrift zu seinen Ehren vereint sind. Direkt oder indirekt sind sie erkennbar, wenn es um Grundrechte und um Staatsaufgaben geht, um Freiheitsgewähr und Freiheitsbeschränkung, Inhalt und Form der Verfassung, Rechtsordnung und Marktwirtschaft, Steuer und Währung in ihren nationalen wie in ihren supranationalen Dimensionen, gleichermaßen aus der Sicht der Jurisprudenz wie aus der Sicht der Nationalökonomie. Diese Festschrift trägt daher den Namen Freiheit und Eigentum . Doch nicht alle Beiträge der Festschrift fügen sich ohne weiteres in den Rahmen. Die Themen sind bunt und vielfältig. Just das gilt aber auch für die Arbeiten des Destinatars selbst, sogar in unendlich gesteigertem Maße. Die Vielzahl und die Vielfalt der Gegenstände, die er in 68 Büchern und 200 Aufsätzen behandelt, lassen sich nicht auf einen Begriff bringen und auch nicht um eine bestimmte These zentrieren. Leisners Lebenswerk ist polyzentrisch angelegt. Es deckt nahezu das ganze Problemfeld des Verfassungsrechts ab und, über seine verfassungsrechtlichen Bezüge, auch weite Passagen des Verwaltungsrechts, vom Gebühren- bis zum Steuerrecht, vom Umwelt- bis zum Agrarrecht, vom Enteignungs- bis zum Beamtenrecht. Das Europarecht wie das Staatskirchenrecht kommen hinzu. Die Verfassungstheorie ist ebenso vertreten wie die Verfassungsgeschichte, die deutsche und die französische. Ein Hauptarbeitsgebiet ist die Staatslehre, der eine ganze Sequenz von Monographien gewidmet ist. Die Weite und Fülle des Leisner'sehen Œuvres lassen sich in dieser Festschrift auch nicht annäherungsweise spiegeln, vollends nicht der Duktus seines Denkens, der unnachahmlich ist. Die eigentliche Ruhmestafel, die in dieser Festschrift enthalten ist, bildet die Bibliographie des Destinatars.

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Widmung an Walter Leisner

Walter Leisner ist ein Staatsrechtslehrer eigener Prägung. Er steht für keine der Schulen und Strömungen des Faches. Er steht für sich selbst. Doch schöpft er aus unermeßlichen Ressourcen der Bildung, den Klassikern des Staatsrechts und der Staatsphilosophie in Deutschland und Frankreich, den Traditionen des Staatsdenkens, die in die Antike zurückreichen: res publica perennis. Die Freiheit ist der große Gegenstand seines Denkens, aber auch dessen Grundlage. Er lebt die Freiheit, indem er sie analysiert. Sapere aude ist ihm Lebensform. Er meistert die Regeln der Zunft, aber er läßt sich von ihnen nicht meistern. Wo es die Sache erheischt, bedient er sich ihrer, und er setzt sich von ihnen ab, soweit sie der Erkenntnis im Wege stehen. Daher müht er sich nicht ängstlich, an herrschende Meinungen anzuschließen und ihren Rückhalt zu gewinnen. Die Scheu, sich zu exponieren, ist ihm fremd. „Der Starke ist am mächtigsten allein." Da er die konventionellen Verengungen und Ausblendungen des Faches nicht nachvollzieht, vermag er neue Fragen zu stellen und neue Sichtweisen zu eröffnen. Welche Materie er auch anfaßt, sie zeigt sich in ungewohntem Licht, und sie gibt bisher übersehene Aspekte zu erkennen. Das gilt für aktuelle Probleme wie für altvertraute, für Lohnnebenkosten wie für Gewaltenteilung, für Umweltschutz durch Eigentümer wie für den Bereich der Regierung. Nicht selten lösen die Thesen breite Diskussionen aus. So manche Abhandlung ist in den Kanon der „grundlegenden" und „richtungweisenden" Schriften des Faches eingegangen. Juridische Arbeit am Rechtsproblem verbindet sich mit staats- und rechtstheoretischer Reflexion. Jene ergeht sich nicht in positivistischer Introvertiertheit (auch nicht im landläufigen Verfassungsgerichtspositivismus), diese verliert sich nicht in wolkigen Abstraktionen. Das positive Recht erscheint in seinen meta-positiven Bedingtheiten, die Staatstheorie bodenverhaftet der Realität. Nicht zufällig bilden das Eigentum wie das Beamtentum Schwerpunkte des Schaffens: dort die verdinglichte Gestalt der Freiheit, hier die Personen, in denen der Staat handelnd in Erscheinung tritt. In der „Staatslehre der Demokratie" begründet Leisner eine neue Ebene des Faches und ein neues Genre seiner Literatur, das sich von der überkommenen Allgemeinen Staatslehre abhebt und doch deren Überlieferung wahrt - in der schwierigen Gratwanucrung „zwischen positivem Verfassungsrecht als ,Beispiel', allenfalls noch als Ausgangspunkt vorsichtiger Induktion - und Historie wie allgemeiner Rechtstheorie, welche weitere Dimensionen eröffnen, und auch normativ höhere, aber gewiß nicht in blutleerem Verfassungsvergleich." Aus den Widersprüchen der Wirklichkeit strebt er nicht zu der großen Synthese, diese sei mit der Monarchie zerbrochen, sondern zu einer demokratie-gemäßen Staatslehre aus Antithesen, die nicht auflösbar sind: einem „Denken in Widersprüchen, die bleiben sollen, in mäßigender Beziehung, nicht in harmonisierender Verbindung." So entsteht das Bild des demokratischen Staates aus seinen lebendigen Gegensätzen von Einung und Auflösung, Selbstzerstörung und Renaissance, Anarchie und Führung, Nivell und Machtelite, Monumentalität und Unsichtbarkeit. Wer das abschließende System

Widmung an Walter Leisner

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erwartet und die Sicherheit vorgefertigter Synthesen, bleibt ratlos angesichts der offenen Widersprüche. Wer Erbauung erhofft in political correctness, sieht sich gereizt und zugleich enttäuscht, weil ihm das Objekt seiner moralischen Entrüstung ins Unfaßliche der Antithetik entgleitet. Wer aber empfänglich ist für die Lust des Arguments, wird angesteckt - zum eigenen Denken. Unverwechselbar ist der Stil: präzis und geschmeidig, klar und virtuos, fähig zu strengem Traktat und zu eleganter Polemik. Pathos mit leichter Feder. Walter Leisner vollendet am 11. November 1999 sein siebzigstes Lebenjahr. In München geboren, ist er der bayerischen Hauptstadt für immer verbunden geblieben. Das Studium der Rechts- und der Wirtschaftswissenschaften als Stipendiat der Stiftung Maximilianeum führte ihn auch nach England, Frankreich und Italien. In Rom, Paris und München erwarb er den Grad eines Doktors der Rechte. Nach der Habilitation in München für deutsches und ausländisches öffentliches Recht wurde er sogleich auf einen Lehrstuhl an der Friedrich-Alexander-Universität zu Erlangen-Nürnberg berufen. Dieser Universität blieb er, trotz mehrerer ehrenvoller Rufe an auswärtige Universitäten, vier Jahrzehnte treu, von 1961 bis zur Emeritierung 1998. Sein siebzigster Geburtstag gibt Anlaß für Kollegen und Schüler, Juristen und Nationalökonomen aus Deutschland und Österreich, Frankreich und Italien, ihren dankbaren Respekt Walter Leisner für seine wissenschaftliche Lebensleistung zu bekunden. Bonn und Berlin, im August 1999 Josef Isensee

Helmut Lecheler

Inhaltsverzeichnis I. Europa Albrecht Randelzhofer Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für das Völkerrecht

3

Michael Brenner Rahmenbedingungen des Menschenbildes im Gemeinschaftsrecht

19

Helmut Lecheler Ansätze zu einem „Unions-Kirchen-Recht" in der Europäischen Union?

39

Christian Hillgruber Die Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge als staatsrechtliches Problem: Wie weit trägt der Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG?

53

Dieter Blumenwitz Das Recht von Flüchtlingen und Vertriebenen auf Rückkehr in ihre Wohnstätten und zu ihrem Besitz. Entwicklungen im modernen Völkerrecht

75

Michel Fromont L'adaptation des sources du droit français au droit européen

91

Heinrich List Die Europäisierung des Steuerrechts Winfried

109

Veelken

Schutzgegenstand und materielle Schutzvoraussetzungen in den europäischen Entwürfen zum Geschmacksmusterrecht

123

Werner Ehrlicher Der Weg zum Euro

159

Walter Rudolf Über Minderheitenschutz in Europa

185

X

Inhaltsverzeichnis II. Staat und Verfassung

Max-Emanuel Geis Dauernde Ordnung hinter wechselnden Staatsformen? Eine Betrachtung des staatstheoretischen Werks Walter Leisners von 1978 bis 1989

201

Udo Di Fabio Der Staat als Institution. Zur Kontingenz der modernen Staatsidee

225

Boris Meissner Die Frage des Friedensvertrages mit Deutschland von Potsdam bis zur Wiedervereinigung

235

Yvonne Bongert La peine et la loi dans l'Ancien Droit français

251

Otto Depenheuer Zwischen Verfassung und Gesetz. Die rechtsstaatliche Struktur der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie

277

Rüdiger Breuer Stabilität der Verfassung?

301

Michael Kloepfer Verfassungserfahrung und Verfassungsgestaltung

339

Josef Isensee Vorbehalt der Verfassung. Das Grundgesetz als abschließende und als offene Norm ..

359

I I I . Grundrechte und Demokratie Peter Badura Territorialprinzip und Grundrechtsschutz Claus-Wilhelm

403

Canaris

Das Recht auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG als Grundlage eines arbeitsrechtlichen Kontrahierungszwangs. Gedanken anläßlich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im „Schülerzeitungsfall"

413

Reiner Schmidt Ethik, Recht und Umweltschutz in der Demokratie

437

Herbert Schambeck Grundprobleme des parlamentarischen Regierungssystems

449

Inhaltsverzeichnis

XI

Matthias Schmidt-Preuß Gestaltungskräfte im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland

467

Antonio Baldassarre Die sozialen Grundrechte in Italien

485

Armando Mannino I rapporti tra la maggioranza e le opposizioni in Italia: dall' assemblea constituente all' entrata in vigore dei regolamenti parlamentari del 1971

499

Markus Heintzen Die Postprivatisierung im Spiegel des Petitionsgrundrechts

531

Gerd Roellecke Zur demokratischen Legitimation der rechtsprechenden Gewalt

553

Udo Steiner Zum Entscheidungsausspruch und seinen Folgen bei der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle

569

Hartmut Maurer Das verordnungsvertretende Gesetz

583

Max Vollkommer Zum Schutz der Persönlichkeit vor unbefugter Vermarktung durch die Medien

599

Detlef Merten Eheliche und nichteheliche Lebensgemeinschaften unter dem Grundgesetz

615

IV. Eigentum und Steuer Paul Kirchhof Das Geldeigentum

635

Joachim Burmeister Grundrechtsschutz des Eigentums außerhalb der Eigentumsgarantie. Vorüberlegungen zu einer dogmatischen Neustrukturierung der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie

657

I n h a l t s v e r z e i c h n i s Ullrich Battis Zur Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums durch Gesetzgeber und Gerichte

679

Fritz Ossenbühl Eigentumsschutz gegen Nutzungsbeschränkungen

689

Volkmar Götz Entschädigung und Ausgleichsleistungen für naturschutzbedingte Beschränkungen der Landwirtschaft

707

Hans-Jürgen Papier Alterssicherung und Eigentumsschutz

721

Karl Albrecht Schachtschneider Das Recht am und das Recht auf Eigentum. Aspekte freiheitlicher Eigentumsgewährleistung

743

Rupert Scholz Steuerstaat und Rechtsstaat

797

Dietrich Pirson Steuerbewilligung und Steuergesetz

811

V. Wirtschaft Ernst Dürr Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik als Determinanten des Wirtschaftswachstums

827

Otmar Issing Zur Vermögenssituation der privaten Haushalte in Deutschland

833

Christian Watrin Privatisierung in ordnungspolitischer Sicht

853

Norbert Berthold Kapitalismus in der Krise?

867

Martin Bullinger Nationaler öffentlicher Rundfunk im weltweiten Wettbewerb

885

Inhaltsverzeichnis

XIII

VI. Verwaltung Bernhard Raschauer Von der Verwaltungsverträglichkeit der Rechtsdogmatik

897

Franz-Ludwig Knemeyer Gemischte Demokratie - ein Wesensmerkmal kommunaler Selbstverwaltung

911

Günter Püttner Mitbestimmung im öffentlichen Bereich

927

Peter M. Huber Der Staatsangehörigenvorbehalt im deutschen Beamtenrecht

937

Michael Sachs Kein Recht auf Stiftungsgenehmigung

955

Thomas Würtenberger Der kommunale Finanzausgleich - politisch entschieden oder verfassungsrechtlich determiniert?

973

Ulrich Karpen Brauchen wir einen Gerichtsmanager?

989

Richard Bartlsperger Die deliktsrechtliche Gefahren Verantwortung

1003

Burkhardt Ziemske Zur Leistungsfalle für Professoren

1033

Schriftenverzeichnis

1041

Autorenverzeichnis

1057

I. Europa

Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für das Völkerrecht* Von Albrecht Randelzhofer

I.

Am 24. Oktober 1998 jährte sich zum 350sten Male die Unterzeichnung der Friedensverträge von Münster und Osnabrück, mit denen der 30-jährige Krieg beendet wurde. Diese Verträge sind als der „Westfälische Frieden" in die Geschichte eingegangen und gehören zu den wenigen historischen Daten, die einer größeren Öffentlichkeit bekannt sind. Fritz Dickmann, dessen Buch ein, wenn nicht das Standardwerk zum Westfälischen Frieden ist, meint, daß dieser Frieden in dreifacher Hinsicht neue Fundamente gelegt habe: Zum ersten sei seine Bedeutung für die europäische Staatengesellschaft und für das Völkerrecht zu nennen.1 An die Stelle der einstigen Kirchen- und Glaubenseinheit habe er eine Gemeinschaft souveräner Staaten gesetzt, in der sich fortan die Einheit Europas darstellte. Zweitens sei der Frieden von „höchster Wichtigkeit für die Reichsverfassung" gewesen, da die Reichsstände nunmehr als Völkerrechtssubjekte anerkannt waren. 2 Zum dritten habe der Frieden bedeutungsvolle Entscheidungen über die kirchlichen Verhältnisse in Deutschland getroffen. 3 Man kann diese drei Aspekte unterscheiden, aber man darf nicht übersehen, daß sie nicht getrennt nebeneinander stehen, sondern eng miteinander verbunden sind. Der völkerrechtliche Gehalt des Westfälischen Friedens beschränkt sich nicht auf * Der Schwerpunkt des Werkes von Walter Leisner liegt im Staats- und Verwaltungsrecht; es greift aber vielfältig darüber hinaus. Auch dem Völkerrecht hat er sich als akademischer Lehrer gewidmet. Weitreichende Kenntnis und tiefgreifendes Verständnis der Geschichte geben vielen Teilen seines Werkes ihren besonderen Rang. Eine Betrachtung zur Bedeutung des Westfälischen Friedens für das Völkerrecht erachte ich daher für keinen willkürlichen Beitrag zu seiner Festschrift. 1 2 3

Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 7. Auflage 1998, S. 5 f. Dickmann, aaO, S. 7. Dickmann, aaO, S. 8 f.

2 FS Leisner

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Albrecht Randelzhofer

das Verhältnis der europäischen Staaten untereinander, sondern erfaßt auch das Verhältnis der Glieder des Heiligen Römischen Reichs, der Reichsstände, zueinander. Zugespitzt, aber zum Teil zutreffend, spricht der englische Historiker Hallam davon, das Europäische Völkerrecht habe sich aus dem nach außen gewendeten Reichsrecht entwickelt.4 Der Ausgleich bezüglich der Religionen hat sowohl Auswirkungen auf das Völkerrecht 5 wie auf die Reichsverfassung 6 gehabt. Entsprechend der von Dickmann gemachten Unterscheidung geht es hier in erster Linie um die Bedeutung des Westfälischen Friedens für das Völkerrecht allgemein, was damals fast gleichbedeutend war mit dem Völkerrecht zwischen den europäischen Staaten. Aus dem eben genannten Grund ist es in diesem Zusammenhang aber auch noch notwendig, auf die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches einzugehen.

II. 1. Westfälischer

Frieden und lus Publicum Europaeum

a) Befragt man die völkerrechtliche Literatur bis zum 2. Weltkrieg, dann wird der Westfälische Frieden als Wendepunkt, als Epochengrenze gewertet, die die davorliegende mittelalterliche auf göttlichem Gebot beruhende, religiös-politische Einheit der res publica christiana unter Kaiser und Papst trennt von der neuzeitlichen säkularen Ordnung souveräner, d. h. gleichberechtigter Staaten. So heißt es in dem danach führenden deutschen Lehrbuch des Völkerrechts von Liszt-Fleischmann7, der Westfälische Friede bilde den Abschluß der ersten Entwicklungs4

Zitiert nach Wilhelm Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Auflage, 1988, S. 49. 5 Der Ausgleich der Religionen hat im lus Publicum Europaeum dazu geführt, daß Staaten unterschiedlicher Religionen als gleichberechtigte Glieder in diese Staatengesellschaft aufgenommen wurden. 6 Der Ausgleich bezüglich der Religionen wird in der Reichsverfassung vor allem hinsichtlich der „itio in partes" deutlich. Art. V § 52 Instrumentum Pacis Osnabrugense (IPO) bestimmt, daß dann, wenn auf dem Reichstag die katholischen Stände und die Stände Augsburgischer Konfession zu getrennten Verhandlungen auseinandergehen, die Stimmenmehrheit nicht gelten soll, vielmehr die Sache nur durch gütlichen Vergleich erledigt werden kann (Lateinischer Text des IPO: Karl Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. Auflage, 1913, S. 395 ff.; deutscher Text: Arno Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich - Klassische Texte und Dokumente zur Verfassungsgeschichte des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation, 1984, S. 289 ff.). 7 12. Auflage, 1925, S. 21. Randall Lesaffer, The Westphalia Peace Treaties and the Development of the Tradition of Great European Peace Settlements prior to 1648, Grotiana Vol. 18 (1997), S. 72 stellt zutreffend fest: „The broad majority of nineteenth and twentieth century specialists of international law and history consider the 1648 treaties ... as the very birth of the classical ius publicum Europaeum".

Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für das Völkerrecht

5

periode und den Auftakt des modernen Völkerrechts. Diese Sicht findet sich auch in jüngeren Darstellungen des Völkerrechts. 8 Insbesondere im englischsprachigen Schrifttum ist die Vorstellung verbreitet, der Westfälische Frieden habe eine neue Konzeption, ein neues System des Volkerrechts hervorgebracht, das noch heute gültig sei. Diese neue Konzeption beruhe auf der Vorstellung des Volkerrechts als einer Ordnung zwischen souveränen Staaten ungeachtet ihrer Religion und ihrer Staatsform. 9 Indes, es sind Zweifel angebracht.10 Diese Sicht spricht dem Westfälischen Frieden Wirkungen zu, die schon deutlich vor seinem Zeitpunkt eingetreten sind. Nicht erst seit 1648 gab es unabhängige Staaten, die miteinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung verkehrten. So sind die Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück und die Form der Friedensschlüsse ein deutlicher Beleg dafür, daß Frankreich und Schweden mit dem Kaiser, als dem Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches, als gleichrangig angesehen und behandelt werden. Sie haben diese Stellung nicht durch den Westfälischen Frieden erlangt, sondern lange zuvor, ohne daß sich ein auf ein Datum festlegbarer Zeitpunkt bestimmen ließe. Der Westfälische Frieden ist nicht Auslöser dieser Lage, sondern spiegelt sie nur wieder. Aber nicht nur Frankreich und Schweden waren im Jahre 1648 bereits unabhängige Staaten, mit dem Reich auf gleicher, völkerrechtlicher Ebene verkehrend, sondern etwa auch England, Dänemark, Spanien und Portugal, um nur diese zu nennen. Und letztlich sind auch die Niederlande und die Schweiz nicht erst durch den Westfälischen Frieden zu unabhängigen Staaten geworden. Die Niederlande haben in langen Kämpfen ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Unabhängigkeit von Spanien erlangt. Bereits im Vertrag von Antwerpen 1609 hat Spanien zugestanden, für die Dauer von 12 Jahren, die Vereinigten Provinzen wie unabhängige Staaten zu behandeln. Am 30. Januar 1648, also schon vor dem Abschluß des Westfälischen Friedens, wurde dann in Münster zwischen Spanien und den Niederlanden ein Vertrag geschlossen11, der den Niederlanden endgültig die Unabhängigkeit zugestand. Dieser Vertrag bewirkte keine Änderung der schon bestehenden Verhältnisse, vielmehr schrieb er diese in rechtlich eindeutiger Weise fest. 8

Siehe z. B. Antonio Cassese, International Law in a Divided World, 1986, S. 34 und 37; vgl. auch Alfred de Zayas, Peace of Westphalia, in: R. Bernhardt (ed.), Encyclopedia of Public International Law, Instalment 7, 1984, S. 536. 9 Siehe Richard Falk., The Interplay of Westphalia and Charter Conceptions of International Legal Order, in: Falk/Black (ed), The Future of the International Legal Order, Vol. I: Trends and Patterns, 1969, S. 32 und 43. Weitere Nachweise bei Bardo Fassbender, Die verfassungs- und völkerrechtsgeschichtliche Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648, in: Ingo Erberich u. a. (Hrsg.), Frieden und Recht, 1998, S. 22, FN. 47. 10 Zu Recht kritisch Grewe, aaO, S. 26; Fassbender, aaO, S. 22 ff. n Text in: Clive Parry, The Consolidated Treaty Series, Vol. I, 1969, S. 1 ff. 2*

6

Albrecht Randelzhofer

Auch die Schweiz hatte ihre Unabhängigkeit schon zum Ende des 15. Jahrhunderts (1488) erlangt. Auch hier schaffte der Westfälische Frieden 12 keine neue, sondern bestätigte in rechtlich eindeutiger Weise eine schon länger bestehende Lage. Immerhin wird man, gerade als Jurist, die rechtliche Bestätigung und Verfestigung einer bereits bestehenden tatsächlichen Lage nicht als geringfügig oder gar bedeutungslos ansehen.13 Aber einen Wendepunkt bezüglich der Ablösung der mittelalterlichen res publica christiana unter der geistlichen Herrschaft des Papstes und der weltlichen Herrschaft des Kaisers stellt der Westfälische Frieden nicht dar. Vielmehr stellt er eine bedeutsame Stufe im Rahmen dieser Entwicklung dar, die bereits lange zuvor ihren Ausgang genommen hatte und sich auch nach 1648 fortsetzte. Bedeutsam ist diese Stufe, da es mit dem Westfälischen Frieden endgültig klar geworden war, daß es kein Zurück zur res publica christiana geben würde, sondern die Entwicklung weiter in die Richtung einer Volkerrechtsgesellschaft unabhängiger Staaten laufen würde. Gegenüber der Vorstellung vom Westfälischen Frieden als Wendepunkt der Geschichte sagt der Historiker Fritz Dickmann 14 zu Recht: „Denn so plötzlich mit so überraschender Gewalt pflegen neue Ideen in der Geschichte nun doch nicht hervorzubrechen, daß man ein einziges Jahr als Wendepunkt der Weltgeschichte betrachten könnte." 15

Ganz vergleichbar ist sich der Völkerrechtler dessen bewußt, daß das Völkerrecht eine Rechtsordnung ist, in der sich Rechtsregeln oft nur über einen längeren Zeitraum hin entwickeln. Ganz eindeutig ist dies beim Gewohnheitsrecht der Fall, das im Völkerrecht eine viel größere Rolle spielt als im innerstaatlichen Recht, und in dem schon qua definitionem eine Rechtsregel nicht ad hoc, sondern nur in einem längeren Zeitraum 16 entsteht. Der Völkerrechtler muß daher, für einen nur am innerstaatlichen Recht orientierten Juristen nicht ohne weiteres nachvollziehbar, mit dem Problem leben, daß er für eine Norm des Gewohnheitsrechts keinen Zeitpunkt angeben kann, ab dem sie gilt, sondern nur einen Zeitraum in dem sie entstanden ist. Für völkerrechtliche Verträge kann ein Tag angegeben werden, an dem 12

Art. V I IPO und § 61 Instrumentum Pacis Monasteriense (IPM). James Bryce, The Holy Roman Empire, revised edition, 1866, S. 372 stellt fest, daß der Westfälische Frieden „did no more than legalize a condition of things already in existence, but which, by being legalized, acquired new importance". 14 AaO, S. 7. 13

15 Im gleichen Sinne kritisch Ernst Reibstein, Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, Bd. I, 1957, S. 363. 16 Daran hat auch das Urteil des Internationalen Gerichtshof im Nordsee-FestlandsockelFall vom 20. Februar 1969 (ICJ, Reports of Judgements, S. 3 ff.) grundlegend nichts geändert. Zwar hat der Gerichtshof anerkannt, daß die Zeit der gewohnheitsrechtlichen Übung kürzer sein kann, wenn die Übung von sehr vielen Staaten getragen wird und einheitlich ist, doch läßt sich auf das Urteil nicht die Möglichkeit eines „instant customary law" stützen.

Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für das Völkerrecht

7

sie in Kraft treten, d. h. rechtlich bindend werden. Gleichwohl stellt das Inkrafttreten völkerrechtlicher Verträge kaum je einen abrupten Wendepunkt in der Völkerrechtsordnung dar. Die meisten völkerrechtlichen Verträge bewegen sich im Rahmen der geltenden Völkerrechtsgesamtordnung und füllen diese konkret aus. Sucht man nach Wendepunkten der Völkerrechtsordnung durch Verträge, dann fällt einem vor allem der Kellogg-Briand-Pakt von 1928 ein, durch den die Staaten sich verpflichteten, auf den Krieg als Werkzeug der Politik zu verzichten. Einzige Ausnahme ist der Verteidigungskrieg. Tatsächlich wird in Bezug auf diesen Vertrag von einer Revolution des bisherigen Rechts17, einer soteriologischen 18 bzw. einer kopernikanischen Wende19 des Völkerrechts gesprochen. Mit Recht, wie ich meine, denn nach Jahrhunderten, in denen das Völkerrecht den Staaten die Freiheit zum Krieg belassen hatte, gilt seit 1928 ein generelles Kriegs verbot. Nur ganz schwache Ansätze dazu gab bzw. gibt es bereits im I. Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle und in der Satzung des Volkerbundes; den Durchbruch aber stellt der Kellogg-Briand-Pakt dar. Von einer Wende im Völkerrecht wird man auch im Hinblick auf den Schutz der Menschenrechte sprechen können. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg kümmerte sich das Völkerrecht nicht darum, wie ein Staat mit seinen Staatsangehörigen umging. Das Individuum war vollständig mediatisiert durch den Staat. Nach 1945 entwickelte sich dann in relativ rascher Folge der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz20. Heute ist der Schutz der Menschenrechte ein zentrales Anliegen des Völkerrechts. Eine dem Kellogg-Briand-Pakt und dem Menschenrechtsschutz vergleichbare Wendemarke in der Geschichte des Völkerrechts ist der Westfälische Frieden nicht. Die Auflösung der res publica christiana hin zu einer Gesellschaft unabhängiger Staaten ist durch ihn weder ausgelöst, noch zum Abschluß gebracht, vielmehr wird durch ihn diese Entwicklung bestätigt und weiter vorangetrieben. b) Der Charakter eines Wendepunktes wird dem Westfälischen Frieden auch insofern zugesprochen, als er die Säkularisierung der Völkerrechtsgesellschaft bewirkt habe, indem er eine Entwicklung eingeleitet habe, an deren Ende eine Staatengesellschaft stehe, für welche die glaubensmäßige Ausrichtung ihrer Glieder, der Staaten, ohne jede Bedeutung sei. Aber auch insofern wird man dem nur sehr bedingt zustimmen können. Der Beitrag des Westfälischen Friedens zu dieser Entwicklung ist nur ein mittelbarer, so daß es kaum angemessen ist, von einem Wendepunkt zu sprechen. 17 So Berber, Sicherheit und Gerechtigkeit, 1934, S. 27. iß So Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Band II, 2. Auflage, 1969, S. 36. 19 So Otto Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 84. 20 Siehe Albrecht Randelzhofer, Menschenrechtsschutz im Völkerrecht, in: Klaus Hempfer/ Alexander Schwan (Hrsg.), Grundlagen der politischen Kultur des Westens, 1987, S. 46 ff.

8

Albrecht Randelzhofer

Richtig ist, daß der Westfälische Frieden das Problem der religiösen Ausrichtung der Vertragsparteien insoweit relativierte, als in ihm und durch ihn die römischkatholischen Parteien und die protestantischen sowie calvinistischen Parteien als gleichberechtigt anerkannt wurden. 21 Von hier aus bis zu einer die religiöse Ausrichtung der Staaten völlig negierenden Völkerrechtsordnung war aber noch ein weiter Weg zurückzulegen, dessen Abschluß erst etwas mehr als zwei Jahrhunderte später erreicht war. Um hier nur zwei in diesem Zusammenhang wichtige Daten zu nennen: Der Hinzutritt Rußlands in den Kreis der europäischen Großmächte nach dem Frieden von Nystad (1721) und die Zulassung der Hohen Pforte (Türkei) zum Konzert der Mächte im Friedensvertrag von Paris 1856, der den Krimkrieg beendete. Vor allem aber darf nicht übersehen werden, daß der Westfälische Frieden gerade die christliche Ausrichtung der Vertragsparteien an verschiedenen Stellen zur Geltung bringt. So wird in der Präambel beklagt, daß durch den Krieg „viel Christenblut vergossen wurde," und im Art. IIPO und § 1 IPM heißt es: „pax sit christiana, universalis, perpetua", d. h. ein christlicher allgemeiner und immerwährender Friede solle herrschen. Die gleiche Kennzeichnung als Friede zwischen christlichen Staaten finden sich auch in den nachfolgenden großen Friedensverträgen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts: Oliver (1660), Nimwegen (1678), Ryswijk (1697), Utrecht (1713), Paris (1763), Hubertusburg (1763), Versailles (1783). 22 Auch wenn im völkerrechtlichen Schrifttum des 18. Jahrhunderts gelegentlich der Eindruck vermittelt wird, die damalige Völkerrechtsordnung nehme keinerlei Bezug mehr auf die religiöse Ausrichtung der Staaten23, so wird dies durch die Vertragspraxis der Staaten gerade nicht bestätigt. Noch in den Wiener Verträgen von 1815 findet sich die Anrufung der Heiligen und Unteilbaren Dreieinigkeit und ist die Rede von „allen Mächten der Christenheit". Doch taucht hier daneben erstmals in der Deklaration gegen den Negerhandel vom 8. Februar 1815 auch die Wendung „toutes les nations civilisées de la terre" auf. Hier erst findet die Abkehr vom europäischen Völkerrecht als der Gemeinschaft christlicher Staaten statt. Ist der Westfälische Frieden damit nicht der oft behauptete Wendepunkt in dem doppelten Sinne der Ersetzung der res publica christiana durch eine Mehrzahl unabhängiger Staaten und der Säkularisierung des Völkerrechts und damit in summa der Beginn des modernen Völkerrechts, so ist er doch eine wichtige Stufe im Rahmen dieser Entwicklung. 24 21 Siehe Art. V § 1 und Art. VII § 1 IPO. 22 Zutreffend stellt Grewe, aaO, S. 333 f. daher fest: „Sobald man die Gefilde der rationalistischen Spekulation verläßt und sich der konkreten diplomatisch-politischen Wirklichkeit nähert, steht man vor der Tatsache, daß mit dem ,Droit public de l'Europe 4 immer noch eine Rechtsordnung der »Christenheit' oder, wie man zu sagen beginnt, des »christlichen Europas' besteht." 23 Z. B. bei Enteric de Vattel, Droit des gens, ou principes de la loi naturelle appliqués à la conduite et aux affaires des Nations et des Souverains, 1758.

Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für das Völkerrecht

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c) Abgesehen von diesen beiden grundlegenden Entwicklungslinien enthält der Westfälische Frieden, bzw. seine Vorstufen, manches Detail, das für das Völkerrecht von Bedeutung ist. Auf einige davon sei hier kurz eingegangen. aa) Ein besonderes Problem des Abschlusses des Westfälischen Friedens lag darin, daß die Verhandlungen in einer Zeit geführt werden mußten, in denen die Kampfhandlungen andauerten und durch keinen Waffenstillstand unterbrochen waren. Zwar war durch den Prager Friedensvertrag vom 30. Mai 1635 zwischen dem Kaiser und dem Kurfürsten von Sachsen, dem fast alle Reichsstände beigetreten waren, der Krieg zwischen den Reichsständen weitgehend beendet, aber durch den Kriegseintritt Frankreichs nahmen die Kriegshandlungen auf dem Gebiet des Reiches zu. 25 Zur Lösung des Problems bestimmte der Vorvertrag von Hamburg vom 25. Dezember 1641, daß die Verhandlungsorte Münster und Osnabrück, sowie die Verbindungsstraßen zwischen ihnen neutralisiert wurden. 26 Auch wenn der Krieg mitunter bis an die Mauern von Münster und Osnabrück seine Wirkungen spüren ließ, so konnten doch die Friedensverhandlungen im Kern unbeeinträchtigt ihren Fortgang nehmen. Diese „Technik" der Neutralisierung der Verhandlungsorte wirkt modern und findet z. B. heute eine Entsprechung in der Festlegung der entmilitarisierten Zone von Panmunjon zwischen Süd- und Nordkorea für die Waffenstillstandsverhandlungen und die Gespräche zur Überwachung dieses Waffenstillstandes. bb) Durchaus zeitgemäß ist demgegenüber die allgemeine und umfassende Amnestieklausel27 in Art. II IPO bzw. § 2 IPM, in der es heißt: „Beide Seiten gewähren einander immerwährendes Vergessen und Amnestie (perpetua oblivio et amnestia) alles dessen, was seit Beginn der Kriegshandlungen an irgendeinem Ort und auf irgendeine Weise von dem einen oder anderen Teil, hüben wie drüben, in feindlicher Absicht begangen worden ist, und zwar in der Weise, daß einer dem anderen weder aus dem einen noch aus dem anderen Grund oder Vorwand künftig irgendwelche feindselige Handlungen, Streitigkeiten oder Belästigungen zufügt oder irgendwelche Hindernisse in Bezug auf die Person, den Stand, die Güter oder deren Sicherheit, selbst oder durch andere, heimlich oder öffentlich, unmittelbar oder mittelbar, unter dem Vörwand eines [ihm zustehenden] Rechtes oder mit 24 So schon Leo Gross, The Peace of Westphalia, 1648 - 1948, American Journal of International Law, Vol 42 (1948), S. 27: „It would seem hazardous, however, to regard the Settlement of Westphalia ... as more than a stage in the gradual ... process which antedates and continues beyond the year 1648." Im selben Sinne Ulrich Scheuner, Die großen Friedensschlüsse als Grundlage der europäischen Staatenordnung zwischen 1648 und 1815, in: ders., Schriften zum Völkerrecht, 1984, S. 351; Arthur Nussbaum, Geschichte des Völkerrechts, 1960, S. 128. 25 Siehe Heinhard Steiger, Das ius belli ac pacis des alten Reiches zwischen 1645 und 1801, Der Staat, Band 37 (1998), S. 496. 26 Siehe dazu Helmut Lahrkamp, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Frieden, 1997, S. 240. 27 Zur Amnestie umfassend Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag, 1979, Kapitel 1 (S. 35 - 278); siehe auch Scheuner, aaO, S. 357 f.

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Gewalt, innerhalb oder außerhalb des Reiches, ungeachtet irgendwelcher früheren Verträge gegenteiligen Inhaltes in den Weg legen oder dies veranlassen oder gestatten darf; vielmehr sollen alle insgesamt und einzeln auf beiden Seiten - sowohl vor dem Kriege als auch im Kriege - mit Worten, Schriften oder Taten zugefügten Beleidigungen, Gewalttaten, feindselige Handlungen, Schäden und Unkosten ohne Ansehen der Person oder Sachen in der Weise gänzlich gegeneinander aufgehoben sein, auf daß alles, was dieserhalb die eine von der anderen Partei fordern könnte, immerwährendem Vergessen anheimgegeben sei." Das mag vor dem Hintergrund der langen Dauer des Krieges und der von allen Seiten begangenen Grausamkeiten heute überraschen, ja als unangemessen erscheinen. Indessen ist das nur konsequent in einer Zeit, in der das Völkerrecht kein Kriegs- bzw. Gewaltverbot kennt, mit der Folge, daß der Krieg bezüglich des Angreifers ebenso legal ist, wie bezüglich des Verteidigers. Auf der Grundlage des heutigen Völkerrechts mit seinem allgemeinen Gewaltverbot 28 fällt es nicht leicht eine solche allgemeine Amnestieklausel zu akzeptieren und damit Angreifer und Verteidiger auf die gleiche Stufe zu stellen. Und doch lohnt es das Nachdenken darüber, ob es dem Frieden dient, aus dem Gewaltverbot solche Konsequenzen zu ziehen, die nicht nur zu Kriegsverbrecherprozessen führen, sondern auch dazu, daß Schadensersatzansprüche Privater wegen im Krieg erlittener Schäden erhoben werden. 29 Im Sinne der Wiedergutmachung bzw. Ahndung individuellen Unrechts ist letzteres alles nachvollziehbar. Es bleibt aber die Frage, ob dies der richtige Weg ist, nach einem Krieg, den entschlossenen Schritt zum Frieden zu tun. 30 cc) Bemerkenswert ist, daß der Westfälische Frieden sich nicht darauf beschränkt, den Krieg zu beenden und den Frieden zu verkünden, sondern darüber hinaus Bestimmungen enthält, die der Sicherung des Friedens dienen.31 Nach Art. X V I I § 5 IPO soll der geschlossene Frieden uneingeschränkt in Kraft bleiben. Die Vertragsparteien sollen verpflichtet sein, sämtliche Bestimmungen des Vertrages gegen jedermann ohne Unterschied des Bekenntnisses zu schützen und zu verteidigen. Sollte aber eine Bestimmung verletzt werden, soll der Geschädigte den Schädiger zunächst abmahnen, danach jedoch die Sache einem Vergleich oder einer rechtlichen Entscheidung zuführen. Wird ein Streit durch keines dieser Mittel innerhalb von drei Jahren gelöst, so sollen sämtliche Vertragsparteien nach Art. XVII § 6 IPO verpflichtet sein, dem Verletzten beizustehen, letztlich auch mit Waffengewalt. Gemäß Art. X V I I § 7 IPO ist es keinem Reichsstand erlaubt, sein Recht mit Waffengewalt zu verfolgen, vielmehr muß er den Weg des Rechts beschreiten. Wer dem zuwiderhandelt, soll des Friedensbruchs angeklagt werden. 28 Siehe Art. 2 Ziffer 4 der Satzung der Vereinten Nationen. Siehe dazu die Kommentierung von Randelzhofer, in: Simma/Mosler/Randelzhofer/Tomuschat/Wolfrum (eds.), The Charter of the United Nations - A Commentary, 1994, S. 106 ff. 29 Vgl. dazu Randelzhofer I Dörr, Entschädigung für Zwangsarbeit?, 1994. 30 Vgl. dazu allgemein Hans von Hentig, Der Friedensschluß. Geist und Technik einer verlorenen Kunst, 1952. 31 Siehe Art. X V I I §§ 5, 6 und 7 IPO; diesen entsprechen die §§ 115 und 116IPM.

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Diese Regelungen stellen im Kern ein System der Kriegsverhütung dar, in dem das Gewaltverbot flankiert wird vom Gebot der friedlichen Streiterledigung und der Möglichkeit seiner Durchsetzung durch kollektive Zwangsmaßnahmen.32 Damit zeigt sich im Rahmen des Westfälischen Friedens ein Konzept, das auf der Ebene des universalen Völkerrechts erst im Rahmen der Satzung des Völkerbundes sichtbar wird. 33 In Art. X V I I § 6IPO bzw. § 116IPM vorwiegend die Möglichkeit des militärischen Eingreifens Schwedens und Frankreichs zu sehen34, ist eine zu negative Sicht auf die Dinge. dd) Eine für die damalige Zeit sehr positiv zu bewertende Regelung findet die Kriegsgefangenenfrage im Westfälischen Frieden. Art. X V I § 7 IPO bzw. § 104 IPM legen fest, daß sämtliche Gefangenen der Parteien ohne Unterschied, ob sie dem Zivil- oder Militärstand angehören, in der Weise freigelassen werden, wie dies zwischen den Befehlshabern der Heere mit Genehmigung des Kaisers vereinbart worden ist oder vereinbart werden wird. Auf den ersten Blick und vor dem Hintergrund der heutigen Völkerrechtslage mag dies als wenig erscheinen, doch ändert sich das, wenn man das Schicksal von Kriegsgefangenen in den Zeiten vor dem Jahre 1648 betrachtet. 35 Ursprünglich kam es oft zur Tötung des wehrlosen Gegners. In zunehmendem Maße trat dann die wirtschaftliche „Verwertung" in den Vordergrund, indem der Gefangene zum Sklaven gemacht wird. Das Christentum führt nur unter Christen zu einer gewissen Milderung nicht aber gegenüber den sog. Ungläubigen. Bis tief in die Neuzeit hinein ist das Schicksal des Gefangenen oft von Willkür und Grausamkeit geprägt. Nicht zuletzt liegt das daran, daß der Gefangene im allgemeinen die persönliche Beute des Soldaten ist, der ihn gefangen genommen hat. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickeln sich gewohnheitsrechtliche Regeln, die das Los des Gefangenen bessern. Dieses Gewohnheitsrecht wurde auf den Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 erstmals in der noch heute geltenden Haager Landkriegsordnung kodifiziert. 36 32 Siehe dazu auch Heinhard Steiger, Der Westfälische Frieden - Grundgesetz für Europa?, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Westfälische Friede, 1998, S. 71 ff.; Lesaffer, aaO, S. 79 ff. 33 Leo Gross, aaO, S. 25, sieht in den genannten Regelungen in gewissem Sinne einen frühen Präzedenzfall für die Artikel 10, 12 und 16 der Völkerbundssatzung. Ähnlich auch de Zayas, aaO, S. 538; vgl. auch Karl-Heinz Ziegler, VÖlkerrechtsgeschichte, 1994, S. 188. Alfred Verdross I Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Auflage, 1984, § 78 gehen davon aus, daß die entsprechenden Verpflichtungen des Westfälischen Friedens bald nach seinem Abschluß „durch desuetudo in Vergessenheit geraten" sind. 34 In diesem Sinne Grewe, aaO, S. 326; siehe auch Scheuner, aaO, S. 358, FN. 32 mit freilich abwägender Sicht. 3 5 Siehe dazu Berber, aaO, S. 148 ff. 36 Die Haager Landkriegsordnung (HLKO) ist die Anlage zum IV. Haager Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges. Das zweite Kapitel des ersten Abschnittes der HLKO, die §§ 4 - 20, regeln den Status der Kriegsgefangenen. Text des Abkommens bei Berber (Hrsg.), Völkerrecht - Dokumentensammlung, Band II, 1967, S. 1892 bzw. 1896 ff.

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Die wesentliche Verbesserung liegt vor allem darin, daß der Gefangene nun der Gewalt der feindlichen Regierung untersteht, aber nicht der Gewalt der Person, die ihn gefangen genommen hat 37 , und daß die Gefangenen nach dem Friedensschluß binnen kürzester Frist in ihre Heimat zu entlassen sind. 38 Bezüglich des letzteren Punktes hat das III. Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12. August 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen 39 in seinem Art. 118 die weitere Verbesserung gebracht, daß die Gefangenen schon „nach Beendigung der aktiven Feindseligkeiten ohne Verzug freigelassen und heimgeschafft" werden. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, daß Art. X V I § 7 IPO und § 104 IPM zu ihrer Zeit eine bemerkenswert moderne Regelung darstellten, die sich aber allgemein erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durchsetzte. ee) Ansätze zur Entwicklung von völkerrechtlichen Regeln, die freilich erst Anfang des 19. Jahrhunderts voll ausgebildet waren, finden sich im Zusammenhang mit dem Westfälischen Frieden auch in einem Bereich, der meist nur mit Kritik und Spott bedacht wird. In Münster und Osnabrück waren nicht weniger als 148 Gesandtschaften akkreditiert, 111 aus dem Reich und 37 aus anderen Staaten. Schon diese große Zahl macht es verständlich, daß die Verhandlungen schwierig und langwierig waren. Die Schwierigkeiten wurden durch den Umstand noch gesteigert, daß nahezu alle Gesandten an enge Instruktionen gebunden waren und kaum selbständig Entscheidungen treffen konnten, sondern ständig zeitraubende Rücksprachen mit ihren Regierungen halten mußten. Hinzu kam noch, daß man zu den inhaltlichen Erörterungen der Sachprobleme oft erst kam, nachdem Wochen und Monate mit auf den ersten Blick unverständlichen Rangstreitigkeiten und Streitigkeiten ums Zeremoniell vergangen waren. Es wäre aber falsch, diese Streitigkeiten in ersten Linie auf persönliche Eitelkeiten der Gesandten zurückzuführen. Vielmehr waren sie der Ausfluß des Kampfes der beteiligten Staaten um ihre Stellung, ihren Rang, in der sich herausbildenden Staatengesellschaft. 40 Das damalige, auf Völkergewohnheitsrecht beruhende Gesandtschaftsrecht kannte Gesandtschaften unterschiedlicher Qualität nicht nur in Fragen des Zeremoniells, sondern auch der Immunität. Dem Kaiser, Frankreich, Schweden aber auch Venedig war in Münster und Osnabrück das Gesandtschaftsrecht oberster Qualität von Anfang an zugestanden. Der Verlauf der Verhandlungen war gekennzeichnet vom Versuch zahlreicher Mächte, dieses Recht auch für sich in Anspruch zu nehmen. Die weitere Entwicklung des Gesandtschaftsrechts ging dann aber in die Richtung, daß bezüglich der Immunität sich ein einheitlicher Status ohne Rücksicht auf Größe und Bedeutung eines Staates herausgebildet hat. Damit waren auch Rangstreitig37 Art. 4 HLKO. 38 Art. 20 HLKO. Zum heutigen Stand des Schutzes der Kriegsgefangenen, siehe Horst Fischer, in: Dieter Fleck (Hrsg.), Handbuch des Humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten, 1994, S. 260 ff. 39 Text bei Berber, aaO, S. 1999 ff. 40 Dazu Dickmann, aaO, S. 206 ff.

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keiten entschärft. Die Rangfrage, wie sie im Wiener Reglement von 19. März 1815, im Aachener Protokoll vom 21. November 1818 und der heute geltenden Wiener Konvention über die diplomatischen Beziehungen vom 18. April 196141 bezüglich der Leiter ständiger diplomatischer Missionen mit der Einteilung in die Klassen der Botschafter, Gesandten, Geschäftsträger 42 noch immer aufscheint, hat heute nur noch für die Etikette und als Stilmittel Bedeutung, nicht bezüglich der Immunität. Zur Zeit der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden aber waren Rangfragen verbunden mit inhaltlichen Statusproblemen. Das ist der Grund für die uns heute mitunter bizarr anmutenden Streitigkeiten. ff) Mitunter werden in den westfälischen Friedensverträgen erste Ansätze des Menschenrechtsschutzes gesehen, speziell bezüglich der Glaubens- und Gewissensfreiheit. 43 Martin Hechel 44 sieht im religiösen Emigrationsrecht die erste Grundrechtsgarantie in Deutschland. Die entsprechende Bestimmung lautet: 45 „Sollte aber ein Untertan, dem im Jahre 1624 weder die öffentliche noch die private Religionsausübung zustand, oder jemand, der nach der Verkündung des Friedens sein Bekenntnis wechselt, freiwillig auswandern oder vom Landesherrn dazu gezwungen werden, so soll es ihm freistehen, entweder sein Vermögen zu behalten oder nach dessen Veräußerung wegzuziehen oder das zurückgelassene Vermögen durch Verwalter bewirtschaften zu lassen (liberum ei sit, aut retentis bonis aut alienatis discedere retenta per monistros administrare) und, so oft es die Lage erfordert, zur Aufsicht über sein Vermögen oder zur Führung von Prozessen oder zur Eintreibung von Schulden frei und ohne Geleitsbrief (libere et sine literis) sich dorthin zu begeben." Trotz des Wortlautes wird man darin aber kein Grundrecht im heutigen Verständnis sehen können, ein Recht, das dem Einzelnen aufgrund seiner Würde als Mensch zusteht. Vielmehr ist dieses Recht dem Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Konfession verliehen und zwar nicht zu irgendeiner Konfession, sondern zu einer von jenen, um deren Ausgleich es dem Westfälischen Frieden gerade geht. Nicht um Glaubens- und Gewissensfreiheit geht es im Westfälischen Frieden, sondern um Ausgleich und Gleichgewicht zwischen Konfessionsparteien, auch wenn das der individuellen Glaubens- und Gewissensfreiheit zum Teil auch zugute kommt. 46 Im Jahre 1648 fehlten noch die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, die erst etwas mehr als hundert Jahre später zu den ersten verfassungsrechtlichen Gewährleistungen der Grundrechte führten und erst dreihundert Jahre später zu den ersten völkerrechtlichen Verbürgungen der Menschenrechte.

Text in Randelzhofer (Hrsg.), Völkerrechtliche Verträge, 8. Auflage, 1999, S. 87 ff. 42 Art. 14 der Wiener Diplomatenkonvention. 43 Siehe Gross, aaO, S. 22 ff. 44

Martin Heckel, Religionsfreiheit. Eine säkulare Verfassungsgarantie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV, 1997, S. 661. 45 Art. V § 36IPO; für den Vertrag von Münster bestätigt durch § 47 IPM. 46 Siehe Grewe, aaO, S. 372 f.; kritisch auch Fassbender, aaO, S. 18.

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2. Westfälischer

Frieden und Heiliges Römisches Reich

a) Die Frage, welche rechtliche Gestalt das Heilige Römische Reich durch den Westfälischen Frieden erhalten hat, gehörte und gehört zu den klassischen Themen des Verfassungs- und des Völkerrechts bzw. der Geschichte dieser beiden Disziplinen. Die Diskussion um diese Frage füllt Bibliotheken und sie wird bisweilen noch heute mit derselben Hitzigkeit und Aufgeregtheit geführt, wie im 17. Jahrhundert. Fast ist man versucht zu sagen, in dieser Diskussion schwinge noch immer ein Teil des Eifers mit, mit dem seinerzeit die Glaubenskämpfe geführt wurden. Bedeutende Geister haben sich an ihr beteiligt, nicht selten unter Pseudonymen, und fast jede denkbare These ist dazu vertreten worden. 47 Für Dietrich Reinkingk 48 (1590 - 1664) war das Reich noch immer eine Monarchie. Bogislaw Philipp v. Chemnitz (1605 - 1678) unter dem Pseudonym Hippolithus a Lapide 49 hielt demgegenüber das Reich für eine Aristokratie. Ludolf Hugo 50 (1630 - 1704) sprach von einer „civitas composita" und näherte sich dabei dem Begriff des Bundesstaates an, der freilich damals noch nicht bekannt war. Ganz ähnlich sieht Leibniz, unter dem Pseudonym Caesarinus-Fuerstenerius 51 die Rechtslage des Reiches. Am bekanntesten ist Samuel Pufendorfs 52 Urteil, das Reich sei ein „irreguläre aliquod monstro simile." Im 18. Jahrhundert wird die Diskussion um die Rechtslage des Reiches gelassener. Johann Jakob Moser 53 spricht von „ohnnützes Schulgezänk" und fügt hinzu: „Teutschland wird auf teutsch regiert und zwar so, daß sich kein Schulwort... oder die Regierungsart anderer Staaten dazu schicken, unsere Regierungsart begreiflich zu machen." Georg Wilhelm Friedrich Hegel 54 will die Diskussion zum Abschluß bringen: „Deutschland ist kein Staat mehr. Es ist kein Streit mehr darüber, unter welchen Begriff die deutsche Verfassung falle. Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr." Ungeachtet dessen, haben sich aber auch nach Hegel noch zahlreiche Juristen und 47

Siehe dazu Albrecht Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, Unveränderter Nachdruck der ersten Auflage, 1988, S. 67 ff. Jüngst Winfried Becker, Der Westfälische Friede im historisch-politischen Urteil der Nachwelt, erscheint demnächst im Jahres- und Tagungsbericht 1998 der Görresgesellschaft. Ich danke Herrn Becker sehr für die freundliche Überlassung des Typoskripts. 48 Dietrich Reinkingk, Tractatus de regimine saeculare et ecclesiastico, 1619, dass. II, cap. I. 49 Hippolithus a Lapide, Dissertatio de Ratione Status in Imperio nostro Romano-germanico, 1647, pars I, cap. III. 50 Ludolf Hugo, De statu regionum Germaniae, 1689. 51 Caesarini-Fuerstenerii, Tractatus de jure suprematus ac legationum principium Germaniae, 1677, cap. 14. 52 Unter dem Pseudonym Severinus de Monzambano, De Statu Imperii Germanici, 1667, cap. VI. 53 Neues Teutsches Staatsrecht, Band I, 1766, cap. I, § 21. 54 G.W. F. Hegel, Die Verfassung des Deutschen Reiches; neu herausgegeben von G. Mollat, 1935, Einleitung S. 1.

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Historiker um die Deutung der rechtlichen Struktur bemüht, die das Heilige Römische Reich durch den Westfälischen Frieden erhalten hatte.55 Dem soll hier aber nicht weiter nachgegangen werden, da es nicht um den Rechtscharakter des Reiches generell geht, sondern um die engere Frage, ob der Westfälische Frieden auch innerhalb des Reiches völkerrechtliche Strukturen hervorgebracht hat. b) Oben ist bereits der englische Historiker Hallam genannt worden, der meinte, daß das moderne Völkerrecht „eine Frucht des öffentlichen Rechts des Reiches sei." Ich halte das für eine überzogene These. Man wird aber nicht ernsthaft bestreiten können, daß nach dem Westfälischen Frieden in der Rechtsordnung des Reiches neben Lehensrecht und Staatsrecht auch völkerrechtliche Züge festzustellen sind. Fritz Dickmann meint, daß durch den Westfälischen Frieden die Reichsstände zu Völkerrechtssubjekten geworden sind. 56 Die in diesem Zusammenhang wichtigsten Bestimmungen sind Art. VIII §§ 1 und 2 IPO bzw. §§62 und 63 IPM. Art. VIII § 1 IPO lautet: „Damit aber Vorsorge getroffen sei, daß künftig keine Streitigkeiten in Bezug auf die Verfassung entstehen (in statu politico) sollen sämtliche Kurfürsten, Fürsten und Stände des Römischen Reiches in ihren alten Rechten, Vorrechten, Freiheiten, Privilegien, der ungehinderten Ausübung der Landeshoheit sowohl in geistlichen als auch in weltlichen Angelegenheiten (libero iuris territorialis tarn in ecclesiasticis quam politicis exercitio), Herrschaften, Regalien sowie in deren Besitz kraft dieses Vertrages derart bestätigt und bekräftigt werden, daß sie von niemendem jemals unter irgendeinem Vörwand tatsächlich beeinträchtigt werden können oder dürfen." 57 Zutreffend wurde darauf hingewiesen,58 daß hier nicht von Souveränität die Rede ist, sondern von einem ius territoriale. Frankreich hatte in seinen Vorschlägen zu dieser Bestimmung den Begriff „droits de Souveraineté" verwendet, 59 doch ist dies nicht in den endgültigen Vertragstext aufgenommen worden. Auch ist der Unterschied zum spanisch-niederländischen Friedensvertrag vom 30. Januar 1648 60 bemerkenswert, in dessen Art. 1 es heißt, die Generalstaaten seien „liberos & supremos Ordines" (in der französischen Übersetzung: „libres & Souverains Estats"). Was die Frage der Völkerrechtssubjektivität der Reichsstände anlangt, ist aber nicht Art. VIII § 1 IPO bzw. § 62 IPM ausschlaggebend, sondern Art. VIII § 2 IPO bzw. § 63 IPM. Dort heißt es: „ . . . Insbesondere aber soll den einzelnen Ständen das Recht zustehen, unter sich oder mit Auswärtigen zu ihrer Erhaltung und 55

Siehe die Nachweise bei Randelzhofer, aaO, S. 92 ff. Dickmann, aaO, S. 7; näher zu den völkerrechtlichen Aspekten des Reiches Randelzhofer, aaO, bes. S. 159 - 193, 199 - 270. 57 So auch § 62 IPM. Text nach Buschmann, aaO, S. 338 f. 58 Faßbender, aaO, S. 29 f. 59 Siehe Randelzhofer, aaO, S. 166; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen, 1970, S. 82ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Westfälische Frieden und das Bündnisrecht der Reichsstände, Der Staat, Bd. 8 (1969), S. 467 ff. 60 Siehe dazu oben FN. 11. 56

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Sicherheit Bündnisse zu schließen, jedoch in der Weise, daß sich solche Bündnisse nicht gegen den Kaiser, gegen das Reich und dessen Landfrieden oder insbesondere gegen diesen Vertrag richten, vielmehr so beschaffen sind, daß der Eid, durch den jeder von ihnen Kaiser und Reich verpflichtet ist, in allen Teilen unberührt bleibt (cumprimis vero ius faciendi inter se et cum exteris foedera pro sua cuiusque conservatione ac securitate singulis statibus perpetuo liberum esto, ita tarnen ne eiusmodi foedera sint contra imperatorem et imperium pacem que eius publicam vel hanc imprimis transactionem fiantque salvo per omnia iuramento quo quisque imperatori et imperio obstrictus est).61 Dieses Bündnisrecht mit auswärtigen Staaten gibt den Reichsständen das Recht, völkerrechtliche Rechte und Pflichten zu begründen. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß sie Völkerrechtssubjekte sind. Daran ändert auch die Einschränkung nichts, daß diese Bündnisse sich nicht gegen Kaiser und Reich und gegen die Ordnung des Westfälischen Friedens selbst richten dürfen. Ungeachtet dieser Einschränkungen verbleibt den Reichsständen ein weites Feld des Vertragsschlusses, auf dem sie ihre Völkerrechtssubjektivität verwirklichen können.62 Im übrigen kann nicht unbeachtet bleiben, daß diese Einschränkungen des Bündnisrechts jedenfalls von den größeren Reichsständen in der Praxis kaum beachtet wurden. Johann Jakob Moser 63 stellt fest: „In Absicht auf den Kayser und das Reich ist es so beschaffen, daß die an Macht in die erste Classe gehörige Reichsstände in ihren Landen thun, was sie wollen, und von dem Band, darinn sie mit dem Kayser und Reich stehen, wenig oder gar nichts zu beobachten ist...". Diese Entwicklung in der Praxis führt Fassbender zu der Feststellung: „Erst in der Rückschau aber verwischt sich der Unterschied zwischen Landeshoheit und Souveränität, erscheint der erste Ausdruck als Euphemismus ... Die Unmittelbarkeit ihrer [der größeren Territorien] Stellung in der Völkerrechtsordnung, die aus der Anerkennung des Bündnisrechtes folgte, sollte sich hier als stärker erweisen als die Bindung an das Reich. Eine unausweichliche Konsequenz des Westfälischen Friedens aber war diese Entwicklung nicht." 64 Das klingt, als würde eine völkerrechtliche Sicht auf das Heilige Römische Reich nur in zweiter Linie zutreffend sein. Demgegenüber ist aber festzuhalten, 61 Text nach Buschmann, aaO, S. 339. 62 Überraschend polemisch klingt demgegenüber die Aussage von Böckenförde, aaO, S. 475, „Das Reich wollte und sollte, auch nach Anerkennung der Territorialgewalt und des Bündnisrechts, mehr sein als nur ein völkerrechtlicher Verein." In die gleiche Richtung Christoph Link, Die Bedeutung des Westfälischen Friedens in der deutschen Verfassungsentwicklung, Juristenzeitung 1998, S. 8, der zunächst feststellt, daß der Westfälische Friede keine „deutsche Katastrophe bedeutete, wie ihn die nationale Geschichtsschreibung nicht nur des 19. Jahrhunderts beschrieb", aber nur wenige Sätze danach verkündet: „Der Westfälische Friede hat das Reich auch nicht zu einem bloßen Dachverband von Souveränen auf völkerrechtlicher Basis degeneriert." (Hervorhebung von mir). 63 Moser, Von der Landeshoheit derer Teutschen Reichsstände überhaupt, 1773, S. 4. 64 Fassbender, aaO, S. 33.

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daß es im Völkerrecht anerkannt ist, daß zur Auslegung eines Vertrages neben Wortlaut, systematischem Zusammenhang und Sinn und Zweck auch die nachfolgende Praxis der Anwendung des Vertrages (subsequent practice) heranzuziehen ist. 65 Bezüglich des Art. VIII § 2 IPO erweist diese Praxis, daß den Reichsständen ein vollwertiges Bündnisrecht zustand, das vor allem von den größeren auch genutzt wurde. 66 Ihre Qualität als Völkerrechtssubjekte kann daher mit guten Gründen nicht bestritten werden. III. Ich fasse zum Abschluß zusammen: Der Westfälische Frieden ist nicht die Geburtsstunde des modernen Völkerrechts, aber eine bedeutsame Stufe in seiner Entwicklung. In Details hat er zur Herausbildung von völkerrechtlichen Instituten beigetragen, die nachwirkten und vereinzelt noch heute im Völkerrecht vorhanden sind. Der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches hat er völkerrechtliche Strukturen hinzugefügt. Insgesamt ist es aber wohl nicht seine Bedeutung für das Völkerrecht, die uns noch nach 350 Jahren seiner gedenken läßt. Der Grund dafür ist wohl eher der Nachklang eines großen Friedens Werkes. Für diesen Nachklang haben wir heute, am Ende eines Jahrhunderts, das an materiellen aber auch geistig-moralischen Verheerungen seinesgleichen sucht, feinere Ohren als etwa vor 100 Jahren.

65 Siehe Art. 31 Abs. 3 lit b. des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, der insofern nur bereits geltendes Völkergewohnheitsrecht kodifiziert. 66 Arthur Wegner, Geschichte des Völkerrechts, 1936, S. 176 stellt fest: „Das Reich war auf dem Wege, ein rein völkerrechtliches Gebilde zu werden."

Rahmenbedingungen des Menschenbildes im Gemeinschaftsrecht* Von Michael Brenner

I. Die Notwendigkeit der Frage nach dem Menschenbild des Gemeinschaftsrechts Das Bild, das sich die Staatsrechtslehre in Deutschland vom Menschen macht, ist gemeinhin an den Vorgaben des Grundgesetzes ausgerichtet1. Dies verwundert nicht, hängt doch die Bestimmung des Menschenbildes in besonderem Maße von ihrer - zeitläufteabhängigen - Einbettung in Epochen, Kulturen und auch in Weltbilder ab. Aufgrund dieser Kontextabhängigkeit2 des Menschenbildes und seiner Bestimmung hat sich der Blick des nach dem Menschenbild Fragenden - zumal der Blick des Verfassungsrechtlers - zwangsläufig, wenn auch mit im Einzelfall unterschiedlicher Perspektive, Akzentsetzung oder Gewichtung, auf den die einzelstaatliche Rechtsordnung überwölbenden Rahmen zu richten, eben auf die Verfassungsordnung in ihrer Funktion als dirigierender Rahmen3 und Wegweiser für Staat und Gesellschaft auf deren Gang durch die Zeit. Den Maßstab und die Grundlage für die Bestimmung der Rahmenbedingungen wie des Inhalts des Menschenbildes oder jedenfalls einzelner Elemente eines Menschenbildes kann eine einzelstaatliche Verfassungsordnung indes nur dann und solange darstellen, wie diese Verfassung einer isolierten Betrachtung und Bewertung zugänglich ist, ihr also gewissermaßen die Stellung eines autonomen, von externen Einflüssen isolierten Koordinatensystems für das Menschenbild zukommt. Da sich die deutsche Rechtsordnung jedoch seit geraumer Zeit und in ständig zunehmendem Maße weitreichenden Einwirkungen des europäischen Gemeinschaftsrechts ausgesetzt sieht, muß eine sich lediglich an den Vorgaben des deutschen Grundgesetzes ausrichtende Bestimmung des Menschenbildes zwischenzeitlich als über* Meiner Assistentin, Frau Assessorin Marita Kühnel, danke ich für wertvolle Hilfe bei der Materialrecherche. 1 Vgl. etwa jüngst U. Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1996. 2 Auf diesen Aspekt weist P. M. Huber, Das Menschenbild im Grundgesetz, JURA 1998, S. 505, hin. 3 Vgl. auch P Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 61 ff., der von „dirigierender Verfassung" spricht.

3 FS Leisner

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holt erscheinen. Es ist die allenthalben und nahezu flächendeckend um sich greifende „Europäisierung" 4 des deutschen Rechts, die es erforderlich macht, auch i m Hinblick auf die Bestimmung des Menschenbildes den Blick über die verfassungsrechtlichen Grenzen des Grundgesetzes hinauszurichten 5 . Auch insoweit ist zwischenzeitlich eine „integrative Betrachtungsweise" gefordert, die eine - gewissermaßen verschmelzende - Zusammenschau der Vorgaben des Grundgesetzes mit denen des Gemeinschaftsrechts vornimmt. Nur auf diese Weise scheint es möglich, in einer den Gegebenheiten der offenen Staatlichkeit des Grundgesetzes, seiner europäischen Option wie auch dem Gemeinschaftsrecht gerecht werdenden Weise das Menschenbild näher zu erfassen, das der europäisch integrierten Bundesrepublik zugrundeliegt. Das Grundgesetz ist auch insoweit nicht mehr das Maß aller Dinge. Angesichts dieser fortschreitenden Europäisierung wird es die Aufgabe der - europäischen - Rechtswissenschaft in den nächsten Jahren sein, gleichfalls i m Wege einer solchen integrativen Betrachtung die Rahmenbedingungen eines gemeineuropäischen Menschenbildes zu erfassen und einzelne Aspekte dieses Menschenbildes zu konturieren, und zwar anhand der Vorgaben des primären Gemeinschaftsrechts, der Verfassungen der Mitgliedstaaten, aber auch anhand völkerrechtlicher Vertragswerke, wie etwa der Europäischen Menschenrechtskonvention 6 . Hierzu sollen die folgenden Ausführungen zu Ehren von Walter Leisner einen Bei4 Vgl. aus der zwischenzeitlich nahezu unüberschaubar gewordenen Literatur etwa J. Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, 1992; E. Schmidt-Aßmann, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht - Wechselseitige Einwirkungen, DVB1. 1992, S. 924; ders., Zur Europäisierung des allgemeinen Verwaltungsrechts, in: FS für R Lerche, 1993, S. 513; U. Blaurock, Wege zur Rechtseinheit im Zivilrecht Europas, in: C. Starck (Hrsg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, 1992, S. 90; ders., Europäisches Privatrecht, JZ 1994, S. 270; J. Taupitz, Europäische Privatrechts Vereinheitlichung heute und morgen, 1993; F. Schoch, Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 1995, S. 109; ders., Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts und der Verwaltungsrechtswissenschaft, DV 1999, Beiheft 2, S. 135; H. Hirte, Wege zu einem europäischen Zivilrecht, 1996; C. D. Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996; T. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996; D. Dungs, Die Europäisierung des deutschen Arbeitsrechts und der geschlechterspezifische Gleichbehandlungsgrundsatz, 1997; M. Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, 1996; ders., Die Umsetzung der Richtlinien über öffentliche Aufträge in Deutschland, Beiheft 1 zu EuR 1996, S. 23; ders., Neuere Entwicklungen im Vergaberecht der Europäischen Union, Schriftenreihe des Forschungsinstituts für Europarecht der Karl-Franzens-Universität Graz, Bd. 11, 1997. 5 Insoweit scheint auch eine auf das Menschenbild des Verfassungsstaates bezogene Betrachtungsweise zu eng zu sein. Zwar ist das Gemeinschaftsrecht ganz wesentlich durch die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten geprägt, doch enthält es nicht im selben Maße wie die mitgliedstaatlichen Verfassungen Aussagen über die Staatsstruktur und die Staatsorganisation, was in der mitgliedstaatlichen Rückbindung der Gemeinschaft begründet liegt. 6 Hierauf weist auch F. Kopp, Das Menschenbild im Recht und in der Rechtswissenschaft, in: FS für K. Obermayer, 1986, S. 53/55 f., hin, ohne hieraus allerdings konkrete Folgerungen zu ziehen. Vgl. in diesem Zusammenhang auch J. M. Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1995.

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trag leisten, indem sie der Frage nachgehen, ob, in welcher Weise und mit welcher Verdichtung das primäre Gemeinschaftsrecht Aussagen enthält, die Rückschlüsse auf ein dem Gemeinschaftsrecht zugrundeliegendes Menschenbild zulassen.

II. Die Offenheit des Menschenbildes im Grundgesetz Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich früh - bereits in seinem Urteil zum Investitionshilfegesetz - das Menschenbild des Grundgesetzes aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG zu bestimmen versucht7. Es hat hierzu ausgeführt, daß dieses Menschenbild nicht das des isolierten, souveränen Individuums sei; „das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne allerdings deren Eigenwert anzutasten"8. Diese Ausführungen des Gerichts zum grundgesetzlichen Menschenbild, diesem Gemeinplatz im guten Sinn9 und in ähnlicher Wortwahl in verschiedenen Entscheidungen des Gerichts ständig wiederkehrend 10, macht zunächst eines deutlich, daß nämlich das Menschenbild des Grundgesetzes nicht isoliert bestimmt werden kann, sondern stets in das Spannungsverhältnis Staat - Individuum einzubetten ist. Die Aussage des Gerichts wird allerdings wohl kaum dahingehend verstanden werden dürfen, daß dem Gericht ein uniformes, typisiertes Menschenbild vorschwebt 11. Und in der Tat: „Das" Menschenbild des Grundgesetzes dürfte - zumindest dann, wenn man es als fixierte Schablone begreifen wollte - kaum näher faßbar sein 12 . Dies liegt in der Erkenntnis begründet, daß der Verfassungsstaat wegen seiner Freiheitsverpflichtetheit kein einheitliches Menschenbild statuieren kann; eine freiheitliche Rechtsordnung ist gleichzeitig stets auch eine begrenzte Rechtsordnung. Das Menschenbild des freiheitlichen Verfassungsstaates muß daher lückenhaft, fragmentarisch und mit teilweise sehr heterogenen, auch kompromißhaften Elementen versehen sein, weil ein geschlossenes Menschenbild, mithin der Entwurf 7 Zu anderen „Bildern" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vgl. etwa Becker (Fn. 1), S. 23 ff. s BVerfGE 4, 7/15f.; vgl. auch BVerfGE 8, 274/329; 27, 1/7; 27, 344/351; 30, 1/20; 33, 303/334; 45, 187/227; 50, 166/175; 50, 290/353. 9 P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 44. 10 Vgl. etwa BVerfGE 7, 305/323; 12, 45/51; 48, 127/161. 11

In diese Richtung geht aber wohl Kopp (Fn. 6), S. 55. So auch R. Gröschner, Der homo oeconomicus und das Menschenbild des Grundgesetzes, in: C. Engel/M. Morlok (Hrsg.), Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, S. 31/42. Bei aller Kritik an der Menschenbildformel des Bundesverfassungsgerichts ist jedoch stets zu berücksichtigen, daß das Gericht nicht von einem genormten Menschentyp spricht, sondern ausdrücklich auf den Eigenwert der Person abstellt, „also auf ihre Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit", so G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand 1997, Art. 1 Abs. I Rdnr. 46, Fn. 2. 12

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des Menschen „im ganzen" und bis in seine letzte Faser, den Verfassungsstaat zum totalen Staat machen würde 13 . Der Verfassungsstaat definiert den Menschen nicht und kann ihn auch nicht definieren, sondern setzt ihn voraus, und zwar als komplexen, differenzierten, widersprüchlichen, v. a. aber als unvollkommenen und fehlerhaften Menschen. Wenngleich sich der freiheitliche Staat eine Vorstellung vom Menschen machen kann und machen darf, wegen seiner Bezogenheit auf den Menschen sogar machen muß, so schließt doch die Verpflichtung auf die Freiheitlichkeit die Festlegung auf ein ganz bestimmtes Menschenbild aus. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erscheint es zutreffend, statt vom Menschenbild des Grundgesetzes vom Menschenbild im Grundgesetz zu sprechen 14. Daß das Menschenbild des Grundgesetzes ein offenes ist, ergibt sich auch aus der Aufgabe und der Funktion der Verfassung im freiheitlichen Verfassungsstaat. Seit der bürgerlichen Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts wird die Verfassung als System der obersten, unverbrüchlichen Rechtsnormen begriffen, als wegweisender, direktiver und die Grundprinzipien des Staates und der Gesellschaft verbürgender und sichernder Rahmen15. Neben der Aufgabe der Verfassung, der Ausübung politischer Macht durch die Festlegung von Inhalten und Verfahren 16 und damit unter Ausschaltung von Willkür und Beliebigkeit Berechenbarkeit zu vermitteln, kommt einer Verfassung auch die Aufgabe zu, vor dem Hintergrund des Gebots fortdauernder gesellschaftlicher Akzeptanz und Legitimation Offenheit in die Zukunft hinein zu signalisieren und damit gesellschaftlichen und politischen Wandel - mithin Zukunftsgestaltung - zu ermöglichen. Wenn angesichts dieser Vorgaben eine offene, eine „entzeitete" Verfassung nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch verfassungspolitisch wünschenswert ist, so muß dies in besonderem Maße für die Rahmenbedingungen und einzelne Elemente des Menschenbildes gelten, die in einer Verfassung enthalten sind. Ein im Detail ausgeformtes und fixiertes, zudem mit dem Anspruch auf ewigwährende Geltung ausgestattetes verfassungsrechtliches Menschenbild zeigte sich kaum in der Lage, auf - gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche - Veränderungen angemessen zu reagieren; es wäre damit ein erstarrtes 17, ein rückwärts gerichtetes und wohl kaum überlebens13 So treffend Häberle (Fn. 9), S. 63. 14 Huber (Fn. 2), S. 511. 15 Vgl. zur Funktion der Verfassung etwa W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945; R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485; D. Grimm, Verfassung (II), in: O. Brunner/R. Kosseieck/W. Konze (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 863 ff.; R Badura, Die Verfassung im Ganzen und die Verfassungskonkretisierung durch Gesetz, in: J. Isensee /R Kirchhof (Hrsg.), HdbStR VII, 1992, § 163; M. Brenner, Die neuartige Technizität des Verfassungsrechts und die Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung, AöR 120 (1995), S. 248/251 ff.; ders. Das gefährdete Grundgesetz, 1997, S. 13 ff. 16 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1997, Rdrn. 36. 17 In diese Richtung tendieren aber wohl die Ausführungen von Kopp (Fn. 6), S. 56: „Der Verfassungsgeber des Grundgesetzes wollte ( . . . ) einen Gegenpunkt zur Vergangenheit set-

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fähiges, geschweige denn überzeugungsfähiges Menschenbild. Auch vor diesem Hintergrund kann es daher nicht verwundern, daß das Menschenbild des Grundgesetzes kein ziseliertes, konturenscharf gestochenes ist, sondern nur ein offenes sein kann. Ungeachtet der nach wie vor zutreffenden Aussage Peter Lerches, daß angesichts der durchgehenden Offenheit und Neutralität des Grundgesetzes bisher alle Versuche gescheitert seien, „irgendein solches Bild konkreter Art näher im GG zu befestigen und das GG damit auf eine bestimmte Ideologie einzuschwören" 18, wird man aber doch davon auszugehen haben, daß das Grundgesetz - wie auch andere Verfassungsordnungen - gegenüber der Vorstellung eines Menschenbildes nicht ignorant oder gar blind ist. Auch wenn das Grundgesetz den Begriff des Menschenbildes nicht ausdrücklich nennt, so macht doch etwa die Absicherung der Würde des Menschen in Art. 1 Abs. 1 GG deutlich, daß die Verfassung trotz ihrer Offenheit grundlegende Vorgaben für das staatliche Gemeinwesen wie für den einzelnen enthält, die sich zum einen als Menschenbildelemente19, als Teilaussagen für die Bestimmung eines grundgesetzlichen Menschenbildes, begreifen lassen; zum anderen statuiert das Grundgesetz, etwa mit der Verankerung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, aber auch grundlegende Rahmenbedingungen, gewissermaßen die Leitplanken, innerhalb derer sich ein individuelles Menschenbild verwirklichen kann. Begreift man die Inhalte und Aussagen des Grundgesetzes in einer solchen - gewissermaßen ganzheitlichen - Zusammenschau, so wird deutlich, daß der Verfassunggeber keine wertneutrale, im Hinblick auf die Bestimmung eines Menschenbildes aussagelose Verfassungsordnung konstituiert hat. Das Grundgesetz ist vielmehr - nicht zuletzt vor dem Hintergrund der menschen- und wertenegierenden Diktatur der Nationalsozialisten - eine wertgebundene Verfassungsordnung, die eine an bestimmten materialen Zielen und Vorgaben ausgerichtete Gesamtorientierung ebenso vermittelt wie bestimmte Leitideen. Eingedenk dessen sind es die verschiedenen verfassungsrechtlichen Eckpfeiler 20 in Form der Grundrechte, der Staatsfundamentalprinzipien und auch der Staatszielbestimmungen, also etwa die Würde des Menschen, die Gleichheit vor dem Gesetz ebenso wie die freiheitliche demokratische Ordnung 21, das Rechtsstaatsprinzip und der Grundsatz der Volkssouveränität, die den Schluß zu begründen vermögen, daß das Grundgesetz gegenüber Versuchen, das Menschenbild des Grundgesetzes - begrenzt auf einzelne Elezen und die wesentlichen Züge eines modernen, wertgebundenen Menschenbildes für alle Zukunft festschreiben." 18 So P Lerche, Werbung und Verfassung, 1967, S. 140 19 Häberle (Fn. 9), S. 63. 20

Hierzu etwa W. Geiger, Menschenrecht und Menschenbild in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, in: FS für H. J. Faller, 1984, S. 3/8ff.; Kopp (Fn. 6), S. 61 ff.; Huber (Fn. 2), S. 506 ff. 21 Vgl. auch BVerfGE 5, 85/204 f., wonach in der freiheitlichen Demokratie die Würde des Menschen der oberste Wert ist.

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mente wie auf seine Rahmenbedingungen - faßbarer zu machen und näher zu konturieren, nicht neutral oder aussagelos ist 2 2 , im Gegenteil: das Bild des Menschen und das Verfassungsrecht weisen einen inneren Zusammenhang auf 23 . Der juristische Versuch, Rahmenbedingungen und Elemente einer Ganzheit zu benennen, ist daher nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Fest steht jedenfalls, daß die Frage nach dem Menschenbild nicht einfach ignoriert oder negiert werden kann, auch nicht aufgrund der Ideologieanfälligkeit der Formel 24 ; dies ergibt sich schon daraus, daß die gesamte (Verfassungs-)Rechtsordnung um des Menschen willen vorhanden ist und der Staat seine sämtlichen Anordnungen, Befehle und Verhaltensanforderungen auf „den Menschen" ausrichtet 25. Wenn das Recht mit anderen Worten um des Menschen willen vorhanden ist, so bedarf es aus diesem Grund auch einer genaueren Betrachtung dieses Zuordnungssubjekts staatlicher Gewalt. Dies gilt für das Grundgesetz in gleichem Maße wie für das europäische Gemeinschaftsrecht.

I I I . Das Menschenbild im Gemeinschaftsrecht Im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht darf zunächst konstatiert werden, daß auch dieses kein umfassendes und vollständiges, jede Faser des Menschen umfassendes Menschenbild statuiert. Auch das Gemeinschaftsrecht ist - darin dem Grundgesetz ähnlich - im Hinblick auf menschenbildbezogene Rahmenbedingungen und Vorgaben unvollkommen, punktuell, fragmentarisch. Auch das Gemeinschaftsrecht regelt, gestaltet und normiert - lediglich - verschiedene Einzelaspekte menschlichen Daseins und Handelns und enthält in diesem Sinn Teilaussagen, keinen Totalentwurf. Insbesondere aber kann das - mitgliedstaatlich-rückgebundene Gemeinschaftsrecht im Hinblick auf Rahmenbedingungen und Elemente eines Menschenbildes nur partielles, begrenztes Recht sein, und zwar deshalb, weil der Europäischen Union wie auch den Europäischen Gemeinschaften keine Staatsqualität zukommt 26 ; sie verfügen weder über eine ubiquitäre Allzuständigkeit noch 22 Zutreffend gleichwohl der Hinweis von Häberle (Fn. 9), S. 63, daß auch eine solche Zusammenschau nicht zum Einfallstor einseitiger Welt- und Menschen-Anschauungen werden darf. 2 3 In diesem Sinn auch Geiger (Fn. 20), S. 4. 24

Vgl. den Hinweis bei Gröschner (Fn. 12), S. 41. In diesem Sinn Geiger (Fn. 20), S. 5. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Heidelberger Antrittsvorlesung von G. Radbruch , Der Mensch im Recht, in: ders., Der Mensch im Recht, S. 9: „Wenn ich vom Menschen im Recht sprechen will, so soll mein Thema nicht etwa sein, wie das Recht den Menschen wertet oder wie das Recht auf den Menschen wirkt oder wirken soll, vielmehr, wie das Recht sich den Menschen vorstellt, auf den es zu wirken beabsichtigt, auf welche Art Mensch das Recht angelegt ist. Mein Thema ist nicht der wirkliche Mensch, sondern das Bild des Menschen, das dem Recht vorschwebt und auf das es seine Anordnungen einrichtet." 26 Vgl. nur M. Commichau, Nationales Verfassungsrecht und europäische Gemeinschaftsverfassung, 1995, S. 44 f., m. w. N. 25

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über eine Kompetenz-Kompetenz und damit - sieht man einmal davon ab, daß dies schon die Verpflichtung auf den Grundsatz der Freiheitlichkeit untersagen würde auch nicht über die Befugnis zu einer umfassenden Menschenbildbestimmung. Ungeachtet dessen kann jedoch nicht verkannt werden, daß das Gemeinschaftsrecht einen - unvollständigen - Rahmen darstellt, der neben Verpflichtungen für die europäischen Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten vornehmlich Freiheiten, aber auch Bindungen für den europäischen Marktbürger enthält. Es ist dieser Ansatz, der deutlich macht, daß auch dem Gemeinschaftsrecht eine Vorstellung über Elemente eines Menschenbildes zugrundeliegt; das Gemeinschaftsrecht hat nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern ganz wesentlich auch die Bürger der Mitgliedstaaten als Zuordnungssubjekte im Auge. Damit ist aber nicht nur die Frage aufgeworfen, welche rechtlichen Rahmenbedingungen das Gemeinschaftsrecht formuliert, sondern auch die Frage nach den Vorstellungen, die sich das Gemeinschaftsrecht vom Menschen - oder jedenfalls von einzelnen Facetten des Menschen - macht.

1. Die strukturelle Homogenität zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Gemeinschaft Europäische Union wie Europäische Gemeinschaften fußen auf dem Recht und den Rechtsüberzeugungen der Mitgliedstaaten. Es ist die durch gemeinsame Überlieferungen geprägte „Verfassungskultur" der Gründer- und zwischenzeitlich sämtlicher Mitgliedstaaten, die der Europäischen Union eine europäische Identität wie auch eine geistige Homogenität vermittelt 27 . Besonders augenfällig werden diese gemeinsamen Wurzeln in der Präambel zum EUV, worin sich die Vertragsparteien zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit bekennen28. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang weiterhin Art. F Abs. 1 EUV, wonach die Union die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundsätzen beruhen, und Art. F Abs. 2 EUV, wonach die Union die in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleisteten und die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergebenden Grundrechte achtet29. In gewisser Weise mit diesen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts korrespondierend, finden sich diese Vorgaben auf deutscher Seite in der Struktursicherungs27

Vgl. etwa J. Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte offener Dissens, in: FS für K. Stern, 1997, S. 1249/1251 f. 28 3. Spiegelstrich. Vgl. zum Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit auch D. Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 97/126. 29 Siehe auch Art. F Abs. 1 EUV i. d. F. des Amsterdamer Vertrages, wonach die Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit beruht.

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klausel des Art. 23 Abs. 1 GG zusammengefaßt, die bestimmt, daß die Bundesrepublik Deutschland zur Verwirklichung eines vereinten Europa bei der Entwicklung der Europäischen Union mitwirkt, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsstandard enthält. Daran wird - im Hinblick auf die genannten Elementargrundsätze durchaus als einschränkende Maßgabe zu verstehen - letztlich die Reziprozität des europäischen Integrationsprozesses deutlich: Aus der Perspektive Deutschlands kommt verfassungsrechtlich eine Mitwirkung an der europäischen Integration nur unter Wahrung der für die Bundesrepublik Deutschland in Art. 79 Abs. 3 GG für unabänderlich erklärten Fundamentalprinzipien in Betracht. Wenn die Mitgliedstaaten wesentliche staatliche Befugnisse den Gemeinschaftsorganen anvertrauen - wie zuletzt etwa die gemeinsame Währung - , wäre es auf Dauer im übrigen auch aus praktischer Sicht nicht vorstellbar, daß die Gemeinschaft zumindest in ihrem Kern anders strukturiert ist als ihre Glieder 30 . Als augenfälligstes Beispiel dieser nicht nur rechtlichen, sondern auch ideengeschichtlichen Rückbindung an die Mitgliedstaaten und deren Verfassungs- bzw. Rechtsüberlieferungen kann die Entwicklung der allgemeinen Rechtsgrundsätze - und als Bestandteil hiervon der Gemeinschaftsgrundrechte - durch den Europäischen Gerichtshof angeführt werden, die dieser nach Art. 164 EGV im Wege der wertenden Rechtsvergleichung entwickelt und ausmißt und deren Wahrung er zu sichern hat. Die Tatsache, daß das Gemeinschaftsrecht in der Ideengeschichte der Mitgliedstaaten verwurzelt ist, hat der Gerichtshof etwa in der Rechtssache Nold im Hinblick auf die Grundrechte in der Weise zum Ausdruck gebracht, daß er keine Maßnahme als rechtens anerkennen könne, die unvereinbar mit den von den Verfassungen der (Mitglied-)Staaten anerkannten und geschützten Grundrechte sei. An gleicher Stelle hat der Gerichtshof im übrigen deutlich gemacht, daß es für die Bestimmung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsstandards in erheblichem Umfang auch auf die internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte ankomme, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind 31 . Diese gemeinschaftsrechlichen Vorgaben machen deutlich, daß sich zwischen Europäischer Union und Europäischen Gemeinschaften auf der einen, den Mitgliedstaaten auf der anderen Seite eine - in einem weitgefaßten Sinn zu verstehende - strukturelle Homogenität32 konstatieren läßt, die sich insbesondere nicht auf die Grundrechte beschränkt. Vielmehr stellen Union und Gemeinschaften eine Zusammenfassung parlamentarisch-rechtsstaatlicher, pluraler, liberaler, dem Ge30 T. Oppermann, Europarecht, 1991, Rdnr. 207, unter Verweis auf die Kopenhagener „Erklärung zur Demokratie" der EG Staats- und Regierungschefs 1977, Bull. EG 1978, S. 5 f. 31 EuGHE 1974, S. 491 ff. 32 Oppermann (Fn. 30), Rdnr. 207; vgl. auch M. Heintzen, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht in der Europäischen Union, EuR 1997, S. 1 /5 ff.; R. Streinz, in: M. Sachs (Hrsg.) Grundgesetz, 2. Aufl., 1999, Art. 23, Rdnr. 21.

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waltenteilungsprinzip ebenso wie dem Rechtsstaatsprinzip verpflichteter Demokratien dar 33 , sie werden mithin aus überkommenen mitgliedstaatlichen, im übrigen vielfach auf das Christentum zurückreichenden 34 Quellen gespeist. Aufgrund dieses Befundes struktureller Verfassungshomogenität kann festgehalten werden, daß die Frage nach Rahmenbedingungen und Elementen eines „gemeineuropäischen Menschenbildes" eine Frage auch nach europäischen Wurzeln der Verfassungsvorstellung vom Menschen und damit eine Frage von gemeineuropäischer Bedeutung ist. Auf europäischer Ebene findet diese Aussage ihre Rechtfertigung in der Tatsache, daß die Gemeinschaft von Anfang an auch stets eine Rechtsgemeinschaft war, gekennzeichnet durch den Mitgliedstaaten gemeinsame Rechtsgrundsätze, auf deren Grundlage Gemeinschaftsrecht geschaffen wurde 35 .

2. Der EGV Durchleuchtet man das Gemeinschaftsrecht etwas genauer nach in ihm enthaltenen Determinanten und Elementen eines „europäischen" Menschenbildes, so liegt es nahe, von den Aussagen des EGV als der in der Praxis wichtigsten Vertragsgrundlage auszugehen. Hier fällt - bei zunächst vordergründiger Betrachtung - die Schwerpunktsetzung im wirtschaftlichen Bereich in das Auge. Ungeachtet seinerzeitiger wirtschaftspolitischer Meinungsunterschiede namentlich Frankreichs und Italiens auf der einen, Deutschlands auf der anderen Seite 36 war es das Anliegen sämtlicher Vertragspartner, materielle Regeln für eine Wettbewerbswirtschaft aufzustellen37. Es war mithin die wirtschaftliche Ausrichtung, die für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zum Zeitpunkt ihrer Gründung im Jahre 1957 maßgeblich war und die den EGV auch heute noch - wenngleich nicht mehr ausschließlich - kennzeichnet. Die Tatsache, daß die Tätigkeit der Gemeinschaft die „Abschaffung der Zölle und mengenmäßigen Beschränkungen bei der Ein- und Ausfuhr von Waren sowie aller sonstigen Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten" (Art. 3 lit. a EGV) sowie einen „Binnenmarkt, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungsund Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist" (Art. 3 lit. c 33 Oppermann (Fn. 30), Rdnr. 207. Vgl. auch den Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Demokratie und Marktwirtschaft bei W. Leisner, Marktoffenes Verfassungsrecht, in: FS für M. Kriele, 1997, S. 253 / 263 f. 34 Hierzu C Starck, Das Christentum und die Kirchen in ihrer Bedeutung für die Identität der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten, in: H. Marré/D. Schümmelfeder/ B. Kämper (Hrsg.), Essener Gespräche zum Thema Kirche und Staat (31), 1997, S. 5 ff. Vgl. auch Isensee (Fn. 27), S. 1251. 3 5 Vgl. Starck (Fn. 34), S. 5. 3 6 Vgl. Oppermann (Fn. 30), Rdnr. 806. 37 M. Zuleeg, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaften, in: Wirtschafts- und gesellschaftliche Ordnungsprobleme der Europäischen Gemeinschaften, 1978, S. 73/73f.

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EGV), ebenso umfaßt wie eine „gemeinsame Handelspolitik" (Art. 3 lit. b EGV), macht im Verbund mit den anderen in Art. 3 EGV genannten sowie den in Art. 3 a EGV aufgeführten, auf die Wirtschafts- und Währungsunion bezogenen Tätigkeiten die wirtschaftliche Zielsetzung der EG deutlich, die in der Verwirklichung eines einheitlichen europäischen Binnenmarktes besteht38. Daran wird erkennbar, daß das Gemeinschaftsrecht im Hinblick auf Aussagen zu Elementen eines Menschenbildes einen gewissen Schwerpunkt „in Sachen Wirtschaft" setzt.

a) Die Grundfreiheiten Untersucht man den EGV im Hinblick auf solche Aussagen genauer, so ist es vorrangig die Festlegung des Vertrages auf das wirtschaftspolitische Programm der Verwirklichung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs in seiner Präambel („redlicher Wettbewerb") und in Art. 3 lit. g sowie auf den „Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" in Art. 3 a Abs. 1, die deutlich macht, daß der Grundsatz des freien, unbehinderten und lauteren Wettbewerbs zentrales Ordnungsprinzip des Gemeinschaftsrechts ist 3 9 , flankiert von den Grundsätzen der selbstbestimmenden Entscheidung der Wirtschaftssubjekte 40 und der europäischen Marktfreiheit 41. Dem Ziel aber, zur Verwirklichung des durch das Wettbewerbsprinzip gekennzeichneten Binnenmarktes die grenzüberschreitende Funktionsfähigkeit der wirtschaftlichen Privatinitiative und Privatautonomie gegenüber staatlichen Lenkungsmaßnahmen des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs zu garantieren 42, dienen die Grundfreiheiten. Es sind die Freiheit des Warenverkehrs, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit sowie die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs, die sich nicht zuletzt wegen ihrer strukturellen Verwandtschaft zu den Grundrechten - etwa ihrer Nähe zu den aus der Grundrechtsdogmatik bekannten Teilhabe- und Leistungsrechten43 - als wesent38 Näher etwa W. Mussler, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft im Wandel, 1998, S. 91 ff. 39 Vgl. insoweit etwa EuGHE 1977, S. 1875/1905: „Der in Artikel 3 und 85 EWGV geforderte unverfälschte Wettbewerb setzt das Vorhandensein eines wirksamen Wettbewerbs (workable competition) auf dem Markt voraus; es muß soviel Wettbewerb vorhanden sein, daß die grundlegenden Forderungen des Vertrages erfüllt und seine Ziele, insbesondere die Bildung eines einzigen Marktes mit binnenmarktähnlichen Verhältnissen, erreicht werden." Vgl. hierzu auch A. Bach, Wettbewerbsrechtliche Schranken für staatliche Maßnahmen nach europäischem Gemeinschaftsrecht, 1992, S. 232 ff. 40 T. Oppermann, Europäische Wirtschaftsverfassung nach der Einheitlichen Europäischen Akte, S. 53/56. 41 Brenner, Gestaltungsauftrag (Fn. 4), S. 40. 42 P.-C. Müller-Graff, Verfassungsziele der EG, in: M. A. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, 1993, S. 30/39. 43 P M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 1996, S. 94.

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liehe Elemente eines gemeinschaftsrechtlichen Menschenbildes begreifen lassen. Bedingt durch ihre vorrangige Zielrichtung, eine Inländerbehandlung von ausländischen Waren, Arbeitnehmern, Niedergelassenen, Dienstleistern usw. zu verbürgen, legt dies i. ü. auch die Interpretation der Grundfreiheiten als Ausprägung des allgemeinen Diskriminierungsverbots des Art. 6 EGV nahe, wonach jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten ist 44 . Begreift man es als das zentrale Anliegen der Grundfreiheiten, abgeschottete nationale Märkte aufzubrechen und abzuschaffen und damit in letzter Konsequenz einen einheitlichen europäischen Binnenmarkt zu verwirklichen, verbunden mit einer Öffnung der nationalen Rechtsordnungen im Sinne einer grundsätzlichen Aufhebung aller Rechtsvorschriften, welche etwa den freien Warenverkehr beschränken, so kann zunächst festgehalten werden, daß das Gemeinschaftsrecht - unter Inpflichtnahme der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen - vom Bild eines europäischen Marktbürgers ausgeht, der sich im Binnenmarkt frei und ungehindert bewegen und niederlassen, seine Waren verkaufen, seine Dienstleistungen anbieten und sein Kapital frei transferieren kann. Insoweit darf - als erstes Zwischenergebnis - konstatiert werden, daß dem Gemeinschaftsrecht das Bild des freien, unbehinderten und insbesondere des trotz unterschiedlicher Staatsangehörigkeit gleichen Marktbürgers vorschwebt. Es ist mithin zum einen die wirtschaftliche Freiheit, die als tragendes Element in der Perspektive des Gemeinschaftsrechts vom Menschen erscheint. Das Gemeinschaftsrecht trägt damit der Tatsache Rechnung, daß das Agieren auf dem Markt, die Marktbetätigung neben Wertschöpfung, Wertsicherung und Verwirklichung eines ökonomischen Freiheitsbereichs Freiheitsbetätigung par excellence ist, der Kern jeder Persönlichkeitsentfaltung 45. Walter Leisner hat dies in die eingängigen Worte gefaßt, daß der Markt der „Platz der Freiheit" ist 4 6 Daneben aber ist es die Vorstellung der wirtschaftlichen Gleichheit, die der gemeinschaftsrechtlichen Vorstellung vom Menschen zugrunde liegt.

b) Das Wettbewerbsregime Allerdings wäre eine lediglich auf die Freiheit und Gleichheit bezogene Betrachtung des Gemeinschaftsrechts und seiner Vorstellung vom Menschen deutlich zu eng und würde seinen sonstigen Inhalten nicht hinreichend Rechnung tragen. Das Bild eines homo oeconomicus, dessen Handeln durch die Grundfreiheiten geschützt und rechtlich abgesichert wird, der diese aber lediglich zu seinem eigenen 44 Vgl. insoweit auch Art. 13 EGV i. d. F. des Amsterdamer Vertrages, wonach eine Diskriminierung neben der Staatsangehörigkeit auch aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung verboten ist. 45 Leisner (Fn. 33), S. 254. 46 (Fn. 33), S. 254.

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Nutzen in Anspruch nimmt und dessen Freiheit ihre Schranken lediglich in der Freiheit der anderen findet 47 , wäre ein den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts nicht gerecht werdendes. Das ökonomische Verhaltensmodell mit dem Bild des in seiner Idealvorstellung autonomen homo oeconomicus, der dadurch gekennzeichnet ist, daß er als eigenverantwortlich handelnder mündiger Bürger seinen eigenen Wertvorstellungen folgt und keine Instanz akzeptiert, vor der er sich deswegen rechtfertigen müßte bzw. die ihm vorschreiben könnte, welche seiner Zielvorstellungen als „gerechtfertigt" anerkannt werden können und welche nicht, würde in einen Widerspruch zu einem freiheitlichen Rechtsdenken treten 48. Wenn die Sicherung der Freiheitlichkeit einer Rechtsordnung auch den Schutz des Schwächeren vor dem Stärkeren einschließt, so wird deutlich, daß der auch dem sozialen Gemeinschaftsziel verpflichteten Gemeinschaft eine solche einseitige Ausrichtung fremd sein muß; sie kann dem homo oeconomicus nicht freien und ungehinderten Lauf lassen. Daran wird im übrigen erkennbar, daß dem primären Gemeinschaftsrecht „in Sachen Wirtschaft" damit neben einer optimistischen - realistischerweise - auch eine pessimistische Vorstellung des Menschen zugrunde liegt. Hält man sich vor diesem Hintergrund vor Augen, daß der im Gemeinschaftsrecht vorgestellte Wettbewerb, letztlich verstanden als ein System dezentraler Entscheidungsfindung, nicht nur die Funktionsfähigkeit des Marktes, sondern auch die Handlungsfähigkeit aller Wirtschaftssubjekte, auch der schwächeren, schützen soll, so ist es das Wettbewerbsrecht, dem die Aufgabe zukommt, im europäischen Binnenmarkt einen „redlichen Wettbewerb" zu sichern 49. Zum Schutz der Freiheit des einzelnen Marktteilnehmers ist es damit die Aufgabe des Gemeinschaftsrechts, sowohl solche Verhaltensweisen zu unterbinden, die den Freiheitsspielraum von Marktteilnehmern beschränken können, als auch solche, die als unfair zu gelten haben50. Das Gemeinschaftsrecht gewährt dem europäischen Marktbürger mithin keinen in jeder Hinsicht unbeschränkten Bewegungsspielraum, und erteilt damit gleichzeitig der Vorstellung des homo oeconomicus eine partielle Absage. Es ist die Ordnungsvorstellung eines redlichen, eines lauteren und unverfälschten Wettbewerbs, die dem wirtschaftlichen Verhalten des einzelnen Grenzen aufzuzeigen vermag und zieht. Diesem Zweck dienen die gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln, welche eine Konkretisierung sowohl des Diskriminierungsverbots wie auch des Postulats eines unverfälschten und damit letztlich auch freiheitlichen Wettbewerbs darstellen, und zwar dahingehend, „daß der grenzüberschreitend wirksame Prozeß der Selbstkoordination von Verzerrungen zu befreien ist, die sich auf unsachliche 47 Vgl. G. Kirchgässner, Führt der homo oeconomicus das Recht in die Irre?, JZ 1991, S. 104/110. 48 Vgl. K. H. Fezer, Nochmals: Kritik an der ökonomischen Analyse des Rechts, JZ 1988, S. 223/225. 49 Vgl. die Präambel des EGV, 4. Spiegelstrich. 50 W. Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, 1996, S. 155.

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(unökonomische) Differenzierungen zurückführen lassen"51. Das Kartellverbot des Art. 85 EGV, das in Art. 86 EGV enthaltene Verbot des Mißbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, die Bindungen der Instrumentalisierung staatlicher Unternehmen (Art. 90 ff. EGV) wie auch das Beihilfenverbot der Art. 92 ff. EGV machen trotz der verschiedenen Ausnahmemöglichkeiten in ihrer Gesamtheit deutlich, daß die Freiheit des privatautonom handelnden Wirtschaftsbürgers nicht durch faktische Marktmacht eingeschränkt werden soll 52 . Die gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln sichern damit letztlich die Marktfreiheiten 53 und damit gleichzeitig die Freiheitlichkeit des Marktes wie der einzelnen Marktteilnehmer. Transponiert man diese Vorgaben auf die Vorstellung des Gemeinschaftsrechts vom Menschenbild, so läßt dies den Schluß zu, daß das Gemeinschaftsrecht von einem eher pessimistischen, wenngleich wohl realistischen Menschenbild ausgeht, ganz im Sinne der Montesquieu'sehen, am Machtmißbrauch ausgerichteten Vorstellung vom Menschen. Zugleich machen die europäischen Wettbewerbsvorschriften in signifikanter Weise die Gemeinschaftsbezogenheit und auch Gemeinschaftsgebundenheit des europäischen Marktbürgers deutlich, eine Tatsache, die auch für das gesamte deutsche Verfassungsrecht kennzeichnend ist und die in Art. 14 Abs. 2 GG mit der Sozialgebundenheit des Eigentums ihren augenfälligsten Ausdruck gefunden hat. Hält man sich vor Augen, daß es die Marktfreiheiten sind, die vorrangig die wirtschaftliche Freiheit im Binnenmarkt sichern sollen, den Wettbewerbsvorschriften hingegen die Funktion zukommt, mißbräuchliches Handeln zu unterbinden, so darf konstatiert werden, daß ungeachtet der Betonung der Marktfreiheiten des einzelnen das Gemeinschaftsrecht - insoweit dem deutschen Recht ähnlich - eine mittlere Linie zwischen Individualismus und Kollektivismus steuert 54. Die Gemeinschaftsgebundenheit des einzelnen Marktbürgers läßt sich damit ebenfalls als wesentliches Element eines gemeinschaftsrechtlichen Menschenbildes begreifen. c) Die Grundrechte Wesentliche Bedeutung für den Rahmen eines gemeinschaftsrechtlichen Menschenbildes kommt weiterhin den Gemeinschaftsgrundrechten zu, die vom EuGH als allgemeine Rechtsgrundsätze, die der Gerichtshof bei der Auslegung und Anwendung des Rechts (Art. 164 EGV) zur Geltung zu bringen hat, entwickelt 51 Mussler (Fn. 38), S. 98, unter Zitierung von P. Behrens, Integrationstheorie - Internationale wirtschaftliche Integration als Gegenstand politologischer, ökonomischer und juristischer Forschung, RabelsZ 45, S. 8/45. 52 Die Interventionssektoren des Gemeinschaftsrechts, wie etwa die Landwirtschaft, können in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden, da ihre Aufrechterhaltung vom Gemeinschaftsrecht nur solange als zulässig erachtet wird, wie sich ein freiheitlicher Markt noch nicht herausgebildet hat. 53 W. Fikentscher, Wirtschaftsrecht I, 1983, S. 570. 54 K. Stern, Staatsrecht III /1, 1988, § 58 II 7.

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worden sind. Diese Gemeinschaftsgrundrechte beschränkten sich zwar zunächst - wegen der Ausrichtung des Gemeinschaftsrechts auf wirtschaftliche Tätigkeiten - schwerpunktmäßig auf den Bereich der Wirtschaft. Der sich ständig ausweitende Schutzanspruch des Gemeinschaftsrechts hat jedoch zwischenzeitlich auch auf Gemeinschaftsebene zur Verwirklichung eines Grundrechtsstandards geführt, der dem des Grundgesetzes im wesentlichen vergleichbar ist 5 5 . Während der Gerichtshof in seinem grundlegenden Urteil „Stauder" 56 von den „in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsordnung ... enthaltenen Grundrechten der Person ..." sprach, sind seither - um einige wesentliche Beispiele herauszugreifen - der allgemeine Gleichheitssatz57, die Handels- und die Wettbewerbsfreiheit 58, die freie Berufsausübung 59, die Vereinigungsfreiheit 60, die Unverletzlichkeit der Wohnung 61 sowie der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb 62 als gemeinschaftliche Grundrechte anerkannt worden. Doch ist der EuGH nicht bei der Anerkennung wirtschaftlicher Grundrechte verharrt. Der Gerichtshof hat im weiteren Fortgang seiner Rechtsprechung vielmehr eine Reihe von Grundrechten „entdeckt", die über die wirtschaftliche Sphäre weit hinausgreifen. So hat er die Religionsfreiheit 63 , die Privatsphäre und den Briefverkehr 64, das rechtliche Gehör 65 , die Meinungs- und Informationsfreiheit 66 ebenso anerkannt wie die Achtung des Familienlebens und den Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz67. Daneben ist es die zwischenzeitlich im Primärrecht in Art. F Abs. 2 EUV erfolgte und auch für die EG als Bestandteil der Europäischen Union Wirkung entfaltende - umfassende - Verankerung der Grundrechte, die vorliegend in das Blickfeld zu nehmen ist. Wenn die Union nach dieser Bestimmung „die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention 55 BVerfGE 73, 339; 89, 155/174 f.; skeptisch gegenüber der Reichweite dieses Grundrechtsschutzes etwa H.-W. Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, S. 232 ff.: „Weiße Felder"; S. Storr, Zur Bonität des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union, Der Staat 1997, S. 547, mit dem allerdings zu skeptischen Fazit, daß derzeit von einem mit dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene nicht gesprochen werden könne, aaO., S. 572 f. 56 EuGHE 1969, S. 419/425. 57 EuGHE 1977, S. 1753/1770; 1986, S. 3477/3507. 58 EuGHE 1985, S. 538/548. 59 EuGHE 1986, S. 2897/2912. 60 EuGHE 1979, S. 917/925. 61 EuGHE 1989, S. 2859/2924. 62 EuGHE 1984, S. 4057/4079 f. 63 EuGHE 1976, S. 1589/1599. 64 EuGHE 1980, S. 2033/2056. 65 EuGHE 1979, S. 461/511. 66 EuGHE 1984, S. 19/59. 67 EuGHE 1987, S. 497. S. hierzu auch M. Brenner, Allgemeine Prinzipien des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in Europa, Die Verwaltung 1998, S. 1.

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zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben", achtet, so folgt hieraus zweierlei. Zum einen verstehen Union und Europäische Gemeinschaften die Gemeinschaftsgrundrechte inzwischen als tragenden Pfeiler der Gemeinschaftsverfassung. Die Gemeinschaftsgrundrechte lassen sich daher - in Anlehnung an die von den Grundrechten des Grundgesetzes errichtete Wertordnung - als Werte, das von ihnen errichtete System als Wertordnung begreifen 68. Zum anderen macht die zwischenzeitlich auf Gemeinschaftsebene erreichte Spannbreite des grundrechtlichen Schutzes deutlich, daß die Bedeutung der Gemeinschaftsgrundrechte über rein wirtschaftliche Vorgänge deutlich hinausreicht. Auch aus diesem Grund vermag im übrigen der Schluß, daß dem Gemeinschaftsrecht das Menschenbild eines homo oeconomicus in seiner reinen Form zugrundeliegt, nicht zu tragen, er greift zu kurz. Auf eine Diskrepanz des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtskanons zum Katalog der Grundrechte des Grundgesetzes mag jedoch hingewiesen werden. Es ist dies die Tatsache, daß die Menschenbilddiskussion in Deutschland ihren Ausgangspunkt - mit Fug - stets bei der in Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Menschenwürde nimmt, während hingegen der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung das Grundrecht der Würde des Menschen bislang nicht ausdrücklich erwähnt hat. Aus diesem vordergründigen Unterschied jedoch Konsequenzen für das Menschenbild des Gemeinschaftsrechts ableiten zu wollen, ginge fehl. Dies ergibt sich zum einen daraus, daß die Würde des Menschen als letztes Ziel auch des EG-Vertrages anzusehen ist 6 9 ; auch für das Gemeinschaftsrecht ist der Mensch der Dreh- und Angelpunkt schlechthin. Zum anderen ist die Rechtsprechung des EuGH, die von den Grundrechten der Person ausgeht70, in dem Sinne zu interpretieren, daß auch die Menschenwürde vom Gemeinschaftsrecht geschützt ist 71 . Schließlich wird dieses Ergebnis vom Völkerrecht nahegelegt, das die Würde des Menschen als Grundbedingung zivilisierter Staatlichkeit begreift 72 . Nicht zuletzt 68 Vgl. Rengeling (Fn. 55), S. 205. 69

A. Bleckmann, Die Grundrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht. Ein Beitrag zu den Methoden des EG-Rechts, EuGRZ 1981, S. 257/270. 70 EuGHE 1969, S. 419/425. So etwa Rengeling (Fn. 55), S. 133. 72 Vgl. etwa die Präambel der Charta der Vereinten Nationen („Wir, die Volker der Vereinten Nationen - fest entschlossen, ... unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit... erneut zu bekräftigen..."), die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte („Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte ...") sowie deren Art. 1 („Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen"), und die Präambel des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte („... die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde ... die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt

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aufgrund der Festlegung der Union auf die in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Grundrechte kann daher davon ausgegangen werden, daß die Menschenwürde auch gemeinschaftsgrundrechtlich abgesichert ist. Nur ergänzend sei in diesem Zusammenhang angemerkt, daß das Grundgesetz in der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 die Mitwirkung der Bundesrepublik an der Entwicklung der Europäischen Union an die - insoweit einschränkend wirkende - Bedingung knüpft, daß diese einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Da aus deutscher Sicht die Garantie der Menschenwürde der „archimedische Punkt des Verfassungsstaates" 73 darstellt, würde eine Beteiligung der Bundesrepublik an einer Europäischen Union, die sich der Garantie der Menschenwürde nicht verpflichtet fühlte, verfassungsrechtlich ohnehin nicht in Betracht kommen, sie wäre verfassungswidrig. Mithin ist es als ein wesentliches Element des „europäischen Menschenbildes" zu begreifen, daß auch das Gemeinschaftsrecht den Gemeinschaftsbürger als Träger höchster geistig-sittlicher Werte ansieht, der nicht zu einem bloßen Objekt herabgewürdigt werden darf und dessen Subjektqualität prinzipiell nicht in Frage gestellt werden darf 74 . Auch in der Sicht des Gemeinschaftsrechts ist der Mensch damit das vernunftbegabte, sittliche, verantwortliche Wesen75. Letztlich achtet und respektiert damit das Gemeinschaftsrecht den individuellen und selbstbestimmten Lebensentwurf des einzelnen, in welchem Bereich auch immer (Wirtschaft, Äußern einer Meinung, religiöse Betätigung) er zur Umsetzung gelangen mag.

d) Die soziale Dimension der Gemeinschaft Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof schon in den siebziger Jahren ausgeführt hat, daß sich die Gemeinschaft nicht auf eine Wirtschaftsunion beschränke, sondern auch sozialen Zielen diene 76 . Ungeachtet der Tatsache, daß im Gemeinschaftsrecht keine sozialen Rechte oder gar sozialen Grundrechte verankert sind und die Verantwortung für die Sozialpolitik nach wie vor hauptsächlich in den Händen der Mitgliedstaaten liegt, so ist doch nicht zu verkennen, daß der Prozeßcharakter der europäischen Integration und die Offenheit gegenüber einem noch nicht determinierten Inhalts-Abschluß und der Verfaßtheit eines etwaigen Abschlusses77 zwischenzeitlich in eine Reihe von Vertragsbestimmungen gemünbildet, (...) in der Erkenntnis, daß sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten..."). 73 G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 142. 74 BVerfGE31, 1/26. 75 Zum deutschen Recht vgl. Geiger (Fn. 20), S. 8 ff. 76 EuGHE 1976, S. 455/473; vgl. auch M. Zuleeg, Der Schutz sozialer Rechte in der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft, EuGRZ 1992, S. 329. 77 H. R Ipsen, Europäische Verfassung - Nationale Verfassung, EuR 1987, S. 195/201.

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det sind, die - mit unterschiedlicher Abstufung im Einzelfall - im Ergebnis jedenfalls eine deutliche Ausweitung von Gemeinschaftskompetenzen bewirken. Zu nennen sind insoweit etwa die Bestimmungen über die Entwicklung der allgemeinen wie auch der beruflichen Bildung (Art. 126, 127 EGV), die Kultur (Art. 128 EGV) und das Gesundheitswesen (Art. 129 EGV). Die damit verbundene Fortbildung der EG über eine Wirtschaftsgemeinschaft hinaus zu einer auch politischen Integrationsgemeinschaft bzw. einer Solidargemeinschaft 78 macht deutlich, daß die EG zwischenzeitlich auch in eine soziale Dimension hineingewachsen ist 7 9 und sich vom Sozialstaatsprinzip im Gemeinschaftsrecht sprechen läßt 80 . Dem trägt etwa auch Art. B EUV Rechnung, wenn er als Unionsziel neben einem Wirtschaftsraum auch einen Sozialraum ohne Binnengrenzen propagiert 81. In dieser Dimension, die an die sozialstaatliche des Grundgesetzes erinnert, wird nicht nur der zunehmende Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrecht deutlich, sondern insbesondere auch, daß der Gemeinschaftsbürger in zunehmender Weise der Gemeinschaft verpflichtet ist, er ihr also Pflichten schuldet und von ihr abhängt. Die Gemeinschaft zieht sich in diesem Zusammenhang zunehmend die Schuhe eines staatlichen Gemeinwesens an. Darin offenbart sich, daß Zuordnungssubjekt gemeinschaftsrechtlicher Regelungen in zunehmendem Maße der Mensch auch in seiner sozialen Dimension ist, in seiner Dimension als „animal sociale".

e) Weitere Gesichtspunkte Schließlich lassen sich dem Gemeinschaftsrecht eine Reihe weiterer Vorgaben entnehmen, die Rückschlüsse auf Aspekte eines gemeinschaftsrechtlichen Menschenbildes zulassen. Aufzulisten sind insoweit etwa die Verankerung der Unionsbürgerschaft in Art. 8 EGV, das Wahlrecht zum Europäischen Parlament in Art. 8 b Abs. 2 EGV, der diplomatische und konsularische Schutz der Gemeinschaftsbürger (Art. 8 c EGV) sowie das gemeinschaftsrechtliche Petitionsrecht (Art. 8 d EGV). In diesem Zusammenhang ist jedoch ein wesentlicher Unterschied zum mitgliedstaatlichen Recht festzuhalten. Zwar verankert das Gemeinschaftsrecht das demokratische Prinzip, gibt den Gemeinschaftsbürgern das Wahlrecht zum Europäischen Parlament und gewährt Grundrechte, die die demokratische Willensbildung absichern, wie etwa die Meinungsfreiheit; gleichzeitig wird über Art. 38 Abs. 1 78 Ipsen (Fn. 77), S. 197. 79 Hierzu Brenner, Gestaltungsauftrag (Fn. 4), S. 65 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch A. Glaesner, Der Grundsatz des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts im Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1990. 80 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa J. Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999, S. 78 f. Überblick über Kompetenzen und Regelungen im Bereich der Sozialpolitik bei Dungs (Fn. 4), S. 38 ff. 81 So sieht etwa der Amsterdamer Vertrag die Übernahme des früheren Abkommens zur Sozialpolitik als Titel 8 in den EGV vor.

4 FS Leisner

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GG sichergestellt, daß die Bürger der Bundesrepublik Deutschland über ihre Mitwirkung an den Wahlen zum Deutschen Bundestag einen wesentlichen Anteil an der Fortentwicklung der Europäischen Union bzw. der Europäischen Gemeinschaften nehmen können. Ungeachtet dessen bedingt die derzeit noch dürftig ausgebaute demokratische Legitimation von Union wie Gemeinschaften, daß die gemeinschaftsrechtlichen Mitwirkungsrechte im sog. Status activus und damit der citoyen als Leitfigur im europäischen Recht nicht dieselbe Ausgestaltung finden wie im mitgliedstaatlichen, insonderheit deutschen Recht. Die Möglichkeiten für den Gemeinschaftsbürger, an der Politik der Gemeinschaft als homo politicus aktiv Anteil zu nehmen, sind derzeit noch sehr begrenzt. Daher läßt sich nur der Schluß ziehen, daß zumindest derzeit die gemeinschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen für ein „europäisches Menschenbild" noch nicht in einer der mitgliedstaatlichen Ausgestaltung vergleichbaren Spannbreite ausgeformt sind, und zwar dahingehend, daß sie in umfassender Weise die Voraussetzungen für eine freie und aktive Mitwirkung und Mitgestaltung des einzelnen im Gemeinwesen sichern würden 82 .

IV. Fazit Zieht man ein Resümee der Rahmenbedingungen und Elemente eines Menschenbildes im Gemeinschaftsrecht, so läßt sich zunächst festhalten, daß das Gemeinschaftsrecht mit einem deutlich stärkeren Schwerpunkt als das Grundgesetz am Bild des wirtschaftlich handelnden Menschen ausgerichtet ist. Der EGV hat den wirtschaftlichen Prozeß agierender Wirtschaftssubjekte in einem einheitlichen europäischen Binnenmarkt vor Augen, denen er ein Wirtschaften in Freiheit und im Wettbewerb, jenseits von - mitgliedstaatlich veranlaßten - Restriktionen ermöglichen will. Daß dieser Wettbewerb auch ein lauterer, vor der unkontrollierten Ausübung von Marktmacht geschützter bleibt, sichert das Gemeinschaftsrecht mit seinem Wettbewerbsregime. Das Gemeinschaftsrecht ist im Hinblick auf die Rahmenbedingungen eines Menschenbildes jedoch nicht auf eine einseitige Wirtschaftsperspektive festgelegt, es sieht den Menschen realistischerweise nicht lediglich durch die einseitige Brille des Ökonomismus. Wenngleich der „citoyen" auf Gemeinschaftsrechtsebene derzeit noch wenig ausgeprägt ist und es auch sein muß, solange die Gemeinschaft eine mitgliedstaatlich rückgebundene ist, der eigene demokratische Legitimation jedenfalls derzeit nicht in dem Maße zukommt wie etwa dem Deutschen Bundestag, und damit für das Gemeinschaftsrecht die Aussage nach wie vor zutreffend ist, daß es den Menschen zumindest nicht vorrangig als politisches Wesen, als Aktivbürger in das Blickfeld nimmt, so darf hierüber der Gestaltwandel der Europäischen Union bzw. der Europäischen Gemeinschaften doch nicht verkannt werden. Dieser Wandel vom Zweckverband funktioneller Integration (H. P. Ipsen) hin 82

So das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 21, 362/369, für das deutsche Recht.

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zu einer immer engeren Union der Völker Europas (Art. A Abs. 2 EUV) macht deutlich, daß sich die Eckpfeiler des Gemeinschaftsrechts längst nicht mehr nur auf den Wirtschaftsprozeß beziehen. Es ist die - nunmehr auch primärvertragsrechtlich anerkannte - Mutation der Gemeinschaft zu einer Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft, die offenbart, daß im Gemeinschaftsrecht fiir eine ausschließlich auf den „homo oeconomicus" zentrierte Betrachtungsweise kein Platz ist. Im Ergebnis bedeutet dies, daß das Gemeinschaftsrecht grundlegende und umfassende, lediglich im Hinblick auf den citoyen noch dürftige Eckpfeiler eines Menschenbildes ebenso enthält, wie es wesentliche Rahmenbedingungen formuliert, unter denen sich der freie und gleiche Gemeinschaftsbürger verwirklichen kann. Dies heißt jedoch nicht, daß das Gemeinschaftsrecht ein bestimmtes Menschenbild definiert oder fixiert, im Gegenteil; es vereinigt unter seinem weiten, nur an wenigen Stellen eingezäunten Rechtshimmel vielmehr die ganze Spielbreite menschlichen Daseins, Handelns und Wirkens mit all seinen bunten Facetten. Wenn das Gemeinschaftsrecht damit - wie das Grundgesetz auch - hinreichend Raum für Individualität und Vielfalt gewährt, so bedeutet dies aber gleichzeitig, daß es das Menschenbild des Gemeinschaftsrechts nicht geben kann, sondern eben nur das Menschenbild im Gemeinschaftsrecht. Jenseits aller Definitionsversuche, die sich stets der Gefahr einer ideologischen Überfrachtung ausgesetzt sehen, ist es daher letztlich die Gemeinschaftsverfassung mit ihrer Weite, die sich mit einem frühen, seinerzeit auf das Grundgesetz bezogenen Wort Walter Leisners 83 als „das deklarierte und positivierte Menschenbild" begreifen läßt.

83

Antigeschichtlichkeit des öffentlichen Rechts?, Zum Problem des evolutionistischen Denkens im Recht, Der Staat 1968, S. 136 ff. *

Ansätze zu einem „Unions-Kirchen-Recht" in der Europäischen Union? Von Helmut Lecheler

I.

1. Das weit gespannte Œuvre des Jubilars überschreitet die Grenzen Deutschlands bei weitem. Seit den Anfängen seiner wissenschaftlichen Laufbahn hat er sich auch - und nicht nur vereinzelt - mit Fragen des ausländischen Verfassungsrechts beschäftigt, vorwiegend in Frankreich, Italien und Österreich; dies zu einer Zeit, in der Verfassungsvergleich noch keineswegs modisch war. Bis heute zählt er zu der begrenzten Zahl deutscher Staatsrechtslehrer, die aktive und fruchtbare Verbindungen nach Italien unterhalten1, wo deutsche verfassungsrechtliche Entwicklungen viel stärkere Beachtung finden als umgekehrt. Früh hat schon Walter Leisner dazu beigetragen, Bausteine für ein europäisches Verfassungsrecht zu formen, das nicht „von oben" oktroyiert werden kann, sondern das von unten, aus einer - begrenzten - Angleichung des mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts wachsen muß. 2. Im deutschen Staatsrecht läßt sich ein großer Teil der Arbeiten Walter Leisners um die beiden Pole Staat und Staatsdiener sowie um den grundrechtsbewehrten, v.a. in seinem privaten Eigentum gesicherten Staatsbürger gruppieren. Damit ist ein guter Teil der verfassungsrechtlichen Pflichtaufgaben für den politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Alltag abgedeckt. Doch die Arbeiten Leisners haben sich mit dieser verfassungsrechtlichen Pflichtaufgabe nicht begnügt. Immer wieder hat er die Bedeutung des Verfassungsrechts für den freien Markt, aber auch die Grenzen dargestellt, die solchem verfassungsrechtlichen Einfluß gezogen sind.2 Sein Interesse galt aber auch - sozusagen der dem Markt entgegengesetzten Seite - den Fragen der ethischen Grundlegung von Staatsgewalt und Recht. Außer frühen Ansätzen3 sind hier vor allem seine Bände über Gestalt, Wesen und Form 1

Wie auch die in diesem Band enthaltenen Beiträge belegen. Beispielhaft seien genannt: Der Eigentümer als Organ der Wirtschaftsverfassung, DÖV 1975, 73 ff.; Privateigentum ohne privaten Markt? BB 1975, 1 ff.; Marktoffenes Verfassungsrecht, in: Staatsphilosophie und Rechtspolitik, FS für Martin Kriele, B. Ziemske/Th. Langheid/H. Wilms/G. Haverkate (Hg.), München 1997, 253ff. 3 W. Leisner (Hg.) Staatsethik, (hg. von der Internationalen Stiftung Humanum) Bd. 9, Köln 1977 2

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Helmut Lecheler

des Staates4, nahezu in Jahresringen gewachsen, mit denen er das gewohnte deutsche staatsrechtliche Schrifttum in Stil und Form weit überstiegen hat und wiederum aufgestiegen ist in eine Form der europäischen Publizistik, wie sie Frankreich und Italien vertrauter ist als Deutschland. In diesem Kontext hat er sich immer wieder auch mit der Stellung der Kirchen im Staat, mit dem Verhältnis zwischen Staat und Kirche befaßt. 5 3. Die jetzt wieder aufflammende Diskussion um die Notwendigkeit und die Gestalt einer Europäischen Verfassung 6 wird ihn nicht überraschen, der sich mit den „Niederungen" des Gemeinschaftsrechts befaßt 7, zugleich aber den Gemeinsamen Markt als „Staats-Vorstufe" als „Staat aus Markt" gesehen hat.8 Nicht das Marktmodell, wohl aber die Staatsidee, an der es partizipiert, muß sich fragen lassen nach ihrem Verhältnis zu den Kirchen, auch und gerade auf europäischer Ebene. Dieser Aspekt des europäischen Einigungsprozesses soll im folgenden näher betrachtet werden. II. 1. Der Europarat, in dem die Europäische Einigung nach dem Dreißigjährigen Krieg der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts seine erste Gestalt gefunden hat, wurde 1949 in London gegründet, um „eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden", herzustellen.9 Dazu gehören ganz wesentlich Religionsfreiheit und Kirchen. Es ist daher nur konsequent, wenn der Heilige Stuhl sowohl Mitglied des Rates für kulturelle Zusammenarbeit des Europarates (seit 1962) ist und beim Europarat (seit 1970) durch einen Gesandten mit der Stellung eines Ständigen Beobachters vertreten ist. 10 4 Von dem Band Selbstzerstörung der Demokratie, Berlin 1977 bis hin zu seinem Band Staatswahrheit, Berlin 1999. 5 z. B.: Das kirchliche Krankenhaus im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, Essener Gespräche Bd. 17, S. 9 ff.; ders., Die Staatswahrheit, S. 66 ff., 78 f. und 194 ff. 6 Zum jüngsten Vorstoß der CDU vgl. W. Schäuble/K. Lamers, Europa braucht einen Europa-Vertrag, FAZ Nr. 102 v. 5. 4. 1999 S. 10; zum Vorschlag von 47 Abgeordneten der CDU/CSU im Europa-Parlament vgl. FAZ Nr. 95 v. 24. 4. 1999, S. 6; ferner M. Rossi, Entwicklungsperspektiven der Europäischen Verfassung im Lichte des Vertrags von Amsterdam, DVB1. 1999, S. 529 ff.; L. Violini, Prime considerazioni sul concetto di „Costituzione Europea" alia luce dei contenuti delle vigenti carte costituzionali, Riv. Ital. Dir. Pubbl. Comunitario 1998, pag. 1225 ss.; aus früherer Zeit vgl. z.B. D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? München, Reihe „Themen" Bd. 60 der C.F. v. Siemens-Stiftung 1995; J.L. da Cruz Vilaqa und andere, Braucht Europa eine Verfassung? The Phillip Morris Institute Juni 1996 m.w.Nachw. 7

Vgl. zul. seine Arbeit Handwerksrecht und Europarecht - verstößt der Große Befähigungsnachweis gegen Gemeinschaftsrecht? GewArch 1998, S. 445 ff. s In der FS f. M. Kriele, (Fn. 2) 256. 9 Art. 1 lit. a der Satzung des Europarats

,Unions-Kirchen-Recht" in der Europäischen Union?

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In Art. 9 der E M R K ist der Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit in den Schranken der allgemeinen Gesetze zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit und Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer gewährleistet. 11 Nach anfänglichem Zögern wird dieser Schutz heute auch den Religionsgemeinschaften selbst zuerkannt und auf diese Weise um den korporativen Aspekt erwei. . 12 tert. Zunächst über die Rechtsprechung des E u G H 1 3 und schließlich über Art. 6 I I (ex Art. F II) E U V ist das Konventionsrecht die wichtigste Rechtsquelle für den Grundrechtsschutz i m Gemeinschaftsrecht i m engeren Sinne geworden. 1 4 2. Das Recht der Religionsgemeinschaften, sich auf das Konventionsrecht der Religionsfreiheit zu berufen, impliziert die Anerkennung eines kirchlichen Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrechts. Auch wenn sich der EuGH bisher dazu nicht äußern konnte, so ist doch davon auszugehen, daß auch i m Kontext des Europäischen Rechts die „inneren Angelegenheiten einer Kirche grundsätzlich in deren Verantwortung verbleiben". 1 5 10 Vgl. dazu mit w. Nachw. A. Hollerbach, Europa und das Staats-Kirchen-Recht, ZevKR 35 (1990), 250, 257 11 Umfassend dazu N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der EMRK, Berlin 1990; /. A. Frowein, Die Bedeutung des die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit garantierenden Artikel 9 der EMRK, Essener Gespräche, Bd. 27, S. 46 ff. 12 Vgl. die Nachw. bei A. Hollerbach, a. a. O., S. 258; J.A. Frowein, aaO, S. 49; A. Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Ansätze zu einem Europäischen Staatskirchenrecht, Köln usw. 1995. 13 Beginnend mit dem Urteil Stauder/Stadt Ulm, Slg. 1966, 425; sehr kritisch zum Eigenschutz durch den EuGH allerdings W. Leisner, Der europäische Eigentumsbegriff, in: Verfassungsrecht im Wandel, FG zum 180jährigen Bestehen des C. Heymanns Verlag, Köln, usw. 1995, S. 399ff.; die Entwicklung der Rechtsprechung ist gut dargestellt in BVerfGE 73, 339/ 378 ff.; aus jüngerer Zeit vgl. J. Kühling, Grundrechtskontrolle durch den EuGH, EuGRZ 1997, 296 ff. 14 Aus der schon uferlosen Grundrechtsliteratur im Gemeinschaftsrecht seien hervorgehoben H.W. Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993 sowie die knappe, vortreffliche Darstellung von I. Pernice, Gemeinschaftsverfassung und Grundrechtsschutz - Grundlagen, Bestand und Perspektiven, NJW 1990, 2412 ff.; nach Auffassung des Jubilars entspricht die Dogmatik jedenfalls des Eigentumsschutzes den Erwartungen der deutschen Grundrechtsdogmatik nicht (aaO, S. 407/408); freilich werden gerade bei den Anforderungen an die Grundrechtsdogmatik des EuGH erhebliche nationale Unterschiede sichtbar; hinzu kommt die erklärte Zurückhaltung des Vertrags (Art. 295 (ex 222) EGV) der Eigentumsverfassung gegenüber. 15

So zutr. G. Robbers, Die Fortentwicklung des Europarechts und seine Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Essener Gespräche, Bd. 27, S. 81/85; K.-D. Borchardt, Einwirkungen des europäischen Gemeinschaftsrechts auf den staatskirchenrechtlichen Status der katholischen Kirche in Österreich im Falle des Beitritt Österreichs zur EG, Gutachten, Luxemburg 1993, masch. Manuskript, S. 41; W.M. Rißmann, Europäische Integration und das kirchliche Selbstbestimmungsrecht in Deutschland, EuBl. 1997, 53 ff.

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Die Anerkennung der Religionsfreiheit und des Selbstverwaltungsrechts für Religionsgemeinschaften bildet die Voraussetzung für die Frage nach ihrem näheren Verhältnis zu den Gemeinschaftsorganen selbst. Was „innere Angelegenheit" ist, liegt also im Gemeinschaftsrecht wie im nationalen Recht zunächst in der Bestimmungsmacht der Kirche. Für die Ausbildung eines eigenen europarechtlichen Begriffs der inneren Angelegenheiten fehlt es einerseits an einem unmittelbaren Anknüpfungspunkt in den Verträgen (wie ihn etwa Art. 39 IV (ex 48) EGV für den Öffentlichen Dienst in den Mitgliedstaaten gerade liefert); zum anderen ist die Rechtslage in den Mitgliedstaaten gerade in diesem Punkt sehr unterschiedlich. 16 Das Gebot der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts, das aus Art. 10 (ex 5) EGV folgt, hat jedoch zur Folge, daß die Gemeinschaftsorgane zum Schutz seiner Vorschriften auf die Einhaltung äußerster Grenzen bei der Definition der „inneren Angelegenheiten" durch die Kirche zu achten haben. Ein Blick auf die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirchen und den Mitgliedstaaten zeigt ein buntes Bild 1 7 : Die meisten europäischen Staaten haben sich heute von den Vorstellungen eines Staatskirchentums gelöst 18 ; praktiziert wird es noch in Dänemark, Norwegen, Schweden sowie England und Schottland. Mit der Entscheidung dieser Staaten für eine Kirche als Staatskirche werden kirchliche und staatliche Angelegenheiten untrennbar verbunden. Die Kirche ist eingebunden in die von beiden zur gesamten Hand zu verwirklichenden und verantwortenden Gemeinwohlaufgaben. Die meisten europäischen Staaten sind demgegenüber von einer grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche gekennzeichnet. In Frankreich ist dieses System wohl am reinsten verwirklicht. 19 Was theoretisch so klar erscheint, schafft aber dennoch Probleme bei der Erfüllung eines großen Teils der Aufgabenfelder, auf denen die Verantwortung sowohl des Staates als auch der Kirche angesprochen ist, also im Sozialbereich, in der Bildung, bei der Seelsorge in besonderen Lebenslagen (Krankenhäuser, Altersheime). Daher haben mehrere europäische Länder den Weg gewählt, die Beziehungen zwischen Staat und Kirche auf der Grundlage eines grundsätzlich eigenständigen, aber partnerschaftlichen Zusammenwirkens zu ordnen. Das deutsche System 16 Zu optimistisch wohl A. Hollerbach, (Fn. 2), S. 273; skeptisch stehe ich auch der „Konvergenz"-These von Robbers gegenüber. 17 Vgl. dazu die Darstellung in mehreren Heften der Essener Gespräche, H. 5 (1971) für die Schweiz; H. 6 (1972) für Frankreich; H. 15 (1981) für Italien; H. 17 (1983) für Schweden; H. 18 (1984) für Spanien; w. Nachw. bei A. Hollerbach, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat, Berlin/New York 1998 (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, H. 136) S. 9 Fn. 19. Weitere Hinweise bei G. Robbers (Hg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, Baden-Baden 1995. 18 In Deutschland 1919 mit der WRV, in Italien und Spanien in den 60er Jahren. 19 B. Basdevant-Gaudemet, Droit et religion en France, R.I.D.C. 2-1998, p. 335 ff.

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kirchenvertraglichen Zusammenwirkens zwischen Staat und Kirche bietet ein mehrfach bewährtes Beispiel dafür. Zuletzt haben sich Staats-Kirchenverträge nach der Wende bei der Eingliederung der Kirchen in der früheren DDR in die Kirchenlandschaft der Bundesrepublik bewährt. 20 Auf katholischer Seite ist dabei freilich wieder bewußt geworden, wie zentralistisch der Apostolische Stuhl orientiert ist. Rom ist es erklärtermaßen schwer geworden, über seinen Nuntius mit fünf neuen Ländern getrennte Verhandlungen zu führen. Er hätte es bei weitem vorgezogen, das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen in Deutschland einheitlich neu zu ordnen in Anknüpfung an das nach seiner unverbrüchlich festgehaltenen Auffassung fortgeltende Reichskonkordat von 1933.21 Daraus läßt sich nicht unbedingt schließen, daß der Apostolische Stuhl über das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen in Europa viel lieber mit der Europäischen Union direkt verhandeln würde als mit einer stets wachsenden Zahl von Staaten. Für eine solche Orientierung spräche seine traditionelle Blindheit für Fragen und Probleme innerstaatlicher Föderalisierung, die er mit der Europäischen Union teilt. (Zur rechtlichen Möglichkeit eines solchen Gemeinschafts-Konkordats aus gemeinschaftrechtlicher Sicht vgl. unten III 4) Freilich wird die inhaltliche Komponente, die Frage also, mit welcher Aussicht der Heilige Stuhl damit rechnen kann, ein ihm günstiges System staats-kirchen-rechtlicher Beziehungen festzulegen, entscheidendere Bedeutung haben. III. Zwischen Staat und Kirchen bestehen auf europäischer Ebene schon heute mehr Kollisionsfelder 22 als viele meinen. 1. Das primäre Gemeinschaftsrecht der Verträge spricht die Kirchen als solche zwar bisher nicht ausdrücklich an. Dennoch können sie - ebenso wie die Rechte ihrer Mitglieder 23 - durchaus in seinen Wirkungsbereich kommen. Grundsätzlich 20 Vgl. dazu A. von Campenhausen, Güstrower Vertrag - ein Schritt zur Normalisierung des Verhältnisses von Staat und Kirche, LKV 1995, S. 233 ff.; H. Weber, Der Wittenberger Vertrag - ein Loccum für die neuen Bundesländer? NVwZ 1994, S. 759 ff. 21 Zur Fortgeltung des Reichskonkordats vgl. BVerfGE 6, 309 ff.; aus der umfangreichen Literatur zur Fortgeltungsfrage vgl. v. a. J. Listl, Die Fortgeltung und die gegenwärtige staatskirchenrechtliche Bedeutung des Reichskonkordats vom 20. 7. 1933, in: FS für L. Carlen, Zürich 1989, S. 309 ff.; soweit ersichtlich haben sich alle neuen Länder gegen die Fortgeltung dieses Konkordats gewehrt, sie ausdrücklich offen gelassen und die Frage dadurch zu umgehen versucht, daß die Konkordatsmaterien umfassend neu geregelt wurden. 22 Vgl. über die bisher schon Zitierten hinaus: Chr. Link, Staat und Kirche im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses, ZevKR 42(1997), S. 130ff.; R. Streinz, Auswirkungen des Europarechts auf das deutsche Staatskirchenrecht, Essener Gespräche H. 31, S. 53 ff. 23 Während man zunächst davon ausging, daß das primär wirtschaftlich orientierte Gemeinschaftsrecht den Schutzbereich der Religionsfreiheit nicht berühren kann, hat der Fall

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gelten die Regeln des Vertrages, vor allem die Grundfreiheiten, auch für die Kirchen. Versuche, generell gemeinschaftsrechtsfreie Bereiche zu schaffen, sind im Gemeinschaftsrecht bisher noch immer gescheitert. 24 Vor allem die Auswirkungen der Arbeitnehmerfreiheit und der zur Stärung der sozialen Rechte der Arbeitnehmer ergangenen Vorschriften können in Konflikt kommen mit kirchlichem Arbeitsrecht. 25 In einer Gemeinsamen Stellungnahme zu Fragen des Europäischen Einigungsprozesses26 haben beide Kirchen für die Berufung von Geistlichen und Religionsdienern eine Ausnahme von den Regeln der Arbeitnehmerfreizügigkeit gefordert, weil das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen dies geböte. So selbstverständlich dieses Ergebnis erscheint, so schwierig ist seine dogmatische Begründung, solange das kirchliche Selbstbestimmungsrecht in den Verträgen nicht selbst anerkannt ist; denn eine Ausnahmeklausel - wie sie für die Ausübung der bzw. Teilhabe an hoheitlichen Befugnissen normiert ist (z. B. Art. 39 IV (ex 48) EGV) fehlen hier. Versuche, diese Rechte der Kirchen über einen verfassungsfesten Kern nationaler Verfassungen 27 oder als Teil der von der Union zu achtenden nationalen Identität 28 vom sachlichen Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts auszunehmen, sind demgegenüber weit weniger erfolgversprechend. Freilich bleibt, solange eine Anerkennung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Gemeinschaftsrecht nicht explizit erfolgt ist, vorerst kein anderer Weg als derartige Versuche. Je weiter die Kirchen sich freilich von ihren originären inneren Angelegenheiten entfernen und in den Bereich wirtschaftlicher Tätigkeit ausgreifen (in karitativem oder kulturellem Engagement), desto stärker rücken sie in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Daß dieses „Wirken in der Welt" im Selbstverständnis der Kirchen ganz wesentliche Bedeutung hat, kann daran grundsätzlich nichts ändern. 29 Allerdings wird ein besonderer Tendenzschutz zugunsten der Kirchen und Religionsgemeinschaften vom Gemeinschaftsrecht in arbeits- und sozialrechtlichen Angelegenheiten grundsätzlich anerkannt. 30 Das ist eine Konsequenz des auch Prais (EuGH Slg. 1976, 1589/1598f.) das Gegenteil bewiesen und das Bewußtsein dafür geschärft, daß das Gemeinschaftsrecht und das Recht der Religionsgemeinschaften keine getrennten Rechtskreise darstellen. 24 Vgl. die Nachw. bei R. Steinz, aaO, S. 69. 25

Vgl. die näheren Nachweise bei R. Streinz, aaO, S. 73, 75. 26 herausgegeben vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, abgedruckt im Anhang A des Bandes 31 der Essener Gespräche (S. 153 ff.). 27 In Deutschland über Art. 79 III i.V.m. 23 GG. 28 Art. 6 III (ex Art. F) EUV; vgl. dazu etwa Chr. Starck, Das Christentum und die Kirchen in ihrer Bedeutung für die Identität der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten, Essener Gespräche H. 31, S. 5 / 22 ff. 29 Vgl. insoweit K.D. Borchardt, Gutachten S. 30: „Soweit das Staatskirchenrecht in Regelungsbereiche vorstößt, für die die EG eine Zuständigkeit besitzt und von dieser schon Gebrauch gemacht hat, wird auch das Staatskirchenrecht der Mitgliedstaaten vom Europäischen Gemeinschaftsrecht überlagert 4'. 30 Vgl. K.-D. Borchardt, Gutachten S. 33 und 94 f.

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vom Gemeinschaftsrecht grundsätzlich anerkannten Selbstbestimmungsrechts der Kirchen. Zu der damit anerkannten Befugnis, die inneren Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten, gehört ganz entscheidend auch die Möglichkeit der Sicherung ihrer Glaubwürdigkeit, die Grundlage und Erfolgsbedingung kirchlichen Wirkens nach außen ist. Aus diesen Gründen ist die Forderung der Kirchen nach glaubwürdigen, mit den Grundprinzipien der Gemeinschaft in Übereinstimmung stehenden Mitarbeitern unverzichtbar. 31 2. Rechtlich geschützte Interessen der Kirchen werden insbesondere vom sekundären Gemeinschaftsrecht, sowohl direkt als auch indirekt, wesentlich betroffen. Sie werden dadurch sowohl begünstigt als auch belastet. Ein markantes Beispiel für direkte Betroffenheit bildet die Fernseh-Richtlinie 32, in die die Regelung aufgenommen worden ist, daß Gottesdienste und andere „Sendungen religiösen Inhalts" unter 30 Minuten Dauer nicht durch Werbung unterbrochen werden dürfen; ferner darf die Fernsehwirkung nicht „religiöse Überzeugungen" verletzen". 33 Ein weiteres Beispiel positiver Betroffenheit ist der Sonn- und Feiertagsschutz, der den Kirchen seit je her ein besonderes Anliegen ist. Ihm gilt - neben nationalen Regelungen - inzwischen eine Richtlinie der EG. 3 4 Sie führt (in Erwägung Nr. 10) aus, daß bei der Festlegung der wöchentlichen Ruhezeit den Unterschieden der kulturellen, ethnischen, religiösen und anderen Faktoren in den Mitgliedstaaten hinreichend Rechnung getragen werden müsse. Ob der Sonntag in die wöchentliche Ruhezeit einzubeziehen sei, diese Entscheidung falle in den Zuständigkeitsbereich eines jeden Mitgliedstaates. Häufiger - und oft erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennbar - werden die Kirchen von allgemeinen Regelungen des Gemeinschaftsrechts in einer sehr spezifischen Weise betroffen. Zwei Beispiele: Mit der Datenschutz-Richtlinie35 sollte es den Mitgliedstaaten untersagt werden, persönliche Daten, zu denen auch die Religionszugehörigkeit zählt, zu statisti31 Einschränkungen ergeben sich bei Mitgliedern von Lehrkörpern als „Tendenzträger" aus dem Grundrecht des Art. 5 III GG auf Wissenschaftsfreiheit, das dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht als eigenständiger Verfassungswert gegenübertritt. 32 Richtlinie 89/552/EWG ABl. 1989 L 298, 23, mehrfach berichtigt; vgl. die konsolidierte, freilich nicht verbindliche, Fassung in GRUR-Int. 1998, S. 120 ff. 33

Art. 11 V bzw. Art. 12 lit. c der Richtlinie. Vgl. einen anderen Fall der Achtung religiöser Gefühle: Art. 5 II der Richtlinie 93/119/ EG des Rates vom 25. 12. 93 über den Schutz von Tieren im Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung enthält Sonderbestimmungen für Tiere, bei denen aufgrund bestimmter religiöser Riten besondere Schlachtmethoden angewendet werden, ABl. EG L 340/21 34 RL 93/104 vom 23. 11. 1993, ABl. EG 1993 L 307, die auf Artikel 138 (ex 118a) EGV gestützt ist und lediglich Mindestvorschriften zur Arbeitsgestaltung enthält. 35

RL 95/46/EG v. 24. 10. 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr ABl. EG 1995 L 281; zum Entwurf

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sehen oder anderen Zwecken zu erfassen. Damit wäre das deutsche System der Erhebung der Kirchensteuer durch die staatlichen Finanzämter (gegen eine Gebühr in einem vom Hundertsatz des Aufkommens) zusammengebrochen. Zwar konnte dieses Ergebnis vermieden werden. In den Text der RL wurde ein Erwägungsgrund (Nr. 35) aufgenommen, wonach die Verarbeitung der personenbezogenen Daten staatlichen Stellen „für verfassungsrechtlich oder im Völkerrecht niedergelegte Zwecke von staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften aus Gründen eines wichtigen öffentlichen Interesses" gestattet werden kann. 36 Das Beispiel hat immerhin deutlich gemacht, zu welchen Konsequenzen es führen kann, wenn Kirche im Gemeinschaftsrecht nicht als Institution wenigstens in den Informationsprozeß der Gemeinschaftsrechtssetzung einbezogen wird, sondern lediglich als eine von vielen Interessenvertretungen angesehen wird, die individuell darauf verwiesen werden, sich Informationen selbst zu beschaffen und ihre Interessen in den wild gewachsenen Mechanismen des Lobbying zu vertreten. 37 Betraf die Datenschutz-Richtlinie die Kirchen noch punktuell, so werden sie von den Richtlinien zur Herstellung der Gleichheit der sonstigen Arbeitsbedingungen für männliche und weibliche Arbeitnehmer sowie von den Richtlinien zum sozialen Arbeitsschutz 38 auf breiter Front betroffen. Das wird freilich gemildert durch die bereits erwähnte gemeinschaftsrechtliche Anerkennung eines Tendenzschutzes zugunsten der Kirchen, wobei der Personenkreis nicht exakt abgegrenzt werden kann, bei dem die Kirchen die Übereinstimmung mit ihrer Grundtendenz verlangen dürfen. Die Kindergärtnerin z. B. wird zweifelsfrei darunter fallen; beim Hilfspersonal in kirchlichen Krankenhäusern und anderen Einrichtungen ist das - aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts - eher nicht zu erwarten. Es wird vielmehr auf den Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Funktion und der für sie im Interesse der Glaubwürdigkeit erforderlichen Identifikation mit den wesentlichen Lehren der Kirche ankommen.

IV. Angesichts so vieler und umfassender Berührungsfelder in den Aufgaben der Europäischen Union wie der Kirchen kann in der europäischen Verfassungsdiskussion die Frage nicht mehr lauten, ob die Stellung der Kirchen in eine künftige der RL vgl. G. Robbers (Hg.), Europäisches Datenschutzrecht und die Kirchen, Berlin 1994; darin F. Kopp, Zum Entwurf der Datenschutzrichtlinie, S. 9 ff.; sowie Landesberichte über den jeweils nationalen Datenschutz und die Kirchen in den Mitgliedstaaten. 36 Vgl. näher dazu W. Rüfner, Staatskirchenrechtliche Überlegungen zu Status und Finanzierung der Kirchen im vereinten Europa, in: Verfassungsrecht im Wandel, FG zum 180jährigen Bestehen des C. Heymanns-Verlags, Köln usw. 1995, S. 485 ff. 37 Immerhin waren die Wohlfahrtsverbände schon auf dem Maastrichter Gipfel als hervorgehobene Träger sozialer Leistungen in einer besonderen Protokollnotiz anerkannt worden. 38 Vgl. die Nachw. bei R. Streinz, aaO, S. 73 f.

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Gemeinschafts Verfassung einbezogen werden soll39, sondern nur, aufweiche Weise dies zu geschehen hat. 1. Heftig umstritten ist schon die Ausgangsfrage nach dem Begriff\ mit dem die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den Kirchen gekennzeichnet werden sollen: Bei den Essener Gesprächen 1992 40 ist kontrovers diskutiert worden, ob die in den Mitgliedstaaten gewohnte Bezeichnung Staats-Kirchen-Recht auch auf die Union übertragen werden darf. Staat ist sie nicht und soll sie auf absehbare Zeit, nach Lage der Dinge, auch nicht werden. Damit verbietet sich an sich der Gebrauch dieses Begriffs. In der Rechtswirklichkeit ist es aber ebenso eine nicht zu übersehende Tatsache, daß die Europäische Union als eine neue und gesteigerte Form einer völkerrechtlichen Staatenverbindung eigenständige Hoheitsrechte ausübt und in den Mitgliedstaaten auch durchsetzt, die den Rahmen des traditionellen Völkerrechts längst gesprengt haben. Die begriffliche Schwierigkeit bei der Erfassung des Wesens der Europäischen Union 41 setzt sich damit notwendig auch auf der Ebene ihrer Beziehungen zu den Kirchen fort. Es liegt daher nahe, eine Bezeichnung zu wählen, die eine Festlegung hinsichtlich der umstrittenen Rechtsnatur der Europäische Union vermeidet. Deswegen wird hier im folgenden von „Unions-Kirchen-Recht" gesprochen. 2. Im Vorfeld der Regierungskonferenz von Amsterdam wurde nach einer Serie schwieriger Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten und der Union vorgeschlagen, einen Kirchenartikel in den EGV aufzunehmen, der folgendermaßen lautete: „Die Europäische Union achtet die verfassungsrechliche Stellung der Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten als Ausdruck der Identität der Mitgliedstaaten und ihrer Kulturen sowie als Teil des gemeinsamen kulturellen Erbes". 42

Dieser Vorschlag hat dann aber doch keine Mehrheit gefunden. Die Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten hat statt dessen dem Amsterdam - Vertrag 43 eine „Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften" angefügt. Danach erklärt die Union, den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen", zu achten und ihn nicht zu beeinträchtigen. 44 39 In den bisherigen Textentwürfen ist dies - soweit ersichtlich - nicht der Fall. 40 Heft 27; vgl. etwa den Beitrag von J.H. Kaiser, aaO, S. 105 f. 41 Vgl. zul. A. v. Bogdandy, Die Europäische Union als supranationale Föderation, Integration 1999, 95 ff. m.w.Nachw. 42 Vgl. zum Umfeld A. Hollerbach, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat, Schriftenreihe der juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 156, Berlin/New York 1998, S. 25 f. 43 Der zum 1. 5. 1999 in Kraft getreten ist; dort Erklärung Nr. 11.

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Die Kirchen werden damit - wenn auch auf allerunterster rechtlicher Geltungsstufe - offiziell zur Kenntnis genommen und in den Informationsfluß einbezogen. Ob diese Erklärung darüber hinaus bei der künftigen Entwicklung des Gemeinschaftsrechts als eine „Harmonisierungsbremse" (G. Robbers) wirkt oder - darüber hinaus - sogar „unzumutbare" Auswirkungen der allgemeinen Rechtsvereinheitlichung für die Kirchen vermeidet, wird die künftige Entwicklung zeigen. Eine Ausnahme von dem sachlichen Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts begründet diese Erklärung mit Sicherheit nicht. Auch ein Grundstein zur Entwicklung eines angemessenen rechtlichen Verhältnisses zwischen der Europäischen Union und der Kirche ist damit wohl noch nicht gelegt.45 3. Organisatorisch haben sich erste Strukturen der Kirchen auf europäischer Ebene gebildet: 1956 wurde in Brüssel das Katholische Sekretariat für europäische Fragen gegründet. Auf die seit 1970 bestehenden diplomatischen Verbindungen zwischen dem Heiligen Stuhl und der Europäischen Gemeinschaft wurde bereits verwiesen. Die Ständige Vertretung des Heiligen Stuhles hat die Rechtsform einer apostolischen Nuntiatur. Aufgrund einer Initiative des Zweiten Vatikanischen Konzils konstituierte sich am 23./24. März 1971 das Consilium Conferentiarum Episcopalium Europae (CCEE) des Rates der europäischen Bischofskonferenzen, dessen Statuten vom Heiligen Stuhl approbiert worden sind. Die Delegierten werden aus dem Kreis der einzelnen Bischofskonferenzen entsandt. Das Consilium wird durch ein Sekretariat unterstützt. Unabhängig davon wurde 1980 die Commissio Episcopatuum Communitatis Europaeae (ComECE) gebildet, in der jede nationale Bischofskonferenz der Mitgliedstaaten durch einen Bischof vertreten ist. Damit ist eine Ebene wechselseitiger Information geschaffen - nicht mehr und nicht weniger. Vor allem haben die Kirchen auf europäischer Ebene nicht den Status öffentlichrechtlicher Körperschaften, der zum traditionellen Bestand etwa des deutschen Staatskirchenrechts gehört. 46 Gemeinschaftsrechtlich werden die Kirchen bisher lediglich als Körperschaften auf der Ebene der Mitgliedstaaten zur Kenntnis genommen. Das ermöglicht - wie Art. 288 (ex 211) zweiter Halbsatz EGV zeigt den Abschluß von Verträgen zwischen der Gemeinschaft und Kirchen, die im entsprechenden Mitgliedstaat rechts- und gschäftsfähig sind. Auf europäischer Ebene läge es in der Konsequenz ihres Selbstbestimmungsrechtes, die organisatorischen 44

Vgl. näher dazu G. Robbers, Europa und die Kirchen - die Kirchenerklärung von Amsterdam, Stimmen derZeit 1998, S. 147 ff. 45 Eher skeptisch wohl auch Chr. Link, Staat und Kirche im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses, ZevKR 42 (1997), 130 ff. 46 Insoweit zutreffend G. Robbers, Essener Gespräche H. 27, S. 97; seine Auffassung, daß das gemeinschaftsrechtlich ohne Belang sei, teile ich allerdings nicht.

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Ansätze einer Kooperation der Kirchen zu Körperschaften des Gemeinschaftsrechts zu verfestigen. Das verlangt einen Organisationsakt des Rates - vergleichbar etwa den Einrichtungen von „Ämtern" auf Gemeinschaftsebene. Ein anderer Weg würde darin bestehen, nach dem Vorbild des Art. 139 (ex 118 b) EGV (Dialog zwischen den Sozialpartnern) einen Dialog auf Gemeinschaftsrechtsebene zu institutionalisieren und „zur Herstellung vertraglicher Beziehungen, einschließlich des Abschlusses von Vereinbarungen" zu führen. Eine solche Regelung würde natürlich sogleich das - aus dem nationalen Recht bekannte - Folgeproblem nach sich ziehen, welche Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Kreis dieser Vertragspartner einzubeziehen wären. Das setzt - als organisations-soziologisches Substrat - natürlich voraus, daß die nationalen Kirchen in Europa mit einer Stimme sprechen wollen und können. Solange dies nicht gewährleistet ist, leidet ihre Repräsentationsschwäche im Gemeinschaftsrecht eher an einem inneren Mangel als an der vorgeblichen Kulturblindheit des Gemeinschaftsrechts. 4. Der Heilige Stuhl als Völkerrechtssubjekt ist schon bisher nicht daran gehindert, mit der Union einen Unions-Kirchen-Vertrag als völkerrechtliche Vereinbarung zu schließen.47 Auf Seiten der Union setzt ein derartiger Vertrag freilich das Vorliegen einer entsprechenden Außenkompetenz voraus. Das bedeutet nach inzwischen nahezu einhelliger Meinung 48 , daß die Union - eine entsprechende Binnenkompetenz besitzen muß und daß - deren Effektivierung den Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages verlangt. Nach geltendem Gemeinschaftsrecht besteht eine Binnenkompetenz der Gemeinschaft in genuin staats-kirchen-rechtlichen Fragen derzeit allerdings nicht. Art. 151 (ex 128) EGV läßt bereits bei der Aufzählung der von der EG wahrzunehmenden Tätigkeiten in Abs. 2 erkennen, daß der gemeinschaftsrechtliche Kulturbegriff 49 im Sinne der derzeitigen Fassung des EGV staats-kirchen-rechtliche Fragen nicht umfaßt. Eine solche kann insbesondere nicht aus Abs. 2, zweiter Strich (Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung) abgeleitet werden. 47

Dabei soll die im Gemeinschaftsrecht immer noch umstrittene Frage, ob die Union selbst VÖlkerrechtsfähigkeit besitzt oder ob die drei Gemeinschaften für die Union handeln, nicht vertieft werden. Ausdrücklich ist der Union Völkerrechtsfähigkeit in dem Vertragstext nicht zuerkannt worden; vgl. zum ganzen A. v. Bogdandy, Fn. 41. 4 8 Vgl. dazu O. Dörr, Die Entwicklung der ungeschriebenen Außenkompetenzen der EG, EuZW 1996, S. 39 ff.; R. Geiger, Vertragsschlußkompetenzen der Europäischen Gemeinschaft und auswärtige Gewalt der Mitgliedstaaten - zur neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, JZ 1995, S. 973 ff. 49 Vgl. zur Entwicklung der kulturellen Aktivitäten der Gemeinschaft A. Behrens, Kultur in der Europäischen Union - die Kompetenz der EU im kulturellen Bereich und deren Auswirkung auf die Zuständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Berlin 1999, S. 9 ff.

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Hinzu kommt, daß eine Regelungskompetenz, die die Förderung einer kulturellen Zusammenarbeit überschreitet, aus dieser Vorschrift nicht begründet werden kann. Dies muß natürlich nicht für alle Zeiten so bleiben. Gerade im kulturellen Bereich ist die Gemeinschaft in der jüngsten Zeit verstärkt tätig geworden. Sollte die Gemeinschaft hier weitergehende Befugnisse übertragen bekommen, dann würde auch ein Unions - kirchen - rechtlicher Vertrag in die Reichweite des Möglichen kommen. Art. 140 GG ist jedenfalls nicht „europafest". Aus dieser oder anderen nationalen Verfassungsbestimmungen (vor allem aus Art. 79 III i.V.m. 23 GG) kann nicht abgeleitet werden, daß derartige Befugnisse der Gemeinschaft nicht übertragen werden dürften. Schließlich sind die Kompetenzen der Gemeinschaft seit dem Maastricht-Vertrag kontinuierlich ausgeweitet worden. Freilich bedingt das den Abschluß eines völkerrechtlichen Änderungsvertrags des EGV. Vor einer solchen Kompetenzausweitung schützt auch nicht der Grundsatz der Subsidiarität 50, der mit dem Maastricht-Vertrag in Art. 3 b II EGV a.F. (jetzt Art. 5 II EGV) als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts aufgewertet wurde. Nach dem geltenden Gemeinschaftsrecht handelt es sich bei diesem Grundsatz um eine Kompetenzausübungsschranke, die nicht davor schützt, den Gemeinschaftsorganen selbst neue Kompetenzen zuzuweisen. Auch Art. 7 (ex F Abs. 1) des Unionsvertrags, nach dem die Union „die nationale Identität ihrer Mitglieder" achtet, auf den sich in Deutschland viele Hoffnungen stützen, würde vor einer entsprechenden Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen nicht schützen. Art. 307 (ex 234) EGV läßt die Rechte und Pflichten aus Übereinkünften, die vor dem 1.1. 1958 geschlossen wurden, unberührt. In dieser Bestimmung wird in der deutschen Literatur ein Bestandsschutz der Konkordatslage gesehen.51 Soweit die dadurch begründeten Rechte und Pflichten freilich mit dem EGV nicht vereinbar sind, sieht Art. 307 II EGV die ausdrückliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, die festgestellten Unvereinbarkeiten zu beheben. Art. 307 EGV erlaubt es den Mitgliedstaaten, ihre Verpflichtungen aus vor dem Abschluß des EWGV abgeschlossenen internationalen Übereinkünften gegenüber Dritten einzuhalten; die Vorschrift ermächtigt jedoch nicht dazu, Rechte aus solchen Übereinkünften in den innergemeinschaftlichen Beziehungen geltend zu machen.52 Gemeinschaftsrechtlich bleibt es also dabei, daß der Abschluß der Konkordate und Kirchenverträgen mit der Europäischen Union möglich ist unter der Vorausset50 Vgl. H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip - Strukturprinzip einer europäischen Union, Berlin 1993. 51 So offenbar A. Hollerbach, (Fn. 10), S. 275; G. Robbers, Essener Gespräche, H. 27, S. 97. 52 Vgl. insbesondere EuGH Slg. 1993 I, 4287 Tz. 12 (Levy).

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zung, daß die Binnenkompetenz der Gemeinschaften entsprechend ausgeweitet wird. Das gilt nicht nur für inhaltliche Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche vor allem im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts, sondern auch für die Art und Weise, in der diese ausgestaltet werden sollen. Die Wahl zwischen einem strikten Trennungssystem nach französischem Muster und dem deutschen System des gleichberechtigten Miteinander mit dem Instrument kirchenvertraglicher Regelungen erscheint derzeit eher offen. So sehr auch Vertreter jedenfalls der deutschen katholischen Kirche und des Apostolischen Stuhls die Übertragung des deutschen Systems auch auf die Europäische Union zu wünschen scheinen, so wenig ist dies derzeit durchsetzbar oder mit der historisch gewachsenen verfassungsrechtlichen Identität derjenigen Mitgliedstaaten vereinbar, die sich entweder für ein System der Staatskirche oder für das System der völligen Trennung zwischen Staat und Kirche entschieden haben. Erst wenn sich die Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in den europäischen Mitgliedstaaten stärker aneinander angenährt haben, wäre es sinnvoll, die Vergemeinschaftung auf diesem Bereich voranzutreiben. Damit bleibt es in der Europäischen Union wie im deutschen Bundesstaat für die Kirchen bei der derzeitigen Lage, die von einer Vielzahl von Vertragspartnern charakterisiert ist, die von ihrer jeweils unterschiedlichen Geschichte geprägt sind, und damit ganz wesentlich für die kuturelle Vielfalt stehen, die die Gemeinschaft noch immer prägt und auch künftig auszeichnen soll. Diese ihre Bedeutung ist im europäischen Verfassungsprozeß - sollte er formell mit einem Akt ausdrücklicher Verfassunggebung weiter voran getrieben werden - freilich ausdrücklich anzunehmen. Ein Ansatz zu einem umfassenden Unions-Staats-Kirchenrecht ist damit aber nicht verbunden.

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Die Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge als staatsrechtliches Problem: Wie weit trägt der Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG?* Von Christian Hillgruber

I. Einleitung „Ich merkt' es wohl, vor Tische las man's anders". An diesen Ausruf des Generals Tiefenbach in Schillers Wallenstein1 denkt man unwillkürlich, wenn man konstatiert, wie sich gerade in jüngster Zeit völkerrechtliche Verträge in ihrer praktischen Handhabung fernab des Vertragstexts fortentwickeln. Insbesondere internationale Organisationen beginnen ein Eigenleben zu führen und Aktivitäten zu entfalten, die selbst bei großzügiger Auslegung der Gründungsverträge in diesen keine hinreichende Grundlage mehr finden. Losgelöst vom Gründungsvertrag werden diese ursprünglich zu ganz anderen Zwecken geschaffenen internationalen Organisationen neuen Zwecken dienstbar gemacht, ohne daß diese „Umwidmung" sich in einer förmlichen Vertragsänderung niederschlägt. Für diese Entwicklung steht die Nordatlantik-Vertragsorganisation prototypisch. Ausweislich des Washingtoner Vertrages (im folgenden: NATO-Vertrag) und auch entstehungsgeschichtlich nachweisbar als reines Verteidigungsbündnis auf der Grundlage des Art. 51 Satzung der Vereinten Nationen (SVN) konzipiert, versteht sich die NATO mittlerweile auch als ausführendes (Hilfs-)Organ der Vereinten Nationen bei der Durchsetzung militärischer Zwangsmaßnahmen nach dem VII. Kapitel der Satzung der Vereinten Nationen und hält sich sogar, wie die jüngste Kosovo-Krise zeigt, für berechtigt, ohne Mandat der Vereinten Nationen aus humanitären Gründen in Drittstaaten militärisch zu intervenieren. II. Die Entwicklung der NATO seit 1990: Vom Verteidigungsbündnis zur europäischen Interventionsstreitmacht Diese Fortentwicklung hat sich seit 1990 vollzogen und stellt eine Reaktion auf den durch den Umbruch 1989/90 bewirkten, grundlegenden Wandel der sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Europa und der Welt dar. Mit dem Zusam* Das Manuskript wurde Ende April 1999 abgeschlossen. 1 Wallenstein I, Die Piccolomini, 4. Aufzug, 7. Auftritt. 5*

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menbruch der sowjetischen Hegemonialstellung in Mittel- und Osteuropa ist die militärische Bedrohung, vor der die NATO seit ihrer Gründung hatte Schutz bieten sollen und tatsächlich Schutz geboten hatte, nicht mehr akut. Unter diesen Umständen sah sich die Allianz veranlaßt, ihre Legitimation nicht länger ausschließlich aus ihrer Verteidigungsfunktion herzuleiten, sondern über den Verteidigungsauftrag hinaus sich auch für „friedenserhaltende Aufgaben" und auch „Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung" bereit zu halten. Die Entwicklung wurde durch die Londoner Erklärung der Gipfelkonferenz der NATO-Mitgliedstaaten vom 5.16.1. 19902 eingeleitet. Diese bekräftigte zwar den Auftrag der Nordatlantischen Allianz, auch künftig die gemeinsame Verteidigung zu gewährleisten. Darüber hinaus sollte jedoch „die politische Komponente unserer Allianz, wie sie in Art. 2 unseres Vertrages niedergelegt ist", gestärkt werden. Blieb danach die militärische Funktion der NATO zunächst noch unverändert auf die kollektive Verteidigung der Bündnispartner ausgerichtet, so wurde auch insoweit mit dem auf der Gipfelkonferenz vom 7. 11. 1991 verabschiedeteten „neuen Strategischen Konzept" eine Neuorientierung eingeleitet3. Das Dokument spricht von neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen und Risiken (Teil I). Risiken für die Allianz ergäben sich weniger aus der Wahrscheinlichkeit des kalkulierten Angriffs auf das Hoheitsgebiet der Bündnispartner, als vielmehr in der Konsequenz von Instabilitäten, die aus den ernsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwierigkeiten, einschließlich ethnischer Rivalitäten und Gebietsstreitigkeiten entstehen können, denen sich viele mittel- und osteuropäische Staaten gegenübersähen (Ziff. 10): „Im Fall eines bewaffneten Angriffs auf das Gebiet der Bündnispartner, aus welcher Richtung auch immer, finden Art. 5 und 6 des Vertrags von Washington Anwendung. Die Sicherheit des Bündnisses muß jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen. Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken berührt werden ...Im Bündnis gibt es Mechanismen für Konsultationen nach Art. 4 des Vertrags von Washington sowie ggf. zur Koordinierung der Maßnahmen der Bündnispartner einschließlich ihrer Reaktionen auf derartige Risiken" (Ziff. 13). Das neue Strategische Konzept zieht aus alledem die Schlußfolgerung, die NATO müsse sich, um eine erfolgreiche, der Wahrung der Friedens dienende Politik betreiben zu können, auch an Aufgaben der Krisenbewältigung und Konfliktverhütung beteiligen (Ziff. 32 - 34). Dazu gehöre unter Umständen, in Ergänzung politischer Maßnahmen und diese durchsetzend, auch der militärische Einsatz der Streitkräfte des Bündnisses (Ziff. 43). Auf der Ministertagung vom 4. 6. 19924 erklärte der Nordatlantikrat dann die Bereitschaft der Allianz, „zu wirksamen Aktionen der KSZE entsprechend ihrer 2 EA 1990, S. D 456 ff. = Bulletin der Bundesregierung Nr. 90 v. 10. 7. 1990, S. 777. 3 EA 1992, S. D 52ff.; vgl. auch schon die vom Nordatlantikrat am 7. 6. 1991 verabschiedete „Erklärung über die sicherheitspolitischen Kernfunktionen der NATO im neuen Europa, EA 1992, S. D 42 f. 4 Kommunique, EA 1992, S. D 466 ff.

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neuen und größeren Verantwortung für Krisenmanagement und die friedliche Beilegung von Streitigkeiten beizutragen", und „von Fall zu Fall, in Übereinstimmung mit unseren eigenen Verfahren, friedenserhaltende Aktivitäten unter der Verantwortung der KSZE einschließlich der Bereitstellung von Ressourcen und Fachwissen des Bündnisses zu unterstützen" (Ziff. 11). Auch „den Beitrag der Vereinten Nationen zur Konfliktbeilegung und Friedenswahrung im euro-atlantischen Raum" wolle die Allianz unterstützen: „Wir erneuern unsere Verpflichtung, die Fähigkeit der Vereinten Nationen zur Durchführung ihrer erweiterten Bemühungen um den Weltfrieden zu stärken" (Ziff. 13). Mit dieser Bereitschaftserklärung stellte das Nordatlantische Bündnis erstmals ein militärisches Handeln aufgrund eines Mandats der KSZE/OSZE oder der Vereinten Nationen als konkrete Möglichkeit in Aussicht. Dieses Vorhaben wurde bereits einen Monat später mit dem Beschluß des NATO-Außenministerrates vom 10. 7. 1992 über die Teilnahme der Allianz an der Seeüberwachung des Waffenund Handelsembargos gegen die Föderative Republik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) verwirklicht. Die damit eingeleitete Praxis der Beteiligung an der Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen unter dessen Verantwortung hat die NATO in den folgenden Jahren im ehemaligen Jugoslawien fortgesetzt, bei der Unterstützung der UNPROFOR ebenso wie bei dem Einsatz der IFOR, später SFOR in Bosnien-Herzegowina zur Umsetzung des Friedensvertrages von Dayton auf der Grundlage der Sicherheitsratsresolution 1031 (1995) vom 15. 12. 19955, „der bedeutendsten Militäroperation in der Geschichte dieser Allianz", mit der diese Tätigkeit im Auftrag der Vereinten Nationen ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hat. Alle Bündnispartner sollen voll in die „neue Bündnisrolle in der Friedenswahrung" einbezogen werden, wobei anerkannt wird, „daß die nationale Beteiligung nationaler Entscheidung vorbehalten bleibt" 6 . Dies hat im Einzelfall zum Ausscheren eines NATO-Mitgliedstaates geführt 7, ohne daß die NATO deshalb darauf verzichtet hätte, die ihr zugeordneten Streitkräfte unter NATO-Kommando bei der Wahrnehmung einer solchen neuen militärischen Aufgabe einzusetzen. In der jüngsten Kosovo-Krise hat nun die NATO sogar erstmals für sich die Befugnis reklamiert, auch ohne Mandat (des Sicherheitsrates) der Vereinten Nationen8 in einem Staat militärisch zu intervenieren 9, ohne daß die Voraussetzungen 5

Siehe dazu das Kommunique der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 5. 12. 1995 sowie die Erklärung zu Bosnien-Herzegowina, BullBReg. Nr. 106 vom 15. 12. 1995, S. 1053, 1057. Siehe ferner N. Figä-Talamanca, The Role of NATO in the Peace Agreement of Bosnia and Herzegovina, 7 EJIL (1996), 164 - 175. 6 Kommunique der Ministerratstagung vom 10. 6. 1993, EA 1993, S. D 295 ff. 7

So hat sich Griechenland von dem Ultimatumsbeschluß des NATO-Rates vom 9. 2. 1994 gemäß einer im Protokoll festgehaltenen Erklärung distanziert, BullBReg. vom 22. 2. 1994 (Nr. 16), S. 152. 8 Der Sicherheitsrat hatte zwar mit den Resolutionen 1199 (1998) vom 23. 9. 1998 und 1203 (1998) vom 24. 10. 1998 bezüglich der Lage im Kosovo Beschlüsse nach dem

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für die Ausübung des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung im Sinne des Art. 51 SVN vorliegen. In dem von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten auf dem Treffen des Nordatlantikrates in Washington am 23./24. April 1999 angenommenen „Alliance's Strategie Concept" 10 bekennt sich das Bündnis „zu wesentlichen neuen Aktivitäten im Interesse größer Stabilität" (Einleitung, Ziff. 3). Der wesentliche und fordauernde Zweck der NATO, der im Washingtoner Vertrag niedergelegt sei, bestehe darin, die Freiheit und Sicherheit aller ihrer Mitglieder mit politischen und militärischen Mitteln zu gewährleisten. Die Verwirklichung dieses Ziels könne durch Krisen und Konflikte, die die Sicherheit des euro-atlantischen Raumes berühren, gefährdet werden. Das Bündnis gewährleiste daher nicht nur die Verteidigung seiner Mitglieder, sondern trage auch zu Frieden und Stabilität in dieser Region bei (Ziff. 6). Dabei ist das Bündnis „einem breit angelegten sicherheitspolitischen Ansatz verpflichtet" (Ziff. 25). Die Sicherheit der Bündnispartner könne außer durch einen bewaffneten Angriff, auf den die Art. 5 und 6 NATO-Vertrag Anwendung finden, auch durch andere Risiken bedroht werden (Ziff. 24). Genannt werden „ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten" (Ziff. 20), wirtschaftliche Not, Anarchie, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen (Ziff. 3, 22 f.), Terrorismus, organisierte Kriminalität sowie die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen (Ziff. 24). Die Allianz werde die ihr zugewiesene Aufgabe, für umfassende Stabilität und Sicherheit des euro-atlantischen Raumes zu sorgen, durch Konsultation (Art. 4 NATO-Vertrag), Abschreckung und Verteidigung (Art. 5 u. 6 NATO-Vertrag) sowie mit neuen Formen des Krisenmanagements und der Partnerschaft erfüllen (Ziff. 10). Spannungen, Krisen und bewaffnete Konflikte, die sich aus den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen und Risiken ergeben, gelte es vorbeugend durch Sicherheitspolitik zu verhüten, notfalls aber auch militärisch zu beantworten: „Im Zuge ihrer Politik der Friedenserhaltung, der Kriegsverhütung und der Stärkung von Sicherheit und Stabilität ... wird die NATO in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen darum bemüht sein, Konflikte zu verhüten oder, sollte eine Krise auftreten, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu deren wirksamer Bewältigung beitragen, darunter auch durch die Möglichkeit der Durchführung von nicht unter Art. 5 fallenden VII. Kapitel der Satzung der Vereinten Nationen getroffen. Die Berufung auf das VII. Kapitel diente jedoch lediglich dazu, die an die Konfliktparteien gerichteten Forderungen nach Einstellung der Feindseligkeiten und Aufnahme eines konstruktiven Dialogs für diese verbindlich zu machen. Dagegen enthielten diese Resolutionen (noch) keine Ermächtigung an Staaten oder regionaler Organisationen, die Erfüllung dieser Verpflichtungen gegebenenfalls militärisch durchzusetzen. Vielmehr behielt der Sicherheitsrat sich insoweit ausdrücklich weitere Entscheidungen vor. 9 Vgl. die Luxemburger Erklärung des Ministertagung des Nordatlanikrates zum Kosovo vom 28. 5. 1998, BullBReg. Nr. 41 vom 15. 6. 1998, S. 544. Vgl. die NATO-Presseerklärung NAC-S(99)65 vom 24. 4. 1999; asuszugsweise abgedruckt in: FAZ Nr. 97 v. 27. 4. 1999, S. 10 f.

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Krisenreaktionseinsätzen". Die Beteiligung an einer solchen Operation und einem solchen Einsatz bleibe „unter Berücksichtigung der Notwendigkeit von Bündnissolidarität und -Zusammenhalt" den Beschlüssen der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen Verfassungen vorbehalten (Ziff. 31). Die NATO erkennt zwar die primäre Verantwortung des Sicherheitsrates für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit (Art. 24 SVN) an (Ziff. 15) und erklärt ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit, betont aber ihre Eigenständigkeit und will ihr militärisches Eingreifen zur Krisenbewältigung nicht unter allen Umständen von einem Mandat der Vereinten Nationen abhängig machen. Kurz gesagt: Die NATO bleibt auf die Verteidigung ihrer Mitglieder ausgerichtet, weitet ihren möglichen politischen und militärischen Operationsrahmen aber auf der Grundlage eines extrem weit verstandenen Sicherheitsbegriffs erheblich aus. In welchem Umfang sie davon nach den Erfahrungen der Kosovo-Krise Gebrauch machten, bleibt abzuwarten. Die hier skizzierte Entwicklung, die die NATO seit 1990 genommen hat, hat sich bisher nicht in einer Änderung des NATO-Vertrages niedergeschlagen; eine solche scheint auch nicht beabsichtigt. Vielmehr vertritt der Nordatlantikrat erklärtermaßen die Rechtsauffassung, daß sich dieser tiefgreifende Prozeß der Funktionenausweitung der NATO und der sicherheitspolitische und strategische Konzeptionswechsel innerhalb des vom Washingtoner Vertrages gesetzten Rahmens vollziehe. Die Mitgliedstaaten erklären, „daß der Wirkungsbereich des Bündnisses wie auch ihre Rechte und Pflichten aus dem Nordatlantikvertrag unverändert bleiben" 11 . „Weder der Zweck noch die sicherheitspolitischen Aufgaben des Bündnisses [hat] sich verändert" 12.

I I I . Rechtliche Analyse der Fortentwicklung: „Dynamische" Interpretation oder Änderung des NATO-Vertrages? Auf welche Vertragsvorschriften aber kann sich die NATO bei dieser Praxis stützen? Richtig ist, daß sich die NATO stets und in Übereinstimmung mit dem Wortlaut des NATO-Vertrages nicht bloß als reines Militärbündnis in Wahrnehmung des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung i. S. d. Art. 51 SVN, sondern stets auch als (sicherheits-)politisches Bündnis verstanden hat 13 . Dies kommt besonders deutlich in Art. 2 des Vertrages zum Ausdruck, in dem sich die Vertragsparteien dazu verpflichten, zur weiteren Entwicklung friedlicher und freundschaftlicher internationaler Beziehungen beizutragen, und in diesem Rahmen auch bestrebt sind, die wirth Erklärung des Nordatlantikrates vom 7. 6. 1991, EA 1992, S. D 42f. 12 EA 1992, S. D 52 ff. 13 Vgl. M Frank, Der Beitritt zum Nordatlantik-Vertrag, Frankfurt a. M. 1991, S. 46.

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schaftliche Zusammenarbeit zwischen ihnen zu fördern 14. Dem Sicherheitsbegriff des Nordatlantikvertrages wohnt jedoch kein über die gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen hinausgehendes, eigenständiges militärisches Element inne. Was das Verhältnis zu den Vereinten Nationen angeht, so enthält die Präambel zwar ein Bekenntnis zu den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen (Art. 2 SVN). Die Präambel will damit aber nur zum Ausdruck bringen, daß die Mitgliedstaaten der NATO sich den Intentionen der Charta verpflichtet fühlen und in ihrem Sinne zu handeln beabsichtigen15. Auch die Unberührtheitsklausel des Art. 7 NATO-Vertrag trägt lediglich dem Vorrang der Verpflichtungen aus der Charta (Art. 103 SVN) Rechnung und erkennt die Subsidiarität des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 Satz 1 HS. 2 und Satz 2 SVN an. Eine Notwendigkeit für diese Regelung bestand im Hinblick darauf, daß zwei Gründungsmitglieder der Nordatlantik-Vertragsorganisation, nämlich Italien und Portugal, bei Vertragsschluß (noch) nicht Mitglieder der Vereinten Nationen waren. Weder die Präambel noch Art. 7 des NATO-Vertrages aber weisen der NATO Aufgaben zu, die sie in einem Kooperationsverhältnis zur UNO zu erfüllen hätte. Der Anerkennung der primären Verantwortlichkeit des Sicherheitsrates für die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens läßt sich nicht entnehmen, daß sich die NATO selbst unmittelbar in den Dienst der Vereinten Nationen stellt. Wie sich die NATO in ihrem strategischen Konzept von 1999 für im Einzelfall und im Konsens zu beschließende Krisenreaktionseinsätze auch ohne Mandat der Vereinten Nationen auf Art. 7 NATO-Vertrag berufen kann (Anm. 10), ist überhaupt nicht nachvollziehbar. Die Pflicht zur Selbsthilfe und gegenseitigen Unterstützung gemäß Art. 3 NATO-Vertrag ist schon nach dem Wortlaut dieser Bestimmung auf die Erhaltung und Fortentwicklung der gemeinsamen Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe, also auf den Bündnisfall des Art. 5 NATO-Vertrag, bezogen. Die Konsultationspflicht stützt ebenfalls keine Ausweitung des militärischen Auftrages der NATO auf globale Sicherheitsmaßnahmen ohne Bezug zur Verteidigungsaufgabe. Die Konsultationspflicht bezieht sich ausdrücklich auf die Bedrohung der Unversehrtheit des Gebietes, der politischen Unabhängigkeit und der Sicherheit eines der Vertragspartner, und damit, wie sich auch aus ihrer systematischen Stellung zwischen Art. 3 und 5 NATO-Vertrag ergibt, auf den potentiellen Bündnisfall. Der ursprüngliche Entwurf sah eine Konsultationspflicht bei jedem Ereignis vor, das eine Bedrohung des Friedens hervorrufen könnte. Eine so weitgehende Pflicht zur gegenseitigen Beratung bei jeglicher Gefährdung des Friedens in der Welt wurde insbesondere von amerikanischer Seite abgelehnt und daher nicht Vertragsinhalt 16. Zwar schließt die Festlegung einer geographischen Zone im Sinne des Art. 5 NATO14

Siehe dazu auch die Begründung zum Entwurf des deutschen Zustimmungsgesetzes, BT-Drucks. II/1061, S. 54. 15 Vgl. M. Frank (Anm. 13), S. 31. 16 Vgl. M. Frank (Anm. 13), S. 83, 84 f.

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Vertrag es nicht aus, daß der Rat auch solche Ereignisse erörtert, die sich außerhalb dieser Zone abspielen, aber möglicherweise Auswirkungen auf das Bündnisgebiet haben könnten, und in der Tat hat der Rat „es sich zur Gewohnheit gemacht, über wichtige Ereignisse - gleichgültig, in welchem Teil der Welt sie stattfinden - Informationen und Meinungen auszutauschen"17. Aber damit wird nicht der Bezug zu den gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen gelöst. Im übrigen taugt Art. 4 NATO-Vertrag nicht als Rechtsgrundlage für über die bloße Konsultation hinausgehendes, militärisches Handeln der NATO. Schließlich beinhaltet auch der die Organisationsgewalt des Rates begründende Art. 9 NATO-Vertrag keine weitere Aufgabenzuweisung, sondern legt fest, wie die andernorts zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen sind, der Vertrag durchzuführen ist 1 8 . Daher ist festzuhalten, daß die Vertragsbestimmungen keine ausreichende Grundlage für ein Tätigwerden der NATO im Dienste und aufgrund eines Mandats der Vereinten Nationen in oder gegen Drittstaaten bilden. Die Wahrnehmung von Hilfsfunktionen zugunsten des kollektiven Sicherheitssystems der Vereinten Nationen ist darin - auch nicht implizit - vorgesehen, geschweige denn die nun in Anspruch genommene Kompetenz zur humanitären Intervention zugunsten Drittstaatsangehöriger ohne ein solches Mandat (Kosovo). Hinsichtlich der Wahrnehmung von Hilfsdiensten für die Vereinten Nationen, bei denen die NATO gewissermaßen als ausführendes Organ fungiert, könnte man allerdings fragen, ob es dafür überhaupt einer vertraglichen Rechtsgrundlage im NATO-Vertrag bedarf. Genügt nicht die Übereinstimmung mit dem Satzungsrecht der Vereinten Nationen, aus deren Sicht es sich entweder um einen Anwendungsfall des Art. 48 Abs. 2 oder des Art. 53 Abs. 1 Satz 2 HS. 1 SVN handelt19? Wenn eine regionale Einrichtung bei der Ergreifung oder Umsetzung von Zwangsmaßnahmen ohnehin nicht aus eigenem Recht handelt, sondern ihre Befugnis von der des sie ermächtigenden Sicherheitsrates ableitet, die sich ihrerseits ausschließlich nach der Satzung der Vereinten Nationen bestimmt, so könnte daraus geschlossen werden, daß die Zulässigkeit des Tätigwerdens der ermächtigten Organisation, die lediglich von dieser ihr übertragenen Rechtsmacht Gebrauch macht, nicht notwendig eine der Ermächtigung korrespondierende „Bereitschaftserklärung" in ihrem Satzungsrecht voraussetzt 20. Tatsächlich wird die Auffassung vertreten, die NATO müsse als Forum für Maßnahmen verwendbar sein, die sich nach der Charta der Vereinten Nationen richten, ohne daß es dafür einer satzungsrechtlichen Grundlage im NATO-Vertrag bedürfe 21. Diese Argumentation vernachlässigt jedoch die 17 Vgl. NATO, Tatsachen und Dokumente, Brüssel 1971, S. 25. 18 Vgl. M. Frank (Anm. 13), S. 124. 19

Siehe dazu R. Wolfrum, Der Beitrag regionaler Abmachungen zur Friedenssicherung: Möglichkeiten und Grenzen, ZaöRV 53 (1993), S. 576 - 602 . 20 So Hummer/Schweitzer, in: B. Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen, Kommentar, Art. 52 Rdnr. 62.

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ratione personae wie ratione materiae bloß beschränkte Völkerrechts- und Handlungsfähigkeit internationaler Organisationen. Sachlich ist ihr Aktionsradius von vornherein auf die Wahrnehmung der (gründungs-)vertraglich zugewiesenen Aufgaben nach Maßgabe der im Vertrag ausdrücklich erteilten oder nach seinem Sinn und Zweck in ihm enthaltenen Ermächtigungen begrenzt. Handelt eine internationale Organisation jenseits des ihr vertraglich vorgebenen Wirkungskreises, so geschieht dies ultra vires und ist völkerrechtlich ungültig (null and void). Die Vereinten Nationen mögen befugt sein, auch solche Organisationen mit Aufgaben militärischer Durchsetzung von Sicherheitsratsbeschlüssen zu betrauen, die nach ihrer Satzung solches nicht vorsehen 22. Ob die Nordatlantik-Vertragsorganisation gegenüber ihren Mitgliedern zur Ergreifung von Maßnahmen in Umsetzung der Sicherheitsratsbeschlüsse befugt ist, beurteilt sich nicht nach der Satzung der Vereinten Nationen, sondern nach ihrem internen Organisationsrecht. Damit die NATO ihrerseits von einer ihr erteilten Ermächtigung der Vereinten Nationen Gebrauch machen kann, bedarf es daher einer Rechtsgrundlage im NATO-Vertrag, der ihre Zuständigkeit im Innenverhältnis begründet, derzufolge sie sich „ermächtigen läßt". Daran aber fehlt es 23 . Gleiches gilt für das von der NATO für sich beanspruchte, vermeintliche Recht auf humanitäre Intervention; die Berufung auf ein angeblich in der Entstehung begriffenes, regional auf Europa begrenztes besonderes Völkergewohnheitsrecht ersetzt nicht die fehlende Ermächtigung im NATOVertrag 24. Fehlt es aber an einer Rechtsgrundlage im NATO-Vertrag, so ist noch zu erwägen, ob es sich nicht vielleicht in Wahrheit gar nicht um NATO-Operationen handelt, sondern die NATO nur als Forum für ein konzertiertes Handeln der Mitglied21

K . Ipsen, Rechtsfragen des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen der NATO und der WEU, in: Schwarz / Steinkamm (Hrsg.), Rechtliche und politische Probleme des Einsatzes der Bundeswehr „out of area", Baden-Baden 1993, S. 51 ; wohl auch BVerfGE 90, 286 : Die Berufung auf die einschlägigen Sicherheitsratresolution zeige, „daß ein vorgebenenes VN-Mandat erfüllt, nicht aber der NATO-Vertrag um neue Aufgaben erweitert werden sollte". 22 Dies dürfte maßgeblich von der Auslegung des Begriffs „appropriate" in Art. 48 Abs. 2 S VN abhängen: Setzt dies bloß tatsächliche oder auch rechtliche Eignung der ermächtigten Organisation voraus? 23 Siehe R. Wolfrum, ZaöRV 53 (1993), S. 576 ; a.A. G. Nolle, Die „neuen Aufgaben" von NATO und WEU: Völker- und verfassungsrechtliche Fragen, ZaöRV 54 (1994) S. 95 - 123 unter Berufung auf die „implied-powers"-Lehre: „Die Gründungsverträge von NATO und WEU ermöglichen es den Organisationen also, alle für die Ausübung der Sicherheitsfunktion erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, die völkerrechtsgemäß sind" (Hervorh. vom Verf.). 24

Im übrigen ist die Möglichkeit der Entstehung eines solchen regionalen Völkergewohnheitsrechts auf diesem Felde angesichts des Vorrangs der Charta (Art. 103 S VN) und der danach bestehenden primären Verantwortlichkeit des Sicherheitsrates für die Wahrung des Weltfriedens (Art. 24 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2, Art. 39 ff. S VN) gegen den erklärten Willen zweier ständiger Sicherheitsratsmitglieder (Rußland und China) mehr als zweifelhaft. Siehe dazu auch A. Pradetto, NATO-Intervention im Kosovo? Kein Eingreifen ohne UN-Mandat, in: Internationale Politik 9/1998, S. 41 - 46.

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Staaten extra pactum dient 25 . Die zugrundeliegenden Beschlüsse wären dann genau betrachtet nicht vom Nordatlantikrat als NATO-Organ, sondern von den - als Regierungskonferenz zusammengetretenen - „im Rat vereinigten Vertretern der Mitgliedstaaten" gefaßt worden, eine aus dem europäischen Gemeinschaftsrecht bekannte Konstellation26. Schon eine Koordinationstätigkeit der NATO aber wäre ein Handeln der Organisation, die im NATO-Vertrag ihre - nicht vorhandene Rechtsgrundlage finden müßte. Indessen hat die NATO hier nicht nur als Konsultations- und Koordinierungsforum fungiert, sondern die beschlossenen militärischen Maßnahmen selbst mit den ihr zugewiesenen Streitkräften sowie unter Inanspruchnahme ihrer Befehls- und Kommandostrukturen durchgeführt. Bedienen sich die Mitgliedstaaten aber der Organisationsstruktur, des Instrumentariums und der Ressourcen der NATO, so handelt es sich um eine der NATO selbst zuzurechnende, an den NATO-Vertrag gebundene Aktion. Daran ändert die Freiwilligkeit der Teilnahme an solchen neuartigen militärischen Aktionen nichts. Auch sonst entfalten Beschlüsse des Nordatlantikrates grundsätzlich nur empfehlende Wirkung und wird der NATO-Vertrag gemäß seinem Art. 11 Satz 1 von den Mitgliedstaaten „in Übereinstimmung mit ihren verfassungsgemäßen Verfahren" durchgeführt. Selbst über das Vorliegen des casus foederis i. S. d. Art. 5 Abs. 1 NATO-Vertrag und die gegebenenfalls daraufhin in Erfüllung ihrer Bündnispflicht zu ergreifenden Maßnahmen entscheiden die Mitgliedstaaten nach eigenem - allerdings pflichtgemäßem - Ermessen27. Es bleibt daher bei dem Ergebnis, daß sich die NATO mit den wahrgenommenen neuen militärischen Aufgaben außerhalb ihres satzungsgemäßen Zwecks und der durch den Gründungsvertrag erteilten Handlungsermächtigungen bewegt, ultra vires handelt, indem sie die ihr unterstellten Streitkräfte für diese neuen, in ihrem Satzungsrecht nicht vorgesehenen Verwendungszwecke einsetzt. Gleichwohl ist diese Fortentwicklung insofern völkerrechtlich unproblematisch, als sie nicht die Souveränität der Mitgliedstaaten verletzt, die der an sich vertragsfremden Nutzung der Organisation zur Erfüllung der erweiterten Aufgaben durch ihre völkerrechtlich zuständigen Außenvertretungsorgane zugestimmt haben und denen darüber hinaus die Teilnahme an entsprechenden Operationen freigestellt ist. Die Vertragsstaaten besitzen nicht nur - zur gesamten Hand - die volle Interpretationsherrschaft über den Gründungsvertrag, die sie durch nachträgliche Auslegungsvereinbarungen oder sonstige Formen einer „subsequent practice" ausüben können (Art. 31 Abs. 3 lit. a, b Wiener Übereinkommen über das Recht der Ver25 So wohl K. Ipsen (Anm. 21). 26 Siehe dazu nur Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., München 1991, § 5 Rdnr. 249, S. 105; BVerfGE 68, 1 . Indessen müßte ein so zustande gekommener Beschluß über die Verwendung der Nordatlantik-Vertragsorganisation außerhalb ihres satzungsgemäßen Zwecks als völkerrechtlicher Vertrag qualifiziert werden, der nach deutschem Verfassungsrecht innerstaatlich der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. GG bedürfte. 27 BVerfGE 68, 1 .

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träge); sie sind auch befugt, von ihnen abgeschlossene völkerrechtliche Verträge jederzeit formlos zu ändern. Das gilt selbst dann, wenn der Gründungsvertrag selbst ein förmliches Vertragsänderungsverfahren vorsieht; denn solche Formvorschriften können wiederum formlos abbedungen werden. So hat denn auch das BVerfG in der Pershing-Entscheidung ausgeführt, es sei keineswegs ausgeschlossen, daß Organ- oder sonstige Kollektivbeschlüsse internationaler Vertragsgemeinschaften zugleich inhaltsgleiche Verträge der Mitgliedstaaten darstellen, wenn sie mit entsprechendem Willen vorgenommen werden 28. Auch in solchen formlosen Vertragsänderungen äußert sich die souveräne Verfügungsgewalt der Vertragsstaaten über den von ihnen geschlossenen Gründungsvertrag. Selbst wenn der Vertragsrahmen unbewußt, jedenfalls ohne Vertragsänderungswillen überschrittten wird und damit ein ultra-vires-Handeln vorliegt, gilt für die beteiligten Mitgliedstaaten der Satz „volenti non fit iniuria": Solange alle Vertragsstaaten der Nutzung der von ihnen geschaffenen Organisation für neue Verwendungszwecke - mit oder ohne ihre Beteiligung - zustimmen, bleibt ihre Souveränität gewahrt und ist der Vorgang aus ihrer Sicht völkerrechtlich nicht zu beanstanden.

IV. Der Zustimmungsvorbehalt nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG in Tatbestand und Rechtsfolge Das eigentliche Problem liegt vielmehr auf der staatsrechtlichen Ebene: Ist die Anwendung und Vollziehung des Vertrages in der durch die Organbeschlüsse erweiterten Form noch von der mit dem Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG zum ursprünglichen Gründungsvertrag erteilten innerstaatlichen Ermächtigung gedeckt? Das wird man kaum annehmen können. Zwar wird mit dem Gesetz einem regelmäßig ebenso auslegungsfähigen wie auslegungsbedürftigen Vertrag zugestimmt, wobei die Auslegungskompetenz bei der Bundesregierung als der Trägerin der auswärtigen Gewalt liegt. Die Zustimmung zum Vertragstext erfaßt daher von vornherein auch die darin enthaltenen Interpretationsspielräume: „Der Gesetzgeber, der einem völkerrechtlichen Vertrag zustimmt, tut das in Kenntnis d[ies]er Bedeutung von Präambeln und Zielvorgaben. Eine - interpretative - Fortbildung des Vertragsrechts durch sogenannte authentische Interpretation und eine sich auf dieser Grundlage entfaltende oder jene Rechtsfortbildung allererst bewirkende Vertragspraxis stützt sich mithin auf den bestehenden Vertrag und ist deshalb vom Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG gedeckt" 29 . Insofern setzt das Zustimmungsgesetz lediglich einen relativ weiten, ausfüllungsfähigen Ermächtigungsrahmen. Ebenso wie es Grenzen der Auslegung gibt, findet aber auch der mit dem Zustimmungsgesetz erteilte Rechtsanwendungsbefehl seine Schranken. Das Zu28 BVerfGE 68, 1 . 29 BVerfGE 90, 286 ; siehe auch schon E 77, 170 .

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stimmungsgesetz ist keine Blankettermächtigung zu einem beliebigen Vertragsinhalt. Die Grenze zwischen authentischer Auslegung und Vertragsänderung darf nicht zugunsten erster eingeebnet werden 30. Vielmehr gilt auch hier das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, das nicht durch die Annahme einer Generalermächtigung überspielt werden darf, soll das Mitwirkungsrecht des Parlaments nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG nicht sinnentleert werden. Was aber folgt verfassungsrechtlich aus der Feststellung, daß der einmal erteilte innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl die „vertragsübersteigende" Rechtsfortbildung nicht mehr erfaßt? Was soll insbesondere dann gelten, wenn zwischen der Exekutive und der Legislative ein Dissens in der Frage besteht, ob es sich um einen Fall authentischer Interpretation des Vertrages durch nachfolgende Praxis der Mitgliedstaaten oder aber - der Sache nach - um eine inhaltliche Änderung oder Ergänzung des Vertrags handelt? Bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, helfen allgemeine Überlegungen zu der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt und ein daraus möglicherweise herzuleitendes Regel-/Ausnahmeverhältnis nicht weiter. Gewiß ist es richtig, daß grundsätzlich „die Außenpolitik eine Funktion der Regierung ist" 3 1 Aber ebenso gewiß räumt Art. 59 Abs. 2 GG - wie auch eine Reihe weiterer Vorschriften des Grundgesetzes - dem Bundestag in bestimmtem Umfang Mitwirkungsbefugnisse an der Willensbildung für die Vornahme von Akten im Bereich der auswärtigen Beziehungen ein. Ob diese Ein- und Mitwirkungsbefugnisse des Parlaments im Bereich der auswärtigen Gewalt insgesamt betrachtet es schon rechtfertigen, diese als „kombinierte Gewalt" anzusprechen, ist verfassungsrechtlich unerheblich; denn aus dieser zusammenfassenden Begriffsbildung lassen sich, will man keine einer Selbsttäuschung gleichkommende Begriffsjurisprudenz betreiben, keine weiteren Rechtsfolgen deduzieren, die sich nicht schon aus den einzelnen, den Bereich der auswärtigen Gewalt normierenden Verfassungsbestimmungen selbst unmittelbar ergeben. Umgekehrt gilt nichts anderes: Auch wenn man die parlamentarischen Mitentscheidungsrechte - ungeachtet einer verfassungsgeschichtlich zu konstatierenden „Tendenz zur verstärkten Parlamentarisierung der Willensbildung in diesem Bereich" - noch immer als Ausnahmen vom Grundsatz der ausschließlichen Kompetenz der Bundesregierung als der Trägerin der auswärtigen Gewalt versteht 32 und Art. 59 Abs. 2 GG dementsprechend als Ausnahmetatbestand deutet, verleiht diese Bestimmung, soweit sie reicht, dem Parlament doch unstreitig eine eigene politische Mitwirkungsbefugnis. Es führt daher kein Weg daran vorbei, den genauen Umfang dieses Zustimmungsrechts und die Rechtsfolgen seiner Verletzung durch Auslegung zu bestimmen. Dabei erweist sich die vermeintlich allgemeingültige Interpretationsmaxime, daß Ausnahmen eng auszulegen seien, als wenig hilfreich; denn die entscheidende Frage lautet ja 30 BVerfGE 90, 286 . 31 BVerfGE 90, 286 . 32 Vgl. dazu BVerfGE 68, 1 ; 90, 286

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gerade, wie begrenzt das Mitwirkungsrecht des Parlaments ist. Darauf gibt diese Maxime keine Antwort, und wenn man sie ihr doch entnehmen zu können glaubt, erweist sich ihre Anwendung als „self-fulfilling prophecy". Das Beteiligungsrecht der gesetzgebenden Körperschaften ist, wie das BVerfG zutreffend festgestellt hat, sowohl gegenständlich als auch verfahrensmäßig beschränkt. Zustimmungs- bzw. mitwirkungsbedürftig sind nur völkerrechtliche Verträge und auch von diesen nur solche, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen. Der Zweck dieses Zustimmungserfordernisses wird gewöhnlich darin gesehen, sicherzustellen, daß die legislatorische Entschließungsfreiheit des nationalen Parlaments nicht durch von der Exekutive ohne ihre Mitwirkung geschlossene, internationale Verträge aufgrund deren präjudizieller Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtslage beeinträchtigt wird. Diese ratio legis trifft indes nur auf die zweite Kategorie völkerrechtlicher Verträge zu, nämlich auf Verträge, die zu ihrer innerstaatlichen Durchführung den Erlaß eines Bundesgesetzes erfordern, weil sie nicht schon aufgrund bereits bestehender Regierungs- und Verwaltungszuständigkeiten vollziehbar sind 33 . Hier dient das Erfordernis der Zustimmung in Gesetzesform der Verteidigung des sich aus anderen Verfassungsbestimmungen ergebenden Gesetzgebungsrechts, das anderenfalls in der Gefahr stünde, durch rechtsverbindliche außenpolitische Entscheidungen der Exekutive unterlaufen zu werden. Es findet sich, weil letztlich bloß „Konsequenz des ohnehin bestehenden Mitwirkungsrechts in Fragen, die Freiheit und Eigentum der Bürger ... berührten 34, auch schon in den nach 1815 erlassenen, ersten süddeutschen Verfassungen moderner Prägung, obwohl diese das Wirkungsfeld der verfassungsrechtlich eingerichteten Volksvertretungen auf das Feld der Innenpolitik beschränkten. Dementsprechend erklärt denn auch das BVerfG es zu einem „Satz gemeindeutschen Verfassungsrechts, daß die Regierung zum Abschluß von Verträgen, die sich auf Gegenstände der Gesetzgebung beziehen, der Zustimmung des Parlaments bedarf' 35 . Dagegen begründet der Zustimmungsvorbehalt für „politische Verträge", das sind Verträge, „die wesentlich und unmittelbar den Bestand des Staates oder dessen Stellung und Gewicht innerhalb der Staatengemeinschaft oder die Ordnung der Staatengemeinschaft betreffen" 36, eine genuin außenpolitische (Mitentscheidungs-)Kompetenz des Parlaments. Zustimmungspflichtig sind auch Änderungen völkerrechtlicher Verträge, wenn sie entweder (erneut) eine Gesetzesänderung notwendig machen, also Gegenstände der Bundesgesetzgebung berühren oder aber „politischen" Charakter im oben bezeichneten Sinne haben. Nicht jede Änderung eines die politischen Beziehungen 33 34 35 36

BVerfGE 1, 372 . D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1766 -1866, Frankfurt a. M. 1988, S. 121. BVerfGE 4, 250 . BVerfGE 1, 372 ; 90, 286 .

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des Bundes regelnden und deshalb ursprünglich nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. GG zustimmungspflichtigen Vertrages bedarf erneuter Zustimmung, sondern nur eine solche gravierende Vertragsänderung, die ihrerseits, weil den Status der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft verändernd, als „politisch" im Sinne dieser Bestimmung zu qualifizieren ist. Diese Einschränkung entspricht der Rechtsprechung des BVerfG, derzufolge ein Gesetz, das ein mit Zustimmung des Bundesrates ergangenes Gesetz ändert, nicht allein aus diesem Grunde zustimmungsbedürftig ist, sondern nur wenn und soweit es selbst neue Vorschriften enthält, die ihrerseits die Zustimmungsbedürftigkeit auslösen37. Welchen Inhalt aber hat das Mitwirkungsrecht des Parlaments bei solchen völkerrechtlichen Verträgen nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG? Es ist, wie das BVerfG in der Pershing-Entscheidung erklärt hat, inhaltlich auf eine bloße Zustimmung in der Form eines Bundesgesetzes beschränkt 38. Damit ist gemeint, daß die gesetzgebenden Körperschaften auch in dem, auf Verträge begrenzten, sachlichen Anwendungsbereich der Vorschrift keine aktive, gestaltende Einflußnahme auf die Außenpolitik ausüben kann, sondern lediglich die „Vertragspolitik" der Bundesregierung durch Vörenthaltung ihrer notwendigen Zustimmung durchkreuzen können. Dagegen kann der Bundestag kraft Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG weder verhindern oder erzwingen, daß die Bundesregierung Vertrags Verhandlungen unterläßt, auf-

nimmt oder abbricht, noch erzwingen, daß ein völkerrechtlicher Vertrag, dem er gesetzlich zugestimmt hat, von der Bundesregierung für die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verbindlich gemacht oder nach seinem Abschluß aufrechterhalten oder umgekehrt beendet wird 3 9 . Das Parlament besitzt hier also nur die „negative" Kompetenz, einem in den sachlichen Anwendungsbereich des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG fallenden, völkerrechtlichen Vertrag, seine Zustimmung zu verweigern; seine Mitentscheidungsgewalt beschränkt sich auf die Erteilung oder Versagung der in der Zustimmung liegenden Ermächtigung der Exekutive. Dagegen besitzt nach überwiegender Auffassung 40 abweichend von Art. 76 GG im Anwendungsbereich des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG nur die Bundesregierung als Trägerin der auswärtigen Gewalt das Gesetzesinitiativrecht, wodurch sie allein gegenüber dem Gesetzgeber den Vertragsinhalt festlegt. Dieser verfassungsrechtlichen Rechtslage entspricht es, wenn die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in § 82 Abs. 2 bestimmt, daß Änderungsanträge zu Zustimmungsgesetzen nach Art. 59 Abs. 2 GG nicht gestellt werden können 41 . 37 BVerfGE 37, 363 . 38 BVerfGE 68, 1 . 39 BVerfGE 68, 1 ; 90, 286 . 40

Nachweise in BVerfGE 68, 1 ; ebd., S. 78 noch offengelassen; in diesem Sinne aber wohl BVerfGE 90, 286 . In der Praxis der Verfassungsorgane wird jedoch mitunter anders verfahren: So ist der Entwurf eines Zustimmungsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 GG zu dem als völkerrechtlicher Vertrag behandelten Einigungsvertrag von den Regierungsfraktionen eingebracht worden. 41 Siehe dazu BVerfGE 82, 316 .

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V. Die Funktion des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG als „actio negatoria": Die „negative" Rechtsfolge einer Mißachtung des Zustimmungsvorbehalts Verleiht demnach der Zustimmungsvorbehalt des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG den gesetzgebenden Körperschaften kein eigenes Initiativrecht und keine inhaltliche Gestaltungsbefugnis, so liegt seine eigentliche Bedeutung in seiner negatorischen Funktion, in der dem Parlament eingeräumten Möglichkeit, den zum innerstaatlichen Vollzug völkerrechtlicher Verträge notwendigen Rechtsanwendungsbefehl zu verweigern. Wie aber läßt sich dieses Zustimmungsrecht verteidigen, wie das in Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG konstituierte parlamentarische Vetopotential zur Geltung bringen, wenn es von der Exekutive unterlaufen zu werden droht? Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Mitwirkungsrecht verletzt wird, wenn die Exekutive in Wahrnehmung ihrer grundsätzlichen Kompetenz zur Pflege auswärtiger Beziehungen durch Vertrag neue oder erweiterte völkerrechtliche Bindungen entstehen läßt, die die Voraussetzungen des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erfüllen, und mit dem Vollzug dieses Vertrages beginnt, ohne zuvor die hierfür erforderliche Ermächtigung des Gesetzgebers in Gestalt des Zustimmungsgesetzes einzuholen42. Es ist allerdings ungenau, wenn das BVerfG die Verletzung des Rechts des Gesetzgebers durch die Bundesregierung in einem solchen Fall in einem Unterlassen, nämlich der Nichtvorlage eines Zustimmungsgesetzes erblickt; denn die Einbringung eines Zustimmungsgesetzes kann der Gesetzgeber nicht verlangen, so daß dieses Unterlassen nicht pflichtwidrig ist, wohl aber die Anwendung und der Vollzug dieses Vertrages ohne vorherige Zustimmung des Gesetzgebers. Mit diesem positiven Tun verletzt die Exekutive eine sich im Umkehrschluß unmittelbar aus Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG als „negative" Rechtsfolge ergebende Unterlassungspflicht: Solange keine (ausreichende) Ermächtigung durch den Gesetzgeber vorliegt, darf die Exekutive keine Maßnahmen ergreifen, mit denen ein zustimmungsbedürftiger völkerrechtlicher Vertrag durchgefühlt und umgesetzt wird. Es ist die Verletzung dieser Unterlassungspflicht, des Verbots der Anwendung des (so) nicht konsentierten Vertrages, die das Parlament oder ein Teil desselben in Prozeßstandschaft für dieses im Organstreitverfahren geltend machen kann. Art. 59 Abs. 2 GG überträgt dem Bundestag eine Gesetzgebungsbefugnis im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten und begründet damit ein im kontradiktorischen Organstreitverfahren gegenüber der Exekutive wehrfähiges Recht des Bundestages i. S. d. § 64 Abs. 1 BVerfGG 43 . Die Antragsbefugnis ist gegeben, wenn nach dem Vortrag des antragstellenden Bundestages oder eines Teils desselben es als nicht von vornherein ausgeschlossen erscheint, daß die Bundesregierung für eine von ihr ergriffene Vollzugsmaßnahme in Durchführung eines abgeschlossenen völkerrechtlichen Vertrages einer gesetzlichen Ermächtigung bedurft hätte. Allerdings dürfte 42 Vgl. BVerfGE 90, 286 . 43 BVerfGE 68,1 ; 90, 286 .

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es eher selten einmal zum Organstreit über die Frage kommen, ob ein - unstreitig vorliegender - völkerrechtlicher Vertrag die politischen Beziehungen des Bundes regelt oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht. Wahrscheinlicher ist der Fall, daß zwischen Bundesregierung und Bundestags(-minderheit) darüber gestritten wird, ob eine von der Bundesregierung mitgetragene, nachfolgende Praxis der Vertragsanwendung sich als authentische Auslegung des Vertragsinhalts darstellt, oder aber - entgegen der erklärten Auffassung der Bundesregierung wie auch der Exekutivorgane der anderen Vertragsstaaten - über den Vertragsinhalt hinausgreift und deshalb von der mit dem Zustimmungsgesetz gegebenen Ermächtigung nicht mehr gedeckt ist, vielmehr einer neuen Grundlage gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG bedarf. Eine solche Konstellation lag der Bundeswehreinsätze-Entscheidung zugrunde: Während die Bundesregierung wie alle Regierungen der NATO-Mitgliedstaaten davon ausging, daß mit dem neuen Strategischen Konzept und den in ihm enthaltenen militärischen Optionen der Wirkungsbereich des Bündnisses wie auch die Rechte und Pflichten der Bündnispartner unverändert blieben, hat die Opposition im Deutschen Bundestag die entsprechenden NATORatsbeschlüsse als konkludenten Abschluß eines gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG zustimmungsbedürftigen Änderungsvertrages gedeutet. Das BVerfG hat für diese Konstellation ausschließlich erwogen, ob der Gesetzgeber aufgrund seiner Kompetenz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG den - ergänzenden - Abschluß eines weiteren völkerrechtlichen Vertrages erzwingen kann und dies - zu Recht - verneint 44. Die Parteien hätten durch ihre Erklärung, im Rahmen der bestehenden Verträge bleiben zu wollen, deutlich zum Ausdruck gebracht, daß sie keine neuen vertraglichen Rechtsbindungen entstehen lassen wollen. „Haben die Parteien somit keine auf den Abschluß eines Änderungsvertrages gerichtete Erklärung abgegeben, steht ein weiterer Vertrag als Gegenstand des ZustimmungsVerfahrens gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zur Verfügung" (ebd.). Die Bundesregierung müsse davor bewahrt werden, einseitig ein „Vertrags"-Gesetzgebungsverfahren einleiten zu müssen, dem der Gegenstand fehlt und für das deshalb ein Vertragstext fingiert werden müßte45. Dagegen haben die vier Richter, die in diesem Punkte die Entscheidung nicht mittragen, einen Verstoß gegen Art. 59 Abs. 2 GG angenommen und die Bundesregierung für verpflichtet gehalten, dem Gesetzgeber das neue strategische Konzept der NATO - hier: die Mitwirkung an Friedensmissionen der Vereinten Nationen - zur Zustimmung vorzulegen, „auch wenn es nicht in das Gewand eines völkerrechtlichen Änderungsvertrages gekleidet ist" 4 6 . Es könne weder Sache des Bundestages noch des Bundesverfassungsgerichts sein, völkerrechtlich zu überprüfen, ob schon ein Rechtsvertrag vorliege oder aber die Erklärung der NATOPartner sich noch im Vorfeld des rechtlich Verbindlichen bewegen47. Im Widerspruch zu dieser Selbstbeschränkung der Prüfungskompetenz unterstellen diese 44 45 46 47

BVerfGE 90, 286 . BVerfGE 90, 286 . BVerfGE 90, 286 . Ebd.

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vier Richter dann doch eine - wenn auch formlose - Vertragsänderung: Gegenstand der Zustimmung, so heißt es ausdrücklich, sei nicht etwa eine politische Absichtserklärung, eine Vorform oder ein Ersatzprodukt des Vertrages, sondern die Vertragsänderung mit dem in den einverständlichen Erklärungen formulierten Inhalt. Dieser sei zum Schutze des Mitwirkungsrechts des Gesetzgebers nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG zur Abstimmung zu stellen48. Damit aber wird nicht nur der Bundesregierung ein Verhalten angesonnen, daß in direktem Gegensatz zu ihrer Rechtsansicht steht, der Vertragsrahmen sei nicht überschritten, sondern auch das Begehren des antragstellenden Parlamentsteils nicht zutreffend erfaßt 49; denn dieser verfolgt ja gerade nicht die Absicht, den gerügten Kompetenzverstoß durch nachträgliche Erteilung der Zustimmung zu sanktionieren, sondern erstrebt die Feststellung des Kompetenzverstoßes gemäß § 67 BVerfGG, um dessen Wiederholung zu verhindern. Es stellt sich daher die Frage, ob es nur die Alternative zwischen einem gegenständlich notwendig fiktiven Vertragsgesetz oder einer Beschränkung auf die parlamentarischen Kontrollbefugnisse, wie sie außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG bestehen50, oder einen dritten Lösungsweg gibt. Kann das Parlament oder ein parteifähiger Teil desselben im Organstreitverfahren nicht auch geltend machen, daß eine inhaltliche Deckungslücke im Verhältnis des beanstandeten Verhaltens der Bundesregierung zu ihrer angeblichen formell-gesetzlichen Grundlage besteht und eben dadurch ihr Gesetzgebungsrecht nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt ist? Auf diese Weise könnte das Parlament auch den exekutivischen Vollzug von Organbeschlüssen internationaler Organisationen abwehren, die nach seiner Rechtsauffassung nicht mehr von der Legitimationswirkung des Zustimmungsgesetzes zum Gründungsvertrag erfaßt sind. Mangels eines auf Vertragsschluß gerichteten Willens der Partner liegt hier nämlich ein - gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG zustimmungsfähiger - Änderungsvertrag nicht vor 51 . In Betracht kommt lediglich die Rüge, daß die gefaßten Beschlüsse über die Verwendung der militärischen Strukturen der NATO für andere als Verteidigungszwecke - mit oder ohne Mandat der Vereinten Nationen - die Grenzen möglicher und zulässiger Interpretation der Aufgaben- und Befugnisbestimmungen des NATOVertrages übersteigen und damit ultra vires ergangen sind. Verfassungsrechtlich aber bedeutet dies wegen des Zustimmungsvorbehalts des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG eine unzulässige Selbstermächtigung der Exekutive. Nach der EurocontrolEntscheidung sind nämlich Handlungen von Organen internationaler Organisationen (nur) dann nicht der an ihnen mitwirkenden deutschen öffentlichen Gewalt zurechenbar, wenn die internationale Organisation „durch einen wirksamen völkerrechtlichen A k t . . . geschaffen wurde und sich bei dem in Streit stehenden Verhal48 BVerfGE 90, 286 . 49 Vgl. dazu BVerfGE 68, 1 . so Siehe dazu BVerfGE 68, 1 ; 90, 286 . 5i Vgl. dazu BVerfGE 68, 1 .

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ten nicht völlig von ihrer völkerrechtlichen Kompetenzgrundlage gelöst hat" 52. Andernfalls liegt also sehr wohl ein Akt deutscher Hoheitsgewalt vor und damit eine „Maßnahme" i. S. d. § 64 Abs. 1 BVerfGG als tauglicher Angriffsgegenstand in einem Organstreitverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG. Der Bundestag oder Teile desselben müssen daher als befugt angesehen werden, im Rahmen eines Organstreitverfahrens gemäß § 64 Abs. 1 BVerfGG geltend zu machen, daß die Bundesregierung durch ihre Mitwirkung an einem Organbeschluß (evident) außerhalb der durch den Gründungsvertrag auf die internationale Organisation übertragenen Kompetenzen - ultra-vires-Handeln - die durch das Zustimmungsgesetz erteilten Ermächtigungen überschritten und das Mitwirkungsrecht des Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt hat. Ganz in diesem Sinne hat das BVerfG in der Pershing-Entscheidung für die auf Art. 59 Abs. 2 GG gestützte Rüge der Antragstellerin die Antragsbefugnis in Form der Prozeßstandschaft bejaht, obwohl es dieser, wie vom BVerfG festgestellt, nicht eigentlich darum ging, ein Gesetzgebungsverfahren einzuleiten, sie vielmehr festgestellt wissen wollte, daß die Zustimmung der Bundesregierung zur Aufstellung der Raketen, weil sie ohne hinreichende Ermächtigung erteilt worden sei, Rechte des Bundestages i. S. d. § 64 BVerfGG verletzt habe53 Es sei nämlich nicht von vornherein auszuschließen, daß die angegriffene Zustimmungserklärung der Bundesregierung „die Grenzen vorhandener gesetzlicher Ermächtigungen in verfassungswidriger, die angesprochenen Gesetzgebungsbefugnisse des Bundestages verletzender Weise mißachtete"54. Das BVerfG wies damit die Rechtsauffassung der Bundesregierung zurück, die Antragstellerin streite mit der Behauptung, die in Rede stehende Erklärung der Bundesregierung sei durch das Zustimmungsgesetz zum Aufenthaltsvertrag nicht mehr gedeckt, nicht um Verfassungsrecht, sondern rüge lediglich ein objektiv rechtswidriges Verhalten der Bundesregierung 55. Wenn das BVerfG im Rahmen der Begründetheitsprüfung Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG gleichwohl nicht als Prüfungsmaßstab herangezogen hat, so beruht dies allein darauf, daß die angegriffene Zustimmungserklärung nicht Bestandteil eines völkerrechtlichen Vertragsabschlusses war und daher als einseitiger Akt aus dem engen sachlichen Anwendungsbereich der Vorschrift herausfiel 56. Das BVerfG hat indes am Maßstab des Art. 24 Abs. 1 GG eingehend geprüft, ob die im Rahmen des Bündnissystems erteilte Zustimmung als Übertragung von Hoheitsrechten an eine zwischenstaatliche Einrichtung durch die mit den Zustimmungsgesetzen zum Nordatlantikvertrag und zum Aufenthaltsvertrag erteilten gesetzlichen Ermächtigungen gedeckt ist 57 . 52 53 54 55 56 57 6*

BVerfGE 58, BVerfGE 68, Ebd., S. 69. BVerfGE 68, BVerfGE 68, BVerfGE 68,

1 ; Hervorh. vom Verf.. 1 . 1 . 1 . 1

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Der Zweite Senat des BVerfG hat in der Bundeswehreinsätze-Entscheidung an diese eigene Rechtsprechung nicht angeknüpft, vielmehr die Ansicht vertreten, ein Handlungsverbot bestehe nur, soweit das Grundgesetz eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung fordert 58. Das aber ist nicht nur, wie der Senat meint, im Anwendungsbereich der Grundrechte, bei der Einräumung von Hoheitsbefugnissen oder im Haushaltsrecht der Fall, sondern eben auch im Anwendungsbereich des als Gesetzesvorbehalt ausgestalteten Zustimmungsvorbehalts des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG: „Die Zustimmung oder Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes ist ein zwingender und nicht verzichtbarer Sondervorbehalt der Legislative" 59 . Auffällig ist die unterschiedliche Handhabung der Gesetzesvorbehalte nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG n. F., Art. 24 Abs. 1 GG einerseits und nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG andererseits in der Rechtsprechung des BVerfG. Hinsichtlich der Fortentwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts hat das BVerfG im Maastricht-Urteil auf der strikten Einhaltung des Ermächtigungsrahmens des - hinreichend bestimmten - Zustimmungsgesetzes bestanden und angenommen, daß Rechtsakte der Gemeinschaft, die diesen Rahmen verlassen, im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland von Verfassungs wegen nicht angewendet werden dürfen und insofern keine Verbindlichkeit entfalten: Rechtsakte in Anwendung oder Fortbildung des Unions-Vertrages, „die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrundeliegt, nicht mehr gedeckt wäre[n]", seien im deutschen Hoheitsbereich unverbindlich. „Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen" 60. Die Begründung liegt im Demokratieprinzip, das eine gesetzliche Generalermächtigung der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union zur Rechtsetzung nicht erlaubt, sondern nur die Erteilung begrenzter Einzelermächtigungen zuläßt, bei denen Umfang und Ausmaß der Verlagerung der Ausübung von Hoheitsrechten feststehen und eine Inanspruchnahme nicht benannter Aufgaben und Befugnisse ausgeschlossen ist 6 1 . Die Entscheidung ist in einem Verfassungsbeschwerde-Verfahren ergangen und auf das - rechtsfortbildend als subjektives, materielles Recht auf Demokratie umgedeutete - grundrechtsgleiche Recht des Art. 38 Abs. 1 GG gestützt worden. Es unterliegt indes keinem Zweifel, daß die Mitwirkung der Bundesregierung an einer solchen Kompetenzüberschreitung durch die Europäischen Gemeinschaften oder die Europäische Union oder deren Vollzug durch die Exekutive auch in einem Organstreitverfahren vom Bundestag oder einem Teil desselben in Prozeßstand58 BVerfGE 90, 286 . 59 BVerfGE 1, 372 . 60 BVerfGE 89, 155 unter Berufung auf E 58, 1 ; 75, 223 . 61 BVerfGE 89, 155 .

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schaft zulässigerweise als Verletzung seiner Gesetzgebungsbefugnis nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG bzw. des Art. 24 Abs. 1 GG gerügt werden könnte, wie dies bezogen auf die NATO in der Pershing-Entscheidung ja auch bereits geschehen ist 6 2 . Die für Art. 24 Abs. 1 GG geltende Grenzziehung soll nach der Bundeswehreinsätze-Entscheidung aber auf Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG nicht übertragbar sein. Man könnte auf den ersten Blick geneigt sein, die unterschiedliche verfassungsgerichtliche Strenge der Handhabung der sich aus Art. 24 Abs. 1 und Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ergebenden Gesetzesvorbehalte auf den Unterschied zwischen supranationalen und „bloß" internationalen Organisationen zurückzuführen, der v.a. darin zu erblicken ist, daß supranationalen Organisationen vertraglich die Befugnis eingeräumt ist, Hoheitsbefugnisse mit unmittelbarer Wirkung im innerstaatlichen Bereich auszuüben63. Indessen besitzt die Europäische Union, die durch den Vertrag von Maastricht gegründet worden ist und die hinsichtlich der deutschen Mitwirkung an ihrer Gründung Gegenstand des Maastricht-Urteils war, gerade keine supranationale Struktur in diesem Sinne. Sie verfügt nicht über Rechtsetzungsbefugnisse mit unmittelbarer Durchgriffswirkung auf die Staatsabgehörigen der Mitgliedstaaten. Die supranationalen Handlungsformen des Gemeinschaftsrechts stehen der Union bei der Durchführung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und bei der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres nicht zur Verfügung (vgl. Art. J. 11 Abs. 1 und Art. K. 8 Abs. 1 EUV, nach denen Art. 189 EGV nicht auf Bestimmungen in den Titeln V und V I des EUV Anwendung findet). Auch die NATO ist ungeachtet der in ihrem Rahmen hergestellten militärischen Integration der Bündnispartner nicht supranational organisiert 64. Behält jedoch Art. 24 Abs. 1 GG es dem Gesetzgeber vor, selbst zu entscheiden, ob und in welchem Umfang Hoheitsrechte auf eine zwischenstaatliche Einrichtung übertragen werden, um eine selbstherrliche Entäußerung deutscher Staatsgewalt durch die Exekutive zu verhindern, und sind eben deshalb wesentliche Änderungen des im Gründungsvertrag angelegten Integrationsprogramms und seiner Vollzüge nicht mehr von dem ursprünglichen Zustimmungsgesetz nach Art. 24 Abs. 1 GG gedeckt65, dann gilt diese ratio legis mit ihrer Rechtsfolge - mutatis mutandis - auch für Art. 59 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. GG. Die Eingehung insbesondere langfristiger oder gar grundsätzlich unauflöslicher, völkervertragsrechtlicher Bindungen, mit denen der Status der Bundesrepublik Deutschland in der Staaten- und Völkerrechtsgemeinschaft festgelegt wird, soll nicht ohne vorherige Zustimmung der Legislative erfolgen 66, und deshalb sind erhebliche Statusveränderungen von der einmal erteilten Zustimmung nicht legitimiert. Die Anwendung eines weniger strengen Maßstabs an Zustimmungsgesetze nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG läßt sich insofern nicht rechtfertigen 67. 62 BVerfGE 68, 1 . 63 Vgl. BVerfGE 90, 286 , anders aber BVerfGE 68, 1 . 64 Vgl. BVerfGE 68, 1 . 65 BVerfGE 68, 1 . 66 Vgl. BVerfGE 68, 1 .

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Legt man den soeben zu Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG entwickelten Prüfungsmaßstab an das neue Strategische Konzept der NATO und der in ihm enthaltenen und auf seiner Grundlage bereits realisierten, neuen Verwendungsmöglichkeiten der unter NATO-Befehl stehenden Streitkräfte an, so kann das Ergebnis nicht zweifelhaft sein: Die mit der Londoner Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrates von 1990 eingeleitete und mit dem auf dem Washingtoner Gipfel verabschiedeten, neuen Strategischen Konzept des Bündnisses von 1999 abgeschlossene, umfassende Neugestaltung des Bündnisses und die damit verbundene Erweiterung der militärischen Funktionen der NATO überschreitet die Zweckbindung der Organisation nach dem NATO-Vertrag eindeutig. Es handelt sich offensichtlich um eine Erweiterung des Aufgabenspektrums der NATO gegenüber den ihr nach dem Gründungsvertrag zugewiesenen Aufgaben, um eine Funktionserweiterung des Bündnisses, die neue Verwendungszwecke für die im Bündnis vereinten Streitkräfte eröffnet 68, die nicht mehr durch das ursprüngliche Zustimmungsgesetz zum NATO-Vertrag von 1955 gedeckt ist, sondern der Sache nach eine zustimmungsbedürftige - fundamentale - Änderung dieses, die politischen Beziehungen des Bundes regelnden Vertrages darstellt. In der Pershing-Entscheidung hatte das BVerfG eine wesentliche Änderung des Bündnisprogramms, dem der Gesetzgeber beim Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu dem Bündnisgefüge zugestimmt hat, im Hinblick auf die Aufstellung der in Rede stehenden Waffensysteme ungeachtet einer unterstellten, qualitativ neuen strategischen Dimension mit der Begründung verneint, daß die „grundsätzliche Zielrichtung des Bündnissystems als eines Verteidigungssystems, wie es in den genannten vertraglichen Rechtsgrundlagen festgelegt ist, davon unberührt [bleibt]" 69 . Gerade dieser beschränkte militärische Zweck des Bündnisses aber erfährt durch die beschriebenen neuen Aufgaben eine gravierende Änderung bzw. grundlegende Ergänzung. Da jedenfalls das deutsche Zustimmungsgesetz für die deutsche Mitgliedschaft und Mitwirkung in der NATO Handlungsmittel und Befugnisse nur in dem vertraglich festgelegten, den künftigen Völlzugsverlauf hinreichend bestimmbar normierenden Rahmen zur Verfügung stellt, wesentliche Änderungen des im Gründungsvertrag angelegten Bündnisprogramms und seiner Vollzüge vom Zustimmungsgesetz dagegen nicht mehr legitimiert sind, verletzt die Bundesregierung durch die Beteiligung an solchen ultra-vires-Aktionen Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG.

VI. Fazit Es führt kein Weg daran vorbei, daß das BVerfG in einem Organstreitverfahren gegebenenfalls nachprüfen muß, ob Organbeschlüsse internationaler Organisatio67 So auch i. E. /. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), GG, Kommentar, Bd. 2, Tübingen 1998, Art. 59 Rn. 44 m. Fn. 193. 68 Vgl. BVerfGE 90, 286 . 69 BVerfGE 68, 1 .

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nen, an denen die Bundesrepublik Deutschland beteiligt ist, noch von dem mit dem Zustimmungsgesetz zum Gründungsvertrag nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erteilten Rechtsanwendungsbefehl gedeckt sind oder nicht, so daß die Mitwirkung der Bundesregierung daran das Parlament in seinem Mitentscheidungsrecht nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt. Damit tritt nicht notwendig eine dem Grundgedanken von Verfassungsgerichtsbarkeit zuwiderlaufende Politisierung des Organstreitverfahrens ein. Das BVerfG hat in einem solchen Verfahren nicht in der zwischen dem Antragssteller und Antragsgegner bestehenden, den Hintergrund des Organstreitverfahrens bildenden, politischen Kontroverse über die richtige Außenpolitik Partei zu ergreifen oder gar selbst Außenpolitik zu betreiben. Außenpolitische Einschätzungen und Wertungen obliegen der Bundesregierung als der Trägerin der auswärtigen Gewalt und sind von ihr politisch zu verantworten. Sie sind vom BVerfG grundsätzlich, d. h. bis zur Grenze offensichtlicher Willkür, nicht nachzuprüfen 70. Dessen Aufgabe besteht auch in einem eine solch hochpolitische Angelegenheit betreffenden Organstreit vielmehr nur, aber auch gerade darin, anhand der durch das Grundgesetz vorgegebenen, näher zu entfaltenden und auf den Einzelfall anzuwendenden, verfassungsrechtlichen Maßstäbe durch Feststellungsurteil darüber zu entscheiden, ob der Antragsgegner die Verfassung beachtet oder aber gegen sie verstoßen und dadurch zugleich Rechte des Antragstellers verletzt hat (§ 67 Satz 1 BVerfGG). Aus der Pflicht zur Befolgung der Entscheidungen des BVerfG ergibt sich dann bei einer stattgebenden Entscheidung trotz des bloßen Feststellungstenors mittelbar eine Pflicht der Bundesregierung des Antragsgegners, das verfassungsrechtlich im Hinblick auf den Zustimmungsvorbehalt der gesetzgebenden Körperschaften nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG beanstandete Verhalten in Zukunft zu unterlassen. Der ihm gestellten Prüfungsaufgabe darf sich das BVerfG auch nicht in falsch verstandenem „judicial self-restraint" entziehen: „Daß Entscheidungen der Verfassungsgerichtsbarkeit politische Auswirkungen haben, liegt in der Natur der Entscheidungsgegenstände und letztlich darin begründet, daß das Gemeinwesen die politische Grundentscheidung getroffen hat, die Ausübung öffentlicher Gewalt einer Rechtsordnung zu unterstellen und über deren Beachtung Gerichte entscheiden zu lassen"71. Die These der vier dissentierenden Richter in der Bundeswehreinsätze-Entscheidung, es könne nicht Sache des BVerfG sein, völkerrechtlich zu überprüfen, ob schon ein verbindlicher Vertrag vorliege oder aber man sich noch im Vorfeld des rechtlich Verbindlichen bewege72, stellt eine klassische petitio principii dar. Wenn der sachliche Anwendungsbereich des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG sich auf die Handlungsform des völkerrechtlichen Vertrages beschränkt, muß das zulässigerweise angerufene BVerfG selbstverständlich die entscheidungserhebliche (Vör-)Frage prüfen, ob ein - zustimmungsfähiger - Vertrag vorliegt oder nicht. 70 BVerfGE 68, 1 . 71 BVerfGE 68, 1 . 72 BVerfGE 90, 286 .

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Ebenso muß - nicht anders als im Anwendungsbereich der Art. 23 Abs. 1 Satz 2, 24 Abs. 1 GG - gegebenenfalls die prekäre Grenzziehung zwischen der vom Zustimmungsgesetz mit erfaßten und legitimierten Auslegung eines Vertrages und einer sich jenseits dessen vollziehenden Fortbildung desselben gezogen werden. Dabei darf und sollte das BVerfG allerdings der diesbezüglichen Einschätzung der in Wahrnehmung der grundsätzlich ihr allein zustehenden auswärtigen Gewalt handelnden Exekutive besonderes Gewicht beimessen und ihr nur dann entgegentreten, wenn sie offensichtlich unhaltbar erscheint. Insofern ist eine Beschränkung nicht der Kontrolle, wohl aber der Kontrolldichte anzunehmen. Nichts anderes ergibt sich aus der Berufung auf die zu wahrende außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung 73. Das Grundgesetz strebt sie selbstverständlich an; die Annahme des Gegenteils wäre eine abwegige Unterstellung, wollten die Schöpfer des Grundgesetzes die Staatlichkeit Deutschlands doch gerade reorganisieren und es damit - auch nach außen - wieder handlungsfähig machen. Aber das Grundgesetz will die außenpolitische Handlungsfähigkeit nicht auf Kosten, sondern nur im Rahmen der bestehenden verfassungsrechtlichen Bindungen. Sie kann daher kein Argument dafür sein, diese Bindungen zu negieren oder aber deren verfassungsgerichtliche Kontrolle zu unterminieren. Auf die außenpolitische Handlungsfähigkeit wird durch die reduzierte Kontrolldichte in ausreichendem, verfassungsrechtlich vertretbarem Ausmaß Rücksicht genommen. Das schließt nicht aus, daß die außenpolitische Handlungsfreiheit der Bundesregierung geschmälert wird, ja die Bundesrepublik Deutschland einmal außenpolitischen Schaden nimmt. Eine in einem Organstreit ergangene, verfassungsgerichtliche Feststellung, der Ermächtigungsrahmen eines Zustimmungsgesetzes zu einem völkerrechtlichen Vertrag sei überschritten und deshalb Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt, zwingt die Bundesregierung mittelbar dazu, eine Vertragsrevision zu initiieren; sie gegen den Willen der anderen Vertragspartner zu erzwingen, steht nicht in ihrer Macht. Gelingt es ihr nicht, einen Konsens über eine „klarstellende" Vertragsänderung herbeizuführen, muß sie aus verfassungsrechtlichen Gründen abseits stehen, sobald der bisherige Vertragsrahmen verlassen wird. Das mag „beteiligte Staaten und Organisationen befremden" 74, muß aber verfassungsrechtlich um der zu schützenden Integrität der Verfassung willen hingenommen werden. Im Verfassungsstaat, in dem die Staatsgewalt umfassend rechtlich gebunden ist, kann sich die Staatsräson nicht gegen das geltende Verfassungsrecht durchsetzen 75.

73 Zu diesem Argumentationstopos siehe BVerfGE 68, 1 ; 77, 170 ; 88, 173 ; 90, 286 . 74 BVerfGE 90, 286 . Speziell bezüglich der NATO ist allerdings an den - völkerrechtlich ungewöhnlichen - Verfassungsvorbehalt des Art. 11 Satz 1 NATO-Vertrag zu erinnern. 75 Siehe dazu schon H. H. Klein, Bundesverfassungsgericht und Staatsraison, Frankfurt a. M. 1968, S. 29: »Jedenfalls kann eine verfassungwidrige Wirklichkeit kein Gesichtspunkt einer Verfassungsauslegung sein, die diesen Namen noch verdient"; zu möglichen äußersten Grenzen ebd., S. 32 f.

Das Recht von Flüchtlingen und Vertriebenen auf Rückkehr in ihre Wohnstätten und zu ihrem Besitz Entwicklungen im modernen Völkerrecht Von Dieter Blumenwitz

Daß Freiheit und Eigentum aus denselben geistigen Wurzeln wachsen und Eigentum ein Menschenrecht ist, hat der Jubilar in zahlreichen Schriften überzeugend dargelegt1. Eigentum als Grundlage menschlicher Existenz und Expropriation als Mittel zur Vernichtung von Volksgruppen und Minderheiten verdeutlichen die Zusammenhänge auf internationaler Ebene2, auch wenn der gängige Verfassungsgerichtspositivismus den Problemkreis meist intertemporal- oder interlokalrechtlich ausgrenzt. Der dem Jubilar gewidmete Beitrag befaßt sich mit der Durchsetzung des Rechts von Flüchtlingen und Vertriebenen auf Rückkehr in ihre Wohnstätten und zu ihrem Besitz („right to return to their homes and property"). Drehund Angelpunkt der auch das internationale Flüchtlingsrecht revolutionierenden Entwicklung ist die Begründung der völkerrechtlichen Verantwortung fluchtverursachender Staaten. Der Beitrag untersucht deshalb zunächst die sich nach dem Zweiten Weltkrieg wandelnde Einschätzung der Rolle fluchtverursachender Staaten. Es folgt eine Analyse der flüchtlingsrelevanten Bestimmungen des Friedensabkommens von Dayton, das erstmals umfassend die völkerrechtliche Verantwortlichkeit fluchtverursachender Staaten in das internationale Flüchtlingsregime einstellt. Der Durchführung des neuen Flüchtlingsregimes und seinen Auswirkungen auf das Schutzsystem der Genfer Flüchtlingskonvention gilt die abschließende Weitung.

1 Vgl. Walter Leisner, Eigentum: Schriften zu Eigentumsgrundrecht und Wirtschaftsverfassung 1970-1996. Hrsg. von Josef Isensee (1996). 2 Expropriation als Grundlage für Ausbürgerung und Vertreibung haben nach Meinung des österreichischen Menschenrechtsexperten Felix Ermacora Genozidcharakter, vgl. Felix Ermacora, Die sudetendeutschen Fragen. Rechtsgutachten, München 1992, Ziff. 187.

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I. Die sich wandelnde Rolle desfluchtverursachenden Staates im Flüchtlingsregime der Nachkriegszeit Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit fluchtverursachender Staaten ist ein relativ neues Thema des internationalen Flüchtlingsrechts. 1. Das klassische Flüchtlingsrecht befaßt sich vornehmlich mit den Aufnahmestaaten und deren Pflichten gegenüber Flüchtlingen oder Vertriebenen. Die Verantwortlichkeit der Herkunftsstaaten blieb nach dem Zweiten Weltkrieg und in den ersten Jahren des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees = UNHCR) ausgeblendet. a) Die als „Bevölkerungstransfer" umschriebene Vertreibung von Millionen Feindstaatenangehörigen zählte 1945 zu den erklärten Kriegszielen der als The United Nations auftretenden Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Gleichzeitig wurde diese Vertreibung als Kriegsfolgemaßnahme dem Regime der Charta der Vereinten Nationen entzogen.3 Die „brutalste und chaotischste Migration der Weltgeschichte"4 erscheint in der „Amtlichen Verlautbarung über die Konferenz von Potsdam" als ein in humaner Weise durchgeführter Transfer, obgleich all die völkerrechtlichen Standards außer Acht gelassen wurden 5, die wenig später als Grundlage der internationalen Verfahren gegen die Nazi-Kriegsverbrecher dienten.6 Dem UNHCR war es ursprünglich versagt, die Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren, die den Fluchtbewegungen zugrunde lagen. Das Statut des UNHCR von 1950 bestimmt in Ziffer 2 ausdrücklich, daß die Tätigkeit des Hohen Kommissars „völlig unpolitisch" sein und sich in der Regel nur auf die Gruppen und Kategorien von Flüchtlingen erstrecken soll. Die fluchtverursachenden Umstände waren nicht Gegenstand seiner Sorge.7

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Vgl. Art. 107 UN-Charta: „Maßnahmen, welche die hierfür verantwortlichen Regierungen als Folge des Zweiten Weltkriegs in bezug auf einen Staat ergreifen oder genehmigen, der während dieses Krieges Feind eines Unterzeichnerstaats dieser Charta war, werden durch diese Charta weder außer Kraft gesetzt noch untersagt. 4 So Hans-Joachim Heintze, Menschen- und flüchtlingsrechtliche Bestimmungen im Dayton-Abkommen und das Rückkehrrecht für Bürgerkriegsflüchtlinge, in: AWR-Bulletin No. 1-2/1997, S. 44-57 (46); vgl. auch Alfred-Maurice de Zayas, The German Expellees, Victims in War and Peace (1993), S. 85 ff. 5 Vgl. Abschnitt XIII des Potsdamer Abkommens vom 2. August 1945 und Jochen A. Frowein, in: AJIL 1992, S. 157: „The »orderly transfer 4 mentioned in the Potsdam Protocol was in fact a measure disregarding all standards of the law of war and resulting in the deaths of millions of people". Zur intertemporalen Geltung des Vertreibungsverbots zu Friedens- und zu Kriegszeiten vgl. Dieter Blumenwitz, Das Recht auf die Heimat, in: D. Blumenwitz (Hrsg.), Recht auf die Heimat im zusammenwachsenden Europa. Ein Grundrecht für nationale Minderheiten und Volksgruppen, Frankfurt/M. 1995, S. 41 ff. 6 Vgl. Art. 6 b / c Statut des Internationalen Militärtribunals, die Deportation bzw. Verschleppung oder andere unmenschliche Handlungen zum Kriegsverbrechen bzw. zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklären.

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b) Der für den Sieger-Aggressor-Konflikt typische Verhaltensstil wurde im OstWest-Konflikt erneut bestätigt. Eine Zusammenarbeit mit den fluchtverursachenden Staaten erwies sich hier angesichts der unüberwindbaren politischen Spannungen zwischen den ideologisch verfeindeten Blöcken als wenig sinnvoll.8 2. Erst die Flüchtlings- und Migrationsströme in der Dritten Welt lenkten das Interesse auf die fluchtverursachenden Staaten und bezogen diese in das internationale Flüchtlingsregime ein. a) Das Problem der Südostasien-Flüchtlinge veranlaßte 1979 Australien, internationalen Gremien ein Konzept der vorläufigen Aufnahme (temporary refuge) vorzuschlagen.9 Vorläufige Aufnahme bedeutet, daß Flüchtlingen nur vorübergehender Schutz zu gewähren ist und diese in ihr Herkunftsland zurückzuführen sind, sobald sich dort die Verhältnisse gebessert haben. Der zeitlich begrenzte Flüchtlingsstatus bezieht automatisch die Herkunftsstaaten in das Verpflichtungsgeflecht des internationalen Flüchtlingsrechts mit ein. Die Herkunftsländer sind gehalten, die Fluchtursachen zu beseitigen und mit den Aufnahmestaaten mit dem Ziel zusammenzuarbeiten, die Rückkehr der Flüchtlinge in Sicherheit und Würde zu bewerkstelligen. Gleichzeitig werden die Aufgaben der Staatengemeinschaft betont. Die Beachtung des Prinzips des non-refoulements in Fällen von Massenflucht entspricht nicht nationalen Interessen, sondern ist Ausdruck der internationalen Solidarität. Es ist deshalb auch eine Obliegenheit der Staatengemeinschaft, sich für die Schaffung politischer Verhältnisse einzusetzen, die eine freiwillige Rückkehr der Flüchtlinge ermöglichen. Schließlich eröffnet das Rückkehrrecht der Vertriebenen, das individuelle „right to return", ein breites Spektrum menschenrechtlicher Fragen, die gerade das Herkunftsland ansprechen und in die Pflicht nehmen. b) Die australische Initiative beim UNHCR wurde durch einen kanadischen Vorstoß bei der UN-Menschenrechtskommission unterstützt. Die Kommission sollte gezielt den Zusammenhang von Menschenrechtsverletzungen und Massenflucht untersuchen. Dies führte zur Resolution 30 (XXXVI) vom 11. März 1980, in der die Herkunftsstaaten zur Zusammenarbeit aufgefordert wurden, ihren Beitrag 7

So noch Hochkommissar Hartling in einer Stellungnahme gegenüber dem UNO-Generalsekretär vom 23. Okt. 1981 (UN Doc. A / 36/582): „In so far as efforts to avert new flows of refugees are concerned, this office is unfortunately not able to provide any relevant informations. The mandate of UNHCR, as defined by its Statute, is non-political and purely humanitarian. It is on this basis that the Office assists in the solutions of refugee problems and it cannot concern itself with the circumstances which have brought them into existence". 8 Vgl. Gervase Coles, Peacing the Refugee-Issue on the New International Agenda, UNHCR, März 1990, S. 7; ders ., State Responsibility in relation to the Refugee Problem with Particular Reference to the State of Origin, UNHCR, Dezember 1992, S. 54 ff. 9 Zum Vorschlag Australiens s. David A. Martin, Large-Scale Migration of Asylum Seekers, in: AJIL 1982, S. 598 ff. (603 ff.) und den Bericht über das Treffen der Expert Group on Temporary Refuge in Situations of Large-Scale Influx (Executive Committee of the High Commissioner's Programme, Sub-Committee of the whole on International Protection), UN Doc. EC/SCP/16 v. 3. Juni 1981, E/SCP16 Add. 1 v. 17. Juli 1981.

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zu leisten und Fluchtursachen zu bereinigen. 10 Die Resolution wendet sich weiter an den UN-Generalsekretär, der künftig eine aktivere Rolle spielen soll; er wird beauftragt, einen Bericht über die Zusammenhänge von Menschenrechtsverletzungen und Fluchtbewegungen zu erstellen. Der geforderte Bericht übte im entscheidenden Punkt große Zurückhaltung: 11 „There are doubtless many situations in which mass exoduses are caused by denials of human rights, and the Secretary-General does not fail to point this out in his contacts and consultations with the parties concerned. However, the Secretary-General often finds that considerable caution needs to be exercised in the public disclosure of the precise substance of his contacts with the governments concerned, including those on the nexus between mass exoduses and the full enjoyment of human rights, so as to avoid prejudicing future contacts and closing the possibility of his being of assistance in the future of the victims of such situations."

c) Dieses Bekenntnis zur stillen Diplomatie der kleinen Schritte hielt die Bundesrepublik Deutschland nicht davon ab, unter dem Titel „Internationale Zusammenarbeit zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme" 12 die UN-Generalversammlung mit dem Ziel der Schaffung eines ständigen Gremiums als zentrale Instanz auf dem Gebiet des vorbeugenden Flüchtlingsschutzes einzuschalten. Die deutsche Initiative aus dem Jahre 1980 verwies in erster Linie auf die schädlichen Auswirkungen von Massenfluchtbewegungen auf die innere Ordnung und die Stabilität der Aufnahmestaaten; Prinzipien seien zu entwickeln, die genauer und klarer die Verantwortlichkeit der Herkunftsstaaten definieren. Die Bundesrepublik Deutschland erreichte weder den Prinzipienkatalog, noch die Bildung eines ständigen Gremiums. Immerhin nahm die Resolution der Generalversammlung 35/124 vom 11. Dez. 198013 - in unverbindlicher Form - wesentliche Elemente des deutschen Anliegens auf: (1) Die Generalversammlung betont ihr Recht und ihre Pflicht, das weltweite Flüchtlingsproblem nicht nur unter humanitären und sozialen Gesichtspunkten, sondern auch unter dem Aspekt der Prävention zu untersuchen.

10 " . . . prevent and eliminate conditions which may precipitate such exoduses ...", UN Doc. E/1980/13, E CN, 4/1408. 11 Vgl. Ziff. 6 des Berichts des Generalsekretärs, Question of the Violation of Human Rights and Fundamental Freedoms in any Part of the World with Particular Reference to Colonial and other Dependant Countries and Territories, Report of the Secretary-General, Commission of Human Rights, UN Doc. E / C N 4/1440 (1981). 12

International Co-operation to Avert New Flows of Refugees, Vereinte Nationen 1981, S. 25. Einzelheiten bei Peter Opitz, Füchtlingspolitik und deutsche UN-Initiative, in: Außenpolitik 1985, S. 328 ff. 13 Text: Vereinte Nationen 1982, S. 72. Die Resolution wurde mit 105 Stimmen bei 14 Enthaltungen und 16 Gegenstimmen angenommen. Die Ablehnung kam vor allem von den ehemaligen Ostblockstaaten, die eine Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten befürchteten.

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(2) Sie bekräftigt das Recht auf Rückkehr von Flüchtlingen in ihre Heimatländer. (3) Sie stellt fest, daß Massenfluchtströme nicht nur die innere Ordnung und Stabilität von Aufnahmestaaten, sondern auch die Stabilität ganzer Regionen und damit den Weltfrieden und die internationale Sicherheit gefährden können.

d) Damit blieb die Verantwortlichkeit fluchtverursachender Staaten auf der internationalen Tagesordnung. Die Resolution 36/148 vom 16. Dez. 198114 berief eine Gruppe von Regierungssachverständigen mit dem Auftrag, ihrer Arbeit schon bestehende einschlägige internationale Instrumente, Normen und Grundsätze zugrunde zu legen und den „Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten" gebührend zu berücksichtigen. Der 1986 erstellte Schlußbericht der Expertengruppe betont die Verpflichtung der Staaten, dafür Sorge zu tragen, daß von ihrem Gebiet keine Fluchtbewegungen ausgehen:15 „In view of their responsibilities under the Charter of the United Nations and consistent with their obligations under the existing international instruments in the field of human rights, States, in the exercise of their sovereignty, should do all within their means to prevent new massive flows of refugees. Accordingly, States should refrain from creating or contributing by their policies to causes and factors which generally lead to massive flows of refugees".

e) Die Thematisierung der Fluchtursachen in der UNO führte in der internationalen UNO-Konferenzdiplomatie zur Lösung regionaler Flüchtlingsprobleme durch Rückkehrprogramme 16 unter Einbezug der Herkunftsstaaten. Bedeutsamstes Beispiel bis zur Jugoslawien-Krise war die „International Conference on IndoChinese Refugees" (ICIR), eine Konferenz, an der im Juni 1989 in Genf 75 Staaten teilnahmen. Unter Einbeziehung der Herkunftsstaaten von Flüchtlingen und deren Aufnahmeländern wurde ein umfassender Aktionsplan, ein „Comprehensive Plan of Action" (CPA), erstellt. 17 Der Plan enthält in Kapitel F Bestimmungen zur Repatriierung von Vietnamesen, die nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden; diese sollten in ihr Ursprungsland zurückkehren „in accordance with international practices reflecting the responsibilities of states towards their own citizens". Zur Erreichung dieses Zieles wurden u. a. folgende Maßnahmen beschlossen: „Widely publicized assurances by the country of origin that returnees will be allowed to return in conditions of safety and dignity and will not be subject to persecution" 18 u Text: Vereinte Nationen 1982, S. 72 f. 15 Vgl. Report of the Group of Governmental Experts on International Co-operation to Avert New Flows of Refugees v. 2. Mai 1986, UN Doc. A / 41 / 324, bestätigt durch Resolution 41/70 der UN-Generalversammlung. 16

S. insbes. UNHCR, Draft Protection Guidelines on voluntary Repatriaton, Genf 1993. Text: International Journal of Refugee Law 1993, S. 617 ff.; hierzu Vivit Muntarbhorn, The Status of Refugees in Asia, Oxford 1992, S. 23 f. is Vgl. Pkt. 13 (a). 17

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Dieter B lumen witz Rückkehr an den angestammten Ort Verzicht auf jede Form diskriminierender Behandlung Unterstützung und Überwachung der Rückführung durch UNHCR. 19

Die Regelung des vietnamesischen Flüchtlingsproblems - in Verbindung mit ähnlichen Vereinbarungen über zentralamerikanische 20 und kambodschanische 21 Bürgerkriegsflüchtlinge - schuf die Grundlage für die bis heute umfassendste Regelung der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit fluchtverursachender Staaten in der Jugoslawien-Krise. 22

I I . Die Regelung der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit fluchtverursachender Staaten in der Jugoslawien-Krise Die Jugoslawien-Krise 23 stellte die Staatenwelt in den 90er Jahren vor eine besondere Herausforderung: Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die systematische Vertreibung der angestammten Bevölkerung wieder erklärtes Ziel der Operationen. 24 Sollte die in fünf Jahren unsäglicher Gewalt, die die Staatengemeinschaft nicht verhindern wollte oder konnte 2 5 , erfolgte BevölkerungsVerschiebung als neues politisches Faktum hingenommen oder das menschenrechtlich verbürgte Recht auf die Heimat eingefordert werden? Entschied man sich für die unveräußerlichen Menschen- und Gruppenrechte, ergab sich die weitere - noch schwierigere - Frage nach der Durchsetzung des Rechts. 19 Vgl. das zwischen Vietnam und dem UNHCR vereinbarte Abkommen vom 13. Dez. 1988, Text: International Journal of Refugee Law 1993, S. 625 ff. 20 Vgl. den von der internationalen Konferenz über Flüchtlinge in Zentralamerika (CIREFCA) erarbeiteten Aktionsplan („Concerted Plan of Action in favour of Central American Refugees, Returnees and Displaced Persons") vom 31. Mai 1989; Text: International Journal of Refugee Law 1989, S. 582 ff. Die bis zu Einzelheiten geregelte freiwillige Rückführung der Flüchtlinge (Ziffer 21) ist das Hauptziel der Vereinbarung. 21 Vgl. Agreement on a Comprehensive Political Settlement of the Cambodia Conflict (Text: International Journal of Refugee Law 1992, S. 183 ff.), das anläßlich der Pariser Friedenskonferenz zur Lösung des Konflikts in Kambodscha im Okt. 1991 vereinbart wurde. 22 S.a. die jüngste SR-Res. 1199 vom 23. September 1998 zum Kosovo-Konflikt, die auf der Grundlage des VII. Kapitels der UN-Charta die völkerrechtliche Verantwortlichkeit ExJugoslawiens begründet. 23 Vgl. M.-C. Calic, Der Krieg in Bosnien-Herzegowina. Ursachen, Konfliktstrukturen, internationale Lösungsversuche, Frankfurt a.M. 1995; /. Geiss, Hegemonie und Genocid: Das Serbien-Syndrom, in: EA 1992, S. 428; S. Oeter, Jugoslawien und die Staatengemeinschaft, in: Kritische Justiz 1996, S. 15 ff. 24 Hierzu M.-A. de Zayas, The Right of One's Homeland, Ethnic Cleansing and the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, in: Criminal Law Forum 1995, S. 257 ff. 25 Vgl. J. Ingram , The International Response to Humanitarian Emergencies, in: Building International Community, Canberra 1994, S. 172 ff M. Bothe, Bosnia and Herzegovina: Farewell to UN peace keepers - Farewell to UN peacekeeping?, in: International Peace keeping 1995, S. 130ff.

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1. Das am 14. Dez. 1995 in Paris unterzeichnete Friedensabkommen von Dayt o n 2 6 , stellt als Rahmenabkommen für den Frieden in Bosnien-Herzegowina in Art. V I I unmißverständlich fest, daß „the observance of human rights and the protection of refugees and displaced persons are of vital importance in achieving a lasting peace". Einzelheiten werden in einem Anhang 6 über Menschenrechte 27 und in einem Anhang 7 über Flüchtlinge und Vertriebene geregelt. 28 2. Das Agreement on Refugees and Displaced Persons (Anlage 7). a) Das i m Anhang 7 geregelte „Agreement on Refugees and Displaced Persons" stellt in Art. 1 die Rechte der Flüchtlinge und Vertriebenen an die Spitze. I m einzelnen werden garantiert: - das Recht auf freie Rückkehr - das Recht auf Wiedererlangung des Eigentums, falls dies nicht möglich ist, auf Entschädigung. 29 Die beteiligten Parteien haben sicherzustellen, daß die Vertriebenen und Flüchtlinge in Sicherheit zurückkehren können. Sie haben in diesem Zusammenhang einen Katalog vertrauensbildender Maßnahmen zu erfüllen. 3 0

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General Framework Agreement for Peace in Bosnia and Herzegovina; Text: International Legal Materials 1996, S. 198 ff. Neben Bosnien-Herzegowina, Kroatien und der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) unterschrieben den Vertrag auch Frankreich, Deutschland, Rußland, Großbritannien, die USA und die Europäische Union. Zur Rechtsnatur der vertraglichen Regelung s. Paola Gaeta, The Dayton Agreements and International Law, in: European Journal of International Law 1996, S. 147 ff. S. a. J. Sloan, The Dayton Peace Agreement, in: European Journal of International Law 1996, S. 208 ff.; A. Bloed, The OSCE and the Bosnian peace arrangement, in: Helsinki Monitor 1996, S. 73 ff. 27 Vgl. P. C. Szasz, The Protection of Human Rights through the Dayton/Paris Peace Agreement on Bosnia, in: American Journal of International Law 1996, S. 306 ff. 28 Agreement on Refugees and Displaced Persons, Text: International Legal Materials 1996, S. 136 ff. Vgl. zu dieser Regelung E. Andersen, The Role of Asylum States in Promoting Safe and Peaceful Repatriation under the Dayton Agreement, in: European Journal of International Law 1996, S. 193 ff.; H.-J. Heintze, Menschen- und flüchtlingsrechtliche Bestimmungen im Day ton-Abkommen und das Rückkehrrecht für Bürgerkriegsflüchtlinge, in: AWR No. 1 - 2 (1997), S. 44 ff.; Alberto Ackermann, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit fluchtverursachender Staaten, Baden-Baden 1997, S. 69, 276 ff. 29 Vgl. Ziffer 1: „All refugees and displaced persons have the right freely to return to their homes of origin. They shall have the right to have restored to them property of which they were deprived in the course of hostilities since 1991 and to be compensated for any property that cannot be restored to them ...". 30 Vgl. Ziffer 2, der die folgenden Maßnahmen vorsieht: „(a) the repreal of domestic legislation and administrative practices with discriminatory intent or effect; (b) the prevention and prompt suppression of any written or verbal incitement, through media or otherwise, of ethnic or religous hostility or hatred;

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Der UNHCR ist aufgerufen, in enger Zusammenarbeit mit den Aufnahmestaaten und den Parteien des Abkommens einen Rückführungsplan auszuarbeiten. Hierbei soll der Flüchtling frei wählen können, wohin er gehen möchte 31 ; ebenso soll das Prinzip der Familieneinheit geschützt werden. b) Art. 2 der Übereinkunft verpflichtet die Parteien, geeignete Bedingungen für die Rückkehr und die Wiedereingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen zu schaffen; zu diesem Zweck soll jede mögliche Unterstützung geleistet werden. Keine der Flüchtlingsgruppen darf hierbei bevorzugt oder diskriminiert werden. Rückkehrer genießen Amnestie, soweit es sich nicht um Kriegsverbrechen oder um Verbrechen, die in keinem Zusammenhang mit dem Konflikt stehen, handelt.32 c) Das Agreement on Refugees and Displaced Persons enthält eine Reihe prozeduraler Vorschriften, die seine Durchführung gewährleisten sollen: - Art. 3 sieht die internationale Überwachung der Umsetzung des Flüchtlingsrechts vor. Der UNHCR wird mit der Koordinierung betraut. Die Parteien gewähren dem UNHCR, dem IKRK und anderen namentlich erwähnten Organisationen uneingeschränkten Zugang zu allen Flüchtlingen und Vertriebenen, um deren Versorgung sicherzustellen.33 - Es wird eine unabhängige Kommission für Vertriebene und Flüchtlinge eingesetzt, deren Entscheidungen von den Parteien durchzuführen sind (Art. 8). - Zu den Aufgaben der Kommission zählt auch die Beurteilung von Eigentumsbzw. Entschädigungsansprüchen (Art. 11 ff.) 34 . Zu diesen Zwecken richtet die (c) the dissemination, through the media, of warnings against, and the prompt suppression of acts of retribution by military, paramilitary, and police services, and by other public officials or private individuals; (d) the protection of ethnic and/or minority populations wherever they are found and the provision of immediate access to these populations by international humanitarian organizations and monitors. (e) the prosecution, dismissal or transfer, as appropriate, of persons in military, paramilitary and police forces, and other public servants, responsible for serious violations of the basic rights of persons belonging to ethnic or minority groups." 31 Vgl. Ziffer 4: „The Parties shall not interfere with the returnees' choice of destination, nor shall they compel them to remain in or move to situations of serious danger or insecurity, or to areas lacking in the basic infrastructure necessary to resume a normal life. The Parties shall facilitate the flow of information necessary for refugees and displaced persons to make informed judgments about local conditions for return". 32

Vgl. Einzelheiten in Art. 3 der Vereinbarung. Dies umfaßt die „traditional protection functions and the monitoring of basic human rights and humanitarian conditions, as well as the implementation of the provisions of this chapter." 34 Die Vermögenswerten Rechte Vertriebener schützt auch die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Der Gerichtshof verurteilte die Türkei, einer vertriebenen Cypriotin rund 1,3 Millionen Mark dafür zu zahlen, daß sie nach der Flucht in den griechischen Teil der Insel keinen Zugang mehr zu ihrem Grundstück im türkisch besetzten Norden hatte, vgl. Case of Loizidou v. Turkey (Merits), Urteil vom 18. Dezember 1996 (40/ 1993/435/514) und vom 28. Juli 1998 (Art. 50 EMRK). 33

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Zentralbank von Bosnien und Herzegowina einen „Refugees and Displaced Persons Property Found" ein 35 , der von der Kommission verwaltet wird. Besondere Schwierigkeiten bereitet hierbei die Transformation von sozialistischem Eigentum, das im wesentlichen nur Nutzungsrechte vermittelte, in Privateigentum. 3. Das Dayton-Abkommen vom 14. Dez. 1995 entspricht den wesentlichen Forderungen der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit 36 fluchtverursachender Staaten. a) Das Abkommen beschreibt die einzelnen Verantwortlichkeiten: (1) Wiedergutmachung durch Ermöglichung der Rückkehr, (2) Entschädigung, (3) Abgabe von Garantien der NichtWiederholung, insbesondere Anpassung von Gesetzen und Verwaltungspraktiken sowie qualifizierter Minderheitenschutz, (4) Gewähr einer effektiven Überwachung. Es signalisiert neue Spielregeln und einen Paradigmenwechsel in der internationalen Flüchtlingspolitik, nämlich die Abkehr von der Fixierung auf die AsylLösung und den Aufnahmestaat verbunden mit der Hinwendung zu den Ursachen von Flucht und Vertreibung und zum Verursacher-Staat. b) Das Friedensabkommen von Dayton regelt nicht nur einzelne Rechte und korrespondierende Pflichten, sondern begründet ein Aktions- und Regelwerk, das in der modernen Rechtssprache als „Regime" bezeichnet wird. Es besteht ein Geflecht von Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen Akteuren, nämlich den Flüchtlingen, den Herkunfts- und Aufnahmestaaten und der internationalen Gemeinschaft mit ihren sachlich und örtlich zuständigen internationalen Organisationen. (1) Im Brennpunkt steht der Flüchtling. Konflikte wie die Balkankrise zeigen, daß Schutzobjekt nicht nur der Flüchtling i. S. d. Genfer Flüchtlingskonvention sein kann. Ausgehend von dem erweiterten Mandat des UNHCR ist Flüchtling jede Person, die aus berechtigter Furcht vor Krieg, Bürgerkrieg oder inneren Unruhen oder aus Ländern flüchtet, in welchen Menschenrechte systematisch verletzt werden. 35 Der Fonds soll durch Verkäufe und Vermietung von Eigentum sowie durch direkte Zahlungen der Parteien oder durch Beiträge von Staaten bzw. internationalen staatlichen oder nichtstaatlichen Organisationen gespeist werden. 36 Vgl. Art. 1 ILC-Entwurf zur Staatenhaftung: „Every internationally wrongful act of State entails the international responsibility of that State". Völkerrechtliche Verantwortlichkeit erfaßt alle neuen Rechtsbeziehungen, die durch das völkerrechtswidrige Handeln eines Staates zwischen den betroffenen Staaten entstehen, also (1) Verpflichtungen des völkerrechtswidrig handelnden Staates, (2) die neuen Rechte des bzw. der verletzten Staaten und (3) die Stellung von Drittstaaten bezüglich der durch die Verletzung entstandenen Situation; hierzu ausführlich - unter Berücksichtigung der Quellen der International Law Commission -Ackermann, a. a. O., S. 76ff.

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(2) Im Rahmen der Verpflichtung zur NichtZurückweisung an der Grenze bestehen Rechtsbeziehungen zwischen Flüchtling und Aufnahmestaat. Der Kern dieser Rechtsbeziehung wird als Asylrecht bezeichnet. Größe grenzüberschreitende Flüchtlingsströme erfordern die Kooperation der Aufnahmestaaten in der betroffenen Region im Sinne von Lastenverteilungsmechanismen bei der Flüchtlingsaufnahme, aber auch Prävention hinsichtlich der Fluchtverursachung. In Anbetracht der Jugoslawien-Krise äußerte sich der Europäische Rat in seiner Erklärung von Edinburgh vom 12. Dez. 1992 zu den „Grundsätzen für die externen Aspekte der Zuwanderungspolitik"; als Faktoren für die Verminderung der Zuwanderung werden benannt: - Erhaltung des Friedens und Beendigung von bewaffneten Konflikten, - uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte, - Hilfe beim Aufbau von demokratischen Gesellschaften und adäquaten sozialen Verhältnissen, - liberale Handelspolitik und Entwicklungshilfe. 1994 legte die Europäische Kommission dem Rat und dem Europäischen Parlament eine Mitteilung zur Zuwanderungs- und Asylpolitik 37 vor. An einem umfassenden Konzept für eine wirksamen Einwanderungspolitik wird gearbeitet. 38 (3) Mit ihrer grenzüberschreitenden Dimension sind Flüchtlingsprobleme eine Angelegenheit der internationalen Gemeinschaft. Im Sinne einer internationalen Solidarität sind zunächst alle Staaten aufgerufen, einander bei der Bewältigung von Flüchtlingsproblemen beizustehen. Angesprochen sind vor allem aber auch die Vereinten Nationen mit ihren Organen und Hilfsorganen: (a) Seit dem Ende des Kalten Krieges erkennt die Generalversammlung den engen Bezug zwischen Flüchtlingsbewegungen und höchst bedeutsamen politischen Fragen; die politisch neutrale Einrichtung des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge kann diesen grundlegenden Herausforderungen ebensowenig gerecht werden wie die UN-Menschenrechtskommission; auch dieser fehlen die für echte Gewährleistungen erforderlichen Durchsetzungsmechanismen. (b) Der Internationale Gerichtshof, das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, kann nur mit der von den Streitparteien - allgemein oder ad hoc erteilten Zustimmung Gerichtsbarkeit ausüben. Immerhin bietet das von der Staatenwelt weitgehend akzeptierte Abkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dez. 194839 im Hinblick auf Bosnien-Herzegowina 37 Mitteilung vom 23. Feb. 1994, COM (94) 23. 38 Vgl. die teilweise „Europäisierung" des Asylrechts im Zuge des Amsterdamer Vertrages und das unter österreichischem Vorsitz in der EU erarbeitete „Strategiepapier zur Migrationsund Asylpolitik". 39 Das Abkommen ist in Kraft getreten am 12. 1. 1951; internationale Quelle: UNTS 78, 277; vgl. zur Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs Art. IX des Abkommens.

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und die Bundesrepublik Jugoslawien die Rechtsgrundlage dafür, den gegenseitig erhobenen Vorwurf des Genozids (und damit eine der wichtigsten Ursachen der Flüchtlingsströme) juristisch aufzuarbeiten. 40 Das Ex-Jugoslawien-Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag ist als ein auf der Grundlage des VII. Kap. UNCharta eingerichtetes supranationales Gericht u. a. zuständig für die strafrechtliche Verfolgung individueller krimineller Akte, die mit der Vertreibung der angestammten Bevölkerung im Zusammenhang stehen; ihm kommt vor allem generalpräventive Bedeutung zu 41 . (c) Grenzüberschreitende Fluchtbewegungen erzeugen nicht nur zwischenstaatliche Spannungen, sondern gefährden, wie Beispiele belegen, den Frieden in einer Region. 42 Die Charta der Vereinten Nationen überträgt dem Sicherheitsrat die Aufgabe der Friedenssicherung; gestützt auf das VII. Kapitel kann dieser alle notwendigen Maßnahmen treffen, um den Frieden zu sichern oder wiederherzustellen. Er kann auch präventiv tätig werden, in bewaffneten Konflikten Sicherheitszonen43 einrichten und auf diese Weise die Flucht über die Landesgrenze hinweg eindämmen oder unterbinden. Maßnahmen nach dem VII. Kapitel kann der Sicherheitsrat nur mit Zustimmung der fünf Großmächte treffen, die nach politischer Opportunität und nicht nach den gebotenen Legalitätsgrundsätzen handeln. Das Großmachtdirektorium neigt zu Formelkompromissen, die für die Durchsetzung des neuen Füchtlingsregimes nicht förderlich sind, ja vielmehr seinen Bestand in Frage stellen. c) Anders als bei Kriegsgefangenen und Diplomaten erfolgt der Schutz von Flüchtlingen und Vertriebenen nicht im Rahmen eines „self-contained " Regimes, 40

Im Rechtsstreit sind bislang zwei Zwischenurteile ergangen: Am 11. Juli 1996 erklärte der IGH die Klage Bosnien-Herzegowinas für zulässig; die Widerklage Jugoslawiens wurde am 17. Dezember 1997 zugelassen; mit der Entscheidung zur Sache ist nicht vor Mitte 1999 zu rechnen. 41 Vgl. S. Oeter , Kriegs verbrechen in den Konflikten um das Erbe Jugoslawiens - Ein Beitrag zu den Fragen der kollektiven und individuellen Verantwortlichkeit für Verletzungen des Humanitären Völkerrechts, in: ZaöRV 1993, S. 208 ff.; D. Blumenwitz, Die Strafe im Völkerrecht, in: Zeitschrift für Politik 1997, S. 324 ff. (339 ff.). Zum geplanten Weltstrafgerichtshof siehe UN-Doc. A/Conf. 183/9 vom 17. Juli 1998. 42 Einzelheiten bei Ackermann, a. a. O., S. 225 ff. und - speziell zu den Auswirkungen der Jugoslawienkrise auf die Zuständigkeiten des Sicherheitsrates - Urteil der Appeals Chamber des Internationalen Tribunals zur Verfolgung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien vom 2. Okt. 1995 (Fall Tadic), International Legal Materials 1996, S. 42 ff. 43

In seiner Resolution 757 vom 30. Mai 1992 entwickelte der Sicherheitsrat erstmals das Konzept der Sicherheitszonen. Durch diese und weitere Resolutionen wurden - gestützt auf das VII. Kapitel UN-Charta - die Städte Srebrenica, Tuzla, Zepa, Gorazde und Bihac „unter Berücksichtigung der dringenden Sicherheits- und humanitären Bedürfnisse, die noch verschärft werden durch den ständigen Zustrom von zahlreichen Vertriebenen ..besonders geschützt und später dem Mandat von UNPROFOR unterstellt, vgl. die maßgeblichen Texte in: Vereinte Nationen 1993, S. 155 ff.; ferner Victor-Yves Ghabali, UNPROFOR in the Former Yugoslavia, in: Daniel Warner (Hrsg.), New Dimensions of Peacekeeping, Dordrecht 1995, S. 13 ff. 7*

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eines zwischenstaatlichen Subsystems, dessen Regeln ohne wenn und aber, quasi automatisch, anwendbar wären 44 . Auch das Friedensabkommen von Dayton hat in seinen menschenrechtlichen Aussagen mitunter nur programmatischen Gehalt; das Rückkehrrecht für Flüchtlinge ist ebenfalls nur ein Prinzip. Für Programme und Prinzipien gilt das Optimierungsgebot 45: Sie müssen - bezogen auf die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten - in einem hohen Maße realisiert werden. Auch wenn im Mittelpunkt des neuen Flüchtlingsregimes die völkerrechtliche Verantwortung fluchtverursachender Staaten steht, bleibt das zwischen allen Betroffenen bestehende Geflecht von Rechtsbeziehungen in einem hohen Maße krisenanfällig.

I I I . Probleme bei der Durchführung des neuen Flüchtlingsregimes 1. Das Friedensabkommen von Dayton regelt die Pflichten fluchtverursachender Staaten sehr engmaschig, z.T. kasuistisch, führt aber bei seiner Durchführung zu Kollisionen im Bereich nicht ausreichend diskutierter Grundsatzfragen. a) Nach jahrhundertelanger Fremdherrschaft beanspruchen die einzelnen südslawischen Völker ihr Selbstbestimmungsrecht, fordern Korrekturen an den Ergebnissen heteronomer Bevölkerungspolitik und folglich Territorien mit einem hohen Grad an ethnischer Homogenität. Den internationalen Vorgaben für eine multiethnische Staatlichkeit wird das Prinzip der Freiwilligkeit der Rückkehr der Vertriebenen entgegengestellt. Die gewaltsame Rückführung von Flüchtlingen wäre ein ebenso großes Verbrechen wie ethnische Säuberungen.46 Es wird behauptet, die in Ex-Jugoslawien vertriebene Bevölkerung wolle nicht in Gebiete zurückkehren, in der die eigene Nation nicht die Bevölkerungsmehrheit bildet. 47 b) Vor allem Kroatien bringt mit der Rückführung der Flüchtlinge grundsätzliche Sicherheitsfragen ins Spiel: Da Belgrad an den großserbischen Positionen 44 Vgl. z. B. Urteil des IGH im Teheraner Geiselfall (Case Concerning United States Diplomatie and Consular Staff in Teheran: Indication of provisional measures, Order of 15 December 1979, ICJ Rep. 1979; Judgement of 24 May 1980, ICJ Rep. 1980); hierzu Bruno Simma, Self Contained Regimes, in: Netherlands Yearbook of International Law, S. I l l ff. 45 Vgl. Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg 1992, S. 120 ff. Auch wenn erga omnes wirkende zwingende Normen des Volkerrechts verletzt sein sollten, wird sich im Rahmen einer Wiedergutmachungsregelung kaum mehr als eine Schadensersatzleistung im Rahmen des Optimierungsgebotes erreichen lassen; siehe auch B. Simma, Does the UN-Charter Provide an Adequate Legal Basis for Individual or Collective Responses to Violations of Obligations erga omnes? In: Jost Delbrück (Hrsg.), Proceedings, Berlin 1993, S. 125 ff. 46 Vgl. Globus, Zagreb, 26. 9. 1997. 47 Vgl. Interview des serbischen Präsidiumsmitglied der Präsidentenschaft von BosnienHerzegowina, Momcilo Krajisnik, Globus, Zagreb 26. 9. 1997: Die überwiegende Mehrheit der vertriebenen Serben in der Republik Srpshca, 90 - 95 Prozent, wollten nicht in den Vertreiberstaat zurückkehren und verlangten vielmehr Kompensation für ihr verlorenes Eigentum.

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festhalte, bedeute die Rückkehr der serbischen Flüchtlinge Krieg. 48 Auf einer Pressekonferenz wies Präsident Tudjman die Forderung der EU-Botschafter nach Rückkehr aller serbischen Flüchtlinge nach Kroatien mit der Begründung zurück, „niemand verlange die Rückkehr der Sudetendeutschen".49 Die Rückkehr wird schließlich von einer in Dayton nicht geregelten, von der Bundesrepublik Jugoslawien zu leistenden Kriegsentschädigung abhängig gemacht.50 2. Die Durchführung des Abkommens stößt an allen Ecken und Enden an die Grenzen des Möglichen und scheitert an den Fragen Wohnraum und Sicherheit. Alle berufen sich darauf, daß die jeweils andere Seite mit der Rückführung der Flüchtlinge beginnen und den erforderlichen Wohnraum zur Verfügung stellen sollte. Die in Anspruch genommene Seite verweist sodann darauf, daß die Aufgenommenen nicht zurückkehren wollten und ihnen dies wegen der prekären Sicherheitslage auch nicht zugemutet werden könnte.51 Korrupte und hinhaltende örtliche Behörden tun ein übriges. 3. Die Überwachung der Durchführung des Friedensabkommens von Dayton liegt in den Händen der Staatengemeinschaft; ihr stehen allerdings nicht die umfassenden Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zur Seite, die die occupatio bellica des klassischen Völkerrechts den Staaten zur Umsetzung ihrer Kriegs- und Friedensziele einräumt. Wie schon bei den Versuchen der Weltorganisation, den Balkankonflikt einzugrenzen, sind auch bei der Überwachung des Friedensprozesses nur punktuelle Verlagerungen von Kompetenzen auf verschiedene internationale bzw. supranationale Einrichtungen und eingeschränkte „rules of engagement" 48 Vgl. Präsident Tudjman im Kroatischen Rundfunk v. 3. Juni 1997: Natürlich kann eine Rückkehr von 200.000 oder 150.000 Personen nicht in Frage kommen, denn dann würden wir wieder Konflikt und Krieg haben. Niemand kann uns zwingen, dies zu tun ...". 49 Kroatisches Fernsehen vom 25. Mai 1997. In den Verhandlungen, die 1997 zur deutsch-tschechischen Erklärung führten, hatte sich die tschechische Seite mehrfach darauf berufen, daß der Abschub der sudetendeutschen Bevölkerung aus ihrer angestammten Heimat nicht nur endgültig sei, sondern sich auch im Einklang mit dem europäischen Völkerrecht befinde; sie berief sich in diesem Zusammenhang auf Noten der hauptverantwortlichen Siegermächte, in denen diese die Ergebnisse von Potsdam erneut bestätigten. Vgl. Einzelheiten D. Blumenwitz, Die deutsch-tschechische Erklärung vom 21. Januar 1997, in: AVR 1998, S. 367 ff. 50 Vgl. Tanjug vom 4. Juni 1997; Belgrad weist alle Ansprüche mit der Begründung zurück, die Schäden habe die jugoslawische Volksarmee verursacht, die legale Armee des ehemaligen Jugoslawiens, zu dem seinerzeit auch Kroatien gehörte. 51

Zum Fall Hrvatska Kostajnica, der im Sommer 1997 für Schlagzeilen sorgte, vgl. HINA v. 15. Mai 1997. Etwa 300 Serben waren mit Hilfe der UNHCR in Bussen angereist und die lokalen Behörden von der Aktion angeblich nicht informiert worden. Auch im Sommer 1998 berichtete UNHCR von brennenden Dörfern und Granatbeschuß von Flüchtlingen in den Vertreibungsgebieten. Zur Returnee-Statistik vgl. UNHCR Office of Special Envoy and Former Yugoslovia Liaison Unit, Information Notes, No. 4/98 (July-August 1998), S. 10 ff. (Bosnia and Herzegovina: Return and Repatriation Trends in 1998). Auch die UNHCR-Statikstik verdeutlicht, daß Flüchtlinge nicht in Gebiete zurückkehren, in denen sie künftig als Minderheit leben müßten.

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typisch. 5 2 Mangelhafte Koordination und die ständige Suche nach geeigneten Durchsetzungsmitteln 53 sind die Folge. 4. Die Defizite bei der Durchführung des Friedensabkommens treffen nicht nur die rückkehrwilligen Flüchtlinge, sondern auch die Aufnahmeländer der Region. 5 4 Die hohen Kosten und die innenpolitischen Spannungen, die die zeitweilige Unterbringung von Flüchtlingen in den betroffenen Staaten verursacht 55 , machen diese erpreßbar. Fehlt die erforderliche internationale Solidarität 5 6 , diktiert der fluchtverursachende Staat dem Aufnahmestaat die Konditionen der Rückführung 5 7 : Serben dürfen nach Jugoslawien nur über die staatliche Fluggesellschaft JAT zurückgeführt werden; die vollen Kosten trägt die Bundesrepublik Deutschland, das sog. „Kopfgeld für Belgrad". Verbietet die E U wegen des Belgrader Terrorregimes i m Kosovo (dort sind erneut schätzungsweise 200.000 Menschen bzw. ein Zehntel der Bevölkerung auf der Flucht) sanktionsweise die Landerechte für JAT, sieht sich Belgrad berechtigt, das mit Deutschland vereinbarte Rückführungsabkommen aufzukündigen. 5 8 Deutschland hofft vergebens auf die Solidarität der EU-Mitglieder, 52 In der ersten Phase der Jugoslawien-Krise versuchte die internationale Gemeinschaft den Zerfall Jugoslawiens aufzuhalten, während das Flüchtlingsproblem kaum Gegenstand internationaler Sorge war. Die zahlenmäßig schwache internationale Friedenstruppe UNPROFOR versuchte in erster Linie Kampfhandlungen zu unterbinden und den Status quo zu sichern. Praktisch wurde sie sowohl in Kroatien als auch in Bosnien-Herzegowina zu einem Schutzschild für die Vertreiber. Die SR-Res. 1031 vom 15. Dez. 1995, in der die NATO zum Einsatz der IFOR (Implementation Force) in Bosnien-Herzegowina ermächtigt wurde, ist nur für den militärischen Teil des Friedensabkommens zuständig. Die internationale Polizeitruppe (IPTF) kann bei der Rückführung wenig ausrichten; selbst wenn sie unter bewaffnetem Schutz Flüchtlinge in ihre ursprünglichen Wohnsitze zurückführt, kann sie deren Sicherheit nicht garantieren. 53 Z. B. Verlängerung der zeitlich begrenzten UN-Übergangsadministration für Ost-Slowenien (UNTAES), was aber wiederum die Zustimmung Kroatiens bedurft hätte; Versuche, die Mitgliedschaft Kroatiens im Europarat zu suspendieren und über die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds Kredite für Kroatien zu blockieren; Aussetzen der amerikanischen und europäischen Finanzhilfe für Sarajevo wegen der schleppenden Wiederaufnahme nichtmuslimischer Flüchtlinge im Juli 1998; Ausschluß von Reintegrationsgegnern von den Wahlen in Bosnien-Herzegowina durch die OSZE im September 1998. 54 Allein in Deutschland, dem Hauptbetroffenen, lebten am 1. Januar 1997 noch 320.000 Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina; auch die Schweiz und Österreich sind überdurchschnittlich von Flüchtlingen betroffen. Insgesamt nahm Deutschland doppelt so viele Bosnien-Flüchtlinge auf wie alle anderen europäischen Länder zusammen. 55 Allein für die 320.000 Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina hat die Bundesrepublik Deutschland bis Ende 1996 14 Milliarden DM aufgewendet. 56 Vgl. Außenminister Klaus Kinkel zu den ständigen Anschuldigungen aus Washington, Bonn destabilisiere mit seiner Rückführungspolitik die Situation in Bosnien: „Anstatt uns anzuschuldigen, wäre es besser, wenn unsere Partner und Freunde sich an der Lastenteilung etwas stärker beteiligen würden". Zit. nach SZ vom 8./9. Aug. 1998. 57 S. Gerold Lehnguth/Hans-Georg Maasen/Martin Schieffer, Rückführung und Rückübernahme - Die Rückübernahmeabkommen der Bundesrepublik Deutschland. Textsammlung mit Einführung und Erläuterung (1998). 58 Vgl. Peter Münch, Rückflug gestrichen, in: SZ v. 9. Sept. 1998.

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die sich politisch nicht in der Lage sehen, die EU-Sanktionen angemessen umzusetzen.59 Wer den Aufnahmestaaten Solidarität verweigert, greift in das empfindliche Maschenwerk des internationalen Flüchtlingsregimes ein und gefährdet die Nichtabweisung von Flüchtlingen an der Grenze und deren Aufnahme 60. In Europa werden Tendenzen immer deutlicher, die erkennen lassen, daß an die Stelle des überkommenen Schutzsystems der Genfer Flüchtlings-Konvention ein immer perfekteres Abwehrsystem tritt. 61 Durchsetzbar erscheint heute allenfalls das Recht im Asyl, nicht aber das Recht auf Asyl. Es wird bereits ganz generell davor gewarnt, die Flüchtlingsfrage zu stark zu verrechtlichen; damit werde man weder dem Souveränitätsinteresse der Staaten gerecht, noch könne dann flexibel und unter genügender Berücksichtigung von Einzelschicksalen auf Wanderbewegungen reagiert werden. 62 Dem Abtriften des Flüchtlingsregimes in einen rechtlich unverbindlichen Bereich muß ein klares Konzept der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Verursacherstaates entgegengestellt werden. Ganz gleich, ob totalitäre Regierungen ihr Gewaltmonopol mißbrauchen oder ob Menschenrechtskonflikte ihre Ursachen im zeitgemäßen Zerfall von Machtstrukturen finden, die Staatengemeinschaft muß einen signifikanten Beitrag sowohl zur Prävention als auch zur Wiedergutmachung von Vertreibungsunrecht leisten und die Herrschaft des Rechts in den zwischenstaatlichen Beziehungen stärken.

59 Vgl. „Diplomatische Flachflieger", in: SZ v. 8. Sept. 1998. 60 Vgl. grundsätzlich Laura Lo Prato, The 1990 Schengen Convention and its compliance with international refugee law, in: AWR-Bulletin 1998, No. 2- 3, S. 76 ff. 61 Vgl. die Diskussionen um die Ziffer 103 des Strategiepapiers, das die dem Vorsitz in der EU führende österreichische Regierung im September 1998 vorlegte; es soll zu einer „Neuorientierung" führen, „die die Genfer Konvention ergänzt, ändert oder ablöst"; hierzu Heribert Prantl, Letzte Ölung für die Genfer Konvention?, in: SZ v. 12. Sept. 1998, S. 9. S.a. Michael Wollenschläger, Verhinderung und Bekämpfung illegaler Zuwanderung in Europa, in: AWR-Bulletin 1998, No. 2 - 3, S. 55 ff. 62 Katharina Gelinsky, Der Schutz von Flüchtlingen, in FAZ v. 10. Juli 1998, die Ergebnisse einer Tagung des Menschenrechtszentrums in Potsdam zusammenfassend.

L'adaptation des sources du droit français au droit européen Par Michel Fromont

Dès 1946 la France avait choisi sa voie. Le Préambule de la constitution de 1946 affirmait clairement: „Sous réserve de réciprocité, la France consent aux limitations de souveraineté nécessaires à l'organisation et à la défense de la paix", disposition qui n'est pas sans rappeler l'article 24 de la Loi fondamentale. En outre, la constitution de 1946 consacrait la supériorité du droit international sur les lois tant dans son Préambule („La République française, fidèle à ses traditions, se conforme aux règles du droit public international") que dans son article 26 („Les traités diplomatiques régulièrement ratifiés et publiés ont force de loi dans le cas même où ils seraient contraires à des lois françaises, sans qu'il soit besoin pour en assurer l'application d'autres dispositions législatives que celles qui auraient été nécessaires pour assurer leur ratification"). L'entrée en vigueur de la constitution de 1958 ne modifia pratiquement rien à ces dispositions. Le principe de la possibilité de consentir des limitations de souveraineté, posé par le Préambule de la constitution de 1946, fut maintenu, puisque le Préambule de la nouvelle constitution réaffirma expressément la validité du Préambule de la constitution précédente. Quant à la supériorité des traités sur les lois, elle fut réaffirmée par la nouvelle constitution dans des termes assez voisins. Le nouvel article 55 de la constitution dispose en effet: „Les traités ou accord régulièrement ratifiés ou approuvés ont, dès leur publication, une autorité supérieure à celle des lois, sous réserve, pour chaque accord ou traité, de son application par l'autre partie", la réserve de réciprocité ne jouant en pratique que pour les traités bilatéraux ne créant pas d'autorité commune. En réalité, ce qui a changé, c'est, d'une part, l'introduction du contrôle de constitutionnalité des traités et, d'autre part, celle du contrôle de constitutionnalité des lois. Mais, comme ces deux contrôles ne peuvent être exercés en France qu'a priori, ils ne produisent pas les mêmes effets qu'en Allemagne où ils sont exercés a posteriori et à tout instant. En effet, en France, du fait que le contrôle de constitutionnalité d'un traité est effectué avant l'approbation de celui-ci par le Parlement, il a pour simple fonction de trancher la question de savoir si la constitution est compatible avec le traité et, dans la négative, de rendre nécessaire la modification de la constitution. Mais, une fois opérée cette adaptation de la constitution, le traité et tous les actes qui en dérivent ont une

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force supérieure à la loi et leur compatibilité avec la constitution ne peut plus être contestée devant les juges1.

I. L'acceptation des transferts de compétence par le pouvoir constituant Alors que les traités instituant les Communautés européennes (traités de 1951 et 1957) et les traités subséquents (Acte unique européen de 1986) n'avaient fait l'objet d'aucun contrôle de constitutionnalité, soit parce qu'il n'y avait pas encore en France de Conseil constitutionnel, soit parce qu'il n'y eut pas de polémiques dans l'opinion publique et qu'en conséquence aucun homme politique n'éprouva le besoin de saisir le Conseil constitutionnel, il n'en fut pas de même pour les traités de la dernière décennie, ceux de Maastricht, de Schengen et d'Amsterdam. Le Conseil constitutionnel fut effectivement saisi et ses jugements provoquèrent la modification de la constitution de 1958. Il semble paradoxal de voir un contrôle a priori de la constitutionnalité d'un traité international aboutir à une modification de la constitution, et non à une modification du traité. Mais cela est conforme à la volonté de la France de participer pleinement à la vie internationale et spécialement à la construction d'une Europe unie: la France est fondamentalement disposée à adapter sa constitution aux exigences de la construction d'une Europe unie. En outre, cela est conforme à la lettre même du texte de l'article 54 de la constitution relatif au contrôle de la constitutionnalité des engagements internationaux de la France; celui-ci dit très clairement: „Si le Conseil constitutionnel, saisi par le Président de la République, par le Premier Ministre, par le président de l'une ou l'autre assemblée ou par soixante députés ou soixante sénateurs, a déclaré qu'un engagement international comporte une clause contraire à la Constitution, l'autorisation de ratifier ou d'approuver l'engagement international en cause ne peut intervenir qu'après révision de la Constitution". Ainsi, à trois reprises, un jugement du Conseil constitutionnel a débouché sur une révision de la constitution. 1

Cette étude se place dans le prolongement d'études antérieures de l'auteur: Le Conseil constitutionnel et les engagements internationaux de la France, in: Völkerrecht als Rechtsordnung, Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte, Festschrift für Hermann Mosler, Berlin 1983, p. 221. - L'intégration du droit international au droit français, in: Europarecht, Energierecht, Wirtschaftsrecht, Festschrift für Bodo Börner, Köln 1992, p. 77. - La convention de Schengen et le droit d'asile en France, in: Recht zwischen Umbruch und Bewahrung, Festschrift für Rudolf Bernhardt, Berlin 1995, p. 1177. - Le traité sur l'Union européenne et le juge constitutionnel en France et en Allemagne, in: Mélanges en l'honneur du professeur Gustave Peiser, Grenoble 1995, p. 229. - Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht in Frankreich, in: Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht (Battis, ... hrsg.), Baden-Baden 1995, p. 127. - Le droit constitutionnel national et l'intégration européenne, in: 17. FIDE Kongress, Ergebnisse und Perspektiven, Baden-Baden 1996, p. 29. - La Constitution française et l'Europe, in: État, Loi, Administration, Mélanges en l'honneur de Epaminondas Spiliotopulos, Athènes 1998, p. 13.

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1. L'adaptation de la constitution au traité de Maastricht a) La constatation de la non-conformité du traité de Maastricht à la constitution non révisée L'incompatibilité du traité de Maastricht avec les règles constitutionnelles était au moins manifeste sur un point, le droit de vote reconnu aux ressortissants de l'Union européenne; mais d'autres objections étaient faites, notamment l'ampleur des limitations apportées à la souveraineté nationale qui a, en France, deux faces, une face interne, à savoir l'affirmation du principe démocratique, et une face externe, à savoir l'affirmation de l'indépendance nationale. C'est pourquoi, le 11 mars 1992, c'est-à-dire dès le dépôt du projet de loi autorisant la ratification du traité, le Président de la République prit l'initiative de provoquer le contrôle de la constitutionnalité du traité. Dans sa décision du 9 avril 1992, le Conseil constitutionnel constata effectivement l'incompatibilité du traité avec plusieurs dispositions de la constitution.2 Le Conseil constitutionnel constata, tout d'abord, que le traité attribuait le droit de vote aux citoyens de l'Union européenne, ce qui était en contradiction avec l'article 3 de la constitution selon lequel seuls „sont électeurs, dans les conditions déterminées par la loi, tous les nationaux majeurs des deux sexes, jouissant de leurs droits civils et politiques". Mais, en outre, le juge constitutionnel français examina la question du respect de la souveraineté nationale. Il interpréta les dispositions constitutionnelles relatives à la souveraineté3 et aux limitations qui peuvent lui être apportées4 dans les termes suivants: „Le respect de la souveraineté nationale ne fait pas obstacle à ce que ... la France puisse conclure, sous réserve de réciprocité, des engagements internationaux en vue de participer à la création ou au développement d'une organisation internationale permanente, dotée de la personnalité juridique et investie de pouvoirs de décision par l'effet de transferts de compétences consentis par les États membres; toutefois, au cas où des engagements internationaux souscrits à cette fin ... portent atteinte aux conditions essentielles d'exercice de la souveraineté nationale, l'autorisation de les ratifier appelle une révision constitutionnelle". Pour que le transfert de compétences n'exige pas une modification de la constitution, le 2 Conseil constitutionnel, n° 92-308 DC du 9. 4. 1992, Recueil 1992, p. 55; note Genevois, RFDA 1992, p. 373; note Favoreu, RFDC 1992, p. 340; note Jacqué, RTDE 1992, p. 251; note Luchaire, RDP 1992, p. 589 note Rousseau, RDP, p. 14. Voir aussi Grewe / Ruiz-Fabri, Le Conseil constitutionnel et l'unité européenne, RUDH 1992, p. 277. 3 Article 3 de la Déclaration des droits de l'homme et du citoyen: „Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la Nation. Nul corps, nul individu ne peut exercer d'autorité qui n'en émane expressément". Article 3 de la Constitution: „La souveraineté nationale appartient au peuple qui l'exerce par ses représentants et par la voie du référendum. 4 Alinéa 15 du Préambule de la Constitution de 1946 (réaffirmé par le Préambule de la Constitution de 1958): „Sous réserve de réciprocité, la France consent aux limitations de souveraineté nécessaires à l'organisation et à la défense de la paix".

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Conseil constitutionnel pose donc deux conditions: il y a réciprocité des engagements et il n'y a pas atteinte aux conditions essentielles d'exercice de la souveraineté. A vrai dire, la lecture du reste de la décision fait apparaître une troisième condition, la garantie des droits et libertés des citoyens. Le Conseil constitutionnel ne s'est pas montré très exigeant sur la condition de réciprocité, puisqu'il se contenta de constater que le traité n'entrerait en vigueur qu'après le dépôt du dernier instrument de ratification sans prêter attention au fait que certains États, tels le Danemark et la Grande-Bretagne, n'avaient pas pris les mêmes engagements que les autres parties. Le Conseil constitutionnel a admis également sans grande difficulté que la garantie des droits et citoyens des citoyens était assurée; il s'est contenté de relever, sur ce point, que la Cour de justice des Communautés européennes et les juridictions nationales étaient à même de veiller au respect des „droits fondamentaux tels qu'ils sont garantis par la Convention européenne des droits de l'homme ... et tels qu'ils résultent des traditions constitutionnelles communes aux États membres, en tant que principes généraux du droit communautaire" conformément à l'article F, paragraphe 2, du traité. En revanche, la condition du respect des conditions essentielles d'exercice de la souveraineté nationale a été jugée non satisfaite par deux séries de clauses du traité de Maastricht, celles relatives à l'établissement d'une politique monétaire et d'une politique de change uniques et celles relatives à la politique de contrôle de l'entrée et de la circulation des personnes. Dans les deux cas, le Conseil constitutionnel a estimé qu'à partir du moment où ces politiques ne sont plus arrêtées à l'unanimité des États, chacun des États „se trouvera privé de compétences propres dans un domaine où sont en cause les conditions essentielles d'exercice de la souveraineté nationale" (43ème considérant), c'est-à-dire dans un secteur vital pour un État souverain. b) La révision de la constitution du 25 juin 1992 La révision constitutionnelle que rendaient nécessaire les trois déclarations d'inconstitutionnalité contenues dans la décision du Conseil constitutionnel du 9 avril 1992 intervint le 25 juin 19925. Elle inséra dans la constitution un nouveau titre intitulé „Des Communautés européennes et de l'Union européenne" qui comporte quatre articles numérotés de 88-1 à 88-4. Les articles 88-2 et 88-3 avaient pour objet principal de lever les obstacles constitutionnels relevés par le Conseil constitutionnel. De fait, l'article 88-2 de la con5 Loi constitutionnelle n° 92-554 du 25. 6. 1992, Journaux officiels 26. 6. 1992. Voir aussi les commentaires de Rideau, La recherche de l'adéquation de la constitution française aux exigences de l'Union européenne, RAE 1992, n° 3, p. 8; Grewe, La révision constitutionnelle en vue de la ratification du traité de Maastricht, RFDC 1992, p. 277; Favoreu, Le contrôle de constitutionnalité du traité de Maastricht et le développement du droit constitutionnel international, RGDIP 1993, p. 52.

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stitution dispose: „Sous réserve de réciprocité, et selon les modalités prévues par le traité sur l'Union européenne signé le 7 février 1992, la France consent aux transferts de compétences nécessaires à l'établissement de l'union économique et monétaire européenne ainsi qu'à la détermination des règles relatives au franchissement des frontières extérieures des États membres de la Communauté européenne"; on observera que cette nouvelle disposition n'autorise que les transferts de compétences prévus par le traité de Maastricht et non pas ceux susceptibles d'être consentis dans le cadre de traités ultérieurs. Par ailleurs, l'article 88-3 de la constitution dispose: „Sous réserve de réciprocité et selon les modalités prévues par le traité sur l'Union européenne signé le 7 février 1992, le droit de vote et d'éligibilité aux élections municipales peut être accordé aux seuls citoyens de l'Union résidant en France. Ces citoyens ne peuvent exercer les fonctions de maire ou d'adjoint, ni participer à la désignation des électeurs sénatoriaux et à l'élection des sénateurs"; on observera que cette disposition se réfère également au seul traité de Maastricht et qu'elle se présente comme une règle dérogatoire au principe général, qui demeure affirmé à l'article 3 de la constitution, selon lequel seuls les nationaux français sont électeurs. Le projet de révision constitutionnelle qu'avait déposé le Gouvernement au nom du président de la République, ne comprenait que les deux articles qui viennent d'être brièvement analysés. Les parlementaires exigèrent que deux autres articles leur soient adjoints. Le premier amendement, qui devait devenir l'article 88-1 de la constitution, pose le principe de la participation de la France à l'Union européenne et aux Communautés européennes dans les termes suivants: „La République participe aux Communautés européennes et à l'Union européenne constituées d'Etats qui ont choisi librement, en vertu des traités qui les ont instituées, d'exercer en commun certaines de leurs compétences". Cette disposition a le mérite de poser pour la première fois de façon explicite le principe de la participation de la France tant à l'Union européenne qu'aux Communautés européennes qui en constituent le noyau dur. En outre, elle a pour effet de constitutionnaliser les „acquis communautaires" et de rendre inconstitutionnelle toute décision de sortir de l'Union européenne. On remarquera que le principe de la participation à l'Union européenne n'est pas assorti des mêmes restrictions que celles dont la République fédérale d'Allemagne a assorti le principe de sa propre participation. Il est vrai que la France demeure assujettie à l'obligation de ne pas consentir des transferts de compétences qui „portent atteinte aux conditions essentielles d'exercice de la souveraineté nationale" sans avoir modifié auparavant la constitution. Mais en droit constitutionnel français, le titulaire du pouvoir constituant dérivé n'est pas limité comme en Allemagne: il peut apporter à la constitution toutes sortes de modifications si ce n'est porter atteinte à la forme républicaine de gouvernement (article 89 de la constitution). Quant à l'autre article ajouté à la demande des parlementaires, l'article 88-4, il a pour objet d'accroître les pouvoirs de contrôle du Parlement sur la politique européenne du Gouvernement. C'est une modification qui n'a pas été imposée par le

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Conseil constitutionnel, mais simplement par les parlementaires qui souhaitaient être associés aux décisions du Gouvernement en matière communautaire (mais pas pour les décisions prises dans le cadre des autres „piliers de l'Union européenne". Le nouvel article 88-4 dispose: „Le Gouvernement soumet à l'Assemblée nationale et au Sénat, dès leur transmission au Conseil des Communautés, les propositions d'actes communautaires comportant des dispositions de nature législative. Pendant les sessions ou en dehors d'elles, des résolutions peuvent être votées dans le cadre du présent article, selon des modalités déterminées par le règlement de chaque assemblée".

c) Le contrôle de la conformité du traité de Maastricht à la constitution révisée Cette révision constitutionnelle suffisait-elle pour rendre conforme à la constitution le traité de Maastricht? Certains parlementaires de droite en doutèrent et saisirent le Conseil constitutionnel. Dans sa décision du 2 septembre 19926, cette haute juridiction jugea „que le traité sur l'Union européenne ne comportait pas de clause contraire à la Constitution; que l'autorisation de le ratifier pouvait intervenir sur le fondement d'une loi"; il a, en particulier, rejeté l'argument majeur des requérants selon lequel plusieurs articles de la constitution „auraient dû être modifiés afin qu'il y ait adéquation entre les stipulations du traité et les dispositions constitutionnelles", ce à quoi le Conseil répondit que,»ressortit exclusivement au choix du constituant le choix consistant à ajouter à la Constitution une disposition nouvelle plutôt que d'apporter des modifications ou compléments à un ou plusieurs articles". Le traité est donc déclaré conforme à la constitution sans la moindre réserve. Comme l'ont fait remarquer plusieurs commentateurs, le Conseil constitutionnel n'assortit la déclaration de constitutionnalité d'un traité international d'aucune réserve d'interprétation et il fera de même en 1997. Le 20 septembre 1992, le peuple français approuvait le projet de loi autorisant la ratification du traité de Maastricht. Le 23 septembre 1992, le Conseil constitutionnel rejetait un nouveau pourvoi émanant de députés de droite tendant à faire vérifier la conformité à la constitution de la loi qui venait d'être votée par le peuple7. Le Conseil constitutionnel fit valoir que la constitution ne lui avait confié que le contrôle des „lois votées par le Parlement et non point (de) celles qui, adoptées par le peuple français, ... constituent l'expression directe de la souveraineté nationale". En droit public français, les lois référendaires, contrairement aux lois parle6 Conseil constitutionnel, n° 92-312 du 2. 9. 1992, Recueil 1992, p. 96: Note Favoreu, RFDC 1992, pp. 408 et 735; note Gaïa, RFDC 1992, p. 729; note Genevois, RFDA 1992, p. 937; note Luchaire, RDP 1992, p. 1587; note Rousseau, RDP 1993, p. 17. 7 Conseil constitutionnel, n° 92-313 du 23. 9. 1992, Recueil 1992, p. 94; note Favoreu, RFDC 1992, p. 743; note Luchaire, RDP 1992, p. 1587; note Picard, AJDA 1993, p. 151; note Rousseau, RDP 1993, p. 33.

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mentaires, échappent, en effet, à tout contrôle de constitutionnalité en raison du fait qu'elles sont l'expression directe de la volonté générale du peuple.

2. L'adaptation de la constitution aux traités de Schengen et de Dublin L'adaptation de la constitution au traité de Schengen et aux traités subséquents ne s'est pas effectué sans quelque soubresaut. En effet, après avoir admis la possibilité de ratifier le traité de Schengen sans révision de la constitution, le Conseil constitutionnel adopta une conception si exigeante du droit d'asile garanti par la constitution française qu'il fallut modifier la constitution pour permettre une application normale du traité de Schengen et surtout l'application future du traité de Dublin (entré en vigueur en 1995).

a) Le contrôle de constitutionnalité du traité de Schengen La décision du Conseil constitutionnel du 25 juillet 1991 relative aux accords de Schengen ne concerne certes ni les Communautés européennes, ni l'Union européenne8; elle est néanmoins intéressante dans la mesure où ces accords mettent en place un système européen qui est relatif à la circulation des ressortissants de pays tiers à l'Union européenne et qui préfigure le système que doivent mettre en place les États membres de l'Union européenne dans le cadre de la Convention de Dublin de 1990. Or, dans cette décision, le Conseil constitutionnel avait à résoudre la question de la compatibilité d'un traité international, non plus seulement avec le principe de souveraineté nationale, mais également avec un droit de l'homme garanti par la constitution française, en l'espèce le droit d'asile qui est proclamé par l'alinéa 4 du Préambule de la constitution de 1946 (texte intégré à l'actuelle constitution par le Préambule de cette dernière). Il admit la compatibilité de la convention additionnelle de Schengen avec le droit d'asile grâce à un double effort d'interprétation. D'une part, il donna une portée de principe à l'article 29, alinéa 4, de cette convention qui autorise un État à examiner une demande d'asile „pour des raisons particulières tenant au droit national" même dans les cas où la convention attribue une compétence exclusive à un autre État9. Ainsi, le transfert de compétence prévu par s Conseil constitutionnel, n° 91-294 du 25. 7. 1991, Recueil 1991, p. 91; note Hamon, D 1991, J, p. 517; note Luchaire, RDP 1991, p. 1499; note Gaïa, RFDC 1991, p. 703; note Rousseau, RDP 1992, p. 63; note Wedel, RFDA 1992, p. 173. 9 Art. 29 de la Convention du 19 juin 1990 d'application de l'Accord de Schengen: „(1). Les Parties contractantes s'engagent à assurer le traitement de toute demande d'asile déposée par un étranger sur le territoire de l'une d'elles. (2)... (3) Quelle que soit la Partie contractante à laquelle l'étranger adresse sa demande d'asile, une seule Partie contractante est responsable du traitement de la demande. Elle est déterminée selon les critères définis à l'article 30. (4) Nonobstant le paragraphe 3, toute Partie contractante conserve le droit pour

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Taccord de Schengen n'était-il que partiel puisque la compétence nationale pour accorder l'asile subsistait sous la forme d'une compétence subsidiaire. D'autre part, le Conseil constitutionnel considéra qu'en droit constitutionnel français, le demandeur d'asile ne disposait pas d'un véritable droit à obtenir l'asile lorsqu'il était „persécuté en raison de son action pour la liberté", mais simplement d'une possibilité de solliciter l'asile auprès des autorités françaises et que, par conséquent, la compétence discrétionnaire reconnue à l'administration française par l'article 29 de la Convention de Schengen était suffisante pour qu'il n'y ait pas contradiction entre le système Schengen (et bientôt celui de Dublin) et la compétence des autorités françaises d'accorder l'asile garantie par la constitution10.

b) L'affirmation des exigences du droit français d'asile contre les conventions de Schengen et Dublin C'est à l'occasion de l'examen d'une loi ultérieure restreignant les conditions d'accès à l'asile que le Conseil constitutionnel eut l'occasion d'affirmer que la garantie du droit d'asile par la constitution française était plus exigeante qu'il ne l'avait dit dans la décision relative à la convention Schengen. En effet, non seulement le Conseil répéta ce qu'il avait déjà affirmé dans la décision relative à la ratification de la convention Schengen: „la détermination d'un autre État responsable du traitement d'une demande d'asile en vertu d'une convention internationale n'est admissible que si cette convention réserve le droit de la France d'assurer, même dans ce cas, le traitement d'une demande d'asile en application des dispositions propres à son droit national"; mais encore et surtout, il affirma, ce qui était nouveau: „le quatrième alinéa du préambule de la Constitution de 1946 fait obligation aux autorités administratives et judiciaires de procéder à l'examen de la situation des demandeurs d'asile qui relèvent de cet alinéa, c'est-à-dire de ceux qui seraient persécutés pour leur action en faveur de la liberté; le respect de cette exigence suppose que les intéressés fassent l'objet d'une admission provisoire jusqu'à ce qu'il ait été statué sur leur cas" (considérant 88). Ce faisant, la Conseil constitutionnel donnait de la loi soumise à son examen, la loi relative à la maîtrise de l'immigration, une interprétation de la loi conforme à la constitution, mais, fait exceptionnel, cette interprétation nouvelle n'était pas conforme à la convention de Schengen, telle qu'il l'avait interprétée lui-même et telle que l'interprétaient les partenaires de la France et le Gouvernement français lui-même. En affirmant que „le droit souverain de l'Etat à l'égard d'autres parties contractantes à dès conventions doit être entendu comme ayant été réservé par le législateur pour assurer le respect de cette des raisons particulières tenant notamment à son droit national, d'assurer le traitement d'une demande d'asile même si la responsabilité au sens de la présente convention incombe à une autre Partie contractante". 10 Sur le problème général des rapports entre le droit d'asile garanti par la constitution française et le système international de protection des réfugiés, voir Fromont , Le droit d'asile en France, Revue européenne de droit public 1995, p. 739.

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obligation" (à savoir l'obligation pour les autorités françaises d'examiner ellesmêmes les demandes d'asile et d'accorder à leurs auteurs une autorisation provisoire de séjourner durant l'examen de la demande), le juge constitutionnel modifiâ t la portie de la convention Schengen. C'est pourquoi cette décision fut vivement critiquée tant du point de vue juridique que politique, ce qui amena le titulaire du pouvoir constituant dérivé à modifier la constitution pour qu'elle soit adaptée aux exigences internationales. Dans ce cas très particulier, ce n'est donc pas l'examen du traité, mais l'examen d'une loi ultérieure portant sur le même objet qui a provoqué l'adaptation de la constitution.

c) L'adaptation de la constitution à la convention de Dublin A la suite d'un compromis négocié entre le président Mitterrand et le Premier Ministre Balladur, le Parlement adopta une loi constitutionnelle qui autorisait expressément la France à conclure des accord internationaux du type de la convention d'application Schengen ou de la convention de Dublin et le président de la République la promulgua le 25 novembre 1993. Cette loi insérait dans la constitution française un nouvel article, l'article 53-1, qui est ainsi rédigé: „(1) La République peut conclure avec les Etats européens qui sont liés par des engagements identiques aux siens en matière d'asile et de protection des droits de l'Homme et des libertés fondamentales, des accords déterminant leurs compétences respectives pour l'examen des demandes d'asile qui leur sont présentées. (2) Toutefois, même si la demande n'entre pas dans leur compétence en vertu de ces accords, les autorités de la République ont toujours le droit de donner asile à tout étranger persécuté en raison de son action en faveur de la liberté ou qui sollicite la protection de la France pour un autre motif'. Dans ce cas, la constitution a été adaptée au traité à la suite d'une fausse manœuvre du Conseil constitutionnel qui commença par admettre la constitutionnalité du traité de Schengen avant de déclarer implicitement que celui-ci n'était pas compatible avec la constitution. En revanche, dans le cas du traité d'Amsterdam, le système a de nouveau fonctionné de façon normale.

3. L'adaptation de la constitution au traité d'Amsterdam a) La constatation de la non-conformité du traité de Maastricht à la constitution non révisée Le Conseil constitutionnel a été saisi, le 4 décembre 1997, conjointement par le Président de la République et le Premier Ministre de „la question de savoir si, compte tenu des engagements souscrits par la France et des modalités de leur entrée en vigueur, l'autorisation de ratifier le traité d'Amsterdam . . . , signé le 2 octobre 1997, doit être précédée d'une révision de la constitution". Le 31 décembre 8 FS Leisner

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1997, le Conseil constitutionnel répondait qu'une révision de la constitution était effectivement nécessaire sur certains points 11 . Après avoir rappelé que seule une clause portant atteinte aux „conditions essentielles d'exercice de la souveraineté nationale" nécessitait une révision de la constitution, le Conseil a précisé les critères qui permettent d'apprécier le caractère essentiel des conditions d'exercice de la souveraineté nationale. Ils sont en définitive au nombre de quatre: l'appartenance de la matière au noyau dur des attributions de l'Etat, l'ampleur des transferts consentis (tant du point de vue qualitatif exclusivité ou non des compétences transférées - que quantitatif - compétences isolées ou formant un bloc), le degré de participation de la France aux décisions communautaires (droit d'initiative réservé aux États ou à la Commission; décisions communautaires prises à l'unanimité ou à la majorité) et, enfin, le caractère automatique ou simplifié de la procédure de transfert de compétences à l'issue de la période de transition. Sur la base de cette grille d'analyse, le Conseil constitutionnel a déclaré contraires à la constitution les dispositions du traité d'Amsterdam transférant des pouvoirs de décision dans les domaines de l'asile, de l'immigration et du franchissement des frontières intérieures et extérieures et décidé en conséquence : „L'autorisation de ratifier en vertu d'une loi le traité d'Amsterdam ne peut intervenir qu'après révision de la constitution".

b) La révision de la constitution du 25 janvier 1999 Le Gouvernement déposa au nom du Président de la République un projet de révision constitutionnelle tendant à ce que la constitution ne soit plus contraire au traité d'Amsterdam. Après l'avoir approuvé respectivement les 1er et 17 décembre 1998 12 , les deux chambres réunies en congrès le 18 janvier 1999 ont voté ce texte à la majorité requise des trois cinquièmes13. Puis le Président de la République l'a promulguée le 25 janvier 1999. Cette loi constitutionnelle a tout d'abord modifié l'article 88-2. Certes elle laisse inchangées les dispositions qui autorisent depuis 1992 „les transferts de compétences nécessaires à l'établissement de l'union économique et monétaire", „sous réserve de réciprocité et selon les modalités prévues par le traité sur l'Union euro» Conseil constitutionnel, n° 97-394 du 31. 1. 1997, Recueil 1997, p. 344; note Gaïa, RFDC 1998, p. 141; note Schoetel, AJDA 1998, p. 135. Voir aussi Luchaire, Le traité d'Amsterdam et la Constitution, RDP 1998, p. 331. 12 Le Monde 25. 11. 1998, 26. 11. 1998 et 27. 11. 1998 (pour l'Assemblée); Le Monde 18. 12. 1998 et 19. 12. 1998 (pour le Sénat). La révision constitutionnelle a été approuvée par l'Assemblée nationale par 469 voix contre 66 et par le Sénat par 240 voix contre 34. 13 Le Monde 20. 1. 1999; la révision constitutionnelle a été votée par le Congrès par 758 voix contre 111. La loi du 25 janvier 1999 a été publiée au Journal officiel des 25 et 26 janvier 1999.

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péenne signé le 7 février 1992". Mais elle remplace l'autorisation de transferts de compétences pour „la détermination des règles relatives au franchissement des frontières extérieures des États membres de la Communauté européenne" par une autorisation plus vaste: désormais, l'article 88-2 comporte un deuxième alinéa ainsi rédigé: „Sous la même réserve (c'est-à-dire celle de la réciprocité) et selon les modalités prévues par le traité instituant la Communauté européenne, dans sa rédaction résultant du traité signé le 2 octobre 1997, peuvent être consentis les transferts de compétences nécessaires à la détermination des règles relatives à la libre circulation des personnes et aux domaines qui lui sont liés". La loi constitutionnelle du 25 janvier 1999 a également modifié l'article 88-4 de la constitution en vue d'étendre très légèrement les droits et possibilités de participation du Parlement à l'élaboration de la politique européenne. D'une part, désormais, le Gouvernement n'est plus simplement tenu de „soumettre à l'Assemblée nationale et au Sénat les projets d'actes communautaires comportant des dispositions de nature législative", mais il est également tenu de leur soumettre les „propositions ... d'actes de l'Union européenne comportant des dispositions législatives", ce qui a pour effet de ne plus soustraire à l'examen par les deux assemblées les propositions d'actes de l'Union européenne relatives aux „deuxième et troisième piliers" et donc de leur permettre de voter également à leur sujet des „résolutions". D'autre part, le Gouvernement a désormais la possibilité, mais non l'obligation, de „soumettre les autres projets ou propositions d'actes ainsi que tout document émanant d'une institution de l'Union européenne". Dans la pratique, les deux assemblées ont chacune institué des „Délégations pour l'Union européenne" qui sont en réalité des commissions permanentes dotées d'un statut particulier. Entre le 31 août 1992 et le 31 octobre 1998, les assemblées avaient reçu au total 251 propositions de résolutions, émanant le plus souvent de leurs Délégations, mais parfois de parlementaires agissant en leur nom propre et elles en ont adopté 168 14 . Ces résolutions ont plus pour effet d'appuyer le Gouvernement français dans ses négociations à Bruxelles qu de restreindre sa liberté de mouvement, car les résolutions des assemblées parlementaires n'ont pas pour le Gouvernement une force contraignante, mais simplement une valeur d'exhortation. Cependant, la construction de l'Europe n'a pas seulement provoqué des révisions de la constitution française, elle a aussi conduit la jurisprudence française à réviser complètement son attitude à l'égard de la loi: celle-ci est désormais subordonnée aux règles européennes.

14 Le Monde 25. 11. 1998. L'application de l'article 88-4 de la constitution fait l'objet d'une chronique régulière de B. Rullier dans la RFDC (1994, pp. 155 et 553; 1995, pp. 187 et 659; 1996, p. 173; 1997, pp. 131 et 611; 1998, p. 645). Voir aussi M. Gaillard, Le retour des résolutions parlementaires, La mise en œuvre de l'article 88-4 de la Constitution, RFDC 1993, p. 707; G. Alberton, L'article 88-4 de la Constitution, RDP 1995, p. 921.

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II. L'acceptation de la supériorité du droit européen par les juges La supériorité du droit communautaire sur le droit national est aujourd'hui assurée en France par deux mécanismes, l'immunité juridictionnelle des règles et actes européens et le contrôle de la conformité des actes nationaux, spécialement des lois, aux règles européennes. Cela vaut tant pour les traités communautaires et actes qui en dérivent que pour la Convention européenne des droits de l'homme.

1. L'immunité juridictionnelle

des actes européens

L'immunité juridictionnelle des actes européens résulte de l'absence de tout contrôle de constitutionnalité a posteriori des traités et des actes communautaires qui en dérivent; elle aussi pour effet d'entraîner l'immunité des lois prises en application des actes communautaires.

a) L'absence de contrôle a posteriori de constitutionnalité des actes européens En ce qui concerne les traités européens, la constitution prévoit bien, comme pour tous les „engagements internationaux de la France" (traités et accords), un contrôle de constitutionnalité a priori. En revanche, la constitution ne prévoit aucun contrôle de constitutionnalité s'exerçant a posteriori. Le Conseil constitutionnel en a déduit qu'aucun contrôle ne peut être exercé sur un traité ou un accord international après son entrée en vigueur. Le Conseil constitutionnel n'a jamais été saisi a posteriori de la question de la constitutionnalité d'un traité international en vigueur, tant il est évident qu'il se serait déclaré incompétent faute de texte lui attribuant compétence. En revanche, il a déjà eu l'occasion de refuser de contrôler à titre incident la constitutionnalité d'un traité antérieurement ratifié à l'occasion de l'examen d'un traité subséquent. Ainsi, en 1970, le juge constitutionnel fut saisi de la question de la constitutionnalité de la décision du Conseil des Communautés européennes du 21 avril 1970 relative au remplacement des contributions financières des Etats membres par des ressources propres aux Communautés, décision qui, en raison de la nécessité d'une ratification par les Parlements des États membres, était assimilable à un véritable traité international. Or, dans sa décision du 19 juin 1970 15 , le Conseil constitutionnel releva tout d'abord que les trois traités institutifs des Communautés avaient prévu expressément ce passage d'un système de financement à un autre et que ceux-ci „ont été régulièrement ratifiés et publiés et sont, dès lors, entrés dans le champ d'application de l'article 55 de la constitution", c'est-à-dire qu'ils ont 15 Conseil constitutionnel, n° 70-39 DC du 19 juin 1970, Recueil, p. 15; JCP 1970.1. 2354, note Ruzié; RDP 1971, p. 172, note Émeri et Gautron; RGDIP 1971, p. 239, note X.

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désormais „une autorité supérieure à celle des lois". Puis le Conseil constitutionnel constata que l'engagement international qui lui était soumis „avait le caractère d'une mesure d'application des dispositions susrappelées des traités instituant les Communautés européennes" et qu'en conséquence il était conforme à la constitution dès lors qu'il avait été élaboré dans les conditions prévues par les traités et alors même qu'il restreignait les pouvoirs fiscaux et budgétaires du Parlement français 16 . D'ailleurs, dans la décision sur le traité de Maastricht, le Conseil constitutionnel a commencé par se poser la question de savoir si le traité de Maastricht était une simple mesure d'application des traités antérieurs, car si cela avait été le cas, il aurait refusé de contrôler sa constitutionnalité. C'est seulement dans la mesure où le traité de Maastricht posait de nouvelles règles et apportait notamment de nouvelles restrictions à l'exercice de la souveraineté nationale que le Conseil constitutionnel a accepté de procéder au contrôle de la constitutionnalité de ce traité (considérants 7 et 8 ainsi que 32). Cette immunité juridictionnelle dont bénéficie les actes européens et spécialement les actes communautaires s'étend même aux lois nationales qui mettent en œuvre une règle européenne, spécialement une règle communautaire. b) L'absence de contrôle de constitutionnalité des actes nationaux d'application du droit européen L'immunité juridictionnelle dont bénéficient les règles européennes entrées „dans le champ d'application de l'article 55 de la constitution", c'est-à-dire ayant une autorité supérieures à la loi et n'étant plus susceptibles d'être contestées devant le juge français, s'étend même aux lois françaises qui ne font qu'appliquer le droit européen, notamment le droit communautaire, c'est-à-dire aux lois dont la contrariété avec la constitution est due exclusivement au fait qu'elles mettent en œuvre un traité européen ou une règle qui en dérive. Ainsi, dans deux affaires jugées le 30 décembre 1977, les auteurs de la saisine faisaient valoir que la loi de finances autorisait le recouvrement ou précisait les modalités de recouvrement d'un prélèvement obligatoire qui n'avait pas été institué par la loi française, mais par un règlement communautaire (prélèvement de coresponsabilité sur le lait et cotisation sur la production d'isoglucose)17. Le Conseil constitutionnel admit très clairement que la loi ne faisait qu'appliquer un règlement communautaire qui avait précisément eu pour effet de restreindre les compétences du parlement national en matière de prélèvements obligatoires et qui avait 16 Dans le même sens, voir Conseil constitutionnel, n° 77-89 DC du 30 décembre 1976, Recueil, p. 15 (à propos de la convention posant le principe de l'élection de l'Assemblée des Communautés européennes au suffrage universel direct). 17 Conseil constitutionnel, n° 77-89 DC et n° 77-90 DC du 30 décembres 1977, Recueil, pp. 44 et 46; RDP 1979, p. 468; RTDE 1979, p. 142, note Isaac et Molinier.

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été pris par le Conseil des Communautés européennes en vertu de pouvoirs qu'il tenait de l'article 145 du traité du 25 mars 1957. De ce fait, „le Parlement n'avait pas à intervenir dans la détermination de l'assiette et du taux de la cotisation et il lui revenait seulement le soin de régler les modalités de recouvrement non fixées par le règlement; les répercussions de la répartition des compétences ainsi opérée entre les institutions communautaires et les autorités nationales au regard tant des conditions d'exercice de la souveraineté nationale que du jeu des règles de l'article 34 de la Constitution relatives au domaine de la loi ne sont que la conséquence d'engagements internationaux souscrits par la France qui sont entrés dans le champ d'application de l'article 55 de la Constitution; dans ces conditions, les dispositions de la loi soumise à l'examen du Conseil constitutionnel ne sont contraires à aucune règle ni à aucun principe de valeur constitutionnelle"18. Le 5 mai 1998, le Conseil constitutionnel a apporté une légère réserve à ce principe à l'occasion de l'examen d'une loi d'application d'une convention universelle. Certes, suivant le même raisonnement que celui suivi dans les décisions précédentes, il a accepté qu'il puisse être dérogé au principe selon lequel seuls des juges français désignés par des autorités françaises peuvent être membres d'une juridiction française lorsque cela est „nécessaire à la mise en œuvre d'un engagement international de la France", en l'espèce la convention de Genève du 28 juillet 1951 relative au statut des réfugiés 19. Mais le Conseil constitutionnel ne l'a fait que „sous réserve qu'il ne soit pas porté atteinte aux conditions essentielles d'exercice de la souveraineté nationale". Toutefois, en l'espèce, il a admis que „la présence, dans la proportion d'un tiers, dans chacune des sections de la Commission de recours des réfugiés, ainsi que dans sa formation dite de sections réunies, de représentants du Haut Commissariat aux réfugiés des Nations Unies ne porte pas atteinte, compte tenu du caractère minoritaire de cette présence, aux conditions essentielles d'exercice de la souveraineté nationale". Cette restriction apportée à l'immunité juridictionnelle des actes d'application d'une convention internationale s'explique probablement par les données particulières à cette affaire: la présence déjugés désignés par le Haut Commissariat aux réfugiés n'a pas été prévue expressément par la Convention de Genève et les accords subséquents, mais seulement par la loi française du 25 juillet 1952 qui n'était nullement tenue de le faire.

2. Le contrôle de là conformité des actes nationaux au droit européen En ce domaine, l'adaptation la plus spectaculaire du droit français au droit européen a consisté, pour le juge français, à abandonner la jurisprudence traditionnelle selon laquelle la validité de la loi n'est pas susceptible d'être vérifiée par le juge 18 La règle vaut également pour une loi d'application d'une décision d'une organisation mondiale telle que le Fonds monétaire international: Conseil constitutionnel, n° 78-93 DC du 29 avril 1978, Recueil, p. 23. 19 Conseil constitutionnel, n° 98-399 DC du 5 mai 1998, Journal Officiel 12. 5. 1998.

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qui doit l'appliquer. L'abandon de cette jurisprudence était pourtant apparemment aisé puisque l'article 26 de la constitution de 1946 et l'article 55 de l'actuelle Constitution 20 posaient tous deux le principe de la supériorité des traités sur les lois. Mais pendant toute la IVème République, les juges français restèrent fidèles à l'idée selon laquelle la loi est l'expression de la souveraineté nationale et est, en tant que telle, insusceptible d'être contrôlée par eux tant en ce qui concerne sa conformité avec la constitution qu'en ce qui concerne sa conformité avec les traités internationaux. L'avènement de la Vème République devait ébranler cette croyance en l'infaillibilité du Parlement, puisque les lois votées par lui pouvaient désormais être contrôlées par le Conseil constitutionnel avant leur promulgation. Certes, dans un premier temps, les juges maintinrent leur jurisprudence traditionnelle, mais à l'occasion de l'examen de la loi sur l'interruption volontaire de grossesse en 1975, le Conseil constitutionnel invita les juges ordinaires à contrôler la conformité de la loi aux traités internationaux. Certes, le principe de la supériorité des traités sur la loi posé par l'article 55 de la constitution est un principe constitutionnel, mais, selon lui, ce principe n'a pas pour effet de rendre inconstitutionnelle la loi qui contredit un traité international; elle est simplement une règle de conflit de règles de droit qui a pour effet d'habiliter le juge ordinaire à refuser d'appliquer la loi contraire à un traité 21 . En conséquence, la Cour de cassation, dès 1975,22 et le Conseil d'Etat, après des hésitations qui durèrent plus de 20 ans 23 , ont renversé leurs jurisprudences et ils admettent désormais que tous les juges ordinaires ont le pouvoir de ne pas appliquer une loi contraire à un traité international et aux règles de droit qui en dérivent, donc, en particulier, à l'ensemble du droit communautaire et à la Convention européenne des droits de l'homme 24 . Le droit public français est donc parvenu à une situation paradoxale: le juge ordinaire ne contrôle pas la conformité de la loi à la constitution nationale, mais il le fait par rapport à l'ensemble du droit européen. A cet égard, on ne peut pas accuser la jurisprudence française de nationalisme juridique! En revanche, le contrôle de la conformité au droit communautaire des règlements administratifs et des actes administratifs individuels émanant des autorités 20

Leurs textes sont cités au début de cette contribution. Conseil constitutionnel, n° 754-54 DC du 15 janvier 1975, Recueil 1995, p. 19 22 Cour de cassation, 24 mai 1975, Société Jacques Vabre, D 1975, p. 497, conclusions Touffait. 21

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Conseil d'Etat, 20 octobre 1989, Nicolo, Rec. p. 190, conclusions Frydman (contrôle de la conformité d'une loi à la Convention européenne des droits de l'homme); 24 septembre 1990, Boisdet, Recueil, p. 250 (contrôle de la conformité d'une loi à un règlement communautaire). 24 Lorsque le Conseil constitutionnel exerce les fonctions d'un juge ordinaire, par exemple lorsqu'il contrôle la conformité d'une élection parlementaire au regard de l'ensemble de la législation française, il contrôle lui-même la conformité au droit européen de la loi qu'il applique (par exemple, Conseil constitutionnel, n° 1082-1187 du 21 octobre 1988, Recueil, p. 183).

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françaises n'a jamais soulevé de difficultés particulières: le droit communautaire a toujours fait partie des règles de droit supérieures que devaient respecter tous les actes de l'exécutif, y compris les règlements émanant du Gouvernement (décrets) 25. De fait, chaque année, le recueil officiel des décisions du Conseil d'Etat contient, dans sa table analytique, une liste assez longue de décisions par lesquelles le juge administratif a annulé des actes individuels de l'administration ou encore déclaré „illégaux" des règlements du Gouvernement pour contrariété avec une disposition d'un traité européen (traité communautaire ou Convention européenne des droits de l'homme), d'un règlement communautaire ou d'une directive communautaire 26 . Par ailleurs, il existe un cas exceptionnel où le Conseil constitutionnel contrôle lui-même la conformité au droit européen de la loi soumise à son examen: c'est le cash lorsque la loi n'est constitutionnelle que si elle est elle-même conforme au droit européen. Dans la constitution française actuelle, la référence au droit européen se trouve aux articles 88-2 et 88-3 de la constitution. Le Conseil constitutionnel a déjà eu l'occasion de faire application de l'article 88-3 qui dispose: „Sous réserve de réciprocité et selon les modalités prévues par le traité sur l'Union européenne signé le 7 février 1992, le droit de vote et d'éligibilité aux élections municipales peut être accordé aux seuls citoyens de l'Union résidant en France". Le 20 mai 1998, le Conseil constitutionnel a justifié son contrôle de la conformité au droit communautaire de la loi „déterminant les conditions d'application de l'article 88-3 de la constitution" dans les termes suivants: „11 résulte de la volonté même du constituant qu'il revient au Conseil constitutionnel de s'assurer que la loi organique prévue par l'article 88-3 de la Constitution respecte tant le paragraphe 8 B précité du traité instituant la Communauté européenne relatif au droit de vote et d'éligibilité des citoyens de l'Union aux élections municipales que la directive du 19 décembre 1994 susmentionnée prise par le Conseil de l'Union européenne pour la mise en œuvre de ce droit". 27 En 1' espèce, les normes de référence utilisées pour le contrôle de constitutionalité sont non seulement le traité de- Maastricht lui-même, mais encore une simple directive communautaire, ce qui montre une nouvelle fois la volonté des juges français d'assimiler complètement le droit communautaire dérivé au droit communautaire originaire.

25 En ce qui concerne les directives communautaires, le Conseil d'Etat avait jugé dans un premier temps que celles-ci ne devaient être respectée que par les lois et règlements nationaux, ce qui était d'ailleurs conforme à la définition de la directive donnée par le traité sur la Communauté européenne (Conseil d'Etat, 22 décembre 1978, Cohn-Bendit, Recueil, p. 524); mais, dans un deuxième temps, sans doute pour ne pas contredire la Cour de justice des Communautés européennes, le Conseil d'Etat a accepté d'annuler des décisions administratives individuelles pour contrariété avec une directive, la seule trace de la jurisprudence antérieure étant que l'annulation est prononcée pour défaut de base légale et non pour violation directe de la règle de droit (Conseil d'Etat, 30 octobre 1996, Recueil, p. 307) 26 Par exemple, environ 35 décisions dans le recueil 1996 des décisions du Conseil d'Etat. 27 Conseil constitutionnel 20 mai 1998, Journal officiel du 26 mai 1998.

L'adaptation des sources du droit français au droit européen

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Conclusion Ainsi, en France, un effort considérable a été consenti tant par les titulaires du pouvoir constituant que par les juges français pour que le système juridique français s'intègre aussi harmonieusement que possible dans l'ordre juridique européen. Cette intégration a pris un aspect particulièrement spectaculaire tant en ce qui concerne l'adaptation de la constitution nationale aux exigences de la construction d'une Europe unie qu'en ce qui concerne le contrôle de la conformité au droit européen des lois, alors que ces textes sont traditionnellement considérés en France comme l'expression même de la souveraineté nationale. De ce fait, la France apparaît de plus en plus comme un État dont la souveraineté est certes toujours proclamée par la constitution et reconnue par les autres États, mais qui est néanmoins limitée par le droit de l'Union européenne et celui du Conseil de l'Europe. En effet, ces deux organisations créent ensemble un nombre considérable de règles de droit de rang supérieur et sont dotées d'un appareil judiciaire puissant. L'ordre juridique national est, de ce fait, de plus en plus subordonné à l'ordre juridique européen. Il se développe ainsi un phénomène de hiérarchisation des ordres juridiques qui recourt largement aux techniques éprouvées du fédéralisme, telles que le principe d'homogénéité constitutionnelle et celui de supériorité du droit de la Fédération sur le droit des États membres. Les juges français qui n'ont pas l'habitude de citer les décisions de justice se mettent de plus en plus à citer les décisions des deux cours européennes, leur réservant ainsi une place dans le système des sources du droit qu'ils n'accordent même pas aux décisions de leurs propres cours suprêmes (à l'exception, il est vrai, de celles du Conseil constitutionnel) Ainsi les États qui sont à la fois membres de l'Union européenne et du Conseil de l'Europe ne sont plus tout à fait des États pleinement souverains au sens classique du terme, mais plutôt des États en voie d'intégration dans l'Europe ou plus simplement des États dans l'Europe.

Die Europäisierung des Steuerrechts Von Heinrich List

I. Einleitung Der Jubilar hat viele Semester an der Universität Erlangen - Nürnberg Europarecht gelesen. Daneben hat er auch dem Steuerrecht sein schriftstellerisches Interesse in zahlreichen zum Teil grundsätzlichen Abhandlungen bekundet, vgl. z B. Ertragswertverfahren - sachgerechte Bewertung des Grundbesitzes (DB 1996, 595), Abkommensbruch durch Außensteuerrecht? Bilanz der Diskussion um die Novelle des Außensteuergesetzes von 1992 (RiW/AWD 1993, 1013). Es läßt sich daher sagen, daß Walter Leisner einen nicht unwesentlichen Teil seiner Lebensarbeit dem Thema Steuer- und Europarecht gewidmet hat. Schon dies wäre ein genügender Anlaß für einen entsprechenden Festschriftbeitrag. Das Thema hat jedoch noch dadurch eine besondere aktuelle Bedeutung erfahren, daß vom Jahr des 70. Geburtstags von Walter Leisner an die europäische Währungseinheit Euro gilt (vgl. Gesetz zur Einführung des Euro v. 9. 6. 1998, BGBl. 1 1998, 1242). Damit stellt sich naturgemäß die Frage, ob neben der Währung auch bereits das Steuerrecht europäisch geworden ist oder jedenfalls in welchem Zustand der Europäisierung die einzelnen Steuern sich befinden. Gegenstand dieser Abhandlung soll der Versuch sein, ein Gesamtbild des deutschen Steuerrechts zu geben, wie es unter dem Einfluß des primären Gemeinschaftsrechts oder der von den Organen der Gemeinschaft durch VOen, Richtlinien und Gerichtsentscheidungen sich derzeit darstellt. Zum Steuerrecht sollen in diesem Zusammenhang entsprechend § 3 Abs. 1 S. 2 AO auch die Zölle zählen.

II. Zölle 1. Gemeinschaftsrechtliche

Vorgaben

Eine der Grundfreiheiten des EGV ist der freie Warenverkehr. Als Grundlage für die Erreichung dieses Ziels bezeichnet Art. 9 EGV eine Zollunion, die sich auf den gesamten Warenaustausch erstreckt. Dazu gehört das Verbot, zwischen den Mit-

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gliedstaaten Ein- und Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher Wirkung zu erheben sowie die Einführung eines gemeinsamen Zolltarifs gegenüber dritten Ländern. Die Regelung des Art. 9 EGV wird ergänzt und konkretisiert durch Art. 12-17 EGV. Der gemeinsame Markt soll in einer Übergangszeit von zwölf Jahren in Schritten von je vier Jahren verwirklicht werden (Art. 7 EGV). Die Übergangszeit endet somit am 31. 12. 1969. Diese Frist gilt auch für die Zollunion.

2. Die Verwirklichung Die Zollunion wurde vor Ablauf der Übergangszeit, nämlich bereits am 1. 7. 1968 verwirklicht (vgl. E 66/532 des Rates). Ein wesentliches Element der Zollunion ist der Zolltarif, bestehend aus der Nomenklatur, d. h. den mit vier Zahlen bezifferten Warenbezeichnungen sowie dem anzuwendenden Zollsatz, bezogen auf den Zollwert der jeweiligen Ware. Der Gemeinsame Zolltarif wurde durch VO Nr. 950/68 v. 28. 6. 1968 (ABl Nr. L 172, 1) erstmals festgesetzt. Er wird jährlich von der Kommission auf den neuesten Stand fortgeführt Die tariflichen Warenbezeichnungen gewährleisten eine einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten. Der Begriff und die Merkmale des Zollwerts beruhten zunächst auf internationalen Vereinbarungen. Der für die EU maßgebende Zollwert wurde erstmals in der VO Nr. 1224 des Rates v. 28. 5. 1980 und in mehreren Durchführungsverordnungen geregelt. Nunmehr ist die Regelung mit im wesentlichen unverändertem Inhalt in Art. 28 - 36 der VO EWG Nr. 2913/92 v. 12. 10. 1992 (ABl Nr. L 302, berichtigt in ABl Nr. L 79, 84) zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften enthalten. Der Zollkodex regelt in 251 Artikeln das gesamte Zollverfahren, die Zollschuld mit Bezug zum Zolltarif und den Zollwert. Danach ist Zollwert der sog. Transaktionswert, d. h. der tatsächlich für die Ware bezahlte Preis. Die Durchführungsvorschriften zum Zollkodex enthält VO EWG Nr. 2454/93 v. 2. 7. 1993 (ABl Nr. L 253,1), die in 900 Artikeln und 113 Anhängen die Anwendung des Zollkodex regeln. Diese VO wird ergänzt durch die VO des Rates über das gemeinsame System der Zollbefreiungen (ABl Nr. L 105, 1) mit weiteren Ergänzungen.

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I I I . Umsatzsteuer 1. Gemeinschaftsrechtliche

Vorgaben

a) EU-Vertrag Bei Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung und den mengenmäßigen Beschränkungen waren die Mitgliedstaaten von Anfang an zum Abbau verpflichtet (vgl. Art. 9 Abs. 1 EGV). Demgegenüber heißt es in dem durch Art. 17 der Einheitlichen Europäischen Akte neugefaßten Art. 99 EVG: „Der Rat erläßt ... Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern soweit diese Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes innerhalb der in Art. 7a gesetzten Frist notwendig ist". Art. 7a EGV sieht vor, daß der Binnenmarkt bis zum 31. 12. 1992 verwirklicht wird. Die Harmonisierung der Umsatzsteuer (USt) ist daher mit der Verwirklichung des Binnenmarktes verknüpft und fristgebunden. b) Richtlinien Die Harmonisierung der USt hat sich in mehreren Stufen vollzogen, die durch folgende Richtlinien (Art 189. Abs. 1 EGV) gekennzeichnet ist: aa) 1. und 2. EWG-Richtlinie Die 1. Richtlinie des Rates 67/227 EWG v. 11. 4. 1967 (ABl EWG, 1300) verpflichtete die damaligen sechs Mitgliedstaaten, ihr USt-System durch ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem mit Vorsteuerabzug zu ersetzen. Die 2. Richtlinie des Rates 67/228 EWG v. 11. 4. 1967 (ABl EWG 1967, 1303) setzte Struktur und Modalitäten für die Anwendung der Mehrwertsteuer fest. Danach sollen grundsätzlich nur entgeltliche Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen sowie die Einführung von Gegenständen der USt unterliegen. Der Vorsteuerabzug ist ein Sofortabzug nur bei Umsätzen zwischen Unternehmern, nicht aber bei nicht steuerbaren oder steuerfreien Umsätzen. Damit war der Wechsel von der bisherigen Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer zu dem Mehrwertsteuersystem gemeinschaftsrechtlich vollzogen. bb) Die 6. Richtlinie Diese Richtlinie 77/338 EWG v. 17. 5. 1977 (ABl EG 1977 Nr. L 143, 1) hat nach der Präambel das Ziel, die Besteuerung der Einfuhr und die steuerliche Entlastung im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen und zugleich die Neutralität des gemeinsamen USt-Systems in bezug auf den Ursprung der Gegenstände und Dienstleistungen zu wahren, damit ein gemeinsamer Markt

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verwirklicht wird. Diesem Ziel dient eine Reihe von Änderungen, die vor allem die Besteuerungstatbestände vereinheitlichen, nicht aber die Steuersätze.

cc) Binnenmarktrichtlinie Die als Binnenmarktrichtlinie bezeichnete Richtlinie 91/680/EWG v. 16. 12. 1991 (ABl EG Nr. L 376, 1) dient der Verwirklichung des Binnenmarktes, der nach Art. 7a Abs. 1 EGV einen Raum ohne Binnengrenzen umfaßt, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet wird und der bis zum 31. 12. 1992 zu verwirklichen ist. Mit dieser Richtlinie wurde die 6. EG-Richtlinie im Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen umfassend geändert und in diese als Art. 28a bis 28p eingearbeitet. Die Mitgliedstaaten wurden verpflichtet, ihre Gesetze usw. bis zum 1.1. 1993 an diese Richtlinien anzupassen.

dd) Vereinfachungsrichtlinie Die Richtlinie 92/111 EWG v. 14. 12. 1992 (ABl EG Nr. L 384, 47) ändert und ergänzt die Binnenmarktrichtlinie. Die beiden Richtlinien stellen insoweit eine Übergangsregelung dar als das Bestimmungslandprinzip an Stelle des vorgesehenen Ursprungslandprinzips beibehalten wird. Im Kern sehen die Richtlinien die Abschaffung der Binnengrenzen im innergemeinschaftlichen Handelsverkehr und deshalb die Beseitigung der Einfuhr-USt vor. Diese soll ersetzt werden durch eine Steuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb, die von dem Abnehmer der Ware zu zahlen ist und von diesem als Vorsteuer geltend gemacht werden kann. Im nichtkommerziellen Reiseverkehr wird die in einem anderen Land erworbene Ware dort versteuert - Ursprungslandprinzip - und bleibt im Heimatland steuerfrei. Gegenüber dritten Staaten verbleibt es bei der Einfuhr-Umsatzsteuer.

c) Die Zusammenarbeits-VO Die VO 218/92 EWG des Rates v. 27. 1. 1992 (ABl EG Nr. L 24, 1) regelt die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Mehrwertsteuervorschriften. Danach sollen zur Kontrolle des Warenverkehrs sog. USt-Identifikationsnummern eingeführt werden (Art. 6 der VO), die jeder Unternehmer erhält, der aus anderen Mitgliedstaaten Waren erwirbt oder in andere Mitgliedstaaten ausführt. Weitere Richtlinien regeln einzelne Sachverhalte und passen deren Besteuerung in das Steuersystem an (vgl. z. B. Reise-Richtlinie 69/169 EWG v. 28. 5. 1969, zuletzt geändert durch Richtlinie 94/4 EG v. 14. 2. 1994, Abi EG Nr. L 60, 14).

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2. Umsetzung in innerstaatliches Recht Die Richtlinien stellen kein unmittelbar anwendbares Recht dar. Sie sind an die Mitgliedstaaten gerichtet und für diese verbindlich. Die Mitgliedstaaten haben die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Dies ist geschehen für die

a) 1. und 2. Richtlinie durch das am 1. 1. 1968 in Kraft getretene UStG 1967 (BGBl. 1 1967, 545). Mit diesem Gesetz trat anstelle der bisherigen Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer das System der Allphasen-Netto-Umsatzsteuer. b) 6. Richtlinie Durch das UStG 1980 v. 26. 11. 1979 (BGBl. 1 1979, 1953, berichtigt in BGBl. I 1980, 137), in Kraft getreten am 1. 1. 1980, wurde die 6. EG-Richtlinie in nationales Recht umgesetzt. Dieses Gesetz brachte umfangreiche Änderungen, die vor allem eine einheitliche steuerliche Bemessungsgrundlage zum Inhalt hatten.

c) Binnenmarktrichtlinie Durch das USt-Binnenmarktgesetz vom 25. 8. 1992 (BGBl. I 1993, 565), in Kraft getreten am 1. 1. 1993, wurde diese Richtlinie umgesetzt. Das Binnenmarktgesetz hat zum Gegenstand die aus dem Wegfall der Binnengrenzen folgenden notwendigen Regelungen, nämlich eine Neuordnung der - territorialen Begriffe: Gemeinschaftsgebiet umfassend das deutsche Inland und die Gebiete der übrigen Mitgliedstaaten, die nach dem Gemeinschaftsrecht als Inland dieser Mitgliedstaaten gelten, - Wegfall der Einfuhr-USt im innergemeinschaftlichen Warenverkehr, - Einführung von USt-Identifikationsnummern zur Kontrolle des Warenverkehrs, - anstelle des Tatbestandes der Einfuhr tritt im innergemeinschaftlichen Handelsverkehr der Tatbestand des innergemeinschaftlichen Erwerbs. d) Weitere Richtlinien Weitere Richtlinien zu einzelnen umsatzsteuerlichen Sachverhalten, die nach der Binnenmarktrichtlinie ergangen sind, wurden durch nachfolgende USt-Änderungsgesetze umgesetzt. Zuletzt hat das USt-Änderungsgesetz 1997 v. 12. 12. 1996 (BGBl. I 1996, 1851) in genauer Umsetzung des Art. 8 der 6. EG-Richtlinie den

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bisher als Reihengeschäft bezeichneten Vorgang von mehreren Lieferungen in der Reihe völlig neu geregelt. Diese Neuregelung gilt nicht nur innergemeinschaftlich, sondern auch im Verhältnis zu Drittländern. Es wird bei diesen Geschäften der Ort der Lieferung entsprechend der Richtlinienvorgabe der Ort bestimmt, an dem sich die Ware im Zeitpunkt der Lieferung befindet.

IV. Verbrauchsteuern 1. Gemeinschaftsrechtliche

Vorgaben

a) EG-Vertrag Ebenso wie die USt wirken sich auch Verbrauchsteuern unmittelbar auf den Preis von Waren und Dienstleistungen aus. Deshalb sieht Art. 99 EGV auch ein Harmonisierungsgebot für Verbrauchsabgaben und sonstige indirekte Steuern vor, soweit diese Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlich ist, innerhalb der Frist bis zum 31. 12. 1992 (Art. 7a EGV). Diese Harmonisierung stellte sich als langwierig und schwierig heraus.

b) Richtlinien Die Schaffung des Binnenmarktes bildete jedoch den Anlaß für den Erlaß eines umfangreichen Regelwerkes, das mehrere Richtlinien umfaßt. aa) Die System - und Beförderungsrichtlinie Diese Richtlinie 92/12 EWG v. 25. 2. 1992 (ABl Nr. L 76. 1) und die Richtlinie 92/108 EWG v. 14. 12. 1992 (ABl 1992 Nr. L 390, 124) regeln das innergemeinschaftliche Beförderungsverfahren, d. h. die Bedingungen für den Versand und den Empfang von verbrauchsteuerpflichtigen Waren, die einer harmonisierten Verbrauchsteuer auf Tabakwaren, Alkohol und alkoholische Getränke und Mineralöle unterliegen. bb) Die Struktur-Richtlinien Sie bestimmen die einzelnen verbrauchsteuerpflichtigen Waren, die Entstehung des Steueranspruches und die Steuerbefreiungen. Im einzelnen handelt es sich um die - Struktur-Richtlinie Mineralöl Die Richtlinie 92/81 EWG v. 19. 10. 1992 (ABl Nr. L 116, 12) definiert die Erzeugnisse, die als Mineralöle gelten und regelt Steuerbefreiungen.

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- Struktur-Richtlinie Alkohol Die Richtlinie 92/83 EWG v. 19. 10. 1992 (ABl EG Nr. L 316, 21) enthalt Rahmenbestimmungen für Bier, Wein und gegorene Getränke. Von Bedeutung sind die in Art. 27 vorgesehenen Steuerbefreiungen in beträchtlichem Umfang. - Struktur-Richtlinie Tabak Die Richtlinie 72/464 EWG v. 19. 12. 1972 (ABl EG Nr. 303, 1), zuletzt geändert durch die Richtlinie 92/78 EWG v. 19. 10. 1992 (ABl Nr. L 316, 5) enthalten die grundlegenden Rahmenbestimmungen zur Beseitigung der Verbrauchsteuergrenzen sowie eine einheitliche Definition für Tabakwaren. cc) Die Steuersatz-Richtlinien Diese legen die Steuersätze für die einzelnen verbrauchsteuerpflichtigen Erzeugnisse fest. Dabei wurde fast allen Mitgliedstaaten gestattet, für bestimmte Erzeugnisse oder in bestimmten Regionen ermäßigte Steuersätze anzuwenden. Im einzelnen handelt es sich um die Richtlinien - 92/82 EWG v. 19. 10. 1992 (ABl Nr. L 316,19), Mineralöl, - 92/84 EWG v. 19. 10. 1992 (ABl Nr. L 316, 29), Alkohol und alkoholische Getränke, - 92/79 EWG v. 19. 10. 1992 (ABl Nr. L 316, 8), Zigaretten, - 92/80 EWG v. 19. 10. 1992 (ABl Nr L 316, 10), andere Tabakwaren als Zigaretten 2. Umsetzung in das innerstaatliche Recht Die unter IV 1 b aufgeführten Richtlinien wurden durch das Gesetz zur Anpassung von Verbrauchsteuer- und anderen Gesetzen an das Gemeinschaftsrecht sowie zur Änderung anderer Gesetze (Verbrauchsteuer-Binnenmarktgesetz) v. 21. 12. 1992 (BGBl. I, 2150) in nationales Recht umgesetzt. Dabei wurden folgende Gesetze neu geordnet: Tabaksteuergesetz, Biersteuergesetz, Branntweinmonopolgesetz, Gesetz zur Besteuerung von Branntwein und Zwischenerzeugnissen, Mineralölsteuergesetz und Kaffeesteuergesetz.

V. Direkte Steuern 7. Gemeinschaftsrechtliche

Vorgaben

EG-Vertrag Während für die USt, die Verbrauchsabgaben und die sonstigen indirekten Steuern gemäß Art. 99 LV ein Harmonisierungsgebot besteht, gibt es für direkte Steuern keine ähnliche Regelung. Da jedoch Besteuerungsunterschiede bei den direk9 FS Leisner

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ten Steuern, wie z. B. bei der Körperschaftsteuer, nach dem Bericht des RudingAusschusses (DB Beilage 5/92 zu Heft Nr. 16 v. 7. 4.1992) bei grenzüberschreitendem Einkommen und Investitionen die Standortwahl beeinflussen und zu Wettbewerbsverzerrungen führen können, so erschien auch eine gewisse Angleichung der direkten Steuern zur Verwirklichung des Binnenmarktes erforderlich. Als Rechtsgrundlage dafür konnte Art. 100 EGV dienen, der den Erlaß von Richtlinien zur Angleichung von Rechtsvorschriften vorsieht, die sich unmittelbar oder mittelbar auf das Funktionieren des gemeinsamen Marktes auswirken. In langwierigen Verhandlungen gelang es jedoch nur in weniger bedeutenden Bereichen der Unternehmensbesteuerung Richtlinien zu verabschieden.

2. Richtlinien a) Fusions-Richtlinie Die Richtlinie 290/424 EWG v. 23. 7. 1990 (ABl Nr. L 225, 1) hat zum Gegenstand das gemeinsame Steuersystem von Fusionen, Spaltungen, Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen. Die Richtlinie beschreibt die einzelnen Tatbestände, definiert die maßgeblichen Begriffe und stellt Regeln für die steuerliche Behandlung auf. b) Mutter-Tochter-Richtlinie Die Richtlinie 290/43 EWG v. 23. 7. 1990 (Abi Nr. L 225, 6) über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten bezweckt die Beseitigung von steuerlichen Mehrfachbelastungen bei grenzüberschreitenden Gewinnausschüttungen einer Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft. c) Schiedsübereinkommen Das Übereinkommen 90/436 EWG v. 23. 7. 1990 (Abi Nr. L 225, 10) sieht die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen vor. Zweck des Abkommens ist, bei Gewinnberichtigung die Anerkennung einheitlicher Verrechnungspreise zwischen verbundenen Unternehmen durch die Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten zu erreichen.

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3. Umsetzung in innerstaatliches Recht a) Fusionsrichtlinie Im Rahmen des StÄndG 1992 v. 25. 2. 1992 (BGBl. I, 297) sind die Fälle der Einbringung und des Anteilstausches in nationales Recht umgesetzt worden. Zu diesem Zweck wurde der bisher in § 20 Abs. 3 UmwStG vorgesehene zwingende Teilwertansatz bei Einbringungen durch beschränkt Stpfl. für Einbringungen durch EG-Kapitalgesellschaften aufgehoben. Ebenso wurde für den Austausch von Anteilen, wenn daran eine Kapitalgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat beteiligt ist, verfahren. Im übrigen setzt § 23 UmwStG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des UmwStG v. 28. 10. 1994 (BGBl. 1 1994, 3267) nur die Regelung über die Einbringung um. Von Bedeutung ist dabei immer, daß eine EU-Kapitalgesellschaft und ein Betrieb, ein Teilbetrieb oder eine Betriebstätte eingebracht wird. Die Einbringung führt nicht zur Aufdeckung stiller Reserven, wenn das eingebrachte Betriebsvermögen mit den Buchwerten weitergeführt wird und die einbringende Gesellschaft neue Anteile an der übernehmenden Gesellschaft erhält. Nach der nunmehr geltenden Fassung des UmwStG ist der Anteilstausch in § 23 Abs. 4 geregelt. Die Voraussetzungen der Einbringung sind im einzelnen hier geregelt, ebenso die Bewertung der eingebrachten und übernommenen Anteile.

b) Mutter-Tochter-Richtlinie Sie wurde durch das StÄndG 1992 v. 25. 2. 1992 (BGBl. I, 297) in der Weise umgesetzt, daß § 44d in das EStG eingefügt wurde. Diese Vorschrift sieht entsprechend der Richtlinie vor, daß die deutsche Quellensteuer auf Dividenden bei Zahlung an eine EU-Muttergesellschaft ab 1. 7. 1996 auf 0% gesenkt wird. In § 50d EStG ist das Freistellungsverfahren für Quellensteuer aus Dividenden eingeführt worden.

VI. Europäisierung durch EuGH 1. EU-Vertrag Nach Art. 164 EGV sichert der Gerichtshof die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages. Aus Art. 177 EGV ergibt sich als Zuständigkeit des EuGH u. a. die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen, in diesem Zusammenhang über steuerrechtliche Fragen, die ihm von den FGen oder vom BFH vorgelegt werden oder vorgelegt werden müssen (BFH gem. Art. 177 Abs. 3 EGV). 9*

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Wie bedeutsam dieses Vorlageverfahren ist, zeigt sich in den Zahlen der Vorlagen. Danach sind z.Zt. beim EuGH 85 Verfahren, zumeist Vorlagefragen von FGen, anhängig (Hirsch, DStZ 1998, 489) Der BFH allein hat insgesamt in 123 Fällen vorgelegt, davon 13 USt-Fragen, 77 Zoll- und 27 Marktordnungsfragen. Was nun die Einwirkung der Rechtsprechung des EuGH auf das Steuerrecht betrifft, ist zu unterscheiden zwischen einerseits den steuerrechtlichen Regelungen des Gemeinschaftsrechts, d. h. solchen Regelungen, die durch Handlungen von Organen der Gemeinschaft geschaffen wurden wie steuerrechtliche VOen oder Richtlinien, und andererseits zwischen den nationalen steuerrechtlichen Regelungen zu den direkten Steuern (Hirsch, a. a. O.)

2. Die EuGH-Rechtsprechung zu den einzelnen Steuern a) Zölle Das Zollrecht ist, wie unter II dargestellt, vollkommen harmonisiert. D.h., daß das Zollrecht, bestehend aus tariflichen Warenbezeichnung, Bemessungsgrundlage und Verfahren (Zollkodex), gemeinschaftsrechtlich geregelt ist. Die vorgelegten Rechtsfragen betreffen vor allem die Auslegung von Warenbezeichnungen oder die Bemessungsgrundlage. Da die tariflichen Warenbezeichnungen eine einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten gewährleisten, dürfen die Mitgliedstaaten keine verbindlichen Regeln über deren Auslegung erlassen (EuGH v. 18. 2. 1970 Rs. 40/69, EuGHE 1970, 69, v. 8. 12. 1970 Rs. 14/70, EuGHE 1970,

1001) b) Umsatzsteuer Die USt ist durch die unter III aufgeführten Richtlinien weitgehend harmonisiert. Die Rechtsprechung des EuGH hat es vielmals damit zu tun, ob diese Richtlinien zutreffend in nationales Recht umgesetzt worden sind oder ob Begriffe des nationalen USt-Rechts den entsprechenden Begriffen der Richtlinien entsprechen. Das EuGH-Urt. v. 16. 10. 1997 Rs. C - 258/95, Fillibeck (DB 1997, 2580) z. B. hat die Auslegung des Art. 2 Nr. 1 und Art. 6 Abs. 2 der 6. EG-Richtlinie zum Gegenstand. Danach unterliegen der Mehrwertsteuer Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Stpfl. als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt (Art. 2 Nr. 1). Nach Art. 6 Abs. 2 werden den Dienstleistungen gegen Entgelt gleichgestellt die Verwendung von Unternehmensgegenständen für private Zwecke und die unentgeltliche Erbringung von Dienstleistungen für unternehmensfremde Zwecke. Der angefühlten Entscheidung des EuGH liegt der Sachverhalt zugrunde, daß der Bauunternehmer Fillibeck Arbeitnehmer in firmeneigenen Fahrzeugen unentgeltlich von deren Wohnung auf die verschiedenen Baustellen, bei denen sie einge-

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setzt waren, beförderte. Zusätzlich beförderte im gleichen Zeitraum im Auftrag der Firma einer ihrer Arbeitnehmer in seinem Privatfahrzeug Arbeitnehmer von deren Wohnung zu den jeweiligen Einsatzstellen. Der BFH hat zu diesem Sachverhalt drei Fragen dem EuGH vorgelegt. Der EuGH hat nun entsprechend den gestellten Fragen Art. 2 Nr. 1 der 6. EGRichtlinie dahin ausgelegt, daß die unentgeltliche Beförderung der Arbeitnehmer keine Dienstleistung gegen Entgelt darstellt. Denn Entgelt setze das Bestehen eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen der erbrachten Dienstleistung und dem Empfang eines Gegenwertes voraus. Auf eine weitere vorgelegte Frage legt der EuGH Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie dahin aus, daß die Beförderung der Arbeitnehmer grundsätzlich dem privaten Bedarf der Arbeitnehmer und damit unternehmensfremden Zwecken dient. Die Besonderheiten der Bauunternehmen können jedoch darauf hindeuten, daß die Beförderung Zwecken dient, die nicht unternehmensfremd sind.

c) Direkte Steuern Anders als bei Zöllen und USt beruhen die durch nationales Recht geregelten direkten Steuern nicht auf Gemeinschaftsrecht oder in nationales Recht umgesetztes Gemeinschaftsrecht. Doch auch sie müssen sich an Gemeinschaftsrecht messen lassen und zwar an den Grundfreiheiten des freien Warenverkehrs (Art. 30 ff.), der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 48 ff.) sowie des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs (Art. 67 ff.). Hierzu gehört auch noch das Diskriminierungsverbot (Art. 6 EGV), das jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet. Auch dieser Artikel schafft ein Grundrecht. Diese Grundfreiheiten sind zwar an die Mitgliedstaaten adressiert. Diese müssen aber die ihnen zustehenden Befugnisse unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben (vgl. EuGH-Urt. v. 4. 10. 1991 Rs. C - 246/89, Slg. 1991 I - 4585 Rdnr. 12). Die Grundfreiheiten räumen aber auch den Bürgern der Gemeinschaft zugleich subjektive Rechte ein (Hirsch, DStZ 1998, 489, 491). In einer Reihe von Entscheidungen hat nun der EuGH das nationale Steuerrecht der direkten Steuern an diesen Grundfreiheiten gemessen. Für das deutsche Einkommensteuerrecht wird dies gerade beispielhaft gezeigt durch die Entscheidung des EuGH v. 14. 2. 1995 Rs. C - 279/93, FA Köln-Altstadt / Roland Schumacker (IStR 1995, 126), der folgender Sachverhalt zugrunde lag: Ein belgischer Staatsangehöriger mit Wohnung in Belgien, dort auch verheiratet, war in der fraglichen Zeit für einen belgischen Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland tätig. Von seinem Arbeitslohn wurde in Deutschland Lohnsteuer nach der Steuerklasse I einbehalten und an das FA abgeführt. Den Antrag des Stpfl., die Lohnsteuer nach Steuerklasse III zu berechnen, lehnte das FA ab. Damit wurde der Kläger wie ein lediger Arbeitnehmer besteuert (§ 38b S. 2 Nr. 1 EStG). Ihm wurde

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weder ein sog. Kinderfreibetrag (§ 32 Abs. 6 EStG) noch der Splittingtarif für verheiratete und zusammenlebende Ehegatten (§§ 26, 26b EStG) gewährt. Auf die Vorlage des BFH gemäß Art. 177 EGV v. 14. 4. 1993 I R 29/92 (BFHE 170, 454, BStBl I I 1994, 27) hat der EuGH entschieden: Art. 48 Abs. 1 EGV (Freizügigkeit der Arbeitnehmer) ist so auszulegen, daß Art. 48 das Recht eines Mitgliedstaates auf Besteuerung des in seinem Hoheitsgebiet von Angehörigen eines anderen Mitgliedstaates erzielten Einkünfte insoweit einschränken kann, als er es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates, der in Ausübung der Freizügigkeit eine nichtselbständige Tätigkeit ausübt, bei der Erhebung der direkten Steuern schlechter zu behandeln als einen eigenen Staatsangehörigen in vergleichbarer Lage. Art 48 EGV steht einer höheren Besteuerung eines ausländischen Arbeitnehmers aus einem anderen Mitgliedstaat insbesondere dann entgegen, wenn dieser Arbeitnehmer sein Einkommen ganz oder fast ausschließlich aus der Beschäftigung in dem Mitgliedstaat erzielt, in dem er tätig ist und im Wohnsitz-Mitgliedstaat keine ausreichenden Einkünfte erzielt, um dort seiner persönlichen Lage und dem Familienstand entsprechend besteuert zu werden Und schließlich entnimmt der EuGH dem Art. 48 des Vertrages, es stehe diesem entgegen, daß Vorschriften, die den Lohnsteuerjahresausgleich und die Einkommensteuerveranlagung für Gebietsansässige vorsehen und natürliche Personen, die in diesem Mitgliedstaat weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, hier aber Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit erzielen; davon ausgeschlossen sind. Unterschiedliche Auffassungen bestehen darüber, ob die für den Bereich des Einkommens- und Körperschaftsteuerrechts entscheidende Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz dem EuGH eine unmittelbare Einflußnahme auf dieses Steuergebiet verschafft. Das Bilanzrecht hat durch drei EG-Richtlinien eine gemeinschaftsrechtliche Ausrichtung erfahren, nämlich durch die - 4. EG-Richtlinie zur Koordinierung des Gesellschaftsrechtsrechts ABl v. 14. 8. 1978 Nr. L222/11 -13, - 7. EG-Richtlinie v. 13. 6. 1983 ABl v. 18. 7. 1983 Nr. L 193 1 /17, - Konzernrechnungsrichtlinie betreffend den konsolidierten Abschluß, - 8. EG-Richtlinie v. 10. 4. 1984, ABl v. 12. 5. 1984 Nr. L 126/20 - 26, - Abschlußrichtlinie betreffend die Zulassung der mit der Pflichtprüfung beauftragten Personen. Diese Richtlinien wurden in nationales Recht umgesetzt durch das Gesetz zur Durchführung der Vierten, Siebenten und Achten Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften zur Koordinierung des Gesellschaftsrechts (Bilanzricht-

Die Europäisierung des Steuerrechts

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liniengesetz - BiRiLiG - v. 19. 12. 1985, BGBl. I, 2355), in Kraft getreten am 1. 1. 1986. Mit Beschluß v. 21. 7. 1994 (DStR 1998, 383 m. Anm. Witte) hat der BGH im Fall Tomberger gemäß Art. 177 EGV dem EuGH eine bilanzrechtliche Frage vorgelegt. In diesem Vorlagebeschluß ging es um die verbindliche Aktivierung eines künftigen erst durch den Gewinnverwendungsbeschluß entstehenden Ausschüttungsanspruchs. Der BGH hat dies unter bestimmten Voraussetzungen befürwortet. Nach Auffassung des BGH ging es dabei um die Auslegung des in § 252 HGB formulierten Realisationsprinzips, durch den Art. 31 Abs. 1 Buchst, c Abs. aa der 4. EG-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt wurde. In dem Urteil v. 27. 6. 1996 Rs. C - 293/84 - Tomberger - Gebrüder von der Wettern GmbH (EuGHE 1996, 3145) hat der EuGH entschieden, daß unter bestimmten im Urteil angefühlten Voraussetzungen die Auffassung des BGH nicht gegen den Grundsatz der Bilanzwahrheit verstoße. Im Schrifttum wurden zu dieser Entscheidung des EuGH sehr unterschiedliche Auffassungen zu der Frage vertreten, ob auch für den BFH in bilanzsteuerrechtlichen Fragen eine Vorlagepflicht besteht (vgl. Weber-Grellet, DB 1996, 289 einerseits und Groh, DStR 1996, 1206 andererseits). Es könnte sein, daß die hier streitige Frage nach weiterer Klärung i. S. einer Vorlagepflicht entschieden werden könnte und damit eine Entscheidungskompetenz des EuGH auch in bilanzsteuerrechtlichen Fragen in Betracht kommen könnte.

3. Umsetzung in nationales Recht Die Entscheidung des EuGH in der Sache Schumacher wurde durch Art. 1 des Jahressteuergesetzes 1996 v. 11. 10. 1995 (BGBl. I, 1250, BStBl I, 438) in der Weise umgesetzt, daß § 1 Abs. 3 EStG geändert wurde. Danach werden auf Antrag natürliche Personen als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt, die im Inland weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, soweit sie inländische Einkünfte haben, wenn diese mindestens zu 90 v. H. der deutschen Einkommensteuer unterliegen oder die nicht den deutschen Einkommensteuern unterliegenden Einkünfte nicht mehr als 12.000 DM betragen. Diese Regelung wird aber schon wieder dadurch in Frage gestellt, daß nach einer neueren EuGH-Entscheidung in einem niederländischen Verfahren (EuGH v. 27. 6. 1996 Rs. C - 107/74, Asscher (Slg. 1996,13089, DB 1996, 1604) ein nationaler Gesetzgeber beschränkt und unbeschränkt Stpfl. auch dann nicht einem unterschiedlichen Steuersatz unterwerfen darf, wenn der beschränkt Stpfl. im Inland weniger als 90 v.H. seines Einkommens erzielt. Um die 90 v.H.-Grenze geht es auch in einem bereits beim EuGH anhängigen Verfahren (Rs. C - 39 1/97, Gschwind). Hier wurde einem in den Niederlanden mit Familie ansässigen, in Deutschland tätigen Arbeitnehmer der Splittingtarif

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versagt, weil die in Deutschland zu versteuernden Einkünfte weniger als 90 v. H. der Einkünfte betrugen. Um das gleiche Problem geht es in dem Aussetzungsbeschluß des BFH v. 24. 3. 1998 I B 100/97 (DB 1993, 1494).

VII. Schlußbetrachtung Nur skizzenhaft und in den Grundsätzen konnte der einleitend gestellten Frage nachgegangen werden. Schon dabei hat sich herausgestellt, daß das deutsche Steuerrecht im Bereich der Zölle und Verbrauchsteuern völlig, im Bereich der USt in weitem Umfang europäisiert ist. Die entsprechenden Harmonisierungsgebote des EU-Vertrages sind vollzogen und befinden sich in ständigem Vollzug. Das Recht der direkten Steuern wird auf einem anderen Wege, nämlich dadurch europäisiert, daß es durch EuGH-Entscheidungen laufend an den Grundfreiheiten des Vertrages gemessen und, soweit sie diesen nicht entsprechen, durch den EuGH darauf ausgerichtet werden. Der EuGH setzt dabei in einzigartiger Weise das Gemeinschaftsrecht mit folgenden Grundsätzen durch: - Das Gemeinschaftsrecht hat unmittelbare Wirkungen, erzeugt unmittelbare Rechte, wenn das Gemeinschaftsrecht von den Mitgliedstaaten nicht umgesetzt wird. - Ist Gemeinschaftsrecht in nationales Recht umgesetzt, kann sich der Einzelne auf das Gemeinschaftsrecht berufen, wenn das umgesetzte Gemeinschaftsrecht nicht z. B. richtlinienkonform ist. - Das Gemeinschaftsrecht hat Vorrang vor dem nationalen Recht (vgl. hierzu Beermann, ZfZ 1989 Sonderdruck, 14,16). Es ist nicht zu verkennen, daß die laufend zu einzelnen Sachverhalten ergehenden Richtlinien und zu Einzelfällen ergehenden EuGH-Entscheidungen erhebliche Unruhe und Unsicherheit in das deutsche Steuerrecht bringen. Die Anwendung wird schon aus diesem Grunde schwieriger, aber auch deshalb, weil von gebräuchlichen Begriffen des deutschen Rechts abweichende Begriffe verwendet werden, deren Interpretation oft zu Vorlagen an den EuGH veranlaßt. Abschließend läßt sich vielleicht sagen, daß das deutsche Steuerrecht sich derzeit in einem ähnlichen Zustand der Unruhe befindet wie seinerzeit in den 60er und 70er Jahren, als das deutsche Steuerrecht vermehrt an den Grundsätzen des Verfassungsrechts gemessen wurde und oftmals daran scheiterte. An die Stelle der seinerzeitigen verfassungsrechtlichen Zweifel an Vorschriften des Steuerrechts sind nun die gemeinschaftsrechtlichen getreten. Wie damals ist auch jetzt Unruhe und Unsicherheit ein durch die Europäisierung bedingtes Element des Steuerrechts.

Schutzgegenstand und materielle Schutzvoraussetzungen in den europäischen Entwürfen zum Geschmacksmusterrecht Von Winfried

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I . Einführung 1. Die Spannungen zwischen den Erfordernissen des grenzüberschreitenden, insbesondere internationalen Wirtschaftsverkehrs einerseits und den am Territorialitätsprinzip orientierten unabhängig voneinander bestehenden nationalen gewerblichen Schutzrechten sowie des Urheberrechts andererseits sind vom Beginn einer modernen Gesetzgebung zum Schutz des „geistigen Eigentums" 1 an gesehen worden 2 . In bundesstaatlichen Verfassungen gehören die gewerblichen Schutzrechte und das Urheberrecht zu den typisch der legislativen Bundeskompetenz zugewiesenen Materien des Privatrechts 3 . In den internationalen Beziehungen ist der Aus1 Vgl. zur Begriffsgeschichte, insbesondere zum heute wieder zunehmenden Gebrauch des Ausdrucks auch in der Bundesrepublik, unter dem Einfluß vor allem des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes (Art. 14 GG) und der Terminologie in den internationalen Abkommen, insbesondere auch auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften (vgl. insbesondere Art. 36 EGV [„Schutz des gewerblichen oder kommerziellen Eigentums"] sowie Art. 222 EGV [„Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten"], ferner etwa die Terminologie in den Tätigkeitsberichten sowie im Bulletin der EG bzw. EU) Wadle, Zur Wiederkehr der Formel „Geistiges Eigentum", in: derselbe, Geistiges Eigentum. Bausteine zur Rechtsgeschichte (1996) S. 3 ff. m. w. Nachw. 2 Vgl. zur historischen Entwicklung des gewerblichen Rechtsschutzes, insbesondere in England, Frankreich, den USA und Deutschland den Überblick bei Hubmann, Gewerblicher Rechtsschutz (5. Aufl. 1988) § 2; zur historischen Entwicklung des Urheberrechts vgl. Rehbinder, Urheberrecht (9. Aufl. 1996) § 3. Zur Entwicklung in Deutschland vgl. Wadle, Der Weg zum gesetzlichen Schutz des geistigen und gewerblichen Schaffens. Die deutsche Entwicklung im 19. Jahrhundert, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht in Deutschland. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht und ihrer Zeitschrift. Herausgegeben von der Vereinigung durch Friedrich-Karl Beier, Alfons Kraft, Gerhard Schricker und Elmar Wadle, Bd. I (1991) S. 93 ff., 177: „Der Werdegang der deutschen Gesetzgebung zum Schutz des gewerblichen und geistigen Eigentums steht von Anfang an im Spannungsfeld von Territorialprinzip einerseits und internationalem Austausch andererseits." 3 Vgl. Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaates in rechtsvergleichender Sicht (1977) S. 137 ff. sowie insbesondere die synoptische Darstellung für die USA,

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gleich Aufgabe des Konventionsrechts. Dies belegen i m Deutschland des 19. Jahrhunderts die Verträge und Beschlüsse innerhalb des Deutschen Bundes zum Urheberrecht 4 sowie die Abreden i m Zollverein über den Marken- und Erfinderschutz 5 , i m weitergehenden internationalen Maßstab die ersten großen multilateralen Abkommen zur Privatrechtsvereinheitlichung, die Pariser Verbandsübereinkunft vom 20. 3. 1883 zum Schutz des gewerblichen Eigentums und die Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst vom 9. 3. 1886. Die Übereinkommen in ihren mehrfach revidierten Fassungen und mit ihren Nebenabkommen sind geprägt von den Prinzipien der Inländerbehandlung und des Mindestschutzes, gewährleisten eine Unionspriorität und die Möglichkeit internationaler Anmeldung 6 , haben aber i m übrigen keine Rechtsvereinheitlichung geschaffen und das Territorialitätsprinzip nicht berührt. Zu einer zentralisierenden Vereinheitlichung lediglich des Patenterteilungsverfahrens hat das außerhalb des Europäischen Gemeinschaftsrechts stehende Übereinkommen über die Erteilung europäischer Patente vom 5. 10. 1973 geführt, während das aus i h m entstehende Bündel nationaler Patente, Kanada, Australien, Schweiz, Bundesrepublik Deutschland, Ziff. 3.6 „Immaterialgüterrechte", S. 224 ff., S. 226; sowie etwa Art. I [8] der amerikanischen Bundesverfassung, nach der das Patent- und Urheberrecht zur Bundesgesetzgebung gehört, vgl. Hay, Einführung in das amerikanische Recht (2. Aufl. 1987) S. 23, 24; vgl. auch Bothe S. 143 ff., 164. Der einzige ausschließlich oder im Schwerpunkt privatrechtliche Regelungsbereich, den das Grundgesetz der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit zuweist, ist die Gesetzgebung über „den gewerblichen Rechtsschutz, das Urheberrecht und das Verlagsrecht", Art. 73 Nr. 9 GG. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 sowie die Reichsverfassung vom 16. 4. 1871 begründeten eine Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes bzw. Reichs für Zoll- und Handelsgesetze, für Erfindungspatente, für den Schutz des geistigen Eigentums und das gesamte Handelsrecht, vgl. Wadle, wie N. 2, S. 151. Auch die Reichsverfassung der Paulskirche sah für alle Formen des geistigen Eigentums eine breite Gesetzgebungskompetenz des Gesamtstaates vor, vgl. Wadle, S. 115 m. Nachw. 4 Vgl. Wadle, wie N. 2, S. 116 ff.; Rehbinder, wie N. 2, S. 24 ff. 5 Vgl. Wadle, wie N. 2, S. 129, 130, 145, 146; Hubmann, Gewerblicher Rechtsschutz, wie N. 2, S. 22. Insbesondere wurde im Zollverein die Problematik des einzelstaatlichen Patentschutzes für die Freiheit des Warenverkehrs klar erkannt. 1842 wurde in einer Übereinkunft zwischen den Zollvereinsstaaten der Umfang des Patentrechts (mit Ausnahme von Maschinen und Werkzeugen) auf die Herstellung beschränkt und Einfuhr, Verkauf und Gebrauch des patentierten Gegenstandes freigelassen, so daß in einem Zollvereinsstaat rechtmäßig hergestellte Gegenstände frei zirkulieren konnten. Vgl. auch Machlup, Die wirtschaftlichen Grundlagen des Patentrechts, GRUR Int. 1961, 373 ff., 374. 6

Vgl. zum letzteren für das Patentrecht und Gebrauchsmusterrecht den Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Patentwesens vom 19. 6. 1970; für das Geschmacksmusterrecht das Haager Abkommen vom 6. 10. 1925 über die internationale Hinterlegung gewerblicher Muster oder Modelle; für das Markenrecht das Madrider Abkommen über die internationale Registrierung von Marken vom 14. 4. 1891. Zur relativ geringen praktischen Bedeutung des Haager Geschmacksmusterabkommens vom 6. 10. 1925, vor allem auch wegen der Beteiligung nicht sämtlicher EG-Mitgliedstaaten, vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Grünbuch über den rechtlichen Schutz gewerblicher Muster und Modelle, III/F/5131 /91-DE, Tz. 2.8.5. 2 (im folgenden: Grünbuch); Begründung zum Entwurf einer Verordnung über das Gemeinschaftsmuster „1. Teil: Allgemeines", Tz. 6.2., KOM (93) 342 endg. - COD 463.

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ohne Einschränkung auch hier des Territorialitätsprinzips, dem jeweiligen materiellen Patentrecht der benannten Vertragsstaaten untersteht7. Daß diese, auch durch das jüngste internationale Abkommen in diesem Bereich, das zusammen mit der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) abgeschlossene Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums vom 15. April 1994 (Trade Related Aspects of Intellectual Property, TRIPs)8 nicht geänderte9, Situation den Anforderungen zur Schaffung eines Gemeinsamen Marktes (Art. 2 EGV) bzw., mit der Einheitlichen Europäischen Akte, Binnenmarktes (insbesondere Art. 3 lit.c, 7 a EGV) nicht entspricht, ist schon zu Beginn der Europäischen (seinerzeit: Wirtschafts-) Gemeinschaft gesehen worden 10 . Zwar hat der Europäische Gerichtshof mit seiner Rechtsprechung zur am „spezifischen Gegenstand des Schutzrechts" 11 ausgerichteten Abgrenzung zwischen „Bestand" und „Ausübung" des Schutzrechts im Rahmen der Artt. 30, 36, 222 EGV und seiner Lehre von der gemeinschaftsweiten Erschöpfung dem Konflikt zwischen dem Grundsatz des freien Warenverkehrs und dem Territorialitätsprinzip der mitgliedstaatlichen Schutzrechte die volle Schärfe genommen, wenn der Schutzrechtsinhaber Importe nicht untersagen kann, die von ihm selbst oder mit seiner Zustimmung irgendwo im Gebiet der Gemeinschaft in Verkehr gebracht worden sind 12 . Diese Rechtsprechung hat indessen das Bedürfnis nach weitergehenden gemeinschaftsrechtlichen Regelungen nicht obsolet werden lassen, welche für alle Schutzrechte teils abgeschlossen, teils im Entwurf vorliegen oder jedenfalls diskutiert werden 13 und häufig „doppelspurig" verfahren durch Richtlinienangleichung der nationalen und zugleich Schaffung gemeinschaftsweiter Schutzrechte 14. 7 Vgl. zum Europäischen Patentübereinkommen den Überblick bei Hubmann, Gewerblicher Rechtsschutz, wie N. 2, §§ 57 ff. 8 BGBl. 1994 I I 1438, 1565, 1730 = AB1.EG 1994 L 336/1. 9

In Art. 6 des Abkommens heißt es zur Erschöpfung ausdrücklich: „Für die Zwecke der Streitbeilegung im Rahmen dieses Übereinkommens darf vorbehaltlich der Artt. 3 und 4 (sc. über Inländerbehandlung und Meistbegünstigung, der Verf.) dieses Übereinkommen nicht dazu verwendet werden, die Frage der Erschöpfung von Rechten des geistigen Eigentums zu behandeln." Vgl. speziell zum Geschmacksmusterschutz Kur, TRIPs und der Designschutz, GRURInt. 1995, 185 ff. 10

Vgl. Johannes, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1973) S. 9; vgl. ferner die Nachw. in Fn. 19. 11 Vgl. hierzu statt aller Ullrich, in: Immenga/Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht. Komm., Bd. I (1997) GRUR A Rz. 52 ff. m. w. Nachw. 12 Vgl. hierzu mit Nachw. Veelken, Die Bedeutung des EG-Rechts für die nationale Rechtsanwendung, JuS 1993, 265, 269. Spezifisch zum Geschmacksmusterrecht vgl. EuGH Slg. 1982, 2853, 2870 „KeurKoop"; EuGH Slg. 1988, 6039 „Renault"; EuGH Slg. 1988, 6211 „Volvo". 13 Vgl. hierzu den Überblick bei Ullrich, wie N. 11, GRUR A Rz. 5 ff. 14

Zum „listig-genialen Gedanken einer Koexistenz zwischen europäischen und nationalen Patenten . . . , nämlich (dem) allmähliche(n) Umsteigen der Anmelder von den nationalen Patenten auf das europäische Patent", vgl. Beier, Die Zukunft des geistigen Eigentums in Europa - Gedanken zur Entwicklung des Patent-, Gebrauchsmuster- und Geschmacksmuster-

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2. Die wegen wesentlicher gesetzgeberischer Untätigkeit von über einhundert Jahren trotz vielfältiger Kritik und Reformvorschlägen 15 am bzw. zum Gesetz betreffend das Urheberrecht an Mustern und Modellen (Geschmacksmustergesetz) vom 11.1. 1876 häufige Bezeichnung des Geschmacksmusterrechts als „Stiefkind" des gewerblichen Rechtsschutzes 16 trifft auch für die Entwicklung des Rechts des geistigen Eigentums auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft z u 1 7 . Zwar war das Geschmacksmusterrecht neben dem Patent- und Markenrecht als „dritte Säule" 1 8 des gewerblichen Rechtsschutzes von Beginn an in die Planungen der Kommission zur Europäisierung des gewerblichen Rechtsschutzes einbezogen 19 . Wegen der vorrangigen Arbeiten am Patent- und Markenrecht sind die Überlegungen zum Musterschutz indessen für lange Zeit wieder zurückgestellt 20 , vielmehr zwischenzeitlich Vorschläge zum Urheberrecht, zum Schutz von Topographien, Computerprogrammen, Arzneimitteln, biotechnologischer Erfindungen und zum Sortenschutz entwickelt worden 2 1 . Die Initialzündung für eine Wiederaufnahme

rechts, in: Hilf/Oehler (Hrsg.), Der Schutz des geistigen Eigentums in Europa (1991) S. 13 ff., 21. 15 Vgl. dazu insbesondere Englert, Grundzüge des Rechtsschutzes der industriellen Formgebung (1978) S. 21 ff.; Eck, Neue Wege zum Schutz der Formgebung (1993) S. 23 ff.; Gerstenberg, Die Entwicklung des Geschmacksmusterrechts, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht in Deutschland, Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht und ihrer Zeitschrift. Herausgegeben von der Vereinigung durch Friedrich-Karl Beier, Alfons Kraft, Gerhard Schricker und Elmar Wadle, Band I (1991) S. 691 ff., 696 ff. 16 Vgl. Eck, wie N. 15, S. 31; Ritscher, Bericht über das Ringberg-Symposium „Europäisches Musterrecht" des Max-Planck-Instituts vom 11. bis 14. Juli 1990, GRUR Int. 1990, 559, 560. 17 Vgl. auch Beier, wie N. 14, S. 31. 18 Vgl. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Kommission, Neunter Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft (1966) Tz. 92: „ . . . drei Sektoren des gewerblichen Rechtsschutzes. ..". 19 Vgl. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Kommission, Erster Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft (1958) Tz. 87; Zweiter Gesamtbericht (1959) Tz. 127; Dritter Gesamtbericht (1960) Tz. 158; Vierter Gesamtbericht (1961) Tz. 59; Fünfter Gesamtbericht (1962) Tz. 53 ff., 55; Sechster Gesamtbericht (1963) Tz. 51, 52; Siebenter Gesamtbericht (1964) Tz. 76 ff., 78; Achter Gesamtbericht (1965) Tz. 88, 89. Vgl. auch Eck, w. N. 15, S. 31 m. Nachw.; Eichmann, Geschmacksmusterrecht und EWG-Vertrag, GRUR Int. 1990, 121 ff., 126 m. Nachw.; Grünbuch, wie N. 6, Nr. 1.1 ff., S. 8 ff. Der 1962 vom Berichterstatter Roscioni vorgelegte Bericht des bei der EG-Kommission für das Geschmacksmusterrecht gebildeten Ausschusses hatte festgestellt, die Unterschiede in den mitgliedstaatlichen Vorschriften seien derart weitreichend, daß es nahezu hoffnungslos erscheine, eine Harmonisierung in Angriff zu nehmen. Statt dessen plädiert der Bericht für ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster neben den nationalen Musterrechten: Roscioni, Dok. (EWG) 2143 / IV / 62-D.Vgl. Grünbuch S. 8; Eck, wie N. 15, S. 31; Eichmann, GRUR Int. 1990, 126. 20 Vgl. Siebenter Gesamtbericht (1964) Tz. 78; Achter Gesamtbericht (1965) Tz. 89. 21 Vgl. hierzu etwa die Nachw. in den Tätigkeitsberichten der Kommission bis zum Erscheinungsjahr des Grünbuchs (wie N. 6) 1991.

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der Arbeiten am europäischen Geschmacksmusterrecht ging, neben anderen Anstößen 22 , insbesondere vom Münchener Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht aus. Eine Arbeitsgruppe legte 1990 einen Diskussionsentwurf für ein europäisches Musterrecht vor, der i m gleichen Jahr unter Teilnahme u. a. von Kommissionsmitarbeitern auf einem Symposium erörtert wurde 2 3 . Der Entwurf bildete die Grundlage für das 1991 zur Diskussion gestellte „Grünbuch der EG-Kommission über den rechtlichen Schutz gewerblicher Muster und M o d e l l e " 2 4 und die darin enthaltenen Vorentwürfe für eine Verordnung über ein Gemeinschaftsmuster sowie für eine Richtlinie zur Angleichung der nationalen Musterrechte. Der Vorschlag für das Gemeinschaftsmuster 25 und der Richtlinienvorschlag 2 6 sind i m Wirtschafts- und Sozialausschuß 27 , der Richtlinien Vorschlag i m Europäischen Parlament beraten worden 2 8 . Den daraufhin geänderten Richtlinienvorschlag 2 9 hat der Rat, mit Ausnahme der besonders um22

Vgl. zu den unter Teilnahme der Kommission in den Jahren 1988 bis 1990 durchgeführten internationalen Symposien zum Musterschutz die Nachw. im Grünbuch (wie N. 6) Tz. 1.10.3. 23 Diskussionsentwurf des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht für ein europäisches Musterrecht, GRUR Int. 1990, 565 ff. Vgl. zur Diskussion Ritscher, wie N. 16, 559 ff. 24 Wie N. 6. 25 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Gemeinschaftsgemacksmuster, AB1.EG Nr. C 29/20 v. 31. 1. 1994. Das Verfahren zur Verabschiedung der Verordnung stockt seit 1995 aus Gründen zweifelhafter Kompetenzgrundlage. Die Kommission hatte Verordnungs- wie Richtlinienvorschlag zunächst auf Art. 100 a EGV gestützt. Der EuGH hatte indessen in seinem Gutachten 1/94 vom 15. 11. 1994 über die Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Abschluß völkerrechtlicher Abkommen auf dem Gebiet der Dienstleistungen und des Schutzes des geistigen Eigentums (Slg. 1994 I - 5276) zu den Kompetenzen der EG zum Beitritt zum GATS und TRIPs u. a. festgestellt, neue gemeinschaftsweite Rechte im Bereich des geistigen Eigentums könnten (nur) auf der Grundlage von Art. 235 EGV geschaffen werden (a. a. O., Tz. 59: „Auf der Ebene der internen Rechtsetzung verfügt die Gemeinschaft im Bereich des geistigen Eigentums über eine Zuständigkeit zur Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften gemäß den Artt. 100 und 100 a und kann auf der Grundlage von Art. 235 neue Titel schaffen, die dann die nationalen Titel überlagern, wie sie es mit dem Erlaß der VO (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. 12. 1993 über die Gemeinschaftsmarke (ABl. L 11 vom 14. 1. 1994, S. 1) getan hat. Für den Erlaß dieser Bestimmungen gelten andere Abstimmungsvorschriften (Einstimmigkeit im Fall der Art. 100 und 235) oder Verfahrensvorschriften (Anhörung des Parlaments im Fall der Art. 100 und 235, Verfahren der Mitentscheidung im Fall des Art. 100 a), als sie im Rahmen des Art. 113 gelten."). Die Kommission stützt den Verordnungsvorschlag nunmehr auf diese, Einstimmigkeit erfordernde Vorschrift. Vgl. Kur, Die Zukunft des Designschutzes in Europa - Musterrecht, Urheberrecht, Wettbewerbsrecht, GRUR Int. 1998, 353 ff., 354; Eichmann, Schutz von industriellem Design: Stand der europäischen Rechtsentwicklung, Mitteilungen der deutschen Patentanwälte 1998, 252 ff., 253. 26 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Rechtsschutz von Mustern, AB1.EG Nr. C 345 /14 v. 23. 12. 1993. 27 AB1.EG Nr. C 388/9 v. 31. 12. 1994; AB1.EG Nr. C 110/12 v. 2. 5. 1995. 2

« AB1.EG Nr. C 287/157 v. 30. 10. 1995. AB1.EG Nr. C 142/7 v. 14. 5. 1996.

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strittenen sog. „Reparaturklausel" 3 0 , in seinem gemeinsamen Standpunkt (Art. 189 b I I 2 EGV) i m wesentlichen übernommen 3 1 . Hierüber hat das Europäische Parlament am 22. 10. 1997 Beschluß gefaßt 3 2 , die Kommission am 21. 11. 1997 Stellung genommen 3 3 . 3. Das weitere Anwachsen der an der Errichtung eines Gemeinsamen Marktes bzw. Verwirklichung des Binnenmarktes orientierten und damit funktionsbezogenen Einwirkungen des primären und vor allem sekundären Gemeinschaftsrechts auf das mitgliedstaatliche Privatrecht in ihrer damit vorgegebenen „sachgebietlich zerstückelten F o r m " 3 4 wird auch von denjenigen, die dem weiteren Fortgang der europäischen Integration durchaus positiv gegenüberstehen, nicht weiterhin als 30 Während die Vorentwürfe hierzu noch keine besondere Regelung enthielten, sehen Art. 23 des VO- (wie N. 25) und Art. 14 des Richtlinienentwurfs (wie N. 26) 3 Jahre nach dem erstmaligen Inverkehrbringen eines Designprodukts, das Teil eines komplexen Erzeugnisses ist, eine Ausübungsschranke für das Recht an einem Muster bei dessen Verwendung zu Reparaturzwecken vor. Diese vor allem für Kraftfahrzeug- (Karosserie-) Ersatzteile wesentliche praktische Bedeutung besitzende Klausel soll die Abhängigkeit des Kunden vom Hersteller lösen und die Tätigkeit unabhängiger Teilehersteller ermöglichen, insbesondere, je nach der Auffassung über die Marktabgrenzung, eine Monopolstellung der Hersteller auf den Ersatzteilmärkten verhindern (vgl. Begründung zum VO-Entwurf, KOM (93) 342 endg. COD 463, zu Art. 23). In Art. 14 des geänderten Richtlinienentwurfs (wie N. 29) ist, entsprechend der Stellungnahme des Europäischen Parlaments (wie N. 28), die zeitliche Schranke durch die Verpflichtung des Teileherstellers zur Zahlung einer angemessenen Vergütung ersetzt. Der Rat hat sich in seinem Gemeinsamen Standpunkt (wie N. 31) auf eine Regelung dieser Frage nicht einigen können und den Mitgliedstaaten eine Beschränkung des Musterrechts an zu Reparaturzwecken verwendeten Ersatzteilen freigestellt (vgl. Art. 14 des Richtlinienentwurfs i.d.F. des Gemeinsamen Standpunkts, ferner Begründungserwägung Nr. 19 sowie Begründung Tz. 34 des Gemeinsamen Standpunkts). Das Europäische Parlament (wie N. 32) und die Kommission (wie N. 33) haben sich dem gemeinsamen Standpunkt des Rates insoweit nicht angeschlossen, sondern die Reparaturklauseln des Art. 14 des geänderten Richtlinienentwurfs wieder eingeführt. Vgl. zu dem schon recht umfangreichen Schrifttum zur Reparaturklausel die Nachw. bei Kur, Gedanken zur Systemkonformität einer Sonderregelung für must-match-Ersatzteile im künftigen europäischen Geschmacksmusterrecht, GRUR Int. 1996, 876 ff., 876 N. 3; dieselbe, Die Zukunft des Designschutzes in EuropaMusterrecht, Urheberrecht, Wettbewerbsrecht, wie N. 25, 355, N. 15.

31 In der Ratssitzung vom 13. 3. 1997, vgl. Bull. EU 3 - 1997. Vgl. die förmliche Festlegung in: Gemeinsamer Standpunkt (EG) Nr. 28/97 vom Rat festgelegt am 17. Juni 1997 im Hinblick auf den Erlaß der Richtlinie 97 / . . . / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom ... über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen" (97/C 237 / 01), AB1.EG 1997 Nr. C 237/1. 32 AB1.EG 1997 Nr. C 339/13. 33 Stellungnahme der Kommission gemäß Art. 189 b, Abs. 2, Buchstabe d) des EG-Vertrages, zu den Abänderungen des Europäischen Parlaments des gemeinsamen Standpunkts des Rates betreffend den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Rechtsschutz von Mustern, KOM. (97) 622 endg. - COD 464. Vgl. zur Entwicklung auch Eichmann, Schutz von industriellem Design: Stand der europäischen Rechtsentwicklung, wie N. 25. 34 Müller-Graff, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Privatrecht. Das Privatrecht in der europäischen Integration, NJW 1993, 13 ff., 13.

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problemlos angesehen. Die durch das „Gemeinschaftsprivatrecht" - die zunehmende begriffliche und terminologische Zusammenfassung der Gesamtheit der Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das mitgliedstaatliche Privatrecht - 3 5 bewirkte oder sich jedenfalls bei ungebremster weiterer Entwicklung ergebende Situation des Privatrechts in den Mitgliedstaaten wird charakterisiert als ein „buntgewirkter Flickenteppich, zusammengesetzt aus einzelnen Stücken nationalen und europäischen Rechts, die sich oft überlappen, in ihrer gegenseitigen Abgrenzung unklar sind, auf unterschiedlichen Wertungen beruhen, alles dies mit der Folge, daß die Rechtsanwendung in der Praxis nicht nur nicht vereinfacht, sondern ... erheblich erschwert ... wird." 3 6 An dieser Entwicklung wird insbesondere kritisch hervorgehoben: Das fehlende einheitliche Konzept der Kommission für die Weiterentwicklung des Gemeinschaftsprivatrechts; die mit der Rechtseinheit bzw. -angleichung bewirkte Beseitigung des „Wettbewerbs der Systeme"; die schon hervorgehobenen Abgrenzungsschwierigkeiten der verschiedenen Versatzstücke des entstehenden „Flickenteppichs" der nationalen und europäischen Regelungsfragmente; eine mit der Schwerfälligkeit der Änderung des sekundären Gemeinschaftsrechts verbundene Versteinerung der angeglichenen Regelungskomplexe37. Wie weit sich diese Kritik auf die legislativen Gemeinschaftsaktivitäten im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes und Urheberrechts beziehen kann, ist hier nicht zusammenfassend zu untersuchen 38. Ein weiterer wesentlicher Ansatz der Kritik läßt sich indessen unter dem Stichwort „dogmatische Friktionen" charakterisieren. Die fragmentarische und bruchstückhafte Rechtsvereinheitlichung hat bislang weder in ihrer äußeren Begrifflichkeit noch in ihren Weitungsgrundsätzen eine einheitliche durchgängige Dogmatik entwickelt; weitgehend beklagt wird das Fehlen einer Dogmatik des Gemeinschaftsprivatrechts 39. Dies begründet die Gefahr, daß Versatzstücke aus den einzel35 wie N. 34., mit umfangreichen Nachw. in N. 1. Vgl. auch Veelken, Vgl. Müller-Graff, Gemeinschaftsrechtliche Einwirkungen im Recht des unlauteren Wettbewerbs, EWS 1993, 377. 36 Vgl. Kötz, Rechtsvergleichung und gemeineuropäisches Privatrecht, in: Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft (1993) S. 95 ff., 99. Vgl. auch Tümann, Der gewerbliche Rechtsschutz vor den Konturen eines europäischen Privatrechts, GRUR Int. 1993, 275 ff., 278: „ . . . Wild-West-Rechtsentwicklung .. 37 Vgl. hierzu die Referate und Diskussionsbeiträge in: Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft (1993). 38 Der Vorwurf einer „unübersichtlichen, zersplitterten Rechtslandschaft" (vgl. Tümann, wie N. 36, 278) ist aber auch hier erhoben worden. 39 Vgl. in dieser Richtung etwa Blaurock, Europäisches Privatrecht, JZ 1994, 270 ff., 276; Hommelhoff, Zivilrecht unter dem Einfluß europäischer Rechtsangleichung, AcP 192 (1992) 71 ff., 102 ff.; A. Junker, Vom Bürgerlichen zum kleinbürgerlichen Gesetzbuch - Der Richtlinienvorschlag über den Verbrauchsgüterkauf, DZWiR 1997, 271 ff., 278; M. Lutter, Stand und Dynamik des europäischen Wirtschaftsrechts (1990) S. 24: „Wie Inseln schwimmen die europäischen Teile in den nationalen Gewässern, ohne geistig-systematische Verbindung zueinander"; Müller-Graff, Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft: Ebenen und gemeinschaftsprivatrechtliche Grundfragen, in: Europarecht - Energierecht -

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nen Rechtsordnungen miteinander kombiniert werden, ohne diese auf ihre Stimmigkeit untereinander und mit der Dogmatik der einzelnen Mitgliedstaaten eingehender zu prüfen; es entstehen Defizite „einsichtiger und konsistent durchgesetzter Ordnungsgedanken und Wertentscheidungen" 40 oder, wie es E. Ulmer in anderem Zusammenhang formuliert hat 41 , die „Sinnzusammenhänge" des betreffenden Rechtsgebiets sind gefährdet. Auch zu den europäischen Entwürfen zum Musterschutz ist hervorgehoben worden, sie versuchten „eine Art konsensfähige Mehrheitsmeinung der nationalen Rechtsordnungen zugrunde zu legen" 42 . Die europäischen Entwürfe zum Geschmacksmusterrecht geben Anlaß, sie, vor allem im Hinblick auf Schutzgegenstand und materielle Schutzvoraussetzungen, unter dem genannten Blickwinkel zu durchleuchten.

II. Die europäische Neukonzeption 7. Überblick Veranlaßt insbesondere durch die Initiative des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht und auf der Grundlage des auf dem Ringberg-Symposium diskutierten Entwurfs des Instituts 43 hat die EG-Kommission 1991 ein Grünbuch über den rechtlichen Schutz gewerblicher Muster und Modelle nebst Vorentwürfen einer Verordnung für ein Gemeinschaftsmuster sowie einer Richtlinie zur Angleichung der nationalen Musterrechte vorgelegt 44, dem jeweils ein Verordnungs- bzw. Richtlinienvorschlag gefolgt ist 4 5 . Die Kommission ist hier, wie im Markenrecht, „doppelspurig" verfahren und hat einen Verordnungsvorschlag für ein europäisches Musterrecht mit einem Richtlinienentwurf verbunden. Damit soll einerseits das auch bei angeglichenen nationalen Musterrechten fortbestehende Territorialitätsprinzip auf das Gebiet der Gemeinschaft ausgedehnt und zugleich eine größere inhaltliche Gestaltungsfreiheit im Verhältnis zu den bestehenden nationalen Musterrechten gewonnen werden 46, zum andern soll für die jedenfalls noch für eine Übergangszeit parallel Wirtschaftsrecht, Festschrift für Bodo Börner (hrsg. von Jürgen F. Baur/Peter-Christian Müller-Graff/Manfred Zuleeg), 1992, S. 303 ff., 335 ff.; Rittner, Das Gemeinschaftsprivatrecht und die europäische Integration, JZ 1995, 849 ff., 851 ff.; derselbe, Ein Gesetzbuch für Europa? Fs. Mestmäcker (1996) S. 449 ff., 455; Tümann (Hrsg.), Ansätze und Leitlinien für ein europäisches Zivilrecht (1979); R Ulmer, Vom deutschen zum europäischen Privatrecht?, JZ 1992, Iff., 5 ff. 40 Tilmann, wie N. 36, 278. 41 42

Vgl. E. Ulmer, Sinnzusammenhänge im modernen Wettbewerbsrecht (1932). Vgl. v. Gamm, Das Gemeinschaftsmuster, in: Festschrift für Gaedertz (1992) S. 197 ff.,

198. 43 44

Vgl. N. 23.

Vgl. N. 6. 4 5 Vgl. oben 1.2.

Schutzgegenstand und materielle Schutzvoraussetzungen

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fortbestehenden Musterrechte eine Angleichung in einem Mindestumfang erzielt werden 47. Der Vorschlag für ein Gemeinschaftsmuster schließt sich wesentlich dem Entwurf des Max-Planck-Instituts an 48 . Aus den gleichen Gründen wie dort, um kurzfristigen Geschmackswandlungen unterliegenden Produkten, wie insbesondere der Modeindustrie, einen jedenfalls in einzelnen Mitgliedstaaten als nicht ausreichend beurteilten 49, angemessenen Schutz zu gewähren, aber auch im Interesse eines Markterprobungsschutzes für andere Erzeugnisse ist ein formloses, auf drei Jahre seit Bekanntgabe bzw. öffentlicher Zugänglichmachung befristetes Muster 50 vorgesehen neben einem auf maximal 25 Jahre seit Antragstellung begrenzten 51, durch Eintragung in das Gemeinschaftsmusterregister bei einem zu schaffenden Gemeinschaftsmusteramt (dem Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt [Marken, Muster und Modelle, HABM] in Alicante) entstehenden förmlichen Musterrecht. Schutzgegenstand, materielle Schutzvoraussetzungen und Schutzumfang sind beim formlosen und förmlichen Muster identisch, das formlose Muster schützt allerdings nur gegen Nachbildungen, während dem förmlichen Muster eine Sperrwirkung zukommt 52 . Artt. 96 ff. Vörentwurf bzw. Artt. 99 ff. VO-Entw. regeln das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsmustern und nationalen Mustern sowie zum Schutz nach nationalem Marken-, Patent- und Gebrauchsmusterrecht, zivilrechtlicher Haftung, unlauterem Wettbewerb und Urheberrecht 53. Die Harmonisierung der fortbestehenden nationalen Musterrechte in einem Mindestumfang ist erforderlich, um Verzerrungen im Verhältnis des zur Wahl stehenden Gemeinschaftsmusters zu den nationalen Mustern wie auch allgemein mit den

46 Dieses Motiv hebt auch die Begründung zum Diskussionsentwurf eines europäischen Musterrechts hervor, GRUR Int. 1990, 574. 47 Zu den Motiven der Gemeinschaftsinitiative vgl. insbesondere Grünbuch, Kap. 3: „Die Gemeinschaft und die Frage des Musterschutzes", S. 31 ff., zu den Gründen für die Schaffung eines Gemeinschaftsmusters insbesondere Tz. 3.60.4 ff., 3.9.; zur Richtlinie Tz. 3.8., sowie Kap. 10. Vgl. ferner Grünbuch S. 3, 6, Tz. 1.10.2, sowie die Begründung zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster, KOM (93) 342 endg. - COD 463, „1. Teil: Allgemeines". 48 Vgl. Grünbuch Nr. 1.10.3. S. 12; Beier, Der Musterschutz von Ersatzteilen in den Vorschlägen für ein Europäisches Musterrecht, GRUR Int. 1994, 716ff., 716, 717; Eck, wie N. 15, S. 31 ff., 38; Kur, The Green Papers's Design Approach - What's Wrong with it? European Intellectual Property Review 10 (1993) 374 ff., 374; dieselbe, wie N. 25, GRUR Int. 1998, 353 ff., 354. Vgl. auch v. Gamm, Das Gemeinschaftsmuster, wie N. 42, S. 197 ff., 198. 49

Auf dem Ringberg-Symposium wurde insoweit insbesondere auf das Fehlen einer wettbewerbsrechtlichen Schutzmöglichkeit für Designprodukte in Großbritannien und Irland hingewiesen, vgl. Ritscher, Bericht über das Ringberg-Symposium „Europäisches Musterrecht" des Max-Planck-Instituts vom 11. bis 24. Juli 1990, GRUR Int. 1990, 559 ff., 561. so Vgl. Art. 9 des VO-Entw. 51 Vgl. Art. 10 des VO-Entw. 52 Vgl. Art. 17, 18 des VO-Entw. 53 Vgl. hierzu im einzelnen die Erläuterungen im Grünbuch, Kap. 10 und 11. S. 142 ff., 153 ff.; Begründung zum VO-Entw., wie Fn. 47, „2. Teil: Einzelne Vorschriften", Titel XI. 10 FS Leisner

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unterschiedlichen nationalen Mustern verbundene Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt zu verhindern 54. Insbesondere muß eine Übereinstimmung zwischen Verordnungsvorschlag und Richtlinienentwurf im Hinblick auf den Schutzgegenstand und die materiellen Schutzvoraussetzungen hergestellt werden 55.

2. Schutzgegenstand und materielle Schutzvoraus Setzungen

a) Die EG-Entwürfe folgen auch im konzeptionellen Ansatz der geschützten Leistung dem „design approach" des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht 56. Der „design approach" will sich aus der Diskussion um einen „patent approach" oder „Copyright approach" des Musterrechts lösen, d. h. um eine mehr der patent- oder urheberrechtlichen Regelung entsprechende Ausgestaltung des Musterschutzes57, und eine eigenständige Konzeption zugrunde legen, die sich an den spezifischen Eigentümlichkeiten des Designschaffens orientieren soll 58 , vor allem der Ausrichtung der Produktgestaltung an der Nachfragerakzeptanz (sog. Marketingaspekt). Damit stellt sich der „design approach" im Ausgangspunkt in einen fundamentalen Gegensatz59 zur in der Bundesrepublik herrschenden Grundkonzeption des Geschmacksmusterrechts als gewerblichem Schutzrecht auf urheberrechtlicher Grundlage, in deren Mittelpunkt die dem Urheberrecht entsprechende persönliche schöpferische Leistung steht, wenngleich mit im Verhältnis zum urheberrecht54 Vgl. Grünbuch Tz. 10.3. 55 Vgl. Grünbuch Tz. 10.3.; Begründung zum geänderten Richtlinien-Entwurf, KOM. (96) 66 endg. - COD 464, S. 2. 56 Vgl. zum Folgenden insbesondere Grünbuch Tz. 5.3.; Begründung VO-Entw. „1. Teil: Allgemeines". Vgl. auch Begründung zum VO-Entw. Tz. 4.5.: „Die Verordnung zielt darauf ab, ein an die Realität der Designtätigkeit und an den Bedarf der Benutzer des Systems angepaßtes gänzlich modernes Musterschutzsystem bereitzustellen." 57 Vgl. zum Bedeutungsverständnis dieser „approaches" etwa Kur, The Green Paper's ,Design Approach' - What's Wrong with it?, wie N. 48, S. 374. 58 Vgl. Begründung zum Diskussionsentwurf eines europäischen Musterrechts, GRUR Int. 1990, 559 ff., 574: „Ein wesentlicher Teil der Debatte hat sich dabei auf die Frage konzentriert, ob ein „patent approach" oder ein „Copyright approach" die beste Lösung für den Musterschutz bietet. Wir haben es statt dessen als die sinnvollste Vorgehensweise erachtet, unserer Lösung von Anfang an einen sog. design approach zugrunde zu legen ... Der Design approach, den die Verfasser zugrundegelegt haben, geht vom Schutzgegenstand selbst, seiner spezifischen Aufgabe und seinem eigenen Umfeld aus." 59

Vgl. auch Eck, wie N. 15, passim, etwa S. 141: „Unterscheiden sich urheber- und geschmacksmusterrechtliche Leistung nicht, wie von der Rechtsprechung und herrschenden Lehre angenommen, graduell, sonder qualitativ, hat diese Feststellung weitreichende Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Urheber- und Geschmacksmusterrecht. Das Geschmacksmusterrecht erweist sich damit als gegenüber dem Urheberrecht völlig selbständig." Zu der nach Auffassung von Eck im „Design approach" geschmacksmusterrechtlich geschützten Leistung vgl. u. III. 4.

Schutzgegenstand und materielle Schutzvoraussetzungen

133

liehen Werkbegriff verminderten Anforderungen an die Gestaltungshöhe 60 . Das industrielle Design habe sich zu einem der stärksten Instrumente für das Marketing von Industrieerzeugnissen entwickelt 6 1 . In welchem Verhältnis der Marketingaspekt zu dem gleichfalls betonten „Design als Element unserer K u l t u r " 6 2 steht, bleibt, wie beim Entwurf des Max-Planck-Instituts 6 3 , offen. Die Kommission geht anscheinend von einem Automatismus zwischen Funktionalismus und Ästhetik aus 6 4 ; in welchem Verhältnis ein solcher Automatismus zu den an anderer Stelle hervorgehobenen, auf die Schaffung ästhetischer Werte gerichteten gestalterischen Leistungen 6 5 steht, wird nicht deutlich. b) Die seit den Vorentwürfen nur in Details veränderte, für Verordnung wie Richtlinie grundsätzlich identische Definition des Musters läßt sich umschreiben als: Die äußere Erscheinungsform eines Erzeugnisses, wie sie sich in ihrer Farbund/oder Formgestaltung den optischen Sinnen darbietet, und die nicht ausschließlich durch die technische Funktion des Erzeugnisses bedingt i s t 6 6 . 60 Vgl. dazu v. Gamm, Geschmacksmustergesetz (2. Aufl. 1989) Einf. Rz. 12; Furier, Geschmacksmustergesetz, Kommentar zum Gesetz vom 11. 1. 1876 betr. das Urheberrecht an Mustern und Modellen (4. Aufl. 1985), IV. 3.; Nirk/Kurtze, Geschmacksmustergesetz (2. Aufl. 1997) Einf. Rz. 38. Vgl. zur h. L. auch Eck, wie N. 15, S. 108. 61

Grünbuch Tz. 5.4.1; Begründung zum VO-Entw. „1. Teil Allgemeines", Tz. 1.4., 3., wie

N. 47. 62

Vgl. hierzu die als solche durchaus eindrucksvollen Passagen im Grünbuch Tz. 5.4.2. Auch dort erscheint der design approach, ohne erkennbare Auflösung, gefangen im Zwiespalt zwischen dem auch von der Entwurfsbegründung betonten Beitrag des Musters zum Kulturleben einerseits, als Marketinginstrument andererseits; worin die die Gewährung eines Ausschließlichkeitsrechts rechtfertigende, allen Schutzrechten (mit Ausnahme des Markenrechts) zugrunde liegende spezifische geistige Leistung des Musterentwerfers beim design approach liegen soll, wird nicht deutlich. 63

64 Vgl. Grünbuch Tz. 5.41: „Die Gestalt zu verbessern, um das Erzeugnis, dem sie verliehen wird, für die Funktion, für die es bestimmt ist, besser geeignet zu machen, ist offensichtlich erforderlich, um eine größere Wettbewerbsfähigkeit auf dem Markt zu erreichen. Die Hersteller von Gütern sind sich des Vorteils bewußt, den eine funktionelle Innovation mit sich bringt, und sie heben üblicherweise in ihrer Werbung für neue Erzeugnisse diesen Aspekt hervor. Die Tatsache, daß nach allgemein akzeptierter Auffassung eine funktionelle Verbesserung zwangsläufig einen zusätzlichen ästhetischen Wert mit sich bringt, steigert den wirtschaftlichen Wert der Gestalt und liefert dem Hersteller zusätzliche Argumente für seine Werbung, indem der Sinn des Verbrauchers für Ästhetik angesprochen wird." In der Begründung zum VO-Entwurf wird dagegen, abgeschwächter, gesprochen von der „Verschmelzung von Form und Funktion" als „Merkmale des zeitgenössischen industriellen Designs" im Gegensatz zu einem älteren „Musterkonzept, welches die Verzierung von Erzeugnissen begünstigt", vgl. 1. Teil: Allgemeines", Tz. 4.4., wie N. 47. In dieser Form entspricht die These - „form follows funetion" - vielfältiger Feststellung, vgl. etwa Englert, wie N. 15, S. 2 ff.; Eck, wie N. 15, S. 8 ff. 65 Vgl. Grünbuch Tz. 5.4.2.: „Unsere ganze Umwelt ist von ästhetischen Werten bestimmt, die gestalterischen Leistungen entsprechen." 66 Vgl. auch v. Gamm, Das Gemeinschaftsmuster, wie N. 42 S. 199; Eichmann, wie N. 25, Mitt.Pat.Anw. 1998, 252 ff., 253. Die jüngste Fassung im Gemeinsamen Standpunkt des Rates (wie N. 31) lautet:

10*

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Wie insbesondere die Überlegungen der Kommission zur Abgrenzung des Musterschutzes von den technischen Schutzrechten zeigen 6 7 , ist die Ausnahme der ausschließlich technisch bedingten Gestaltung in dem engen Sinne zu verstehen, daß „eine technische Wirkung nur mit einer bestimmten Form erreichbar i s t " 6 8 . I m übrigen geht die Kommission davon aus, „daß die Definition des schutzfähigen »Musters 4 so umfassend wie möglich sein sollte, um grundsätzlich jeden der Erscheinung eines Erzeugnisses beigemessenen wirtschaftlichen Wert zu erfassen" 69 . Damit sind insbesondere andere „funktionale" Gesichtspunkte, wie etwa Handhabbarkeit, erleichterte Lagerfähigkeit, ergonomische oder ökologische Gestaltungsgründe eingeschlossen 70 ; eine „gewisse ästhetische W i r k u n g " 7 1 , das „Vorliegen einer Formgestaltung auf ästhetischem Gebiet" 7 2 , wird ausdrücklich für unerhebArt. 1. „Im Sinne dieser Richtlinie: a) Ist ein „Muster oder Modell" (nachstehend „Muster" genannt) die Erscheinungsform eines ganzen Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt; b) Ist ein „Erzeugnis" jeder industrielle oder handwerkliche Gegenstand einschließlich - unter anderem - von Einzelteilen, die zu einem komplexen Erzeugnis zusammengebaut werden sollen, Verpackung, Ausstattung, graphischen Symbolen und typographischen Schriftbildern; ein Computerprogramm gilt jedoch nicht als „Erzeugnis". Auf die Wiedergabe des Wortlauts der einschlägigen Vorschrift von den Vorentwürfen an soll hier verzichtet werden. Wirtschafts- und Sozialausschuß und Europäisches Parlament (s. o .1.2.) haben in ihren Stellungnahmen im wesentlichen nur im Sinne einer Klarstellung zu einzelnen Detailfragen zur Musterdefinition Stellung bezogen. Insbesondere waren von der ursprünglichen Definition auch Tastmuster erfaßt (vgl. Begründung zum VO-Entw. „2. Teil: Einzelne Vorschriften" zu Art. 3 S. 12, wie N. 47, während die Fassung in Art. 1 lit.a des geänderten Richtlinien-Entwurfs die optische Wahrnehmbarkeit der Erscheinungsform verlangt. Vgl. auch Begründung zum geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Rechtsschutz von Muster, KOM (96) 66 endg. - COD 464, S. 4, 5. Zur Frage, ob Schutzgegenstand der europäischen Entwürfe die immaterielle Designschöpfung oder das konkrete Erzeugnis ist, vgl. Kur, wie N. 25, GRUR Int. 1998, 353 ff., 355; vgl. zu dieser Frage ferner allgemein Englert, wie N. 15, S. 46. Zur Herausnahme von Computerprogrammen und (im VO-Entw.) von Halbleitererzeugnissen, zum Teileschutz sowie zu den Regelungen über Verbindungselemente und Ersatzteile ist hier nicht Stellung zu nehmen. 67 Vgl. Grünbuch Tz. 5.4.6. 68 Grünbuch Tz. 5.4.6. Vgl. auch Begründung VO-Entwurf, „1. Teil: Allgemeines", Tz. 8.2, wie N. 47, wo auf die Abgrenzung zu den technischen Schutzrechten abgestellt wird. 69 Grünbuch Tz. 5.4.7.1. 70 Im gleichen Sinne Kur, wie N. 25, GRUR Int. 1998. 353 ff., 356: „In der Praxis kann die großzügige Gewährung von Musterschutz für funktionale Gestaltungen dazu führen, daß auch solche Produkte Designschutz in Anspruch nehmen, deren Vorzüge gegenüber den vorbestehenden Gestaltungen grundsätzlich eher funktionaler Natur sind." 71 Grünbuch Tz. 5.4.5. 72 v. Gamm, Das Gemeinschaftsmuster, wie N. 42, S. 199, 200 in kritischer Beurteilung des Standpunktes der Kommission. Andererseits deutet v. Gamm (a. a. O. S. 200) den Vörentwurf aber auch dahin, „in Wahrheit (gehe) es aber auch dem Kommissionsentwurf beim Design-Schutz um einen Schutz der äußeren ästhetischen Gestaltung".

Schutzgegenstand und materielle Schutzvoraussetzungen

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lieh erklärt 7 3 . Auch in der Reichweite des Schutzgegenstandes besteht grundsätzliche Übereinstimmung mit dem Entwurf des Max-Planck-Instituts 7 4 . Der Verzicht auf ästhetische Merkmale steht dagegen in fundamentalem Gegensatz zur schon durch die Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts geklärten 7 5 und seither völlig unbestrittenen traditionellen Konzeption des deutschen Musterrechts, welche eine auf die Anregung des ästhetischen Empfindens zielende Färb- bzw. Formgestaltung verlangt 7 6 . c) Noch deutlicher als beim Schutzgegenstand prägt sich der mit dem „design approach" versuchte konzeptionelle Neuansatz der geschützten Leistung in den materiellen Schutzvoraussetzungen aus. Insofern sind die EG-Entwürfe, jedenfalls in ihrer formalen Gestaltung, durch eine Entwicklung gekennzeichnet. Während die Vörentwürfe formal von nur einer Schutzvoraussetzung ausgehen, der „Unter73 Grünbuch Tz. 5.4.5. Vgl. auch Begründung VO-Entw., „1. Teil: Allgemeines", Tz. 8.2., wie N. 47: »Ästhetische Kriterien werden nicht angewandt. Ästhetische und funktionelle Muster sind gleichermaßen schutzfähig." Ebenso „2. Teil: Einzelne Vorschriften", zu Art. 3 S. 12: „Es ist unerheblich, ob es (sc. das Muster) ästhetisch oder funktional ist und ob es für die Wahl des Erzeugnisses durch den Benutzer entscheidend ist." Vgl. auch Begründung zum geänderten Richtlinien-Entwurf zu Art. 7 Abs. 1 S. 8, wie N. 55: „Obwohl die Frage, ob ein Muster ästhetische Merkmale aufweist, im Hinblick auf die Schutzvoraussetzungen, wie im Vorschlag ausgeführt, unerheblich ist, ...". Vgl. auch Kur, wie N. 25, GRUR Int. 1998, 353 ff., 356: „In der Tat wird die Musterfähigkeit von Erzeugnissen nach den europäischen Vorschlägen weder vom Vorliegen einer besonderen ästhetischen Wirkung noch gar von einer entsprechenden Intention des Musterschöpfers abhängig gemacht." Anders sieht dies allerdings wohl Eichmann (wie N. 25, Mitt.Patent.Anw. 1998, 252 ff., 254, 255), wonach nicht aus ästhetischen, sondern technischen Gründen gewählte Formgestaltungen dem Musterschutz nicht zugänglich sind, auch wenn zur Realisierung der technischen Funktion mehrere Gestaltungsvarianten bestehen. Die Begründung mit der im Verhältnis zu Art. 71 des Richtlinienvorschlags 1993 (wie N. 26, Art. 7 I: „Ein Musterrecht besteht an einem Muster insoweit nicht, als die Verwirklichung einer technischen Funktion keinen Spielraum hinsichtlich willkürlich gewählter Erscheinungsmerkmale beläßt.") geänderten Fassung im Vorschlag von 1996 (wie N. 29, Art. 7 I: „Ein Musterrecht besteht nicht an Erscheinungsmerkmalen eines Erzeugnisses,die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind.") überzeugt nicht, da hiermit nur eine Verdeutlichung bezweckt ist. Vgl. Begründung zum geänderten Richtlinienvorschlag 1996 (wie N. 55), zu Art. 7 Abs. 1, S. 8: „Obwohl die Frage, ob ein Muster ästhetische Merkmale aufweist, im Hinblick auf die Schutzvoraussetzungen, wie im Vorschlag ausgeführt wird, unerheblich ist, hält die Kommission eine Bestimmung für erforderlich , wonach der Schutz in den äußerst seltenen Fällen, in denen die Form ausschließlich durch die Funktion bestimmt ist, nicht gewährt werden sollte. Das Parlament hat zwar keine Änderung von Art. 7 Abs. 1 beantragt, doch ist nach Auffassung der Kommission eine deutlichere Formulierung notwendig, insbesondere nach der vorgeschlagenen Änderung von Abs. 2." 74

Wie N. 23. Nach dem Art. 41 des Entwurfs sind „Gegenstand des Schutzes von Gemeinschaftsmustern ... zwei- und /oder dreidimensionale Erscheinungsformen (Muster), die geeignet sind, auf den menschlichen Formen- und/oder Farbensinn einzuwirken". Abs. 2 bestimmt, daß „soweit Muster ausschließlich durch ihre technische Funktion bestimmt sind, ... sie keinen Schutz als Gemeinschaftsmuster erlangen (können)". Vgl. auch Eck, wie N. 15, S. 42. 75 Vgl. ROHGE 24 (1879) 109 ff., 109. 76 Vgl. Furier, Geschmacksmustergesetz, wie N. 60, IV. Grundsätzliches zum Geschmacksmusterrecht, 3., S. 15, 16: „Rechtsprechung und Rechtslehre sind sich darüber seither völlig einig gewesen."; vgl. ferner die Nachw. bei § 1 Rz. 7.

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scheidungskraft" 77 , verlangen die Entwürfe 7 8 , in Übereinstimmung mit dem Vorschlag des Max-Planck-Instituts, „Neuheit" und „Eigenart". Die Gründe für die, jedenfalls formale, Änderung des Systems der materiellen Schutzvoraussetzungen i n den Entwürfen und für die Einführung zweier Kriterien werden in den Begründungen sowie Erwägungsgründen von Verordnungs- und Richtlinien-Vorschlag nicht erkennbar; offensichtlich hat sich die Kommission in der durch das Grünbuch ausgelösten Diskussion 7 9 von den besseren Argumenten der Methode des Entwurfs des Max-Planck-Instituts überzeugen lassen 80 . 1. Die Neuheit ist in Art. 5 des Verordnungsvorschlags 81 und entsprechend in Art. 4 des Richtlinienentwurfs vom 3. 12. 1993 8 2 definiert: Art. 5 I: „Ein Muster gilt als neu, wenn der Öffentlichkeit vor dem Stichtag kein identisches Muster zugänglich gemacht worden ist. Muster gelten als identisch, wenn sich ihre besonderen Merkmale nur in unwesentlichen Einzelheiten unterscheiden." Art. 5 II: „Ein Muster gilt als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wenn es nach der Eintragung oder auf sonstige Weise bekanntgemacht, ausgestellt, im Verkehr verwendet oder auf sonstige Weise offenbart wurde. Es gilt jedoch nicht als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wenn es lediglich einem Dritten unter der ausdrücklichen oder stillschweigenden Bedingung der Vertraulichkeit offenbart wurde." I m Vergleich zum Grünbuch 8 3 ist die Neuheitsschädlichkeit in der Begründung zum V O - E n t w u r f 8 4 enger definiert: Neuheitsschädlich sind nur „identische oder 77

Vgl. Art. 4 I des Vorentwurfs für ein Gemeinschaftsmuster: „Ein Muster wird als Gemeinschaftsmuster geschützt, soweit es Unterscheidungskraft hat." Art. 4 II: „Ein Muster hat Unterscheidungskraft, wenn es am maßgebenden Tag - den in der Gemeinschaft tätigen Fachkreisen nicht bekannt ist und - sich durch den Gesamteindruck, den es in den Augen der maßgeblichen Öffentlichkeit hervorruft, von jedem anderen, diesen Kreisen bekannten Muster unterscheidet." Übereinstimmend Art. 3 des Vorentwurfs für eine Richtlinie zum Schutz von Mustern und Modellen. 78 Art. 4 ff. des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster, wie N. 25; Artt. 3 ff. des Vorschlags bzw. des Geänderten Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Rechtsschutz von Mustern, wie N. 26, 29. 79 Vgl. zu der sich an das Grünbuch anschließenden Diskussion Begründung VO-Entwurf „1. Teil: Allgemeines", Tz. 7, wie N. 47. Vgl. zur „Erste(n) Anhörung der interessierten Kreise zum Grünbuch über den Schutz gewerblicher Muster in Brüssel, 25. und 26. Februar 1992", auch den Bericht von Kur, Neue Entwicklungen im Musterrecht, GRUR Int. 1992,528 ff., 529. 80 Zur Kritik an der Methode der Vorentwürfe vgl. insbesondere auch die Stellungnahme der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht zum Grünbuch über den rechtlichen Schutz gewerblicher Muster und Modelle, GRUR 1992, 494 ff., 494; Eck, wie N. 15, S. 45 ff. 8 1 Vgl. N. 25. S2 Vgl. N. 26. 83 Im Unterschied zum Entwurf des Max-Planck-Instituts (wie N. 23, Art. 61) ist nicht nur die identische Vorwegnahme neuheitsschädlich, sondern auch „im wesentlichen ähnliche" Muster, Grünbuch Tz. 5.5.5.3. Vgl. zum Unterschied auch Eck, wie N. 15, S. 146, 147.

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nahezu identische Vorwegnahmen". In seiner ersten Stellungnahme zu den Entwürfen machte der Wirtschafts- und Sozialausschuß85 gegenüber dem Art. 5 des Verordnungsvorschlags (entsprechend Art. 4 des Richtlinien-Entwurfs) kritisch geltend, nach den Entwürfen sei die Neuheit auf weltweiter Ebene zu beurteilen 86. Die von ihm vorgeschlagene, vom Europäischen Parlament in seiner Stellungnahme 8 7 im wesentlichen übernommene Formulierung hat die Kommission in Art. 6 I des geänderten Richtlinien-Vorschlags 88 übernommen: Art. 6 I: „Im Sinne der Artt. 4 und 5 gilt ein Muster als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wenn es nach der Eintragung oder auf sonstige Weise bekanntgemacht, ausgestellt, im Verkehr verwendet oder auf sonstige Weise offenbart wurde, es sei denn, daß dies den in der Gemeinschaft tätigen Fachkreisen des betreffenden Sektors im normalen Geschäftsverlauf nicht vor dem Tag der Anmeldung zur Eintragung oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen wird, am Prioritätstag bekannt sein konnte. Ein Muster gilt jedoch nicht als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wenn es lediglich einem Dritten unter der ausdrücklichen oder stillschweigenden Bedingung der Vertraulichkeit offenbart wurde."

Eine zweite, in den Stellungnahmen des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Europäischen Parlaments nicht angesprochene Modifizierung enthält Art. 4 I des geänderten Richtlinien-Vorschlags insoweit, als in Satz 2 das Wort „besonderen" entfallen ist. Die Bestimmung lautet daher nunmehr: Art. 4 I Satz 2: ,»Muster gelten als identisch, wenn sich ihre Merkmale nur in unwesentlichen Einzelheiten unterscheiden."

Im übrigen enthalten weder die Begründungen sowie Begründungserwägungen zu den Entwürfen noch die Stellungnahmen von Wirtschafts- und Sozialausschuß sowie des Europäischen Parlaments weitere Hinweise zum Neuheitskriterium. Aus Art. 6 I des geänderten Richtlinienentwurfs ist der objektiv-relative Charakter der „Neuheit" zu entnehmen89, im übrigen bleibt die weitere Prüfungsmethode offen. Aus der Neufassung läßt sich insbesondere nicht eindeutig entnehmen, daß über Identität oder Andersartigkeit des Musters aus der Sicht der in der Gemeinschaft tätigen Fachkreise zu befinden ist. Art. 5 des Verordnungs- bzw. Art. 4 Satz 2 des Richtlinien-Entwurfs dürften darauf hinweisen, daß Identität in einem weniger

84 Wie N. 47, „2. Teil: Einzelne Vorschriften", zu Art. 5 S. 14. 85 Vgl. N. 27. 86 So ausdrücklich die Begründung zum VO-Entw., „2. Teil: „Einzelne Vorschriften", zu Art. 5 S. 14, wie N. 47. Vgl. zu den Gründen der Abweichung vom Vorentwurf insoweit Kur, wie N. 25, GRUR Int. 1998, 353 ff., 356: Kritik als „unzeitmäßig eurozentristisch und protektionistisch". 87 Vgl. N. 28. 88 Vgl. N. 29. Vgl. hierzu auch Kur, wie N. 25, GRUR Int. 1998, 353 ff., 356. 89 Zu den Abstufungsmöglichkeiten des Neuheitskriteriums vgl. Englert, wie N. 15, S. 50ff.; Eck, wieN. 15, S. 142.

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engen Sinn als in dem des Entwurfs des Mack-Planck-Instituts90 verstanden wird. Die geringen Anforderungen des Neuheitskriteriums sind die Folge der Abkehr von der urheberrechtlichen Grundlage und des weiten Schutzgegenstandes. Vor allem bezieht sich das Neuheitskriterium, wiederum im wesentlichen Gegensatz zur traditionellen deutschen Konzeption91, nicht auf die gerade den ästhetischen Gesamteindruck des Musters prägenden Gestaltungselemente. 2. Die gravierendste Abweichung in unmittelbarer Konsequenz des mit dem „design approach", im Gegensatz zur traditionellen urheberrechtlichen Grundlage des deutschen Musterrechts, verbundenen verschiedenen Schutzgegenstandes enthält indessen die Schutzvoraussetzung der „Eigenart". „Eigenart" besitzt ein Muster nach der ursprünglichen Fassung des Art. 6 I Verordnungsvorschlag bzw. Art. 5 I Richtlinienentwurf dann, „wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, wesentlich von dem Gesamteindruck unterscheidet, den eines der in Abs. 2 angeführten Muster bei einem solchen Benutzer hervorruft". Der Wirtschafts- und Sozialausschuß hatte in seiner ersten Stellungnahme92 angemerkt, der Begriff „wesentlich" schließe zahlreiche Muster, namentlich im Textilbereich, von dem geplanten Schutz aus und solle deshalb weggelassen werden. Das Europäische Parlament 93 und die Kommission im geänderten Richtlinienentwurf 94 sind diesem Vorschlag gefolgt 95 . Die Kommission bemerkt indessen in der Begründung zum geänderten Richtlinien-Entwurf 96, sie könne diesem Änderungsvorschlag „nur widerstrebend ... zustimmen, da hierdurch die „Schutzschwelle" gesenkt wird". Auch in der Begründung zum VO-Entw. 97 wird mit der „wesentlichen" Unterscheidung eine „hohen Schwelle" verbunden und der Zusammenhang mit dem Schutzumfang betont. Die weiteren Änderungen beruhen auf der Einfügung des maßgeblichen Beurteilungszeitpunktes sowie auf der für Artt. 4 und 5 einheitlichen Definition der 90 Vgl. oben N. 83 und Text. Dort auch zu den voneinander abweichenden Erläuterungen hierzu im Grünbuch und in der Begründung des VO-Entw. 91 Zu dieser wesentlichen Konturierung des traditionellen Neuheitsbegriffs vgl. BGH GRUR 1969, 90 - Rüschenhaube; ferner die Rechtsprechungsnachw. bei Eichmann/v. Falkkenstein, Geschmacksmustergesetz (2. Aufl. 1996), § 1 Rz. 22. Vgl. zum Unterschied auch Eck, wie N. 15, S. 152, 153, sowie zu dessen Kritik der traditionellen Konzeption unten III. 4. 92 Vgl. N. 27 Nr. 3.2.3. 93 Vgl. N. 28. 94 Vgl. N. 29. 95

Art. 5 I des geänderten Richtlinien-Entwurfs lautet nunmehr: „Ein Muster hat Eigenart, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den andere Muster bei diesem Benutzer hervorrufen, die der Öffentlichkeit vor dem Tag seiner Anmeldung zur Eintragung oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen wird, am Prioritätstag zugänglich gemacht worden sind." % Wie N. 55, S. 3, 6. 97 Wie N. 47, „2. Teil: „Einzelne Vorschriften" zu Art. 6 S. 14.

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„öffentlichen Zugänglichkeit" in Art. 6 I 9 8 ; daß mit der Formulierungsänderung - i m ursprünglichen Entwurf: " . . . den eines der Muster hervorruft"; i m geänderten Richtlinien-Entwurf: " . . . den andere Muster hervorrufen" - sachlich ein Übergang vom Einzel- zum Gesamtvergleich 99 verbunden w ä r e 1 0 0 , ist nicht erkennbar und ist auch nach der Grundkonzeption der „Eigenart" nicht anzunehmen 1 0 1 . Aus Art. 5 I und Art. 6 I des geänderten Richtlinien-Vorschlags folgt, daß sich der Kreis der in den Vergleich einzubeziehenden Muster aus der Perspektive der in der Gemeinschaft tätigen Fachkreise bestimmt, während der jeweilige Vergleich des Gesamteindrucks aus der Sicht des „informierten Benutzers" vorzunehmen ist. Z u m „informierten Benutzer" bemerkt die Begründung zum V O - E n t w . : 1 0 2 „Die Person, bei der der Gesamteindruck der Unähnlichkeit hervorgerufen werden muß, ist der »informierte Benutzer'. Das kann der Endverbraucher sein, ist es aber nicht zwangsläufig; ihm kann die Erscheinungsform beispielsweise eines Teils im Inneren einer Maschine oder eines im Verlaufe einer Reparatur ersetzten mechanischen Bauteils völlig unbekannt sein. In solchen Fällen ist der »informierte Benutzer' die Person, die das Teil ersetzt. Je nach der Art des Musters wird ein gewisses Maß an Kenntnissen oder Designbewußtsein vorausgesetzt. Der Begriff »informierter Benutzer' soll aber auch aufzeigen, daß die Ähnlichkeit nicht auf der Ebene von ,Designexperten' zu beurteilen ist." Nach der auf den Änderungswünschen des Europäischen Parlaments beruhenden Neufassung des Art. 3 Abs. 3 Richtlinien-Entwurf über die Schutzfähigkeit von Bauelementen eines komplexen Erzeugnisses wird es nunmehr, insoweit in Übereinstimmung mit dem Grünbuch 1 0 3 , wieder auf die Sicht des („informierten") End-

98 Vgl. oben 1). Der Wegfall des Art. 5 Abs. 2 des ursprünglichen Richtlinienentwurfs führt allerdings nicht dazu, daß „eine auf den Fall der »Wiederbelebung' von Mustern zugeschnittene Regelung (fehlt), die insbesondere im Bereich des Modedesigns von praktischem Interesse hätte sein können" (so Kur, wie N. 25, GRUR Int. 1998, 353 ff., 356); denn die Frage ist nunmehr anhand des Art. 6 I des geänderten Richtlinienentwurfs zu entscheiden. Bei der von Kur (a. a. O., in N. 22.) weiter aufgeworfenen Frage, ob nicht wegen des nunmehr einheitlichen Maßstabs des Art. 6 I „Neuheit" und „Eigenart" in einem einzigen Kriterium zusammengefaßt werden sollten, werden die schon hervorgehobenen Einwände (vgl. oben 1) nicht erörtert, insbesondere im Hinblick auf den unterschiedlich relevanten Personenkreis (für die Neuheitsprüfung die „in der Gemeinschaft tätigen Fachkreise", für den unterschiedlichen Gesamteindruck der „informierte Benutzer"). 99 Vgl. zu dem im Rahmen der Prüfung des Merkmals der „Eigentümlichkeit" (§ 1 I I GeschmMG) im deutschen Musterrecht wesentlichen Gesamtvergleich mit den vorbekannten Formgestaltungen und zur diffizilen Prüfungsmethode des BGH Eck, wie N. 15, S. 182 ff.; Eichmann/v. Falckenstein, wie N. 91, § 1 Rz. 31 ff., 35 ff. 100 Vgl. Eichmann, Das europäische Geschmacksmusterrecht auf Abwegen?, GRUR Int. 1996, 859 ff., 862. 101 Vgl. zur Problematik eines „Gesamtvergleichs mit dem vorbekannten Formenschatz" in der Konzeption des Entwurfs unten Text zu N. 122. 102 Wie N. 47, „2. Teil: Einzelne Vorschriften", zu Art. 6 S. 14. 103 Vgl. N. 6, Tz. 5.5.6.1: Entscheidend ist, „ob sich das Muster durch den Gesamteindruck, den es in den Augen der maßgeblichen Öffentlichkeit hervorruft, von jedem anderen bekannten Muster unterscheidet".

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Verbrauchers ankommen 104 . Dafür, daß der Vergleich des Gesamteindrucks sich gerade auf ästhetisch-gestalterische Elemente beziehen soll oder daß an das Muster irgendwelche Anforderungen in dieser Hinsicht gestellt würden, enthalten die Entwürfe keine Anhaltspunkte 105. Dies kann insbesondere nicht aus dem „informierten Benutzer" als Bezugspunkt der Beurteilung der Eigenart wie des Schutzumfangs 106 entnommen werden. Dem „Marketingaspekt" des „design approach" entsprach die im Entwurf des MaxPlanck-Instituts107 und den EG-Vorentwürfen 108 maßgebende Referenzgruppe des 104 Nach dem neugefaßten Art. 3 Abs. 3 des Richtlinien-Entw. sind Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses als solche schutzfähig u. a. nur dann, wenn das Bauelement nach seinem Einbau bei bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt, und nach Art. 3 Abs. 4 des Entwurfs ist „bestimmungsgemäße Verwendung" i.S.v. Abs. 3 nur die Verwendung durch den Endnutzer unter Ausschluß von Instandhaltung, Wartung und Reparatur. Im Gemeinsamen Standpunkt des Rates vom 17. 6. 1997 (wie N. 31) einerseits, der Stellungnahme des Europäischen Parlaments hierzu (wie N. 32) sowie der Stellungnahme der Kommission (wie N. 33) bestehen zu dieser Vorschrift im Detail hier nicht näher darzustellende Unterschiede. 105

Auch insoweit kommt allerdings der nicht aufgelöste Gegensatz des „design approach" zwischen „Marketinginstrument" und „ästhetisch-gestalterischer Leisung" deutlich zum Ausdruck, wenn die Begründung zum Verordnungs-Entwurf (wie N. 47, „2. Teil: Einzelne Vorschriften", zu Art. 9 S. 17) einerseits feststellt: - „Zwischen ästhetischen und funktionellen Mustern wird in der VO nicht unterschieden; sie sind gleichermaßen schutzfähig" - und es unmittelbar im Anschluß daran heißt: - „in äußerst seltenen Fällen folgt die Form der Funktion, ohne daß es eine Möglichkeit zu Abweichungen gäbe. In solchen Fällen kann der Entwerfer nicht behaupten, das Ergebnis gehe auf persönliche Kreativität (Hervorh. v. Verf.) zurück." Auch in dieser Beziehung wird der „design approach" in den europäischen Entwürfen zu weitgehend aus dem Vorverständnis des deutschen Rechts interpretiert durch Eichmann (wie N. 25, Mitt.Pat.Anw. 1998,252 ff.). Wenn es dort (S. 259, im Zusammenhang mit dem Umfang des Schutzrechts) heißt: „Weil unverfänglichere Formulierungsvorschläge bisher nicht zur Diskussion stehen, wird es Aufgabe der Rechtspraxis sein, nicht nach markenrechtlichen, sondern nach designadäquaten Kriterien zu prüfen, ob ein Erzeugnis von den wesentlichen Merkmalen eines Musters Gebrauch macht." Der durch die Entwürfe nicht näher konturierte und nicht auf die Warenästhetik bezogene Gesamteindruck enthält gerade keine Anhaltspunkte, die „wesentlichen Merkmale eines Musters" festzustellen. Gerade das von Eichmann (a. a. O. S. 260) gebildete Beispiel zeigt mit aller Deutlichkeit die Problematik des „design approach": „Resultiert z. B. die Eigenart einer Blumenvase allein aus der Formgebung, kann durch die Ausführung in einem anderen Material und durch die Hinzufügung eines Dekors ein stark abweichender Gesamteindruck auch dann erzeugt werden, wenn die Form völlig oder nahezu identisch übernommen wird. Die Abweichungen können sogar so stark ausgeprägt sein, daß das neue Muster seinerseits das Erfordernis der Eigenart erfüllt. Die eigenständige Eigenart dieses neuen Musters würde nahezu unausweichlich zu einem abweichenden Gesamteindruck führen." Genau dies ist die Konsequenz des „design approach", nicht aber die Feststellung (so indessen Eichmann a. a. O.): „Dennoch wäre das neue Muster so von dem älteren Muster abhängig, daß dessen Benutzung nur mit Zustimmung des Inhabers des älteren Musters erfolgen darf." Der nach dem „design approach" maßgebende „Gesamteindruck" ist zu unkonturiert, als daß sich aus ihm die Formgebung der Vase als das die Eigenart prägende Element ableiten ließe. 106 Vgl. d a z u unten 3. 107 Vgl. GRUR Int. 1990, 559, 579. 108 Vgl. N. 6.

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„Betrachters" bzw. der „maßgebenden Öffentlichkeit", d. h. des Endverbrauchers der betreffenden Produktgruppe 109, ohne daß insoweit, entgegen der Figur des „informierten Benutzers", „ein gewisses Maß an Kenntnissen oder Designbewußtsein" 110 vorausgesetzt wäre. Der „informierte Benutzer" stellt insoweit einen gewissen Systembruch mit der „Marketingkonzeption" des „design approach" dar. Zwar sind die Gründe des Wandels der Referenzgruppe in den EG-Entwürfen nicht ersichtlich. Jedenfalls können, angesichts der ansonsten unveränderten Grundlagen, über den „informierten Benutzer" nicht mittelbar qualitative, „designadäquate" Kriterien in die Ermittlung des „Gesamteindrucks" wieder eingefühlt werden 111 . Insoweit gilt daher Gleiches wie zum Kriterium der „Eigenart" im Entwurf des Max-Planck-Instituts112. Maßgebend ist allein, ob das Muster aufgrund seiner äußeren Gestaltung in den Augen der Betrachter einen im Verhältnis zu gleichartigen Produkten „unterschiedlichen Gesamteindruck" vermittelt. Hier stellt sich einmal die Frage, inwieweit sich infolge des verschiedenen Beurteilerkreises „Neuheit" und „Eigenart" unterscheiden, d. h., ob, wenn eine identische Vorwegnahme nicht vorliegt (vgl. dazu unter 1), dennoch ein andersartiger Gesamteindruck zu verneinen sein kann. Vor allem aber ist der „design approach" mit einer vollständigen Ablehnung jeder Anforderung an eine kreative Gestaltung verbunden. Allein der unterschiedliche Gesamteindruck reicht aus, er braucht nicht in ästhetisch-gestalterischen Motiven begründet zu sein, sondern kann, mit Ausnahme ausschließlich technisch-funktionell bedingter Gestaltung, auf beliebigen Ursachen, auch auf Zufall, beruhen. Schon etwa eine auf Willkür beruhende oder zu Unterscheidungszwecken vorgenommene unterschiedliche Farbgestaltung, die 109 Vgl. hierzu auch Eck, wie N. 15, S. 191 ff. 110 Vgl. zur Kennzeichnung des „informierten Benutzers" in der Begründung zum Verordnungsentwurf oben Text zu N. 102. m In diese Richtung weisen indessen, im Zusammenhang mit dem Schutzumfang, die Ausführungen von Eichmann, wie N. 25, 252 ff., 259: „Weil unverfänglichere Formulierungsvorschläge bisher nicht zur Diskussion stehen, wird es Aufgabe der Rechtspraxis sein, nicht nach markenrechtlichen, sondern nach designadäquaten Kriterien zu prüfen, ob ein Erzeugnis von den wesentlichen Merkmalen eines Musters Gebrauch macht. Eine Hilfestellung dafür wird sein, daß dabei die Beurteilung durch den „informierten Benutzer" - so ominös diese Rechtsfigur auch sein mag - erfolgen muß. Während nämlich die Verwechslungsgefahr häufig aus der Sicht des flüchtigen Betrachters geprüft wird, soll im Musterrecht ein „gewisses Maß an Kenntnissen oder Designbewußtsein" vorausgesetzt werden." ii2 Vgl. GRUR Int. 1990, 559, 579. Allerdings deuten Passagen der Entwurfsbegründung zum Teil auf weitergehende „qualitative" Anforderungen hin, wenn von einer besonderen „Erlebnisqualität" oder von einem nicht ohne weiteres „substituierbaren Gut" gesprochen wird. Diese Ansätze werden aber einmal nicht näher expliziert und vor allem nicht zu normativen Schutzfähigkeitskriterien ausgebaut. Vgl. hierzu auch den Bericht über die Diskussion des Entwurfs von Ritscher, GRUR Int. 1990, 559, 562: „Mit dem Kriterium der „Eigenart" meint der Entwurf zwar nicht eine gestalterische Leistungshöhe und auch keine „Individualität" oder „Originalität" im urheberrechtlichen Sinne, sondern eine Unterschiedlichkeit gegenüber Vorbekanntem aus der Sicht des Marketings". In gleichem Sinne die Deutung des Entwurfs bei Eck, wie N. 15, S. 35.

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Beifügung einer anderen Marke, eine abweichende Größendimension kann einen „andersartigen Gesamteindruck" vermitteln. Nach dem „design approach" schutzfähig ist jedes Muster, welches sich in seiner äußeren Erscheinungsform aus irgendwelchen Gründen (mit Ausnahme ausschließlich technisch bedingter Gestaltungen) und in irgendeiner Weise in seinem Gesamteindruck von anderen Produkten unterscheidet. Damit sind die schwierigen und aufwendigen Bemühungen der bisherigen deutschen Rechtsprechung, mit den Anforderungen an die „Eigentümlichkeit" ein Ausschließlichkeitsrecht rechtfertigende Leistungsanforderungen zu entwickeln 113 , gegenstandslos. Allerdings hat der „Gemeinsame Standpunkt" des Rates vom 17. 6. 1997 114 zum Kriterium der „Eigenart" einen neuen Erwägungsgrund (Nr. 13) eingefühlt: „Die Eigenart eines Musters sollte danach beurteilt werden, inwieweit sich der Gesamteindruck, den der Anblick des Musters beim informierten Benutzer hervorruft, vom vorbestehenden Formenschatz deutlich unterscheidet, und zwar unter Berücksichtigung der Art des Erzeugnisses, bei dem das Muster benutzt wird, und insbesondere des jeweiligen Industriesektors und des Grades der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung des Musters."

Das Europäische Parlament hat in seiner Stellungnahme115 den neuen Erwägungsgrund übernommen, das Wort „deutlich" aber gestrichen. Die Kommission bemerkt in ihrer Stellungnahme hierzu: 116 „Im 13. Erwägungsgrund des gemeinsamen Standpunkts heißt es, daß die Eigenart eines Musters danach beurteilt werden sollte, inwieweit sich ,der Gesamteindruck' vom vorbestehenden Formenschatz ,,deutlich ' unterscheidet, während nach der einschlägigen Vorschrift der Richtlinie (Art. 5) ein Muster Eigenart hat, wenn sich ,der Gesamteindruck' von dem Gesamteindruck lediglich »unterscheidet'. Der gemeinsame Standpunkt entspricht also nicht dem Wunsch des Parlaments und der Kommission, die Schutzschwelle herabzusetzen, wie letztere in ihrem geänderten Vorschlag von 1996 erklärt hat. Im übrigen wird die Auffassung vertreten, daß durch die Wahl des Adjektivs »deutlich' im 13. Erwägungsgrund ein Merkmal hinzugefügt wird, das mit dem Wortlaut und dem Gegenstand des Art. 5 nicht in Einklang steht."

Unabhängig von der mit dem Wort „deutlich" verbundenen Schutzschwelle117 entstammt der Vergleich mit dem „vorbestehenden Formenschatz" im Gemeinsamen Standpunkt des Rates offensichtlich der deutschen Rechtspraxis zum Kriteriun der „Eigentümlichkeit" 118 . Der damit geforderte „Gesamtvergleich" 119 findet 113 Siehe N. 99. 114 Wie N. 31. 115 Wie N. 32. 116 Wie N. 33. 117 Vgl. zur wechselnden Regelung der Schutzschwelle in den Entwürfen auch Kur, wie N. 25, GRUR Int. 1998, 353 ff., 355. Iis Vgl. dazu N. 99. 119 Vgl. dazu N. 99.

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im Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 des Richtlinienentwurfs des Gemeinsamen Standpunkts indessen keine Stütze 120 ; dort wird vielmehr auf den Vergleich verwiesen mit dem „Gesamteindruck . . . , den ein anderes Muster ... hervorruft" 121 . Vor allem enthält die Bezugnahme auf den die deutsche Rechtspraxis prägenden „Gesamtvergleich" mit dem „vorbestehenden Formenschatz" geradezu ein klassisches Beispiel der eingangs hervorgehobenen „dogmatischen Friktionen" 122 . Der Gesamtvergleich des deutschen Rechts ist ohne die urheberrechtliche Grundlage des deutschen Geschmacksmusterrechts, die ästhetisch-gestalterische Leistung als Schutzgegenstand, nicht verständlich. Gerade dieser Sinnzusammenhang wird gelöst, wenn es nach allen Versionen des „design approach" auf den ästhetischen Aspekt gerade nicht ankommen soll. In Übereinstimmung mit dem geänderten Richtlinien-Entwurf 123 heißt es auch im Gemeinsamen Standpunkt124 ausdrücklich, der Musterschutz setze nicht voraus, „daß ein Muster einen ästhetischen Gehalt aufweisen sollte". Wenn darauf hingewiesen wird, ohne einen vom Kriterium der Eigenart geforderten „Gesamtvergleich mit dem vorbekannten Formenschatz" werde auf hinreichende Leistungsanforderungen für die Schutzrechtsgewährung verzichtet 125 , etwa bei einfacher Kombination zweier vorbekannter Muster, ist dies die auf alle qualitativen Kriterien verzichtende Konsequenz des „design approach" als solchem. 3. Schutzumfang Auch in der Bestimmung des Schutzumfangs folgen die EG-Entwürfe wesentlich den vom Vorschlag des Max-Planck-Instituts eingeschlagenen Bahnen. Identisch für eingetragene und nicht eingetragene Muster ist maßgeblich, ob sich in den Augen der Benutzer das neue Muster vom geschützten Muster unterscheidet. In den Details haben sich allerdings seit den Vorentwürfen einige Änderungen ergeben. Während ursprünglich die Perspektive der „maßgebenden Öffentlichkeit" wesentlich war 1 2 6 , ist nunmehr entscheidend der „informierte Benutzer" 127 . Ferner 120 Art. 5 I: „Ein Muster hat Eigenart, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Muster bei diesem Benutzer hervorruft, das der Öffentlichkeit vor dem Tag seiner Anmeldung zur Eintragung oder, wenn eine Priorität in Anspruch genommen wird, am Prioritätstag zugänglich gemacht worden ist." Zum etwas anderen Wortlaut des Art. 5 I des geänderten Richtlinienentwurfs vgl. oben N. 95.

u i Wie vorige N. 1 22 Vgl. oben I. 3. 1 23 Wie N. 29, Erwägung Nr. 13. 124

Erwägung Nr. 14. In diesem Sinne die Ausführungen von Eichmann, wie N. 25, Mitt.Pat.Anw. 1998, 252 ff., 258, 259. ™ Vgl. oben Text zu N. 109. 127 Vorige N. Damit kann nach der Begründung zum VO-Entw. (wie N. 47, „2. Teil: Einzelne Vorschriften", zu Art. 11 S. 18) im Ergebnis eine Maßstabsänderung verbunden sein. Es 125

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ist der Schutzumfang gesenkt worden. Während in den Vorentwürfen und Entwürfen das neue Muster schon dann verletzend ist, wenn es einen „im wesentlichen ähnlichen Gesamteindruck" hervorruft, verlangt Art. 9 I des geänderten Richtlinien-Entwurfs, daß sich das neue Muster „nicht durch seinen Gesamteindruck unterscheidet" 128, bzw., nach Art. 9 I des Gemeinsamen Standpunkts des Rates 129 , daß das neue Muster „beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck erweckt" 130 . Der Herabsetzung der Schutzschwelle in Art. 5 I des geänderten Richtlinien-Entwurfs 131 sollte die Fassung des Art. 9 I angepaßt werden, um zu vermeiden, daß „ein Muster nach dem Wortlaut von Art. 5 an sich schutzfähig ist und gleichzeitig nach der Formulierung von Art. 9 ein älteres Mustger verletzt" 132 . Die gleiche Tendenz zeigt sich, wenn im Art. 9 I I des geänderten Richtlinien-Entwurfs die in den Vorentwürfen und Entwürfen noch aufgenommene Maßgabe entfallen ist, daß „bei der Beurteilung des Schutzumfangs ... grundsätzlich den vorhandenen Gemeinsamkeiten mehr Gewicht beizumessen (ist) als den Unterschieden" 1 3 3 . Wenn die Entwürfe 134 die Berücksichtigung des Grades der Gestaltungsfreiheit fordern, wird aus den Erläuterungen im Grünbuch 135 zu entnehmen sein, daß hiermit auch der sowohl im deutschen Musterrecht 136 wie im Entwurf des heißt dort: „Der bei einem »informierten Benutzer' hervorgerufene Gesamteindruck kann sich von dem bei einem gewöhnlichen Verbraucher hervorgerufenen Gesamteindruck insofern unterscheiden, als der »informierte Benutzer' auffallende Unterschiede feststellen mag, die der Aufmerksamkeit eines gewöhnlichen Verbrauchers völlig entgehen würden. Viel hängt von der Art des Musters ab." 128 Art. 9 I: „Der Umfang des Schutzes aus einem Musterrecht erstreckt sich auf jedes Muster, das sich beim informierten Benutzer nicht durch seinen Gesamteindruck unterscheidet." Art. 9 II: ,3ei der Beurteilung des Schutzumfangs ist der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bei der Entwicklung seines Musters zu berücksichtigen." 129 Wie N. 31. 13° Daß darin mehr als eine sprachliche Änderung liegt, ist nicht ersichtlich. A. A. Eichmann (wie N. 25, Mitt.Pat.Anw. 1998, 252 ff., 259), der für möglich hält, daß der Rat mit dieser Formulierung die Abgrenzung zur markenrechtlichen Verwechslungsgefahr deutlich machen wollte. 131 Vgl. oben 2), Text zu N. 95. 132 Vgl. Begründung zum geänderten Richtlinien-Entwurf, wie N. 55, S. 8. Mit dem Wegfall des Passus „im wesentlichen" folgte die Kommission auch einem Wunsch des Europäischen Parlaments. Ein Auseinanderfallen von materiellen Schutzvoraussetzungen und Schutzumfang läßt sich allerdings mit der Figur der „Bearbeitung" und des „abhängigen Schutzrechts" bewältigen. Vgl. Kur, Zum Vorschlag einer Verordnung über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster. Bericht über die FICPI Round Table Conference, Brüssel, 9. März 1994, GRUR Int. 1994, 514ff., 515 unter Ziff. 3; Eck, wie N. 15, S. 212ff. 133 Vgl. dazu die Begründung zum geänderten Richtlinien-Entwurf, wie N. 55, S. 7, 9. 134 Vgl. N. 128. 135 Vgl. Tz. 5.5.8. 136 Vgl. hierzu BGH GRUR 1961, 635, 638 - Stahlrohrstuhl I; GRUR 1978, 168, 169 Haushaltsschneidemaschine; GRUR 1981, 820, 823 - Stahlrohrstuhl II; GRUR 1988, 369,

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Max-Planck-Instituts137 verankerte Grundsatz der Relativität umfaßt ist. Ein wesentllicher, wiederum im verschiedenen Schutzgegenstand begründeter Unterschied besteht indessen darin, daß es nach dem „design approach" nicht auf die Übernahme gerade der den ästhetischen Gehalt des Klagemusters begründenden neuen und eigentümlichen Formelemente ankommt 138 , sondern eine Übereinstimmung in einem nicht näher konturierten Gesamteindruck. Der Schutzumfang erscheint beim „design approach" im Verhältnis zum herkömmlichen Schutzkonzept tendenziell geringer, weil Unterschiede im freien Formenschatz und bei den außerhalb des ästhetischen Bereichs liegenden Elementen 139 , trotz Übereinstimmung in den neuen und eigentümlichen Formelementen, zu einem unterschiedlichen Gesamteindruck des Betrachters führen können. Insbesondere kann dies auch der Fall sein bei Erzeugnissen in anderen räumlichen Abmessungen oder Farben als das geschützte Muster, während § 5 Nr. 2 GeschmMG den Schutzumfang hierauf erstreckt. Umgekehrt wird aus Unterschieden in den neuen und eigentümlichen Formelementen (nach der traditionellen deutschen Konzeption) auch ein unterschiedlicher Gesamteindruck im Sinne des „design approach" resultieren.

4. Ergebnis: Harmonisierung auf dem Niveau eines gemeinsamen Minimalstandards Die Kommission hat in ihrem Grünbuch festgestellt, die „Unterscheidungskraft" sei das allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gemeinsame Element in den materiellen Schutzvoraussetzungen, zu der dann in unterschiedlichem Umfang weitere Anforderungen hinzuträten 140 . In den späteren Entwürfen hat die Kommission auf solche zusätzlichen Anforderungen verzichtet 141 und sich auf einen 370 - Messergriff. Vgl. auch Eck, wie N. 15, S. 203, 204; Eichmann/v. Falckenstein, wie N. 91, § 5 Rz. 11. 137 Art. 13 III des Entwurfs: „Bei der Beurteilung des Schutzumfangs ist das Ausmaß der Eigenart des geschützten Musters zu berücksichtigen." Vgl. hierzu auch die Entwurfsbegründung GRUR Int. 1990, 559, 581. 138 Nach der traditionellen deutschen Konzeption ist gerade dies wesentlich, vgl. v. Gamm, Geschmacksmustergesetz, wie N. 60, § 5 Rz. 18, 26. 139 Nach der traditionellen deutschen Konzeption sind Unterschiede in diesem Bereich irrelevant, wie vorige N. »40 Vgl. Grünbuch Nr. 2.3.8. S 19, 20 (20): „Aus dem Dargelegten läßt sich schließen, daß jedes Rechtssystem fordert, ein Muster solle, um geschützt zu werden, „Unterscheidungskraft" gegenüber anderen bekannten Mustern aufweisen. Das Maß des Unterschieds zwischen einer unwesentlichen und einer wesentlichen Veränderung gegenüber einem älteren Muster ist der Kern der Frage. Die Tests aber, die zur Festlegung der Grenzlinie verwendet werden, sind nicht einheitlich: Bisweilen sind sie sehr streng, bisweilen sehr locker, und in vielen Fällen ist es schwierig, in der jeweiligen innerstaatlichen Rechtspraxis klare Richtlinien auszumachen." Vgl. auch Eichmann, Geschmacksmusterrecht und EWG-Vertrag, GRUR Int. 1990, 121, 124. Vgl. dazu oben 2.C.2).

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gemeinsamen Minimalstandard beschränkt. Die Entwürfe bleiben daher in ihrem gegenwärtigen Stand noch hinter der eingangs zitierten Charakterisierung 1 4 2 zurück.

I I I . Zusammenfassende Würdigung 1. Fundamentale Aufgabe zunächst des Gesetzgebers, sodann der Rechtsprechung bei der Ausgestaltung von Immaterialgüterrechten ist die Herausbildung einer klaren, von den allgemeinen immaterialgüterrechtspolitischen Grundlagen 1 4 3 legitimierten Vorstellung der durch das Ausschließlichkeitsrecht geschützten Leistung; diese Idee ist sodann durch die rechtliche Festlegung des Schutzgegenstandes und der materiellen Schutzvoraussetzungen normativ zu verankern 1 4 4 . Die deutsche Gesetzgebung, jedenfalls die anschließende Rechtsprechung, hat diesem Postulat mit der Sicht des Geschmacksmusterrechts als einem auf ästhetischem Gebiet liegenden, auf urheberrechtlicher Grundlage beruhenden Schutzgegenstand und den Anforderungen an Neuheit und Eigentümlichkeit, bei Diskussionswürdigkeit der Lösungen i m Detail, entsprochen 1 4 5 . Gegen diese urheberrechtliche Kon142 Vgl. Text zu N. 42. 1 43 Die rechtspolitische Grundlage spezifisch des Geschmacksmusterrechts ist zwar wenig erörtert (vgl. auch Eichmann/v. Falckenstein, wie N. 91, Allgemeines Rz. 12; Eck, wie N. 15, S. 124). Indessen ist es möglich, die im Patentrecht sehr viel breitere und von Machlup (Die wirtschaftlichen Grundlagen des Patentrechts, GRUR Int. 1961, 373, 473, 524) in klassischer Weise (vgl. die Nachw. bei Eck, wie N. 15, S. 116 Fn. 6) zusammengefaßte Diskussion unter Beachtung ihres jeweils besonderen Schutzgegenstandes auch für die anderen gewerblichen Schutzrechte fruchtbar zu machen (ähnlich der Ansatz bei Eck, wie N. 15, S. 116 ff.). Danach lassen sich unterscheiden: die in naturrechtlichen Gedanken wurzelnde sog. Eigentumslehre, nach der der Mensch ein natürliches Eigentumsrecht an seinen eigenen Ideen besitzt; der sog. Belohnungsgedanke, nach dem der geistig Schaffende für seine der Allgemeinheit förderliche Leistung eine durch Gewährung eines zeitlich begrenzten Ausschließlichkeitsrechts am Markt zu realisierende Vergütung erhalten soll; die sog. Anspornungstheorie, nach der eine im öffentlichen Interesse liegende, häufig mit erheblichen materiellen Aufwendungen verbundene geistige Leistung durch Gewährung eines befristeten Ausschließlichkeitsrechts angeregt werden soll; die sog. Vertragslehre, die Gewährung des Ausschließlichkeitsrechts als Gegenleistung für die Offenbarung der geistigen Leistung und die darin liegende Bereicherung der Allgemeinheit. Wie für das Patentrecht (vgl. Eck, wie N. 15, S. 120 m. w. Nachw.) und die anderen gewerblichen Schutzrechte gilt auch für das Geschmacksmusterrecht, daß sich diese Theorien ergänzen und nur in ihrer Gesamtheit zur Begründung des Schutzrechts ausreichen. 1 44 Vgl. auch Eck, wie N. 15, S. 170,174. 145 Nicht überzeugend ist bei Eck, wie N. 15, S. 170, die Zuordnung der Rechtsprechung zum Neuheitskriterium zum Schutzgrund der „Bereicherung des Formenschatzes" und der Rechtsprechung zum Kriterium der Eigentümlichkeit zum Belohnungs- und Ansporngedanken. Vielmehr füllen beide Kriterien insgesamt die Schutzgründe aus. Gerade der bei der Eigentümlichkeitsprüfung erforderliche Gesamtvergleich mit dem vorbekannten Formenschatz ist auch im Zusammenhang mit dem Schutzgrund Bereicherung des Formenschatzes" zu sehen.

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zeption wendet sich der dem Enwurf des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht sowie den europäischen Entwürfen zugrunde liegende „design approach" 146 , nach dem sich die geschmacksmusterrechtliche Regelung im Ausgangspunkt nicht von urheber- oder patentrechtlichen Vorstellungen leiten lassen sollte, sondern von den spezifischen Eigentümlichkeiten des Designschaffens auszugehen habe 147 . Die zentrale Kritik richtet sich gegen das Verständnis des Design und des geschmacksmusterrechtlichen Schutzgegenstandes als einer, wenngleich mit im Verhältnis zum urheberrechtlichen Werkbegriff verminderten Anforderungen an die Gestaltungshöhe, „persönlichen geistigen Schöpfung"; eine solche Konzeption verkenne den „Marketingaspekt" des Design, daß nämlich die Gestaltung der äußeren Erscheinungsform von Produkten auf den Absatzerfolg am Markt ziele und deshalb die Attraktivität in den Augen der Nachfrager das entscheidende Moment sei 1 4 8 . 2. Dieser „Marketingaspekt" des Design ist allerdings zunächst keineswegs erstmalig gesehen. Schon der Gesetzgeber des GeschmMG von 1876 war wesentlich industriepolitisch motiviert; es sollte das Designschaffen durch Gewährung eines Ausschließlichkeitsrechts angeregt und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie gesteigert werden 149 . Auch die Rechtsprechung hat diese Eigentümlichkeit des Design stets erkannt und bei der Herausbildung ihrer geschmacksmusterrechtlichen Lösungen berücksichtigt 150 . Auch schon im friihe146 Dazu, daß diese Vorstellung nach wie vor auch den europäischen Entwürfen zugrunde liegt, vgl. auch Kur, Die Zukunft des Designschutzes in Europa - Musterrecht, Urheberrecht, Wettbewerbsrecht, GRUR Int. 1998, 353 ff., 354. Anders wohl die Beurteilung von Eichmann, Das europäische Geschmacksmusterrecht auf Abwegen, wie N. 100, S. 859 ff., 860. 1 47 Vgl. auch Kur, Die Zukunft des Designschutzes in Europa - Musterrecht, Urheberrecht, Wettbewerbsrecht, GRUR Int. 1998, 353 ff., 354: „Das Ziel des zuletzt genannten Entwurfs war es, den Gegensatz zwischen Copyright und patent approach zu überwinden und die Regelung auf eine eigenständige, den Besonderheiten der Materie entsprechende Grundlage zu stellen (schlagwortartig als „design approach" bezeichnet)." 148 Vgl. oben II.

149 Vgl. ROHGE 24, 401 ff.; RGZ 61, 44, 46. Vgl. zur Gesetzesteleologie auch Eck, wie N. 15, S. 21, 125; Englert, wie N. 15, S. 15; Gerstenberg, Die Entwicklung des Geschmacksmusterrechts, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht in Deutschland, wie N. 15, S. 691 ff., 694 ff., 150 Vgl. etwa die Leitentscheidung des BGH zum Neuheitsbegriff, GRUR 1969, 90 Rüschenhaube. Der BGH setzt sich hier u. a. mit dem Hauptargument der von ihm abgelehnten subjektiven Lehre auseinander, der Parallele zum Urheberrecht (BGH a. a. O. S. 93, 94). Der BGH betont einerseits eine wesentliche zwischen beiden Rechten bestehende Übereinstimmung insofern, als sie auf den Formen- und Farbensinn und damit auf das ästhetische Empfinden einwirkten und als Schutzvoraussetzung in beiden Fällen eine, wenngleich unterschiedlichen Ranges, selbständige schöpferische Leistung sei. Andererseits begründe die gewerbliche Verwertbarkeit und die dadurch bedingte Anpassung an vorherrschende Geschmacksrichtungen, im Gegensatz zu den die Individualität des Urhebers zum Ausdruck bringenden urheberrechtlich geschützten Werken, durchaus die Möglichkeit unabhängiger Parallelschöpfungen mit Folgerungen für den Neuheitsbegriff; insofern bestehe eine Annähe11 FS Leisner

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ren Schrifttum sind aus der Betonung des „Marketingaspekts" zum Teil weitreichende Konsequenzen für die rechtliche Behandlung des Geschmacksmusters abgeleitet worden, insbesondere die Herabstufung zu einem allein dem Unternehmer wegen seiner i m Vordergrund stehenden wirtschaftlich-organisatorischen Leistung zustehenden Leistungsschutzrecht 151 . 3. Vor allem stellt sich indessen die Frage, worin nach dem „design approach" der geschützte Leistungsgegenstand zu sehen ist und ob dieser Leistungsgegenstand in angemessener Weise i m rechtlichen Schutzgegenstand und den materiellen Schutzvoraussetzungen erfaßt ist. Die Begründung zum Diskussionsentwurf des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht sieht die Aufgabe zwar deutlich 1 5 2 . Eine Lösung wird indessen nicht erkennbar. Eine prägnante Kennzeichnung des Schutzgegenstandes des „design approach" i m Gegensatz zur abgelehnten ästhetisch-gestalterischen Schöpfung des traditionellen deutschen Rechts sucht man in der Begründung vergeblich. Auch die in der Entwurfsbegründung vielfältig enthaltenen Umschreibungen des Design sind angesiedelt in einem nicht aufgelösten Spannungsverhältnis zwischen einem Beitrag zum Kulturleben einerseits, als Marketinginstrument andererseits; diese Charakterisierungen lassen einen deutlichen Schluß auf den Schutzgegenstand des „design approach" nicht z u 1 5 3 . Übrig bleibt die in der Entwurfsbegrünrung an die Gegenstände der technischen Schutzrechte, welche als Erkenntnisse neuer Lehren zum technischen Handeln auf der Basis des jeweiligen technischen Entwicklungsstandes und der jeweiligen technischen Bedürfnisse die Möglichkeit von Doppelerfindungen nahelegten (vgl. zu dieser Eigenart des Geschmacksmusters im Verhältnis zum Urheberrecht auch Furier, wie N. 60, IV. Grundsätzliches zum Geschmacksmusterrecht, 3., S. 16 ff., 17). 151 Vgl. hierzu m. Nachw. Englert, wie N. 15, S. 37 ff.; Eck, wie N. 15, S. 24, 135 ff. Diese Sicht ist insbesondere schon von Hubmann vertreten worden (Das Recht des schöpferischen Geistes, 1954, S. 158 ff.; derselbe, Urheber- und Verlagsrecht, 6. Aufl. 1987, § 9 III), der hiermit in grundrechtlicher Perspektive, im Unterschied zum Urheberrecht, den Charakter des Geschmacksmusterrechts als „naturgegebenen geistigen Eigentums", im Gegensatz zur Schaffung des Schutzrechts durch den Gesetzgeber, verneint hatte, vgl. derselbe, Geistiges Eigentum, in: Die Grundrechte.Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, hrsg. von Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Bd. I V / 1 (1960), 19: „Normalerweise enthalten sie (sc. die Muster) also nicht den individuellen Geist, sondern den Gemeingeist, an dem von Natur aus kein geistiges Eigentum eines einzelnen besteht." 152 GRUR Int. 1990, 573, 574: „Im Hinblick auf die materielle Ausgestaltung des Schutzes bleiben die Wahlmöglichkeiten jedoch dieselben. Man kann entweder zwischen verschiedenen Bestimmungen und Grundeinstellungen, die in den Gesetzgebungen der Mitgliedsländer zum Ausdruck kommen, eine Auswahl treffen und versuchen, diese zu einem einheitlichen System zusammenzufügen, oder man kann zunächst die Frage stellen, was den Gegenstand des Schutzes ausmachen sollte, und sodann versuchen, mit so großer Freiheit wie möglich und erforderlich, eine Ordnung zu schaffen, die diesem Schutzgegenstand und den herrschenden Marktgegebenheiten gerecht wird ... Der design approach, den die Verfasser zugrundegelegt haben, geht vom Schutzgegenstand selbst, seiner spezifischen Aufgabe und seinem eigenen Umfeld aus." S. 578: „Wie eingangs ausgeführt, sind die Verfasser des Diskussionsentwurfs der Auffassung, daß im Hinblick auf die materiellen Schutzvoraussetzungen eine den Besonderheiten des Designschutzes Rechnung tragende Betrachtungsweise Anwendung finden sollte (design approach)."

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dung nicht näher konturierte normative Festlegung des Schutzgegenstandes und der materiellen Schutzvoraussetzungen: Die optisch wahrnehmbare äußere Erscheinung, die von einer den europäischen Fachkreisen zugänglichen früheren Gestaltung nicht identisch vorweggenommen wird und die sich in den Augen des Betrachters aus irgendwelchen Gründen und in irgendeiner Weise in ihrem Gesamteindruck von anderen Gestaltungen unterscheidet 1 5 4 . Die Frage, ob dieser unkonturierte, keineswegs notwendig bzw. gerade nicht in ästhetisch-gestalterischen Merkmalen begründete Unterschied i m Gesamteindruck einer „geistigen Leistung" entspricht, welche nach den allgemeinen immaterialgüterrechtspolitischen Grundlagen die Gewährung eines Ausschließlichkeitsrechts rechtfertigt, wird nicht erörtert 1 5 5 . 4. Auch die Befürworter des „design approach" i m Schrifttum setzen sich mit dieser Frage i m allgemeinen nicht näher auseinander 156 . Eine Ausnahme bildet allerdings die einer Explikation und Verdeutlichung des „design approach" gewidmete Arbeit von Eck 157. Ausgangspunkt ist die Ermittlung der Interessen der End153

Symptomatisch etwa die noch vergleichsweise eng auf den Schutzgegenstand bezogenen Ausführungen GRUR Int. 1990, 574: „Der design approach, den die Verfasser zugrunde gelegt haben, geht vom Schutzgegenstand selbst, seiner spezifischen Aufgabe und seinem eigenen Umfeld aus. Design ist in der Regel dazu bestimmt, den Absatz von Konsumgütern zu fördern. Realistischerweise ist daher die marktorientierte Komponente des Design in die Überlegungen einzubeziehen. Am Markt zeigt sich, daß das Design sowohl ein effektives Marketinginstrument als auch ein wesentlicher Bestandteil der modernen Kultur ist. Am Markt erweist sich ein Design als neu und /oder eigenartig; und dort erfährt auch das „gute" Design in der Regel seine faktische Belohnung in Form eines größeren Absatzerfolges. Bezieht man die Marktwirkung des Design in die Überlegungen ein, so ergibt sich daraus für die rechtliche Betrachtung eine neue Perspektive. Auf welche Schwierigkeiten stößt derjenige, der in ein neues Design investiert? Wie nah soll ein Konkurrent an ihn herankommen dürfen? Was sollte die Schutzfähigkeit einer Formgebung ausmachen? Wie kann verhindert werden, daß das selbständige Formschaffen anderer innerhalb desselben Produktbereichs beeinträchtigt wird? Alle diese Fragen gewinnen eine neue Dimension, wenn bei ihrer Beantwortung weniger die Sphäre des Designers / des Produzenten als das Design selbst sowie seine Wirkung in der Realität des Marktes in den Fordergrund gestellt werden." Wie hieraus der Schutzgegenstand des Design bestimmt werden soll, bleibt offen. Auf den prognostizierten oder realisierten Markterfolg kann jedenfalls nicht abgestellt werden, vgl. auch unten 4. 154 Vgl. oben II.2.C.2). 155 Das Schweigen der Entwurfsbegründung in dieser wesentlichen Frage wird auch nicht mit dem Hinweis darauf gerechtfertigt werden können, für die Arbeiten am Entwurf habe „eine wichtige Richtschnur darin (bestanden), eher nach pragmatischen als dogmatischen Lösungen zu suchen", a. a. O. S. 577. 156 So insbesondere nicht die Mitglieder der Arbeitsgruppe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht in ihren Veröffentlichungen zur Entwicklung eines europäischen Geschmacksmusterrechts. Vgl. Beier, Der Musterschutz von Ersatzteilen in den Vorschlägen für ein Europäisches Musterrecht, GRUR Int. 1994, 716 ff.; Kur, Die Zukunft des Designschutzes in Europa - Musterrecht, Urheberrecht, Wettbewerbsrecht, wie N. 25; dieselbe, Die bevorstehende Neuregelung des Geschmacksmusterrechts in der EU und ihre voraussichtlichen Auswirkungen auf Osterreich, Österr. Bl. f. Gewerbl. Rechtsschutz und Urheberrecht 1995, S. 3 -12. 157 Eck, Neue Wege zum Schutz der Formgebung (1993). Vgl. oben N. 15. Ii*

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Verbraucher, welche durch die Gestaltung der äußeren Erscheinungsform von Produkten berührt werden. Diese Interessen erschöpfen sich nicht mehr in den reinen Sach- und Funktionsbedürfnissen 158, sondern gehen heute, insbesondere angesichts der vielfach weitgehend angeglichenen Leistungsfähigkeit der Produkte, weit darüber hinaus; die Eignung der Formgestaltung, diese weitergehenden Bedürfnisse zu befriedigen, stiftet einen Zusatznutzen für den Konsumenten. Bei diesen, die reine technische Funktionsleistung übersteigenden Bedürfnissen handle es sich um ein vielfältiges Spektrum, in das die ästhetische, das Geschmacksempfinden berührende Wirkung zwar als wichtiges Element eingeschlossen ist, welches aber, wie ökonomische Untersuchungen zur Absatzrelevanz der Produktgestaltung zeigen 1 5 9 , wesentlich umfassender ist und die Gesamtheit der an die äußere Erscheinungsform anknüpfenden Konsumenteninteressen umfaßt 160 : „Allein in dem durch die Befriedigung des Schönheitsempfindens liegenden Zusatznutzen ist die vielschichtige Aufgabe der Produktgestaltung aber noch nicht hinreichend erfaßt. Unter zunehmendem Konkurrenzdruck geht es den Herstellern heute darüber hinaus um die Schaffung einer spezifischen Produktpersönlichkeit. Vereinfacht ist darunter die gesamte Aura der mit und durch das Produkt geweckten Emotionen und Assoziationen, die sog. Anmutungsleistung zu verstehen. Das bedeutet, daß es dem Hersteller gelingen muß, mit dem Gesamtprodukt eine möglichst große Zahl von Bedürfnissen der ins Auge gefaßten Zielgruppe zu befriedigen ... Damit erschöpft sich die Funktion der Produktgestaltung nicht allein in ihrer rein ästhetischen Wirkung, sondern sie hat darüber hinaus auch die Aufgabe, das gesamte Spektrum der Anmutungsleistungen zu vermitteln ... In der konkreten Gestaltung eines Produktes sollten idealerweise also alle absatzrelevanten Faktoren ihren Niederschlag finden." 161

Die Aspekte der Warenästhetik sind bei Eck daher zwar stark betont 162 , sind aber keineswegs als ausschließliche zu verstehen. Diese an der Gesamtheit der Kundenbedürfnisse orientierte Formgestaltung begründet den im „design approach" zentralen Marketingaspekt, und die hierin liegende, einen hohen Einsatz kostspieliger und aufwendiger Professionalität erfordernde 163, im Verhältnis zur „persönlichen geistigen Schöpfung" des Urheberrechts nicht nur graduell, sondern qualitativ wesentlich verschiedene Leistung, bildet den Schutzgegenstand des iss a.a.O. S. 7, 11. 159 Vgl. dazu die Darstellung m. w. Nachw. S. 9 ff. 160 So gehören hierzu etwa Farbgestaltungen, die aus Gründen einer gefühlsmäßigen Assoziierung mit dem Natürlichen (Grün) oder aus Gründen religiösen Empfindens (etwa im Islam, S. 10) vorgenommen werden; die Anordnung von Bedienungselementen aus Gründen besserer Übersichtlichkeit (S. 10); die Berücksichtigung sozialer Konventionen bei der Gestaltung des Abstandes von Möbeln (S. 10); ergonomische (S. 10, 11) und ökologische Gesichtspunkte; die Vermittlung des richtigen Images, des sozialen Zugehörigkeitsgefühls (S. 11,12); die Berücksichtigung von Sicherheitsbedürfnissen (S. 12). 161 a. a. O. S. 12, 13. 162 Vgl. etwa S. 5, 8, 9 m. Hinw. auf die historische Entwicklung des Designschaffens, insbesondere die Bauhausideen und ihre Wirkungen, S. 12. 163 Vgl. a. a. O. S. 13.

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Geschmacksmusterrechts, wie er in angemessener Weise im Entwurf des MaxPlanck-Instituts für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht wie weitestgehend auch in den EG-Entwürfen erfaßt sei. Gegenüber dieser Konzeption stellt sich insbesondere zunächst die Frage, ob die Ausdehnung des Geschmacksmusterrechts über die ästhetischen, auf das geschmackliche Empfinden zielenden Gestaltungselemente hinaus angemessen ist. Einmal werden Ausschließlichkeitsrechte nicht für bestimmte eingegrenzte Leistungsgegenstände gewährt, sondern auf den amorphen Bereich einer durch die Produktgestaltung ausgelösten „Anmutungsleistung" erstreckt, hinter der sich eine Vielfalt von „ Z u s a t z n u t z e n " verbergen kann und bei der sich fragen läßt, ob sie sämtlich ein Ausschließlichkeitsrecht zu rechtfertigen vermögen. Ferner sind viele der anderen aufgezählten nicht-ästhetischen Aspekte, etwa ergonomische, ökologische oder Sicherheitsbedürfnisse, nicht notwendig mit der Wahrnehmbarkeit in der äußeren Erscheinungsform verbunden, sondern können sich in anderer Weise realisieren, etwa im Hinblick auf das eingesetzte, äußerlich nicht unterscheidbare Material. Es erscheint wenig überzeugend, die Befriedigung solcher Bedürfnisse nur dann mit einem Schutzrecht zu versehen, wenn sie sich gerade in der äußeren Formgestaltung zeigt. Demgegenüber steht es dem Gesetzgeber frei, das Schutzrecht auf ein besonderes Leistungselement der Formgebung, den ästhetischen Aspekt, zu beschränken. Damit muß keineswegs der Marketingaspekt der industriellen Formgebung verkannt werden. Vielmehr gewährt der Gesetzgeber das Schutzrecht in einer MittelZweck-Relation: Zwar wird spezifisch die geschmacklich-ästhetische Gestaltungsleistung als solche geschützt, indessen durchaus in der Erwartung dadurch erhöhter Produktattraktivität und gesteigerter Wettbewerbsfähigkeit. Gerade in dieser Weise ist der deutsche Gesetzgeber des Geschmacksmusterrechts verfahren, der zwar stets den Marketingaspekt gesehen hat 1 6 4 , dies aber, wie schon das Reichsoberhandelsgericht in seiner Leitentscheidung vom 3. 9. 1878 festgestellt hat 1 6 5 , allein durch den Schutz der ästhetisch-geschmacklichen Gestaltungsleistung erreichen wollte 1 6 6 . Der „design approach" weicht insofern vom traditionellen Verständnis des Geschmacksmusters jedenfalls in der deutschen Rechtsentwicklung grundlegend ab. 164 Vgl. oben 2. Insofern zutreffend auch Eck S. 103 ff. 165 Vgl. oben N. 75. 166 Eck betont zwar zutreffend den vom Gesetzgeber gesehenen Marketingaspekt, macht aber die Bezogenheit des Gesetzes auf den ästhetisch-geschmacklichen Bereich nicht hinreichend deutlich, vgl. S. 103 ff. Insbesondere hatte Dambach, der als Vertreter der Regierung der die Gesetzgebung vorbereitenden Enquete-Kommission angehörte, den Gesetzentwurf ausarbeitete und im Reichstag vertrat, in seinem Kommentar (Das Musterschutzgesetz vom 11. Januar 1876 (1876) S. 16) ausgeführt: „Im Sinne des vorliegenden Gesetzes sind unter Mustern und Modellen zu verstehen: alle Vorbilder für die Form von Industrieerzeugnissen, sofern diese Vorbilder zugleich dazu bestimmt oder geeignet sind, den Geschmack oder das ästhetische Gefühl zu befriedigen."

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Unabhängig von der wesentlichen Ausweitung des Leistungsgegenstandes ist noch gewichtiger die Frage, ob die Leistungsidee in der normativen Festlegung des Schutzgegenstandes sowie der materiellen Schutzvoraussetzungen eine durch die immaterialgüterrechtspolitischen Schutzgründe legitimierte Ausprägung erfahren hat. Das Problem wird bei Eck zwar klar gesehen167. Die gegenüber dem „design approach" schon erhobenen wesentlichen Zweifel insoweit erscheinen indessen kaum beschwichtigt. So wird das Neuheitskriterium im Entwurf des Max-PlanckInstituts - neuheitsschädlich ist nur die identische Vorwegnahme einer früheren Erscheinungsform - 1 6 8 bei Eck gerechtfertigt mit dem Schutzgrund „Bereicherung des Formenschatzes" 169. Hieran überzeugt einmal nicht die Zuordnung des Kriteriums der Neuheit und der Eigenart zu unterschiedlichen Schutzgründen. Zum zweiten fragt sich, ob bei einer nicht auf ästhetisch-geschmacklichem Gebiet liegenden, sondern etwa ergonomisch oder ökologisch bedingten Produktgestaltung von einer „Bereicherung des Formenschatzes" gesprochen werden kann. Vor allem ist dies indessen fragwürdig, wenn jeder den Fachkreisen in irgendeiner Weise erkennbare Unterschied der äußeren Erscheinung des Produkts dem Neuheitskriterium genügen soll. Noch deutlicher werden die Zweifel bei der Zuordnung des Kriteriums der Eigenart zur Ansporn- und Belohnungsfunktion des Musterrechts 170. Auch wenn die vom „design approach" propagierte Idee des Leistungsgegenstandes als einer absatzrelevanten Gestaltung zugrundegelegt wird, erscheint die „Eigenart" als ein wesentlich zu pauschales und weitgefaßtes normatives Meßinstrument einer solchen Leistung, wenn darunter lediglich verstanden wird, daß sich das Muster in seiner äußeren Erscheinungsform aus irgendwelchen Gründen und in irgendeiner Weise in seinem Gesamteindruck von anderen Produkten unterscheidet 171. Dem 167 168 169 170

Vgl. oben N. 144. Vgl. oben N. 83. Vgl. Eck S. 152 ff. Vgl. Eck S. 170 ff.

171 Vgl. auch oben II.2.C.2). An anderen Stellen deuten Formulierungen bei Eck allerdings darauf hin, daß mit der „Eigenart" doch gewisse Anforderungen kreativer Formgestaltung verbunden sein sollen. Vgl. insbesondere die Ausführungen zur Erfassung der absatzrelevanten Leistung mit dem Merkmal der Eigenart S. 173 ff., etwa S. 174: ,3esteht einer der tragenden Schutzgründe des Geschmacksmusterrechts darin, Gestalter und Unternehmer durch die Gewährung des Schutzrechts zu einer auf immer bessere Bedürfnisbefriedigung gerichteten Gestaltungsarbeit anzuspornen, so verdient vor diesem Hintergrund nur diejenige Gestaltung Schutz, die aufgrund ihrer gestalterischen Innovation auch die Chance einer erhöhten Bedürfnisbefriedigung in sich birgt. Gestalterische Innovation bedeutet, daß die Gestaltung für die Produktzielgruppe oder, wie die Entwürfe der EG-Kommission formulieren, „für die maßgebliche Öffentlichkeit" (Art. 4 Abs. 2 Kommissions-Entwurf, Art. 3 Abs. 3 Richtlinien-Entwurf) eine gewisse Besonderheit aufweist. Dies wird dann der Fall sein, wenn sie sich in ihrer Gestaltung von dem der Zielgruppe bekannten Formengut unterscheidet. Die Zielgruppenorientiertheit der Betrachtung bedingt dabei gleichzeitig eine Produktgruppenorientiertheit, denn die Absatzrelevanz einer Gestaltung im Sinne eines kaufentscheidenden Faktors besteht innerhalb einer bestimmten Produktgruppe. Nur durch einen differenzierenden Vergleich der

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Einwand der nicht hinreichenden Umsetzung der Leistungsidee in die normativen Schutzvoraussetzungen kann auch nicht mit dem Hinweis begegnet werden, geschützt sei lediglich die mit der Produktgestaltung begründete Chance verbesserter Bedürfnisbefriedigung der Konsumenten 1 7 2 . Denn auch dafür enthält die so interpretierte „Eigenart" keine hinreichenden Anforderungen. Angesichts des mit der Zulassung sämtlich denkbarer an die äußere Erscheinungsform anknüpfender Konsumentenbedürfnisse amorphen Leistungsgegenstandes werden sich nähere normative Leistungskriterien allerdings nur schwer entwikkeln lassen. Der Absatzerfolg des Produkts 1 7 3 oder die Tatsache seiner Nachbildung als solche 1 7 4 sind hierfür jedenfalls ungeeignet. 5. Die EG-Entwürfe folgen dem „design approach" des Entwurfs des MaxPlanck-Instituts und sind der gleichen grundsätzlichen Kritik ausgesetzt; zur hier interessierenden Frage nach dem durch die immaterialgüterrechtspolitischen Schutzgründe legitimierten Leistungsgegenstand und seiner angemessenen Umsetzung in den normativen Schutzgegenstand und die materiellen Schutzvoraussetzungen nehmen sie keine Stellung. Vielmehr wird vielfach hervorgehoben, die EG-Entwürfe seien in ihrer Grundkonzeption auf weitgehende Zustimmung gestoß e n 1 7 5 ; anscheinend ist die wesentliche Abweichung jedenfalls vom traditionellen

fraglichen Gestaltungen mit dem in dieser Produktgruppe bereits bekannten Standard an Formen läßt sich feststellen, ob sie eine potentiell kaufentscheidende gestalterische Besonderheit aufweist. Denn die den Geschmacksmusterschutz rechtfertigende Gestaltungsleistung muß, um die Chance einer besseren Bedürfnisbefriedigung in sich zu tragen, von der Gesamtheit des in einer Produktgruppe bisher bekannten Formenstandards unterscheidbar sein. Nur dann wird die Zielgruppe in der Gestaltung eine absatzrelevante Besonderheit sehen. In der Maßgeblichkeit der Gesamtheit des produktgruppenbezogenen Formenstandards unterscheidet sich der Vergleichsmaßstab der Eigentümlichkeit von dem der Neuheit. Denn bei der Neuheit wird - vor dem Hintergrund der in dieser Schutzvoraussetzung umgesetzten Schutzgründe - Schutzwürdiges von Schutzunwürdigem anhand eines Einzelvergleichs mit den bisher bekannten konkreten Formen geschieden." Diese Aussagen mögen auf ein vom Text abweichendes Verständnis des unterschiedlichen Gesamteindrucks hindeuten. Sie lassen aber nicht erkennen, wie, ohne den vom „design approach" abgelehnten Bezug auf ästhetische Merkmale, die „Gesamtaussage" eines Musters, ein vorbekannter „Formenstandard" und ein „Gesamtvergleich" des Musters ermittelt bzw. mit diesem durchgefühlt werden kann. 172 Vgl. Eck S. 126,128, 174, 175. 173 Die Gründe hierfür müssen nicht in einer „absatzrelevanten Gestaltung" liegen, ferner ist der Absatzerfolg erst ex post feststellbar. 174 Auch sie muß nicht in der (ohnehin subjektiven) Überzeugung von einer besonders gelungenen „absatzrelevanten Gestaltung" begründet sein, sondern kann anderweitig motiviert sein, insbesondere in der Annäherung an ein durch andere Faktoren als die äußere Gestaltung begründetes Produktimage. Auch im wettbewerbsrechtlichen Nachahmungsschutz wird die Nachahmung von der zusätzlich geforderten „wettbewerblichen Eigenart" getrennt; vgl. N. 192. 175 Vgl. Kur, wie N. 25, GRUR Int. 1998, 353 ff., 354 m. w. Nachw. Vgl. auch Eichmann, wie N. 25, Mitt.Pat.Anw. 1998, 252 ff., 259: „Die meisten Bestimmungen haben inzwischen Fassungen erhalten, die kaum noch Diskussionen auslösen."

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deutschen Recht und die Problematik des „design approach" noch nicht hinreichend deutlich geworden 176 . Eher vereinzelt ist daher die Kritik 1 7 7 , das Gemeinschaftsgeschmackmuster sei nicht zu verstehen als gewerbliches Schutzrecht auf urheberrechtlicher Grundlage, da es nach dem Entwurf auf die schöpferische Eigentümlichkeit nicht ankomme. Vielmehr handle es sich um einen besonderen Leistungsschutz, für den maßgebend sei, ob sich die Gestaltungsform durch ihre besondere (wettbewerbliche) Eigenart im ästhetischen Bereich in den Augen der angesprochenen Verkehrskreise von anderen bekannten Gestaltungsformen unterscheidet. Die im Entwurf gezogene Schutzschwelle sei so niedrig angesetzt, daß sie sich, auch angesichts des im Entwurf anerkannten Zusammenhangs zwischen dem Ausmaß der Unterscheidungskraft und der Weite des Schutzumfangs, weder mit der vorgeschlagenen absoluten Sperrwirkung noch der Dauer der Schutzfrist vertrage. Diese Einwände zielen in eine mit dem Vorstehenden übereinstimmende Richtung. Sie gehen allerdings von einem noch weniger der Kritik ausgesetzten Substrat aus, als sie den EG-Entwürfen einen auf ästhetischem Gebiet liegenden Schutzgegenstand unterstellen 178 und als die EG-Entwürfe in ihren Anforderungen noch hinter denen des wettbewerblichen Leistungsschutzes des deutschen Rechts zurück bleiben 179 . In eine mit den vorstehenden Überlegungen übereinstimmende Richtung geht auch die Kritik des Geschmacksmusterausschusses der Patentanwaltskammer an der im Grünbuch der EG-Kommission 180 maßgebenden Schutzvoraussetzung der „Unterscheidungskraft als schutzbegründendes Kriterium anstelle von Gestaltungshöhe" 1 8 1 ; die Patentanwaltskammer empfiehlt: „Die Unterscheidungskraft sollte 176 Vgl. auch Kur, wie N. 25, GRUR Int. 1998, 353 ff., 355: „Dabei war es noch relativ einfach, Einigkeit darüber zu erzielen, daß das qualifizierende Merkmal der „Eigenart", auf dem in der Praxis das Schwergewicht bei der Prüfung der Schutzvoraussetzungen liegt, nicht im Sinne einer Qualitätsprüfung zu verstehen ist (handelt es sich um „gutes" Design; übersteigt es das Können eines Durchschnittsdesigners etc.), sondern daß es allein auf die „Unterschiedlichkeit" im Verhältnis zu den bereits existenten Formen ankommt, wobei diese aus der Sicht des „informierten Benutzers" zu beurteilen ist." 177 Vgl. v. Gamm, Das Gemeinschaftsmuster, wie N. 42, S. 197, 204 - 206. Die Ausführungen von v. Gamm beziehen sich auf den Vorentwurf des Grünbuchs. Die Entwürfe enthalten insoweit aber keine substantielle Änderung. 178 Vgl. dazu auch N. 72. 179 Vgl. dazu unten 6. 180 Wie N. 6, vgl. auch oben II.2.C. Das Grünbuch über den rechtlichen Schutz gewerblicher Muster und Modelle der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilungen der deutschen Patentanwälte (1992) 137 ff., 138: „Unterscheidungskraft ist ein neues Kriterium zur vereinfachten Prüfung im Vergleich zum bekannten Formenschatz. Sie wird jedoch nach Ansicht des Geschmacksmusterrechtsausschusses der Patentanwaltskammer dem Sinn eines Geschmacksmusters als gestalterische Leistung nicht gerecht, besonders dann nicht, wenn der Unterscheidungskraft das Unterscheidungsvermögen der Öffentlichkeit zugrundegelegt wird. Eine Vielzahl von 181

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durch die „gestalterische Tätigkeit", die vom Fachmann beurteilt wird, ersetzt werden."182 Nicht überzeugend ist allerdings die auf die Bedeutung der - in den Vorentwürfen unmittelbar maßgebenden 1 8 3 , in den späteren Entwürfen „Neuheit" und „Eigenart" ausfüllenden - Unterscheidungskraft gestützte Kritik, „die Vorschläge der Kommission folg(t)en daher sowohl in der Festlegung der materiellrechtlichen Schutzvoraussetzungen als auch für die Kollisionsprüfung einem trademark approach, wie er klarer kaum formuliert werden k ö n n t e " 1 8 4 . Einmal steht die Unterscheidungskraft des Gesamteindrucks auch nach den EG-Entwürfen in einem vom Markenrecht elementar verschiedenen Funktionszusammenhang. Die Kommission hat zwar in ihrem Grünbuch als Zweck des Kriteriums der Unterscheidungskraft an einer Stelle auf die Vermeidung der Gefahr der Produktverwechslung hingewiesen und in diesem Zusammenhang die gewiß näherer Erläuterung bedürftige Unterscheidung zwischen Produkt- und Herkunftsverwechslung b e t o n t 1 8 5 . Insgesamt steht aber der Leistungsgedanke i m Vordergrund und wird der unterschiedliche

neuen Merkmalen würde Unterscheidungskraft hervorrufen, unabhängig davon, ob irgendeine designerische Leistung mit der Neuschöpfung des Musters verbunden war. Umgekehrt kann eine der Öffentlichkeit geringfügig erscheinende Änderung zu einer gestalterisch sehr hochstehenden Erscheinungsform führen. Erinnert sei daran, daß die Längslinien griechischer Tempel nicht gerade, sondern schwach bogenförmig verlaufen, um dem großen Bauwerk Eleganz zu verleihen, die ein reines Rechteckbauwerk mit geradlinig paralleler Linienführung nicht besitzt. Die Öffentlichkeit, d. h. der Laie, wird sich dieser gestalterischen Leistung ohne besonderen Hinweis nicht bewußt. So bestechend das vereinfachte Schema zur Prüfung der Eintragungsvoraussetzungen anhand der Unterscheidungskraft auch sein mag, so wird sie dem Wesen eines guten Designs nicht gerecht, der Kaufentscheid eines Käufers wird nicht durch die Unterscheidungskraft beeinflußt, sondern durch das Ansprechen seiner Sinne für Form und/oder Farbe, ohne daß er sich in den meisten Fällen dessen bewußt ist." 182 A.a. O. S. 139. Die Deutsche Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht erörtert dagegen diese Frage in ihrer Stellungnahme zum Grünbuch der EG-Kommission nicht, GRUR 1992, 494 ff. 183 Vgl. oben II.2.C. 184 Vgl. Eichmann, Das europäische Geschmacksmusterrecht auf Abwegen, GRUR Int. 1996, 859 ff., 862; zurückhaltender derselbe, wie N. 25, Mitt.Pat.Anw. 1998, 252 ff., 259. Dieser Vorwurf müßte sich auch gegen den Entwurf des Max-Planck-Instituts richten, bei dem die Unterscheidung im Gesamteindruck eine ebenso zentrale und von den EG-Entwürfen nicht abweichende Bedeutung besitzt. Die Feststellung (Eichmann a. a. O. S. 861), „die Kommission (habe) diesen design approach des Max-Planck-Instituts-Entwurfs verlassen und statt dessen Regelungsinhalte vorgeschlagen, die zum Teil einem trademark approach weitaus näher stehen", ist daher nicht zutreffend. 185 Vgl. Grünbuch Tz. 5.5.6.2. Auf diesen Passus des Grünbuchs stützt sich wesentlich die Kritik von Eichmann, vgl. a. a. O. S. 861. Zur Diskussion um die Herkunftsfunktion in der jüngeren markenrechtlichen Diskussion vgl. F. Henning-Bodewig, A. Kur, Marke und Verbraucher. Funktionen der Marke in der Marktwirtschaft, Band I. Grundlagen (1989), S. 221 ff., 227 ff.; Fezer, Markenrecht (1997) Einl. MarkenG Rz. 30, 31 m. w. Nachw.; ferner zur Diskussion zum MarkenG die Nachw. bei Eichmann, S. 861 N. 35.

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Gesamteindruck als Ausprägung der Leistung des Designschaffenden gesehen. Ob aber der unterschiedliche Gesamteindruck in seiner Aufgabe zur Vermeidung der Herkunftsverwechslung oder als Indikator der Leistung des Designschaffens gesehen wird, begründet fundamental unterschiedliche Funktionen. Z u m zweiten ist auch inhaltlich die „Unterscheidungskraft" i m marken- und musterrechtlichen Sinn unterschiedlich zu verstehen. Ist die Marke ein von der sonstigen Erscheinung gesondertes Z e i c h e n 1 8 6 , bezieht sich die Verwechslungsgefahr auf das Zeichen und kann bei verwechslungsfähigem Zeichen auch i m Bereich der Warengleichartigkeit (§ 14 I I Nr. 2 MarkenG) musterrechtlich der Gesamteindruck der Erscheinungsform durchaus unterschiedlich sein. Umgekehrt stellt sich die Frage, ob, wenn i m übrigen die äußere Erscheinungsform übereinstimmt, bei nicht verwechslungsfähigen Zeichen musterrechtlich ein gleichartiger Gesamteindruck möglich ist. Soweit die dreidimensionale Gestaltung markenfähig i s t 1 8 7 , fällt die markenrechtliche Verwechslungsgefahr mit dem musterrechtlichen identischen Gesamteindruck, insbesondere i m Hinblick auf den vom Markenrecht verschiedenen Personenkreis der musterrechtlichen Neuheitsprüfung 1 8 8 , der Bemessung des Schutzumfangs aus der Sicht des „informierten Benutzers" 1 8 9 , oder der markenrechtlichen sog. mittel186

Zu den Markenformen nach dem MarkenG vgl. Fezer, Markenrecht, wie N. 185, § 3 Rz. 235 ff. 187 Nachdem das neue Markengesetz (1994) auch dreidimensionale Gestaltungen als eintragungsfähig erklärt ( § 3 1 MarkenG; zu den Grenzen, die sich im Warenzeichengesetz unter diesem Gesichtspunkt für die Überschneidungsmöglichkeiten zwischen Marke und Geschmacksmuster ergaben, vgl. Eck, wie N. 15 S. 85 ff.), beschränken sich die Überschneidungsmöglichkeiten im praktischen Ergebnis (allerdings konnte nach dem Warenzeichengesetz und kann weiterhin nach dem Markengesetz auch die flächenmäßige Wiedergabe einer dreidimensionalen Gestaltung als Warenzeichen bzw. Marke eingetragen werden und erstreckt sich der zeichenrechtliche Schutz dann auch auf die dreidimensionale Verwendung; vgl. Eck, wie N. 15, S. 85 m. w. Nachw.) nicht mehr auf den Ausstattungsschutz (§ 25 Warenzeichengesetz) bzw. benutzte Marken (§ 4 Nr. 2 MarkenG), bei denen im übrigen eine Verkehrsgeltung hinzutreten muß (vgl. zum Ausstattungsschutz § 25 WZG sowie zur benutzten Marke § 4 Nr. 2 MarkenG). Das zum Warenzeichengesetz entwickelte, im Markengesetz fortgeltende {Fezer, Markenrecht (1997) § 3 MarkenG Rz. 211 ff.) und in § 3 I I MarkenG präzisierte (vgl. Fezer, Markenrecht (1997) § 3 MarkenG Rz. 227, 229, 231) Erfordernis der, nicht gegenständlich, sondern, mit restriktiver Tendenz, nur begrifflich verstandenen Selbständigkeit der Marke gegenüber der Ware (vgl. zur Entwicklung der Rspr. Fezer, Markenrecht (1997) § 3 MarkenG Rz. 211 ff.; Eck, wie N. 15, S. 86, 88 ff.) enthält diffizile Abgrenzungsfragen (vgl. Fezer, Markenrecht (1997) § 3 MarkenG Rz. 211 ff.; Eck, wie N. 15, S. 87 ff.); die zur Eintragung notwendige Unterscheidungskraft der Marke (§ 8 II Nr. 1 MarkenG) kann auch einer ästhetisch wirkenden Form- oder Farbgestaltung zukommen; die zur Aktivierung der markenrechtlichen Schutzansprüche erforderliche zeichenmäßige Benutzung durch den Verletzer wird bei schutzfähigen Formgestaltungen regelmäßig vorliegen (in diesem Sinne für den Ausstattungsschutz des WZG wohl auch Eck, wie N. 15, S. 93). Geschmacksmusterund Markenschutz können sich daher durchaus überschneiden. 188

Vgl. dazu oben II.2.C.1). Zur Verkehrsauffassung des verständigen Verbrauchers als Bezugspunkt der Verwechslungsgefahr im Markenrecht vgl. Fezer, Markenrecht, wie N. 185, § 14 Rz. 149 ff. iss Vgl. dazu oben II.2.C.1). So nunmehr auch Eichmann, wie N. 25, Mitt.Pat.Anw. 1998, 252 ff., 259.

Schutzgegenstand und materielle Schutzvoraussetzungen

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baren Verwechslungsgefahr sowie der sog. Verwechslungsgefahr im weiteren Sinne 190 , gleichfalls nicht zusammen. Immerhin mögen sich aber die Überschneidungsbereiche zwischen marken- und musterrechtlicher Unterscheidungskraft mit dem Verzicht der EG-Entwürfe auf eine ästhetisch-gestalterische Leistung erweitert haben. Daß indessen überhaupt die Abgrenzungsfrage zum Markenrecht entsteht, ist ein weiterer Hinweis auf die Fragwürdigkeit des unterschiedlichen Gesamteindrucks als Indikator der designerischen Leistung. 6. Im Ergebnis ist festzustellen: Dem Entwurf des Max-Planck-Instituts und den europäischen Entwürfen ist es bislang nicht gelungen, eine klare Idee des musterrechtlichen Leistungsgegenstandes zu entwickeln und diese in einer Weise mit dem normativen Schutzgegenstand und den materiellen Schutzvoraussetzungen zu verknüpfen, daß die Sinnzusammenhänge mit den immaterialgüterrechtspolitischen Motiven gewahrt sind. Vielmehr wird mit dem maßgeblichen Kriterium des unkonturierten, „platten" unterschiedlichen Gesamteindrucks eine Schutzvoraussetzung eingeführt, der keine Repräsentationsbedeutung für eine irgendwie geartete „geistige Leistung" zukommt. Der Versuch, einen solchen Schutzgegenstand in die gewerblichen Schutzrechte einzuordnen 191, zeigt die Brüche mit dem bisherigen System auf. Die Anforderungen an das Musterrecht bleiben noch hinter denen des wettbewerblichen Leistungsschutzes zurück 192 und gleichen im Hinblick auf den Verzicht auf die in der Schaffung des Musters selbst liegende geistige Leistung, bei indessen wesentlich unterschiedlichen Funktionen 193 , dem Markenrecht 194 ; insofern ist der Vorwurf eines Systembruchs der europäischen Entwürfe voll berechtigt 195 .

190 Vgl. dazu Fezer, vorige N., § 14 Rz. 220 ff., 244 ff. Im Ergebnis a.A. Eichmann a. a. O. S. 862. 191 Vgl. zum herkömmlichen deutschen Verständnis o. II.2.a. 192 Der Anspruch aus § 1 UWG setzt neben der Nachahmung insbesondere stets die sog. „wettbewerbliche Eigenart" des nachgeahmten Erzeugnisses voraus, vgl. Beater, Nachahmen im Wettbewerb (1995) S. 96 ff. 193 Vgl. oben 5. 194 Vgl. zum, wegen der Kennzeichnungsfunktion der Marke völlig angemessenen, Verzicht auf eine in der Schaffung der Marke selbst liegende „geistige Leistung" Hubmann, Geistiges Eigentum, wie N. 151, S. 19; Henning-Bodewig/A. Kur, wie N. 185, S. 225. 195 Vgl. v. Gamm, Das Gemeinschaftsmuster, wie N. 42, S. 204: „Die Überlegungen zum Gemeinschaftsmuster sollten Veranlassung geben, das Verhältnis von Urheberrecht, gewerblichen Schutzrechten und wettbewerbsrechtlichem Leistungsschutz, insbesondere auch im internationalen Vergleich für den Bereich der EG erneut zu überdenken. Die Rechte müssen - wie schon immer anerkannt ist - untereinander wie auch in sich in angemessener und einsehbarer Relation stehen, insbesondere im Blick auf Schutzgegenstand, -Voraussetzungen, -umfang und -dauer. Bei dem vorliegenden Entwurf bestehen insoweit nicht unerhebliche Bedenken. Die Absicht der Kommission, das Gemeinschaftsmuster durch stärkere ausschließliche Rechte attraktiv zu machen, sollte nicht über systematische Unstimmigkeiten hinwegtäuschen." Vgl. ferner Eichmann, Das europäische Geschmacksmusterrecht auf Abwegen, wie N. 227, S. 859 ff., 860, 865

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Sollten die Entwürfe, insbesondere der gegenwärtig besonders in Entscheidungsnähe gerückte Richtlinienentwurf, in der vorliegenden Form verabschiedet w e r d e n 1 9 5 a , ist es der Rechtsprechung überlassen, den musterrechtlichen Schutzgegenstand aus den genannten Gründen 1 9 6 auf den Bereich des Ästhetisch-Gestalterischen zu beschränken und hierfür unter den Kriterien von „Neuheit" und „Eigenart" sowie des „unterschiedlichen Gesamteindrucks" Mindestanforderungen qualitativer Art zu entwickeln. Diese Notwendigkeit besteht i m übrigen auch für den „design approach", wenn nach dem Relativitätsgrundsatz der Schutzumfang vom Abstand des Musters von den bisherigen Formgebungen abhängig gemacht w i r d 1 9 7 . Nach dem sich aufdrängenden Szenario ist angesichts der insoweit bestehenden wesentlich unterschiedlichen Ausgangslage in den Mitgliedstaaten 1 9 8 eine zunächst an den nationalen Eigenarten orientierte divergierende Entwicklung in der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten zu erwarten, die wohl nur durch eine sich langsam entfaltende Normbildung des Europäischen Gerichtshofs überwunden werden kann.

i95a Dies ist inzwischen geschehen: Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen, ABl. EG Nr. L 289/28 v. 28. 10. 1998. 196 Vgl. oben 4. 197 Vgl. a. oben II.3.

198 Das Musterrecht gehört zu denjenigen Bereichen des gewerblichen Rechtsschutzes, in denen die Regelungen in den EU-Mitgliedstaaten am weitesten auseinandergehen. Vgl. Grünbuch über den rechtlichen Schutz gewerblicher Muster und Modelle, wie N. 6., Nr. 3, 1.1.; ebenso Begründung zum Diskussionsentwurf eines europäischen Musterrechts des MaxPlanck-Instituts, in: Auf dem Wege zu einem europäischen Musterrecht, GRUR Int. 1990, 559, 573. In gleichem Sinne Geschmacksmusterausschuß der Patentanwaltskammer, Das Grünbuch über den rechtlichen Schutz gewerblicher Muster und Modelle der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilungen der deutschen Patentanwälte (1992) 137. Die Begründung zum Verordnungs-Entwurf führt dies wesentlich auf den im Bereich des Musterschutzes in der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerbliczen Eigentums (vgl. Art. 5 Quinquies) und der Berner Konvention zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst fehlenden Mindestschutz und die davon ausgehende Angleichungswirkung zurück, wie Fn. 30, „1. Teil: Allgemeines", Tz. 6.1.; ebenso Begründung zum Diskussionsentwurf eines europäischen Musterrechts, S. 573. Wegen dieser Unterschiede hatte auch der 1962 vorgelegte Bericht des Ausschusses für Geschmacksmusterrecht eine Harmonisierung der Musterrechte für nicht möglich gehalten, vgl. dazu oben N. 19. Vgl. ferner Kur, Die Zukunft des Designschutzes in Europa - Musterrecht, Urheberrecht, Wettbewerbsrecht, wie N. 25, 353 ff., 353. Vgl. zu den wesentlichen Unterschieden den kurzen Überblick über die mitgliedstaatlichen Musterrechte bei Eichmann, wie N. 140, GRUR Int. 1990, 121.

Der Weg zum Euro Von Werner Ehrlicher

Einleitung In der vielschichtigen Diskussion, die den Weg zur Europawährung begleitet und geprägt hat, standen überwiegend politische, staatsrechtliche und ökonomische Aspekte im Vordergrund; demgegenüber wurde die historische Dimension dieser Entwicklung ziemlich vernachlässigt. Manche Kritiker der geplanten Währung versuchten sogar, den Eindruck zu erwecken, daß mit dem Vertrag von Maastricht den Europäischen Staaten in einem Parforceritt die nationalen Währungen genommen und ohne gründlichere Vorbereitung eine fragwürdige Einheitswährung oktroiert werden sollte. Versucht man den Weg zur Europawährung aus historischer Sicht zu beleuchten, dann ist zunächst aus säkularer Perspektive hervorzuheben, daß in den jahrhundertelangen Kämpfen zwischen den Europäischen Dynastien und Völkern um die Vorherrschaft der Europagedanke im Sinne einer Verpflichtung gegenüber einem gemeinsamen kulturellen Erbe und das daraus resultierende Gefühl der Gemeinsamkeit nie in Frage gestellt wurde. Erst in der Totalität der beiden Weltkriege drohte diese Verpflichtung zum gemeinsamen Erbe unterzugehen. Nach dem Ersten Weltkrieg waren es Politiker wie Aristide Briand und Gustav Stresemann, die sich Ende der zwanziger Jahre in privaten Gesprächen Gedanken über eine Fédération Européenne machten. Nach dem zweiten Weltkrieg haben vor allem Churchill, De Gaulle, Schuman, Monnet, De Gasperi und Adenauer dem Europäischen Gedanken konkrete Impulse gegeben. Nach den gescheiterten Versuchen zur Gründung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft und einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft Anfang der 50er Jahre war der erste Meilenstein auf dem Weg nach Europa die Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit den Römischen Verträgen von 1958. In diesen Verträgen waren die Ziele von Maastricht schon vorweggenommen. Die weiteren Bemühungen waren dann vor allem auf die Währungsintegration gerichtet und fühlten nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems über den Europäischen Wechselkursverbund (EWV) und das Europäische Wechselkurssystem (EWS) zur Einführung des Euro am 1. Januar 1999. Seit Ende der 80er Jahre war in den zunehmend kritischen Äußerungen zu dem „Vertrag über die Europäische Union" aus Sorge um den Verlust nationaler ökono-

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mischer Vorteile nicht nur die angedeutete säkulare Perspektive untergegangen; es wurde auch kaum gesehen, ja eher verdrängt, daß nach der bis dahin vollzogenen Entwicklung der Schritt zu einer Währungsunion nicht nur relativ klein, sondern auch konsequent wäre. Im vorliegenden Beitrag soll die durch immer neue Impulse geprägte Dynamik der Europäischen Einigungsbemühungen seit dem Zweiten Weltkrieg herausgearbeitet werden. Für diese Dynamik ist kennzeichnend, daß von der Politik - wenn sich geplante Vorhaben nicht durchsetzen ließen - immer wieder neue Ansätze aus veränderter Perspektive aufgenommen wurden. Der Vertrag von Maastricht steht am Ende einer langen Entwicklung, die abwechselnd von politischen, ökonomischen und monetären Impulsen getragen wurde. Wenn die allgemein-politischen Bemühungen nicht vorankamen, wurde der Ansatz in ökonomischer oder in währungspolitischer Richtung verengt. Umgekehrt wurde der Ansatz, wenn die währungspolitischen Bemühungen erfolgreich waren, wieder erweitert. In diesem Sinne kann man durchaus sagen, daß die Entwicklung von einer inneren Logik getragen war.

I. Einigungsbemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg 7. Weltweite Abkommen Da die Grundlagen der internationalen Wirtschaftsbeziehungen in der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre weitgehend zerstört waren, zielten die ersten internationalen Abkommen nach dem Zweiten Weltkrieg dahin, auf weltweiter Ebene die institutionellen Voraussetzungen für den Wiederaufbau zu schaffen. Mit dem Abkommen von Bretton Woods wurde im Jahr 1944 die Währungsordnung geschaffen, die die währungspolitische Grundlage der weltwirtschaftlichen Beziehungen bis Anfang der 70er Jahre war. Nach der handelspolitischen Seite wurde Bretton-Woods durch das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) von 1948 ergänzt. a) Das Währungssystem von Bretton Woods Im Abkommen von Bretton Woods, das 44 Staaten schon im letzten Kriegsjahr geschlossen haben, wurde die Währungsordnung geschaffen, unter der sich der Wiederaufbau des Welthandels und der Weltwirtschaft in einer - am Ende des Krieges noch nicht vorstellbaren - Geschwindigkeit und Intensität vollzogen hat. Die Goldwährung, unter der sich die Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert vollzog, erfuhr als Golddevisenwährung nach dem Ersten Weltkrieg nochmals eine Renaissance. Dieses modifizierte System hatte in den 20er Jahren wesentlich zum Wiederaufbau der nationalen Volkswirtschaften und zur kräftigen Ausdehnung des Welthandels beigetragen. In der Weltwirtschaftskrise wurden die Spiel-

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regeln dieser Ordnung immer weniger eingehalten; sie fand ihr Ende, als Großbritannien am 21. September 1931 den Goldstandard aufgab und es in den folgenden Jahren zu „Abwertungskonkurrenz" (auch als „Währungsdumping" bezeichnet) kam. Mit dem anschließenden Übergang zur Devisenzwangswirtschaft in immer mehr Ländern brach der Welthandel ab 1932/33 fortschreitend zusammen. Für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und eine Rückkehr zu internationaler Arbeitsteilung war die Konzeption und Institutionalisierung eines neuen Währungssystems eine der wichtigsten Voraussetzungen. Den Beratungen in Bretton Wooods im Juli 1944 lagen vor allem zwei Pläne zugrunde, die von J. M. Keynes und H. D. White, damals Staatssekretär im US-Finanzministerium, stammten. Angesichts der stark divergierenden Vorstellungen zu internationalen Währungsproblemen, die damals nicht nur zwischen Keynes und White bestanden, muß es als eine großartige Leistung der versammelten Experten gewürdigt werden1, daß sie sich auf ein System einigen konnten, das über mehr als zwei Jahrzehnte die Grundlage des schnellen Wiederaufbaus und der Zunahme der Produktion, des Wohlstandes und des Welthandels war. Das zentrale Organ des Bretton-Woods-Systems2 war der Internationale Währungsfonds, in den die Mitgliedländer in Höhe ihrer sog. Quoten Einzahlungen in Gold oder Dollar und eigener Währung (später auch in Form von Ziehungsrechten) zu tätigen hatten. Die Quoten wurden in Relation zum Brutto-Sozialprodukt, zu den Währungsreserven und zu dem internationalen Transaktionsvolumen festgelegt. Für längerfristige Aufgaben wurde der Fond von der Weltbank unterstützt. Die wesentlichen Konstruktionselemente des Fonds waren: - feste Wechselkurse, - freie Konvertibilität und - Bereinigung struktureller Zahlungsbilanzungleichgewichte durch Änderung der Paritäten. Die Wechselkurse durften in einer Bandbreite von maximal + / - 1% schwanken. Die Zentralbanken der Mitgliedsländer waren verpflichtet, zur Aufrechterhaltung der Paritäten auf den Devisenmärkten zu intervenieren; sie konnten dazu im Rahmen ihrer Quote auf den Fonds zurückgreifen und darüber hinaus über den Fonds die multilaterale Kredithilfe in Anspruch nehmen. Die freie Konvertibilität galt nur für Güter- und Leistungstransaktionen sowie für den Transfer von Einkommen aus Auslandsinvestitionen; dagegen durften die Mittel des Fonds nicht für laufende Kapitaltransaktionen in Anspruch genommen werden. Der Fonds konnte zur Verhinderung solcher Transaktionen Kontrollmaß1

Vgl. Haberler, Gottfried, Die Weltwirtschaft und das internationale Währungssystem in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in: Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876 - 1975, Hrsg. Deutsche Bundesbank, Frankfurt a.Main, 1976, S. 246. 2 Zum Bretton-Woods-System, Sonderdrucke der Deutschen Bundesbank Nr. 3, Internationale Organisationen und Gremien im Bereich von Währung und Wirtschaft, Frankfurt 1992.

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nahmen empfehlen. Der Vertrag sah also nur die kommerzielle, nicht die finanzielle Konvertibilität vor. Änderungen der Paritäten waren den Mitgliedstaaten im Einvernehmen mit dem Fonds bei strukturellen Zahlungsbilanzungleichgewichten in einer Bandbreite von + / - 1 0 % erlaubt. b) GATT Nach der handelspolitischen Seite wurden diese währungspolitischen Einrichtungen durch das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen von 1947 (General Agreement on Tariffs and Trade) ergänzt. Das Abkommen wurde im Oktober 1947 in Genf von 23 Staaten zur Neuordnung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen und zur Erleichterung des wechselseitigen Handels geschlossen und trat zum 1.1.1948 in Kraft. Das GATT ist eine Sonderorganisation der UN mit Sitz in Genf. Es basiert im wesentlichen auf den Prinzipien der Meistbegünstigung, des Verbots jeder Verschärfung bestehender und der Einführung neuer Handelsbeschränkungen sowie des grundsätzlichen Verbots mengenmäßiger Handelsbeschränkungen. Bis Anfang der 90er Jahre wurden 8 Verhandlungsrunden zum weiteren Abbau von Zöllen und Handelsschranken durchgeführt, die eine fortschreitende Liberalisierung des internationalen Handels und einen zunehmenden Ausgleich divergierender handelspolitischer Interessen erreichten. Zu diesem Zeitpunkt waren 96 Staaten Vollmitglieder und 28 Staaten assoziierte Mitglieder.

2. Europäische politische Einigungsbemühungen Die spezifisch Europäischen Integrationsbemühungen setzten in allgemein-politischer Richtung an. Sie führten trotz der Europa-Euphorie des ersten Nachkriegsjahrzehnts zu keinem Erfolg.

a) Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) Die Verhandlungen zur EVG wurden auf der Grundlage des Pleven-Planes im Jahr 1951 abgeschlossen. Die Ratifizierung verzögerte sich bis zum Jahr 1954. Frankreich, von dem zunächst die Initiative ausgegangen war, lehnte die Ratifizierung dann ab. b) Europäische Politische Union Die von Robert Schuman im Jahr 1952 initiierten Verhandlungen zur Gründung einer Europäischen Politischen Union, die vor allem die Bereiche Wirtschaft, Verteidigung und Außenpolitik umfassen sollte, gediehen bis zur Ausarbeitung einer

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„Satzung der Europäischen Gemeinschaft". Die engagierte Suche nach der Form für eine Europäische Gemeinschaft führte hier „zu einer bemerkenswerten Verknüpfung bundesstaatlicher mit staatenbündischen Elementen"3. Das Scheitern der Verteidigungsgemeinschaft bedeutete auch das vorläufige Ende dieser weitergehenden politischen Bestrebungen. Die weiteren Einigungsbemühungen waren dadurch gekennzeichnet, daß die allgemein-politischen Intentionen zurücktraten und die wirtschaftliche Integration stärkeres Gewicht bekam; Böckenförde kennzeichnet dies dahingehend, daß der „Übergang zum Weg der funktionellen Integration" beschritten wurde. 4

3. Europäische Wirtschaftsabkommen a) Wiederaufbau Die ersten erfolgreichen Europäischen Abkommen dienten dem Wiederaufbau. Am Anfang steht die Gründung der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) im Jahr 1948 in Paris. Sie hatte zunächst die optimale Nutzung der durch den Marshallplan bereitgestellten amerikanischen Hilfe zum Ziel, später verlagerte sich die Aufgabe zunehmend auf die Förderung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, die Liberalisierung des Handels und die Herstellung der Währungskonvertibiltät. Das letztere Ziel, das im Jahr 1958 erreicht war, wurde durch die im Jahr 1950 gegründete Europäische Zahlungsunion (EZU) wesentlich gefördert. Die EZU kann als eine Ergänzung des Internationalen Währungsfonds (Bretton Woods) auf Europäischer Ebene interpretiert werden. Die wichtigste Aufgabe dieser Institutionen war, im Rahmen des Systems fester Wechselkurse die verschiedensten Hilfen bei kurzfristigen Zahlungsbilanzungleichgewichten zu bieten.

b) Die Europäischen Gemeinschaften (EG) Die im Interesse des Wiederaufbaus geschlossenen Abkommen wurden bald durch Bemühungen um einen engeren wirtschaftlichen Zusammenschluß der Europäischen Staaten abgelöst bzw. ergänzt. Der erste Zusammenschluß geht auf den Schuman-Plan von 1950 zurück und führte 1952 zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montan-Union). Gründungsmitglieder waren Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Das Ziel war insoweit politisch, als die Zusammenfassung der kriegswichtigen Kohleund Stahlproduktion unter einer „Hohen Behörde" einen künftigen Krieg zwischen 3

Ernst-Wolfgang 1998, S. 4. 4 Ebenda. 12 FS Leisner

Böckenförde,

Welchen Weg geht Europa?, Vortragsmanuskript Freiburg

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Deutschland und Frankreich unmöglich machen sollte. Der wirtschaftliche Aspekt der Koordinierung eines wichtigen Grundstoffbereichs spielte natürlich maßgeblich mit herein. Die nächste Gründung war die Atomgemeinschaft (Euratom) von 1958. Sie stellte eine Ergänzung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl auf dem Gebiet der Energiewirtschaft dar und sollte neben der Ordnung dieses besonderen Marktes die friedliche Nutzung der Kernergie sichern. Eine umfassende Integration der Europäischen Volkswirtschaften wurde dann mit den Römischen Verträgen eingeleitet, die zum 1.1. 1958 in Kraft traten und die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zum Inhalt hatten. Die EWG hat sich schon damals weitgehend die Ziele gesteckt, die später bis zu Maastricht - immer wieder aufgenommen wurden. Die Beschlüsse von Maastricht sind ja - wie hier schon angemerkt sei - formal eine Ergänzung der Römischen Verträge. Die EWG sollte die Schaffung binnenmarkt-ähnlicher Wettbewerbsverhältnisse innerhalb der Gemeinschaft durch Errichtung eines gemeinsamen Marktes und durch die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten erreichen. Eine Harmonisierung der Wirtschaftspolitik wurde dabei für die Agrarpolitik, die Verkehrspolitik und die Wettbewerbspolitik festgelegt. Das Kernstück des Vertrages war die Errichtung einer Zollunion durch schrittweise Abschaffung der Zölle und der Handelsbeschränkungen. Durch den Fusions vertrag von 1967 wurden die Montanunion, Euratom und die EWG zu den Europäischen Gemeinschaften (EG) - später meist im Singular gebraucht - zusammengefaßt. Nach jeweils relativ langen Verhandlungen wurden im Jahr 1973 Dänemark, Großbritannien und Irland, 1981 Griechenland, 1986 Portugal und Spanien und schließlich 1995 Finnland, Österreich und Schweden als Mitglieder aufgenommen. Ein wichtiger Schritt für die Weiterentwicklung der in den Römischen Verträgen gelegten Ansätze war die schrittweise Schaffung entsprechender Beschluß- und Exekutivorgane. Die Europäische Kommission ist das Exekutivorgan. Der Rat der EG, jetzt der EU (Ministerrat) ist das wichtigste gesetzgebende Organ; wenn der Rat in der Zusammensetzung der Wirtschafts-und Finanzminister tagt, spricht man von ECOFIN-RAT. Seit 1975 finden regelmäßige Treffen der Staats-und Regierungschefs der Mitgliedsländer statt, die als Gipfeltreffen bezeichnet werden; seit 1987 sind diese institutionalisiert und finden mindestens halbjährig statt. Das Europäische Parlament hatte ursprünglich nur begrenzte beratende Rechte, inzwischen sind diese etwas erweitert worden. Der Europäische Gerichtshof wurde bereits mit den Römischen Verträgen von 1958 geschaffen, der Europäische Rechnungshof im Jahr 1975. Die Europäische Zentralbank wurde mit dem Maastrichter Vertrag beschlossen und nahm ihre Tätigkeit zum 1.1. 1998 auf.

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II. Europäische währungspolitische Abkommen Die zweite Etappe des Weges zu Maastricht war dadurch gekennzeichnet, daß nun die währungspolitischen Fragen in den Vordergrund rückten. Bis Mitte der 60er Jahre wurde auf diesem Gebiet kein Handlungsbedarf gesehen, weil das Währungssystem von Bretton Woods bis dahin - auch wenn es gelegentlich zu Spannungen kam - gut funktioniert hat. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre änderte sich dies, weil die USA im Zusammenhang mit der Finanzierung des Vietnamkrieges (1965 - 1973) in ihrer Geldpolitik gegen die Anforderungen, die sie als Leitwährung dieses Systems hätten beachten müssen, zunehmend verstießen. Die Idee vieler Wissenschaftler und Politiker war damals, das Bretton WoodsSystem durch ein System freier Wechselkurse zu ersetzen. (Mehrere der Ökonomen, die sich damals öffentlich dafür einsetzten, haben auch das im Jahr 1992 publizierte Memorandum „Die währungspolitischen Beschlüsse von Maastricht Eine Gefahr für Europa" und die Erklärung „Der Euro kommt zu früh" von 1997 unterzeichnet.) Schon vor dem Zusammenbruch des Bretton- Woods-Systems setzten aber Bemühungen um die erneute Schaffung einer Ordnung fester Wechselkurse ein; diese bestimmten den weiteren Verlauf.

1. Werner-Plan Auf der Gipfelkonferenz von Den Haag im Jahr 1969 faßten die Staats- und Regierungschefs der EG den Beschluß zur Einsetzung einer Arbeitsgruppe, die einen Stufenplan erarbeiten sollte, der die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion bis zum Jahr 1980 zum Inhalt hatte. Zum Vorsitzenden der Arbeitsgruppe wurde der Luxemburgische Ministerpräsident Werner gewählt. Dieser Auftrag regte nicht nur die Arbeitsgruppe, sondern auch viele Wissenschaftler und Polititker an, über die einschlägigen Probleme nachzudenken und entsprechende Vorschläge vorzulegen. Dabei bildeten sich zwei kontroverse Positionen über die zweckmässige Zeitfolge und Priorität der einzuschlagenden Schritte heraus, die als monetaristische und ökonomistische Positionen bezeichnet wurden. Die Monetaristen vertraten die Auffassung, daß der Integrationsprozeß bei der Währungsordnung ansetzen müsse. Die Forderung der zeitlichen Priorität des Währungsverbundes gegenüber der angestrebten wirtschaftlichen und politischen Einheit wurde damit begründet, daß von einer gemeinsamen Währung ein starker Zwang zur Koordinierung der übrigen wirtschaftlichen und teilweise auch allgemein politischen Bereiche ausgehen würde. Die weiteren Schritte auf dem Wege zur wirtschaftlichen und politischen Union würden gewissermaßen automatisch eingeleitet, da der Währungsverbund einen starken Zwang zur Disziplinierung bei den stabilitätspolitisch relevanten wirtschaftspolitisschen Entscheidungen auslösen würde. 12*

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Die Ökonomisten vertraten die gegenteilige Position. Sie waren der Meinung, daß ein stabiler Währungsverbund erst nach weitgehendem Abschluß des wirtschaftlichen und bedingt auch des politischen Integrationsprozesses möglich sei. Ein Währungsverbund setze nicht nur voraus, daß die übrigen Politikbereiche - insbesondere die Finanz- und Einkommenspolitik - weitgehend koordiniert seien, sondern daß auch eine starke Annäherung im wirtschaftlichen Entwicklungsniveau der Mitgliedstaaten erreicht sei. Nach der von den Ökonomisten vertretenen „Krönungstheorie" kann ein Währungsverbund nicht am Anfang, sondern erst am Ende des Einigungsprozesses stehen. Diese kontroversen Vorstellungen werden bis heute weiter vertreten und spielten auch bei der Beurteilung der Maastrichter Beschlüsse und bei ihrer Realisierung eine entscheidende Rolle. Der von der Werner-Gruppe vorgelegte Stufenplan war ein Kompromiß zwischen diesen divergierenden Vorstellungen: Er stellte auf eine Paralellität von währungs- und wirtschaftspolitischen Schritten ab. Als Laufzeit für die erste Stufe wurde bei der Verabschiedung des Planes durch den Rat im Jahr 1971 Ende 1973 und als Zeitpunkt der Herstellung der Wirtschafts- und Währungsunion das Jahr 1980 beschlossen. Die Ziele, die sich die Gemeinschaft für die erste Stufe gesetzt hatte, wurden nur sehr begrenzt erreicht; die weitere Realisierung brach dann völlig ab. Die wichtigsten Gründe für das Scheitern dieses ersten Versuchs zur Schaffung einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion waren die zunehmende Inflation und die Ölkrise. Die Inflationsrate stieg in allen Mitgliedländern in der ersten Hälfte der 60er Jahre stark an; dies verschlechterte die Voraussetzungen für eine Währungsunion. Die Reaktion auf die Ölkrise mit den traditionellen - insbesondere auch geldpolitischen - Mitteln ließ die Gründung vollends illusorisch erscheinen. 2. Europäischer Wechselkursverbund

(EWV)

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Der nächste Schritt zur Koordination der Geld- und Währungspolitik war das Smithonian-Abkommen vom Dezember 1971. Mit diesem Abkommen einigten sich die Minister und Zentralbankpräsidenten der Zehnergruppe - nachdem mehrere Staaten die Wechselkurse freigegeben hatten - auf eine Rückkehr zu festen Wechselkursen mit einer vergrößerten Schwankungsbreite von + / - 4,5%. Die Ausdehnung der Margen führte insbesondere für die Agrarpolitik zu unerwünschten Konsequenzen, die zu einer Regelung mit engeren Bandbreiten im EG-Raum anregten. Der Ministerrat verabschiedete in diesem Sinne im März 1972 die Errichtung des Europäischen Wechselkurs Verbundes (EWV). Die Schwankungsbreite zwischen den EG-Währungen wurde auf + / - 2,25% ermäßigt. Dieser Währungs5

Zum Europäischen Wechselkursverbund siehe: Der Europäische Wechselkursverbund, Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, 28. Jg. Nr. 1, Januar 1976, S. 23 ff.

Der Weg zum Euro

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verbünd wurde bald als „Schlange im Tunnel" bezeichnet, womit ausgedrückt werden sollte, daß sich die Mitgliedswährungen, die untereinander nur innerhalb der engeren Bandbreite schwanken durften, nach außen - insbesondere gegenüber dem Dollar - mit einer größeren Bandbreite bewegten. Dem Europäischen Wechselkursverbund war mit wechselnden Ein-und Austritten aus dem Verbund ein turbulenter Verlauf beschieden. Nach der Freigabe der Wechselkurse gegenüber dem Dollar und gegenüber Drittwährungen im März 1973 wurde die innergemeinschaftliche Wechselkursordnung als Gruppenfloating gegenüber dem Dollar und Drittwährungen unverändert beibehalten; der Dollartunnel entfiel. Heute wird der Wechselkursverbund nur selten noch erwähnt und damit auch seine geschichtliche Bedeutung kaum kommentiert. Das mag damit zusammenhängen, daß viele Politiker und Wissenschaftler der Idee einer eigenen Europäischen Währungsordnung skeptisch gegenüberstanden und schon vor dem definitiven Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems dessen Ersatz durch ein System weltweit freier Wechselkurse vertraten. Der Verbund stellte gleichwohl in der Entwicklung der Europäischen Währungsordnung einen wichtigen Schritt dar. Zum einen wurde damit im Ansatz das duale Währungssystem geschaffen, das auch nach Gründung der Europäischen Währungsunion für das Weltwährungssystem weiter kennzeichnend ist: innerhalb des Verbundes (zunächst relativ, heute absolut) feste Wechselkurse, nach außen - also insbesondere zum Dollarraum - freie Wechselkurse. Der zweite vielleicht noch wichtigere Aspekt des Wechselkursverbundes war, daß sich die DM in diesen Jahren fortschreitend zur Leit- oder Ankerwährung entwickelte. Sie spielte damit nicht nur für die dem System angehörenden Währungen, sondern auch für weitere Länder, die sich in ihrer Geldpolitik an der DM orientierten, eine herausragende Rolle. Die DM behielt diese Stellung auch im Rahmen des Europäischen Währunssystems (EWS), das den Verbund im Jahr 1979 ablöste. Da damit schon ein Ansatz für die Weiterentwicklung dieses Systems zur Europäischen Einheitswährung gelegt war, soll kurz auf die Bedeutung einer Leitoder Ankerwährung eingegangen werden.

3. Die DM als Leit- oder Ankerwährung Zur Ankerwährung wird eine Währung, wenn sie im Rahmen eines Festkurssystems eine dominierende Rolle als Reserve-, Anlage- und Handelswährung gewinnt. Für die DM galt dies seit den 70er Jahren: sie wurde nach dem Dollar zur zweitwichtigsten Reservewährung und nach Dollar und Yen zur drittwichtigsten Anlagewährung, außerdem wurde ein wichtiger Teil des Welt- und Europahandels in DM fakturiert. Eine Währung rückt in diese herausragende Position, wenn das Land ein starkes wirtschaftliches Potential mit einem hohem Außenhandelsvolumen aufweist, wenn

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weiter die Notenbank über längere Zeit erfolgreiche Stabilitätspolitik betrieben hat und wenn schließlich hohe politische Stabilität Eingriffe in internationale wirtschaftliche Verträge weitgehend ausschließt. Die Bedeutung einer Leitwährung für ein Währungssystem wird oft unzureichend gesehen. So weist der amerikanische Wirtschaftshistoriker Charles Kindleberger darauf hin, daß die Stabilität der Goldwährung nicht nur in der Technik der „Goldmechanik", sondern maßgeblich im englischen Pfund als Leitwährung und in der Stellung Londons als Weltfinanzplatz begründet war. Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte der US-Dollar im Rahmen des Bretton Woods-Systems in diese Position. Hier war es die wirtschaftliche Stärke der USA, die auf währungspolitischem Gebiet - wie es Kindleberger formulierte - zur Ablösung der Pax Britanica durch die Pax Americana führte. Setzt man diese Gedankenkette fort, dann könnte man sagen, daß heute auf diese unilateralen Ordnungen eine tripolare Konstellation: USA - Japan - Europa gefolgt ist und Europa seit den 70er Jahren währungspolitisch durch die DM repräsentiert wird. Für den Europäischen Raum könnte man in der Diktion von Kindleberger sagen, daß währungspolitisch die Pax Americana durch eine Pax Germanica abgelöst wurde. Die Leitwährungsfunktion wird nicht durch Dekret, sondern durch die Finanzmärkte zugewiesen. So ist es auch bezeichnend, daß der ECU, der im Rahmen des EWS umfangreiche übernationalen Funktionen wahrgenommen hat, nie in die Rolle der Leitwährung hineinwuchs, weil in die Wertentwicklung des ECU als Korbwährung alle Partnerwährungen eingingen und damit sein Wert immer unter dem der stärkeren Währungen lag. Das internationale Ansehen, das eine Notenbank mit der Rolle der Ankerwährung gewinnt, ist sehr hoch; auf der anderen Seite sind damit jedoch auch ungewöhnliche Lasten verbunden. Die Bundesbank hat sich deshalb auch lange dagegen gewehrt, daß ihr diese Funktion über die Märkte zugewiesen wurde. Ein Leitwährungsland gewinnt zum einen gegenüber den Partnerwährungen höhere geldpolitische Autonomie; denn es kann seine Geldpolitik, ohne die Stabilität des Systems zu gefährden, an speziellen binnenwirtschaftlichen Zielen orientieren. Zum anderen wächst diesem Land damit aber auch übernationale Verantwortung zu. 4. Das Europäische Währungssystem (EWS) Trotz der Bedeutung, die dem EWV aus historischer Sicht zuzuschreiben ist, war es doch eine nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems ad hoc geschaffene Übergangslösung, die weiterer Ausarbeitung und Ergänzung bedurfte. In dieser Richtung erhielt die Entwicklung neue Impulse, als der Europäische Rat auf Anregung des Bundeskanzlers Helmut Schmidt und des französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing im Jahr 1978 in Kopenhagen einen neuen Anlauf zur Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion beschloß und wenige Monate

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später auf der Bremer Gipfelkonferenz das Europäische Währungssystem gründete, das zum 1. 1. 1979 in Kraft trat. a) Konstruktionselemente des EWS Das EWS war durch drei zentrale Konstruktionselemente gekennzeichnet: - Die Einführung einer Europäischen Währungseinheit, - den Interventionsmechanismus und das Beistandssystem. - die Leitkursanpassung. Mit der Einführung einer eigenen Währungseinheit - des ECU - unterschied sich das EWS von den bisherigen Weltwährungssystemen, der Goldwährung und dem Bretton Woods-System, die keine eigene Währungseinheit kannten. Der Unterschied war allerdings insofern nur begrenzt, als der ECU keine Umlaufswährung war. In der Interventionsmechnik knüpfte das EWS an die im Rahmen des BrettonWoods-Systems für den Internationalen Währungsfonds (IWF) vorgesehenen Regelungen an. Mit dem Europäischen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit (EFWZ) wurde eine dem IWF ähnliche Institution geschaffen. Über diesen Fonds wurden im Rahmen des sog. Beistandssystems die finanziellen Interventionen zur Aufrechterhaltung der Wechselkurse abgewickelt. Die betroffenen Zentralbanken hatten in unbegrenzter Höhe zu intervenieren. Da die benötigten Währungen in der Regel bei der Zentralbank der schwachen Währung nicht im erforderlichen Umfang vorhanden waren, sah das EWS - im Rahmen des „sehr kurzfristigen Währungsbeistandes" - einen in der Höhe unbegrenzten Rückgriff auf die starke Partnerwährung vor. Die in Anspruch genommenen Kredite waren innerhalb von drei Monaten zurückzuzahlen. Eine Korrektur der Leitkurse schließlich sollte vorgenommen werden, wenn in einzelnen Ländern Entwicklungen auftraten, die eine Verschiebung zwischen den fundamentalen volkswirtschaftlichen Bedingungen bedeuteten. Im Gegensatz zum Bretton Woods-System, wo nur das Direktorium zustimmen mußte, war im Rahmen des ES Wein Realignement nur mit Zustimmung aller Mitgliedländer zulässig. b) Entwicklung des EWS von 1979 bis 1986 In den Jahren von 1979 bis 1986 war das EWS auf den ersten Blick nicht erfolgreich. Die Inflationsraten erhöhten sich weiter beträchtlich. Außerdem waren immer wieder neue Auf- und Abwertungen erforderlich: In den ersten acht Jahren wurden im Rahmen von sieben umfassenden Realignements fünfzig Kursanpassungen vorgenommen.

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In Deutschland und den Niederlanden erhöhte sich das Preisniveau in diesen Jahren um etwa 30%, in Belgien, Luxemburg, Dänemark, England, Frankreich um 50 bis 100%, in Irland Spanien und Italien zwischen 100 und 200%, in Portugal und Griechenland um über 300%. Tabelle 1 Konsumgüterpreise und Wechselkurse im Jahr 1987 1979 = 100 Konsumgüterpreise*

Wechselkurse**

Deutschland

129

(129)

Niederlande

128

132

Belgien

153

168

Luxemburg

160

168

Dänemark

174

170

Großbritannien

177

170

Frankreich

189

186 241

Spanien

236

Irland

216

181

Italien

261

205

Portugal

425

397

Griechenland

420

481

* Index der Konsumgüterpreise 1979 = 100. * * Außen wert der DM in den jeweiligen Währungen (korrigiert mit der deutschen Inflationsrate).

Nun ist das unmittelbare Ziel eines Wechselkurssystems jedoch nicht die Stabilisierung des Preisniveaus. Aus außenwirtschaftlicher Sicht ist die Erhaltung der Kaufkraftparität die primäre Aufgabe. Die obige Tabelle zeigt, daß die Kurskorrekturen in der Mehrzahl der Länder überraschend genau die Veränderungen des Index' der Konsumgüterpreise, der hier als Ausdruck der Inflationsrate verwendet wird, widerspiegeln. In Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Dänemark, England, Frankreich und Spanien haben die Wechselkurskorrekturen sich ziemlich genau in der Höhe der Preissteigerungen gehalten; in Irland, Italien und Portugal blieb die Kursanpassung hinter der Preisbewegung zurück, in Griechenland ging die Kurskorrektur über die Preissteigerung hinaus. Die Kurskorrekturen wurden allerdings überwiegend nicht im Sinne der Regeln vorgenommen, d. h.also wenn die Auseinanderentwicklung der „Fundamentals" - insbesondere also der Preisniveaus - das gefordert hätten; sie erfolgten vielmehr immer erst, wenn nach anhaltenden Interventionen die Spekulation einen Umfang angenommen hatte, der die Interventionsmöglichkeiten der Zentralbanken, insbesondere der Deutschen Bundesbank, erschöpfte.

Der Weg zum Euro

171

Trotz dieser nur unzureichenden Beachtung der Regeln des Systems ist festzuhalten, daß die hohe Parallelität der Preis- und Kursentwicklung über die ersten acht Jahre des EWS ein (bedingt) positives Urteil über die Funktionsfähigkeit des Systems erlaubt. Natürlich ist einzuräumen, daß bei einem Spektrum der Inflationsraten von 29 bis 320% von einer Konvergenz der nationalen Politiken noch keine Rede sein konnte. Das hatte bei Gründung des EWS aber auch niemand innerhalb weniger Jahre erwartet.

I I I . Vom Europäischen Binnenmarkt zu Maastricht Nachdem auf währungspolitischem Gebiet gewisse Fortschritte erzielt und damit günstigere Voraussetzungen für neuerliche Integrationsbemühungen geschaffen waren, lag es nahe, weitere Schritte in dieser Richtung - nun nicht mehr speziell auf währungspolitischem, sondern auf allgemein-wirtschaftlichem Gebiet zu unternehmen. 7. Europäischer Binnenmarkt Dies geschah mit dem Beschluß der „Einheitlichen Europäischen Akte" im Jahr 1986. Auf dem Gipfeltreffen in Mailand legte der Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, einen Siebenjahresplan vor, der zum Ziel hatte, den Europäischen Binnenmarkt bis zum Jahr 1993 zu vollenden, d. h. also daß ein freier Markt ohne Grenzen für Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital geschaffen und den Mitgliedländern jede Möglichkeit genommen werden sollte, den Import durch eine interventionistische Außenwirtschaftspolitik zu behindern. Da zu diesem Zweck eine große Zahl von nationalen Regelungen zu vereinheitlichen oder abzubauen war, mußten den Europäischen Behörden umfangreichere Entscheidungsbefugnisse eingeräumt und das für den Rat bisher gültige Einstimmigkeitsprinzip für eine Reihe von Bereichen aufgehoben werden. Dieses Ziel war bis 1993 weitgehend erreicht. Damit setzte allerdings auch ein Prozeß der Verselbständigung der Eurobürokratie ein, der bis heute anhält und Kritik hervorruft. In diesem Zusammenhang ist auch die Weiterentwicklung des GATT zu erwähnen. Es wurde oben darauf hingewiesen, daß das GATT in acht Verhandlungsrunden immer weiter ausgedehnt wurde. Die letzte - die sog. Uruguay-Runde begann Ende 1986 und wurde im Jahr 1994 beendet. Das Abschlußabkommen brachte die Ablösung des GATT durch die Welthandelsorganisation (WTO). Diese Organisation dehnt das ursprüngliche GATT-Mandat auf weitere Bereiche wie z. B. den Handel mit Dienstleistungen und geistigem Eigentum weiter aus und liefert einen internationalen rechtlichen Rahmen für die Durchsetzung der GATT-Bestimmungen in strengerer Form. Das GATT war ursprünglich nur ein vorläufiger Vertrag, der von einem Sekretariat verwaltet wurde; mit dem Uruguay-Abkommen

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Werner Ehrlicher

ging das GATT in einer eigentändigen internationalen Organisation mit erheblich erweiterten Befugnissen auf.

2. Entwicklung des EWS von 1986 bis 1992 Neben dem Beschluß zur Schaffung des Europäischen Binnenmarktes stellte das Jahr 1986 insofern einen bemerkenswerten Einschnitt dar, als sich in der Funkionsweise des EWS beachtliche Fortschritte abzeichneten. Ab Mitte der 80er Jahre setzte sich deutlich ein neuer Trend durch, der die Erwartungen der Initiatoren dieser Ordnung fortschreitend erfüllte. Das EWS wurde immer allgemeiner als die neue Europäische Währungsordnung akzeptiert. Zunehmend mehr Staaten strebten die Aufnahme an oder schlossen sich über bilaterale Assoziierungsverträge dem System an. Ein wesentlicher Grund für diese positive Entwicklung war, daß sich nun eine beachtliche Konvergenz in den nationalen Wirtschaftspolitiken durchsetzte, die sich - wie Tabelle 2 zeigt - in einer hohen Parallelität der Inflationsraten niederschlug. Wenn dies allerdings zu der Annahme führte, daß damit schon die Bedingungen für stabile Wechselkurse erreicht und keine Anpassungen der Kurse mehr erforderlich wären - in dieser Periode fanden keine Änderungen der Paritäten statt - , dann war das, wie die Krise 1992/93 zeigte, voreilig. Tabelle 2 Konsumgüterpreise im Jahr 1992 1987 = 100 Niederlande

111

Belgien

114

Frankreich

115

Luxemburg

115

Irland

115

Deutschland

116

Dänemark

117

Großbritanien

132

Italien

134

Spanien

134

Portugal

170

Griechenland

215

Von 1986 bis 1992 belief sich die Geldentwertung in den Niederlanden, in Belgien, Frankreich, Luxemburg, Irland, Deutschland und Dänemark auf 11 bis 17%, d. h. also daß die jährlichen Inflationsraten mit durchschnittlich 2 - 3 % sehr niedrig

Der Weg zum Euro

173

waren und unerwartet nahe beieinander lagen. Vom EWS ist offenbar ein starker Disziplinierungszwang auf die wichtigsten Politikbereiche, insbesondere die Geldund Finanzpolitik, in diesen Ländern ausgegangen. Weniger positiv verlief die Entwicklung in England, Italien und Spanien; diese Länder haben in dieser Periode Preissteigerungen von über 30% auflaufen lassen, d. h. also daß die durchschnittlichen Jahresraten etwa auf der doppelten Höhe der Hartwährungsländer lagen. Auch dies war aber im Vergleich zur Vorperiode als bemerkenswerter Erfolg anzusehen. Ungünstig schnitten nur Portugal und Griechenland ab. Zur Entwicklung in den sog. Schwachwährungsländern ist anzumerken, daß bei dem letzten Realignement im Jahr 1987 niemand erwartet hatte, daß dies die letzte Kurskorrektur sein würde. Die mangelnde Anpassung der Leitkurse war ein klarer Verstoß gegen die oben dargestellte dritte Regel des EWS. Man kann nachträglich eigentlich nur mit Überraschung fragen, warum diese Länder einen solchen Abwertungsbedarf auflaufen ließen. Offenbar hatten sich die internationalen Finanzmärkte in einem hohem Maße daran gewöhnt, daß die Interventionen der Notenbanken ausreichten, tendenzielle Ausschläge der Kurse über die Bandbreiten hinaus aufzufangen, so daß keine Realignements nötig schienen. Aus ökonomischer Sicht wäre es nicht schwierig gewesen, den Anpassungsbedarf durch relativ kleine Kurskorrekturen immer wieder abzubauen. Der Widerstand gegen die Veränderung der Leitkurse war überwiegend politisch begründet: Die Notwendigkeit einer Abwertung wird als Politikversagen aufgefaßt und berührt damit nicht nur das persönliche, sondern auch das nationale Prestige. Der Widerstand war deshalb - gegen alle ökonomische Notwendigkeit - sehr stark. Bei entsprechenden Anpassungen wäre es wahrscheinlich nicht zur Krise gekommen, die Konvergenz der Politik hätte weitere Fortschritte gemacht und das EWS hätte sich sehr viel eindeutiger als Vorstufe zur Wirtschafts- und Währungsunion bewährt. 3. Die Krise des EWS von 1992/93 Mit dem Beschluß zur Herstellung eines einheitlichen Binnenmarktes war der Europäische Einigungsprozeß auf wirtschaftlichem Gebiet ein großes Stück vorangekommen. Nachdem mit dem EWS auf währungspolitischem Gebiet erfolgreiche Ansätze für die Rückkehr zu einem effizienten System fester Wechselkurse eingeleitet waren, lag es nahe, auf diesem Gebiete weitere Initiativen zu ergreifen. Eine einfache Begründung propagierte die Europäische Kommission mit dem Schlagwort „Ein Markt - eine Währung". Die entsprechenden Beschlüsse wurden im Jahr 1988 auf der Gipfelkonferenz in Hannover gefaßt. Der Rat beauftragte - wiederum unter Leitung des Kommissionspräsidenten Delors -eine Arbeitsgruppe, einen Bericht über weitere Etappen der Einigung auszuarbeiten. Auf der Grundlage des Delors-Berichts erfolgten am

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11./12. 12. 1991 die Beschlüsse von Maastricht; sie stellen - wie schon angedeutet - kein selbständiges neues Vertragswerk dar, sondern sind eine Ergänzung und damit Weiterführung der Römischen Verträge von 1958, mit denen die Europäische Gemeinschaft im Jahr 1958 gegründet worden war. Auf den Inhalt des Vertrags wird im einzelnen im folgenden Teil im Zusammenhang mit seiner schrittweisen Realisierung eingegangen. Hier soll zunächst die Weiterentwicklung des EWS behandelt werden. Die Maastrichter Beschlüsse wurden zunächst allgemein lebhaft begrüßt. Es wurde verbreitet erwartet, daß der Weg zur Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion nun offen läge. Die Märkte waren positiv gestimmt und die Kapitalbewegungen zwischen den Mitgliedländern stiegen stark an. Im späten Frühjahr 1992 kam es zu einer Beunruhigung über die Entwicklung der italienischen Wirtschaft und der Lira. Dies wurde jedoch nicht weiter ernst genommen. Ziemlich schlagartig änderte sich die Beurteilung der Situation erst, als die Dänen im Sommer 1992 in einer Volksabstimmung den Vertrag ablehnten und die Franzosen in der Abstimmung nur äußerst knapp dafür votierten. Von nun an erfuhren kleinere Abweichungen in der wirtschafts- und währungspolitischen Performance einzelner Länder, die bisher vernachlässigt wurden, starke Beachtung. Zum Eklat kam es im September 1992, als nach starken Spekulationswellen die Lira und das Pfund Sterling aus dem Verbund ausschieden und Italien und England die Kurse ihrer Währungen frei gaben. Dies veranlaßte dann auch Finnland und später Schweden und Norwegen, die feste Anbindung an den ECU zu lösen. In der Folge nahmen mehrere Währungen, die im Verbund blieben, Abwertungen vor. Später verbesserte sich trotz mancher Spannungen, die zu weiteren Abwertungen führten, wieder das Vertrauen in das EWS. Das galt selbst noch für die Frühjahrsmonate 1993, als die französischen Zinsen unter die deutschen gesenkt wurden und manche voreiligen Interpreten sich darüber ausließen, daß nun der FFr die DM als Ankerwährung ablösen würde. Zum Höhepunkt der Krise kam es Ende Juli 1993. Die Deutsche Bundesbank mußte innerhalb weniger Tage 60 Mrd. DM an Devisen, allein am 30. Juli in Höhe von 30 Mrd. DM - insbesondere FFr - , aus dem Markt nehmen und bat deshalb die deutsche Regierung, eine Sondersitzung der Finanzminister und der Notenbankgouverneure einzuberufen. Am 1./2. August wurde dann der Beschluß gefaßt, die Bandbreiten auf + / - 15% zu erweitern. Der Beschluß kam erst nach erregten Diskussionen zustande. Die Vertreter Frankreichs hielten - so wurde berichtet - lange an der Forderung fest, die DM solle aus dem System ausscheiden. Das war offenbar - nach den Zinssenkungen vom Frühjahr - der zweite Versuch der französischen Regierung, die Rolle der Ankerwährung zu übernehmen. Ursache dieser sog. Krise des EWS waren offensichtlich die in mehreren Schüben auftretenden Spekulationswellen. Schon die Realignements in der Zeit von 1979 bis 1986 wurden immer von starken Spekulationswellen ausgelöst. Nach 1987 hat die Konvergenz der Wirtschaftspolitik und die Angleichung der Infla-

Der Weg zum Euro

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tionsraten in den stabileren Ländern die Chancen der Spekulation auf Kursbewegungen dieser Währungen verringert. Die Beschlüsse von Maastricht schienen mit der baldigen Aussicht auf eine einheitliche Währung der Spekulation mit Europäischen Währungen den Boden vollends zu entziehen. Erst mit den sich ausbreitenden Zweifeln an der baldigen Realisierung dieser Beschlüsse nahmen die Transaktionen auf den internationalen Finanzmärkten innerhalb von Stunden wieder außerordentliche Größenordnungen an und zwangen die Lira und das Pfund Sterling zum Austritt aus dem EWS. Gegner des Systems fester Kurse und damit auch des EWS haben diese Spekulationswellen als Folge der Konstruktion dieses Systems interpretiert: die Festkursgarantie nehme der Spekulation weitgehend das Risiko und rege sie damit an. Im System flexibler Kurse würden sich Veränderungen in den Erwartungen der Märkte schnell in Anpassungen der Kurse niederschlagen und damit der Spekulation den Boden entziehen bzw. sie schon im Keim ersticken. Dieser Vorstellung wird entgegengehalten, daß es sich bei den während der Krise des EWS zu beobachtenden Spekulationswellen um weitgehend neue Vorgänge handelt. Bis in die zweite Hälfte der 70er Jahre wurde die Bewegung der Devisenkurse im wesentlichen von dem Devisenbedarf für Leistungsbilanztransaktionen bestimmt. Seitdem setzte eine Ausweitung der internationalen Finanzmärkte ein, die schließlich dazu führte, daß der Anteil der grenzüberschreitenden Leistungsströme nur noch etwa 2 bis 5% der Netto-Devisenströme beträgt. Etwa 95 bis 98% der internationalen Transaktionen haben direkt oder indirekt nichts mit Waren-, Dienstleistungs- und Kapitaltransaktionen i.e.S. zu tun. Damit sind die traditionellen Vorstellungen über die Zahlungsmechanismen obsolet geworden; die Bildung der Wechselkurse wird von den internationalen Geldbewegungen dominiert. Die Entwicklung der Wechselkurse zwischen dem Dollar und den Europäischen Währungen weist seitdem auch keinerlei Beziehung zur Entwicklung der relativen Kaufkraft aus: In den USA ist die Inflationsrate von 1979 bis 1992 mit gewissen Schwankungen von 9% auf 3% zurückgegangen; der Dollarkurs stieg vom Dezember 1979 bis März 1985 von 1,48 auf 3,31 DM, also um über 120%; in den folgenden 7 1 / 2 Jahren ging er dann mit gewissen Unterbrechungen bis November 1992 auf 1,49 DM - also auf unter die Hälfte - zurück. Es existiert ein monetärer Überbau, der dadurch zustande kommt, daß in großem Stil Transaktionen getätigt werden, die sich innerhalb des monetären Sektors erschöpfen. Der monetäre Bereich übt heute nur noch in engen Grenzen dienende Funktionen aus, er hat sich verselbständigt und ist insoweit zu einem eigenständigen Bereich geworden, der seine Zielsetzung in sich hat. Die traditionelle Vorstellung, daß bei freien Wechselkursen stärkere Bewegungen verhindert würden, weil die schnell einsetzende Arbitrage die Ansätze dazu auffangen würde, scheint heute insbesondere deshalb fragwürdig, weil bei den aufgezeigten Bewegungen vielfach die umgekehrte Kausalität gilt: Diese neue Art

176

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von Spekulation ist nicht mehr nur Reaktion, sondern auch Aktion; durch geballten Einsatz umfangreicher Mittel sollen Kursbewegungen ausgelöst und durch Mitläufer über eine gewisse Zeit aufrecht erhalten werden. Der Anreiz dazu dürfte bei freien Kursen eher größer sein.

IV. Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (Maastrichter Beschlüsse) Die Krise des EWS wurde von den Maastrichtgegnern als endgültiger Beweis dafür interpretiert, daß es für eine Währungsunion noch viel zu früh sei. Befürworter der Währungsunion lehnten die Stilisierung der Spekulationswellen zu einer Krise des EWS ab und sahen in dieser Entwicklung im Gegenteil einen Grund, den Weg zur Währungsunion nach Möglichkeit zu verkürzen, um zunächst innerhalb der EU der Währungsspekulation ein Ende zu setzen.

7. Zum Inhalt der Verträge Materiell kann man in den Maastrichter Beschlüssen eine Wiederholung und Weiterführung des auf der Gipfelkonferenz von Den Haag im Jahr 1969 unternommenen ersten Versuchs sehen, eine Europäische Wirtschafts-und Währungsunion zu gründen. Das politische Fernziel wurde aber deutlich weiter gesteckt: Es sind die Vereinigten Staaten von Europa. Der Intention nach zielen die Beschlüsse auf eine parallele Integration auf politischer, wirtschaftlicher und währungspolitischer Ebene; in der konkreten Ausgestaltung wurde diese Parallelität jedoch nicht erreicht. Hinichtlich der politischen Union beschränkte sich das Vertragswerk weitgehend auf Absichtserklärungen; sie betreffen die Einführung einer Europäischen Unionsbürgerschaft, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz. Weitergehende Bestimmungen in Bezug auf die Wirtschafts- insbesondere die Industriepolitik und die Sozialpolitik - waren unpräzise gehalten und erlauben unterschiedliche Auslegung.

2. Die Beschlüsse zur Währungsunion Sehr detailliert wurden die Bestimmungen zur Währungsunion ausgearbeitet. Insofern kann man sagen, daß diese das Kernstück der Maastrichter Beschlüsse sind. Besondere Bedeutung wurde in den Maastrichter Beschlüssen der Geldwertstabilität beigemessen. Art. 105 sagt zu den Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken: „Das vorrangige Ziel des ESZB ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESBZ die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft ..." Um dieses Ziel ranken sich die einzelnen Elemente der Währungsunion:

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- die Konvergenzkriterien, - die Stufenfolge, - die Institutionen und - die Sanktionen. Die Geldwertstabilität sollte vor allem dadurch geDie Konvergenzkriterien: sichert werden, daß Mitglieder der Währungsunion nur Staaten werden können, die bestimmte Eintrittsbedingungen - Konvergenzkriterien - erfüllen. Mit diesen Kriterien sollte die stabilitätspolitische Situation oder das stabilitätspolitische Verhalten der potentiellen Mitgliedstaaten gemessen werden. Das erste Kriterium definiert unmittelbar die Forderung an die Geldwertstabilität: Die Inflationsrate darf nicht mehr als 1,5% über dem Durchschnitt der Preissteigerungsraten der drei stabilsten Länder der Gemeinschaft liegen. Die zweite Konvergenzbedingung betrifft die außenwirtschaftliche Stabilität. Die Währung eines Landes darf in den vergangenen zwei Jahren im EWS-Band keinen stärkeren Spannungen ausgesetzt gewesen sein. Mit diesen beiden Stabilitätsbedingungen hängt die Zinsbedingung eng zusammen: Der Abstand der längerfristigen Zinsen gegenüber den drei stabilsten Ländern darf nicht mehr als 2 Prozentpunkte betragen. Während in diesen Kriterien die währungspolitischen Ziele unmittelbar definiert wurden, haben die finanzpolitischen Kriterien mehr eine Mittelfunktion zur Erhaltung der Preisstabilität: Das jährliche Defizit der öffentlichen Haushalte insgesamt darf nicht über 3% des BIP hinausgehen, zum anderen darf der gesamte Schuldenstand der öffentlichen Haushalte 60% des BIP nicht überschreiten. Die Stufenfolge zur Währungsunion: Der Weg zur Währungsunion sollte in drei Stufen durchschritten werden. In der ersten Stufe (Beginn 1. Juli 1990) sollte bis 1993 vor allem der Binnenmarkt im Sinne der gemeinsamen Akte vollendet und die nationalen Politikbereiche auf die Konvergenzkriterien hin ausgerichtet werden. In der zweiten Stufe (bis spätestens Ende 1998) sollte das Europäische Währungsinstitut (EWI) als Vorgänger der Europäischen Zentralbank (EZB) gegründet werden. In dieser Stufe hatten die Partnerstaaten ihren Zentralbanken die vereinbarte Unabhängigkeit einzuräumen. Die dritte Stufe sollte, wenn nicht vorher eine Entscheidung getroffen würde, daß es für die Gemeinschaft zweckmässig sei, in diese Stufe einzutreten, spätestens am 1. 1. 1999 beginnen. Dieser Schritt zur Währungsunion sollte vollzogen werden, auch wenn noch keine Mehrheit die Bedingungen erfüllt habe.

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3. Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) Das Europäische Währungsinstitut, dessen Aufgabe vor allem in der währungstechnischen Vorbereitung der dritten Stufe bestand, nahm seine Tätigkeit - nachdem im Jahr 1993 Frankfurt /Main als Sitz der Europäischen Zentralbank bestimmt worden war - am 1. Januar 1994 auf. Wie im Vertrag vorgesehen, wurde dieses Institut ein halbes Jahr vor Eintritt in die dritte Stufe - also zum 1. Juni 1998 - durch das System der Europäischen Zentralbanken abgelöst. Dieses ist wie unser Zentralbanksystem konstruiert: Entscheidungsorgan ist der Europäische Zentralbankrat, der sich aus dem Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB) und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken zuammensetzt. Der Rat ist der Träger der Europäischen Geldpolitik; er bestimmt den Umfang der zulässigen Notenbankgeldschöpfung. Auf ihn ging de facto das Notenausgaberecht der nationalen Banken über - auch wenn zunächst noch weiter die nationalen Währungen gelten und emittiert werden.

4. Absichernde Regelungen Um die Durchsetzung der geldpolitischen Ziele zu sichern, sind in den Maastrichter Beschlüssen eine Reihe von Regelungen vorgesehen. Vor allem soll der Europäische Zentralbankrat in seinen geldpolitischen Beschlüssen von Weisungen der nationalen und der Gemeinschaftsinstanzen unabhängig sein. Dem Interesse der Geldwertstabilität dient weiter, daß es der EZB untersagt ist, öffentlichen Haushalten Kredite zu gewähren. Die EZB hat auch darauf zu achten, daß den öffentlichen Haushalten seitens der Geschäftsbanken nicht bevorzugt Kredite eingeräumt werden. Als letztes Mittel schließlich zur Sicherung der in dem Vertrag eingegangenen Verpflichtung zur Koordination der nationalen Wirtschafts-und Finanzpolitik sind in den Maastrichter Beschlüssen Sanktionen vorgesehen. Schon in der zweiten Stufe hat der Rat der EG diesbezüglich Empfehlungen erarbeitet und das schon bestehende System der „Multilateralen Überwachung" weiter ausgebaut. Der Rat kann direkte Empfehlungen erteilen, diese veröffentlichen und bei schwerwiegenden Verstössen Sanktionen ergreifen, die bis zu Geldbußen reichen. Abschließend sei noch erwähnt, daß in den Maastrichter Beschlüssen auch gegen die offensichtlichen Zentralisierungstendenzen der Eurobürokratie mit der Festlegung auf das Subsidiaritätsprinzip eine Hürde aufzubauen versucht wurde. Dieses Prinzip besagt, daß die Gemeinschaft nur dann tätig werden darf, wenn die angestrebten Ziele nicht auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten erreicht werden können.

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V. Die Einführung des Euro Die Turbulenzen der Jahre 1992/93 förderten bei den Regierungen und den Zentralbanken sichtlich die Bereitschaft, massiv auf die Einhaltung der Konvergenzbedingungen hinzuarbeiten. Das gelang auch in einem selbst von Optimisten nicht erwarteten Ausmaß. Tabelle 3 Jährliche Preissteigerungsraten 1980/90

1990

1993

1995

1997

Belgien

4,5

3,5

2,8

1,5

1,5

Dänemark

5,9

2,6

1,2

2,1

2,0

Deutschland*

2,6

2,7

4,5

1,8

1,5

Finnland

6,7

6,1

2,1

1,0

1,2

Frankreich

6,3

3,4

2,1

1,7

1,3

Griechenland

19,0

20,4

14,4

9,3

5,4

Großbritanien

6,6

9,5

1,6

3,5

1,9

Irland

7,7

3,4

1,5

2,5

1,2

Italien

9.6

6,5

4,3

5,2

1,9

Luxemburg

4,4

3,7

3,6

1,9

1,4

Niederlande

2,4

2,6

2,6

2,0

1,9

Norwegen

7,6

4,1

2,3

2,4

2,6

Österreich

3,5

3,3

3,6

2,2

1,2 1,9

17,1

13,4

6,5

4,1

Schweden

7,6

10,4

4,7

2,5

1,9

Spanien

9,3

6,7

4,6

4,6

1,9

Portugal

* Bis 1991 alte Bundesländer. Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, Deutschland 1998, Köln 1998, S. 143.

Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik

Die frühesten Erfolge in der Erreichung der Konvergenzbedingungen waren bei den Inflationsraten zu verzeichnen. In den Jahren 1980 bis 1990 lagen nur Deutschland und die Niederlande bei Inflationsraten unter 3%, im Jahr 1990 erreichte zusätzlich Dänemark diese Grenze. Im Jahr 1993 kamen noch Belgien, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland und Norwegen hinzu. (In Deutschland stieg die Inflationsrate in diesem Jahr vorübergehend auf 4,5% an). Im Jahr 1995 lagen nur Griechenland, Großbritannien, Italien, Portugal und Spanien über 3%. Im Jahr 1997 - dem Stichjahr für die Zulassung zur Währungsunion - lagen alle Länder mit Ausnahme Griechenlands unter 3%, die Mehrheit der Länder sogar unter 2%. 13 FS Leisner

180

Werner Ehrlicher

Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in der Schuldenpolitik der öffentlichen Haushalte: Das Schuldenstandskriterium (60% des BIP) wurde zwar von einer Reihe von Ländern nicht erreicht. Kurzfristig ist dies gar nicht möglich; der Maastrichter Vertrag sah in Art. 104 c, Abs. 2 deshalb auch vor, daß es ausreicht, wenn das Verhältnis „hinreichend rückläufig" ist. Das Kriterium der Netto-Neuverschuldung (3% des BIP) haben im Jahr 1997 alle beitrittswilligen Ländern - wiederum mit Ausnahme Griechenlands - erfüllt.

Tabelle 4 Schuldenstand (SSt) und Nettoneuverschuldung (NN) in v.H. des BIP 1990

1993

1995

1997

SSt

NN

SSt

NN

SSt

NN

SSt

131

5,4

141

6,6

131

3,9

123

2,1

Dänemark

60

1,5

67

4,5

69

2,2

62

+0,4 2,7

Belgien

NN

Deutschland*

43

2,1

48

3,3

57

3,3

60

Finnland

15

+5,4

56

7,9

58

5,2

56

1,0

Frankreich

40

1,6

53

53

5,0

58

3,0

Griechenland

78

14,0

117

6,1 13,2

110

10,3

108

4,0

Großbritanien

35

1,2

47

7,9

54

5,6

53

1,9

Irland

96

2,2

93

2,3

82

1,9

65

+0,9

Italien

101

10,9

120

9,6

124

7,7

122

2,7

Luxemburg

7

+5,9

7

+2,1

6

+1,9

7

+1,7

Niederlande

77

5,0

79

3,2

79

3,7

71

1,4

Norwegen

39

+2,5

51

2,1

43

+3,3

41

+7,3

5,1 5,8

65

2,5

65

2,5

Österreich

56

2,2

58

4,1

69

Portugal

60

5,5

68

7,1

69

Schweden

44

+4,2

75

13,4

78

7,0

77

0,8

Spanien

49

4,1

59

7,5

66

6,5

69

2,6

* Bis 1991 alte Bundesländer. Quelle: 1990 und 1993: Bundesministerium der Finanzen, Finanzbericht 1996, Bonn 1995, S. 304, 1995 und 1997 Finanzbericht 1999, Bonn 1998, S. 356.

Vom EWS ging offenbar ein starker Disziplinierungszwang auf die wichtigsten Politikbereiche, insbesondere die Finanz- und Geldpolitik, in den Mitgliedländern aus. Dies wirkte sich auch auf die weiteren Konvergenzkriterien - die Entwicklung der Wechselkurse und der Zinssätze - aus. Die auf + / - 15% erweiterten Bandbreiten wurden nie ausgenutzt, die Wechselkurse bewegten sich fortschreitend enger um die Leitkurse und wichen von diesen schließlich kaum noch ab. Auch die lang-

Der Weg zum Euro

181

fristigen Zinssätze näherten sich fortschreitend an und erfüllten bald die Bedingung, daß der Abstand gegenüber den drei stabilsten Ländern nicht mehr als 2 Prozentpunkte betragen sollte; schon 1995 hatte die Mehrheit der beitrittswilligen Staaten dieses Ziel erreicht; Ausnahmen waren noch Griechenland, Italien, Portugal und Spanien, im Jahr 1996 erfüllten auch Spanien und Portugal die Zinsbedingung, im Jahr 1997 hatte nur Griechenland sie noch nicht erreicht. Da die nachhaltige Entwicklung in Richtung auf die Erfüllung der Konvergenzbedingungen nun schon seit 9 Jahren anhält, kann man kaum sagen, daß dies nur auf die vorübergehende Anstrengung, die Eintrittskriterein zu erfüllen, zurückzuführen sei. Es hat sich vielmehr in allen Ländern nicht nur die Überzeugung verbreitet, daß die Wirtschafts -und Währungsunion nur bei anhaltender Erfüllung der Konvergenzbedingungen ein Erfolg werden kann, darüber hinaus hat sich ein neues Bewußtsein in dem Sinne durchgesetzt, daß eine stabilitätsorientierte Poltik auch aus binnenwirtschaftlichen Gründen anstrebenswert erscheint. Besonderen Ausdruck fand diese neue Einstellung auf der Gipfelkonferenz in Valencia am 30. Sept. /1. Okt. 1995. Dort wurde zunächst beschlossen, daß für die Erfüllung der Konvergenzkriterien die tatsächlichen Daten des Jahres 1997 und nicht die Prognosen für 1998 gelten sollen; insbesondere aber wurde in Form eines gentlemens' agreement vereinbart, daß die finanzpolitischen Kriterien auch für die Zeit nach 1999 gelten sollen; es bestand sogar Bereitschaft anzuerkennen, daß das Defizit normalerweise unter 3% bleiben und nur in der Rezession diese Höhe erreichen soll. Die letztere Vereinbarung wurde auf dem EU-Gipfel in Amsterdam am 16./17. Juni 1997 in Form des sog. „Stabilitäts- und Wachstumspaktes" verbindlich beschlossen. Damit wurden die Haushaltsvorgaben des Maastrichter Vertrages präzisiert. In Art. 104c, Abs. 1 hieß es dazu: „Die Mitgliedstaaten vermeiden übermäßige öffentliche Defizite" und außerdem in Art. 109j, Abs. 1: die Teilnehmerländer streben eine „auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand" an. In Amsterdam verpflichteten sich die Mitgliedstaaten über diese Bestimmungen hinausgehend bzw. diese präzisierend auf das „mittelfristige Ziel eines nahezu ausgeglichenenen oder einen Überschuß aufweisenden Haushalts", der es ermöglichen soll, die normalen Konjunkturschwankungen zu bewältigen und dabei das öffentliche Defizit im Rahmen des Referenzwertes von 3% des BIP zu „halten". 6 Auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EU vom 1. bis 3. Mai 1998 in Brüssel wurden für die Teilnehmer der dritten Stufe der EWU die bilateralen Wechselkurse zwischen diesen Ländern festgelegt und die Mitglieder des Direktoriums der Europäischen Zentralbank, die am 1. Juni 1998 ihre Tätigkeit aufnahm, ernannt. 6

Zitiert nach Scharren Hans-Eckart: Nachhaltigkeit: Beurteilung der Konvergenz ausgewählter Mitgliedstaaten im Vorfeld der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung Hamburg, HWWA-Report 179, Hamburg 1998, S. 13. 13'

182

Werner Ehrlicher

Es wurde - wie erwartet - beschlossen, daß die Länder Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal und Spanien zum 1.1. 1999 Mitglieder der Union werden; unter den beitrittswilligen Ländern wurde also nur Griechenland nicht aufgenommen. Als bilaterale Paritäten zwischen den Währungen dieser elf Länder wurden die aktuellen Leitkurse festgesetzt. Da diese Leitkurse in Einheiten des ECU definiert waren und in den Kurs des ECU bis 31. 12. 1998 auch die Kurse der Währungen jener EU-Länder eingingen, die zunächst nicht Mitglieder der EWU wurden, konnte die definitive Festlegung der Kurse gegenüber dem Euro erst zum 1.1. 1999 erfolgen. Entgegen den Prognosen vieler Maastrichtgegner, daß die Festlegung dieser Kurse sehr schwierige Verhandlungen erfordern würde, erfolgte die Einigung ohne größere Diskussion. Bei der Wahl des Präsidenten der Europäischen Zentralbank kam es zu allgemein als recht unwürdig empfundenen Auseinandersetzungen. Zunächst schien Übereinstimmung zu bestehen, daß der Präsident des Währunginstituts Duisenberg diese Aufgabe übernehmen sollte; erst kurz vor Beginn der Gipfelkonferenz nominierte der französische Ministerpräsident den Präsidenten seiner Zentralbank Trichet und insistierte, bis ein - später umstrittener - Kompromiß über einen vorzeitigen Rücktritt Duisenbergs erreicht wurde. Hinsichtlich der übrigen Mitglieder des Direktoriums wurde schnell Einigkeit erzielt. Zu den Mitgliedern des Rates der Bank gehören neben den Direktoriumsmitgliedern ex officio die Zentralbankpräsidenten der elf Mitgliedstaaten. Nach Aufnahme seiner Tätigkeit traf der Europäische Zentralbankrat in der zweiten Jahreshälfte eine Reihe wichtiger Entscheidungen zur künftigen Geldpolitik. So wurde das Grundkonzept der geldpolitischen Strategie, über das vorher schon eine breite öffentliche Diskussion stattgefunden hatte, dahingehend formuliert, daß es aus zwei Hauptelementen bestehen solle: zum einen wurde der Geldmengenpolitik - mit der Ankündigung von Geldmengenzielen - eine entscheidende Rolle eingeräumt, zum anderen sollen laufend die Aussichten für die Preisentwicklung und die Risiken für die Preisstabilität anhand eines breiten Spektrums von wirtschaftlichen und finanziellen Indikatoren verfolgt werden. Weiterhin wurde das Instrumentarium, mit dem die Europäische Zentralbank künftig arbeiten soll, festgelegt: Das wichtigste Instrument werden Wertpapierpensionsgeschäfte sein, wobei auf kurzfristige Titel gut zwei Drittel entfallen sollen. Am 3. Dezember beschloß der Europäische Zentralbankrat, daß die nationalen Zentralbanken den Diskontsatz auf 3% (Italien 3,5%) senken. Am 23. Dezember wurde der Refinanzierungszins der Europäischen Zentralbank für die erste Kreditgewährung im Januar auf 3% festgesetzt; als Zinskorridor wurde für die Spitzenrefinanzierungsfazilität 4,5%, für die Einlagenfazilität auf 2% beschlossen. Als weiteres Instrument wurde eine im Monatsdurchschnitt zu haltende Mindestreserve, die mit einem Satz von 2% verzinst wird, eingeführt.

Der Weg zum Euro

183

Zur Festlegung der unwiderruflichen Kurse der Europäischen Währungen beschloß der EZB-Rat in einer Telekonferenz am 31. 12. 1998 vormittags eine Stellungnahme, die der Präsident der EZB dem Rat der Europäischen Union überbrachte, der diese Paritäten dann am Nachmittag in einer eigens einberufenen Sondersitzung festsetzte. Von da an arbeiteten die Banken - wohl ohne Unterbrechung bis zum 2. Januar - an der Umstellung der Datenverarbeitungsanlagen, da ab 1.1. 1999 (bzw. 2.1.) Devisenkurse und Aktienkurse nur noch in Euro ausgewiesen werden, der Überweisungsverkehr in Euro erfolgen kann und auf den Bankkonten die Werte neben der nationalen Währung in Euro ausgewiesen werden. Am 2. Januar eröffneten die Börsen - wie die Presse berichtete - unter den Klängen des 4. Satzes von Beethovens 9. Symphonie - ,»Freude, schöner Götterfunken" - mit einer Explosion der Kurse. In einer Pressekonferenz am 7. 1. 1999 in Frankfurt sagte der Präsident der EZB zum Beginn der Europawährung: „Am 1. Januar 1999 ist der Euro erfolgreich eingeführt worden. Mit Wirkung von diesem Tag an hat das »Euro-System1 - das heißt die EZB und die elf nationalen Zentralbanken der am Euro teilnehmenden Mitgliedstaaten - die Verantwortung für die Geldpolitik im Euro-Währungsgebiet mit dem vorrangigen Ziel der Gewährleistung der Preisstabilität übernommen."7

7 Einleitende Bemerkungen des Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Wim Duisenberg, anläßlich der Pressekonferenz am 7. Januar 1999 in Frankfurt am Main, in: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 2, 8. Januar 1999, S. 3.

Über Minderheitenschutz in Europa Von Walter Rudolf

Es steht schlecht um einige Minderheiten im Südosten Europas. Die Verfolgung ethnischer Minoritäten im ehemaligen Jugoslawien, vor allem die seit Monaten in den Medien berichteten schweren Übergriffe gegen Albaner im Kosovo und deren massenhafte Vertreibung, aber auch das Schicksal der Kurden in ihrem Siedlungsgebiet haben die Minderheitenfrage nahezu jedem, der Nachrichten im Fernsehen sieht, bewußt gemacht. Dabei ist im Gegensatz zu der bedrückenden Realität der völkerrechtliche Schutz von Minderheiten in Europa in den letzten Jahren so ausgebaut worden wie nie zuvor.

I. Schon vor der Entstehung der modernen Staaten in Europa seit dem 16. Jahrhundert gab es Minderheiten. Meist waren dies religiöse Minoritäten: Waldenser, Hussiten, Juden, wobei solche Minderheiten mitunter auch ethnisch geprägt waren, wofür Böhmen seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert ein Beispiel liefert. Seit der Reformation gewann der Minderheitenschutz an Bedeutung. Mit der Formel „cuius regio, eius religio", die zwar nicht im Augsburger Religionsfrieden von 1555 expressis verbis genannt ist, aber dessen § 15 - Recht der Reichsstände, in ihren Gebieten die Glaubens- und Kirchenordnung aufzurichten - zugrunde lag, wurde im Heiligen Römischen Reich eine „konfessionelle Säuberung" ermöglicht, wie sie andernorts schon etwa in Spanien gegenüber Moslems und Juden betrieben wurde. In Frankreich gab das Edikt von Nantes 1598 den Hugenotten einen gewissen territorial begrenzten Minderheitenschutz. Ähnlich waren Evangelische und Orthodoxe, die meist zugleich auch ethnische Minderheiten waren, in ihren Siedlungsräumen im polnisch-litauischen Königreich geschützt. Im übrigen war die Konversion zur herrschenden Konfession möglich, schützte allerdings nicht immer vor Verfolgung, wofür die Umsiedlung der Morisken in Spanien ein Beispiel ist. Auch Juden wurden in ihren Ghettos geduldet und unterlagen nicht der Bekehrung. Dieser begrenzte Minderheitenschutz griff nicht überall auf Dauer. So mußten nicht konvertierwillige Hugenotten nach Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 aus Frankreich emigrieren. Auch die Auswanderung aus England nach Nordamerika war häufig konfessionell bedingt.

186

Walter Rudolf

Die französische Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers vom 26. August 1789 garantierte zwar die Gleichheit aller Menschen, schützte aber ethnische Minderheiten nicht. Die Sprache der Menschenrechtsdeklaration wurde in weiten Teilen Frankreichs überhaupt nicht verstanden; denn von den 83 französischen Départements wurde nur in 15 durchweg Französisch gesprochen1. Racine hatte behauptet, daß er im Midi ebenso einen Dolmetscher benötige wie ein Moskoviter in Paris, und die Académie Française war 1635 gegründet worden, weil zur Einheit des Staates auch die Einheit der Sprache gehörte. Konsequent verfügte das Schulgesetz von 1793, das alle Kinder Französisch lesen und schreiben lernen sollten; denn die Sprache sollte fortan „eins wie die Republik" werden2. Der Gebrauch der Muttersprache im privaten Bereich war zwar erlaubt, die französische Amtssprache mußte aber erlernt werden. Das schloß nicht aus, daß in den deutsch- und in den italienischsprachigen Gebieten des französischen Kaiserreichs staatliche Erlasse auch in Übersetzung erschienen. Im Staatensystem des Wiener Kongresses wurden ethnische Grenzen ignoriert. Die Schweiz war von jeher multinational, ebenso Österreich. Den einzelnen politisch gleichgestellten Ethnien in Österreich wurde regional und lokal Sprach- und Kulturautonomie gewährt. Nationale Mehrheiten in einem Kronland konnten Minderheiten in einem anderen sein oder im lokalen Bereich dazu werden, wie z. B. die Deutschen in Prag Mitte des 19. Jahrhunderts. In Preußen gab es eine polnische Mehrheit in der Provinz Posen, in der Polnisch neben Deutsch Amtssprache blieb,3 und starke polnische Minderheiten in Westpreußen und Oberschlesien und seit der Industrialisierung des Ruhrgebiets auch dort. Waren Minderheiten nicht geschützt, unterlagen sie der Assimilierung durch die Mehrheit wie vor allem in Frankreich, Teilen der ungarischen Reichshälfte der Doppelmonarchie und im Ruhrgebiet. Auch große Teile der westeuropäischen Juden wurden in den jeweiligen Staaten assimiliert. Nach dem 1. Weltkrieg sind einige der bisherigen Minderheiten in neuen Staaten zu Mehrheitsvölkern geworden, doch sind durch die neuen Grenzen auch zahlreiche neue ethnische Minderheiten entstanden. So gab es 1930 etwa 7 Millionen Deutsche, die außerhalb der deutschsprachigen Staaten lebten, und von den Ungaren wohnte über ein Drittel außerhalb des eigenen Staates. Für die Minoritäten entwickelte sich ein differenziertes Minderheitenrecht aufgrund völkerrechtlicher Verträge oder durch eine minderheitsfreundliche nationale Gesetzgebung. Insgesamt gab es in Europa etwa 30 verschiedene organisierte ethnische Minderheiten. 4 1

Zum folgenden: Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte (1999), S. 173 f. 2 Citron, Le mythe national. L'histoire de France en question (1987), S. 272. 3 In der Stadt Posen wurde die 1816 durchgesetzte Zweisprachigkeit der bisher nur polnisch geführten Protokolle später wieder rückgängig gemacht. Vgl. Laubert, in Rhode, Geschichte der Stadt Posen (1953), S. 99, 103. 4 Vgl. neuerdings Corsini (Hrsg.), Die Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen (1997).

Über Minderheitenschutz in Europa

187

Nachdem bereits Anfang der 20er Jahre ein Bevölkerungsaustausch größten Umfangs zwischen der Türkei und Griechenland stattgefunden hatte, wurden während des 2. Weltkrieges zahlreiche Völksgruppen in ihre Heimatstaaten umgesiedelt - darunter die Deutschbalten und die deutschen Minderheiten aus Ostpolen, der Bukowina und Bessarabien. Dazu kamen Vertreibungen und der Genozid an den europäischen Juden. Nach dem 2. Weltkrieg setzte in Europa eine Welle von „ethnischer Säuberung" ein, von der allein etwa 15 Millionen Deutsche betroffen waren. Das Minderheitenrecht in Ost- und Südosteuropa verlor an Bedeutung, da, von Ausnahmen abgesehen, Minderheiten nicht mehr existierten, zumindest nicht mehr anerkannt und ihre Entnationalisierung erzwungen wurde. Auch in Westeuropa verlor Minderheitenschutz an Bedeutung. Der Menschenrechtsschutz trat in den Vordergrund. Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 verbot in Art. 14 jede Diskriminierung, auch wegen Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, enthielt aber keine eigentlichen Minderheitenschutzbestimmungen. Die kommunistischen Regimes in der Sowjetunion und in Jugoslawien haben das Minderheitenproblem dadurch zu lösen versucht, daß den einzelnen Völkern - allerdings nicht allen - Territorien zugewiesen waren, in denen die jeweiligen Völksgruppen die absolute oder relative Mehrheit bildeten, in einzelnen Fällen allerdings auch dort in der Minderheit waren. Die Nationalitätenpolitik war im übrigen gekennzeichnet durch die Formel „national in der Form, sozialistisch-zentralistisch im Inhalt". Mit dem Wegfall der alles einigenden Kommunistischen Partei brachen die latent weiterbestehenden Minderheitenprobleme wieder auf. In Jugoslawien wurde noch unter der kommunistischen Herrschaft versucht, durch eine starke Föderalisierung des Staates die Minderheitenfrage unter Kontrolle der Parteizentrale zu halten, was aber schließlich scheiterte. In der Sowjetunion brachen bewaffnete Streitigkeiten unter nationalen Gruppen schon in den 80er Jahren aus, vor allem der Kampf um Nagorni Kharabagh, eine armenische Enklave im Gebiet von Aserbaidschan. Dies zeigt, daß die kommunistische Herrschaft die Nationalitätenfrage offenbar nicht auf Dauer hat lösen können. Es zeigt aber auch die Instabilität der menschlichen Natur, die abrupte Ideologie- und Loyalitätswechsel möglich macht, so daß der gute Nachbar von heute über Nacht der böse Feind wird. 5

II. In Europa gibt es derzeit über 30 Staaten mit ethnischen Minderheiten. Die tatsächliche und rechtliche Situation der Minderheiten in den einzelnen Staaten ist freilich sehr verschieden. In der Schweiz bilden vier gleichberechtigte Ethnien die 5 Berman, Perilous Ambivalence: National Desire, Legal Autonomy and the Limits of the Interwar Framework, Harv. L.J. 33 (1992), 352, 378; vgl. auch Thürer, Protection of Minorities in General International Law and International Humanitarian Law, Vortrag an der Universität Melbourne, Juli 1997, Manuskript S. 3 ff.

188

Walter Rudolf

Nation. Staaten mit erheblichen nationalen Minderheiten in ihrem Gebiet sind Lettland mit über 30% und Estland mit knapp 30% Russen.6 In der Ukraine umfaßt die russische Minderheit etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. In Rumänien leben mehr als eine Million Ungaren, das sind 7% der rumänischen Staatsbürger, in der Slowakei über 10% Ungaren. Demgegenüber gibt es in Norwegen, Schweden und Finnland einige Samit (Lappen), die jeweils weniger als 1 % der Bevölkerung ausmachen. In Deutschland liegt die Zahl der Bürger, die ethnischen Minderheiten angehören, unter 2 Promille. Dies sind die Sorben in der Lausitz, die Dänen in Südschleswig, Friesen in Nordfriesland und Sinti und Roma. Das Minderheitenproblem hat im übrigen recht unterschiedliche Ursachen. Die russische Bevölkerung in Estland und Lettland hat sich in der ehemaligen Sowjetunion seit 1945 dort angesiedelt. Die Ungaren in Rumänien und der Slowakei lebten seit 1000 Jahren in Gebieten, die über 900 Jahre zu Ungarn gehörten. Von den im europäischen Ausland lebenden Deutschen sind viele in Gebieten, die seit Jahrhunderten zu Deutschland gehörten und erst nach dem 1. oder nach dem 2. Weltkrieg abgetreten wurden, und andere in Gebieten, die nie zum deutschen Staatsgebiet gehörten; Deutsche in Siebenbürgen leben dort seit 800 Jahren, andere sind erst im 19. Jahrhundert ins Ausland ausgewandert. Dafür ist die Zahl der Ausländer in allen westeuropäischen Staaten hoch. In Deutschland beträgt sie etwa 9% der Bevölkerung. 7 Noch höher ist die Zahl der Ausländer in der Schweiz mit knapp 20%. Ausländer werden überall nach Fremdenrecht behandelt. Kinder von Ausländern erwerben die Staatsangehörigkeit durch Geburt im Gastland nur in Staaten, in denen das ius soli gilt. Im übrigen ist die Einbürgerung von Ausländern, wenn sie länger im Lande wohnen, auf Antrag möglich. Daß durch den Erwerb der Staatsangehörigkeit der Gastländer deren Integration in das Staatsvolk gesichert ist, läßt sich nicht verallgemeinern. Daß neue Minderheitenprobleme entstehen können, ist nicht auszuschließen.8 Während nach dem 1. Weltkrieg internationaler Minderheitenschutz als Gruppenrecht ausgebildet war, ist Minderheitenschutz nunmehr Teil des Menschenrechtsschutzes. Das Diskriminierungsverbot nach „Rasse, Farbe, ... Sprache, ... nationaler/Herkunft" war bereits in Art. 2 Nr. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 enthalten. Art. 27 des Internationalen Paktes für Bürgerliche und Politische Rechte vom 19. Dezember 1966 normierte bereits konkrete Minderheitenrechte: In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben 6 Angaben nach von Baratta, Der Fischer-Weltalmanach 1999 (1998), Sp. 465 und 279; vgl. zum folgenden auch Brunner, Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonflikte in Osteuropa (1996), S. 44 ff., 57 f. und S. 189 ff. 7 Von Baratta (Fn. 6), Sp. 201 ff. 8

Gelinsky, Minderheitenschutz und Staatsangehörigkeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. 02. 1999.

Über Minderheitenschutz in Europa

189

oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen. Auch die rechtlich nicht verbindliche Helsinki-Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 enthält mehrere Aussagen zum Minderheitenschutz.9 Das Minderheitenproblem in Europa, das bis zum Ende der 80er Jahre kein besonders aktuelles Thema war, wurde akut nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des jugoslawischen Staates. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat den Minderheitenschutz vornehmlich durch das Kopenhagener Dokument vom Juli 1990 gefördert. 10 Die „Charta von Paris für ein Neues Europa" vom Juli 199111 hat die Kopenhagener Aussagen allerdings eingeschränkt, wenn darin festgestellt wird, „daß nicht alle ethnischen, kulturellen, sprachlichen oder religiösen Unterschiede notwendigerweise zur Bildung nationaler Minderheiten führen". Diese Einschränkung wurde nicht von sämtlichen Teilnehmerstaaten akzeptiert. Wichtig ist allerdings die Formulierung „daß Fragen nationaler Minderheiten sowie die Erfüllung internationaler Verpflichtungen hinsichtlich der Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten ein berechtigtes internationales Anliegen und daher eine nicht-ausschließliche innere Angelegenheit des jeweiligen Staates" darstellen. Damit wird klargestellt, daß Minderheitenschutz nicht mehr zum domaine réservé der Staaten gehört, sondern zur internationalen Angelegenheit geworden ist. Seit 1993 gibt es einen von der OSZE eingesetzten Hochkommissar für nationale Minderheiten mit Sitz in Den Haag, dessen Maßnahmen allerdings nur dem mittelbaren Schutz von Minoritäten dienen.12

9 Korb 1 Abschn. 1, litt, a), VII. Abs. 4; Korb 3 Abschn. 3 am Ende und Abschn. 4 am Ende. 10 Text: 20 Jahre KSZE 1973-1993, hrsg. vom Auswärtigen Amt (2. Aufl. 1993), S. 270 ff.

11 Text: 20 Jahre KSZE (Fn. 8), S. 144 ff. Das völkerrechtliche Schrifttum zum Minderheitenschutz ist inzwischen stark angewachsen, vgl. etwa Ermacora, The Protection of Minorities before the United Nations, RdC 1982 IV, 247 ff.; Lerner, Group Rights and Discrimination in International Law (1991); Thornberry, International Law and the Rights of Minorities (1991); Capotorti, Study on the Rights of Persons Belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities (1991); Kimminich, Ansätze für ein europäisches Volksgruppenrecht, AVR 1991, 1 ff.; Hofmann, Minderheitenschutz in Europa, ZaöRV 1992, 1 ff.; Dinstein (Hrsg.), The Protection of Minorities and Human Rights (1992); Blumenwitz (Hrsg.), Minderheiten- und Volksgruppenrechte in Theorie und Praxis (1993); ders., Volksgruppen und Minderheiten (1995); ders. (Hrsg.), Der Schutz von Minderheiten- und Volksgruppenrechten durch die Europäische Union (1996); ders., Internationale Schutzmechanismen zur Durchsetzung von Minderheiten- und Volksgruppenrechten (1997); F row ein/Hofmann/Oeter (Hrsg.), Das Minderheitenrecht der europäischen Staaten, Teil 1 (1993), Teil 2 (1994); Thürer, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Anerkennung neuer Staaten, in: Neuhold/Simma (Hrsg.), Neues Europäisches Völkerrecht nach dem Ende des Ost-West-Konflikts (1996), S. 13 ff.; Tomuschat, Menschenrechte und Minderheitenschutz, in: Neuhold/ Simma, ibid., S. 89 ff. 12

190

Walter Rudolf

III. Von entscheidender Bedeutung für den Minderheitenschutz in Europa ist die im Rahmen des Europarats zustandegekommene und inzwischen in Kraft getretene Rahmenkonvention zum Schutze von nationalen Minderheiten vom 1. Februar 1995.13 Die Konvention stellt klar, daß der Schutz nationaler Minderheiten und der Rechte und Freiheiten von Angehörigen dieser Minderheiten Bestandteil des internationalen Schutzes der Menschenrechte ist und als solcher einen Bereich internationaler Zusammenarbeit darstellt. 14 Der menschenrechtliche Bezug des Minderheitenschutzes wird durch die Bestimmung unterstrichen, daß jede einer nationalen Minderheit angehörende Person frei entscheiden kann, ob sie als solche behandelt werden möchte oder nicht, und aus dieser Entscheidung oder der Ausübung der mit dieser Entscheidung verbundenen Rechte ihr keine Nachteile erwachsen dürfen. 15 Im Abschnitt II. werden in 16 Artikeln die Verpflichtungen der Vertragsparteien zum Minderheitenschutz im einzelnen aufgeführt. Es ist nicht nur jede Diskriminierung aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit verboten, 16 sondern die Vertragsparteien verpflichten sich, erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwischen den Angehörigen einer nationalen Minderheit oder den Angehörigen der Mehrheit zu fördern. 17 Sie verpflichten sich auch, Angehörigen nationaler Minderheiten zu ermöglichen, ihre Kultur zu pflegen und weiterzuentwickeln und die wesentlichen Bestandteile ihrer Identität zu bewahren. 18 Praktiken, die auf die Assimilierung von Angehörigen nationaler Minderheiten gegen deren Willen gerichtet sind, sind verboten. 19 Die Vertragsparteien sind verpflichtet, Menschen, die wegen ihrer ethnischen, kulturellen, sprachlichen oder religiösen Identität diskriminierenden, feindseligen oder gewalttätigen Handlungen oder der Androhung solcher Handlungen ausgesetzt sein können, zu schützen.20 Besonders geschützt sind Versammlungs-, Vereinigungs-, Meinungs- und Religionsfreiheit. 21 Angehörige der Minderheit dürfen beim Zugang zu den Medien nicht diskriminiert werden. 22 Der Gebrauch der Minderheitensprache privat und in der Öffentlichkeit, auch im Verkehr mit den Verwal13 Text: BGBl. 1997 II S. 1408 ff. und EuGRZ 1995, 268 ff. Vgl. Klebes, Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten, EuGRZ 1995, 262 ff. Art. 15 Art. 16 Art. 17 Art.

1. 3 Abs. 1. 4 Abs. 1 Satz 2. 4 Abs. 2 Satz 1.

iß Art. 5 Abs. 1. 19 Art. 5 Abs. 2. 20 Art. 6 Abs. 2. 21 Art. 7 und 8. 22 Art. 9 Abs. 1.

Über Minderheitenschutz in Europa

191

tungsbehörden, wird gewährleistet. 23 Ebenso gewährleistet ist das Recht auf Gebrauch der Namen in der Minderheitensprache, 24 so daß Namensänderungen, wie in Südtirol während der faschistischen Ära nicht mehr zulässig sind. In Gebieten, die traditionell von einer beträchtlichen Zahl von Angehörigen einer nationalen Minderheit bewohnt werden, sollen sich die Staaten bemühen, „traditionelle Ortsnamen, Straßennamen und andere für die Öffentlichkeit bestimmte topographische Hinweise auch in der Minderheitensprache anzubringen, wenn dafür ausreichende Nachfrage besteht".25 Erforderlichenfalls müssen die Vertragsparteien Maßnahmen ergreifen, um die Kenntnis der Kultur, Geschichte, Sprache und Religion ihrer nationalen Minderheiten zu fördern. 26 Allerdings ist auch die Mehrheit nicht vergessen; denn die Kenntnis von deren Kultur, Geschichte, Sprache und Religion soll ebenfalls gefördert werden, ohne daß der Text erkennen läßt, ob er in bezug auf die Minderheit oder ganz allgemein gemeint ist. Wenn ausreichende Nachfrage besteht, bemühen sich die Vertragsparteien, soweit wie möglich und im Rahmen ihres Bildungssystems sicherzustellen, daß Minderheitsangehörige angemessene Möglichkeiten haben, ihre Sprache zu erlernen oder in dieser Sprache unterrichtet zu werden. 27 Ausdrücklich verboten ist, das Bevölkerungsverhältnis in von Angehörigen der nationalen Minderheit bewohnten Gebieten zu verändern, 28 womit Assimilationsbestrebungen und Um- und Aussiedlungen untersagt sind. Geregelt ist auch die freie Kontaktpflege über die Grenzen und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Angehörigen der „Heimatnation". 29 In Abschnitt III. wird zunächst ausdrücklich festgelegt, daß Angehörige einer nationalen Minderheit die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und die Rechte anderer, insbesondere diejenigen von Angehörigen der Mehrheit oder anderer nationaler Minderheiten zu achten haben.30 Es wird auch bestimmt, daß das Rahmenübereinkommen nicht so auszulegen ist, als gewährte es das Recht, irgendeine Tätigkeit auszuüben oder irgendeine Handlung vorzunehmen, die den wesentlichen Grundsätzen des Völkerrechts, insbesondere der souveränen Gleichheit, der territorialen Unversehrtheit und der politischen Unabhängigkeit der Staaten, zuwiderläuft. 31 Schließlich regelt der Abschnitt IV. prozedurale Fragen und legt insbesondere die Kompetenzen des Ministerrats des Europarats als Überwachungsorgan des Rahmenübereinkommens fest. 32 23 Art. 10. 24 Art. 11 Abs. 1. 25 Art. 11 Abs. 3. 26 Art. 12 Abs. 1. 27 Art. 14 Abs. 2. 28 Art. 16. 29 Art. 17. 30 Art. 20. 31 Art. 21. 32 Art. 24-26.

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Durch eine Resolution hat das Ministerkomitee des Europarats Verfahrensregeln zur Durchführung des Rahmenabkommens erlassen.33 Sie regeln die Mitgliedschaft in dem vom Rahmenübereinkommen vorgesehenen Beratenden Ausschuß, das Wahl- und Ernennungsverfahren, insbesondere die Wahl der Sachverständigen für eine Sachverständigenliste, die Ernennung der ordentlichen Mitglieder und deren auf vier Jahre festgelegte Amtszeit und für zusätzliche Mitglieder. Schließlich gibt es Regeln über das Verfahren bei der Ausübung der Kontrollfunktion. Die Rahmenkonvention ist inzwischen von 36 Mitgliedstaaten des Europarats unterzeichnet und von 23 ratifiziert worden. Es trat nach der 12. Ratifikation am 1. Februar 1998 in Kraft. Nicht unterzeichnet haben Andorra, Belgien, Frankreich und die Türkei. Als Nichtmitgliedstaat des Europarats ist Armenien dem Übereinkommen beigetreten, so daß es derzeit für 24 Staaten verbindlich ist.

IV. Das Manko sämtlicher Dokumente zum europäischen Minderheitenschutz ist, daß es eine Definition der nationalen Minderheiten nicht gibt. Den Staaten bleibt es überlassen, selbst zu bestimmen, welche ethnischen Gruppen als nationale Minderheiten anerkannt sind. Deutschland hat bei der Unterzeichnung des Straßburger Rahmenabkommens eine Erklärung abgegeben, daß nationale Minderheiten die Dänen, Sorben, Friesen und die Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit sind. 34 Ob mit dieser Erklärung auf Dauer ausgeschlossen werden kann, daß Doppelstaater, die sich nach wie vor auch ihrem „anderen Heimatstaat" verbunden fühlen, der Schutz des Rahmenabkommens versagt bleiben darf, bleibt eine offene Frage. 35 Betrachtet man die europäische Staatenpraxis der Behandlung von Minderheiten in der institutionellen Struktur der Staaten, sind erhebliche Unterschiede festzustellen. 36 Dies gilt schon für die Frage, ob eine ethnische Gruppe als Minderheit anzuerkennen ist. So kennt Frankreich den Begriff der Minderheit überhaupt nicht; denn seit der ersten französischen Verfassung von 1791 wird Frankreich als ein Staat „un et indivisible" bezeichnet. Unter Hinweis auf die entsprechende Verfassungsvorschrift von 1958 erklärte die französische Regierung bei der Ratifikation des IPBR, daß Art. 27 nicht anwendbar ist, soweit die Republik betroffen ist. 37 Frankreich beharrte auf diesem Standpunkt auch in seinen Berichten zu den bretonischen Sprachfällen. 38 Der VN-Menschenrechtsausschuß respektierte dies, indem 33 Weckerling, Der Durchführungsmechanismus des Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten, EuGRZ 1997, 605 ff. 3 4 BGBl. 1997IIS. 1418. 35 Gelinsky (Fn. 8); vgl. auch Murswiek, Minderheitenschutz - für welche Minderheiten?: Zur Debatte um die Einführung eines Minderheitenschutzartikels ins Grundgesetz (1994). 36 Vgl. die Länderberichte aus 24 Staaten in Frowein/Hofmann/Oeter (Fn. 12), Teil 2 (1994). 37 Polakiewicz, in: Frowein / Hofmann / Oeter (Fn. 12), Teil 1, S. 126 ff.

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er die französische Erklärung als Vorbehalt zu Art. 27 IPBR auslegte, und erklärte sich für unzuständig. Durch eine Revision der französischen Verfassung im Juni 1992 wurde die französische Sprache zur offiziellen Amtssprache erklärt. 39 Nach der Rechtsprechung der Cour Constitutionelle gibt es allein den Begriff des französischen Volkes, der sich aus allen französischen Staatsbürgern ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion zusammensetzt. Gleichwohl gibt es in der Praxis Ausnahmen hinsichtlich der deutschen Sprache und der elsässischen Mundart in den früher zum Deutschen Reich gehörenden Départements: In Straßburg findet man neben den französischen vereinzelt auch Straßenschilder im elsässischen Dialekt, und notarielle Urkunden können auch in Deutsch errichtet werden. 40 Ebenso bestehen Sonderregelungen für Korsika sowie für die bretonische, flämische und die baskische Bevölkerung. Gleichwohl ist in Frankreich die Einschmelzung der verschiedenen Ethnien in eine einheitliche, vom Staat und dessen politischer Elite geprägten Nationalidentität fast vollständig gelungen. Demgegenüber ist in Belgien die französischsprechende Elite mit diesem Anspruch gescheitert. In Ungarn ist die Assimilation der Minderheiten durch den verlorenen Ersten Weltkrieg abrupt beendet worden, ebenso in osteuropäischen Staaten seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft. Allerdings sind auch in anderen europäischen Staaten nicht alle Ethnien als Minderheiten anerkannt. In Italien werden Deutsche nur in Südtirol, Franzosen in Aosta und Friauler und Slowenen in Julisch-Venetien als Minderheiten respektiert, nicht dagegen die anderen Sprachgruppen und auch nicht die anerkannten Ethnien außerhalb ihres Gebietes. Angesichts der Tatsache, daß es Sache der einzelnen Staaten ist, die Gruppen zu bestimmen, auf die Minderheitenschutz anzuwenden ist, kann von einem flächendeckenden Minoritätenschutz in Europa nicht die Rede sein. Die politische Repräsentation im Gesamtstaat ist nur größeren nationalen Minderheiten möglich. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht in den Staaten Europas bietet auch nationalen Minderheiten die Möglichkeit, sich an Wahlen erfolgreich zu beteiligen. So sind etwa die vier Sprachgruppen in der Schweiz, die Ungaren in Rumänien, die Katalanen und Basken in Spanien, die Russen in der Ukraine oder die Südtiroler in Italien entsprechend ihrer Stimmanteile angemessen im Zentralparlament vertreten. 41 In einigen Staaten werden die nationalen Minderheiten bei Wahlen sogar begünstigt. So gibt es in Polen für Minoritäten Sonderregelungen, die ihnen die Repräsentanz im Parlament erleichtern. Dies gilt auch für die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein, auf die die 5-%-Klausel nicht anzuwenden 38

Vgl. vor allem den Fall Bernard. Dazu Rouquette, Le régime juridique des langues en France (Diss. Paris X 1987), S. 265 f.; Polakiewicz (Fn. 37), S. 133. 3 9 Art. 2 Abs. 2. 40 Der Staat „un et indivisible" ist im Elsaß nie konsequent praktiziert worden. Trotz der Aufhebung des Edikts von Nantes bestand Religionsfreiheit für die Protestanten. Auch nach 1918 galten zahlreiche rechtliche Regelungen fort. 41 Zur politischen Repräsentation auf der Ebene des Gesamtstaates vgl. Oeter, in: Frowein/Hofmann/Oeter (Fn. 12), Bd. 2, S. 504 ff.

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ist. 42 In Ungarn, der Slowakei und in Kroatien ist eine bestimmte Anzahl von Sitzen im Parlament den nationalen Minderheiten reserviert. Kleinere Minderheiten haben keine Chance, im Gesamtstaat repräsentiert zu sein, da sie nicht die erforderlichen Stimmen erreichen können. Unter dem Aspekt der gleichen Gewichtung der Stimmen bestehen dagegen keine Bedenken. Trotz Chancengleichheit bei der Wahl ist der politische Einfluß von Minderheitenparteien auf die Politik des Gesamtstaates normalerweise gering. Eine Möglichkeit, die Interessen nationaler Minderheiten im Gesamtstaat zu fördern, besteht darin, Minderheiten in öffentlich-rechtlichen Personalkörperschaften zu organisieren, denen bestimmte staatliche Aufgaben zur Erfüllung überlassen werden. Besonders ausgeprägt ist die körperschaftliche Stellung der Kulturgemeinschaften in Belgien, wo es eine niederländisch-, eine französisch- und eine deutschsprachige Körperschaft gibt. 43 Ein über Jahrhunderte funktionierendes Vorbild für eine personale Körperschaft einer Minderheit war das Statut der Siebenbürger Sachsen im ungarischen Transsilvanien mit Sprach- und Kulturautonomie, eigenen kirchlichen Institutionen und eigener Verwaltungs- und Justizhoheit, womit den Angehörigen der Minderheiten eine weitreichende Autonomie gewährleistet war. Die Personalkörperschaft gewährt neben der personalen auch eine funktionale Autonomie. In geschlossenen Gebieten nationaler Minderheiten können durch territoriale Körperschaften die Minderheitenrechte besonders gut gewahrt werden. Voraussetzung ist aber, daß die Volksgruppe räumlich konzentriert auf einem geographisch fixierten Territorium die Mehrheit der Bevölkerung bildet, wie in Italien die deutschsprachige in Südtirol und die französischsprachige in Aosta. Besonders häufig ist dieses Modell in Rußland, während es in Bosnien-Herzegowina durch völkerrechtswidrige Vertreibungen weitgehend faktisch verwirklicht wurde. Der Grad der Autonomie kann recht unterschiedlich sein: Es kann sich dabei um eine bloße Dezentralisierung der Verwaltung handeln, wie z. B. im Falle des neuen französischen Statuts für Korsika, 44 es können umfangreiche Verwaltungskompetenzen mit begrenzten Gesetzgebungskompetenzen bestehen, wie bei den spanischen autonomen Gemeinschaften des Baskenlandes und Katalaniens oder der autonomen Provinz Bozen; es kann sich aber auch um die vollständige Autonomie in allen Staatsfunktionen - Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung - handeln, was bei den finnischen Äland-Inseln der Fall ist, auf denen Schwedisch einzige Amtssprache ist und die Autonomie so weit reicht, daß eigene Briefmarken, ja sogar Schiffe unter eigener Flagge zugelassen sind. 45 42

Kühn, Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins (1991); Hansen, Minderheiten im deutsch-dänischen Grenzbereich (1993). « Vgl. Mathiak, in Frowein/ Hofmann/Oeter (Fn. 12), Teil 1, S. 1 ff. 44 Polakiewicz (Fn. 37), S. 153 f. 45 Hofmann, in: Frowein / Hofmann / Oeter (Fn. 12), Teil 1, S. 121.

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Probleme entstehen dann, wenn neben den Personen der Minderheit in einem Territorium auch Angehörige des Mehrheitsvolkes beheimatet sind, wie in Grönland, wo neben den Inuit auch zahlreiche Dänen wohnen, oder im Falle von Südtirol, wo die deutsche Bevölkerung zusammen mit der ladinischen etwa zwei Drittel, die italienische ein Drittel der Bevölkerung ausmacht. Hier stellt sich die Frage nach dem Schutz der Angehörigen der Mehrheit des Staatsvolkes, die in dem autonomen Gebiet eine Minderheit bilden. Nur wenn die Zahl der Angehörigen der nationalen Minderheit so groß ist, wie die der Schweden in Äland - wobei Schwedisch ohnehin zweite Amtssprache in Finnland ist - stellt sich die Frage nicht mehr in voller Schärfe. Ein Ausgleich zwischen der die Mehrheit im Autonomiegebiet bildenden Minderheit und den Angehörigen der Mehrheit des Staatsvolkes wird dadurch ermöglicht, daß Zweisprachigkeit im Regionalparlament, in der Verwaltung und vor Gericht vorgeschrieben wird, so daß jeder Betroffene seine Muttersprache verwenden kann. Das setzt voraus, daß Parlamentarier, Verwaltungsbeamte und Richter beide Sprachen kennen oder zumindest verstehen müssen oder Dolmetscher notwendig sind. Im Erziehungswesen sind Schulen in beiden Sprachen zuzulassen, ebenso Medien in beiden Sprachen. Autonomie ist nicht billig, wenn sie tatsächlich realisiert werden soll. Sie ist nur zu verwirklichen, wenn das autonome Territorium mit finanziellen Mitteln hinreichend ausgestattet ist, wobei nicht nur angemessene Zuwendungen aus dem Haushalt des Gesamtstaates in Betracht kommen, sondern bestimmte Steuern oder Anteile von Steuererträgen dem autonomen Gebiet zustehen, bestenfalls sogar ein eigenes Steuererhebungsrecht gewährt wird.

V. Das Straßburger Rahmenübereinkommen läßt erkennen, daß Minderheitenschutz Bevorzugung der Minoritäten bedeutet. Dies ist in der Praxis z. B. in einigen Staaten beim Wahlrecht zu beobachten, wo, wie etwa in Deutschland, die Dänen nicht der 5-%-Klausel unterliegen. In einigen Ländern sind den Minderheiten sogar feste Quoten von Abgeordneten im nationalen Parlament vorbehalten. Eine Bevorzugung liegt auch darin, daß auf Kosten der öffentlichen Hand besondere Schulen für Minderheiten errichtet und unterhalten werden, wie z. B. für die Dänen in Südschleswig, oder daß die Behörden in geschlossenen Minderheitengebieten auch die Sprache der Minderheit benutzen müssen. Wie nicht nur das Beispiel Südtirol zeigt, gab und gibt es hier in der Praxis Schwierigkeiten. Gerade weil in den europäischen Nationalstaaten den nationalen Minderheiten ein Sonderstatus zu gewähren ist, um Minderheitenschutz zu gewährleisten, tun sich manche damit schwer, für Minderheiten besondere Schutznormen zu schaffen, ja deren Existenz überhaupt in ihrer Rechtsordnung zur Kenntnis zu nehmen. Die Gefahr für die Einheitlichkeit des Staates wird höher bewertet als die Möglichkeit, daß sich kulturelle Vielfalt als Quelle und Funktion der Bereicherung für eine 14 FS Leisner

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Gesellschaft erweisen kann, wie es die Präambel des Straßburger Rahmenübereinkommens ausdrückt. 46 Die Geschichte der europäischen Minderheiten kennt genügend Beispiele, daß sich ethnische Minderheiten als Sprengsatz für die Einheit des Staates erwiesen haben. Dies gilt insbesondere dann, wenn wegen hoher Geburtenraten der Minderheit die Zahl der Angehörigen der Mehrheit prozentual zurückgeht, wofür das Kosovo ein Beispiel ist. 47 Es kommt hinzu, daß Staaten der Europäischen Union in hohem Maße Kompetenzen an die Gemeinschaften übertragen haben - darunter die der Währungshoheit - , daß ein Kompetenzverlust auch nach innen gerade von Staaten, die nach ihrer Verfassung „un et indivisible" sein sollen, als weitere Erosion des Staates empfunden werden kann. Immerhin haben sich 37 europäische Staaten durch ihre Unterschrift unter das Rahmenübereinkommen dazu bekannt, „daß eine pluralistische und wahrhaft demokratische Gesellschaft nicht nur die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität aller Angehörigen einer nationalen Minderheit achten, sondern auch geeignete Bedingungen schaffen sollte, die es ihnen ermöglichen, diese Identität zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und zu entwickeln", 48 weil „die geschichtlichen Umwälzungen in Europa gezeigt haben, daß der Schutz nationaler Minderheiten für Stabilität, demokratische Sicherheit und Frieden auf diesem Kontinent wesentlich ist". 4 9 Bis sich nach fast zwei Jahrhunderten des Nationalstaates Toleranz gegenüber den Minderheiten und deren Schutz und Förderung allgemein in Europa durchgesetzt haben werden, dürfte angesichts von ethnisch bedingten Bürgerkriegen bis in die Gegenwart noch einige Zeit vergehen. Auch die Religionsfreiheit hat sich nur langsam durchsetzen können. Schon die Unterschiedlichkeit der Sprache macht es schwieriger, ethnische Tolerenz zu üben als religiöse, da für sehr viele, wenn nicht für die meisten Bürger das gemeinsame Mittel der Kommunikation fehlt. Wie schwer es mitunter war, religiöse Toleranz zu begründen, zeigt 15 Jahre nach der uneingeschränkten Glaubensfreiheit in der Menschenrechtserklärung von Virginia und zwei Jahre nach der französischen Menschenrechtserklärung Art. 1 der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791.50 Um wieviel schwerer es ist, religiöse Tolerenz trotz rechtlich feststehender Religionsfreiheit zu praktizieren, beweisen die Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien und in Nordirland. 46 47 48 49

Abs. 8. Vgl. Brunner (Fn. 6), S. 183; vgl. auch S. 80 ff. Präambel Abs. 7. Präambel Abs. 6.

50 „Herrschende Religion. Die herrschende Nationalreligion ist und bleibt der heilige römisch-katholische Glaube mit allen seinen Rechten. Der Übergang von dem herrschenden Glauben zu irgendeiner anderen Konfession wird bei den Strafen der Apostasie untersagt. Da uns aber eben dieser heilige Glaube befiehlt, unseren Nächsten zu lieben, so sind wir deshalb schuldig, allen Leuten, von welchem Bekenntnisse sie immer auch sein mögen, Ruhe in ihrem Glauben und den Schutz der Regierung angedeihen zu lassen. Deshalb sichern wir hiermit, unseren Landesbeschlüssen gemäß, die Freiheit aller religiösen Gebräuche und Bekenntnisse in den polnischen Landen."

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Das Straßburger Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und seine Akzeptanz durch die Mehrzahl der Mitglieder des Europarats läßt freilich hoffen, daß sich der Schutz nationaler Minoritäten in Europa im nächsten Jahrhundert allgemein etablieren wird. Die völkerrechtlichen Normen für einen hinreichenden Schutz nationaler Minderheiten in Europa sind vorhanden und von den meisten Staaten mit Minderheiten in ihren Grenzen auch ratifiziert. Man muß sie nur noch vertragsgemäß anwenden.

I I . Staat und Verfassung

Dauernde Ordnung hinter wechselnden Staatsformen? Eine Betrachtung des staatstheoretischen Werks Walter Leisners von 1978 bis 1989* Von Max-Emanuel Geis

I. Das staatstheoretische Werk Walter Leisners Walter Leisner kann zu seinem Jubiläum auf ein umfangreiches staatstheoretisches Werk zurückblicken, das einen Schwerpunkt seiner Forschungen ausmacht. Von 1978 bis 1997 hat er nicht weniger als zehn Monographien staatstheoretischen Inhalts publiziert 1. Vom Autor gelegentlich untertreibend als „Blätter" 2 bezeichnet, bergen sie ausreichenden Zündstoff; stutzen lassen schon die meist irritierenden Buchtitel wie z. B. „Der Führer" oder „Der Triumph". Gleichwohl wäre es vorschnell, den Autor deswegen von vornherein in eine bestimmte politische Ecke stellen zu wollen. Intendiert ist eher Aufmerksamkeit durch Provokation. Auch sollen sich diese Streitschriften bewußt vom gelegentlich hochgeistig-langweiligen wissenschaftlichen Sprachstil abheben. Gleichwohl war die Aufnahme der Werke zurückhaltend. Im Vordergrund stand eine eher oberflächliche Kritik im Rahmen einer ersten Rezensionswelle, während eine „Weiterwirkung" nur beschränkt erfolgte. Dies liegt sicher an den erwähnten provokativen Titeln und an der Darstellungsweise. Vorurteilsfrei betrachtet stellt sich Leisners Staatsbild als Mosaik vieler Stilrichtungen und Schulen der westlichen Staatsphilosophie dar. Die Kernaussage sei vorausgezogen: Am Ende des 20. Jahrhunderts, das so viele Staaten als „sterbliche Götter" tatsächlich sterben gesehen hat, postuliert Leisner ein hinter den konkreten Erscheinungsformen stehendes, quasi unsterbliches Staatssubstrat. Eckpunkte dieser Theorie sind: zum einen * Für erhebliche Vorarbeiten danke ich Herrn Rechtsrefererendar Philip Lechtape. 1 Demokratie - Selbstzerstörung einer Staatsform?, 1978; Der Gleichheitsstaat - Macht durch Nivellierung, 1980); Die demokratische Anarchie, 1981; Der Führer - Persönliche Gewalt, Staatsrettung oder Staatsdämmerung?, 1983; Der Triumph - Erfolgsdenken als Staatsgrundlage (Gedanken zu einer großen, dauernden Ordnung), 1985; Staatsrenaissance Die Wiederkehr der „guten Staatsformen", 1987; Der Monumentalstaat - „Große Lösung" (Wesen der Staatlichkeit), 1989; Staatseinung - Ordnungskraft föderaler Zusammenschlüsse, 1991; Der unsichtbare Staat - Machtabbau oder Machtverschleierung, 1994; Der Abwägungsstaat - Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit?, 1997. 2

Der Gleichheitsstaat (Fn. 1), S. 5; Der Monumentalstaat (Fn. 1), Vorwort, S. 1.

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eine ontologische Sicht des Staates, gepaart mit der metaphysischen Vorstellung von einer „großen, dauernden Ordnung" und mit der alte Idee des „Reichs".

II. Die innere Logik der staatsphilosophischen Werke Leisners 1. Die drei Themenkomplexe Die Staatstheorie Leisners stellt sich als ein Gesamtwerk dar, das sich freilich sukzessiv den genannten staatstheoretischen Abhandlungen entnehmen läßt. Diese lassen sich thematisch in drei verschiedene Komplexe einteilen. Der erste Komplex (1978-1983) entwickelt nach einer Grundsatzkritik des modernen demokratischen Staates das Modell eines stabilen Regierungssystems als Ausdruck einer „dauernden Ordnung". Der zweite Komplex (1985-1989) identifiziert diese „dauernde Ordnung" mit der metaphysisch aufgeladenen „Reichsidee". Der dritte Komplex (ab 1991) beschäftigt sich schließlich mit der Macht als solcher, mit ihren immer wiederkehrenden Formen, von der „Kryptogewalt" 3 über die „Macht der Abwägung"4 bis zur „Macht in föderalen Zusammenschlüssen"5. Zugleich werden die Wege der Macht in der modernen Demokratie, zumeist am Beispiel der Bundesrepublik, analysiert. Obwohl auch bei dieser „Machtanalyse" immer wieder Gedanken und Thesen aus den ersten beiden Themenkomplexen aufgegriffen werden, soll hier der Blick auf die beiden ersten Themenkomplexe fokussiert werden. Dabei läßt sich der erste Themenkomplex in einer „Tetralogie", der zweite in einer „Trilogie" zusammenfassen.

2. „ Tetralogie " und „ Trilogie " Im Jahre 1978 erschien Leisners erste staatstheoretische Monographie „Demokratie - Selbstzerstörung einer Staatsform". Zusammen mit den in rascher Folge erscheinenden Bänden „Der Gleichheitsstaat" (1980), „Die demokratische Anarchie" (1981) „Der Führer" (1983) bildet sie eine systematisch und inhaltlich geschlossene Tetralogie, die sich eine „Grundsatzkritik" der „Spätdemokratie" zum Ziel gesetzt hat. Ab 1985 beschäftigte sich Leisner dann mit der Konstruktion eines neuen respektive der Renaissance eines ewigen Staatsideals. Diese „Gedanken zu einer Staatslehre der großen, dauernden Ordnung" wurden - freilich weniger dicht und geschlossen wie in der Tetralogie, wenngleich auf ihr aufbauend - in drei Stufen entwickelt6. Leisner unterläßt es jedoch, Schlußfolgerungen aus seinem Bild der „Spätdemokratie" konkret in die Entwicklung des „Reichsideals" mitein3 4 5 6

Der unsichtbare Staat (Fn. 1), passim. Der Abwägungsstaat (Fn. 1), passim. Staatseinung (Fn. 1). Der Triumph (Fn. 1), Titel und Vorwort, S. 5 f.; Staatsrenaissance (Fn. 1), Vorwort.

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zubeziehen. Vielmehr entwickelt er hier einen abstrakten Staatsbegriff, der auf die Kontinuität geschichtlicher Betrachtungen gegründet wird - also auf einen historisierenden Ansatz. 3. Die Intention des Gesamtwerkes a) Zeitgeschichtliche Anknüpfungspunkte Ein äußerer Anstoß für die kontinuierliche Folge und Entwicklung der Leisnerschen Betrachtungen zum Staatsideal ist aus dem Werk nicht unmittelbar erkennbar. Doch weisen die nahezu apokalyptischen Warnungen vor der „Radikaldemokratie" einerseits7, vor liberalen und totalitären Tendenzen als systemimmanente Gefahren der Demokratie andererseits auf traumatische Erfahrungen der 68er Zeit hin 8 : Schon zu Beginn der Studentenbewegung mit ihrer - von der Regierung Brandt mitgetragenen - Forderung nach einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft veröffentlichte Leisner einige kritische Beiträge, die seine Staatsvorstellungen im Grundsatz vorzeichneten9. Erst die seinerzeitigen flächendeckenden Forderungen nach einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft und die Krisen der sozial-liberalen Koalition Ende der siebziger Jahre dürften allerdings der Auslöser für die hier erwähnten Werke gewesen sein.

b) Stilistische Eigentümlichkeiten Leisners Schriften unterscheiden sich stilistisch durch mehrere Besonderheiten von der „gängigen" staatstheoretischen Literatur. So bedient er sich durchgängig gerade bei der Beschreibung des Staatsideals - einer „großen", pathosgesättigen Sprache. Dies ist über seine Verbundenheit mit dem französischen und italienischen Kultur- und Rechtsdenken als bewußtes Stilmittel zu erklären: Der Stil ist Teil eines Konzeptes, mit dem der Leser auf die Idee des „Reichs" bzw. auf die „große, dauernde Ordnung" vorbereitet, ja eingeschworen wird. Entsprechend verzichtet er - was kritisch vermerkt wird 1 0 - teilweise bewußt auf den Schein wissenschaftlichen Sachlichkeit. Gerade dieses seltsam antiquiert wirkende Pathos findet jedoch auch Zustimmung: „ Wessen Verhalten durch eine beachtliche Bereitschaft zu aufbauendem Tun bestimmt ist, der darf sich auch des dickeren Pinselstrichs im Sinne einer möglichst eindrucksvollen Sprache bedienen." 11

7

Die demokratische Anarchie (Fn. 1), S. 412. 8 Vgl. Hornung, Rezension, in: Der Staat 19 (1980), S. 461 (464). 9 Leisner, Der Staat 7 (1968), S. 137: „Antigeschichtlichkeit des öffentlichen Rechts"; Der Staat 8 (1969), S. 273: „imperium in fieri". 10 vgl. Eisermann, Rezension, in: Die Verwaltung 18 (1985), S. 123 f. 11 Thiele, Rezension, in: DÖV 1985, S. 500.

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Absichtsvoll verwendet Leisner dabei Ausdrücke für politische Ereignisse, Ideen oder Theorien, die im wissenschaftlichen Sprachschatz nicht up to date sind. Neben Bildern aus der Antike und dem Zeitalter der französischen Revolution verwendet Leisner bewußte „geächtete" Ausdrücke der deutschen Sprache, namentlich Begrifflichkeiten, die der NS-Zeit entstammen oder dort wenigstens besondere Bedeutung erlangt haben; Signifikantes Beispiel ist die Schrift „Der Führer". Hier freilich distanziert er sich von den geläufigen Konnotationen des Begriffs, im Bestreben, ihn wie andere ebenso fragwürdige für den Bereich der Staatstheorie zu „retten" 12 . Andere negativ belegte Begriffe werden freilich zuvor weder geklärt noch aus einem neutralen Kontext heraus gedeutet: Das reicht von der „Alpenfestung" 13, der „Geheimen Reichssache"14, dem „Endsieg" 15 bis zur „Kraft-durchFreude am Reichtum" 16 . Und wenn die allgemeine Wehrpflicht beschrieben wird, liest man bei Leisner vom Augenblick, in dem „das Volk aufsteht, der Sturm losbricht" 17 . Wenn auch der Stil den Leser auf ein pathetisches Staatsverständnis einzustimmen und die systematische Geschlossenheit der Ausführungen stützen soll, so erscheint doch der Umgang mit der Propaganda-Sprache der NS-Zeit insgesamt für den Leser zu sorglos. Weiteres Merkmal ist die üppige Metaphorik: Das beginnt schon mit der „Hochzonung" umgangssprachlicher Wendungen: An die Stelle des lapidaren Begriffs „Hochhaus" treten die „türmenden Hochbauten" 18, „öffentliche Gebäude" werden als „ Wandelhallen der Staatsgewalt" bezeichnet.19 Im Verfassungsrecht wird die Wesensgehaltsgarantie20 gemäß Art. 19 Abs. 2 (i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) zur „ von der Staatsgewalt belagerte Burg, deren innerster Ring nie fallen wird" 21. Besonders expressiv wird das Streben nach dem Überstaat = Reich beschrieben: „So wie die Idee der ewigen Vereinigung hinter jedem Augenblick der Liebes-Passion steht, ihm erst seine Größe gibt, so verleiht allein das Streben zum ewigen Reich politischen Taten eine, wenn auch vielleicht bescheidene, Größe " 22. Zur Mystifizierung und Mythologisierung des Überstaates greift Leisner auf sakrale Vorbilder zurück: „Nicht nur, daß das Reich unsterblich ist in seinem bleibenden Ordnungsgedanken, sein Tod wird überwunden in der Auferstehung seiner politischen Ideenwelt" 23, 12 13 14 is 16 17 is 19

Der Führer (Fn. 1), S. 17 ff.; vgl. Menger, Rezension, in: DVB1. 1984, S. 1141. Der Triumph (Fn. 1), S. 126. Der Triumph (Fn. 1), S. 109. Der Triumph (Fn. 1), S. 116 f. Der Triumph (Fn. 1), S. 149. Der Triumph (Fn. 1), S. 127. Der unsichtbare Staat (Fn. 1), S. 197. Der unsichtbare Staat (Fn. 1), S. 199.

20 21 22 23

vgl. Jarass/Pieroth, GG, Kommentar, 4. Aufl. 1997, Art. 19, Rdn. 6 f. Der Triumph (Fn. 1), S. 137. Der Triumph (Fn. 1),S. 114. Staatsrenaissance (Fn. 1), S. 23.

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und: „Renaissance ist die Brücke von Reich zu Reich - ,von Ewigkeit zu Ewigkeit' ... " 2 4 . Als Überleitung zum „Führer" endet die „Demokratische Anarchie" mit den Worten: „ Wann wird er (sei:, der Bürger) versuchen, aus dieser Anarchie auszubrechen? Dann, wenn er einem Menschen sagen wird: ,Denn Dein ist das Reich und die Kraft . . . ' " 2 5 . Auch militärische Bilder werden zur Veranschaulichung heroischer Größe eingesetzt: „ Mit ihm riskiert sich ja auch der Befehlende - groß, sich selbst, so wie der Offizier der Revolutionszeit, der mit dem weißen Helmbusch voranging." 26 Dem gleichen Fundus entstammt die Kritik an der modernen Parteiendemokratie: „Manchmal scheint es also, als sei durch die in Fraktionsdisziplin erstarrten Schützengrabenfronten der Parlamente das Feuer der Volksbewegung in Kasematten betoniert worden. " 21

c) Zur Kritik am wissenschaftlichen Stil Leisners Schon die Darstellungsweise Leisners stieß vielfach auf Ablehnung. Auffällig ist, daß er in der Tetralogie und der Trilogie - anders als in seinen neueren Werken zur Analyse der Macht - durchweg und bewußt auf einen wissenschaftlichen Apparat und Nachweise verzichtet 28. Dies wurde als Verzicht auf den „Ballast von Literaturhinweisen" 29 einesteils gelobt, hat ihm aber andererseits den Vorwurf eingetragen, es handele es sich nicht um politikwissenschaftliche Darstellungen, sondern (so in einer Rezension zum „Führer") um „ein politisches, auch historisch gesättigtes Staatsbürger-Ermahnungsbuch" 30. Der fehlende Apparat läßt sich allerdings im Kontext der Werke gedanklich recht leicht ergänzen. So wurde etwa die Leisnersche Demokratiekritik in einem Vortrag von Isensee zur Kritik an der Demokratie der neunziger Jahre in Deutschland quasi nachträglich belegt „Doch die flüchtige und unübersichtliche Gegenwart läßt sich nur fassen aus einer zeitdistanzierten Sicht, im leisnerianischen Horizont der Geschichte" 31. Auch terminologische Unsauberkeiten werden bemängelt, so, daß Leisner bei der scharfen * Trennung der unterschiedlichen Bedeutungen von „Führer" und „Herrscher" in der Soziologie ein Fehler unterlaufen sei 32 . Indes ist die Verwendung der Vokabel „Führer" auch für die Herrschenden bzw. Regierenden, also nicht im strengen Wortsinne, nach h.M. in der Soziologie grundsätzlich zulässig.33 24 25 26 27

Staatsrenaissance (Fn. 1), S. 288. Die demokratische Anarchie (Fn. 1), S. 416. Der Monumentalstaat (Fn. 1), S. 309. Demokratie (Fn. 1), S. 33.

28 Eisermann, Rezension, in: Die Verwaltung 18 (1985), S. 123 (124). 29 Ryjfel, Rezension, in: ARSP 1980, S. 431 (431). 30 Eisermann, Rezension, in: Die Verwaltung 18 (1985), S. 123. 31

Isensee, Am Ende der Demokratie - oder am Anfang?, 1995, S. 10, mit zahlreichen Nachw. 3 2 Eisermann, in: Die Verwaltung 18 (1985), S. 123.

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Ein weiterer wiederkehrender, umstrittener Begriff ist der „Rätestaat" als Synonym für das marxistisch-leninistische Staatsmodell in Gestalt der seinerzeit noch existierenden Sowjetdemokratie und ihrer Ableger. Die begriffliche Anknüpfung des „Rätestaates" an die Räterepubliken des frühen 20. Jahrhunderts stellt diesen in die historische Tradition, wirkt aber stellenweise eher wie eine Verharmlosung der geschichtlichen - damals politisch-aktuellen - Realität in der Sowjetunion. Freilich tut sich die Kritik hier schwer; Hornung schlägt vor, man solle sich auf den Begriff der „verfassungspolitischen Realität einer monopolistischen (,totalitären') Parteidiktatur auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Legitimationsideologie" einigen, statt einen neuen Begriff „Rätestaat" zu konstruieren 34. Hier ist jedoch die Leisnersche Begriffsprägnanz vorzugswürdig. Es ist ein typisches Merkmal Leisners, daß die Einführung neuer Begriffe oder die Neudefinition alter Begriffe stets der methodischen und systematischen Klarheit verpflichtet bleibt 35 . Leisners Sprachduktus ist damit jedenfalls in der jüngeren deutschen Staatstheorie einzigartig und stilistisch jedenfalls sehr einprägsam.

I I I . Zur Einzelanalyse der „Tetralogie" I. Demokratiekritik

als Voraussetzung eines metaphysischen Staatsideals

Ausgangspunkt Leisners auf dem Weg zum „Idealstaat" ist eine umfassende Demokratiekritik. Die Demokratie sei die gegenwärtig „am höchsten" legitimierte Staatsform, vor allem durch die Tatsache, daß sie die vorherrschende Staatsform ist, wenn auch in allen möglichen Ausprägungsformen und in manchen Fällen gar nur als Fassade. Doch diese Tatsache allein genüge der h.M., um die Demokratie als gegebene Staatsform und somit als Idealstaat zu betrachten. All dies liege in der gegenwärtigen Alternativenlosigkeit zur Demokratie verankert, die nur deswegen zum universellen Ideal werde 36. Ein von den gegebenen Demokratieformen abweichendes Staatsbild müsse sich hingegen erst Legitimation verschaffen. Und das, mit der Begründung, daß der amerikanische Demokratietyp sich weltweit herausbilde und so ein Zeitalter ohne Konflikte nach sich ziehe. Um nicht neben der „liberalen" Demokratie als bedeutungslos dazustehen, müssen also zunächst deren Schwächen analysiert werden, bevor ein anderes demokratisches Modell, oder aber gar die metaphysische Begründung eines anderen Staatsideals entwickelt werden könne, zumal in einer Epoche, in der das „Ende der Geschichte" prophezeit werde 37 . Diese umfassende Demokratiekritik bildet die Tetralogie. 33

Fuchs-Heinritz, Lexikon zur Soziologie, Stw. „Führer" 1994, S. 217. 4 Hornung, in: Der Staat 19 (1980), S. 461-464 (462). 3 5 vgl. zum „Reichs"-Begriff: Der Triumph (Fn. 1), S. 17 ff. 3 6 Isensee (Fn.31),S. 15, 18. 3

37

1982.

vgl. Isensee (Fn. 31), S. 17, unter Bezug auf: Fukuyama, The End of History, New York

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a) „Demokratie - Selbstzerstörung einer Staatsform?" (1979) Die Tetralogie beginnt mit dem Buch „Demokratie - Selbstzerstörung einer Staatsform?". Auf dieser Fundamentalkritik bauen die folgenden Bände auf. Leisner stellt zunächst die Schwächen der modernen Demokratie dar. Anhand von mannigfaltigen konkreten Beispielen namentlich aus der bundesrepublikanischen Parteiendemokratie werden die fehlende Logik und Systematik der Herrschaftsform „Demokratie" aufgedeckt. Seine Vergleichsgröße bildet dabei der „Rätestaat", der in den siebziger Jahren für viele, namentlich die „68er", noch als taugliche Alternative zu den westlichen Demokratieformen erschien. Gerade die Konsolidierung der Demokratie in der Bundesrepublik 38 sei eine ihrer Schwächen, weil dadurch ein mentales „Ideologiedefizit" 39 entstanden sei, das das Bedürfnis der Jugend nach einem „geistig formierten Staat" nicht mehr befriedigen könne. Erforderlich sei daher eine Grundsatzkritik der etablierten Demokratie. Als Gegenbild entwickelt Leisner ein Idealmodell der Demokratie als „generalisierte Aristokratie" 4 0 ; lehnt freilich an dieser Stelle noch die konstitutionelle Präsidential-Demokratie ab 41 , die sich im weiteren Verlauf der Tetralogie zu seinem Favoriten entwickeln wird. Ebenso ist in diesem frühen Band das Leisnersche Freiheitsverständnis noch strikt liberalistisch geprägt 42; signifikant wird dies an seinem Eigentums Verständnis: Eigentum sei als „gespeicherte Freiheit" 43 Hort des Liberalismus 44 und als solche sinnstiftende Grundlage der Demokratie. Der klassische Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit wird als systemimmanenter Fehler der Demokratie herausgearbeitet: Das Herrschafts Instrument der Demokratie, die Gleichheit, wende sich letztlich immer gegen das Herrschaftsz/e/, die Freiheit. Da (radikal verstandene) Gleichheit auf die gleiche Eigentumslage aller abziele, Eigentum jedoch die Basis der Freiheit sei, wäre eine Egalisierung die Beschneidung des Herrschaftsziels, also unlogisch45. Vor dem Hintergrund seines Freiheitsverständnisses fordert Leisner, alle bestehenden Institutionen der parlamentarischen Demokratie „sub specie libertatis" zu hinterfragen. Jeglicher verändernde Eingriff im Sinne einer „Egalisierung" gefährde die Freiheit und somit die Basis der Demokratie an sich 46 . Namentlich die Bildung habe eine Zwitterstellung: Zwar sei das starre Schulsystem an sich 38 Demokratie (Fn. 1), S. 12. 39 Demokratie (Fn. 1), S. 19 ff. 40 Demokratie (Fn. 1), S. 228. 41 42 43 44 45 46

Demokratie (Fn. 1), S. 242. Insofern kritisch Ryffel, in: ARSP 66 (1980), 431 (433). Demokratie (Fn. 1), S. 51 Demokratie (Fn. 1), S. 50 f. Demokratie (Fn. 1), S. 56 f. Demokratie (Fn. 1), S. 151.

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freiheitsfeindlich, aber nur der gebildete Bürger sei von Wert für die Demokratie; Mittel und Zweck stünden also im Gegensatz zueinander. Ein zentrales Anliegen ist Leisner die „Sicherheit der Demokratie". Geprägt durch die Erfahrung der akuten Gefährdung des Staates durch den Terrorismus in den 70er Jahren zeigt er, wie problematisch der Umgang der Demokratie mit der für den Erhalt ihrer Staatsform notwendigen Strenge ist. Einerseits benötige gerade die Demokratie einen starken Staatsschutz, auf der anderen Seite gefährde ein solcher Staatsschutz aber auch den Grundwert der Demokratie, die Freiheit. Dieser Gegensatz führe zu einer Legitimationsschwächung der Demokratie. 47 Als Verhaltensregel sieht er höchste moralische Anforderungen an diejenigen gestellt, die den demokratischen Staat zu erhalten versuchen. 48 Vom liberalistischen Freiheitsverständnis ausgehend versteht Leisner unter Freiheit vor allem die wirtschaftliche Freiheit als höchstmögliche Form der realen Selbstverwirklichung (auch in Form der grundsätzlich möglichen „Eigentumshoffnung" der Besitzlosen)49; demzufolge müsse eine freie Wirtschaft Grundlage der auf Freiheit gegründeten parlamentarischen Staatsform sein 50 . Eine ungelöstes Problem bestehe daher in der egalisierenden Wirtschaftsförderung und -beschränkung in der Demokratie 51, die letztlich eine „ Gratwanderung zwischen einer gewissen Mitbestimmungs-Demokratisierung einerseits und der Erhaltung der Substanz der wirtschaftlichen Freiheit andererseits" 52 darstelle. Doch sieht Leisner auch den Gegensatz zwischen der materialistischen Grundhaltung der Wirtschaftsfreiheit und den immateriellen, persönlichen Werten der Demokratie 53. Eine massive Gefährdung der Demokratie durch den Einfluß des „Sozialen" sieht Leisner schließlich in einer egalisierenden Umverteilung, die unter dem Etikett der Humanität die Freiheit aushebeln könne 54 . Er bedauert den Mangel an „Privatsozialem" in der deutschen Verfassungsordnung im Gegensatz zum amerikanischen System, das den Gegensatz beider Werte nicht enthalte55. Als Resümee ergibt sich, daß die Demokratie nur auf der Basis eines „in dubio pro libertate" erhalten werden könne. Ausgangspunkt sei wieder der Vorrang individueller Freiheit des Bürgers, ohne einen gleichbedeutenden Anspruch auf Gleichheit 56 . Die Chancen der Demokratie liegen dabei nach Leisner in einer 47 Demokratie (Fn. 1), S. 77. 48 Vgl. Kimminich, Rezension, in: DVB1. 1979, S. 756 (757). 49 Demokratie (Fn. 1), S. 145. 50

51 52 53 54 55 56

Demokratie (Fn. 1), S. 164; zustimmend Isensee (Fn. 31), S. 51 f. Demokratie (Fn. 1), S. 179. Demokratie (Fn. 1), S. 186. Demokratie (Fn. 1), S. 171. Demokratie (Fn. 1), S. 151. Demokratie (Fn. 1), S. 144 f. Demokratie (Fn. 1), S. 222.

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bewußten Stellungnahme: „Die Überzeugung muß sich festigen, daß dieser Staat für etwas steht, damit aber auch gegen etwas " 5 7 . Dies versteht er nicht als „Ausdruck einer dezisionistischen Grundhaltung" im Sinne Carl Schmitts58, vielmehr als Legitimation durch Tradition über Generationen hinweg. Erst dann erreiche die Demokratie als Staatsform jene Renaissancefähigkeit, die auch Monarchie und Aristokratie zu eigen seien59. Dies spricht deutlich gegen die Vorstellung von der Demokratie als ultimativer Staatsform in einer Reihe von bisher erfolglosen oder überholten Staatsformen. Die Demokratie ist vielmehr, so Leisner, eben nicht das „Ende der Geschichte"60. So sei der berühmte Satz Churchills von der Demokratie als „bester Staatsformen unter schlechten" eher zu relativieren. 61 Die Demokratie (westlicher Provenienz) sei lediglich eine von vielen alternativen Staatsformen, während die „Radikaldemokratie" als Schwächung der reinen Staatsform nicht akzeptabel erscheine. Leisners Überlegungen nehmen noch einen weiteren Gedanken auf: Die Demokratie sei um ihrer Überlebensfähigkeit und „Würde" willen als idealistische, nicht als realistische Staatsform zu betrachten. Dabei solle das Ideal des aktiven Bürgers im Vordergrund stehen; der einzelne Mensch solle zum (geistigen) Aristokraten erhöht und nicht alle Menschen auf ein Niveau heruntergedrückt werden („generalisierte Aristokratie"). Einem solchen System sei eine höhere moralische Sittenstrenge immanent, die Leisner aufgrund „geschichtlicher Erfahrung" schon immer bei der politischen Elite eines Landes sah.62 Wie das zu realisieren sei, benennt Leisner in drei essentiellen Punkten63: Zunächst müsse die Demokratie „entkommerzialisiert" werden, entgegen dem anglo-amerikanischen Vor- (und Feind-)bild. Zweitens müsse eine intensivere Presseförderung stattfinden, zur Förderung des „Geistigen" in der Gemeinschaft mündiger Bürger. Schließlich müßten Schule, Wissenschaft und Forschung intensiv der „Aristokratisierung" des Bürgers dienen, sie sollten noch stärker gefördert werden. Die Präsidialdemokratie als konstitutionelle Monarchie auf Zeit sei zwar tendenziell undemokratisch; jedoch als Ausweg aus dem Niedergang der parlamentarischen Demokratie gangbar 64. Wichtig ist für Leisner, daß die Demokratie Vertrauen verlangt und zwar „königliches Vertrauen". Dies führt zur Substitution des Monarchen durch die Demokratie und diese wird selbst, als Institution, Monarch. 65 57 Demokratie (Fn. 1), S. 217. 58 Demokratie (Fn. 1), aaO; vgl. Hornung, in: Der Staat 19 (1980), S. 461 (463); kritisch hierzu Ryffel, Rezension, in: ARSP 66 (1980), S. 431 (436). 59 Demokratie (Fn. 1), S. 221. 60 Isensee (Fn. 31), S. 13 ff. 61 62 63 64 65

Demokratie Demokratie Demokratie Demokratie Demokratie

(Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn.

1), S. 16. 1), S. 227 f. 1), S. 230, 232 f., 235. 1), S. 242 ff., 46 f. 1), S. 252.

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Das Vertrauen aber galt seit jeher vor allem dem durch „Gottesgnadentum" begründeten Status des Monarchen, mithin seiner metaphysischen Legitimation durch eine höhere Instanz, ein, Jenseits".

b) Der Gleichheitsstaat - Macht durch Nivellierung (1980) Wie im ersten Band betont Leisner die Gefährdung der Demokratie als institutionellem Garanten der Freiheit durch Egalisierung und Nivellierung. Dies führe zu stärkerer Machtkonzentration beim Staat, die den vom freien, aktiven Bürger gebildeten „institutionellen Monarchen" Demokratie gefährde oder gar beseitige. Die Hauptthese ist folgende: „Egalität zerstört Herrschaft nicht, sondern verstärkt sie ins Unermeßliche " 6 6 . Dies wird untermauert durch eine „ Liste der Nivellierungen, die Verlustliste unserer BürgerfreiheitAuch eine Vorschau auf die Folgen einer Machtkonzentration und -Verstärkung wird gegeben: „Heute mag sie (sei.: die Macht) noch von freiheitsbewußten Menschen zu unserem ruhigen Glück gebraucht werden, morgen schon kann sie in die Hände des Diktators fallen. Denn Gleichheit ist letztlich eben kein Zustand, sondern ein Herrschaftsinstrument Den Aufbau des Gleichheitsstaates beschreibt Leisner so: „Die Untersuchung beginnt mit der herkömmlichen These, daß Gleichheit nichts anderes sei als die Vollendung und Verstärkung der FreiheitDann aber, ganz Hegeische Dialektik, „Sodann folgen die großen Antithesen: Gleichheit ist stärker als Freiheit, sie ist ein wesentliches Herrschaftsinstrument, sie hat die Macht der Selbstverstärkung in der Herrschaftseskalation. Diese Gegenposition soll dann erhärtet werden an einer Reihe von Ausdrucksformen des modernen Gleichheitsstaates, von der Steuergewalt bis zur Medienstaatlichkeit. Immer ist die Grundthese eine und dieselbe: Gleichheit ist Herrschaft, Gleichheit wirkt selbstverstärkend, in ihr potenziert sich Macht". 61 Besonders gefährdet sieht Leisner wieder die Eigentumsordnung 68 als freiheitliche Grundlage demokratischen Staatsverständnisses. Das letzte Kapitel kommt zu dem pessimistischen Ergebnis, daß es eigentlich nur möglich sei, auf dem unaufhaltsamen Weg zur großen Egalität retadierende Momente festzustellen. Eines davon sei das Bildungsmodell im Berufsbeamtentum. 69 In seiner strengen Hierarchie sieht Leisner geradezu ein Gegenmodell zur nivellierten Gesellschaft in der großen Ausbildungs- und Standes-Egalität. Eine Zerschlagung dieser Hierarchien zugunsten einer Gleichheit in der Struktur würde zum Abstieg des Beamtentums und somit auch des Staatswesens an sich führen. Als Vertreter elitärer und nicht-egalitärer Ausbildung verteidigt Leisner eine 66 67 68 69

Der Gleichheitsstaat Der Gleichheitsstaat Der Gleichheitsstaat Der Gleichheitsstaat

(Fn. (Fn. (Fn. (Fn.

1), S. 5 (Vorwort). 1), S. 19 f. 1), S. 158 ff. 1), S. 290 f.

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„differenzierte Ausbildung". 70 Die von Leisner vorgebrachten Bedenken bezüglich einer Gleichmacherei in Staatsämtern und der darauf folgenden „gleichniedrigen" Qualität der Ausführung der Staatsgeschäfte finden sich bereits bei Aristoteles. 71 Ebenfalls von Nivellierungsversuchen zu verschonen ist die Familie. Die „Einheitsfamilie" gilt es nach Leisner zu verhindern. Er sieht vielmehr in der Familie die „vermeintliche Herrschafts -, in Wahrheit behütende Entwicklungsmacht (...) zur gestuften Vielfalt ". Hier gilt das „Gefühl für die individuelle Unterschiedlichkeit, für die verschiedenen Chancen und Aufgaben". 72 Diese Betrachtung und Überhöhung der Familie als herausgehobener, eben nicht egalitärer „Hort", korrespondiert mit seiner Ansicht von der Sittenstrenge der politischen Elite, die er schon in der „Demokratie" als Voraussetzung einer institutionellen Demokratie aktiver Bürger sah73. Auch hier findet Leisner Zustimmung bei Isensee, der Institutionen wie die Familie zu Gunsten egalisierender „political correctness" im Schwinden sieht. 74 Am Ende der Egalisierung steht für Leisner nur eines: Das Ende der Kontrolle der Macht im Gleichheitsstaat75, dessen institutionelles und zentralisiertes Gefüge sich immer mehr verstärkt hat, um diese Gleichheit zu gewährleisten. 76 Hier knüpft Leisner an die fundamentale Demokratiekritik Carl Schmitts an, derzufolge es in der Demokratie nur die „Gleichheit der Gleichen" gebe und den „ Willen derer, die zu den Gleichen gehören, alle anderen Institutionen verwandeln sich in wesenlose sozialtechnische Behelfe, die nicht imstande sind, dem irgendwie geäußerten Willen des Volkes einen eigenen Wert und ein eigenes Prinzip entgegenzusetzen" 77 . Der Niedergang des Parlamentarismus in der Gleichheitsordnung sei unaufhaltsam, da auch die Volksvertreter egalisiert würden; dies führe zur Schwächung, schließlich zum Zusammenbruch der Kontrollmechanismen der Demokratie. 78 Diese Gefahr beschrieb auch bereits Aristoteles, der in der extremen Durchführung einer Staatsform am Ende stets ein „Zugrunderichten" sah 79 . Dann schlage die Stunde derjenigen, die aus der solcherart veränderten Lage den großen Nutzen ziehen können, der „Herrschaftswilligen". Den Gleichheitstaat mit seiner immensen Machtkonzentration könnten sie für ihre Zwecke instrumentalisieren. Daß die Nivellierung einen Abbau des Herrschaftsgenusses mit sich brächte, 70 Der Gleichheitsstaat (Fn. 1), S. 287 f. 71 Aristoteles , Politik, dt. München, 2. Aufl. 1976, S. 123. 72 Der Gleichheitsstaat (Fn. 1), S. 291 f. 73 Demokratie (Fn. 1), S. 228. 74 Isensee (Fn. 31), S. 49 f. 75 Der Gleichheitsstaat (Fn. 1), S. 313. 76 Der Gleichheitsstaat (Fn. 1), S. 309. 77 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1923/1961, S. 45 f. 78 Der Gleichheitsstaat (Fn. 1), S. 314f. 79 Aristoteles, Politik, S. 186. 15 FS Leisner

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erweise sich als illusorisch, wie die Geschichte hinreichend bewiesen habe. Am Ende stehe die Mobilisierung der Gegenkräfte einer Gleichheitsherrschaft: „Dann werden die ganz großen politischen Mächte hart und unverbrämt aufeinanderprallen: der reine Herrschaftswille der imperialen Gleichheitstechnik, die ,Macht an sichdie völlig unpersönlich über den Gleichen liegt - und die reine Gewalt eines menschlichen Urzustandes die sich einfach nur auflehnt " . 8 0 Damit wird bereits auf den Inhalt des nächsten Bandes der Tetralogie verwiesen.

c) Die demokratische Anarchie - Verlust der Ordnung als Staatsprinzip? (1981) Im dritten Band vertritt Leisner die Ansicht, daß das Phänomen der Anarchie demokratieimmanent sei und aus der Tendenz zum Gleichheitsstaat folge. Anarchie müsse nicht notwendigerweise negativ sein, sie stelle meist sogar eine Durchgangssituation auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie dar: „Stets haben die Sympathien der Demokraten auch, ja zuerst vielleicht, der Anarchie gehört. (...) Anarchisten als Trommler und als Sprengmeister starker Bastionen kamen vor der geordneten Infanterie der Volksherrschaft, welche durch die rauchenden Breschen drang und Anarchisten als erste füselierte" 81. Bildhaft verdeutlicht Leiser, daß Demokratie und Anarchie letztendlich zusammengehören, wenngleich die Anarchie stets nur als Interregnum, nicht als letztendliche politische Lösung anzusehen sei 82 . Keinesfalls führe sie jedoch zwangsläufig zur perfekten Volksherrschaft: „Im Namen der republikanischen Freiheit haben anarchische Dolche einen Caesar getroffen - ist er aber nicht immer nur noch stärker auferstanden aus dem Blut der erschlagenen Herrschaft?"* 3. Folge des Verlustes der Ordnung sei mithin nicht die Volksherrschaft, sondern die Wiederkehr der Diktatur, also des „Führers". Zum Beleg verweist Leisner auf die konkreten Erscheinungsformen der Anarchie in unserem Staatswesen; namentlich auf den Terrorismus der siebziger und frühen achtziger Jahre. Thiele hat begrüßt, daß „der Autor anhand von erkenntnistheoretischen Modellen aufzeigt, wie weit Herrschaftsabschwächung und Ordnungslosigkeit vorangeschritten sind - in einer Zeit übrigens, in der die , Verrechtlichung ' vieler Lebensbereiche einschließlich des politischen Systems selbst wachsende Aufmerksamkeit findet"**. Leisner schwächt den naheliegenden Vorwurfs eines „Staatspessimismus" unter Hinweise darauf ab, daß es sich dabei lediglich um mögliche, nicht aber zwingende so 81 82 83 84

Der Gleichheitsstaat (Fn. 1), S. 317 ff. Die demokratische Anarchie (Fn. 1), S. 22. So etwa Jünger, Der Weltstaat, 1960, S. 70 f. Die demokratische Anarchie (Fn. 1), S. 5 f. (Vorwort). Thiele, Rezension, in: DÖV 1984, S. 223.

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Entwicklungslinien handele. Eine kritiklos akzeptierte radikale Egalisierungsdemokratie verstärke die Tendenz zur Anarchie, führe sie letztlich herbei. Alternative sei „der Neubeginn eines Konstitutionalismus , den man früher mit Recht gemäßigt nennen durfte"* 5. Tradition und Konstitution 86 sind also die ausschlaggebenden Punkte im leisnerschen Verständnis von Demokratie, die durch ihre Fähigkeit zur Selbstkritik den Verfall in die Anarchie zumindest verlangsamen kann. Jedoch schließt er nicht aus, daß die Demokratie eines Tages durch den Befreiungsschlag gegen den geschilderten Gleichheitsstaat beseitigt wird 8 7 und unweigerlich zur persönlichen Gewalt führt.

d) Der Führer - Persönliche Gewalt - Staatsrettung oder Staatsdämmerung? (1983) Der vierte Band befaßt sich mit dem Phänomen persönlicher Gewalt. Ein besonderes Anliegen Leisners ist es, den durch die Person Adolf Hitlers kompromittierten Begriff des „Führers" von seiner Erblast freizumachen und als soziologischen Terminus zu reinstallieren. So verwendet Leisner den „Führer"-Begriff auch für etablierte, demokratisch legitimierte Institutionen und keinesfalls mit Vorbehalt (es sei denn zur Abgrenzung). Dies ist teils begrüßt worden 88 , teils auf starke Ablehnung gestoßen: gerade die angestrebte politische „Unbefangenheit" werde durch die umständliche Begriffsapologie vereitelt 89 . In der Tat vermag es kaum zu gelingen, die Begriffsverengung auf totalitäre Ideologien zu beseitigen, da die Assoziation zu Hitler aufgrund der Erwähnung gleich zu Beginn des Werkes im Bewußtsein des Lesers bleibt. Zwei von insgesamt fünf Kapiteln widmet Leisner der Herkunft und Legitimation persönlicher Gewalt mit ihren konkreten Erscheinungsformen. In zwei weiteren stellt er die demokratischen Führungsversuche vor und wirft die Frage nach der Gefährdung der Freiheit, dem höchsten Gut der Demokratie, durch die persönliche Gewalt auf. Die Vertreter einer Radikal-Demokratie strebten danach, das „Persönliche" aus der politischen Führung möglichst ganz zu verdrängen; es sei jedoch eine Illusion des Normativismus, die Entscheidungen von Trägern persönlicher Gewalt aus dem Entscheidungsprozeß wegzudenken90. Der Gegensatz zwischen persönlicher Führung und normativ begründeter Mehrheitsdemokratie sei zwar nicht zu bestreiten, dürfe jedoch nicht verabsolutiert werden. Gerade der Versuch einer umfassenden Normierung senke die Gefahr einer Diktatur nicht, son85

Die demokratische Anarchie (Fn. 1), S. 412. Fuchs-Heinritz , Lexikon zur Soziologie, Stw. „Konstitution", S. 362. 87 Die demokratische Anarchie (Fn. 1), S. 416. 88 Menger, Rezension, DVB1. 1984, S. 1141; Thiele, Rezension, in: DÖV 1985, S. 500. 89 Eisermann, Rezension, in: Die Verwaltung 18 (1985), 123. 9 0 Der Führer (Fn. 1), S. 17, 20. 86

15*

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dem erhöhe sie. Letztlich könnte nur der Einsatz persönlicher Gewalt durch andere einen Diktator verhindern. Die legitime Verbindung zwischen Demokratie und dem Einsatz persönlicher Gewalt bestehe im übereinstimmenden Willen zur Führung, bzw. zum Geführt-werden 91. Damit fällt bei Leisner der Diktator im Polizeiund Zwangsstaat weg, da der persönlichen Gewalt kein „Wille der Geführten" entspreche. Das Element der persönlichen Gewalt wird so zum Grundstein der Leisnerschen Idealdemokratie, die er sich als Kombination aus einer konstitutionellen Monarchie mit der ihr innewohnenden persönlichen Gewalt und einer institutionellen parlamentarischen Demokratie vorstellt. Diese Mischverfassung aus Normativismus und persönlicher Gewalt diene der Freiheitsoptimierung. Ursprung und Legitimation persönlicher Gewalt müssen zudem immer bewußt gemacht, nie verschleiert werden 92. Die Legitimation optimalen Freiheitsschutzes ist Grundlage der Statik der „richtigen Staatsform", der „dauernden Ordnung". Die Suche dieser statischen Ordnung in der Dynamik, nicht die Erhaltung der Dynamik selbst, ist für Leisner das Ziel des Staatsrechts.93 Somit wird der „Führer" zum Staatsretter, er ist es, der nach Leisner der „guten" Staatsform, der Mischform, zum Durchbruch verhilft.

2. Eckpunkte der Tetralogie a) Das Ideal der Mischverfassung Leisner lehnt jede Form einer nivellierenden „Radikal-" oder „Basisdemokratie" ab, in der das Postulat der möglichst großen Gleichheit herrscht. Sie bedrohe letztlich die Stabilität und Ordnung des Staates und gefährde daher gerade die Freiheit des Individuums, die als Geschäftsgrundlage der Demokratie weit wichtiger als die unbedingte Gleichheit sei. Gegenmodell ist eine „konstitutionelle Demokratie", die als Mischform aus parlamentarisch-demokratischen Elementen und aus davon unabhängigen, verfaßten Institutionen optimale Stabilität aufweise (dabei wiederum an Aristoteles anknüpfend 94). Der Anarchie als Folge der Radikaldemokratie sei nur durch eine alsbaldige Kombination von Freiheit und aristokratischer Autorität der Institutionen zu begegnen, „ehe andere Kräfte dieses Terrain besetzen Als zeitgemäßes Modell favorisiert Leisner eine starke präsidentielle Demokratie 9 5 . Die Stärkung der persönlichen Gewalt des Präsidenten als „Staatsführer" muß durch eine Einschränkung des normativistischen Teils der Demokratie erfol91 Der Führer (Fn. l),S.21f. 92 Der Führer (Fn. 1), S. 24. 93 Der Führer (Fn. l),S.396f. 94 Aristoteles, Politik, S. 186, 184f., 134f.; Gigon, Lexikon der Alten Welt (Zürich/München 1990, Bd. I), S. 318, Rdnr. C 2. 95 Der Staatspräsident als „demokratischer Führer", in: Listl / Schambeck (Hrsg.), FS für J. Broermann, S. 433 (434); vgl. auch: Der Führer (Fn. 1), S. 273.

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gen, muß sich freilich aus konstitutionellen Normen und Institutionen herleiten können, um legitim zu sein 96 . Der Vorteil des stärkeren Einflusses persönlicher Gewalt liegt in der Handlungsfähigkeit: „Die außenpolitische Handlungsfähigkeit vor allem nimmt mit dieser Form demokratischer Führung entscheidend zu - es mußte nicht erst Ronald Reagan dies beweisen Abschließend plädiert Leisner im Hinblick auf die europäischen, insbesondere deutschen Verhältnisse für ein „Experiment des Präsidentialismus" 97. b) Die Kreislauftheorie Sieht man die Bücher der Tetralogie im Zusammenhang, so liegt ihnen die Vorstellung einer „Staatsformabfolge" zugrunde, vom Autor als „Kreislauf 4 bezeichnet 98 : (1) „Die volle Entfaltung der Freiheit deckt deren Widersprüche auf, Kontradiktionen vielleicht, wie sie jeder großen menschlichen Idee innewohnen, sie führen zur Selbstauflösung der demokratischen Staatsform. (2) Rettung aus dieser Krankheit sucht die Volksgewalt in der Verabsolutierung eines ihrer vermeintlichen Werte, der Gleichheit, im radikalen Einsatz ihres wichtigsten Instruments, der egalisierenden Gesetzlichkeit. (...) (3) In Anarchie und Staatsverneinung brechen die Bürger auch aus dem Gleichheitsstaat aus. (...) (4) Darin ist schon alles vorgebildet, (...)"

die künftige Gefolgschaft

und der kommende Führer.

Am Ende geht mit dem Führer die Spätdemokratie in die größere Kraft des Reiches über, aber der Kreislauf beginnt mit der Abschwächung der persönlichen Gewalt in der Normativierung erneut. Diese führt aufgrund der Schwächung der persönlichen Gewalt zur Revolution und dann zur Demokratie, womit wieder bei Punkt (1) begonnen werden kann. Wobei dies nicht notwendig nacheinander geschehen muß, sondern diese Entwicklungen ineinanderlaufen, oder sich parallel entwickeln können. Leisner knüpft hier - neben der eleganten Assoziation zu neueren Kreislauftheorien (Toynbee, Spengler, y Gasset) zum einen bewußt an Vorbilder der Antike an, wo der Wandel der Herrschaftsformen schon bei Piaton 99 und Aristoteles 100 geschildert wird; das Prinzip des Kreislaufs (Anakyklosis) wird von Leisner in Anlehnung an Polybios verstanden 101. Zum anderen belegt er die Richtigkeit durch 96 Rechtsstaat - ein Widerspruch in sich?, in: JZ 1977, S. 537 - 542 (537); FS für J. Broermann, S. 434. Im „Führer", S. 24, ließ Leisner noch eine autokratische Legitimation genügen. 97 FS für J. Broermann, S. 433 (455 f.). 98 Der Führer (Fn. 1), S. 393 f. 99 Piaton, Der Staat, dt. Zürich 1974, Rdnr. 545d ff. 100 Aristoteles, Politik, S. 135 ff. 101 Ebenso Isensee (Fn. 31), S. 11 f.

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Verweis auf historische Vorbilder (französische Revolution) 102 . Entartungserscheinungen im Kreislaufmodell (wie bei Polybios beschrieben 103) kann nur durch Verhinderung von Machtmißbrauch durch Machtaufspaltung begegnet werden. Hinter dem Kreislauf der Staatsformen und der Vorstellung einer „idealen" Demokratieform wird das Leisnersche Grundanliegen deutlich: die dauernde Ordnung. Dieser Ordnung ist die Demokratie, wie jede andere Staatsform auch, unterworfen; durch Stabilität jedoch kann sie „Größe" erringen. Ziel jedes staatlichen Handelns ist also „Größe" in einer „dauernden Ordnung". Die Überwindung der „Dynamik" durch die „Statik". Erst der „Führer" kann als Verkörperung der persönlichen Gewalt das Ende des Kreislaufs in einem autoritär (monarchisch oder präsidentiell) geprägten Demokratiemodell herbeiführen 104. Prototypen solch „großer" Staaten sind das antike Rom, weiter die mächtigen konstitutionellen Monarchien Europas im neunzehnten Jahrhundert, insbesondere Großbritannien, und schließlich das „neue Rom", die Vereinigten Staaten von Amerika.

3. Ideengeschichtliche Verankerung Blendet man zur Vermeidung einer vordergründigen Kritik die problematischen Begriffsrezeptionen Leisners einmal aus, so bleibt inhaltlich doch ein eindeutiger Befund: Seine Argumentationen zeigen eine teilweise geradezu verblüffende Affinität zu geläufigen topoi der Weimarer Staatsrechtslehre. Dies gilt einmal für die vorgenommene Demokratie- und Parteienkritik, die beileibe nicht erst in den Schriften Carl Schmitts 105 ihren Ausdruck fanden, sondern beinahe zum Standrepertoire bei den meisten - auch „unverdächtigen" - Staatsrechtslehrern 106 jener Zeit gehörten. Es ist daher kaum erstaunlich, wenn das Leisnersche Konzept einer Stärkung der Führungsinstitution auf Kosten parlamentarisch-demokratischer Legitimation den Vorwurf des „Antidemokratismus" schürt. Ähnlich verhält es 102 Der Gleichheitsstaat (Fn. 1), S. 18; Der Führer, S. 394. 103 Polybios, Historien, dt. Zürich Bd. I, 1961, Rdnr. IV 11 ff.; Bd. II, 1963, Bd. I, Rdnr. IV 4 ff.; vgl. auch Spoerri, Lexikon der Alten Welt, Bd. II, S. 2393, Rdnr. 2 104 Der Führer, S. 393, 396 f. ios Vgl. nur Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1923; Staatsethik und pluralistischer Staat, in: Kantstudien 35 (1930), S. 28 (32 ff., 41); Das Problem der innenpolitischen Neutralität des Staates, 1930, S. 41 ff.; Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 71 ff., 87 ff., und passim; Legalität und Legitimität, 1932, S 0.263 ff.; Der Begriff des Politischen, 1932 (Neuausgabe 1963), S. 18. Zus.fassend etwa Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 1964, S. 116 ff., u. Lenk, Parlamentarismuskritik im Zeichen politischer Theologie, in: Das Parlament B 51 /1996, S. 17. 106 Vgl. etwa Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 1929, S. 107 f., 123; Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, 1930, S. 36; Tatarin-Tarnheyden, Staat und Sittlichkeit, in: Kantstudien 35 (1930), S. 42 (55); Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, 1933, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 309 (323); zusammenfassend Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2. Aufl. 1964, S. 188 ff.

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sich mit dem Ideal des Aktivbürgers, das ja ebenfalls aus der französischen Revolution stammt und das in der idealistischen Weimarer Staatsrechtslehre fruchtbar, gleichwohl folgenlos aufgenommen worden ist 1 0 7 . Schließlich ist auch der Weimarer Ruf nach einem starken Staat, der durch Entdemokratisierung und Abschaffung des Pluralismus wieder die Fähigkeit zu effektivem politischen Handeln zurückgewinnen solle 108 , auch bei Leisner, wenngleich in stark abgeschwächter Form, wieder lebendig geworden, mag auch „Stärke" durch „Würde", „Größe", „Staatseinheit" 109 udgl. ersetzt sein. Freilich muß bei alledem betont werden, daß Leisner in erster Linie eine „Radikaldemokratie", nicht die Demokratie an sich verwirft, und im übrigen vor allem vor Auswüchsen des parlamentarischen Systems - die auch nicht schlichtweg wegzuleugnen sind - warnen will. Die letztendlich befürwortete Form einer starken Präsidialdemokratie bewegt sich auch im Rahmen des Grundgesetzes sicherlich noch im Rahmen möglicher Verfassungsänderungen de lege ferenda, die von der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG nicht blockiert sind. Auch kann man einem System, das in den klassischen Demokratien Frankreichs und der Vereinigten Staaten seit langem tief verankert ist, kaum Demokratiefeindlichkeit vorwerfen. Dagegen war die Weimarer Diskussion von ganz anderen politischen Bedingtheiten geprägt, die in dieser Form heute gegenstandslos sind (namentlich die Verankerung der Demokratie in der Bevölkerung). In dieser Hinsicht beschreitet Leisner daher doch - bei aller Begriffsverwandschaft - einen deutlich anderen Weg als Schmitt. Deutlich wird die kompromißbereitere Haltung auch in der jüngst erschienenen Neubearbeitung der „Demokratie", die - bei aller berechtigten Kritik - das demokratische System doch weitaus deutlicher bejaht 110 . Viel mehr als durch Schmittianisches Denken scheint das Leisner daher unmittelbar von Hegels Staatsphilosophie geprägt zu sein, und zwar in ihrer ursprünglichen Fassung, nicht in der Verkürzung durch seine Epigonen 111 . Dies wird freilich mehr als in der Tetralogie in der Trilogie deutlich - wie auch in jüngst erschienenen Äußerungen Leisners 112 . 107

Smend, Bürger und Bourgeois ... (Fn. 108), S. 309 ff.; vgl. auch Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, 1990, S. 60 f. 108 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26, 37; zusammenfassend Saage, Rückkehr zum starken Staat?, 1983, S. 10 f. 109 So auch jüngst wieder in Leisner, Demokratie - Auflösung der Staatseinheit, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/Axer (Hrsg.), Die Einheit des Staates. Symposion aus Anlaß der Vollendung des 60. Lebensjahres von Josef Isensee, 1998, S. 29 (32 ff.); etwas abgeschwächter dagegen jetzt ders., Antithesen-Theorie für eine Staatslehre der Demokratie, in: JZ 1998. 861 (862 ff.). 110 Leisner, Demokratie - Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, 1998, passim; ähnlich die Grundtendenz in ders., JZ 1998, "861 ff. 111 Vgl. hierzu Geis, Kulturstaat (Fn. 107), S. 50 ff.; zur nur bedingt hegelianischen Ausrichtung Schmitts Mehring, in: Der Staat 34 (1995), S. 177 (181). 112 Leisner, JZ 1998, 861 (864: „Für einen demokratischen Hegelianismus").

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IV. Zur Einzelanalyse der Trilogie 1. Entwicklungsstufen

eines metaphysischen Reichsgedankens

a) Der Triumph - Erfolgsdenken als Staatsgrundlage (1985) Im ersten Band der Trilogie entwickelt Leisner seine Gedanken zu der „großen, dauernden Ordnung" des Staates fort. Seine im Zeichen dieser Festschrift höchst aktuelle These vom „Jahrtausendende als Staatsende"113 lehnt sich an die von Carl Schmitt geprägte Formel vom „Ende der Epoche der Staatlichkeit" an 1 1 4 . Jedoch konstruiert Leisner ein neues Staatsideal, das gleichsam den „alten Staat" in seiner ordnungsstiftenden Qualität überbietet. Dieses staatsrechtliche Gebilde ist das „Reich". Zur Verdeutlichung des Reichsbegriffs, zur Vermeidung zu metaphysischer Diskussionen und wohl auch wieder zur Abgrenzung von den real existiert habenden Reichen verwendet Leisner auch das Synonym „Überstaat": „Das Reich ist der Überstaat der großen, dauernden Ordnung " 1 1 5 . Leisner geht, anders als Schmitt, nicht von einem Untergang der klassischen Staatsidee mit der Folge des Endes der Möglichkeit fundamentaler politischer Alternativen aus 116 , sondern, sieht eine gesteigerte Möglichkeit dieser Betätigung im neuen Staatsbild. Der Überstaat als Nachfolger des Staates ist eben auch ohne metaphysischen Bezug „mehr" als der alte Staat. Die Suche nach dem Reich sei „Sehnsucht des Staatsrechts", dessen „Traum vom Paradies" 117. Zunächst wird der Begriff des Reichs, danach dessen „Grundstein", der Triumph und seine Wirkung, beschrieben. Das Plädoyer für eine „triumphalistische Weltsicht" ist wieder ein Exempel pathetischer Bildhaftigkeit: „ Wer Triumphe sucht, darf ja auch nicht stets auf Schlachtfeldern dem einzelnen Soldaten nur folgen, der den Gegner erwürgt und blutbefleckt einem Sieg entgegentaumelt" 118. Folgender Gedankengang liegt dem „Triumph" zugrunde: Der „bisherige" Staat wird aufgrund der Akzeptanz durch die Mehrheit begründet und auf Dauer legitimiert; dies ist empirisch belegbar. Dagegen wird der Überstaat „Reich" nicht nur durch diese Akzeptanz legitimiert, sondern erfährt in Form des Triumphs als „kausaler Kategorie des Staatsrechts" eine metaphysische Weihe. Das Reich transzediert also die Welt. „Im triumphalen Ereignis wird das Reich zuerst wahrhaft proklamiert, im Triumph bleibt es sichtbar" 119 Der Triumph ist Absage an die ega113 Der Triumph (Fn. 1), S. 17 114 Schmitt, Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 375 ff. us Der Triumph (Fn. 1),S.48. 116 Vgl. Mehring, in: Der Staat 34 (1999), S. 177 (181). i n Der Triumph (Fn. 1), S. 19. us Der Triumph (Fn. 1), S. 266. 119 Der Triumph (Fn. 1), S. 52 f.

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lisierende Gleichheit, da er als einmaliges sinnstiftendes Ereignis nicht überall beliebig wiederholt werden oder gar wachsen kann. 120 Der Triumph ist immer die Wende zum Guten, von staatsstiftenden Kraft vor allem dann, wenn der Triumph als Sieg in größter Not erscheint. In offener Anspielung auf das berühmte dictum Carl Schmitts 121 formuliert Leisner: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet - zum Reich wird, was ihn überwindet" 122. Die „Reichsidee" ist determiniert durch eine Fortentwickung der drei kantischen Kategorien: (1) Die Reichslösung muß größere Dimensionen im Raum erreichen, das Reich fordert die große Lösung, „den Monumentalstaat". (2) Das Reich benötigt einen anderen Zei'rbegriff, es kann verdämmern und wiederkehren, in der „Staatsrenaissance". (3) „Die intensiven, tief gestuften Ordnungen eines Reiches könnten nur herauswachsen aus der mächtigen Kausalität eines großen Anfangserfolges ( . . . ) das ist es, was wir im folgenden, in diesem Band „Triumph" nennen wollen, im Grunde nichts als ein strahlend gesteigertes Erfolgserlebnis, die große fortwirkende Ordnungskausalität" 123.

Dem Reich immanent ist die unbedingte Ordnung der Staatlichkeit, im Gegensatz zum (bloßen) Staat, für den eine „Minimal-Ordnung" ausreichend ist. 1 2 4 Aber dem Reich wohnt die „große, dauernde Ordnung" inne, es kann daher nur eine Maximal-, d. h. umfassende Ordnung geben. b) Staatsrenaissance - Die Wiederkehr der „guten Staatsformen" (1988) Im Mittelpunkt des zweiten Bandes der Trilogie steht der Beweis der Kontinuität der großen staatlichen Ordnung, augenfällig in der „Wiedergeburt" der guten Staatsformen und -elemente 125 . Trotz des Titels „Staatsrenaissance" steht wieder das Reich im Mittelpunkt. Da wesentliches Merkmal des Reichs eben die kontinuierliche Ordnung ist, nicht nur die des Augenblicks 126 , wird das Reich in der Wiedergeburt der je „guten" Elemente in jedem Zeitalter unsterblich. Beweis sei die „Zeitlosigkeit" staatlicher Elemente und Strukturen, nicht zuletzt auch des Rechts des römischen Reichs 127 . Insbesondere das römische Reich, das „imperium sine fine" 1 2 8 , 120 Der Triumph (Fn. 1), S. 57. 121 Schmitt, Politische Theologie - Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 2. Aufl. 1934, S. 11 f. 122 Der Triumph (Fn. 1), S. 73. 123 Der Triumph (Fn. 1), S. 38 f. 124 Der Triumph (Fn. 1), S. 36 f. 125

Staatsrenaissance (Fn. 1), S. 5 (Vorwort). 126 Staatsrenaissance (Fn. 1), S. 22. 127 Staatsrenaissance (Fn. 1), S. 286. 128 Demandt, Die Auflösung des Römischen Reiches, in: ders. (Hrsg.), Das Ende der Weltreiche, 1997, S. 29 (37 f.).

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das zwar als solches unterging, aber in Byzanz, in Rußland oder in Deutschland weiterlebt, ist Leisner Zeichen für die Renaissance der Reichsidee. Wesentlicher Aspekt des Wiedergeburtsgedankens ist dabei die „staatsrechtliche Qualitätsfrage": Wann ist eine Staatsform gut und daher wert, wiedergeboren zu werden, wann nicht? Wiederum dient die Staatstypologie bei Piaton und Aristoteles und das Ideal der Mischverfassung mit seiner Freiheitsoptimierung als Vorbild 1 2 9 . Freilich geht es in der „Staatsrenaissance" nicht um die antistaatliche Freiheit (also den status negativus), die für Leisner stets nur anarchisierende Absage an den Staat ist, sondern vielmehr die „größere" Form der Freiheit, die „Freiheit im Staat": „der Idee nach hat sie stets die Überhöhung des Gegensatzes von persönlicher Freiheit und Staatsgewalt postuliert" 13°. Der liberale, wirtschaftlich geprägte Freiheitsbegriff der Demokratiekritik ist hier zugunsten der „Freiheit als Ordnung" aufgegeben. Wohl selten noch deutlicher als hier tritt der Bezug der Leisnerschen Staatslehre zur Staatslehre Hegels und zu dessen Verständnis „objektiver Freiheit" zutage 131 . Die „gute" Staatsform läßt sich nach Leisner jedoch nicht durch maximale Glückseligkeit der Völksmasse oder des Einzelnen bestimmen. Vielmehr ist sie staatlicher Selbstzweck aus der Sicht des Organismus der Herrschaft als solcher. „Gute Staatsform bedeutet ein Maximum von ,staatlichem Lebens glück'" 132. Bereits die Terminologie zeigt, daß Leisner den Staat als „höheres Wesen" ganz im Sinne der hegelschen Lehre sieht 133 , der Staat ist nicht um der Bürger willen da, sondern erlangt wieder wie bei Hegel einen Selbstzweck. Die subjektive Freiheit wird relativiert; angesichts der Gefahr, die für die dauernde Ordnung von einer reinen Freiheitslehre ausgeht, müssten bei der Suche nach der „guten" Staatsform zunächst die funktionalen Notwendigkeiten des Herrschens an sich im Vordergrund stehen: „Vielleicht kann das Reich mit seinen Renaissancen von „guten Staatsformen" gerade darin der Anarchie entgegentreten, daß es niemals den primären Blick auf die Staatlichkeit aufgibt und ihr optimales, auch freiheitsschützendes Funktionieren " 1 3 4 . Das überragende Ziel der „großen, dauernden Ordnung" stellt die Freiheit, das Kernstück der Demokratie, gleichberechtigt neben das bloße Funktionieren des überhöhten Staates. Sie ist quasi der objektive Geist im Sinne Hegels 135 . Diese Transzendenz wird auch durch metaphysisch-religiöse Terminologie noch einmal herausgestrichen: „Renaissance ist die Brücke von Reich zu Reich - von Ewigkeit zu Ewigkeit... " 136. 129 Staatsrenaissance (Fn. 1), S. 23, 27 f. 130 Staatsrenaissance (Fn. 1), S. 211 f. 131 Vgl. auch JZ 1998, 861 (864). 132 Staatsrenaissance (Fn. 1), S. 32 f. 133 Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, 5. Aufl., 1955, S. 111 f. 134 Staatsrenaissance (Fn. 1), S. 34. 135 Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, S. 32 f. 136 Staatsrenaissance (Fn. 1), S. 288.

Dauernde Ordnung hinter wechselnden Staatsformen?

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c) Der Monumentalstaat (1989) In seinem letzten Band der Trilogie ruft Leisner die Demokratie dazu auf, „groß zu denken und zu handeln " 1 3 7 . Als Beispiele für „große" Staatlichkeit nennt er Rom, die (kath.) Weltkirche und das Napoleonische Imperium 138 . Es gebe einen demokratischen Zwang zur Staatsgröße, leider herrsche aber in der Gegenwart eher die Antithese der Größe. Leisner sieht gerade in Deutschland aufgrund der hegelschen Staatslehre die philosophischen Grundlagen der Staatsgröße begründet. Er akzeptiert die Theorie vom Staat als höherem geistigen Sein und begründet so - e maiore ad minus daß dann auch der Staat als große Lösung über den hegelschen Staatsbegriff legitimierbar sei 1 3 9 . Nun fügen sich die bisher geleisteten Vorarbeiten zu einem Bild zusammen: Im Rahmen der staatlichen Organisationsformen für eine „große Lösung" erscheinen wieder jene Mischformen, die Leisner schon im Rahmen der Demokratiekritik als Optimum einer dauernden Ordnung vorgestellt hatte, namentlich die präsidentielle Regierungsform 140. Gegen Ende erfährt der Staat endgültig die metaphysische Weihe „ Wer den fernen Gott nicht anbetet, verneigt sich vor dem nahen Staat"; die große Lösung ist „eine Erscheinung hinter der Transzendenz steht". Auch sei „die Vergöttlichung des Staates (...) kein Mythos, sondern eine tägliche Realität, vor allem aber eine Notwendigkeit der praktischen Vernunft im kantischen Sinn ". 141 Mit dem Hinweis auf die Vergöttlichung schlägt Leisner einmal die Brücke zum „Heiligen Reich", zum anderen zur Staatslehre von Hobbes: Erst wenn der Staat „Gott auf Erden" ist, können seine Befehle „als göttlicher Herr selbst über das Leben des Bürgers" legitimiert sein. 142 Nur dann kann auch die Einschränkung der Freiheit zugunsten der Funktionalität des Staates zulässig sein: „ Der Staat muß auf Erden sein wie der göttliche Pantokrator in den Himmeln: Sein Bild muß Furcht und Liebe verströmen, nicht nur die Gewalt des Schwertes zeigen, sondern auch die Hoffnung wecken auf die große Gnade ". Erst in der transzendent begründeten Monumentalität steht der Staat, aus seiner Größe heraus, auch für Gerechtigkeit. Dann ist die endgültige Überhöhung des Staates vollzogen. Leisner sieht nun im Monumentalstaat die „sichtbarste Seite" des Reichs, welches die große, dauernde Ordnung impliziert, oder sogar selbst ist 1 4 3 . Leisner geht damit

137 138 139 140

Der Monumentalstaat Der Monumentalstaat Der Monumentalstaat Der Monumentalstaat

(Fn. (Fn. (Fn. (Fn.

1), S. 5 (Vorwort). 1), S. 20 ff. 1), S. 28 f. 1), S. 224 ff., 234 f.

141 Der Monumentalstaat (Fn. 1), S. 325 f. 142 Der Monumentalstaat (Fn. 1), S. 327 f. 143 Der Monumentalstaat (Fn. 1), S. 331 f.

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über Hobbes noch hinaus; so ist der Staat noch mehr als „that great Leviathan , or rather (of) that Mortall God, to wich wee owe under the Immortall God, our peace and defence"} 44 Denn bei Leisner sind Staat und „Reich" bereits ein Teil des Ewigen, selbst unsterblich in der großen, dauernden Ordnung, nicht nur Gegenstand eines BeherrschungsVertrages. 2. „Ende der Staatlichkeit"

oder „Staat als große, dauernde Ordnung"?

Obwohl Leisner sehr deutlich der hegelianischen Staatsauffassung folgt (und vielleicht gerade deswegen), ist die Konsequenz für ihn eine ganz andere als für Schmitt, der mit dem modernen liberal-demokratischen Verfassungsstaat nichts anfangen kann. Während für jenen der Staat als Repräsentant einer Idee, als Verbindung von Herrschaft und Transzendenz verlorengegangen ist 1 4 5 , ist in Leisners Konstruktion genau das Gegenteil der Fall: Der Staat kehrt als „Gott" zurück, ganz im Sinne Hobbes', wenn auch mit ganz anderer Legitimation. Der Staat ist nicht bloß Souverän aus Sachzwängen (Sicherheitsgedanke) bzw. ein „homo artificialis" 1 4 6 , sondern kraft der in ihm verkörperten dauernden „guten Ordnung", sprich der Vernunft 147 . Diese geschichtsphilosophische Legitimationsgrundlage orientiert sich eindeutig an Hegel. Zwar nicht der einzelne Staat, aber doch das Reich lassen sich unschwer mit der „Wirklichkeit der sittlichen Idee" 1 4 8 identifizieren. Die geschichtsphilosophische Entwicklung hin zur Größe als Leitidee staatlicher Entwicklung, die Deifizierung des Staates, die Notwendigkeit einer stabilen „Mischform" der gegebenen Staatsform auf dem Weg zur Größe, all dies ist Inhalt der metaphysischen Begründung staatlichen Seins, die Leisner in seinen beiden staatstheoretischen Komplexen erarbeitet. Er beschränkt sich keinesfalls mehr auf empirische oder seinsbezogene Begründungen der Staatlichkeit. Das Ideal der „großen, dauernden Ordnung" ist zugleich Ziel und Struktur der Geschichte: Die Staatsformen können wechseln, die „Reichsidee" der Größe bleibt.

V. Fazit Das staatstheoretische Werk Walter Leisners polarisiert. Es zeigt viele scharfe Beobachtung von Schwachpunkten moderner Herrschaftssysteme auf, es provo144 Hobbes, Leviathan - or the Matter, Forme and Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill (London 1651), S. 87 f., Part II, Chapter 17. 145 Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 375; vgl. Rüthers, 1997 „Retter vor dem Antichrist? - Carl Schmitt als politischer Theologe", FAZ vom 28.11., S. 14 146 Vgl. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 2. Aufl. 1995, S. 54 ff.

147 Vgl. Hobbes, Leviathan (Fn. 144), Part I I Chapter. 17, S. 88. 148 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 4. Aufl. 1995, Dritter Teil, 3. Abschnitt, § 257, S. 398.

Dauernde Ordnung hinter wechselnden Staatsformen?

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ziert aber auch zu vehementem Widerspruch (und will dies auch). In der Tat: Ein Blick nicht nur auf das Alltagsgeschäft, sondern auch auf so manche Manifestation von Regierungshandeln (vor und nach der Bundestagswahl 1998) läßt starke Zweifel an der Verwirklichung eine großen Ordnung aufkommen. Andererseits ermangelt auch die bürokratische Demokratie nicht an Triumph-Momenten wie z. B. der Maueröffnung 1989 oder der deutschen Wiedervereinigung. Es ist die überindividuelle Staats- und Weltsicht, die Leisners Werk so sehr von dem „mainstream" der zeitgenössischen Staatstheorie unterscheidet. Er dürfte einer der letzten sein, die versucht haben, ein geschlossenes Bild vom Staate zu entwicklen - und zwar durchaus in treuer Gefolgschaft Hegels. Man mag darüber streiten, ob Hegels Staatsphilosophie überhaupt mit dem freiheitlich-demokratischen Staat kompatibel ist - vieles spricht dafür, daß sie es nicht ist, insbesondere weil für die selbstrechtfertigende Existenz des Staates in Verfassungen wie dem Grundgesetz kein Raum ist. Andererseits ist etwa im Völkerrecht der Gedanke kontinuierlicher Staatlichkeit bei wechselnden Verfassungen und Regierungssystemen allgegenwärtig. Die Achillesferse der Leisnerschen Argumentation dürfte eher in der spekulativ-idealistischen Überhöhung des Staates liegen, die sich notwendig nicht beweisen läßt, und mit deren Annahme alles steht und fällt. Gleichwohl ist es ein hohes Verdienst des Jubilars, Gedanken zum Staat, die seit Jahrtausenden als Kulturgut überliefert worden sind, auf seine Fruchtbarkeit für die Gegenwart zu überprüfen. Das ist allemal besser, als diese Einsichten vorschnell in die Ablage der Rechtgeschichte einzuordnen. Nicht alles Alte ist veraltet. Und schließlich: Provokation als Stilmittel und Reflexion über „besetzte" Begriffe müssen in der wissenschaftlichen Diskussion als Instrument zulässig sein. Manchmal ist die scharfe Klinge notwendig, um festgefahrene Diskussionen mit Verve wieder in Schwung zu bringen, um (zu) fest gemauerte Weltbilder einzureißen. Gerade die Kritik an einer zu banalen Deutung des Demokratiebegriffs zeigt, daß Leisner auf dieser Klaviatur meisterhaft zu spielen versteht. Und wenn dabei nur die bescheidene Einsicht bleibt, daß auch das politische System der Bundesrepublik Deutschland nichts Sakrosanktes verkörpert und nicht „besser" ist als andere Formen der Demokratie, dann hat sich der lange Weg durch diese sieben Bücher Leisners gelohnt.

Der Staat als Institution Zur Kontingenz der modernen Staatsidee Von Udo Di Fabio

I. Jenseits der Fraglosigkeit des Staates Nachdenken über den Staat ist ein Fixpunkt im Lebenswerk Walter Leisners. Keiner hat ihn auf so viele Begriffe gebracht, ihn von so vielen Seiten erhellt, befragt, gedeutet, mitunter lyrisch umschrieben. Wenn von Staatseinung1, vom Abwägungsstaat2, vom Monumentalstaat3, von Staatsrenaissance4 und selbst wenn vom „unsichtbaren Staat"5 die Rede ist: der Staat wird als vorrechtliche Entität und Bezugspunkt rechtlichen Denkens vorausgesetzt und im Strom seines Gestaltwandels insofern konstant gehalten. Aber diese produktive, mitunter Unruhe spüren lassende Befassung mit dem Staat zeigt, daß womöglich etwas Fragloses nicht nur Gewänder wechselt, sondern vielleicht schon längst zur Disposition steht. Und das hieße dann womöglich - wie es Herbert Krüger schon vor Jahrzehnten ausgesprochen hat - , daß mit dem Ende der Moderne auch dieses eindrucksvolle Gebilde vergehen könnte6. Ob schon vergangen oder nicht: Die Selbstverständlichkeit des Staates schwindet. Selbst in der deutschen Staatsrechtslehre wird seine Kontingenz spürbar, man denkt probeweise schon einmal an die Zeit ohne Staat in einer großen, erdumrundenen Zivilgesellschaft und mit viel Wohlwollen an vormoderne Staats- oder besser Herrschaftsformen wie das Heilige Römische Reich. Wenn etwas bisher Fragloses kontingent wird, benötigt man Begrifflichkeiten, um es - und sei es für den geordneten Übergang - konstant zu halten, obwohl man um den Verweisungsüberschuß an Möglichkeiten weiß. Der moderne Staat ist als Konstruktion in die Welt gesetzt worden und als solche wird er heute wieder deutlicher sichtbar. Die Moderne hatte indes seine Konstruktivität verborgen, indem Staat und Gesellschaft in eins gesetzt wurden, der Staat als politische Chiffre für Gesellschaft, ja als 1

Leisner, Leisner, 3 Leisner, 4 Leisner, 5 Leisner, 6 Herbert 2

Staatseinung. Ordnungskraft föderaler Zusammenschlüsse, 1991. Der Abwägungsstaat, Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit, 1997. Monumentalstaat. „Große Lösung". Wesen der Staatlichkeit, 1989. Staatsrenaissance. Die Wiederkehr der „guten Staatsformen", 1987. Der Unsichtbare Staat. Machtabbau oder Machtverschleierung?, 1994. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. VII.

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Udo Di Fabio

eigentlicher Ort gesellschaftlicher Einheit, Instanz der Aufhebung gesellschaftlicher Widersprüche. Als eine solche Einheit nahm der Staat teil an der Unhinterfragbarkeit der Gesellschaft. Dieses keineswegs völlig untergangene Bild vom Staat als vernünftigem Repräsentanten der Gesellschaft verliert heute so erheblich an Kraft, daß gefragt werden muß, wie man den Staat als Teil der Gesellschaft, als eine Unterkategorie der alles umschlingenden und in ihrer Totalität nicht überbietbaren Weltgesellschaft begreifen kann. Insofern ist es konsequent, wenn von einer Entzauberung des Staates gesprochen wird 7 . Doch was kommt danach? Wie begreifen, den Staat, wenn seine Evidenz nicht mehr durch Überhöhung sinnbildlich gemacht werden kann? Wenn der Staat etwas Mythisches war, was wäre er in nur rationaler Sicht? Als eine Begriffswahl, die Verstetigung und Bedeutung zugleich repräsentiert, bietet sich die Institution an, und den Staat als solche zu verstehen, ist keineswegs neu. Ohne lange Erläuterungen ist zu lesen, daß der Staat und die Nation zu den bedeutsamsten Institutionen gehören8.

II. Gesellschaftliche Institutionen und soziale Systeme Dieser schillernde Begriff paßt auf alle verstetigten Organisationen der Gesellschaft, die sich zu einer Umwelt abgrenzen lassen und die von einer besonderen Idee getragen werden. Die Ehe beispielsweise wird von der klassischen Soziologie in Anwenals gesellschaftliche Institution9 und vom Bundesverfassungsgericht dung des Art. 6 Abs. 1 GG als „Rechtsinstitut" bezeichnet10. Schon die Ehe als kleinste gesellschaftliche Organisation verdeutlicht das Wesen jeder gesellschaftlichen Institution: Sie besteht aus einer Idee, aus Lebenswirklichkeit und aus moralischem oder rechtlichem Sollen. Die genetische Reihenfolge kann variieren, zuerst die Idee oder zuerst die Tat. Aber auch das Recht kann vorangehen, wenn eine Idee noch vereinzelt und ohne Chance auf Durchsetzung im freien Spiel der Kräfte ist, aber ihre Träger Zugang zur Macht besitzen11. 7 Willke, Entzauberung des Staates. Überlegungen zu einer sozietalen Steuerungstheorie, 1983. 8 W. Ivor Jennings, Die Theorie der Institution, in: Schnur (Hrsg.), Institution und Recht, 1968, S. 99 (109). 9 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage 1972, S. 213. 10 BVerfGE 81, 1 (6f.)

11 Noelle-Neumann, Öffentliche Meinung: Die Entdeckung der Schweigespirale, 1996, S. 188 ff. In einem epochentypischen Zwischenraum befindet sich das Prozeßhandbuch des Dominikaners Heinrich Kramer (Institoris), der mit seinem berüchtigten Hexenhammer Malleus Maleficarum das Hexereidelikt als Rechtsinstitut zunächst gegen die Beharrungskräfte und gegen das kanonische Recht erfolglos als Gemeinrecht durchzusetzen suchte, dann aber weniger wegen vorangehender päpstlicher Unterstützung, sondern durch die einen Propagandaerfolg ermöglichende neue Buchdruckerkunst maßstabsbildend wurde. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 332.

Der Staat als Institution

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Eine soziale Institution bietet mit Arnold Gehlen ein anthropologisch unentbehrliches Verfahren zur Entlastung des einzelnen von Entscheidungen12. Der moderne Mensch erkennt nach dem teilweisen Abbau und der allgemeinen Entkräftung wichtiger Institutionen den Wert ihrer wohltuenden Fraglosigkeit, die - nur scheinbar paradox - in einer komplexen Entscheidungssituation geradezu eine Voraussetzung individueller Freiheit werden kann. Dieser Wert gilt auch im Raum des Rechts. Innerhalb eines rasch sich ändernden, in der Masse seiner Positivität kaum überschaubaren Rechts bieten Rechtsinstitutionen mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen Orientierung und sicheren Grund, sie unterstützen zudem die Autonomie rechtlichen Operierens gegen allzu unsystematische Zumutungen des Gesetzgebers und leisten den integrativen Brückenschlag zur Gesellschaft, weil sie Tradition speichern und doch immerwährend Anerkennung benötigen. Die Institution ist nicht identisch mit einem sozialen System, das indes durchaus als Sonderfall der Institution betrachtet werden kann. Ein soziales System ist mehr als eine Institution, es ist etwas dynamisch-lebendiges, weil es einen konstanten Funktionscode aufweist 13, aber sonst alles variabel ist. Die Wirtschaft ist auf „Haben oder Nichthaben" von Gütern mit Tauschwert ausgerichtet, die Wissenschaft auf Informationen, die sich nach dem Schema „wahr oder falsch" zuordnen lassen, das Recht auf Entscheidungen nach dem Schema „recht oder unrecht". Weder für Institutionen wie die Ehe noch für den Staat läßt sich ein solcher Schematismus, eine solche einfache, stabile, endlos anschlußfähige Funktionslogik ausmachen. Sie sind sicherlich gesellschaftliche Zweckschöpfungen, womöglich Institutionen, gewiß aber nicht Funktionssysteme in obigem Sinne. I I I . Das Ideelle des Staates als Kern des Institutionellen Aber was wäre gewonnen, wenn der Staat als Institution verstanden und als solche akzeptiert würde? Wäre dies nicht nur ein fragwürdiger Etappensieg in einem auf Ganze gesehen aussichtslosen Kampf um die Verteidigung des Staates? Was in seinem Wesen und Wert als gesellschaftliche Institution betont werden muß, ist womöglich entweder noch nicht als solche anerkannt oder schon nicht mehr von jedermann als solche akzeptiert. Die Institution des Adels ließ sich nicht retten mit dem Hinweis auf seine unerschütterliche Institutionalität, ebensowenig die Hausgemeinschaft, ob er der Ehe hilft, ist zweifelhaft, nicht anders beim Eigentum. Zudem wird der Begriff des Institutionellen immer inflationärer gebraucht, so daß etwas nicht viel reicher scheint, das mit diesem Etikett versehen wird. Dies läßt sich jedenfalls gut belegen, wenn man an die politikwissenschaftliche Begriffs12

Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, 1986, S. 98 f. Eher noch beiläufig in Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 598 (binäre Schematismen als anspruchsvollste Formen des Aufbaus von systemeigener Ordnung). Doch auch Institutionen ohne die Qualität eines Funktionssystems bringen eigentümliche und eigenwillige Verhaltensmuster hervor, sie entwickeln Eigenlogik, siehe insofern Douglas, How Institutions think, Syracuse/New York, 1986. 13

16 FS Leisner

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Verwendung denkt. In den Sozialwissenschaften wird jede Verstetigung gesellschaftlicher Organisationen mit einer spürbaren Leichthändigkeit gerne als Institution bezeichnet. Gerade im Blick auf die Überwindung des Nationalstaates werden Institutionen definiert als dauerhafte und verfestigte Verhaltensmuster einer angebbaren Menge von Akteuren in sich wiederholenden Situationen. Bezogen auf politische Institutionen wird gesagt, daß es sich um Mechanismen des Regierens handele, wobei anhand kollektiv bindender Normen und Regeln bewußt und gewollt Ziele verfolgt werden, die das Gemeinwohl der beteiligten Akteure fördern sollen. 14 Ob der Staat in diesem Sinne eine Institution wäre, mag man bezweifeln, denn er scheint mehr zu sein, als nur ein Regelsystem oder ein verfestigtes Verhaltensmuster. Seit Max Webers kühler Analyse darf man den Staat als rational verfaßte Anstalt zur Ausübung von legitimer, auf Gewaltsamkeit gestützter Herrschaft von Menschen über Menschen betrachten 15. Damit steht nicht seine Normativität, sondern seine Faktizität im Vordergrund. Indes wäre der moderne Staat in reiner Faktizität noch nicht einmal denkbar. Und doch ist es die Exklusivität seines Herrschaftsanspruchs, die den Staat zunächst in die Idealität des Höheren treibt. Er ist in seiner tatsächlichen Erscheinung absolut angelegt, weil er das Gewaltmonopol beansprucht, keine von ihm unabgeleiteten öffentlichen Gewalten in seinem Herrschaftsbereich duldet 16 . Genau deshalb ist der Staat aber auch auf stete Zustimmung angewiesen, weil sich in einer funktional differenzierten Gesellschaft dieser Anspruch gar nicht anders als über pragmatisch verstetigten Konsens oder doch Duldung durchsetzen läßt 17 . Als ursprüngliches politisches Gewaltverhältnis ist der Staat mehr als eine Institution, aber er muß auch Institution sein, um nicht als reines Gewaltverhältnis zu scheitern.

IV. Die Leistung einer Institution Eine gesellschaftliche Institution gründet auf einer rechtfertigenden Idee. Die Rechtfertigung findet bei variierenden Inhalten ihre gemeinsame Richtung in einer Leistung für die Gesellschaft. Die moderne Gesellschaft verstand sich als Neuaufbau von unten, von den Individuen her, deren individuelle Einzigartigkeit und Vernunftbegabung ist letzte Instanz. Jede gesellschaftliche Institution muß also Leistungen erbringen für eine Gesellschaft, welche die Freiheit und die Wohlfahrt ihrer Bürger zum obersten Ziel erklärt. Diese Leistung muß nach allgemeiner Überzeugung so unentbehrlich für das Funktionieren der Gesellschaft sein, daß nur unter Inkaufnahme hoher Kosten oder gar nicht auf sie verzichtet werden kann. 14 Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, 1998, S. 171. 15 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage 1972, S. 822. 16

Der dafür stehende Rechtsbegriff ist Souveränität: Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 251. 17 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 25 ff.

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Eine Institutionenökonomie meint derlei Nutzen und Kosten messen zu können, bislang hat der evolutionäre Erfolg gerichtet. Ein Rechtsinstitut wie das Eigentum, das zugleich gesellschaftliche Institution ist, bildet bei näherer Betrachtung das Fundament des gesamten Funktionssystems der Wirtschaft, weil sonst der binäre Schematismus des Habens und Nichthabens von Wirtschaftsgütern gar nicht funktionieren könnte 18 . Es ist eine merkwürdige Irrung der deutschen Verfassungsinterpretation, zu glauben, daß Eigentum und Marktwirtschaft disponibel wären, ohne daß daran die Freiheit zerbräche. Wäre das Grundgesetz hier neutral 19 , wäre es seinen eigenen Freiheitsgrundlagen gegenüber gleichgültig 20 . Der moderne Staat bietet nicht eine, sondern ein Bündel an Leistungen. Am fundamentalsten ist allerdings die Friedenssicherung, in der fast alle Versprechen aufgehen. Die Fundamentalität der Friedenssicherung liegt auf der Hand: Denn wenn Gewalt unsystematisch ausgeübt wird, droht sie schon durch ihre Unberechenbarkeit die Freiheit nicht nur von Menschen unmittelbar, sondern - etwa durch Eigentumsverletzungen - auch von sozialen Funktionssystemen und damit individuelle Freiheit mittelbar empfindlich zu stören. Erweitert man dieses Argument, so empfiehlt sich der Staat auch in einem weiteren Sinn als notwendig zur Erhaltung gesellschaftlicher Ordnung. Denn Frieden wird nicht nur durch die Abwehr unkontrollierter und unlegitimierter Gewalt gewährleistet, sondern auch durch klare Verhaltensregeln, Vorschriften und organisatorische Vorkehrungen zur Konfliktschlichtung, durch Rechtssicherheit, soziale Befriedung, Wohlstand und durch austeilende Gerechtigkeitsinterventionen zumindest begünstigt. Über die weit verstandene Friedenssicherung hinaus gehen aber diejenigen Rechtfertigungen, die den Staat zur kollektiven Selbstverwirklichung, ja im Sinne positiv gewendeter Freiheit 21 als notwendig sehen, als Subjekt der Gattungsgeschichte. Diese Töne sind fast verhallt, sie erzeugen jedenfalls Mißklänge, wo die Harmonie über den Letztbezug auf den einzelnen Menschen hergestellt wird. Ein zu starkes Auftreten kollektiver Freiheit bringt die individuelle zu leicht ins Straucheln. Nach seiner Entzauberung und dem Verlust der territorialen Abschließbarkeit wird wieder vermehrt nach den Leistungen des Staates gefragt, durchaus im Sinne der Rentabilität einer unbestritten teuren Institution 22 . Für regelrecht entbehrlich 18 Für Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, S. 188, gilt dies jedenfalls für die Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems, die ohne Eigentum gar nicht möglich gewesen wäre. Die von Luhmann als eigentlicher binärer Schematismus des Wirtschaftssystems angeführten Zahlungen oder Nichtzahlungen (Luhmann, a.a.O, S. 52 ff.) sieht er als Eigentumsübertragungen oder NichtÜbertragungen, obwohl das nicht ganz dasselbe ist wie das mit dem Eigentum verbundene Haben/Nichthaben. 19 Zur Neutralität der Verfassung: Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, 1932, S. 51. 20 Leisner, Eigentum. Grundlage der Freiheit, in: ders., Eigentum, Schriften zu Eigentumsgrundrecht und Wirtschaftsverfassung 1970-1996, 1996, S. 21 (24). 21

Isaak Berlin, Four Essays of Liberty, Oxford, 1969. Wobei Kosten allerdings Freiheitsverluste sind. Dies wird besonders deutlich gemacht von Friedrich von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 1960. 22

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hält den Staat kaum jemand. Im Grunde wünscht man ihn sich schlanker, kostengünstiger, ohne obrigkeitliches Gehabe und in einer Vielzahl öffentlicher Gewalten aufgehend, weswegen der immer noch in der assoziativen Nähe zum Monarchen verharrende Singular schon heute ungebräuchlicher wird. Kann man also den modernen Staat begraben und reine Institutionen im überstaatlichen Sinne, wie „Gouvernement", auf Dauer installierte Verhandlungssysteme, Ausschüsse, Agenturen an seine Stelle treten lassen? Sind die vielen inner- und überstaatlichen Ausdehnungen und Ergänzungen des Staates in Wirklichkeit seine Erben? Dies wirft die Frage auf, ob der Staat nicht auch und gerade als opake Idee Leistungen bereitstellt, für deren Erbringung keine besser in die Zeit passenden, kostengünstigen funktionalen Äquivalente in Sicht sind.

V. Der Verfassungsstaat Der moderne Staat ist Verfassungsstaat. Er verbindet, unter der Verfassung stehend, das politische Funktionssystem mit dem des Rechts in einer dauerhaft angelegten engen Weise. Denn die moderne Staatsidee gründet in der Vorstellung, politische Macht als Instrument der Vernunft zu ermöglichen und durch sie diese Macht zu begrenzen 23. Über den Inhalt der Vernunft kann man streiten und muß es tun, will man vernünftig handeln. Die Begrenzung erfolgt deshalb über die Form und die Form politischer Macht im Verfassungsstaat ist das Gesetz24. Das Recht ist heute ein eigenes Funktionssystem der Gesellschaft, insofern nicht anders als die Politik. Beide Funktionssysteme treffen kollektiv verbindliche Entscheidungen, die Politik originär, das Recht anhand von Texten - überwiegend aus politischen Erstentscheidungen (Gesetzen) - abgeleitet. Beide sind aufeinander bezogen. Die Politik „steuert" mit Recht in den Bahnen des Rechts und entlang der Wegmarken des zu Recht gewordenen Vorentschiedenen. Zum Komfort politischer Steuerung trägt wesentlich bei, daß die Umsetzung über die Schaltstelle von Gesetzen rechtlich erfolgt und kein eigentliches Thema der Politik mehr ist. Das Recht dagegen bekommt seine wichtigsten Argumente als Entscheidung des Gesetzgebers zur Zweitbearbeitung und Einzelfallgestaltung 25 und darf sich von der Befolgung seiner Entscheide unbelastet fühlen, weil die Konsequenz der Verbindlichkeit, die auf 23

In der historischen Abfolge mag für kurze Zeit und in einzelnen Ländern der reine Machtstaat am Anfang gestanden haben, ebenso wie er vereinzelt auch am Ende der europäischen Nationalstaatlichkeit im 20. Jahrhundert gestanden hat. Entscheidend ist jedoch, daß die Ausdifferenzierung des Politischen gleichsam ab ovo das Recht auf den Plan rief, schon weil sich Neues nur unter Berufung auf Recht legitimieren konnte und weil es im Vergleich zu demokratischen Inklusionsforderungen das weit geringere Übel für souveräne Monarchen schien. 24

Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 333 ff. 5 Herzog, Gesetzgebung und Einzelfallgerechtigkeit, NJW 1999, 25 ff.; Ossenbühl, Offene Gesetzgebung und konkretisierende Rechtsetzung, DVB1. 1999, 1 ff.; Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 148 ff. 2

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das Machtmonopol sich stützt, wiederum überwiegend Sache des politischen Systems ist. Die so verfestigte, durch die Verfassung als Struktur normativ gesicherte Kopplung von Politik und Recht bedingt den Staat, prinzipiell im Singular. Der Staat ist ein griffiges Bild dessen, was aus dem Bereich der Politik für das Recht erheblich ist. Insofern ist der Staat als Rechtsperson und namentlich der Rechtsstaat Erfindung der Juristen. Ebenso zutreffend argumentiert Luhmann, wenn er den Staat als Selbstbeschreibung des politischen Systems betrachtet. 26 Es sind zwei Seiten derselben Medaille: in der Institution des Staates finden sich Politik und Recht strukturell gekoppelt. Mit dieser Kopplung wird eine Einheit geschaffen, die mit der ewigen Differenz der beiden Funktionssysteme anspruchsvolle konstruktive Ordnungen ermöglicht und dies nicht nur unter Schonung der individuellen Freiheit, sondern untrennbar mit der Freiheit des Individuums verbunden. „Das Individuum verdankt mithin seine zivile Individualität der Einheit von Recht und Politik, und diese Einheit ist damit unauflöslich an das Individuumsein der Individuen gebunden."27 Eine solche Verbindung ist nicht willkürlich, sondern Teil einer in sich zusammengehörigen Konstruktion, die vom Pathos des Humanismus angetrieben die soziale Welt nach einem Bauplan neu schafft, wobei der einzelne Mensch in der Summe aller Menschen Fundament, Bauherr und Baumeister ist. Der Begriffshaushalt der Moderne ist deshalb ineinander verwoben. Die einzelnen Begriffe wie Individuum, Bürger, subjektives Recht, Schuld, Pflicht, öffentliche Gewalt, Souveränität oder Gesetz werden durch typisch moderne Institutionen zu einer Einheit geführt und tragen sich untereinander. Die Begriffe sind zwar nicht statisch, aber auch nicht inhaltlich beliebig und schon gar nicht ohne weiteres entbehrlich. Wenn derlei geistesgeschichtlich gewachsene Elemente und institutionelle Einheiten aufgegeben oder mit ihren konstruktiven Differenzen verschmolzen werden, verliert das ganze System der Freiheitssicherung gegenüber dem Machtmonopol seine Spannung und Form. Die Kopplung von Politik und Recht im Staat muß nicht für alle Zeiten so eng bleiben, wie dies das verfassungsstaatliche Modell vorsieht. Punktuelle Entfernungen sind ebenso erkennbar wie neue Näherungen, namentlich zum Funktionssystem der Wirtschaft 28. Andere Funktionssysteme wie die Wissenschaft erkennen am Rückzug des Staates, was sie an ihm zur Gewährleistung ihrer Freiheit hatten und was sie an Freiheitssubstanz einbüßen könnten, wenn mit politischer Selbstverwaltung etwa der Universitäten unter betriebswirtschaftlichen Imperativen Ernst gemacht würde. 26 Luhmann, Soziale Systeme, S. 626 f.; Paul Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 183 Rdnrn. 23 ff., sieht allerdings den Staat als Resultat gemeinsamen Bürgerwillens. 27 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 411. 28

Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 24.

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VI. Konturverluste des Staates und Konsequenzen im Recht Die Gegenwartsgesellschaft denkt nicht mehr institutionell. Der Wert von Institutionen ist alles andere als selbstverständlich, entsprechende Argumente sind kaum salonfähig, heute müßte man wohl sagen: kaum „talk"- oder „chat"-fähig. Die Welt ändert sich womöglich zu rasch, um allzu viele Institutionen allzu lange verteidigen zu können. Vor allem aber scheint die individualisierte Wirtschaftsgesellschaft in einer noch nicht dagewesenen Weise sich selbst zu stabilisieren, gerade dort, wo besonders stark tradierte Institutionen durch als permissiv geltende Lebensstile in Frage gestellt werden. Sind es nicht gerade Länder wie Japan, deren Traditionsfundament bislang in einer entwickelten Wirtschaft ebenso als Vorteil angesehen wurde, wie das bestens ausgebaute Sozialversicherungs- und Arbeitsschutzsystem in Deutschland, die nun überraschend Entwicklungsprobleme bekommen? Steckt dahinter nicht auch eine antiquierte Staatsvorstellung, die im Staat immer noch den eigentlichen Ort gesellschaftlicher Gerechtigkeit zu finden hofft? Insofern könnte der Verfassungsstaat moderner Prägung für den einen oder anderen schon auf der schwarzen Liste der Standortnachteile stehen und den raschen Umbau gerade zur Erbringung derjenigen Leistungen rechtfertigen, die der Staat von Anfang an gewährleisten wollte. Wenn der Staat Institution nicht nur in einem deskriptiv sozialwissenschaftlichen Sinne wäre, sondern auch im Rechtssinne, dann müßten aus diesem Umstand Schlußfolgerungen zu ziehen sein. Institutionen, die das Recht entweder anerkennt oder sogar zum Teil seines Geltungssystems erhebt, genießen normativen Schutz, notfalls auch gegenüber dem Gesetzgeber oder einer Exekutive, die allzu entschlossen die öffentliche Gewalt in neue Formen lenkt und neue Bündnisse schmiedet. Der Staat dürfte sich dann aus Rechtsgründen nicht selbst aufgeben, weder als Völkerrechtssubjekt, noch als europäischer Mitgliedstaat, noch als Adressat innerstaatlich berechneter Verfassungen. Das Recht müßte wieder schärfer sehen, und das heißt, differenzieren lernen. Wer sonst sollte exakt erkennen, wo die Grenzen zwischen öffentlicher Aufgabe als Teil des Staates29 und individueller Freiheit als Teil der Gesellschaft verlaufen? Wer sonst sollte die Grenzen der Politik sichtbar machen, wenn entweder nur noch symbolisch gehandelt oder aber Gesetzen in planmäßiger Weise ein anderer Sinn zugrunde gelegt wird als im Inhalt ablesbar und in der Begründung ausgewiesen30? Die Politik darf nicht alles 29 Die Unterscheidung von öffentlichen Aufgaben und Staatsaufgaben hat sich nicht bewährt und entstammt einer Zeit, die schon mit dem ebenfalls fragwürdigen Begriff der Daseinsvorsorge dem Hineinwachsen des Staates in die Gesellschaft zu wenig Widerstände bot. Siehe Hans Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben, in: Festschrift für Nipperdey, Bd. II, 1965, S. 877 ff. 30 Ein Beispiel auf europäischer Ebene ist die Tabakwerbeverbots-RL 98/43/EG vom 6. Juli 1998; kritisch dazu Schneider, Tollhaus Europa, NJW 1998, 576f.; von Danwitz, Produktwerbung in der Europäischen Union, 1998, S. 36ff.; Di Fabio, Werbeverbote - Bewährungsprobe für europäische Grundfreiheiten und Grundrechte, Afp 6-1998, 564 ff. Ein deutscher Beitrag zum Thema ,»Falschetikettierung" scheint sich beim Ausstieg aus der Nutzung

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an Grenzverwischungen herbeiführen oder zulassen. Kooperation ist unentrinnbar, aber sie hindert nicht, Kompetenzen zu beachten und mit offenem Visier zu verhandeln und die Verantwortlichen für Ergebnisse klar zu benennen. Wenn öffentliche Gewalt systematisch ausgeübt wird, ist der Staat gefordert; eine Bestimmung wie Art. 33 Abs. 4 GG dient nicht nur dem Beamtentum, sondern den Bürgern durch den darin zum Ausdruck gebrachten sie schützenden Staatsvorbehalt31. Die in den Ländern zum Teil immer intensiver gepflegte Ausübung direkter Demokratie über Volksbegehren und Volksentscheid ist nicht nur ein Staatsbürgerrecht, Wahrnehmung von Individualrechten aus dem status activus, und schon gar nicht allein ein lockerer Vorgang in der Sphäre der Gesellschaft, sondern zugleich Ausübung von Staatsgewalt. Die Unterschriften für ein Volksbegehren, die abends in Gasthäusern oder früh morgens an zugigen Haltestellen von Aktivisten eingefordert werden, sind Teil eines Gesetzgebungsverfahrens, an dessen Ende die volonté générale und die Zustimmung zur kollektiv verbindlichen Freiheitseinschränkung steht32. Die Beachtung der Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie und die Wiederherstellung einer klareren Kompetenzverteilung in der MehrebenenDemokratie sind Rechtsgebote, um die Konsistenz einer sich sichtbar wandelnden Institution zu wahren. Soll dies gelingen, müßten die Rechtswissenschaft und die Staatstheorie wieder enger zusammenrücken. Vor allem hieße es, kühlen Kopf zu bewahren im täglich aufgeregten Wechsel der Stimmungen und Präferenzen, distanziert zu bleiben gegenüber modischen Trends, die inzwischen sogar das Fundament der Universitäten unterspülen. Zu diesem kühlen Kopf gehört ein aufgeklärter Umgang mit Institutionen, elastisch in der Reaktion auf neue Formen, beständig in der Verteidigung ihrer Grundidee. Man kann sich nicht an alte Begriffe klammern wie an Strohhalme, doch mit dem schnellen Verabschieden von Begriffen und Institutionen ist es auch nicht getan. Es ist ein Problem, daß die Moderne noch an ihrem Ausgang in einem Punkt ungebrochen erfolgreich ist: in der Ideologie ihrer Zeitlichkeit. Sie bleibt als Epoche dazu verurteilt, stets modern zu sein 33 , den Fortschritt der Tradider Kernenergie anzubahnen, zumindest wenn sich die Protagonisten des schnellen Ausstiegs unter Vermeidung jeder Entschädigungszahlung durchsetzen. 31 Das Berufsbeamtentum ist nicht um seiner selbst willen geschützt, sondern als eine der Funktionsvoraussetzungen des Staates. Der Staat wiederum ist auch nicht um seiner selbst willen existent, sondern für die Bürger. Dies wollte der Herrenchiemseer Verfassungsentwurf noch ausdrücklich in seinem Art. 1 vorausschicken, das Grundgesetz hat indes zwar nicht diesen Wortlaut, aber den darin zum Ausdruck gebrachten Geist in Art. 1 Abs. 1 GG aufgenommen, siehe Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III /1, S. 17. 32 Deshalb ist der Hinweis auf die Doppelnatur dieses Vorgangs wichtig: BVerfGE 96, 231 (240 f.). 33 Man kann nicht moderner als modern sein, an diesem Umstand scheitern bislang alle Diskontinuitätsbegriffe, wie die Rede von der Postmoderne. Am ehesten wird man den noch nicht begriffenen Übergang als „Transmoderne" vorläufig kennzeichnen können, aber auch dies nur mit dem Vorbehalt der Anführungszeichen. Eine etwas hilflose Reaktion ist die Proklamation der Zweiten Moderne - siehe etwa Ulrich Beck (Hrsg.), Kinder der Freiheit, in der Edition Zweite Moderne des Suhrkamp-Verlages - , obwohl dem zuzugeben ist, daß damit

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tion vorzuziehen, selbst wenn sie damit die geistigen Grundlagen ihres Daseins aufzehrt. Wenn wir schon den Konstruktionen der Moderne mißtrauen, warum nicht auch dem Fortschrittsmythos, der keineswegs auf technischen Fortschritt allein sich bezieht. Unsere Zeit hat den Glauben an den Glauben verloren. Die Moderne glaubte noch an ihre Konstruktionen. Unsere Zeit dagegen erkennt sie als Konstruktionen, sollte sie aber deshalb nicht in naiver Enttäuschung verschmähen. Die Gegenwart sollte vielmehr wissen, daß der durchaus nicht blinde Glaube an Institutionen deren Funktionsfähigkeit garantiert und die Grundlagen unserer Freiheit bewahrt.

auch künftige Epochen das Recht auf eine eigene Bezeichnung gewahrt sehen, wenngleich nur mit Hilfe einer aufsteigenden Ordnungsnummer.

Die Frage des Friedensvertrages mit Deutschland von Potsdam bis zur Wiedervereinigung Von Boris Meissner

Die Potsdamer Konferenz, die vom 17. Juli bis 2. August 1945 stattfand, war in erster Linie dazu bestimmt, die Politik der drei Siegermächte, der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und der Sowjetunion gegenüber Deutschland festzulegen. Es ging dabei nicht nur um die Grundsätze der gemeinsamen Besatzungspolitik, sondern auch um die Vorbereitung eines Friedensschlusses.1 Zu diesem Zweck ist auf amerikanischen Vorschlag die Bildung eines ständigen Rates der Außenminister (Council of Foreign Ministers - CFM) erfolgt, dem neben den „Großen Drei" auch Frankreich, das mit Vorbehalten dem Potsdamer Abkommen beitrat, und National-China angehören sollten. Der Rat der Außenminister hatte die vorbereitenden Arbeiten für einen Friedensschluß fortzusetzen und sich darüber hinaus aller Angelegenheiten anzunehmen, die zu gegebener Zeit gemäß Vereinbarung der am Rat beteiligten Regierungen an ihn verwiesen wurden. Als sofortige Aufgabe wurde von den Regierungschefs dem Außenministerrat die Ausarbeitung von Friedensverträgen mit den ehemaligen Verbündeten Deutschlands und von Vorschlägen für die Regelung strittiger europäischer Gebietsfragen übertragen. Als nächste Aufgabe war sodann die Ausarbeitung des Friedensvertrages mit Deutschland vorgesehen. Gemäß dem „Potsdamer Abkommen" war an eine gesamtdeutsche Friedensregelung gedacht, die von der künftigen Regierung des deutschen Gesamtstaates angenommen werden sollte. Die diesbezügliche Bestimmung lautet: „Der Rat wird zur Vorbereitung einer Friedensregelung für Deutschland benutzt werden, damit das entsprechende Dokument durch die für diesen Zweck geeignete Regierung Deutschlands angenommen werden kann, nachdem eine solche Regierung gebildet sein wird." 1

Zur Potsdamer Konferenz, den vorausgegangenen Vereinbarungen der Europäischen Beratenden Kommission (EAC) und den nachfolgenden Tagungen des Außenministerrates (CFM) zum Friedensvertrag mit Deutschland siehe die vom Verfasser herausgegebenen drei Bände über „Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage" (Völkerrechtliche Abhandlungen, Wien, Bd. 4), 1. Teil, Hrsg. Boris Meissner (mit Friedrich Klein) 1977; 2. Teil (mit Th. Veiter), 1987; 3. Teil (mit D. Blumenwitz und G. Gornig), 1996.

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Die spätere Übersetzung des Alliierten Kontrollrats, die den Ausdruck „friedliche Regelung" gebraucht, ist ungenau. Im englischen Originaltext ist von „preparation of a peace settlement" und nicht etwa „peaceful settlement" die Rede. Im russischen Originaltext wird von der „podgotovki mirnogo uregulirovaniju" gesprochen. Dieser Ausdruck meint das gleiche ,ist aber doppeldeutig. Aus den Äußerungen während der „Potsdamer Konferenz" geht hervor, daß mit dem Begriff „Friedensregelung" ein Friedensvertrag gemeint war. Von einem Friedensvertrag sind auch die anschließenden Tagungen das Außenministerrates ausgegangen. Die Qualifizierung der gesamtdeutschen Regierung, welche die Friedensregelung mit Deutschland annehmen sollte, als eine „für diesen Zweck geeignete Regierung" geht auf die amerikanische Einstellung in dieser Frage zurück. Die Vereinigten Staaten verstanden mit dem Ausdruck „geeignete Regierung" eine demokratisch legitimierte und zugleich „vertrauensvolle" Regierung. Sie gingen davon aus, daß ihre Bildung erst am Ende der Anfangsperiode der Kontrolle erfolgen würde. Bereits vor dem „Potsdamer Abkommen" stand aufgrund des „Zonenabkommens" fest, daß die Alliierten von einem Fortbestand des Deutschen Reiches in den auf den Stand vom 31. Dezember 1937 reduzierten Grenzen ausgingen, und damit „Deutschland als Ganzes" meinten. Nach einer Auseinandersetzung zwischen dem amerikanischen Präsidenten Truman und Stalin einigte man sich, von Deutschland des Jahres 1937 bei der Behandlung der territorialen Fragen auszugehen. Infolgedessen ist durch die in Potsdam gefaßten Beschlüsse eine Änderung des im „ Z o n e n a b k o m m e n " festgelegten Gebietsbestandes nicht eingetreten. Diese betrafen einerseits die Gebiete ostwärts der Oder und westlichen Neiße, andererseits die „Stadt Königsberg und das angrenzende Gebiet." Aus dem Wortlaut des „Potsdamer Abkommens" (Abschnitt IX B der „Mitteilung" und des „Protokolls") geht eindeutig hervor, daß nur eine Übertragung der Verwaltung, aber keine Abtretung der Oder-Neiße-Gebiete und Danzig an Polen erfolgt ist. Die Stadt Königsberg und das angrenzende Gebiet, d. h. das nordöstliche Ostpreußen, ist im „Potsdamer Abkommen" auf der gleichen rechtlichen Grundlage wie die Oder-Neiße-Gebiete unter die unmittelbare Verwaltung der Sowjetunion gestellt worden. Allerdings erklärten sich die westlichen Konferenzteilnehmer bereit, für eine Abtretung des nordöstlichen Ostpreußens auf der Friedenskonferenz einzutreten. Für ihre Nachfolger war diese Verpflichtung nicht bindend. Auf den Friedensvertrag mit Deutschland ist auf vier Tagungen des Außenministerrates eingegangen worden (Paris II 1946, Moskau und London 1947, Paris 1949), ohne daß eine Einigung zustande kam. Die Teilnahme Chinas an den Verhandlungen wurde von der Sowjetunion verhindert.

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Es war hauptsächlich neben der Bildung einer gesamtdeutschen Regierung die Frage der künftigen Ostgrenze Deutschlands, die eine Einigung verhinderte. Die Vereinigten Staaten und teilweise Großbritannien wollten den größeren Teil der Oder-Neiße-Gebiete bei Deutschland belassen. Vor allem war es der amerikanische Außenminister General Marshall,der auf der Moskauer Außenministerkonferenz 1947 für eine solche Lösung eintrat. 2 Nachdem der Außenministerrat infolge des verschärften Ost-West-Konflikts seine Aktionsfähigkeit einbüßte, kam es zu einer Wiederbelebung der ursprünglichen Außenministerkonferenzen, nunmehr unter Beteiligung Frankreichs. Im Hinblick auf die noch ausstehenden Friedensverträge übernahmen sie die Aufgaben, die im Potsdamer Abkommen dem Außenministerrat zugewiesen worden waren. Neben dem Friedensvertrag mit Österreich, der im Mai 1955 als „Staatsvertrag" abgeschlossen wurde, war die Frage des Friedensvertrages mit Deutschland von 1954 bis 1959 Gegenstand der Viermächtekonferenzen (Berlin 1954, Genf 1955, Genf 1959).3 Ein Fortschritt konnte auch auf der Gipfelkonferenz in Genf im Juli 1955 nicht erzielt werden. Nach dem Scheitern der Pariser Gipfelkonferenz im Mai 1960 ist es zu einer Diskussion über eine Friedensregelung für Deutschland nicht mehr gekommen. Sowohl von den Westmächten, als auch von der Sowjetunion wurde die ganze Zeit über an einem Friedensvertrag mit Deutschland, wenn auch mit einer gegensätzlichen Zielsetzung festgehalten. Von den Westmächten ist eine entsprechende Verpflichtung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zum Abschluß eines Friedensvertrages zwecks Wiedervereinigung im Artikel 7 des „Deutschlandvertrages" vom 26. Mai 1952 erfolgt. Artikel 7 lautet:4 Art. 7: (1) Die Unterzeichnerstaaten sind darüber einig, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, 2 Vgl. B. Meissner, George Marshall und die Gebiete östlich der Oder und der westlichen Neiße, in: Chr. Dahm, H.-J. Tebarth (Bearbeiter), George Marshall, Deutschland und die Wende im Ost-West-Konflikt, Bonn 1997, S. 13 ff. 3

Vgl. Zu den Viermächtekonferenzen N. Katzer, „Eine Übung im Kalten Krieg. Die Berliner Außenministerkonferenz von 1954", Köln 1994, und die vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung herausgegebene Dokumentation „Die Berliner Konferenz der Vier Mächte 1954"; M. Lindemann, Die deutsche Frage auf den Genfer Viermächtekonferenzen (Bonner Dissertation 1991), 1994; Zur Genfer Außenministerkonferenz 1959 und der Pariser Gipfelkonferenz 1960 vgl. die vom Verfasser herausgegebenen Dokumente zur Pariser Gipfelkonferenz, 3 Bde. (Sonderdruck aus der Zeitschrift „Internationales Recht und Diplomatie", 1960 und 1966). 4

D. Rauschning (Hrsg.): Rechtsstellung Deutschlands, Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte, 2. Aufl., München 1989, S. 47 f.; Vgl. hierzu W. G. Grewe, Deutschlandvertrag, in: W. Weidenfeld / R. Körte, Handbuch der deutschen Einheit, Bonn 1994, S. 234 ff.

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welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll. Sie sind weiterhin darüber einig, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß. (2) Bis zum Abschluß der friedensvertraglichen Regelung werden die Unterzeichnerstaaten zusammenwirken, um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich demokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist... Von der Sowjetunion ist der ausstehende Friedensvertrag mit der Behauptung hervorgehoben worden, daß die Beschlüsse des Potsdamer Abkommens angeblich nur in der DDR und nicht in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht wurden. Das Angebot der Bundesregierung der Großen Koalition, zweiseitige Gewaltverzichtsvereinbarungen zu treffen, 5 veranlaßte die Sowjetregierung auf die weiter fortbestehende Gültigkeit des Potsdamer Abkommens sowie die mit ihm verbundenen internationalen Vereinbarungen hinzuweisen, die infolge des fehlenden Friedensvertrages die „juristische Grundlagen" sowohl der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion, ebenso wie zwischen der BRD und den drei Westmächten bilden würden. 6 Bei den „Ostverträgen" der Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion und Polen von 1970 und dem Grundvertrag mit der DDR von 1972 ist der Friedensvertragsvorbehalt nicht ausdrücklich erwähnt worden. Er ergab sich aus der „Nichtberührungsklausel" der Verträge, die sich auch auf die internationalen Abmachungen Deutschland betreffend bezog. Trotz der Betonung des Friedensvertragsvorbehalts wurde es von den Westmächten und der Bundesrepublik Deutschland nicht für ratsam gehalten, den Entwurf eines Friedensvertrages auszuarbeiten. Man sah es für richtiger an, einzelne Stufen vorzusehen, die über den Abschluß eines Friedensvertrages zur Wiedervereinigung Deutschlands führen sollten. In diesem Sinne war der Eden-Plan von 1954 abgefaßt, 7 während der „westliche Friedensplan" von 1959 zugleich die Verbindung zu entsprechenden Sicherheits- und Abrüstungsmaßnahmen herstellte. Der eine Plan lag der westlichen Position auf der Berliner Außenministerkonfe5 Vgl. R. Schmoeckl /B. Kaiser, Die vergessene Regierung. Die große Koalition 1966 1969, Bonn 1991, S. 172 ff. und die Dokumentation des Presse- und Informationsamtes „Die Politik des Gewaltverzichts", Bonn 1968. Auf die Außenpolitik unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger ist Dirk Kraegal in einem Buch - Einen Anfang finden. Kurt Georg Kiesinger in der Außen- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition - 1998 eingegangen. Walter Leisner und der Verfasser gehörten während der Großen Koalition dem wissenschaftlichen Beratergremium des Planungsstabs im Bundeskanzleramt an. 6 Vgl. Das Memorandum der Sowjetregierung vom 21. November 1967, in: Die Politik des Gewaltverzichts (Anm. 5), S. 11. 7 Zum „Eden-Plan" vgl. Die Berliner Konferenz der Vier Mächte (Anm. 3), S. 19 f.

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renz, der andere auf der Genfer Außenministerkonferenz 1959 - nach dem BerlinUltimatum Ende 1958 - zugrunde. In beiden Fällen lagen diesen Plänen, die von sowjetischer Seite zurückgewiesen wurden, deutsche Entwürfe zugrunde. Dagegen hat die Sowjetunion durch Vorlagen von Grundsätzen eines Friedensvertrages mit Deutschland 19528 und 19549 sowie eines vollständigen Friedensvertrages 1959 versucht, Einfluß auf die Deutschlandpolitik im Sinne ihrer jeweiligen Zielsetzung zu nehmen. Während der Entwurf der Grundsätze aufgrund der StalinNote vom 10. März 1952 die Neutralität eines schwachen gesamtdeutschen Staates zum Ziel hatte, strebte der Friedens Vertragsentwurf Chruschtschows 1959 eine Aufrechterhaltung der Teilung Deutschlands in zwei Staaten an. Die „Stalin-Note" vom 10. März 1952 10 forderte den schnellsten Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland unter unmittelbarer Beteiligung einer gesamtdeutschen Regierung. Mit der Note war der Entwurf der Grundlagen bzw. Grundsätze eines solchen Friedensvertrages verbunden, der vom Gedanken der bewaffneten Neutralität eines deutschen Gesamtstaates ausging. In den politischen Leitsätzen war unter Punkt 1 vorgesehen: „Deutschland wird als einheitlicher Staat wiederhergestellt. Damit wird der Spaltung Deutschlands ein Ende gemacht, und das geeinte Deutschland gewinnt die Möglichkeit, sich als unabhängiger, demokratischer, firedliebender Staat zu entwickeln". Zum »Territorium 4 wurde erklärt: „Das Territorium Deutschlands ist durch die Grenzen bestimmt, die durch die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz der Großmächte festgelegt wurden." Deutschland sollte spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Friedensvertrages von sämtlichen Streitkräften der Besatzungsmächte geräumt werden. Von den Westmächten und der Bundesregierung ist der Verlauf des Notenwechsels, der durch die sowjetische Deutschlandnote vom 10. März 1952 ausgelöst wurde und zu einer zunehmenden Verhärtung der sowjetischen Haltung führte, als eine Bestätigung dafür angesehen worden, daß von sowjetischer Seite nur ein Störmanöver vorgelegen hat, um das Zustandekommen des Deutschlandvertrages und des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und damit die endgültige Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Bündnissystem und weitere Fortschritte der westeuropäischen Integration zu verhindern. Dies dürfte eines der Ziele der Disengagement-Politik gewesen sein, die von Stalin 8 Wortlaut: Die Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland um Wiederherstellung der Einheit Deutschlands, herausgegeben vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, 4. Aufl. 1958, S. 85 ff. 9 Zu den modifizierten Grundsätzen 1954 vgl. Die Berliner Konferenz der Vier Mächte (Anm. 3), S. 27 f. 10 Zur Stalin-Note vgl. B. Meissner, die Sowjetunion und die deutsche Frage 1949 - 1955, in: Sowjetunion. Außenpolitik 1917 - 1955 (Osteuropa-Handbuch), D. Geyer (Hrsg.), 1972, 5. 482 f.; G. Wettig, Die Deutschlandnote vom 10. März 1952, in: Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung Deutschlands bis zum Tode Stalins. Studien zur Deutschlandfrage, herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis, Bd. 13, 1994, S. 83 ff.

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1951/52, beraten durch Berija und Malenkow, verfolgt wurde. In dem sowjetischen Entwurf von Grundsätzen eines Friedensvertrages mit Deutschland waren außerdem Bestimmungen enthalten, die für die Gegenseite unannehmbar waren. Bei dem in der „Stalin-Note" enthaltenen Konzept handelte es sich somit nicht um eine grundlegende Veränderung der sowjetischen Deutschlandpolitik. Daher ist letzten Endes die seitdem wieder aufflammende Diskussion, ob von deutscher Seite eine Chance zur Wiedervereinigung in Verbindung mit dieser Note versäumt wurde, 11 müßig. Zu einem Kurswechsel in der sowjetischen Deutschlandpolitik ist es nach dem Tode Stalins 1953 nicht gekommen, da sich mit Chruschtschow ein Gegner einer Politik, die nationalen deutschen Interessen Rechnung trug, gegenüber Berija und Malenkow durchsetzte. 12 Eine Änderung konnte in dieser Einstellung, die auf der Zwei-Staaten-Theorie beruhte, auch bei den deutsch-sowjetischen Verhandlungen im September 1955 in Moskau durch Bundeskanzler Dr. Adenauer nicht erreicht werden. 13 Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen war jedoch mit zwei für den Friedensvorbehalt wichtigen Feststellungen verbunden: Erstens wurden von der Sowjetregierung zwei Vorbehalte 14 entgegengenommen. Der eine Vorbehalt betraf die Nichtanerkennung aller im osteuropäischen Bereich vollzogenen Gebietsveränderungen und damit auch der Annexion der deutschen Ostgebiete. Der andere Vorbehalt bezog sich auf den gesamtdeutschen Vertretungsanspruch der Bundesregierung. Diesen beiden Vorbehalten, die durch ihre Entgegennahme völkerrechtliche Gültigkeit erlangt haben, stellte die Sowjetregierung in einer TASS-Erklärung vom 15. September 1955 ihre Auffassung entgegen. Die erklärte darin, daß sie die Bundesrepublik ebenso wie die DDR als einen Teil Deutschlands betrachte. Die Frage der Grenzen Deutschlands sei durch das Potsdamer Abkommen gelöst worden. Diese TASS-Erklärung brachte die für die deutVgl. R. Steininger, Deutsche Geschichte 1945 - 1961, Bd. 2, 1983, S. 407 ff.; ders., Eine vertane Chance. Die Stalin-Note vom 10. März 1952 und die Wiedervereinigung, 1985. Dagegen außer Wettig, H. R Schwarz (Hrsg.): Die Legende von den verpaßten Gelegenheiten. Die Stalin-Note vom 10. März 1952, Stuttgart 1982; W. G. Grewe, Eine „Vertane Chance"? Neue Dokumente und Fehlinterpretationen zur Stalin-Note von 1952, in: Die politische Meinung, Heft 228, Sept./Okt. 1996, S. 19ff. 12 Vgl. B. Meissner, Die Deutschlandpolitik Chruschtschows, in: 50 Jahre sowjetische und russische Deutschlandpolitik sowie ihre Auswirkungen auf das gegenseitige Verhältnis, herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis (im Druck). 13 Zu den ersten deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau vgl. vom Verfasser, der als Leiter des neuerrichteten Referats „Sowjetunion" des Auswärtigen Amtes an ihnen teilnahm: B. Meissner, Adenauer und die Sowjetunion von 1955 bis 1959, in: Konrad Adenauer und seine Zeit, Bd. 2, Beiträge der Wissenschaft, Stuttgart 1972, S. 142 ff.; und die Dokumentation: B. Meissner, Moskau-Bonn. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland 1955 - 1973, 2 Bde., Köln 1975, hier Bd. 1, S. 11 ff. 14 Wortlaut: Meissner, Moskau-Bonn, Bd. 1 (Anm. 13), S. 124. Der territoriale Vorbehalt nahm auf den Friedensvorbehalt Bezug.

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sehe Seite günstigere Variante der Zwei-Staaten-Theorie zum Ausdruck, indem sie von zwei Staaten in Deutschland ausging. Zweitens wurde durch den Austausch gleichlautender Schreiben eine zweiseitige Vereinbarung erzielt. 15 In den Briefen wurde nachdrücklich betont, daß die Aufnahme diplomatischer Beziehungen „zur Lösung der ungeklärten Fragen, die ganz Deutschland betreffen beitragen und damit auch zur Lösung des Hauptproblems des deutschen Volkes, der Wiederherstellung eines deutschen demokratischen Staates verhelfen wird." Damit ist die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands als ein legitimes Ziel der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland von der Sowjetunion ausdrücklich anerkannt worden. Wenn die Möglichkeiten einer Verbesserung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses, die sich mit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen ergaben, nicht genutzt werden konnten, so lag es an der aggressiven Deutschlandpolitik Chruschtschows, die im Berlin-Ultimatum, im Friedensvertragsentwurf und im Bau der Berliner Mauer zum Ausdruck kam. Das Berlin-Ultimatum vom 10. November 1958 16 war darauf gerichtet, die staatsrechtlichen Bindungen West-Berlins an die Bundesrepublik zu beseitigen. West-Berlin sollte in eine selbständige „freie Stadt" umgewandelt und von den Westmächten geräumt werden. In einer Note vom 27. November 1958 wurden die Ausführungen Chruschtschows betreffend Berlin näher konkretisiert. Die mit den Westmächten seit dem Kriegsende bestehenden Viermächteabkommen, darunter das „ Z o n e n a b k o m m e n " , wurden aufgekündigt und zugleich erklärt, daß diese durch Verletzung des „Potsdamer Abkommens" und durch Verhinderung eines Friedensvertrages ihre Besetzungsrechte verwirkt hätten. Die Westmächte wiesen in einer Antwortnote vom 31. Dezember 1958 die sowjetische Argumentation als völkerrechtswidrig zurück, zumal die im Rahmen der Europäischen Beratenden Kommission (EAC) abgeschlossenen Vereinbarungen nicht vom „Potsdamer Abkommen" abhingen. Die Sowjetunion lenkte daraufhin ein. Chruschtschow erklärte auf einer Pressekonferenz am 19. März 1959, daß die Westmächte „legitime Rechte" hätten, sich in Berlin aufzuhalten, die in der Tatsache der Kapitulation Deutschlands im Ergebnis des gemeinsamen Krieges gegen Hitlerdeutschland begründet seien. Er forderte zugleich im Einklang mit der Note der Sowjetregierung vom 10. Januar 1959 eine Friedensregelung mit dem geteilten Deutschland und drohte bei einer Ablehnung, einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen, der zum Erlöschen der Besetzungsrechte in Berlin führen 15

Wortlaut: Meissner, Moskau-Bonn, Bd. 1 (Anm. 13), S. 122 f. Vgl. Meissner, Moskau-Bonn, Bd. 1 (Anm. 13), S. 35 ff. Angaben zum Schrifttum, Anmerkung 87. 16

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würde. Die Westmächte wiesen auch diese These zurück und erklärten, daß ein separater Friedensvertrag mit der DDR rechtlich „völlig wirkungslos" sei und ihre Besetzungsrechte in Berlin nicht aufheben könne. Die Note der Sowjetregierung vom 10. Januar 1959, welcher der Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland beigefügt war 17 , bildete den zweiten Zug in der Deutschlandoffensive Chruschtschows. Er erfolgte, nachdem der Friedensvertrag im Jahre 1958 auf sowjetische Veranlassung wieder Gegenstand eines Notenwechsels geworden war. In dem sowjetischen Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland kam die negative Wendung der sowjetischen Deutschlandpolitik deutlich zum Ausdruck. Verglichen mit den früher erwähnten Grundsätzen eines Friedensvertrages vom 10. März 1952 wies der Friedens Vertragsentwurf vom 10. Januar 1959 eine wesentliche Verschlechterung auf. Er stellte im Grunde genommen ein Friedensstatut und damit ein Friedensdiktat dar, das einem gevierteilten Deutschland auferlegt werden sollte, ohne daß ein gangbarer Weg zur Wiedervereinigung aufgezeigt wurde. Der Friedensvertragsentwurf, der eine Reihe von Bestimmungen enthielt, die das geteilte Deutschland zum Objekt von Maßnahmen der Sicherung und Besserung degradierten, sollte durch die Bundesrepublik Deutschland und die DDR und im Falle einer staatenbündischen Verbindung durch die deutsche Konföderation und die beiden deutschen Teilstaaten abgeschlossen werden. Angestrebt wurden eine De-jure-Anerkennung der Demarkationslinien an der Oder-Neiße und ElbeWerra als Staatsgrenzen, der deutsche Verzicht auf das östliche Deutschland und die Umwandlung West-Berlins in eine »freie Stadt'. Mit dem Inkrafttreten des Friedensvertrages sollte das automatische Ausscheiden der Bundesrepublik Deutschland aus der NATO und der DDR aus dem Warschauer Pakt verbunden sein und damit im Unterschied zum Entwurf der Grundsätze eines Friedensvertrages von 1952 eine Neutralisierung Deutschlands auf der Grundlage der Teilung herbeigeführt werden. Erst danach wurde eine Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen und ihre Beteiligung an einem späteren europäischen Sicherheitssystem in Aussicht gestellt. Über die künftige außenpolitische Vertretung West-Berlins war im Entwurf nichts enthalten. In innenpolitischer Hinsicht wies der Entwurf eine Reihe von Bestimmungen auf, die bei ihrer Verwirklichung einschneidende Änderungen des Grundgesetzes notwendig gemacht hätten. Auf Reparationen wurde verzichtet. Andererseits sollten durch eine Meistbegünstigungsklausel ohne zeitliche Begrenzung und ein Verbot jeglicher Diskriminierung im Außenhandel den Oststaaten die Möglichkeit geboten werden, an den Erfolgen der EWG zu partizipieren. 17 Wortlaut: Ebenda, S. 488 ff. Zum sowjetischen Friedensvertragsentwurf vgl. D. Blumenwitz, Die Grundlagen eines Friedensvertrages mit Deutschland, Berlin 1966; U. Scheuner, Der sowjetische Friedensvertragsentwurf vom Januar 1959, in: Recht in Ost und West, 3. Jg. 1959, S. 93 ff.

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Der Friedensvertragsentwurf vom 10. Januar 1959 ist vom sowjetischen Außenminister Gromyko als offizieller sowjetischer Vorschlag der Außenministerkonferenz in Genf im Sommer 1959 unterbreitet worden. Der amerikanische Außenminister Herter legte daraufhin den früher erwähnten „westlichen Friedensplan" 18, der nach ihm auch „Herter Plan" genannt wird, vor. Da die Sowjetunion zu einer Diskussion dieses Verfahrensplans, der in den frei vereinbarten Friedensvertrag einmünden sollte, nicht bereit war, lehnten es die Westmächte ab, auf den sowjetischen Friedensvertragsentwurf einzugehen. Die Viermächtekonferenz wurde abgebrochen, ohne daß es zu einer Vereinbarung über Berlin gekommen war. Erst nach der durch Chruschtschow ausgelösten zweiten Berlin-Krise, die zu Errichtung der Berliner-Mauer am 13. August 1961 führte, 19 konnte das Viermächte-Abkommen über West-Berlin vom 3. September 1971 20 erzielt werden. Es bildete, zusammen mit der gemeinsamen Bundestagsentschließung vom 17. Mai 197221 die Voraussetzung für die Ratifizierung der „Ostverträge", des „Moskauer Vertrages" vom 12. August 1970 und des „Warschauer Vertrags" vom 7. Dezember 1970 sowie den Abschluß des Grundvertrages mit der DDR vom 21. Dezember 1972.22 Mit dem Moskauer Vertrag war der „Brief zur deutschen Einheit" 23 verbunden. In der Note der Bundesrepublik Deutschland an die Westmächte vom 7. August 197024 wurde unter Hinweis, daß „eine friedensvertragliche Regelung noch aussteht", erklärt, daß beide Seiten davon ausgegangen sind, „daß der Vertrag die Rechte und Verantwortlichkeiten der vier Mächte" nicht berührt." 18 Wortlaut: Meissner, Moskau-Bonn, Bd. 1 (Anm. 13), S. 552 ff. 19 Vgl. Meissner, Moskau-Bonn, Bd. 2 (Anm. 13), S. 745 ff. Angaben zum Schrifttum Anmerkung 144; vgl. ferner H.-P. Schwarz (Hrsg.): Berlinkrise und Mauerbau, Bonn 1985. 20 Wortlaut: Rauschning (Anm. 4), S. 83 ff.; Zum Vier-Mächte-Abkommen über Berlin siehe D. Mahncke, Berlin im geteilten Deutschland, München/Wien 1973; Wortlaut des Abkommens, ebenda, S. 267 ff.; K Doehring/G. Ress, Staats- und völkerrechtliche Aspekte der Berlin-Regelung, 1972. 21 Wortlaut: Ebenda, S. 139 f. 22 Wortlaut der beiden Ostverträge, Ebenda, S. 121 ff., des Grundvertrages S. 163 ff.; Zu den Ostverträgen siehe Meissner, Moskau-Bonn, Bd. 2 (Anm. 13), S. 775 ff.; B. Zündorf, die Ostverträge. Die Verträge von Moskau, Warschau, Prag, das Berlin-Abkommen und die Verträge mit der DDR, 1979; C. Arndt, Die Verträge von Moskau und Warschau, 1982; A. Eitel, Die Ostverträge und die Einheit Deutschlands, in: D. Blumenwitz, G. Zieger (Hrsg.), 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 27 ff.; Zum Grundvertrag J. Hacker, Grundlagenvertrag, in: Weidenfeld-Korte (Anm. 4), S. 349ff.; Zum Grundvertragsurteil und seiner Bedeutung für die Auslegung der Ostverträge vgl. G. Zieger (Hrsg.), Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, Köln u. a. 1979; E. Klein, Bundesverfassungsgericht und Ostverträge, 2. Aufl. 1985. 23

Wortlaut: Rauschning (Anm. 4), S. 123.

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Zum Notenwechsel zu den Ostverträgen mit den Westverträgen siehe ebenda, S. 123 ff., 129 ff. 17 FS Leisner

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In der Note an die Westmächte betreffend den Warschauer Vertrag wurde außerdem betont, daß die Bundesrepublik nur für sich handeln kann. Seit dem Inkrafttreten der „Ostverträge" hat sich eine Diskussion über den Fortbestand des Friedensvertragsvorbehalts, an dem die jeweiligen Bundesregierungen weiter festhielten und der Frage, ob es opportun sei, eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland anzustreben, entwickelt. 25 Diese Diskussion gewann durch die Möglichkeit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands aufgrund der Wende in den deutsch-sowjetischen Beziehungen unter Gorbatschow, verbunden mit dem revolutionären Umbruch in Ostmitteleuropa und dem Zerfall der SED-Herrschaft in der DDR, eine besondere Bedeutung.26 Für die Bundesregierung kam es darauf an, den Einigungsprozeß ohne eine Einmischung der vier Mächte beschleunigt voranzutreiben. Daher war eine Viermächtekonferenz, eine KSZE-Konferenz über Deutschland sowie eine Friedenskonferenz aller Kriegsbeteiligten und somit Auflagen, die mit einem Friedensvertrag verbunden wären, zu vermeiden. Diese Auffassung wurde von amerikanischer Seite geteilt. Vom amerikanischen Außenminister Baker wurde ein Vorschlag seiner Berater aufgegriffen, der eine Sechserkonferenz der vier Siegeimächte und der beiden deutschen Staaten vorsah. 27 Ein ähnlicher Vorschlag ist zur gleichen Zeit Gorbatschow von seinen Beratern vorgelegt worden. 28 Für den Gedanken einer „Vier plus zwei-Konferenz" konnten auch die anderen Westmächte gewonnen werden. Außenminister Genscher erreichte bei seinen Gesprächen in Washington am 2. Februar 1990, daß der anfängliche Name in „Zwei plus vier"-Konferenz geändert wurde. 29 Damit wurde eine Diskriminierung der deutschen Seite ausgeschlossen. Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse stimmte diesem Plan unter der neuen Bezeichnung zu. 30 25 Vgl. J. Hacker, Die rechtliche und politische Funktion eines Friedensvertrages in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 50/87, S. 3. 26 Vgl. Deutschland im weltpolitischen Umbruch, herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis, Berlin 1993, insbesondere die Beiträge von Grewe, Meissner und Hacker. 27 Vgl. J. A. Baker, Drei Jahre, die die Welt veränderten, Berlin 1996, S. 175. 28 Vgl. A. Tschernajew, Die letzten Jahre einer Weltmacht. Der Kreml von innen, Stuttgart 1993, S. 296f.; M. Gorbatschow, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 714f. 29 Vgl. H.-D. Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 718. 30

Der damalige sowjetische Botschafter Valentin Falin übt in seinen „Politischen Erinnerungen", München 1993, S. 490 f. scharfe Kritik an Schewardnadse, daß er die Formel „Zwei plus vier" entgegen der ihm erteilten Weisung übernommen hat. Er hat seine Kritik an der Deutschlandpolitik Gorbatschows und Schewardnadses in seinem Buch „Konflikte im Kreml" zum Ausdruck gebracht. Zur Vorgeschichte der deutschen Einheit und Auflösung der Sowjetunion, München 1997 noch verschärft.

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Schewardnadse erklärte, „daß er bereits bei seinem Amtsantritt 1986 erkannt habe, daß die Lösung der für Europa zentralen deutschen Frage die Überwindung der Teilung der deutschen Nation erfordere." Gorbatschow hat sich diese Auffassung allmählich ebenfalls zu eigen gemacht. Er schwankte zunächst in der Frage, in welcher Form die Wiedervereinigung erfolgen sollte, sprach sich aber dann entschieden dafür aus, daß die anstehenden Fragen von den Deutschen selbst verantwortungsvoll gelöst werden sollten. Dies war aus der Mitteilung über die Gespräche zu ersehen, die von ihm mit Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher am 10. Februar 1990 in Moskau geführt wurden. 31 In der Mitteilung wurde betont, daß die deutsche Frage „nur im gesamteuropäischen Kontext und unter Berücksichtigung der Sicherheit und des Interesses sowohl der Nachbarn als auch anderer Staaten gelöst werden kann". Im Zusammenhang mit der „ Z w e i plus vier"-Konferenz, 32 die diesem Zweck diente, betonte Gorbatschow in einem „Prawda"-Interview vom 21. Februar 1990 die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland. Die Aufgabe des „Zwei plus vier-Mechanismus" würde sein, „alle äußeren Aspekte der deutschen Wiedervereinigung umfassend und stufenweise zu erörtern und die Frage der Einbeziehung in den gesamteuropäischen Prozeß und in die Diskussion der Grundlagen für einen künftigen Friedensvertrag mit Deutschland vorzubereiten." Diese Äußerung Gorbatschows zeigt, daß er zu diesem Zeitpunkt an dem Gedanken eines Friedensvertrages festhielt. Der Fortgang der „Zwei plus vier"Verhandlungen entzog ihm immer mehr den Boden. Es war Valentin Falin, der nach seiner Abberufung als sowjetischer Botschafter in Bonn als ZK-Sekretär Leiter der Internationalen Abteilung der KPdSU geworden war, der am Gedanken des Friedensvertrages festhielt, den er sich gegebenenfalls auch in Form eines „Helsinki 2" vorstellen konnte. Falin strebte, zunächst im Einklang mit Gorbatschow, die Neutralität eines wiedervereinigten Deutschland, das auf keinen Fall der NATO angehören durfte, an. Dafür trat auch Hans Modrow mit seinem Stufenplan zur Herstellung einer Föderation der beiden Staaten ein. 33 31 Vgl. H Teltschik, 329 Tage, Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 137 ff.; ff. Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit, Berlin 1996, S. 267 ff., Genscher (Anm. 29), S. 722. 32 Zu den „Zwei plus vier"-Verhandlungen, R. Kiesler/F. Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken. Der diplomatische Weg zur deutschen Einheit, Baden-Baden 1993; Chr.-M. Brand, Souveränität für Deutschland. Grundlagen, Entstehungsgeschichte und Bedeutung des Zwei plus vier-Vertrages; J. Hacker, Integration und Verantwortung, Bonn 1995; Zur amerikanischen Haltung vgl. außer den Erinnerungen Bakers, M. R. Beschloß/S. Talbot, Auf höchster Ebene. Das Ende des Kalten Krieges und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989 1991, 1993; V. A. Walters, Die Vereinigung war voraussehbar. Hinter den Kulissen eines entscheidenden Jahres, 1994; R Zelikow /Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1993; R. Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, 2. Aufl. Paderborn 1998, S. 587. 33 Vgl. H. Modrow, Die Perestroika, wie ich sie sehe, 2. Aufl. Berlin 1998, S. 110. 17*

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Obgleich Gorbatschow mit seinem Plan anfangs einverstanden war, rückte er beim Besuch Außenminister Bakers Anfang Februar 1990 von den mit ihm verbundenen Bedingungen ab. Die DDR-Regierung paßte sich diesem Wandel an. Dies veranlaßte Falin zu schreiben: 34 „Es ist paradox - nicht nur der Westen, sondern auch unser Verbündeter versucht, die Sowjetunion zu überzeugen, daß das vereinigte Deutschland der NATO beitreten müsse, daß ein Friedensvertrag nicht notwendig sei und Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD eigentlich der logischste Weg zur Überwindung der Spaltung des Landes wäre ..." Er fügte hinzu: „Wenn wir erklärten, daß ohne Friedensvertrag unsere Rechte als Siegermacht im vollen Umfang erhalten bleiben, dann brächte das viele zur Vernunft und regte die Deutschen dazu an, nicht hinter dem Rücken der UdSSR, sondern gemeinsam mit ihr nach Lösungen zu suchen." Da die Einbeziehung eines wiedervereinigten Deutschland in die NATO im Politbüro besonders umstritten war, trat Gorbatschow für eine Doppelzugehörigkeit Deutschlands zur NATO und zum Warschauer Pakt ein. Einen entsprechenden Vorschlag machte er bei seinem Besuch in Washington Ende Mai 1990. Nach der Ablehnung machte er sich eine vom Präsidenten Bush vorgeschlagene Kompromißformel zu eigen. In ihr wurde die Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland in der NATO bejaht, zugleich aber erklärt, daß auch eine andere Entscheidung toleriert würde, falls Deutschland eine andere Lösung vorziehen sollte. 35 Die Friedensvertragsforderung bildete weiterhin für die Kritiker in der sowjetischen Führung einen Hebel, um gegen die Deutschlandpolitik Schewardnadses Stellung zu beziehen. Ihr starker Einfluß machte sich in der Rede Gorbatschows anläßlich der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1990 bemerkbar, in der er erneut einen Friedensvertrag mit Deutschland forderte. Falin gab bei seinem Besuch in Ost-Berlin am 18. Mai 1990 mehrere Interviews, in denen er ausführlich die Friedensvertragsforderung wiederholte. Sein Mitarbeiter Portugalow erklärte, daß ein Friedensvertrag ein „logischer und auch notwendiger Abschluß der „Zwei plus vier"-Verhandlungen sei." Portugalow teilte mit, daß er bei der Ausarbeitung eines Friedensvertragsentwurfs im Kreml beteiligt gewesen sei. 36 Die auf deutscher Seite vertretene Ansicht, daß Moskau die Bedingung, einen Friedensvertrag abzuschließen, aufgegeben hätte, traf somit nicht zu. Auch war Gorbatschow infolge des Widerstandes im Politbüro weiterhin nicht bereit, einer Zugehörigkeit des wiedervereinigten Deutschland zur NATO zuzustimmen. Nur die Forderung nach einer Neutralität Deutschlands war von ihm fallen gelassen worden. 34 Falin (Anm. 30), S. 175 f. 35 Vgl. Baker (Anm. 27), S. 226. 36 Vgl. Biermann (Anm. 32), S. 587; Zur Rolle Portugalows vgl. E. Kuhn (Hrsg.), Gorbatschow und die deutsche Einheit, Bonn 1993, S. 128.

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Eine Wendung brachte der Gedanke eines umfassenden zweiseitigen Vertrages über Gewaltverzicht und Zusammenarbeit, der von Bundeskanzler Dr. Kohl dem neuen sowjetischen Botschafter Kwizinskij am 23. April 1990 vorgeschlagen wurde. 37 Mit dem politischen Vertrag sollte ein weitreichendes Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit verbunden sein. Außerdem wurde der Sowjetführung ein Finanzkredit in Aussicht gestellt. Der Vorschlag eines „Großen Vertrages" ist im Rahmen einer außenpolitischen Expertengruppe im Bundeskanzleramt entwickelt worden. 38 Auf die Möglichkeit eines Friedensvertrages, die das Bundeskanzleramt zeitweilig beunruhigte, 39 ist sie nicht eingegangen. Horst Teltschik, der außenpolitische Berater des Bundeskanzlers, der mit einer Delegation, die sich der Frage des Finanzkredits widmete, am 13. Mai 1990 Moskau aufsuchte, konnte Gorbatschow die Bedeutung des „Großen Vertrages" für die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem wiedervereinigten Deutschland nahebringen. 40 Das Vertragsprojekt erleichterte dem sowjetischen Präsidenten die Zustimmung zur Einbeziehung von ganz Deutschland in die NATO, gegen die sich Falin bis zuletzt sträubte. Von entscheidender Bedeutung war, daß es Gorbatschow auf dem XXVIII. Parteitag der KPdSU Anfang Juli 199041 gelungen war, sich nicht nur gegenüber seinen Kritikern und Gegnern unter den Spitzenfunktionären und hohen Militärs durchzusetzen, sondern auch seine Machtstellung in der Partei wesentlich zu stärken. So waren die Voraussetzungen gegeben, um beim anschließenden Staatsbesuch von Bundeskanzler Kohl bei den Gesprächen in Moskau und dem privaten Aufenthalt im nordkauksischen Heimatgau Gorbatschows, eine Einigung in allen wichtigen offenen Fragen, darunter der Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschland in der NATO zu erzielen. 42 37 Vgl. J. A. Kwizinskij, Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, Berlin 1993, S. 19; Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München 1998, S. 1026 ff. Die Einführung zur Sonderedition ist von Hanns Jürgen Küsters. 38 Der Vorschlag eines großen zweiseitigen Vertrages in Verbindung mit dem Gedanken eines gesamteuropäischen Gewaltverzichtvertrages ist vom Verfasser als Mitglied der „Expertengruppe" gemacht worden, vgl. Teltschik (Anm. 31), S. 192 f.; Sonderedition (Anm. 37), S. 154; Die Londonder Erklärung der NATO vom 6. Juli 1990 über eine gegenseitige Gewaltverzichterklärung mit dem Warschauer Pakt entsprach dem zweiten Vorschlag. Auch die Charakterisierung als „Großer Vertrag" (russ.: Bolschoj dogowor) stammt vom Verfasser. Angela Fischer schreibt in ihrem Buch „Entscheidungsprozeß zur deutschen Wiedervereinigung", Frankfurt a. M. 1996, S. 236: „Der Vorschlag Kohls für einen bilateralen Vertrag war für den Verlauf der Verhandlungen mit der Sowjetunion elementar." 39 Vgl. Sonderedition (Anm. 38), S. 115, 122 ff., 161.

«o Vgl. Teltschik (Anm. 31), S. 232 ff. 41 Zum Verlauf und den Ergebnissen des XXVIII. Parteikongresses der KPdSU, der sich als der letzte Parteitag der KPdSU erweisen sollte, vgl. B. Meissner, Die KPdSU zwischen Macht und Ohnmacht, in: „Osteuropa" 41. Jg., 1991, S. 15 ff.

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Vom Augenblick der Vereinigung an sollte Deutschland in vollem Umfange souverän sein. Ein besonderer Friedensvertrag wurde nach einer vertraglichen Bestätigung der bestehenden Grenzen nicht mehr für erforderlich gehalten. Ein Abzug der im östlichen Teil Deutschlands stationierten sowjetischen Truppen wurde bei einer gleichzeitigen vereinbarten Begrenzung der deutschen Streitkräfte auf 370000 Mann im Verlauf von vier Jahren zugesagt. Bis zu diesem Zeitpunkt sollten im ehemaligen DDR-Gebiet nur deutsche Streitkräfte, die nicht in Bündnisstrukturen integriert waren, stationiert werden. Aufgrund dieses Einvernehmens wurde auch ein Durchbruch bei den „Zwei plus vier"-Gesprächen, die seit der Tagung in Berlin nicht recht vorankamen, erzielt. Sie machten die Unterzeichnung des „Zwei plus vier"-Vertrages am 12. September 1990 in Moskau möglich. Er wurde als „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" bezeichnet.43 Der Abschluß des Einigungsvertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR war am 31. August 1990 vor ihm erfolgt. 44 Der „Zwei plus vier"-Vertrag ist kein Friedensvertrag. Er stellt jedoch aufgrund bestimmter Regelungen, zu denen die Hinnahme der Oder-Neiße-Grenze als Ostgrenze des wiedervereinigten Deutschland gehört, einen Ersatzfrieden dar. 45 Eine Ergänzung bildet für ihn der deutsch-polnische Grenzvertrag vom 14. November 1990.46 Die Wiedervereinigung ist somit mit dem Verlust eines Viertels des territorialen Bestandes Deutschlands in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 erkauft wor42 Zu den Verhandlungen in Moskau und Archys vgl Sonderedition (Anm. 37), S. 188 ff.; M S. Gorbatschow, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 724 f.; Derselbe, Gipfelgespräche, Berlin 1993, S. 161 ff.; Kohl (Anm. 31), S. 421 ff.; Genscher (Anm. 29), S. 828 ff.; Biermann (Anm. 32), S. 676ff.; vgl hierzu auch H. Klein, Es begann im Kaukasus. Der entscheidende Schritt in die Einheit Deutschlands, Berlin 1991. Nach Schewardnadse trug die bilaterale Diplomatie zum Erfolg der multilateralen Diplomatie wesentlich bei. Die Bedeutung des „Großen Vertrages" für die sowjetische Zustimmung zur NATO-Frage ist den Amerikanern, die entschieden dafür eintraten, wie die Memoiren Bakers zeigen, nicht bewußt gewesen. 43 Wortlaut: BGBl. 1990 I I S. 1318; K Stern/B. Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Bd. 3, Zwei plus vier-Vertrag, Partnerschaftsverträge, EGMaßnahmenpaket mit Begründungen und Materialien, 1991; Kaiser (Hrsg.), Deutschlands Einigung. Die internationalen Aspekte, Bergisch Gladbach 1991, S. 260 ff. 44 Wortlaut: BGBl. 1990 II S. 889, vgl. K Stern/B. Schmidt-Bleibtreu, Bd. 2, Einigungsvertrag und Wahlvertrag 1990; D. Rauschning, Der deutsch-deutsche Staatsvertrag als Schritt zur Einheit Deutschlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 33 /1990, S. 3 ff. 45 Vgl. G. Gornig, Der Zwei plus vier-Vertrag uner besonderer Berücksichtigung grenzbezogener Regelungen, in: Recht in Ost und West, 35. Jg., (1991), S. 97 ff.; E. Klein, Zwei plus vier-Vertrag und deutsche Verfassungsgebung, in: Wandel durch Beständigkeit. Studien zur deutschen und internationalen Politik. Jens Hacker zum 65. Geburtstag, Berlin 1998, S. 101 ff. 46 Wortlaut des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vom 14. November 1990: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 16. 11. 1990, Nr. 134, S. 1394; Kaiser (Anm. 43), S. 358 ff. Vgl. hierzu B. Kempen, Die deutsch-polnische Grenze nach der Friedensregelung des Zwei plus Vier-Vertrages, Frankfurt a.M. 1997

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den. Zur Erreichung des im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Ziel war die Wiedervereinigung ohne diesen hohen Preis nicht zu erreichen. 47 Der zweiseitige „Große Vertrag", der wesentlich zum erfolgreichen Abschluß der äußeren Seite der Wiedervereinigung beigetragen hat, ist am 13. September 1990 in Gestalt des Vertrages „über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit" zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken von den Außenministern paraphiert worden. Er wurde am 9. November 1990 von Gorbatschow bei seinem zweiten Staatsbesuch in der Bundesrepublik Deutschland zusammen mit Bundeskanzler Kohl unterzeichnet. 48 Gleichzeitig wurde der Vertrag „Über umfassende Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Industrie und Technik" 49 zwischen den beiden Staaten abgeschlossen. Bereits vor den beiden umfassenden Verträgen waren am 12. Oktober 1990 der Vertrag „Über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland" und das Abkommen „Über einige überleitende Maßnahmen" von Außenminister Genscher und dem sowjetischen Botschafter in Bonn, W. P. Terechow, unterzeichnet worden. 50 Die Ratifizierung der deutsch-sowjetischen Verträge wurde trotz fortbestehender Kritik im März 1991 durch den Obersten Sowjet der UdSSR zum Abschluß gebracht. Vom Unionsparlament wurde die Ratifizierung als ein „Akt von historischer Bedeutung, der eine neue Epoche eines stabilen Friedens und einer großangelegten Zusammenarbeit zwischen dem sowjetischen und deutschen Volk", bewertet. 51 Die Ratifikation der deutsch-sowjetischen Verträge durch den Deutschen Bundestag erfolgte am 25. April 1991. Das Vertrags werk behielt seine Gültigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion für die Russländische Föderation als „Fortsetzerstaat". 47

Vgl. D. Rauschning, Die nationalen und die internationalen Prozeduren zur Herstellung der Staatseinheit, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII. Die Einheit Deutschlands - Entwicklung und Grundlagen, 1995, S. 153 ff. 48 Wortlaut: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 15. 11. 1990, Nr. 133, S. 1397 ff.; Kaiser (Anm. 43), S. 334 ff.; Die Ansprache Gorbatschows bei der Unterzeichnung des zweiseitigen Vertrages - „der große" - wie manche ihn bereits getauft haben am 9. November 1990, in: Beilage zu „Sowjetunion heute", Dezember 1990, Nr. 12, S. II. 49 Wortlaut: Bulletin, Ebenda, S. 1382 ff.; Kaiser (Anm. 43), S. 346 ff. so Wortlaut: Bulletin vom 17. Oktober 1990, Nr. 123, S. 1281 ff.; Beilage zu „Sowjetunion heute", Dezember 1990, Nr. 12, S. 1. 51 TASS vom 4. 3. 1991; Kwizinskij, dem als Stellvertretenden Außenminister die Begründung für die Ratifizierung zufiel, war der Überzeugung, daß der „Große Vertrag" den Titel, mit dem er in die Geschichte eingegangen ist, in vollem Maße verdient hat. Vgl. Kwizinskij (Anm. 37), S. 94. Von den Bestimmungen des Vertrages hob er die Verpflichtung zum Nichtangriff besonders hervor.

250

Boris Meissner

Die Vier Mächte hatten am 1. Oktober 1990 vor der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 auf die weitere Wahrnehmung ihrer Rechte und Verantwortlichkeiten verzichtet. 52 Durch den Abzug der sowjetischen Truppen aus der ehemaligen DDR im April 1994 gewann die Bundesrepublik Deutschland faktisch auch die volle Souveränität über ihr ganzes Staatsgebiet.

52

Wortlaut der „Erklärung zur Aussetzung der Wirksamkeit der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten abgegeben von den Außenministern Frankreichs, der Sowjetunion, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten am 1. Oktober 1990 in New York", Kaiser (Anm. 43), S. 310f.

La peine et la loi dans l'Ancien Droit français Par Yvonne Bongert

La peine est, pour Ferrière, «le châtiment qu'on fait souffrir à ceux qui ont commis quelque crime ou quelque faute» 1 et, plus brièvement encore, pour Guyot, «la punition d'un crime» 2. Ces auteurs, dans l'acception qu'ils donnent à ce terme, traduisent la conception prépondérante jusqu'aux dernières années de l'Ancien Régime selon laquelle la première fin de la peine était la rétribution 3. Dès l'Antiquité cependant d'autres fins avaient été assignées à la peine, notamment l'amendement et la prévention (l'on connaît la célèbre phrase de Sénèque, inspirée de Platon: nemo prudens punitur quia peccatum est sed ne peccetur). C'est donc Jousse qui nous paraît le mieux définir la peine lorsqu'il écrit: «Les peines sont les diverses punitions qu'on fait souffrir aux malfaiteurs, soit pour les corriger, soit pour les châtier de leurs crimes et empêcher qu'ils n'y retombent»4. Ce sont là, en effet, les trois fins principales reconnues à la peine jusqu'à nos jours: l'amendement, la rétribution et la prévention, assurée par l'exemplarité. Cette dernière n'était certes pas absente de notre Ancien Droit: il suffit, pour s'en convaincre, de rappeler le caractère public des exécutions capitales ainsi que la note d'infamie attachée à des peines telles que le pilori ou le carcan qui exposaient le coupable à la vindicte de la foule pendant plusieurs heures, un jour de marché. La rétribution apparaissait néanmoins comme primordiale car c'était la faute qui était prise en considération: il s'agissait de punir le coupable en proportion de cette faute et non du dommage occasionné. A la veille de la Révolution cependant, lorsque l'utilitarisme professé par les philosophes des Lumières eut pénétré la pensée juridique, la seule justification reconnue à la peine fut l'exemplarité, dans un but de défense sociale 5 . 1

Dictionnaire de droit et de pratique, Paris 1771, v° Peine. Répertoire universel et raisonné de jurisprudence civile, criminelle et bénéficiale, Paris 1784, v° Peine. 3 Voir Y. Bongert , «Le juste et l'utile dans la doctrine pénale de l'Ancien Régime», Archives de Philosophie du droit, t. 27 (1982), p. 291 - 347. 4 Traité de la justice criminelle de France, Paris 1771,1.1, p. 36. 5 Citons par exemple Boucher d'Argis, Observations sur les loix criminelles de France, Amsterdam 1781, p. 125: «... L'objet des supplices est d'empêcher le coupable de nuire à la société et de détourner ses concitoyens de crimes semblables»; voir aussi Servan, Discours sur l'administration de la justice criminelle, Genève 1767; M. V * * * (Vermeil), Essai sur les 2

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Yvonne Bongert

Quelle que soit la fin de la peine invoquée par les uns ou par les autres, précisons qu'il ne s'agira ici que de peines proprement dites, à l'exclusion de la question, simple moyen de preuve, même si certains y voyaient aussi une peine parce qu'elle faisait souffrir celui qui y était soumis. Si nous en venons maintenant à la loi, suivant en cela nos anciens auteurs, nous nous attacherons au critère matériel, non au seul critère formel de celle-ci. C'est dire que nous prendrons en considération non seulement les prescriptions de l'autorité royale 6 soumises à la publication et rédigées suivant certaines formes mais également les règles, elles aussi impératives, s'imposant toutefois sans déclaration expresse: «Dans l'état actuel des loix», écrit Denisart, «nous en avons en France de quatre différentes espèces; 1°, les Ordonnances; 2°, les Coutumes, qui sont nos loix propres; 3°, ce que nous observons du droit romain; 4°, le droit canonique»7. Le terme «ordonnances» était pris d'abord dans un sens très général et désignait toutes les dispositions législatives émanant du roi 8 . Dans le dernier état du droit ces ordonnances revêtaient trois formes principales: les ordonnances sans adresse ni sceau, les arrêts du Conseil9 et les lettres patentes. Les premières se présentaient sous une forme impersonnelle, ne comportaient pas d'adresse et le sceau du royaume n'y était pas apposé, sauf rares exceptions. Elles commençaient par la formule: «De par le Roy» 10 et concernaient «l'organisation de la Maison du roi, de son Conseil, des Académies, de l'armée, de la marine, des colonies»; elles se référaient souvent à la police, au sens large, mais non aux matières de justice ni de finances 11. réformes à faire dans notre législation criminelle, Paris 1781; Is. ïselin, Considérations sur les loix et les tribunaux, Basle 1782: «... il n'existe que deux sortes de punitions, celles qui ont pour but l'amendement du coupable et celles qui tendent à le priver du pouvoir de nuire, et dont l'exécution doit servir à prévenir l'effet des suites que son mauvais exemple pourroit produire dans la société». Quant à Brissot de Warville qui, dans sa Théorie des loix criminelles, 1.1, Neuchatel - Paris 1781, p. 128, définit la peine comme «une expiation de la peine par le coupable», il entend par là la réparation du tort fait à l'intérêt général ou à celui des particuliers et, un peu plus loin (p. 132) il dit «Toute peine doit donc être utile ou proscrite». 6 Denisart, Collection de décisions nouvelles et de notions relatives à la jurisprudence actuelle, t. III, Paris 1773, v° Loix: «On nomme loix des règles établies par le souverain pour le gouvernement et la police des peuples soumis à son autorité». 7 Ibid. 8

Guy Coquille, Institution au droit des François, in Œuvres, t. II, 1666, p. 2: «L'un des principaux droits de la Majesté et autorité du Roy est de faire Loix et Ordonnances générales pour la police universelle de son royaume». 9 Fr. Olivier-Martin, Histoire du droit français des origines à la Révolution, Paris, DomatMontchrestien 1951, p. 348. 10 Ibid. n Ibid. Et l'auteur continue: «On n'a pu élucider entièrement les origines de ces textes caractéristiques. Il y a des raisons de penser que le roi emploie cette forme péremptoire quand il veut manifester catégoriquement son autorité et être obéi, sans discussion ni retard, dans les matières intéressant au plus haut point sa prérogative».

La peine et la loi dans l'Ancien Droit français

253

D'autres étaient prises dans la forme d'un arrêt du Conseil; la procédure en était très simple puisque l'arrêt n'était ni scellé ni soumis à l'enregistrement des cours. Echappant ainsi à leur contrôle, ce type d'arrêts suscitait leur hostilité. C'est pourquoi les rois, surtout aux XVIIe et XVIIIe siècles, désireux d'éviter d'incessants conflits, les revêtaient de lettres patentes12, forme qui était d'ailleurs celle de la très grande majorité des ordonnances. Les lettres patentes peuvent être définies comme des lettres du roi, rédigées en la grande Chancellerie, scellées du grand sceau et contresignées par un secrétaire d'Etat. On les appelait patentes parce qu'elles étaient ouvertes, à la différence des lettres closes ou de cachet qu'on ne pouvait lire sans les ouvrir 13 . Elles comportaient une adresse au nom du roi 1 4 , suivie d'un préambule (très important car il indiquait les raisons qui avaient déterminé le souverain à légiférer 15), d' un dispositif dans lequel le roi s'exprimait à la première personne du pluriel (pluriel de majesté); elles se terminaient enfin par une formule exécutoire et par l'annonce du sceau16. Parmi ces ordonnances prises en forme de lettres patentes l'on distinguait d'abord les ordonnances proprement dites, qui étaient des règlements généraux portant sur une ou plusieurs matières, la justice principalement, et intervenaient d'ordinaire sur les plaintes et doléances des Etats Généraux 17, sur les remontrances des magistrats ou à la prière de particuliers; y appartenaient aussi les édits que le roi donnait de son propre mouvement pour servir de loi à ses sujets sur une certaine matière 18 et les déclarations par lesquelles le roi déclarait sa volonté «sur l'exécution d'un édit ou d'une ordonnance précédente pour l'interpréter, changer, augmenter ou diminuer» 19 . Les ordonnances et les édits, qui se présentaient avec les mêmes formes diplomatiques, étaient scellés du grand sceau de cire verte 20 et datés 12 Fr. Olivier-Martin, 13

op. cit., p. 350 - 351.

Guyot, op. cit., v° Lettres patentes. 14 Par exemple «Louis, par la grâce de Dieu roi de France et de Navarre, à tous ceux qui ces lettres verront, salut» (ou bien: «... à tous, présents et à venir, salut»). 15 Citons, par exemple, le préambule de la Déclaration de 1639 en matière de mariage qui est un texte de haute politique, inspiré par Richelieu: «Comme les mariages sont les séminaires des états, la source et l'origine de la société civile, et le fondement des familles, qui composent les républiques, qui servent de principes à former leurs polices, et dans lesquelles la naturelle révérence des enfants envers leurs parens, est le lien de la légitime obéissance des sujets envers leur souverain: aussi les rois nos prédécessuers ont jugé digne de leur soin, de faire des loix de leur ordre public, de leur décence extérieure, de leur honnêteté et leur dignité ... » 16 Fr. Olivier-Martin, op. cit., p. 349. 17 Telle l'ordonnance de Blois de 1579 relative à la police générale du royaume. Lorsque les Etats-Généraux ne furent plus réunis, les Ordonnances furent généralement prises sur les remontrances des magistrats ou après consultations multiples et minutieuse préparation. Voir Ferrière, Dictionnaire de Droit et de Pratique, Paris 1771, v° Ordonnances royaulx et Fr. Olivier-Martin, op. cit, p. 350. 18 Guyot, op. cit., v° Ordonnance. 19 Ibid. 20

Signe de perpétuité.

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Yvonne Bongert

seulement du mois et de l'année. Les déclarations, scellées de cire jaune étaient, elles, datées du jour, du mois et de l'année21.Ces ordonnances, édits et déclarations en forme de lettres patentes n'avaient effet que du jour où ils avaient été enregistrés au Parlement 22. Personne n'a jamais contesté aux ordonnances, dans les différentes acceptions du terme, le caractère de lois du roi. Il n'en était pas de même des autres espèces de loix citées par Denisart, notamment des coutumes. Celles-ci, d'après le même auteur, avaient une autorité particulière, chacune étant bornée dans l'étendue de la province ou du lieu où elle s'observait 23. Leur assimilation aux lois était toutefois discutée et discutable. Jean Bodin ne l'admettait pas, faisant remarquer que «la loy peut casser les coustumes, et la coustume ne peut deroger à la loy» et il ajoute: «La coustume n'a force que par souffrance, et tant qu'il plaist au Prince souverain, qui peut faire une loy, y adjoustant son homologation». Et, conclut-il, «par ainsi toute la force des loix civiles et coustumes, gist au pouvoir du Prince souverain» 24. Plusieurs auteurs, du XVIIIe siècle notamment, tels Ferrière et Denisart, reconnaissent pourtant à la coutume force de loi tout en observant que les coutumes ont une autorité particulière et non universelle et qu'en cas de contrariété la loi doit prévaloir sur la coutume, ce qui n'empêche pas Ferrière d'affirmer que la coutume peut corriger la loi et même l'abroger, dans la seule hypothèse, il est vrai, de désuétude de la loi 2 5 . Le droit romain avait la même autorité que la coutume. Il était en effet observé comme coutume en plusieurs provinces dont on disait qu'elles étaient régies par le droit écrit 26 , c'est-à-dire par le droit romain. 21

Fr. Olivier-Martin, op. cit., p. 350. Ayrault, Les plaidoyers de feu Mr Ayrault vivant lieutenant criminel au siege présidial d'Angers avec les arrêts donnés sur iceux, publiés à la suite de L'ordre, formalité et instruction judiciaire, Lyon 1642, p. 504, Plaidoyé XIV: «J'ai prins plaisir, en la préfacé que j'ai intitulée De origine et auctoritate rerum judicatarum au devant de nos Décrets et jugemens de toute l'Antiquité, de monstrer l'excellence et l'utilité de cet ordre et police Françoise, que les Ordonnances ayent de soy peu de vertu, quelque lecture et publication qui en ait esté faicte, sinon qu'elles se voyent suyvies et confirmées par jugemens et arrests des Cours Souveraines»; Guyot, op. cit., v° Edit et v° Enregistrement; Marion, Dictionnaire des institutions de la France aux XVIIe et XVIIIe siècles, Paris, Picard, 1968, v° Lettres patentes. 23 Denisart, op. cit., v° Loix, n. 17; Ferrière, op. cit., v° Coutume, définit celle-ci comme étant «un droit non écrit, un droit municipal de quelque lieu, de quelque ville, de quelque contrée et de quelques pays, introduit par l'usage, du tacite consentement de ceux qui s'y sont volontairement soumis; et cet usage, après avoir été observé pendant un temps considérable, a force et autorité de Loi». 24 Les six livres de la République, Paris 1583, réimp. anast. Scientia Aalen 1961, Liv. 1er, Ch. X, p. 222. 25 Ferrière, op. cit., v° Coutume; Denisart, op. cit. v° Loix et v° Coutume, n. 39. 26 Denisart, op. cit., v° Loix, n. 19. Denisart, ibid., reconnaissait cependant au droit romain un autre usage, s'étendant en France à toutes les provinces et comprenant toutes les matières: «Il consiste en ce qu'on observe par-tout les décisions qu'il contient, non pas précisément parce qu'elles sont écrites dans le droit romain, qui ne fait loi pour nous, qu'autant 22

La peine et la loi dans l'Ancien Droit français

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Le droit canonique, écrit Denisart, «contient un très grand nombre de règles que nous observons, mais i l s'en trouve aussi que nous rejetons». Parmi celles qui sont observées en France Denisart cite, par exemple, tous les canons qui concernent la foi et les moeurs et aussi un très grand nombre de constitutions qui regardent la discipline ecclésiastique, ajoutant même qu'en ont été adoptées, qui ne regardent que la police temporelle. Mais, continue-t-il «nous en rejetons d'autres, ou parce qu'elles ne sont pas conformes à nos usages, ou parce qu'elles sont contraires au droit et aux libertés de 1' Eglise de France». 27 Parmi les diverses sortes de lois énumérées par Denisart ne figurent pas les arrêts de règlement, qui étaient des arrêts pris par les Cours souveraines en forme de règlement. Le caractère législatif de ces derniers était discuté par nos anciens auteurs et i l l'est encore de nos jours par les historiens du droit. La Roche-Flavin 2 8 et Charondas Le Caron 2 9 au X V I e siècle étaient déjà d'avis différents. A u X V I I I e siècle cependant on s'accorde généralement pour considérer que les arrêts rendus en forme de règlement «doivent être observés comme loix dans le ressort des Cours qui les ont rendus» 3 0 parce qu'ils sont faits «sous le bon plaisir de Sa Majesté, comme étant, à cet égard, les dépositaires du pouvoir souverain du Prince» 3 1 . qu'il plaît au prince, mais parce qu'elles sont fondées sur la justice et la raison, qui sont les bases de la loi universelle». 27 Ibid. 28 Treze Livres des Parlemens de France, Bordeaux 1617, Livre XIII, Ch. XXIII: «Quelque pouvoir et authorité souveraine, que les Roys ayent donné aux Parlemens, toutesfois ils se sont reservez cinq actes de haute, ou supreme souveraineté; à sçavoir faire loix, créer Officiers, arbitrer la paix et la guerre, avoir le dernier ressort de la justice, et forger monoye. Lesquels cinq droits sont du tout inséparables de la personne du souverain, et tellement attachez à la souveraineté, que quiconque en entreprend aucun, entreprend quand et quant la souveraineté, et est coulpable de leze Majesté». L'auteur ajoute que le roi «permet à ses principaux Officiers, soit des Cours Souveraines, soit des villes, de faire des reglemens, chacun au faict de leurs charges: qui ne sont pourtant que provisoires, et faicts soubs le bon plaisir du Roy: auquel seul appartient faire loix absolues, et immuables». 29 Pandectes ou Digestes du Droict françois, Œuvres, t. II, 1637, Ch. V, De l'Equité: «Je sçay bien toutesfois que les cours souveraines qui jugent sous l'auctorité du Roy, ont puissance d'interpréter, modérer et suppléer les Loix et Ordonnances: et sont leurs Arrests, principalement ceux qui décident les causes en général, suivis, et tirez en exemple et conséquence, tellement qu'ils ont effect de loy et constituent un droict universel et c'est à cause de la souveraineté que le Roy a départie à ses Parlemens et Conseils souverains». 30

Denisart, op. cit., v° Arrêt, n. 9. Ferrière, op. cit., v° Arrest de Règlement. Voir aussi Guyot, op. cit., v° Arrêt: «Les parlemens font quelquefois, dans des assemblées de toutes les chambres, des réglemens, soit sur la procédure, soit sur des questions de droit ecclésiastique ou civil: Ces réglemens, faits sous le bon plaisir du roi, doivent tenir lieu de loi dans tous les tribunaux ecclésiastiques ou séculiers du ressort du parlement aussi long-temps que sa majesté n'ordonne rien au contraire: c'est pourquoi on les envoie dans ces tribunaux pour y être publiés comme les édits, ordonnances ou déclarations du roi». Ailleurs cependant (v° Loi), il précise: «Les réglemens que les cours et les autres tribunaux font sur les matières de leur compétence, ne sont point des Loix proprement dites, et ne sont que des explications qu'ils donnent pour l'exécution des Loix, et ces réglemens sont toujours censés faits sous le bon plaisir du roi, et en attendant 31

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Les historiens modernes, ceux au moins qui ont sérieusement étudié la question, adoptent une position très nuancée sur le caractère législatif de l'arrêt de règlement. Le droit de l'Ancien Régime, en effet, n'était pas la création d'esprits cartésiens: il s'était formé peu à peu de façon pragmatique et répugnait à s'inscrire dans des catégories rigides. C'est pourquoi François Olivier-Martin, tout en admettant que les arrêts de règlement manquent du caractère de généralité attaché au concept de loi, estime cette objection de peu de poids car on pourrait en dire autant de certaines lois émanées du roi 3 2 . Cela ne l'empêche pas de reconnaître qu'il s'agit là d'actes législatifs subordonnés, rendus, explicitement ou tacitement, sous le bon plaisir du roi, limités dans leur portée et ne pouvant jamais aller à l'encontre des lois générales du roi sous peine de cassation33. On peut rappeler à cette occasion le lit de justice du 7 décembre 1770 au cours duquel le Chancelier affirme que les Parlements n'ont qu'à appliquer les lois et l'édit alors enregistré qui reprend la formule employée par Louis XV à la séance du Parlement du 3 mars 1766, dite de la «flagellation»: «à moi seul appartient le pouvoir législatif sans dépendance et sans partage» 34. Dans sa thèse Les arrêts de règlement du Parlement de Paris au XVIIIe siècle 35, qui constitue une véritable somme sur la question, Philippe Payen se montre tout aussi nuancé qu'Olivier-Martin et, s'il y consacre bien plus de développements, sa position est assez voisine de celle adoptée par ce dernier. Pour lui, en effet, l'arrêt de règlement participe de la loi 3 6 . Son autorité est cependant limitée dans le temps car il s'agit d'une mesure provisionnelle 37; elle l'est aussi dans l'espace, son application se bornant au ressort de la Cour souveraine qui l'a qu'il lui plaise manifester sa volonté». Nous avons trouvé un certain nombre d'arrêts de règlement des XVIIe et XVIIIe siècles qui ne paraissent pas avoir été de simples explications pour l'exécution des lois et qui, en cas de transgression, prévoyaient des peines pouvant aller jusqu'à celle des galères (19 janv. 1633, Arch. nat, AD III 29, pièce 99) ou même jusqu'à la mort (15 mars 1632, AD III 29, pièce 95; 6 juillet 1663, AD III 29, pièce 144). Voir aussi, parmi des arrêts portant des peines moindres ou se référant simplement à celles prévues par des injonctions précédentes: 18 fév. 1634, AD III 29, pièce 105 et 11 août 1768, AD III 31, pièce 147. 32 Les Lois du Roi, Les Cours de Droit, D.E.S. de Droit public 1945 - 46, p. 160. 33 Id., p. 164- 166. L'auteur fait remarquer que ce qu'il appelle des «ordonnancements subordonnés», en utilisant une expression qui lui paraît avoir cours chez les publicistes modernes, occupent une place importante dans la vie juridique de l'ancienne France «La loi du roi règne dans une sphère élevée, parfois peu accessible; elle ne peut, sans compromettre son prestige, ni se répéter sans cesse, ni descendre dans trop de détails. C'est le rôle précisément des décisions réglementaires des cours de justice de renouveler et d'animer la loi par un contact continu avec des réalités». 34 Voir Fr. Olivier-Martin, L'absolutisme français, Les Cours de Droit, D.E.S. de Droit public 1950-51, p. 144. 35 Paris, P.U.F. 1997. La seconde partie de l'ouvrage doit paraître ultérieurement. 36 Id., p. 465. 37 Id., p. 461 - 464: tout le monde s'accorde pour y voir une mesure provisionnelle, jusqu'à ce que le roi en ait décidé. Il ne faudrait pas cependant donner à ce caractère provisoire une acception temporelle: certains arrêts de règlement ont eu une durée d'application fort longue.

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rendu 38 ; elle l'est enfin dans son exercice, l'arrêt de règlement ne pouvant porter, d'après le Chancelier Lamoignon, que sur l'observation et l'exécution des lois. 39 Ce que nous venons de dire vaut essentiellement pour la période où le pouvoir royal a légiféré dans notre domaine, c'est-à-dire les trois derniers siècles de l'Ancien Régime. Dans ce cadre, notre propos est de rechercher quels étaient les rapports entre le peine et la loi. Pour qu'une peine pût être considérée comme juste, suffisait-il qu'elle fût conforme à la loi ou ne devait-elle pas, en outre, répondre à d'autres exigences ? Depuis le Moyen Âge les auteurs ont eu la préoccupation de la peine juste: on la voit déjà apparaître chez Beaumanoir 40 et, bien sûr, dans la doctrine savante, mais c'est surtout à partir du XVIe siècle qu'elle hante véritablement les juristes. La question néanmoins n'est pas suffisamment étudiée, c'est pourquoi il nous a paru intéressant de l'aborder dans cet article. La tâche n'est pas facile car la lecture des auteurs ne suffit pas, il faudrait la compléter par des recherches approfondies dans la jurisprudence des Parlements et dans celle du Conseil du roi, ce que le cadre d'un simple article ne permet malheureusement pas. Tel que nous l'avons posé, ce problème des rapports entre la peine et la loi peut sembler paradoxal dans un système n'obéissant pas au principe qui est aujourd'hui le nôtre: celui de la légalité des peines. Pour nous en expliquer nous allons étudier successivement en trois parties qui paraissent exclusives les unes des autres, l'arbitraire des peines, la souveraineté de la loi; enfin les exigences supérieures de la justice. I. L'arbitraire des peines 7. Comment il faut ïentendre Tout le monde connaît la maxime de l'Ancien Droit: «en France les peines sont arbitraires». Celle-ci toutefois est le plus souvent mal comprise et on lui prête une portée qu'elle n'a jamais eue. L'adjectif «arbitraire», pris dans le sens péjoratif que nous lui connaissons aujourd'hui, pouvait aussi avoir cette acception, comme nous le verrons dans certaines lettres de Daguesseau mais, en l'occurrence, il signifiait simplement que les peines étaient laissées à l'arbitrage du juge. C'est bien ainsi que l'adage est entendu par les historiens du droit et, de façon plus générale, par les personnes cultivées. 38

Id., p. 477: «Le ressort est ( . . . ) un cadre impérieux pour l'activité réglementaire». 9 Id., p. 467.

3

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Coutumes de Beauvaisis, éd. Salmon, Paris Picard 1900, T. II, n. 18; voir aussi Summa de legibus Normanniae, éd. Tardif, Paris, 1896, cap. III, 3: Justicia quandoque dicitur pene irrogatio pro merito; T.A.C. de Bretagne, éd. Planiol, Rennes 1896, n. 99 et 334. Sur ce sujet cf. Yvonne Bongert, Le juste et l'utile dans la doctrine pénale de l'Ancien Régime, Archives de Philosophie du Droit, T. 27, Paris Sirey 1982, p. 291 - 347, notamment p. 296 - 298.

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Il en va différemment lorsqu'il s'agit de l'opinion publique et même des étudiants de nos Universités, qui sont persuadés que les peines étaient abandonnées au bon plaisir du juge. Une erreur plus fréquente encore que la précédente est d'attribuer à la maxime une portée générale et absolue qu'elle n'avait pas. Outre qu'elle ne s'appliquait pas au niveau des juges de première instance, qui étaient «juges de rigueur» parce que l'on doutait de leurs lumières, elle n'était pas admise en cas de contumace car alors, comme le dit Daguesseau, «tout est de rigueur» 41. Elle existait en revanche (hors le cas de contumace, bien entendu) au niveau des cours supérieures, notamment des Parlements. La raison en était l'équité, au sens aristotélicien du terme, c'est-à-dire la justice sous sa forme la plus achevée, la plus parfaite, parce que la loi, qui est générale, n'a pu prévoir, comme le fait remarquer Guyot, les circonstances du crime, l'ignorance qui souvent l'accompagne, ni les motifs qui le déterminent 42 . On a donc été contraint, ainsi que l'avait noté Jean Bodin «de laisser le tout à la conscience et religion des juges pour la variété infinie des causes, des temps, des lieux, des personnes: laquelle infinité ne peut estre comprise en lois ny ordonnances quelconques»43, ce qu'affirme aussi La Roche-Flavin44. Il s'agissait, en bref, de proportionner la peine au crime. C'est ce qu'entre autres affirme Jousse: «si le cas est du nombre de ceux qui n'ont pas été prévus par les loix, ou que les circonstances particulières en changent la nature, ils [les juges] doivent suivre les loix de l'équité, et leur conscience, pour prononcer une peine qui soit exactement proportionnée à la nature du crime» 45 . Mais cette liberté laissée au juge était enserrée dans d'assez étroites limites.

2. Ses limites Il est à remarquer tout d'abord la condition posée par Jousse: «si le cas est du nombre de ceux qui n'ont pas été prévus par les loix» Déjà, au XVIe siècle, Charondas le Caron, se référant à Platon, avait affirmé: «l'office du juge estre de juger des cas singuliers selon la règle et disposition des loix establies par le Roy, et la science et puissance des juges estre de garder et exécuter les Loix, comme minist41

Lettre XCVII du 3 janv.1730, Lettres sur les matières criminelles et sur les matières civiles, in Œuvres, T. VIII, Paris, chez les Libraires associés, 1774, p. 135. 42 Op. cit., v° Equité. 43

Op. cit., Liv. III, Paris 1583, réimpr. anast. Aalen 1961, p. 442.

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Op. cit., Bordeaux 1617, Liv. XIII, ch. LXI, XIII: «Laquelle [équité] n'est autre chose, que la loy mesme declarée par raison naturelle, qui tempère la loy, et y adjouste la bonté de nature dicte en droit ( . . . ) pour y suppléer ce que le Législateur eust faict, s'il eust pensé aux cas particuliers qui sy présentent. Lesquels comm'ils sont infinis, aussi n'ont peu estre comprins es mots exprès de la disposition de la loy». 45

Op. cit., T. II, p. 591. Voir aussi par ex. Daguesseau, Mémoire qui suit la lettre XXXVII du 20 juillet 1733, Lettres sur les matières criminelles, in Œuvres, T. IX, p. 80.

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res de la Majesté Royale»46. Or, même dans cette hypothèse de silence de la loi, les juges étaient tenus, encore que la règle pût souffrir des exceptions, par l'usage des tribunaux 47. D'autre part, comme l'avait souligné La Roche-Flavin au XVIe siècle, la liberté des juges ne leur permettait pas d'aller jusqu' à la mort 48 . Le Chancelier Daguesseau dira, lui aussi, au XVIIIe siècle: « . . . pour être en état d'exercer la puissance de vie et de mort, il faut que l'esprit et la lettre de la loi concourent également en faveur du Juge»49. S'agissant de questions qui ne sont point clairement décidées par la loi, c'est au roi qu'il appartient de les trancher. Bodin l'avait indiqué lorsqu'il écrivait que «sous cette puissance de donner et de casser la loy, est aussi comprise la déclaration et correction d'icelles» 50 . Quant à Daguesseau, il énonce comme une règle de jurisprudence «que dans les matières qui sont de rigueur, un cas omis par la loi ne peut pas être suppléé par le Juge»51 et déclare que les questions qui n'ont pas été élucidées par la loi «ne peuvent régulièrement être bien réglées que par l'autorité d'une loi nouvelle qui fixe et détermine le sens de la première» 52. De même, au lit de justice du 7 décembre 1770, le Chancelier qui affirme - nous l'avons vu - que les Parlements n'ont qu'à appliquer les lois, ajoute: «C'est à la puissance qui les a établies d'en éclaircir les obscurités par des lois nouvelles»53. L'arbitraire des peines apparaît donc, en définitive, étroitement enserré et limité par la loi. Comme l'avait dit Pussort, lors des Conférences préparatoires aux Ordonnances de 1667 et 1670: «Il n'y a personne qui ne sçache, que le Juge ne fait pas le droit, mais seulement qu'il le déclare. Il en est le dispensateur et non pas le maître: la puissance et la souveraineté sont en la loy, et non pas en luy» 54 .

46 Op. cit., T. II, Liv. I, ch. III, p. 7. 47 Jousse, op. cit., 1.1, p. 38; T. II, p. 598. 48

Op. cit., Liv. XIII, ch. LXIX, IV: «Il n'y a que le Prince souverain qui puisse apposer à ses Edicts la peine de mort ( . . . ) Et la clause de la peine arbitraire apposée aux Ordonnances des Magistrats, et Gouverneurs, ne s'estend jamais jusques à mort inclusivement». 4 9 Lettre XX du 17 octobre 1729, op. cit., T. IX, p. 46. 50 Op. cit., Liv. 1er, ch. X, p. 223. De même Charondas le Caron écrit, op. cit., in Œuvres, T. II, 1637, ch. V, p. 20: «Si la loy est si clairement escrite, qu'il n'y ayt doute en la sentence d'icelle, c'est au seul Souverain de la corriger, et modérer la rigueur qu'on y pourrait trouver». Toute interprétation n'est pas pour autant refusée au juge, comme l'admettent nos deux auteurs, à certaines conditions cependant. Bodin continue en effet: «mais le Magistrat peut ployer la loy, et l'interprétation d'icelle, soit en douceur, soit en rigueur, pourveu qu'en la ployant il se garde bien de la casser, encore qu'elle semble fort dure; et s'il fait autrement, la loy le condamne comme infâme» (ibid.). 51 Lettre XX du 17 octobre 1729. Voir supra n. 49. 52

Lettre XXX du 7 février 1731, Lettres sur les matières criminelles, op. cit., T. IX, p. 64. Fr. Olivier-Martin, L'absolutisme français, Les Cours de Droit, D.E.S. de Droit public 1950-51, p. 144. 54 Procez verbal des conférences tenues par Messieurs les Commissaires du roy et messieurs les Députez du Parlement, pour l'examen des Articles proposez pour la composition de 53

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II. La souveraineté de la Loi 1. Le principe Ainsi que le dit encore Pussort au cours de la même discussion sur le Titre I de l'Ordonnance de 1667, «Le Roy est le seul législateur dans son Royaume»55. Mais la France d'Ancien Régime était, pour employer une expression très en vogue aujourd'hui, «un Etat de droit».Malgré la formule «car tel est notre plaisir», qui signifiait simplement «car telle est notre volonté», le roi n'agissait pas selon son bon plaisir, c'est-à-dire selon son caprice. Certes trouve-t-on invoqué l'adage romain: «Princeps legibus solutus est» sur lequel les juristes ont longuement épilogué mais, comme le fait remarquer François Olivier-Martin, il n'était pas entendu dans le sens que le roi aurait été affranchi des lois mais signifiait seulement qu'il n'était pas lié par les lois de ses prédécesseurs. Dans la pratique en effet les rois acceptaient de se courber «sous la civilité des lois» tant que celles-ci n'avaient pas été expressément abrogées56. Comme l'écrit Guyot: «... le roi, à son sacre, fait serment d'observer les lois; ce qui signifie qu'il se conformera en toutes choses à la justice et à l'équité, et aux lois subsistantes»57. Etienne Pasquier, au XVIe siècle, avait déjà souligné que si la loi était son œuvre, une fois en vigueur elle s'imposait au roi lui-même: «Grande chose véritablement et digne de la Majesté d'un Prince, que nos Roy s (ausquels Dieu a donné toute puissance absolue) ayent d'ancienne institution voulu réduire leurs volontez sous la civilité de la loy: et en ce faisant, que leurs Edits et Décrets passassent par l'alambic de cet ordre public» 58 . Une lettre du Chancelier Daguesseau confirme que le roi est tenu par les lois qu'il a établies. Il s'agissait d'un noble qui voulait obtenir un sauf-conduit pour son frère. Le Chancelier lui répond: «Il n'est point d'usage d'accorder des saufconduits en matière criminelle; et surtout quand il y a une condamnation prononcée contre celui qui le demande. Il serait encore plus extraordinaire d'en accorder dans un cas dont le Roy s'est privé lui-même du pouvoir d'y faire grâce» 59. Le principe est donc, selon la formule employée par Pussort, que «la puissance et la souveraineté sont en la Loy», et celui-ci ajoute un peu plus loin «Que le Juge étant fait pour la Loy et non la Loy pour le Juge, il étoit bien plus honnête que le l'Ordonnance civile, du mois d'Avril 1667 et de l'Ordonnance criminelle du mois d'Aoust 1670, A L'Isle, chez Guillaume Barbier, Libraire et Imprimeur, M. DC.XCVII, p. 394. 55 Id., p. 396 (en réalité p. 400 en raison d'une erreur de pagination). 56 Histoire du Droit français . . . , p. 346, n. 268. 57

Op. cit., v° Ordonnance. Les Recherches de la France, Paris 1665, Liv. II, ch. VI, p. 58. 59 Lettre CCXX du 1er septembre 1739, op. cit, T. VIII, p. 335. 58

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Magistrat obéit à la Loy dont il est ministre, que la Loy au Magistrat dont elle est la Supérieure» 60. C'est ce dont nous allons voir maintenant l'application en examinant les domaines dans lesquels le juge criminel doit obéir à la loi et la sanction qu'il encourt s'il ne le fait pas.

2. Son domaine en matière criminelle Les domaines dans lesquels le juge criminel doit obéir à la loi sont essentiellement la compétence, la procédure et la peine. Pour qu'une peine soit juste il faut d'abord qu'elle ait été prononcée par un juge compétent. Ainsi que l'énonce Daguesseau (toujours dans ses Lettres civiles et criminelles qui sont une véritable mine en ce qui concerne notre sujet): «Il n'y a point de plus grand défaut que celui de pouvoir, et la nullité essentielle qui en découle forme un droit acquis aux accusés»61. Selon lui encore, dans les affaires criminelles,: «la première chose qui doit être certaine est la compétence du juge afin qu'il ne s'expose pas à rendre un jugement qui décide de la vie ou de la mort d'un homme dans le temps que son autorité peut justement être révoquée en doute»62. En second lieu une peine ne peut être juste que si elle a été prononcée à la suite d'une procédure régulière, aussi le Chancelier Daguesseau estime-t-il «qu'on ne sçauroit porter trop loin la régularité de la procédure en matière criminelle» 63 car les formalités sont nécessaires à la protection des accusés. Ayrault l'avait bien vu qui avait dit: «Justice gist en formalité» 64. Daguesseau développe cette idée toujours dans l'une de ses lettres: «... plus la forme de procéder dans les instructions criminelles estrigoureuse pour les accusés, plus il est juste d'avoir égard aux nullités écrites dans l'Ordonnance, dont ils peuvent se servir pour combattre le Jugement qui les condamne»65; et il poursuit : «la justice et la règle doivent l'empêcher [l'emporter?] sur tout autre motif lorsqu'on est réduit à exercer la triste fonction de Juge»66 car, dit-il encore: «La Loi répond des inconvéniens qu'on éprouve quelquefois en la suivant, mais l'homme est responsable de ceux qui arrivent lorsqu'on s'est écarté de la règle» 67 . Le Chancelier, mais aussi le Procureur Général se montrent donc extrêmement sourcilleux s'agissant des formalités prescrites par la loi et qui auraient été omises. Ainsi le Procureur Général Guillaume-François Joly de Fleury écrit-il au Chance60

Procez verbal des Conferences . . . , p. 394. 61 Lettre XVII du 29 Juillet 1746, op. cit., T. VIII, p. 29 62 Lettre XX du 17 Octobre 1729, op. cit., T. IX, p. 46. 63 Lettre CVIII, du 19 Avril 1742, op. cit., T. VIII, p. 151. 64

L'ordre, formalité et instruction judiciaire, Lyon 1642, Liv. I, art. 1er, n. 2 p. 3. 65 Lettre CXXI du 9 Mars 1744, op. cit., T. VIII, p. 182. 66 Ibid. 67 Lettre CXXI du 30 Mars 1729, op. cit., T. IX, p. 207. 18*

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lier (qui n'était autre alors que Daguesseau) le 28 août 1730 au sujet d'un greffier commis dans une procédure criminelle qui n'avait pas prêté serment: «Suivant les principes ordinaires [art. 7 du titre V I de l'Ordonnance de 1670], tout greffier doit avoir prêté serment avant que de pouvoir instrumenter, surtout dans les matières criminelles. Ainsi l'excuse qu'on allègue que celui-cy étoit le commis du greffier est si frivole que je ne comprends pas qu'on ait jamais pu l'alléguer. Si c'est l'usage du Présidial dont il s'agit, c'est un usage si contraire aux règles qu'on ne peut trop tôt l'abolir. Qu'un commis qui n'a pas prêté serment puisse instrumenter sur la foy du Greffier qui l'a presté et qu'il représente c'est soutenir qu'il dépend d'un Greffier de communiquer son serment à qui il luy plaist, c'est rendre illusoire la formalité du serment» 68. A l'occasion de cette même affaire, Daguesseau déclare qu'il résulte de ce défaut de prestation de serment «une nullité si essentielle et si absolue que le Roi même ne pourrait y suppléer sans blesser les règles les plus inviolables de la justice» 69 . Mais s'il y a lieu de se montrer pointilleux s'agissant de la nécessité pour le Greffier de prêter serment, a fortiori doit-on l'être lorsqu'il est question de preuve. Aussi, comme le remarque l'auteur - anonyme - de l'avertissement en tête du tome IX des œuvres du Chancelier Daguesseau: «La punition des délits et l'instruction nécessaire pour en acquérir la preuve a été regardée dans tous les temps comme un des objets les plus importants de la législation»70. Car, dit Daguesseau: «après tout, il vaut mieux ne pas condamner un coupable que de le condamner sur une preuve qui ne peut pas véritablement mériter ce nom» 71 . Or, on sait que l'Ancien Droit était très exigeant en matière de preuve. Le système des preus légales empêchait bien souvent le juge de condamner: «toute preuve», écrit encore Daguesseau, «qui n'est pas revêtue de la forme nécessaire devant être regardée dans les vrais principes comme si elle n'existait pas, elle ne peut jamais servir de fondement à une condamnation légitime» 72 et, à une autre occasion, il fait cette injonction au juge: «Soyez donc plus attentif à ne condamner que sur des preuves bien claires, et à vous conformer exactement aux règles établies par les Déclarations du Roi» 73 . Car, peu importe la conviction du juge, il ne suffit pas qu'il croie à la culpabilité de l'accusé comme homme, il faut qu'il en soit convaincu comme juge. C'est encore ce qu'affirme Daguesseau avec la plus grande netteté: «Ou la preuve du crime est complété ou elle ne l'est pas. Dans le premier cas il n'est pas douteux qu'on doit prononcer la peine portée par les Ordonnances. Mais dans le dernier cas, il est 68 B. N., Collection Joly de Fleury 1013, fol. 143 - 144. 69 Lettre L X X V I du 7 Septembre 1730, op. cit., T.IX, p. 150. 70 R XIII. 71 Lettre L X X V I citée n. 69, p. 151. 72 Lettre CXCVII du 7 Sept. 1730, op. cit., T. VIII, p. 305. 73 Lettre CCXXV du 19 Déc. 1739, p. 338 - 339; ibid., p. 339.

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aussi certain qu'on ne doit prononcer aucune peine, et qu'on ne peut ordonner que la question ou un plus amplement informé, suivant la nature des crimes, ou le genre des preuves» 74 . Ce principe énoncé à plusieurs reprises par Daguesseau 75 et par les criminalistes du X V I I I e siècle 7 6 explique le nombre considérable de plus amplement informés prononcés par les Parlements, notamment celui de Paris et celui de Bretagne. En conclusion sur cette question de la régularité de la procédure, citons encore un avertissement du Chancelier adressé aux juges: «Suivez donc plus exactement à l'avenir la lettre et l'esprit des Ordonnances et Déclarations du Roi, et craignez de vous rendre coupables vous-mêmes, en vous donnant la liberté de condamner arbitrairement les accusés auxquels vous avez instruit le procès» 77 . Mais ce n'était pas seulement la procédure qui devait être conforme aux règles légales, la peine devait l'être également. Aussi voit-on Daguesseau - toujours lui - reprocher à un prévôt des maréchaux, étant donné que les Ordonnances et Déclarations du roi ne prévoient que la peine du bannissement contre les vagabonds, d'avoir condamné l ' u n d'eux aux galères 78 . 74

Lettre du 4 Janv. 1739, op. cit., T. VIII, p. 96. Muyart de Vouglans nous apprend que le Chancelier l'a écrite au Prévôt général de Franche-Comté, à l'occasion de l'usage abusif où était le Présidial de Besançon, de condamner à des peines au-dessous de celle de mort, lorsque la preuve n'était pas complète et néanmoins de déclarer par leurs jugements les accusés «duement atteints et convaincus» (Instruction criminelle, Paris 1767, Part. I, Tit. XIX, art. 2, III, p. 459). Cette lettre est aussi citée par Serpillon, dans son Code criminel, Paris 1767, p. 1542, avec la même erreur sur la date que celle faite par Muyart de Vouglans: 4 Janv. 1734 au lieu de 4 Janv. 1739. Il se réfère d'ailleurs à l'Instruction criminelle de Muyart de Vouglans. 75 Voir, par exemple lettre CXCIX du 19 mars 1731, op. cit., T.VIII, p. 308; lettre CCXIV du 3 Juil. 1739, ibid., p. 331; lettre LXXXII du 15 Sept. 1739, ibid., p. 118. 76 Citons, entre autres, Poullain du Parc, Principes de droit françois suivant les maximes du Parlement de Bretagne, Rennes 1771, T. VI, V, sect. II, n. 41: «Il faut, sur quelque crime que ce soit, une preuve complète pour prononcer une peine capitale, et cette preuve ne peut être faite que dans les formes prescrites par la loi ( . . . ). Sans cela, tout jugement de condamnation est au moins téméraire et l'on peut dire en quelque sorte qu'il est injuste, quand même, dans la vérité, l'accusé serait coupable» et Muyart de Vouglans, qui écrit dans ses Lois criminelles, Liv. II, Tit. I, V: «... il ne suffit donc pas, comme l'on voit, pour que l'on puisse prononcer la condamnation d'un Accusé, que la preuve paroisse évidente aux yeux des Juges qui en auroient une connoissance personnelle, ou dont la connoissance ne seroit fondée que sur la seule notoriété publique, mais il faut encore qu'elle soit accompagnée en même temps de ces trois conditions également essentielles: la première, que cette Preuve soit légale, c'est-à-dire du nombre de celles qui sont admises par la Loi; la seconde, que cette Preuve ait les caractères que cette même Loi exige pour la rendre concluante; la troisième enfin, que les Actes qui la contiennent soient d'ailleurs revêtus eux-mêmes de toutes les Formalités qui doivent servir à rendre cette preuve juridique». 77 Lettre L X X X I I du 15 Sept. 1739 précitée. 78 Lettre LXX, du 24 Mai 1739, op. cit., T. VIII, p. 108: «Comme les Ordonnances et Déclarations du Roi ne prononcent que la peine du bannissement contre les vagabonds, je suis surpris que vous ayez condamné ... aux galères pour avoir mené une vie errante et vaga-

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Le Chancelier revient souvent, en termes impératifs, sur l'obligation pour les juges de se conformer aux Ordonnances lorsqu'ils prononcent une condamnation: «Suivez ( . . . ) plus exactement à l'avenir la lettre et l'esprit des Ordonnances et Déclarations du Roi, et craignez de vous rendre coupables vous-mêmes, en vous donnant la liberté de condamner arbitrairement les accusés auxquels vous avez instruit la procès» 79 . S'exprimant sur l'article 627 de la coutume de Bretagne relatif aux vols de bestiaux et de chevaux i l se montre aussi très clair: «... Il est vrai de dire qu'il n'y a point de Déclaration qui ait dérogé littéralement à l'article 627 de cette Coutume, mais c'est à quoi il est aisé de répondre en disant que si l'on ne trouve pas de dérogation expresse à cet article, il y en a une générale et suffisante dans toute la suite des loix qui ont été faites sur la punition du crime du vol. Nos Rois y ont marqué successivement les différentes espèces de ce crime qui étoient dignes du dernier supplice, comme les vols faits sur les grands chemins, les vols faits avec effraction, les vols domestiques, et ceux qui se font dans des Maisons Royales; ainsi, en ne comprenant que ces différents genres de vols dans le nombre de ceux qu'ils ont jugés dignes de mort, ils en ont suffisamment exclus les autres, qu'ils ont regardés comme devant être punis par des peines moinsrigoureuses ( . . . ) et il n'est plus question de faire valoir en cette matière la disposition d'une Coutume qui pouvoit être tolérée pendant qu'il n'y avoit point de loix du Souverain qui s'expliquassent suffisamment sur les peines que les différentes espèces de voleurs doivent subir, mais qui a perdu toute sa force depuis que nos Rois ont pris soin de marquer exactement aux Juges quels sont les genres de vols qui doivent être punis de mort» 80 . D'ailleurs, nous l'avons vu, i l était de règle que la peine de mort ne pouvait être prononcée par le juge que dans les cas où elle était prévue par la l o i 8 1 . bonde, et je crois devoir vous demander les raisons qui vous ont porté à prononcer dans de semblables circonstances». 79 Lettre L X X X I I du 15 Septembre 1739, ibid., p. 119. Voir aussi la lettre du 27 juil. 1739, ibid., p. 113 - 114: «Soyez ( . . . ) plus attentifs aux Jugements que vous rendrez dorénavant dans des matières si importantes; ayez plus de soin de vous instruire des règles établies par les Loix, pour ne pas devenir coupables vous-mêmes, en vous donnant le pouvoir de condamner arbitrairement les criminels, et sans un fondement légitime». so Lettre CIX du 4 Sept. 1742, op. cit., T. IX, p. 153 - 154. 81 Comme le dit encore Daguesseau dans la lettre XX du 11 Mars 1730, ibid., p. 35: «... pour être en état d'exercer la puissance de vie et de mort, il faut que l'esprit et la lettre de la loi concourent également en faveur du Juge». Muyart de Vouglans écrit aussi, dans ses Loix criminelles, Liv. II, Tit. II, ch. II, VIII: «Une seconde règle, qui est une suite de la précédente, c'est que dans les Crimes dont la peine ne se trouve point portée expressément par la Loi, et pour lesquels elle a cru devoir s'en rapporter à la prudence des Juges, à cause de la variété des circonstances dont ils peuvent être susceptibles, ces Juges ne peuvent prononcer cette Peine qu'en se conformant d'ailleurs aux réglés qui leur sont prescrites par les Loix, pour rendre cette Peine également juste et légale, c'est-à-dire d'une part, qu'ils ne peuvent la prononcer plus forte que ne mérite le Crime, et qu'ils doivent la régler sur le temps où a été commis le Crime, et non sur le temps où ils rendent leurs Jugemens; et de l'autre, qu'ils ne peuvent prononcer d'autres Peines que celles qui sont autorisées par la Loi, ou par une Jurisprudence constante par conséquent, qu'il ne leur est point permis d'en inventer de nouvelles, non plus que de changer l'ordre et formalité usitée dans l'application des Peines. En un mot,

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Si tel était le principe qu'il fallait obéir à la loi, qu'il s'agît de compétence, de procédure ou de peine, il reste à savoir comment ce principe était sanctionné.

3. La sanction Il entrait dans le rôle du ministère public de contrôler la régularité de la procédure (le mot étant pris dans son acception la plus générale). En cas d'irrégularité le procureur du roi ou son substitut (le procureur fiscal dans les justices seigneuriales) interjetait appel afin que celle-ci fût sanctionnée. La sanction pouvait, selon la gravité de la faute commise par le juge, consister en défenses ou injonctions, dans la nullité du procès (celle-ci n'excluant pas celles-là), enfin, s'agissant d'arrêts, dans la cassation. La jurisprudence du Parlement de Paris abonde en exemples des deux premiers types de sanctions, celle du Conseil du Roi fournissant aussi un certain nombre d'exemples de cassations d'arrêts. Dans les arrêts du Parlement l'on trouve quantité de défenses et d'injonctions. Ainsi, le 8 mai 1702, la Cour «faict deffenses aux officiers de la justice de la police de Langres de prendre connaissance de pareils crimes à peine de nullité, de respondre en leurs propres et privés noms des dommages et intérêts des parties et de plus grande peine s'il y eschoit»82. Des injonctions complètent parfois les défenses comme dans cet arrêt du Parlement du 18 février 1710 qui rappelle que les juges inférieurs sont tenus de motiver leurs sentences: « . . . pour faire mettre le present arrêt a execution renvoie ledit Vincent Petit prisonnier par devant ledit lieutenant particulier d'Issoudun auquel fait deffense de plus prononcer pour les cas resultans du procès, luy enjoint d'énoncer dans ses sentences tous les cas dont les accusés se oa trouveront convaincus» . ils ne peuvent s'écarter de toutes ces Réglés, sans violer le serment qu'ils ont porté lors de leur réception de juger selon les Loix et Ordonnances du Royaume». 82 A.N., X2 A 1067; X2 B 908. Voir aussi l'arrêt fait en Vacations le 12 septembre 1732: «faisant droit sur les conclusions du Procureur Général du Roy, fait defense à René Duparc, prévôt de Vaucouleurs, de procéder au recollement des tesmoins dans des maisons particulières et ailleurs qu'en la Chambre du Conseil suivant l'Ordonnance et l'article 17 de l'arrêt de la Cour du 10 juillet 1665 si ce n'est que pour juste cause le transport du juge ayt été ordonné hors le lieu de Justice, fait pareillement défense audit Duparc, lorsqu'il condamne des accusés aux galères, de les condamner pour 40 années de galères» (X2 A 689; X2 B 971). Voir aussi, entre autres, un arrêt du 30 avril 1705 (X2 A 1069 et 1070; X2 B 913 et 916). 83 X2 A 555; X2 B 923. Voir aussi l'arrêt du 7 août 1738 qui enjoint à Jacques de Monthieu, Lieutenant du bailliage de Pontoise «de se conformer aux dispositions prescrites par les Titres V I et XIV de l'Ordonnance de 1670 pour les dépositions des témoins et pour les interrogatoires des accusés ( . . . ) fait defense audit de Monthieu de rediger la déposition des témoins en forme d'interrogatoire (X2 A 717; X2 B 983). Citons encore l'arrêt du 12 octobre 1746: «Enjoint à David, lieutenant particulier du bailliage de Montbrison d'observer les ordonnances, arrêts et reglemens de la Cour et notamment l'art. 21 du Titre 14 de l'Ordonnance de 1670» (X2 A 749; X2 B 999).

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Ces défenses et injonctions se rencontrent souvent dans des arrêts prononçant la nullité du procès. Déjà au XVIe siècle Charondas le Caron déclarait: «Mais ne peuvent et n'ont accoustumé les juges de France, quoy qu'ils soient souverains, juger contre les Lois et Ordonnances escrites: et leurs jugemens donnez contre le texte exprez et manifeste d'icelles seroient nuls, et contre iceux parties se pourraient pourvoir» 84 . Et, en écho, Daguesseau affirme aussi: «... les nullités qui se trouvent dans une procédure criminelle forment un droit acquis aux Accusés pour la faire anéantir» 85. Dans ce cas, le procès était renvoyé devant d'autres juges de même degré pour être par eux recommencé aux frais des juges fautifs. C'est ce qu'indique Denisart: «En matière criminelle, lorsqu'il se rencontre des nullités procédantes du fait des juges qui ont fait les instructions, les Cours Supérieures ordonnent que la procédure sera recommencée aux frais des juges» 86 . Et, ajoute-t-il, les exemples en sont très fréquents. C'est ce que l'on peut constater lorsque l'on dépouille la jurisprudence du Parlement de Paris. Nous n'en citerons comme exemple que l'arrêt du 7 août 1738 dans lequel «La Cour ( . . . ) ordonne qu'à la requête du Procureur général du Roy, poursuites et diligences de son substitut au bailliage royal de Meudon, le procès sera fait et parfait jusqu'à sentence définitive inclusivement et à cet effet sera le procès et les effets servant à conviction étant au greffe criminel de la Cour, portés au greffe dudit bailliage de Meudon pour les procédures nulles servir de mémoire seulement, le tout aux frais et dépens de Jacques de Monthieu, lieutenant criminel du bailliage de Pontoise»87. Mais qu'arrivait-il lorsqu'une irrégularité grave ou une contravention aux lois entachait 1' Arrêt d'une Cour souveraine ? Le seul remède était alors la cassation qui intervenait lorsque la voie ordinaire «de jurisdiction et de ressort» était consommée. «La cassation», dit Gilbert de Voisins, est plustost une voie légitime de plénitude de puissance; de la part des sujets, c'est un recours extrordinaire au prince, et de la part du prince, c'est un acte extrordinaire de son souverain pouvoir» 88 . Ce recours pouvait, semble-t-il, être porté en quelque Conseil que ce fût, en vertu du principe de l'indivisibilité du Conseil du Roi mais il l'était en règle générale devant le Conseil privé 89 . Gilbert de Voisins énumère six ouvertures de cassation; w Op. cit., Ch. V, p. 20. 85 Lettre L X X X I I du 17 Sept. 1743, op. cit., T. IX, p. 157. 86 Op.cit., v° Nullité, n. 30. 87 X2 A 717; X2 B 983. Autre exemple: arrêt du Parlement du 30 avril 1705 qui «casse [le mot casser n'est pas pris ici dans son sens technique mais, comme c'est souvent le cas, dans le sens d'annuler] l'information faite d'office par le vice-bailly de la Haute Auvergne» et qui ordonne, sur requête du Procureur général que les témoins entendus le seront à nouveau devant le Conseiller rapporteur de l'arrêt (recollement et confrontation), «le tout aux frais et dépens du vice-bailly» (X2 A 1069 et 1070; X2 B 913 et 916). 88 Vues sur les cassations d'arrests et de jugements en dernier ressort, par M. Gilbert de Voisins, conseiller d'Etat, in Michel Antoine, «Le mémoire de Gilbert de Voisins sur les cassations: un épisode des querelles entre Louis XVet les Parlements (1767)», R.H.D. 1958, p. 21. 89 Ferrière, op. cit., v° Cassation: «On peut se pourvoir au Conseil Privé en cassation d'arrêt».

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deux d'entre elles nous intéressent plus particulièrement: «quand les formes prescrites par les Ordonnances n'ont pas été observées; comme si une Cour avoit jugé un procès dont la connoissance ne lui appartenait pas»90. Selon le même auteur «Cette première ouverture est en soi sans difficulté. Il faut seulement prendre garde à ne la pas admettre trop aisément, ny avec trop de rigueur, et à ne pas toujours faire dépendre le sort d'un arrest de la moindre irrégularité qui pouroit paroistre s'y estre trouvée, surtout lorsque l'on n'y voit point d'intérest sensible pour la justice» 91 . Une autre ouverture de cassation, «qui est regardée comme la principale» 92 est offerte aux plaideurs, nous dit Ferrière, «quand les Arrêts ont été rendus contre des Ordonnances, ou contre les termes exprès des Coutumes»93. Comme ce dernier, Gilbert de Voisins assimile à cet égard les coutumes et le droit romain aux ordonnances: «Elles font ( . . . ) et ce droit aussi, partie en un sens de nostre droit public, puisque ce sont des loix qui appartiennent aux diverses parties du Roïaume et suivant lesquelles elles ont droit d'estre régies. C'est par là que la contravention soit aux coutumes soit au droit écrit peut donner prise à la cassation»94. Un exemple de cassation intéressant, à la fin de l'Ancien Régime, est fourni par l'affaire Verdure, dans laquelle un père est accusé d'avoir assassiné sa fille. Le procès, qui a duré de 1780 à 1790, illustre ce que nous venons de dire: l'arrêt du Parlement de Rouen prononçant contre Verdure un plus amplement informé de 20 ans, pendant la durée duquel il devait garder prison, est cassé par le Conseil Privé du roi, le 11 avril 1788, pour «contravention aux Ordonnances»95. En effet le plus ample90 Ferrière, ibid. ; Vues sur les cassations d'arrests ... in Michel Antoine, «Le mémoire de Gilbert de Voisins», p. 22: «Premièrement, si dans la manière de procéder aux arrests et dans leur formation, il s'est trouvé quelque irrégularité vicieuse et quelque défaut essentiel ( . . . ) ; dans ces cas ou autres de mesme genre, il faut bien que le Roi lui-mesme, y pourvoie et qu'en connoissance de cause il casse ce qui s'est fait irrégulièrement par des juges qui ne sçauroient le réparer car, l'arrest une fois donné et revêtu de sa forme, il ne leur est plus libre d'y toucher. Et le faire de leur propre autorité seroit le cas le plus marqué de la rétractation d'arrest, qui leur est étroitement interdite par les ordonances». Dans le même sens Daguesseau, Lettre CXXI du 9 mars 1744, Op. cit., T. VIII, p. 182: Plus la forme de procéder dans les instructions criminelles estrigoureuse pour les accusés, plus il est juste d'avoir égard aux nullités écrites dans l'Ordonnance, dont ils peuvent se servir pour combattre le jugement qui les condamne; outre que le Conseil n'étant point juge d'appel, ni par conséquent en état de connaître du fond, il ne peut envisager que la forme dans les demandes en cassation, et son premier devoir est de veiller attentivement à l'observation des Ordonnances en détruisant tout ce qui y est contraire». 91 Ibid. 92 Ibid. 93 Op. cit., v° Cassation. 94 Id., p. 24. 95 Remi de Gaulle, L'affaire Verdure, Regards sur l'administration de la justice criminelle de l'Ancien Régime, Mémoire pour le D.E.A. d'Histoire du Droit, Université Paris II, 1976 (ronéot.), p. 88 sq., notamment p. 90. Dans leur Mémoire, les avocats de Verdure, tout en insistant sur l'iniquité de l'arrêt du Parlement de Rouen, n'invoquent comme moyen de cassation que cette «contravention aux Ordonnances». Il n'y a pas lieu de s'en étonner: comme le souligne Gilbert de Voisins «... la voie de cassation n'étant point une voie de ressort, elle n'engage point le jugement du fonds et il ne doit pas estre cumulé avec elle». (Op. cit., p. 30).

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ment informé de 20 ans, avec prison, aboutissait à renvoyer le jugement définitif de l'affaire à une date indéterminée ou du moins extrêmement lointaine et à créer un nouveau genre de peine, la prison, que les lois n'autorisaient pas. Comme l'écrit l'un des avocats de Verdure: «... les peines sont établies par les ordonnances; elles se trouvent rappelées dans l'article 13 du titre 25 de l'Ordonnance de 1670 et tous les criminalistes en ont fait une exacte énumération. On n'y trouve point la peine d'une captivité indéfinie» 96.

La loi jouissait donc d'une très grande autorité; elle n'en était pas moins subordonnée à des valeurs plus élevées.

I I I . Les exigences supérieures de la Justice Même si elle était qualifiée de «souveraine», la loi n'était pas considérée dans l'Ancien Droit comme étant juste en tant que telle. D'une part, au-dessus de la loi positive, nos anciens auteurs estimaient qu'il existait une loi supérieure, dénommée Justice par les uns (notamment à l'époque ancienne), droit naturel pour les autres, surtout au XVIIIe siècle. D'autre part, fidèles à la philosophie classique, les juristes de l'ancienne France jugeaient qu'une loi, même juste, pouvait, de par son caractère général, aboutir à une injustice. A la suite d'Aristote ils reconnaissaient une forme supérieure de justice ou équité qui n'était autre chose que la correction de la loi et son adaptation au cas d'espèce qu'elle n'avait pu prévoir 97 .

1. La soumission de la loi positive à une loi supérieure Nombreux sont les auteurs qui ont insisté sur la prééminence d'une loi supérieure, qu'il s'agisse de celle de Dieu, de celle de la raison ou de celle de la nature, qu'ils ont souvent tendance à confondre. Ainsi Ayrault écrit-il: «... il est des Loix, comme des fleuves: pour considérer quels ils sont, on ne regarde pas les contrées par où ils passent, mais leur source et origine: aussi la loy, si elle est prise des meurs et façons de faire du pays seul, elle est civile et particulière à ce lieu-là: mais si elle est puisée en cette grande mer de nature, jaçoit qu'une ou plusieurs nations luy ayent donné cours et passage par sur leurs terres, elle est neantmoins tousjours naturelle et commune, non bourgeoise ni citoyenne d'Athènes ou de Lacedemone. Bref, tout ainsi que le feu est chaud à Rome, et entre les Perses: aussi la loy d'ouyr un accusé, et de faire et parfaire son procès auparavant que le juger ou executer, est loy par tout: d'autant que son origine procédé d'une droicte, et perpetuelle raison: d'une lumiere née et diffusee avec nous, et par tous nous, qui ne changea et ne changera oncques: dont le commencement 96 Remi de Gaulle, op. cit., p. 90. Rappelons que dans notre ancien droit pénal la prison n'était pas une peine. Comme le dit, entre autres, Ferrière, op. cit., v° Prison: «les prisons ne sont établies que pour garder les criminels et non pas pour les punir». 97

Voir Y. Bongert, op. cit.

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n'est point du temps qu'elle fut escrite, et engravee là ou là dans des tables, mais dés ce qu'au cerveau de Jupiter fut éclose Minerve, c'est-à-dire la raison, et la justice: ou pour en parler selon les termes de nostre Religion, dés l'origine et création du monde ( . . . ) les loix que nous appelions naturelles, à mieux parler, sont plus divines, que naturelles: parce que c'est Dieu qui a donné cet instinct, ce sens commun, cette discrétion de juger ce qui est bon et juste de soy. Or ce qui est bon et équitable en soy-mesme, non point par interprétation de jurisconsulte, ou conséquence de l'un à l'autre, est perpétuellement et entre toutes les nations un et conforme à soy, c'est-à-dire bon et valable»98.

Domat dit aussi: «Les réglés du droit naturel sont celles que Dieu a lui-même établies, et qu'il enseigne aux hommes par la lumière de la raison. Ce sont ces loix qui ont une justice immuable, et qui est la même toujours et partout; et soit qu'elles se trouvent écrites ou non, aucune autorité humaine ne peut les abolir, ni en rien changer» tandis que «les règles arbitraires sont toutes celles que les hommes ont établies, et qui sont celles que sans blesser l'équité naturelle, ils peuvent disposer, ou d'une manière ou d'une autre toute différente» 99.

Muyart de Vouglans, quant à lui, tout en magnifiant le pouvoir législatif royal, n'en subordonne pas moins celui-ci à la la loi de Dieu: l'ordre de la société venant de Dieu, «qui est sans contredit le Souverain naturel de tous les hommes, c'est de Lui par conséquent que tiennent leur autorité ceux qui les gouvernent, par la communication qu'il leur fait de sa suprême puissance qui leur donne un droit véritable sur leurs sujets. Aussi voyons-nous que, pour marquer cette plénitude du pouvoir législatif en leur Personne, les Souverains ont toujours soin de prendre en tête de chaque Loi qu'ils font publier sous leurs noms, la qualité de Roi, par la grâce de Dieu ... comme aussi de terminer ces mêmes Loix par ces termes absolus: Car tel est notre plaisir... A la vérité, nous voyons aussi d'un autre côté que, pour faire connoître en même temps à leurs Peuples que c'est moins leur propre volonté qu'ils consultent dans leurs Loix, que les réglés de la sagesse et de l'équité, dont en leurs qualités de Rois Très-Chretiens et de Fils aînés de l'Eglise, ils se sont toujours fait un devoir particulier de lui donner les premiers exemples, ils ne manquent jamais d'apporter ce tempérament remarquable aux deux clauses dont nous venons de parler, par celle-ci: Nous, après avoir pris sur ce l'avis de notre Conseil... Ce qui s'entend du Conseil qui est toujours auprès de leur Personne, et dont ils 98

Op. cit., Liv. I, Art. II, n. 2. Voir aussi Papon, Trias judiciel du second notaire, Lyon 1580: «Dont resuite la différence, que nous trouvons entre le vicieux, mal nommé et malicieux, et le bon, vertueux, et sage. L'un est contre dieu et nature: l'autre selon les reigles de nature instituées pour bien vivre entre les hommes, à qui Dieu a donné indifféremment la loy pour bien faire en ce monde, auquel nous sommes de sa bonté produits et entretenus. Ladite loy est brieve et succincte, et encore plus aisee à comprendre et suyvre, et ne faut ny art, an, ou autre temps pour l'apprendre, mais la seule nature, si nous n'y voulons entendre Nature, nous a par la providence de Dieu faict croistre d'enfance en aage de congnoissance, mais c'est tousjours en l'inclination, affection, et volonté de bien faire, et d'apprendre promptement le bien et honneur». 99 Les Loix civiles dans leur ordre naturel, Paris 1767, Liv. prélim., Titre I, Sect. I, III et IV.

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ont soin de se faire assister pour la rédaction de leurs Loix, afin d'empêcher qu'il ne s'y glisse rien d'injuste, ni qui déroge à la Loi de Dieu ou à celle de la Nature, auxquelles on sçait que les Rois sont eux-mêmes sujets, comme de simples particuliers» 100. Daguesseau, de son côté, dans les recommandations q u ' i l adressait à son fils, lui conseillait «de faire toujours dans chaque matière un discernement exact de ce qui appartient au Droit naturel, et qui étant fondé sur cette Justice originaire et primitive qui est comme le modèle et l'archétype de toutes les Loix, doit être également observé chez toutes les Nations, et de ce qui, au contraire, n'appartient qu'au Droit positif, parce q u ' i l n'est appuyé que sur l'autorité du législateur et qu'on peut le regarder plutôt comme l'ouvrage de l'homme que comme l'ouvrage de la L o i » 1 0 1 . Si, pour les juristes de l'Ancien Droit, la loi positive devait être soumise à la L o i naturelle, elle devait être aussi subordonnée à l'équité.

100

Op. cit., Discours préliminaire, p. XXX-XXXI. A la fin du XVIIIe siècle, Mably ne tiendra pas un autre langage bien qu'il accorde certainement plus d'importance à la raison et à la nature qu'à Dieu: «... je vous avertis que la religion sera obscurcie et défigurée par des superstitions insensées, si la société à laquelle vous donnez des Loix, ne cultive pas sa raison, et néglige de s'instruire par l'étude du droit naturel et de la morale» ou encore: «Pour savoir à quelles Loix nous devons nous soumettre, il faut remonter à ces Loix éternelles qui sont, dit Cicéron, la raison même de Dieu; qui ont précédé la naissance des villes et des sociétés, et que ni le Sénat, ni le peuple ne peuvent changer» (De la Législation, ou principes des Loix, Amsterdam 1776, Liv. IV, respectivement p. 246 et p. 263 - 64). De même Filangieri écrit, en 1788, dans La science de la législation, ch. IV, (in Œuvres, T. I, Paris 1822, p. 60): «Le droit de la nature renferme les principes immuables de tout ce qui est juste et honnête dans tous les cas. Il est facile de voir combien de principes particuliers dérivent de cette source féconde. Nul homme ne peut ignorer les lois de son espèce, parceque ces lois ne sont point les résultats des stériles méditations des philosophes. Elles sont l'expression immuable de ce principe de raison universelle, de ce sens moral du coeur, que l'autorité de la nature a imprimé dans tous les individus de l'espèce humaine, comme la mesure vivante de la justice, qui parle à tous les hommes le même langage, et prescrit dans tous les temps les mêmes lois...» 101 Instruction sur les études propres à former un Magistrat. Première Instruction contenant un plan général d'Etudes, et en particulier celle de la Religion et celle du Droit, du 27 septembre 1716 envoyée par M. Daguesseau, alors Procureur Général à son Fils aîné, in Œuvres, T. I, Paris 1759, p. 269 - 70. Daguesseau dit encore, dans son Institution au Droit public, in Œuvres, T. I, p. 499, XIII: «Les peines dont les Puissances de la Terre nous menacent pour nous faire obéir à leurs Loix positives et temporelles, sont aux peines que Dieu prépare aux violateurs des Loix naturelles et éternelles, comme le législateur est au Législateur, ou comme l'homme est à Dieu, c'est-à-dire à l'infini... ». Il n'y a donc aucune comparaison à faire entre les divers genres de crainte, que le pouvoir du Législateur divin et l'autorité des législateurs humains nous inspirent, ni par conséquent entre les différents degrés de coaction que des craintes si disproportionnées attachent aux Loix naturelles, et aux Loix civiles. C'est ce qui a fait dire aux Jurisconsultes Romains, qu'une Loi positive peut être détruite ou abrogée par une autre Loi positive; mais qu'une pareille Loi ne peut jamais donner aucune atteinte à la Loi naturelle».

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2. La subordination de la loi à Véquité Nous laisserons ici de côté l'équité des juges, des Parlements notamment, qui, nous l'avons vu, relevait de l'arbitraire des peines et ne s'exerçait que dans les limites de la loi. C'est de l'équité royale que nous allons traiter. Cette dernière, à la différence de celle des juges semblable à la règle de Lesbos qui se ployait, comme le répètent à l'envi les auteurs, dans un sens ou dans l'autre, ne pouvait s'exercer que dans le sens de la clémence. Cette équité royale se manifestait par la grâce qui était, selon Montesquieu, «un grand ressort des gouvernements modérés» 102 et par la clémence, «la qualité distinctive des monarques» 103. Le terme de grâce était en effet, selon la définition de Jousse; «un terme générique» 104 désignant toutes les mesures par lesquelles le roi, «désirant preferer misericorde à rigueur de justice», permettait à un criminel de bénéficier de sa clémence. La grâce pouvait intervenir à la demande (sous la forme d'un placet ou d'un mémoire), de l'accusé lui-même, d'un membre de sa famille ou d'une personne influente s'intéressant à son sort. Le Chancelier, ou à défaut le Garde des Sceaux 105 , prenait alors l'avis du Procureur Général qui se faisait envoyer un extrait de la procédure, au vu duquel il se prononçait. Son avis pouvait être favorable et dans ce cas la grâce était accordée. Les motifs invoqués tenaient généralement à la personnalité de l'accusé ou à des circonstances pouvant être considérées comme atténuantes telles que la jeunesse, l'ignorance de la loi, l'aveu traduisant l'ingénuité ou le peu d'endurcissement au crime, l'absence de préméditation, l'ivresse, la rixe, la provocation ou le premier mouvement, l'extrême faiblesse et ignorance de l'accusé mais aussi le risque de déshonneur pour la famille. Prenons comme exemple celui de Jeanne Boutet qui s'était rendue coupable d'un infanticide. Dans l'avis qu'il formule, le Procureur Général Guillaume-François Joly de Fleury écrit: «Tout ce qui peut exciter compassion c'est son âge: elle n'a que 20 ans, et l'ignorance de l'Edit d'Henry second ( . . . ) On rapporte un certificat que l'Edit n'a point été publié dans la paroisse de l'accusée». Bien qu'il fasse observer «que l'ignorance de la loy ne soit pas une excuse légitime», Joly de Fleury n'en donne pas moins un avis favorable à la commutation de la peine 106 . Citons encore l'avis de Guillaume-François Louis Joly de Fleury, le fils de précédent, dans l'affaire Damairiat ou Damerieu relative à des excès et violences commis par des conscrits. Le Procureur Général fait valoir en faveur d'un complice, Belleville, qu'il est beaucoup moins chargé 102 Esprit des Lois, Liv. VI, ch. XVI. Dans un autre passage (Liv. VI, ch. V) Montesquieu dit aussi que la grâce est, pour le prince, «le plus bel attribut de sa souveraineté». 103 Id., Liv. VI, ch. XXI. 104 Op. cit., T. II, p. 377.

i° 5 Le Chancelier, officier, étant inamovible, lorsque le roi n'était pas satisfait de ses services, il lui retirait les sceaux et nommait pour le remplacer un Garde des Sceaux qui, lui, était un commissaire révocable ad nutum. 106 B. N., Collection Joly de Fleury 1015, fol. 42 - 43 (1733).

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que les autres et qu'enfin i l n'a que seize ans, aussi «attendu la foiblesse de son âge», dit-il, «il me semble tout à fait digne de la commisération du prince q u ' i l étoit destiné à servir» 1 0 7 . Le Procureur Général pouvait en certains cas ne pas se prononcer formellement et s'en remettre à la décision du r o i 1 0 8 . I l pouvait aussi, évidemment, donner un avis défavorable à la grâce et cela pour diverses raisons. Celles qui apparaissent le plus souvent dans les réponses q u ' i l fait au Chancelier ou au Garde des Sceaux sont, en matière d'homicide, la préméditation (l'assassinat étant un crime irrémissible), la déloyauté pouvant consister dans l'attaque de plusieurs contre un seul, d'un homme armé contre un homme sans armes, d'un homme à cheval contre un homme à pied ou en coups donnés à un homme à terre. S'agissant de vol, on trouve invoqués la récidive, la réflexion ou le fait, pour le voleur, d'avoir abusé de la confiance d'un tiers, du maître notamment, ou du public, lorsque le vol portait sur des objets «en quelque sorte confiés à la foi publique» tels que les bestiaux dans les champs, le linge sur les étendoirs des blanchisseuses ou les légumes dans les marais. Ainsi, dans l'affaire Deschamps le Procureur Général donne l'avis suivant: «C'est donc un vol domestique, un vol reflechy, qui va jusqu'à découdre des galons et des boutons d'argent, un vol de plusieurs differens effets, un vol plus condamnable encore par l'abus que ce domestique a fait de la clef de l'armoire au linge que son maître lui avait confiée» 1 0 9 . Le Chancelier pouvait suivre l'avis qui lui 107 j. de F. 1990, fol. 74 - 91 (1782). Voir aussi, entre autres, J. de F. 1014, (1733), aff. Jean Orienne. Celui-ci s'est rendu coupable d'homicide à l'occasion d'une rixe. Le Procureur donne un avis favorable à la rémission du crime: «Cette action, quoy qu'un peu brutale, n'est cependant que la suite d'une rixe et n'a rien qui puisse mettre obstacle aux lettres de rémission qu'on demande». los Comme dans l'affaire du Sieur de Musset de Pestay (J. de F. 1013, fol. 110 -113): «... ces circonstances jettent dans l'esprit de grandes présomptions d'un dessein formé contre le deffunt. Cet homicide, ce meurtre ou cet assassinat, car il est difficile de le caractériser précisément, est de la nature de ceux pour lesquels le Roy, par son autorité souveraine, peut accorder la grâce. Mais les circonstances qui l'accompagnent ne peuvent faire regarder cette grâce comme une grâce de style et pour laquelle le Juge ou le Ministere public puisse s'interesser». 109 J. de F. 1014, fol. 328 v° - 329 v° (1733). Citons encore, dans l'affaire Philippe Bernard, qui s'était rendu coupable de vol (avec fausses clefs, semble-t-il), l'avis du Procureur Général; «Sa jeunesse et l'aveu de tous ses vols pourroient être les seuls pretextes des lettres qu'on demande en sa faveur. Mais une jeunesse qui a commencé par une correction à Bicêtre demandée par le pere, et dont la suite produit 3 différents vols, exige qu'un pareil sujet soit sequestré de la société civile et que la peine publique qu'il mérité puisse faire un exemple. Il est vray que l'aveu semble marquer que l'accusé n'est pas endurci dans le crime, mais il seroit dangereux de faire envisager l'aveu comme un degré pour obtenir grâce» (J. de F. 1013, fol. 201 v° - 202, 1731). Est intéressante aussi l'affaire Claude Buzin. Celui-ci s'était rendu coupable d'un vol de choux dans les marais au détriment d'une veuve (la veuve Billet), jardinier fleuriste, et de ses enfants. Le Procureur Général écrit en 1749: «Il est extrêmement important de faire des exemples de ces sortes de vols de choses confiées à la foy publique aux environs de Paris et dans les campagnes, sans quoy il n'y aura plus de sûreté, les marais autour de Paris et les campagnes seront pillés toutes les nuits et les pauvres jardiniers et paysans perdront en une heure de temps le fruit d'un travail pénible qui leur sert à payer la taille et à nourrir leur famille, ainsi il paroît d'une conséquence extrême de laisser exécuter l'arrêt». La

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avait été donné par le Procureur Général et, dans ce cas, il rejetait la demande de grâce. Il n'était cependant pas lié par cet avis et pouvait présenter la requête au roi: celui-ci, la plupart du temps; y acquiesçait. Tel fut le cas dans l'affaire Jean Pottier: le 12 août 1781 une rixe éclate dans une auberge entre Pottier et Barbot, le premier reprochant au second de lui avoir demandé l'argent qu'il lui devait en présence de tiers. La dispute s'envenime, Barbot menace son adversaire d'une pierre. Pottier se saisit alors d'un bâton et en donne un coup sur la tête de Barbot, coup qui entraînera la mort de celui-ci deux jours plus tard. Le 25 août 1786 la Barre ducale de Mayenne déclare Pottier «atteint et convaincu» d'avoir homicidé Barbot et le condamne à la pendaison. En appel, le 20 septembre 1786, l'arrêt du Parlement confirme la sentence mais arrête que le condamné se pourvoira de lettres de commutation de peine. Pottier s'adresse au Garde des Sceaux pour implorer la clémence du roi. Suivant la procédure habituelle le Garde des Sceaux demande au Procureur Général son avis: dans sa réponse, celui-ci fait observer qu'il y a eu rixe entre Pottier et Barbot, qu'ils ont été séparés et apaisés et que Pottier a porté le coup de bâton mortel sans qu'une nouvelle rixe se soit élevée. Pottier n'est donc pas susceptible d'indulgence car «il est difficile de ne pas regarder cet homicide comme l'effet d'une réflexion ou d'une brutalité puisqu'il n'a pas été provoqué». Le Garde des Sceaux n'en informera pas moins Joly de Fleury que la grâce de Pottier est accordée et sa peine commuée en celle d'un an de prison. Cette affaire est intéressante à un double titre: d'abord parce que la grâce a été accordée contre l'avis du Procureur Général et ensuite parce que la pendaison est commuée en un an de prison alors que la prison, en principe, n'était pas une peine dans l'ancien droit pénal français. Il est vrai que la solution adoptée date des dernières années de l'Ancien Régime 110 . Comme nous venons de le voir dans cette affaire Pottier, la grâce pouvait être demandée par les juges eux-mêmes dans de très nombreux cas quand l'application de la loi leur paraissait injuste: ils condamnaient en vertu de la loi et, en même temps, décidaient que le condamné se pourvoirait de lettres de grâce. Tel est le cas dans l'affaire Marie - Jeanne Ravel, femme La Barre: la lettre du Chancelier Maupeou au Procureur Général Joly de Fleury du 28 avril 1769 est très significative à cet égard. Le Chancelier écrit: Monsieur, Je suis instruit que la nommée Ravel, servante chez un teinturier rue Grenier Saint-Lazare, a été condamnée à mort pour vol domestique, et par le Châtelet et par la Tournelle. Des peine prononcée était celle du carcan, des écriteaux sur lesquels était indiqué le crime, la marque au fer rouge d'un V sur chaque épaule et de 3 ans de galères. Enfin, autre exemple: en 1782 Guillaume-François Louis Joly de Fleury donne l'avis suivant: «... il reste la preuve légale d'un vol commis par un ouvrier dans une maison où il étoit employé: un ouvrier en ce cas jouit, sinon de toute la confiance qu'un maître accorde à son serviteur, au moins d'une portion de cette confiance: le vol qu'il se permet dans cette position ne doit pas être entièrement assimilé à un vol domestique, mais il ne saurait être mis dans la classe des vols simples» (J. de F. 1990, fol. 54 - 63). no J. de F. 1995, fol. 96 - 98.

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personnes de considération qui s'intéressent au sort de cette malheureuse implorent pour elle la clémence du Roy et demandent que la peine qui luy a été infligée soit commuée en une détention de quelques années à la Salpêtrière 111 aux offres d'y payer sa pension. Ces personnes m'ont assuré que le vol dont est question n'est que de la valleur de 18 s. et que Mrs du Châtelet et du Parlement ont été vivement touchés de la nécessité où ils se trouvoient d'appliquer à un objet si modique la juste rigueur des Ordonnances. La Chambre entière qui a prononcé son jugement en est toute consternée. Elle souhaite instamment qu'on demande sa grâce. Le juge n'est que l'organe de la Loi. C'est au Roy à l'interpréter, à la modifier et à accorder grâce» 112 .

Citons encore l'affaire Françoise Cornu, de 1787, relative elle aussi à un vol domestique. Le Président de Rozambo informe le Garde des Sceaux que la Chambre de la Tournelle, en condamnant à la peine de mort la nommée Françoise Cornu, pour crime de vol, a arrêté qu'elle se pourvoirait par devers le Roy pour obtenir des lettres de commutation de peine. Le Procureur Général, dans sa lettre au Garde des Sceaux, dit qu'il se réunit au voeu de Messieurs de la Tournelle 113 . Quels pouvaient être les motifs des magistrats qui les incitaient à demander ainsi la grâce d'individus qu'ils venaient eux-mêmes de condamner ? Ils le faisaient en prenant en considération, soit les circonstances du crime, soit la personnalité de l'accusé. En ce qui concerne les cirsonstances du crime, ce pouvait être, par exemple la misère en cas de vol ou l'ignorance de la loi en cas d'infanticide, en l'occurrence celle de l'Edit d'Henri II sur le recel de grossesse; s'agissant de la personnalité de l'accusé, on voit les juges tenir compte de son extrême jeunesse ou du moins de son jeune âge (invoqué même pour des accusés de 20 ans), de son ingénuité, de son repentir, du fait qu'il ne paraît pas accoutumé au crime, par exemple lorsqu'il avoue facilement ou lorsqu'il avoue même ce qui pourrait le rendre plus coupable, ou enfin de l'honneur d'une famille qui, «par un préjugé injuste», voit retomber sur elle «la peine que devrait porter seul celui qui l'a commis», comme l'écrit un substitut du Procureur Général dans une observation suivant un extrait de la procédure demandé par ce dernier 114 . Dans tous ces cas particuliers la peine légale apparaissait aux juges comme injuste et souvent, comme nous avons pu le constater, le Procureur Général partageait leur point de vue. Les grâces, d'où qu'en vînt l'initiative, étaient accordées avec une grande libéralité, trop grande parfois au gré du Procureur Général que l'on voit, à diverses reprises, s'élever contre une pratique considérée par lui comme dangereuse: «Les magistrats à qui le Roy veut bien confier le soin de rendre la justice qu'il doit à ses 111

La Salpêtrière n'était pas une prison mais une maison de force. Les prisons, destinées seulement à la garde des accusés en attendant leur jugement étaient attenantes aux différentes juridictions, même si les plus modestes d'entre elles en étaient parfois dépourvues. 112 J. de F. vol. 413, n° 4762, fol. 273 v°. 113 J. de F. 1990, fol. 64 - 67. Les juges pouvaient aussi, comme dans l'affaire Grégoire (J. de F. 1014, fol. 41 v° - 43): «suspendre la signature de l'arrest pour donner le loisir à l'accusé d'implorer la clémence du Roy» H4 J. de F. 1990, fol. 47 (1784).

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sujets et surtout veiller à la punition des crimes, ne peuvent s'empêcher de représenter le danger de pareilles grâces. Ils sçavent que c'est un des plus grands apanages de la Royauté que de donner la vie à celuy qui a mérité la mort, et de tirer celuy qui est esclave de la peine de la servitude que son crime luy a fait meriter, ils seront toujours soumis aux ordres que le Roy leur prescrira, mais ils ne peuvent se dispenser de luy représenter les conséquences»115. Ce chapitre des grâces fait apparaître le droit criminel de l'ancienne France sous un angle quelque peu inhabituel mais dont les travaux 116 , de plus en plus nombreux, d'historiens du droit, s'accordent à donner une image sensiblement différente de celle léguée par Voltaire. En conclusion de cette étude, rappelons que l'arbitraire des peines, dont jouissaient les juges supérieurs, était limité et ne pouvait s'exercer que dans le cadre de la loi. Celle-ci, en principe, était souveraine. Quelque fût la révérence qu'on lui manifestait et l'autorité qu'on lui reconnaissait, tous les juristes et le roi lui-même admettaient cependant sa soumission à une loi supérieure, loi de Dieu selon les uns, loi de la raison ou de la nature selon les autres, sans que la distinction entre elles fût toujours clairement perçue. Ils convenaient aussi de sa subordination à l'équité. Cette sujétion de la loi positive à une loi non écrite qui la dépassait, découlait des conceptions religieuses et philosophiques - ces dernières héritées de la Grèce et de Rome - qui dominaient l'Ancien Régime, suivant lesquelles le droit ne devait être que l'expression du juste. De telles conceptions n'allaient pas survivre à la pénétration des idées des Lumières dans le droit, se traduisant par la suprématie de l'utile.

H5 Id. 1013, fol. 176 v° (1730); voir aussi Id., 1015, fol. 164 v° - 165 v° (1740); Id., 1017, fol. 211 v° - 214 v°. h 6 Ces travaux, qui ont commencé à paraître depuis une trentaine d'années que la matière est enseignée dans les Facultés de Droit, sont aujourd'hui nombreux; il est donc impossible d'en donner la liste. Nous nous bornerons à citer le dernier d'entre eux, qui vient de nous parvenir et que nous n'avons pu encore que parcourir: il s'agit de l'ouvrage d'Antoine Astaing, Droits et garanties de l'accusé dans le procès criminel d'Ancien Régime (XVIe XVIIIe siècle. Audace et pusillanimité de la doctrine pénale française, Presses universitaires d'Aix - Marseille, 1999). L'auteur voit notamment dans les nullités, auxquelles il consacre une grande partie de son étude, le domaine privilégié pour la mise en œuvre des moyens de défense de l'accusé. 19 FS Leisner

Zwischen Verfassung und Gesetz Die rechtsstaatliche Struktur der grundgesetzlichen Eigentunisgarantie Von Otto Depenheuer

I. Staatstheoretische Bedeutung der Eigentumsordnung 1. Der Kampf um das Eigentum Im Eigentum spiegeln sich staatsrechtliche und politische Grundsatzfragen. In wechselnden Kontexten steht es immer wieder im Zentrum verfassungstheoretischer wie rechtspolitischer Diskussionen.1 Die Vielfalt staats- und verfassungstheoretischer Entwürfe in Geschichte und Gegenwart lassen sich auch durch ihren Bezug zu der von ihnen unterlegten Eigentumsordnung typisieren und zu zwei idealtypischen Grundpositionen verdichten: einer prinzipiellen Wertschätzung und Anerkennung des Privateigentums als Rechtsinstitut steht ein ebenso prinzipielles Mißtrauen und Ablehnung desselben gegenüber. Beide Positionen basieren ihrerseits auf axiomatischen Festlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Gleichheit. Wird staatliche Ordnung primär auf individueller Freiheit gegründet, bedingt dies eine prinzipielle Anerkennung des Eigentums Privater; wird hingegen die Herstellung und Wahrung von sozialer Gleichheit zur primären Aufgabe des Staates erklärt, so muß das Privateigentum aus dieser Perspektive im Kern als suspekt erscheinen, ist es doch sichtbarster Ausdruck von Ungleichheit. Diesen Grundpositionen korrespondieren divergierende verfassungstheoretische Begründungslasten in Ansehung von Eigentumsregelungen: prinzipiell begrenzten und begründungspflichtigen Freiheits- und Eigentumsbeschränkungen durch den Staat steht eine prinzipielle Begründungsdürftigkeit vermögensmäßiger Ungleichheiten seitens des Eigentümers gegenüber. Der Kampf um das Privateigentum begleitet in den angedeuteten Frontstellungen die politische Ideegeschichte seit ihren Anfängen. 2 Die Stellung zum Privat1 Diese Auseinandersetzung hat der Jubilar wie kaum ein anderer zu einem der großen Anliegen seines wissenschaftlichen Œuvre gemacht, vgl. statt aller Walter Leisner, Eigentum, Schriften zu Eigentumsgrundrecht und Wirtschaftsverfassung 1970 - 1996, hg. von Josef Isensee, 1996; ders ., Eigentum, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 149; zuletzt ders ., Demokratie. Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, 1998, S. 35 ff. 2 Überblick: Manfred Brocker, Arbeit und Eigentum, 1992.

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Otto Depenheuer

eigentum stand im Zentrum des weltumspannenden Streits der Ideologien, unterschied die widerstreitenden Lager im Weltbürgerkrieg, markierte die Fronten im Kampf der politischen Blöcke seit Mitte des 19. Jahrhunderts und teilte die Welt politisch bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Die politische Frontlinie verlief entlang der Alternative: Privateigentum oder Gemeineigentum, Verfügungsbefugnis des einzelnen oder des Kollektivs, Marktwirtschaft oder zentrale Planverwaltungswirtschaft. Politisch, ökonomisch und moralisch ist dieses Duell zweier antagonistischer Eigentumskonzeptionen entschieden: der moralisch wie ökonomisch blamable Zusammenbruch des real existent gewesenen Sozialismus hat weltweit zu einer beispiellosen Renaissance und Alternativlosigkeit des Privateigentums geführt. Nicht mehr Sozialisierung oder Verstaatlichung stehen am Ausgang des 20. Jahrhunderts auf der Tagesordnung der Weltinnenpolitik, sondern Privatisierung: politische Renaissance und ökonomischer Triumph des Privateigentums. Die philosophischen und politischen Gegensätze, die um das Eigentum oszillierten, sind indes zu tiefgründig in der Geistesverfassung der Menschheit verankert, um durch die historische Entwicklung ein für alle mal und grundsätzlich aufgehoben zu sein. Hintergründig und unbewußt rücken immer wieder überwunden geglaubte Eigentumsauffassungen in den Vordergrund, wobei sich Formen und Modalitäten der Auseinandersetzung ändern: weniger der offene politische Kampf gegen das Privateigentum bestimmt gegenwärtig die philosophische und politische Diskussion um das Eigentum; statt dessen ist es der verdeckte, bewußte oder unbewußte, der durch allmähliche und im Einzelfall kaum erkennbare, durch rechtskonstruktive und begriffliche Verschiebungen bewirkte.

2. Eigentum als Freiheit Vor diesem Hintergrund kommt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts grundlegende und zentrale Bedeutung zu, mit der es Art. 14 GG aus seiner jahrzehntelangen entschädigungsrechtlichen Verengung befreit und als Freiheitsrecht dogmatisch neu fundiert und entfaltet hat:3 tatsächlich ist Eigentum materialisierte Freiheit. Als klassisch-liberales Grundrecht steht der Schutz des Eigentums im Grundgesetz wie in allen geschriebenen Verfassungen der Neuzeit an herausgehobener Stellung. Das Grundgesetz zieht damit die Konsequenz aus der Einsicht, daß Freiheit des komplementär wirkenden Schutzes des Eigentums bedarf. Freiheit ist ohne Eigentum nicht zu denken und zu realisieren, Eigentum ohne Freiheitsgewähr wertlos. Aus der freiheitsrechtlichen Orientierung der Eigentumsdogmatik folgt auch in Ansehung des Eigentumsgrundrechts das rechtsstaatliche Verteilungs-

3 BVerfGE 58, 300 (330 ff.); vgl. dazu m.w.N. Otto Depenheuer, in: v. Mangoldt / Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 4. Aufl., 1999, Art. 14 Rdnr. 86 ff.

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prinzip; 4 Freiheit und Eigentum müssen danach als vorgegebene und prinzipiell unbeschränkte Rechte gedacht werden, die der Staat allerdings durch - jeweils rechtfertigungsbedürftige - Beschränkungen gemeinwohlkompatibel ausgestalten muß. Eigentum ist Grundlage bürgerlicher wie politischer Freiheit. 5 Die grundgesetzlich verbürgte freiheitliche Eigentumsordnung prägt nicht nur die Struktur des Wirtschaftssystems, sondern auch die politische Gestaltung des Gemeinwesens, vor allem die Stellung des einzelnen im Staat. Eigentum verschafft dem Bürger Unabhängigkeit vom Staat, sichert ihm privates und politisches Selbstbewußtsein und vermittelt ihm die Fähigkeit, seine grundrechtlich garantierte Freiheit tatsächlich auszuüben. Zugleich gewährleistet Eigentum zusammen mit der Privatautonomie des einzelnen eine prinzipiell marktwirtschaftlich organisierte Wirtschaftsordnung6 und damit die unerläßliche rechtliche Voraussetzung für wirtschaftlichen Wohlstand sowie für die Stabilität des politischen Gemeinwesens insgesamt.7 Indem die Verfassung Freiheit und Eigentum gewährleistet, eröffnet sie den Bürgern die Chance, das eigene Wohl und das ihrer Familien zu mehren, Unabhängigkeit vom Staat sowie Anerkennung und politisches Selbstbewußtsein für sich zu erringen. Als Grundlage und Ausdruck individueller Leistungsfähigkeit bildet das Eigentum einen legitimen Anknüpfungspunkt, um über hoheitliche Abgaben die Lasten des Gemeinwesens auf die Bürger umzulegen: die Eigentumsgarantie ist eine Bedingung des grundgesetzlichen Steuerstaates.8 Die Symbiose von Freiheit und Eigentum fundiert die bürgerliche Gesellschaft als Kultur-, Markt- und Privatrechtsgesellschaft zwar nicht in konfliktfreier, wohl aber fruchtbarer Polarität zum Staat. Privates Eigentum konstitutiert in einem elementaren Sinn moderne Staatlichkeit. Dieser grundsätzliche Befund zu Wesen und Bedeutung des Eigentumsgrundrechts bedarf freilich der Bewährung in der legislatorischen, exekutiven und judikativen Praxis. Dabei wird eine Anomalie der Eigentumsgarantie zum juristischen Problem:

4 Sog. rechtsstaatliches Verteilungsprinzip. Begriff: Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 126. - Vgl. auch: Bernhard Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr - Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 84, 457, 467; Herbert Bethge, Der Grundrechtseingriff, VVDStRL 57 (1998), S. 11. 5 Vgl. Ulrich Scheuner, Die Garantie des Eigentums in der Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 775, 780 ff. 6 F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 1971, S. 151, 168 f.; Günter Dürig, Das Eigentum als Menschenrecht, in: ZgesStW 109 (1953), S. 326, 334 f. 7 Näher zu diesem Aspekt: Otto Depenheuer, Setzt Demokratie Wohlstand voraus?, in: Der Staat 33 (1994), 329 ff. 8 Vgl. dazu: Josef Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: FS-Hans Peter Ipsen, 1977, S. 409,410 f.

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II. Anomalie des Eigentunisgrundrechts: Inhaltsbestimmung durch den Gesetzgeber Art. 14 schützt in der Traditionslinie des politischen Liberalismus 9 das Eigentum in erster Linie als subjektiv-öffentliches Abwehrrecht des Bürgers gegen staatliche Eingriffe. 10 Eigentum im Sinne des Grundgesetzes hat „sichernde und abwehrende" Bedeutung11 und ist seinem Wesen nach ein Ausschlußrecht des Inhabers gegen die Staatsgewalt.12 In diesem Sinne kommt der Eigentumsgarantie die Funktion zu, „den Bestand der durch die Rechtsordnung anerkannten einzelnen Vermögensrechte gegenüber Maßnahmen der öffentlichen Gewalt zu bewahren". 13 Der Staat hat das Eigentum seiner Bürger daher als ihm vorausliegend zu achten und zu schützen. Mit dieser Zielsetzung richtet sich die grundgesetzliche Garantie des Eigentums insbesondere an den Gesetzgeber. Unter den Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 2 kommt ihm allerdings zugleich die Aufgabe und Befugnis zu, im Wege sozialbindender Schrankenziehung das Eigentum des einzelnen in einen Ausgleich mit den Interessen der Allgemeinheit zu bringen. Während der Eigentümer mithin prinzipiell über die Art und Weise seines Eigentumsgebrauchs verfassungsrechtlich keine Rechenschaft schuldet,14 ist der Staat bei der das Sozialbindungsgebot konkretisierenden Inhalts- und Schrankenziehung darauf verwiesen, Eigentumseingriffe mit legitimen Gründen des Gemeinwohls zu rechtfertigen und in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit zu halten. Allein die Geltung des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips auch im Kontext der Eigentumsgarantie vermag der freiheitschützenden Wirkung des Grundrechts Rechnung zu tragen. 15 Die rechtsdogmatische Strukturierung der Eigentumsgarantie nach Maßgabe des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips scheint freilich der verfassungsgesetzlich statuierten Verpflichtung des Gesetzgebers nach Art. 14 Abs. 1 zu widersprechen, den „Inhalt ... des Eigentums durch die Gesetze" zu bestimmen. Wie soll das Eigen9 Zur liberalen Traditionslinie des Eigentumsgrundrechts: Ulrich Scheuner, Die Garantie des Eigentums in der Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 780 ff.; Helmut Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, 2. Aufl., 1976, S. 60 ff.; C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, 1967; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 5. Aufl., 1994, S. 177 ff. 10 Vgl. BVerfGE 24, 367, 400; 31, 229, 239.; Leisner, in: HStR (N 1) Rdnr. 5.

11 BVerfGE 42, 263, LS 3. 12 Walter Leisner, in: HStR (N 1) Rdnr. 8. 13 BVerfGE 72, 175, 195; 83, 201, 208. 14 Dies gilt ungeachtet des verfassungsrechtlichen Appells zum verantwortlichen Eigentumsgebrauch in Art. 14 Abs. 2; dieser verpflichtet moralisch, nicht rechtlich. Um rechtlich verpflichtend zu wirken, bedarf es gesetzlichen Ausformung des Sozialbindungsgebots, vgl. dazu Depenheuer (N 2) Rdnr. 204 ff. 15 Wie hier: Leisner, in: HStR (N 1) Rdnr. 54 ff.; a.A. im Ergebnis Weimer Böhmer, Eigentum aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Jürgen Baur (Hg.), Das Eigentum, 1989, S. 77 ff.; Brun-Otto Bryde, Art. 14, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar I, 4. Aufl., 1992, Art. 14 Rdnr. 11; Joachim Wieland, Art. 14, in: Horst Dreier, Grundgesetz, Kommentar I, 1996, Art. 14 Rdnr. 24.

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tum gegenüber dem Gesetzgeber verbindliche Direktiv- und Abwehrkraft entfalten können, wenn sein Inhalt von eben diesem zunächst bestimmt werden muß? Dieses Kardinalproblem der grundgesetzlichen Eigentumsdogmatik zählt zu den umstrittensten und bis zum heutigen Tage ungelösten. Andererseits ist die Klärung dieses Problems für jede konsistente verfassungsrechtliche Eigentumsdogmatik ebenso fundamental unausweichlich wie sachlich schwierig. Daher nimmt es nicht wunder, daß sich im Dunstkreis dieses Problems auch die alten Frontstellungen in Ansehung des Privateigentums wiederfinden lassen. Um in diesem theoretischen Nebel die Übersicht nicht zu verlieren, gilt es sich zunächst des Ausgangspunktes zu vergewissern, der allen Überlegungen zum Eigentumsrecht im Verfassungsstaat zugrundegelegt werden muß: der notwendigen Rechtsgeprägtheit des Eigentums. Auf dieser Grundlage läßt sich sodann die prinzipielle Alternative zur Bewältigung der Problematik analysieren, ihre verdeckte Tiefendimension erkennen und ein in sich konsistenter Lösungsansatz entwickeln.

1. Rechtsgeprägtheit des Eigentums In einem Staat, der auf dem Recht gründet, ist Eigentum notwendig rechtsgeprägt. Die Eigentumsgarantie kann ohne positivrechtliche Vermittlung keine rechtspraktische Wirksamkeit entfalten. Eigentum erwächst im Rechtsstaat nicht aus einem autonomen Akt des Individuums und stellt daher kein unmittelbares Rechtsverhältnis von Personen zu Sachen dar. 16 Das folgt aus der Erkenntnis, daß jedes Eigentumsrecht nicht nur Freiheiten für seinen Inhaber beinhaltet, sondern immer auch Unfreiheiten auf der Seite der von der Nutzung der Gegenstände Ausgeschlossenen.17 Dieses Ausschlußrecht aber kann nicht durch einseitig unternommene faktische Handlungen der Bearbeitung und Aneignung 18 der Sache rechtlich begründet sein. Wenn die Eigentümerstellung nicht getragen wird von einem Akt der Selbstverpflichtung aller Bürger zur Achtung fremden Eigentums, müßte sie zugleich Grundlage und Legitimation physischer Gewaltanwendung durch den Eigentümer sein: die Pflicht zur Achtung fremden Eigentums beruhte auf reiner Zwangsandrohung. Nur wenn die Pflicht zur Achtung fremden Eigentums sowie zur Abstinenz vom Gebrauch der Dinge anderer als selbst auferlegt angesehen werden kann und an die Stelle physischen Zwangs die Selbstverpflichtung 16 Vgl. Brocker (N 2), S. 388 ff.; Depenheuer (N 3), Rdnr. 29. Gegenposition die auf der Lockeschen Arbeitstheorie beruhende Auffassung, wonach der Bürger durch die Berarbeitung von Sachen und Boden Eigentum an denselben erwirbt. Darstellung und Kritik: Brocker (N 3), S. 354 ff. 17

Zum folgenden: Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 8, 16 ff.; vgl. dazu auch: Ralf Dreier, Eigentum in rechtsphilosophischer Sicht, ARSP 72 (1987), 159 ff.; Wolf gang Kersting, Transzendentalphilosophische und naturrechtliche Eigentumsbegründung, ARSP 67 (1981), 157 ff.; Brocker (N 2), S. 392 ff. 18 So aber sowohl die Okkupations- wie die Arbeitstheorie des Eigentums, vgl. Brocker (N 2), S. 30 ff., 125 ff.

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zur Respektierung fremder Güterrechte tritt, kann Eigentum als Rechtsinstitut begriffen werden. Die individuelle Güterzuteilung muß daher, um rechtliche Wirksamkeit entfalten zu können, als Zuteilung eines Gutes durch den gemeinschaftlichen Willen aller Rechtspersonen gedacht werden, die sich mit dieser Zuteilung implizit zur Respektierung, d. h. dem Enthalt vom Gebrauch der Sache in der Zukunft, verpflichten. Um also die anarchische Behauptung von Eigentumsrechten zu vermeiden, muß jeder faktische Besitz als ein von der Gemeinschaft aller Rechtspersonen zugeteiltes Recht gedacht werden können: dadurch allein kann seine Normativität gesichert werden. Bereits Immanuel Kant formulierte daher zutreffend: „Etwas Äußeres als das Seine zu haben, ist nur in einem rechtlichen Zustande, unter einer öffentlich gesetzgebenden Gewalt, d.i. im bürgerlichen Zustande, möglich." 1 9 Allein die Rechtsordnung kann bestimmen, was eigen und was fremd ist: „Es ist kein Recht oder Eigenthum ohne Gesetz."20 Eigentum ist im Rechtsstaat daher nicht als unmittelbare Herrschaft von Personen über Sachen zu begründen, sondern nur als rechtlich geordnetes Verhältnis von Personen in Ansehung von Eigentumsrechten zueinander. Eigentum steht im Zentrum eines interpersonalen rechtlich strukturierten ZuordnungsVerhältnisses, 21 d. h. eines solchen, das zwischen dem Individuum als Eigentümer und der Allgemeinheit besteht. Dementsprechend kann es in einem Rechtsstaat „natürliches" Eigentum nicht geben. Das natürliche Substrat des Eigentums muß vielmehr zu einer Rechtsposition ausgeformt sein. Da das Eigentum als Zuordnung eines Rechtsgutes an einen Rechtsträger auf rechtliche Ausformung angewiesen ist, stellt sich die rechtliche Gestaltungsbefugnis als notwendiges Korrelat der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie dar: ohne positivrechtliche Entscheidung kein Eigentum. 22 Aus der Einsicht in diese Struktur des rechtsstaatlichen Eigentums überantwortet der Verfassunggeber dem Gesetzgeber die Verpflichtung, „Inhalt und Schranken des Eigentums" zu bestimmen.

2. Eigentums grundrechtliches

Paradoxon: Eigentum nach Gesetz

In der Konsequenz dieses eigentumsspezifischen Rechtsverhältnisses geht auch das Bundesverfassungsgericht im Ansatz zutreffend davon aus, daß es im Verfassungsstaat kein dem Gesetzgeber vorgegebenes „natürliches" Eigentum gibt. 23 19

Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 8 f. 20 Kant, Akademieausgabe, Bd. XIX, 1934, Ziff. 7665. 21 BVerfGE 58, 300, 330; Böhmer, (N 15), S. 62ff.; ders., Grundfragen der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Eigentums in der Rechtsprechung des BVerfG, NJW 1988, 2561, 2566. 22 Vgl. Böhmer (N 15), S. 62: „Der Eigentumsbegriff ist ohne rechtliche ,Infrastruktur' eine leere und nichtssagende Worthülse"; ferner Jochen Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung, 1998, S. 65 ff. 23 Vgl. BVerfGE 2, 237, 253 f.; 15, 126, 144.

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Daraus leitet das Gericht freilich - zu - weitgehende Konsequenzen ab: der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff sei dem Staat prinzipiell nicht vor-, sondern aufgegeben. Der Gesetzgeber verfüge über eine umfassende, nur durch die Institutsgarantie des Eigentums begrenzte, Kompetenz zur Eigentumskonstituierung, 24 nicht indessen der Eigentümer über einen verfassungsrechtlichen Status, dessen Integrität er dem eigentumsordnenden Staat entgegenhalten kann. Vielmehr sei es der Gesetzgeber, der das Eigentum und seine Befugnisse durch das einfache Recht zuallererst konstituiere. „Welche Befugnisse einem Eigentümer in einem bestimmten Zeitpunkt konkret zustehen, ergibt sich [sc. nicht aus der Verfassung, sondern] vielmehr aus dem Zusammenhang aller in diesem Zeitpunkt geltenden, die Eigentümerstellung regelnden gesetzlichen Vorschriften. Ergibt sich hierbei, daß der Eigentümer eine bestimmte Befugnis nicht hat, so gehört diese nicht zu seinem Eigentumsrecht. [ . . . ] Aus der Gesamtheit der verfassungsmäßigen Gesetze, die den Inhalt des Eigentums bestimmen, ergeben sich somit Gegenstand und Umfang des durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Bestandsschutzes."25 Aus dieser Perspektive bildet Art. 14 lediglich eine Transformationsnorm für gesetzliche Inhaltsbestimmungen des Eigentums, ohne ihnen gegenüber jemals inhaltlichen Selbstand gewinnen zu können. Die These von der gesetzgeberischen Inhaltsbestimmung des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs führt die grundgesetzliche Eigentumsdogmatik in elementare Widersprüchlichkeiten und Aporien. Sie verkehrt das Verhältnis von Verfassung und Gesetz, indem sie das Gesetz nicht unter der Verfassung stellt, sondern die Verfassung in Abhängigkeit vom Gesetz geraten läßt. 26 Auch wird unter der Prämisse einer gesetzlichen Eigentumsdefinitionskompetenz die rechtsstaatlich notwendige Unterscheidung von Inhaltsbestimmung einerseits und Schrankenziehung andererseits unmöglich: der Gesetzgeber, der den Inhalt des Eigentums bestimmt, kann logisch nicht gleichzeitig durch dieses von ihm zu konstituierende Eigentum beschränkt sein. Schließlich führt diese Ansicht zum unvermeidlichen Leerlaufen des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip. Nicht mehr der Bürger hat den „ersten Zugriff 4 auf sein Eigentum, sondern der Staat, der - vor aller Eigentümerfreiheit - den Inhalt des Eigentums bestimmt: das aber ist nur noch eine konfektionierte „Freiheit nach Gesetz" und nicht mehr die Freiheit gegenüber dem Gesetz. Diese Konsequenzen der These von der gesetzgeberischen Inhaltsbestimmungskompetenz des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs sind evident; sie geben hinreichende Veranlassung, die These auf ihre Stimmigkeit erneut zu überdenken. Tatsächlich wird die nähere Analyse zeigen, daß das Bundesverfassungsgericht aus einer zutreffenden Prämisse zu weitgehende Folgerungen zieht. Indem es nämlich 24 BVerfGE 58, 300ff.; Böhmer (N 15), S. 63 ff.; Rainer Wahl, Abschied von den „Ansprüchen aus Art. 14 GG", in: FS-Konrad Redeker, 1993, S. 245, 255 ff.; Bryde (N 15) Rdnr. 11. - Zur Institutsgarantie des Eigentums vgl. Depenheuer (N 3), Rdnr. 91 f. 25 BVerfGE 58, 300, 336. 26 Grundlegend: Walter Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964.

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die notwendige /tec/iteprägung des Eigentums mit Gesetzesprägung identifiziert und kurzschließt, verliert es die Verfassung, d. h. den fundamentalen Baustein der grundgesetzlichen Eigentumsordnung, aus den Augen. Dies wird sogleich näher dazulegen sein. Hinter dem kompetenzrechtlichen Problem der Bestimmung des Eigentumsbegriffs verbirgt sich indes auch - durch dieses verdeckt - eine inhaltliche Kontroverse über das Wesen des Eigentums. Was sich vordergründig als reines Konstruktionsproblem der juristischen Dogmatik darzustellen scheint, spiegelt in Wahrheit eine Fundamentalkontroverse um das Eigentum wieder. In der Tiefendimension der Problematik zeigt sich, daß hinter der Theorie von der exklusiven Maßgeblichkeit gesetzgeberischer Inhaltsbestimmungen des Eigentums der - bewußte oder unbewußte - Versuch steht, auf Verfassungsebene einen konkreten und apriori pflichtgebundenen Eigentumsbegriff zu etablieren und damit die Grundentscheidung des Verfassunggebers für den abstrakten Eigentumsbegriff i.S. umfassender Herrschafts- und Verfügungsbefugnis zu unterlaufen, d. h. aufzulösen in eine Vielzahl konkreter Einzelbefugnisse. Hier wird in neuer terminologischer Gewandung und dogmatischer Funktion ein klassischer Meinungsstreit um das Wesen des Eigentums erkennbar, so wie er insbesondere in der deutschen Rechtsentwicklung immer wieder als Auseinandersetzung zwischen germanischem und römischem Eigentumsbegriff 27 ausgetragen worden ist.

3. Die Tiefendimension

des Problems: abstraktes oder konkretes Eigentum

Den Kern dieses idealtypischen Gegensatzes bildet die Frage, ob Eigentum als absolutes, dem Gesetzgeber vorausliegendes abstraktes Recht gedacht werden kann oder stets als pflichtgebundenes gedacht werden muß und deswegen gesetzgeberischer Inhaltsbestimmung a priori bedarf. In Ansehung dieser Alternative standen und stehen sich liberales und kommunitaristisches, abstraktes und konkretes, absolutes und relatives Eigentumsverständnis, römische und germanische Rechtsauffassung gegenüber.28 Während das BGB und - dieses rezipierend - das Grundgesetz in der Tradition des Liberalismus stehen, sucht die Gegenauffassung durch Interpretation und dogmatische Konstruktion die Idee des apriorisch pflichtgebundenen Eigentums auf dem Wege über die „gesetzliche Inhaltsbestimmung" erneut einzuführen. Dieser Versuch kann auf eine lange Reihe ideengeschichtlicher Vorläufer zurückblicken; sie bilden eine Konstante im politischen Denken um das Eigentum. So waren römisches Rechtsdenken, liberales Grundrechtsdenken und abstrakter Eigentumsbegriff nie unumstritten: Freiheit galt in historischer Rück27

Die Gegenüberstellung von römischem und germanischem Eigentumsbegriff folgt einer im letzten Jahrhundert geläufigen und tradierten Terminologie, von der abzuweichen keine Veranlassung besteht, da sie idealtypsche Eigentumskonzeptionen in prägnanter Kürze auf den präzisen Begriff bringt. 28 Vgl. zum folgenden: Depenheuer (N 3), Rdnr. 37 ff.

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schau durchaus nicht als Wert an sich. Im Gegenteil: Romantiker aller Zeiten und jeglicher Provenienz witterten in polemischer Abgrenzung zur Aufklärungsphilosophie in Rationalismus, Individualismus und Liberalismus den Keim für Auflösung, Zersetzung und Verfall von Gemeinschaft und Staat. Der Gedanke vom Gleichgewicht durch Wettbewerb, Gerechtigkeit durch Markt, Staatlichkeit durch Vertrag und Wahrheit durch Verfahren war und ist ihnen zutiefst suspekt. Die Auseinandersetzung zwischen liberalem und Pflichtigem Freiheitsdenken hat gerade im deutschen Rechtskreis Tradition: in ihr spiegelt sich der Konflikt zwischen römischer und germanischer Rechtstradition, der das deutsche Rechtsleben seit der Rezeption und mit dem Siegeszug des römischen Rechts immer wieder durchzieht. Deutschland steht damit ideengeschichtlich im Zentrum zweier fundamental einander entgegengesetzter Formen rechtlichen Denkens.

I I I . Eigentum als konkrete, pflichtgebundene Rechtsposition 1. Apriorische Pflichtgebundenheit

des Eigentums

Als Gegenentwurf zum liberalen, römisch-rechtlich geprägten Eigentumsbegriff geht der germanische nicht vom Individuum und seiner Freiheit aus, sondern von der gegebenen integralen Einheit - dem Volk, Staat, allgemein: der Gemeinschaft. Der Bürger wird nicht als einzelnes, isoliertes Individuum gedacht, sondern als stets unverfügbarer Teil einer Gemeinschaft. Von diesem Ausgangspunkt her sind die Individuen und ihre Rechte notwendig funktional bezogen auf die sie tragende Gemeinschaft. Grundrechte gewähren hier nicht wie im liberalen Modell Freiheit um ihrer selbst willen, sondern um der Funktionserfüllung innerhalb der Gemeinschaft. Freiheit kann auf der Basis dieser Prämisse nicht mehr als grundsätzlich unbeschränkte gedacht werden. Vielmehr sind dem Begriff der Freiheit konkrete Bindungen immanent: Freiheit ist immer Pflichtige Freiheit im Dienste der jeweiligen Gemeinschaft. In dieser Form bildet der germanische Eigentumsbegriff in zweifacher Hinsicht das idealtypische Gegenbild zum römischen: ihm ist die Pflichtbindung des Rechtsinhabers immanent. Zudem kann auf seiner Grundlage Eigentum nicht abstrakt, sondern nur konkret gedacht werden. Repräsentativ formuliert Otto von Gierke die germanische Idee des Eigentums: „Das deutsche Eigentum trägt Schranken in seinem Begriff. Es ist daher nicht ein im Gegensatz zu anderen Rechten unumschränktes (absolutes) Recht". 29 Von hier aus entfaltete Gierke seine Kritik am Entwurf des BGB. Ausgehend von dem Satz „Kein Recht ohne Pflicht" glaubte er 1889 prophezeien zu können, daß die Idee eines pflichtlosen Eigentums keine Zukunft habe.30 Wenn sich auch die Verfasser des BGB seinerzeit von 29 Otto von Gierke , Deutsches Privatrecht II: Sachenrecht, 1905, S. 358. 30

Otto von Gierke , Die soziale Aufgabe des Privatrechts (1889), abgedruckt in: E. Wolf, Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 1949, S. 479 ff.

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Gierkes Kritik kaum beeindrucken ließen,31 so judizierte das Reichsgericht jedoch bereits 1916 im Sinne des germanischen Eigentumsbegriffs: „Das Eigentum berechtigt nicht nur, sondern verpflichtet ebenso den Eigentümer". 32 Dieser Gedanke hat dann bis in die Formulierung hinein Eingang in die Eigentumsgewährleistung zunächst der Weimarer Reichsverfassung und sodann in Art. 14 Abs. 2 GG gefunden. Die Ausgangsthese des germanischen Eigentumsbegriffs - „kein Recht ohne Pflicht" - kann inhaltlich sinnvollerweise nicht bestritten werden. In der Form eines undifferenzierten Gemeinplatzes bildet er freilich im Kontext einer rechtsstaatlichen Verfassungsordnung einen freiheitsgefährdenden Fremdkörper. Denn aus verfassungsrechtlicher Perspektive kommt es entscheidend nicht allein auf die inhaltliche Richtigkeit einer Idee an, sondern auf deren juristische Umsetzung im Kontext einer gestuften Rechtsordnung, die auf der Freiheit des Bürgers gründet. Die juristische Struktur des Verhältnisses von Recht und Pflicht unterscheidet den pflichtgebundenen Eigentumsbegriff aber fundamental von liberalem Grundrechtsdenken: dem germanischen Rechtsdenken ist die asymmetrische Konstruktion von verfassungsrechtlich verbürgter Freiheit und gesetzlicher Bindung fremd. Die Grundidee des konkreten, pflichtgebundenen Eigentums, die aus der Annahme notwendiger Symmetrie von Recht und Pflicht folgt, hat ihre moderne Fassung exemplarisch, richtungsweisend und wirkmächtig durch Werner Böhmer gefunden. 33 Danach obliegt die Ausgestaltung der Eigentumsordnung dem jeweiligen parlamentarischen Gesetzgeber, der dabei insbesondere an § 903 BGB nicht gebunden sei. Unter Ausblendung der normhierarchisch gestuften Rechtsordnung sei die Ausgestaltung des konkreten Eigentumsrechts allein und ausschließlich Aufgabe des einfachen - privaten und öffentlichen - Gesetzesrechts. Das „Wir", d. h. die Rücksichtnahme auf die Belange der Allgemeinheit, welches durch die Normen des öffentlichen Rechts zu verwirklichen sei, gehöre von vorneherein zum Eigentumsbegriff. Das Grundgesetz kenne folglich kein an sich unbeschränktes Eigentum.34 Der Gesetzgeber habe zuallerst die Schaffung eines Ausgleichs von Eigentümerinteressen und Allgemeinheit zur Aufgabe. Darin könne deshalb schon begrifflich kein Eigentumseingriff liegen. 35 Indem die Verfassung dem Eigentumsbegriff das „Wir" hinzugefügt habe, habe es sich für das „sozial gebundene Privateigentum" entschieden und eine Absage erteilt an eine Eigentumsordnung, in der das Individualinteresse den unbedingten Vorrang vor den Interessen der Gemeinschaft habe.36 31

Vgl. zu Einzelheiten: Karl Kroeschell, Die nationalsozialistische Eigentumslehre, in: Michael Stolleis / Dieter Simon (Hrsg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, 1989, S. 43, 60 f. 32 RGZ 89, 120, 122. 33

Böhmer (N 15), S. 39 ff., 61 ff. Böhmer (N 15), S. 69. 3 5 Böhmer (N 15), S. 77. 3 6 Böhmer (N 15), S. 76 f.

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2. Eigentum als konkrete Berechtigung Der pflichtgebundene Eigentumsbegriff in der Tradition des germanischen Rechtsdenkens ist im Gegensatz zum römischen nicht abstrakt, sondern notwendig konkret. Eigentum im Sinne des germanischen Sachenrechts geht nicht abstrakt der Wirklichkeit als Idee voraus, sondern wächst in seiner konkreten Fülle aus dem Leben selbst hervor. 37 Es deckt sich mit dem jeweils konkreten Inhalt an Herrschaftsmacht. 38 Dieser Ansatz zeitigt zwei theoretische wie praktische Konsequenzen: Zunächst kann jede Berechtigung an einer Sache als Eigentum qualifiziert werden mit der Folge, daß vielfache Berechtigungen an einem Gegenstand gleichzeitig denkbar werden. Es gibt dann kein einheitliches, ungeteiltes Eigentum im Sinne eines umfassenden Herrschafts- und Verfügungsrechts mehr; jede obligatorische und sonstige Berechtigung vermag sich vielmehr zu verdinglichen. 39 In der Folge können Verfügungs- von Nutzungsbefugnisse unterschieden und entsprechend gedacht, Ober- und Untereigentum konstruiert werden. 40 Zum anderen muß jedes Eigentumsrecht in seiner Funktion im jeweiligen Lebensbereich analysiert werden, weil sich das Eigentumsrecht nur in der jeweils konkreten Funktion darstellt und rechtlich geschützt sein kann. Der Umfang des Eigentumsrechts ergibt sich aus der sozialen „Funktion der jeweiligen Sachkategorie". 41 Abgesehen davon, daß „die Funktion der jeweiligen Sachkategorie" eine Ermächtigung zur Inhaltserfüllung an den jeweiligen Interpreten darstellt 42 denn einen diesen bindenden Rechtsbegriff, wird Eigentum dergestalt zu Funktionseigentum, das einer spezifischen Logik folgt: nur insoweit die konkrete Berechtigung eine Funktion 37 Zum konkret-allgemeinen Rechtsbegriff vgl. Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1973, S. 302 ff. m.w.N. 38 Vgl. Karl Kroeschell, Die nationalsozialistische Eigentumslehre, in: Michael Stolleis / Dieter Simon (Hrsg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, 1989, S. 58 m.w.N. 39 Grundsätzlich dazu: Gerhard Dulckeit, Die Verdinglichung obligatorischer Rechte, 1951; vgl. auch: Dieter Strauch, Das geteilte Eigentum in Geschichte und Gegenwart, in: ders., Kleine rechtsgeschichtliche Schriften, 1998, S. 102 ff. 40 Karl Kroeschell, Die nationalsozialistische Eigentumslehre, in: Michael Stolleis / Dieter Simon (Hrsg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, 1989, 43 ff.; Hans Hattenhauer, Über vereintes und entzweites Eigentum, in: Veröffentl. der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Nr. 58, 1989, S. 83 ff. Erste praktisches Anschauungsmaterial bietet die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „Eigentum des Mieters": dieses soll nicht auf die obligatorische Vermittlung durch den Vermieter angewiesen sein, weil auch „der Fortbestand eines einmal entstandenen und durch Art. 14 GG als Eigentum erfaßten Rechts, also der Bestandsschutz, [ . . . ] Gegenstand des Grundrechtsschutzes" ist. So BVerfGE 89, 1, 7; vgl. dazu Depenheuer (N 3), Rdnr. 157ff., ders., Der Mieter als Eigentümer?, NJW 1993, S. 2561 ff. 41 Peter Badura, Eigentum im Verfassungsrecht der Gegenwart, Verhandlungen des 49. DJT, Bd. 2, 1972, Teil T, S. 26 ff. 42

Der einzelne Grundrechtsträger bestimmt nicht mehr den Gebrauch des Grundrechts, sondern seine Freiheit ist auf Funktionserfüllung im grundrechtlichen Sachbereich reduziert. Das Grundrecht mutiert aus der Garantie individueller Freiheitsrecht zum Oktroi fremdbestimmter Pflichten.

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für den Rechtsinhaber erfüllt, eignet ihr auch verfassungsrechtlich Eigentumsqualität. 43

3. Immanente Widersprüche

des Pflichtigen

Eigentumsbegriffs

Die Idee des apriorisch pflichtgebundenen Eigentums begegnet zahlreichen - logischen, verfassungsrechtlichen und rechtspolitischen - Bedenken. Nicht nur verkennt sie die verfassungsgesetzliche Entscheidung für einen Eigentumsbegriff, wie ihn „das bürgerliche Recht und die gesellschaftlichen Anschauungen" ausgeformt haben.44 Sie vermag darüber hinaus die Bedeutung der verfassungsgesetzlichen Gewährleistung des Eigentums nicht angemessen Rechnung zu tragen und wird dadurch der freiheitlichen Option der Verfassung nicht gerecht. Sie ist ferner in sich nicht konsistent und sucht ihr rechtspolitisch berechtigtes Anliegen mittels eines dogmatisch verfehlten Ansatz zu bewältigen. a) Im Ansatz unzutreffend erweist sich bereits die Prämisse, daß nur der pflichtgebundene, das „Wir" a priori einbindende Eigentumsbegriff eine sozial angemessene Eigentumsordnung ermögliche. Nicht die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer sozial gerechten Eigentumsordnung steht jedoch bei der Frage des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs zur Diskussion, sondern die rechtliche Struktur, auf deren Grundlage diese realisiert werden kann und muß. Insoweit steht aber allein die Alternative zur Diskussion, ob der die Eigentumsordnung konkret ausgestaltende und zu diesem Zwecke Eigentümerbefugnisse beschränkende Gesetzgeber sich vor den Freiheitsansprüchen der Eigentümer rechtfertigen muß oder - da er nur apriorisch angelegte Pflichten aktualisiert - nicht. Mit anderen Worten: die verfassungsrechtlich gebotene Zielsetzung, eine sozialgebundene, die „WirDimension" beinhaltende Eigentumsordnung bereitzustellen, streitet keineswegs zwingend für einen Pflichtigen Eigentumsbegriff. 45 b) Im Gegenteil: gerade die gesetzgeberische Aufgabe, zwischen Interessen der Eigentümer und denen der Gesellschaft abzuwägen und dadurch eine sozial gerechte Eigentumsordnung zu schaffen, setzt einen abstrakten, verfassungsrechtlich pflichtfreien Eigentumsbegriff voraus. Denn die Erfüllung dieser notwendigen Aufgabe setzt denknotwendig einen verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff voraus, der als Eckpunkt der Abwägung von Eigentümerinteressen und Gemeinschaftsbelangen nicht identisch mit dem sein kann, der als Ergebnis der Abwägung zum Inhalt der gesetzlichen Eigentumsbestimmung wird. Gesetzliche Inhalts- und 43 Einen Ansatz in diese Richtung bietet die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Eigentum sozialversicherungsrechtlicher Positionen: eigentumsrechtlich geschützt sind diese nur, wenn sie u. a. der Existenzsicherung des Versicherten dienen, vgl. Otto Depenheuer, Wie sicher ist verfassungsrechtlich die Rente? Vom liberalen zum solidarischen Eigentumsbegriff, AöR 120 (1995), S. 417 ff. 44 BVerfGE 1, 264, 278; 65, 196, 209. Näher dazu sogleich unter IV. 1. 4 5 A.A. BVerfGE 52, 1, 49; Böhmer (N 15), S. 39 ff., 61 ff.

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Schrankenbestimmungen können daher weder logisch noch verfassungsrechtlich als von vornherein mitgedacht gelten, sondern müssen als von außen kommende und nachträgliche Beschränkungen eines dem Gesetzgeber vorgegebenen, verfassungsrechtlich geprägten Eigentumsbegriffs angesehen werden. 46 Dies setzt einen dem Gesetzgeber vorgegebenen Garantiegehalt des Eigentums voraus, der verfassungstheoretisch sogar gedacht werden müßte, um Eigentum als Freiheitsrecht real wirksam werden zu lassen. Die sozial gerechte Eigentumsordnung ergibt sich also erst aus dem Zusammenspiel von verfassungsrechtlicher Gewährleistung und gesetzlicher Beschränkung, ist mithin Ergebnis, nicht Ausgangspunkt gesetzgeberischer Gestaltung. c) In der Konsequenz eines offenen, allein durch den Gesetzgeber originär auszufüllenden Eigentumsbegriffs ergeben sich zudem eine Reihe rechtsstaatlicher Kurzschlüsse. Die Verfassung geriete mangels eigenen Selbstands in funktionale und uneinholbare Abhängigkeit vom Gesetz. Der Gesetzgeber stünde nicht unter, sondern würde in Ansehung des Eigentums zum Herrn der Verfassung. Die Grundentscheidung des Art. 1 Abs. 3 GG, die Bindung aller Staatsgewalt an die Grundrechte, wäre für Art. 14 GG außer Kraft gesetzt. Nur eine weitere Facette dieser Verkehrung der grundgesetzlichen Freiheitsgewährleistung ist es, daß auf der Grundlage der These vom originär gesetzesgeprägten Eigentumsrecht Inhaltsbestimmung und Schrankenziehung nicht mehr auseinandergehalten werden können, bei Art. 14 GG also Inhalts- und Schrankenbestimmung ununterscheidbar zusammenfallen. 47 Tatsächlich widerspricht es elementarer Logik, etwas beschränken und ausgleichen zu wollen, was zuallererst konstituiert werden muß. d) Der grundrechtsdogmatische Ansatz des apriorisch pflichtgebundenen Eigentums hat aber nicht nur konstruktive, sondern erhebliche rechtspraktische Konsequenzen. Wenn Eigentum i. S. d. Art. 14 GG nur jene Rechtspositionen sind, die das einfache Recht ausbildet, dann gibt es keine prinzipielle Vermutung für die Freiheit des Eigentümers. Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip, nach dem die Freiheit des Bürgers prinzipiell unbegrenzt, die Eingriffe des Staates hingegen prinzipiell begrenzt und rechtfertigungsbedürftig sind, wäre für die Eigentumsgarantie außer Kraft gesetzt; es liefe buchstäblich ins Leere. Die Verfassung wäre nicht mehr Schutzschild bürgerlicher Freiheit, sondern hätte verfassungsrechtliche Beurkundungs- und Rechtfertigungsfunktion für den eigentumsregelnden Gesetzgeber. Die Freiheit des Eigentümers basierte nicht länger auf der Verfassungsgarantie, sondern nur auf der Ebene des einfachen Gesetzes. Die Verfassungsgarantie böte gegenüber gesetzlichen Ver- und Geboten keine Schranke mehr. Mehr noch: je weniger Eigentumsbefugnisse das einfache Gesetz dem Bürger beließe, desto schwächer würde der Schutz für das verbleibende Resteigentum. Ein rechtsstaatliches Paradoxon und Skandalon: je mehr Eingriffe bereits vorliegen, desto weitergehende Eingriffe würden legitimiert - eine freiheitserdrosselnde Dogmatik. A.A. Wieland, (N 15) Rdnr. 37. 47 Rozek (N 22), S. 57 ff.

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e) Vor allem aber wandelt sich auf der Grundlage des germanischen Eigentumsbegriffs die Freiheit des Bürgers unter der Hand in ihr Gegenteil: die Pflicht. Nach der Auffassung vom apriorisch gebundenen Eigentum gibt es nämlich überhaupt keine Freiheit jenseits der Pflicht. Stattdessen gibt es nur noch die Pflicht, und in der Pflichterfüllung wird die Freiheit des Eigentümers wirklich. In Anlehnung an eine berühmte Formulierung Hegels gälte: Die Pflicht ist die Wirklichkeit der sittlichen Freiheit. Gierke hat diese freiheitsgefährdende Konsequenz durchaus gesehen und sie gar positiv eingefordert: „Die Rechtsordnung [darf] nicht davor zurückscheuen, nicht bloß den Mißbrauch des Eigenthums zu verbieten, sondern auch die Pflicht des rechten Gebrauchs in dem social gebotenen Umfange zur Rechtspflicht zu stempeln".48 Dem Bürger bleibt danach allein die Freiheit, seine „recht verstandene" Freiheit, d. h. seine Pflichten, zu erfüllen. f) Das Fazit der Analyse fällt ernüchternd aus. Aus der richtigen Erkenntnis heraus, daß Rechte und Pflichten einander korrelieren müssen, resultiert ein verfassungsrechtlicher Freiheitsbegriff, der inhaltlich das Gegenteil des liberalen ist: Pflichtige Freiheit ist „Unfreiheit". Die Ursache für diese Verkehrung der liberalen Freiheitsidee liegt allein in einer Struktur des rechtlichen Denkens begründet, die Freiheit und Bindung nicht in ihrem asymetrischen Stufenverhältnis, sondern nur symmetrisch zu denken weiß. Dadurch wird die gesetzliche Statuierung von Pflichten rechtskonstruktiv befreit von der Rechtfertigung vor dem Grundrecht, da dieses nicht mehr als „an sich" unbeschränktes gedacht werden kann. Die Kompetenz zur Inhalts- und Schrankenbestimmung verwandelt sich aus der Befugnis, individuellem Eigentumsgebrauch Schranken zu setzen, in die unumschränkte Macht, positiv zu bestimmen, worin die Freiheit des Eigentümers besteht. An die Stelle punktueller Eigentumsbeschränkungen zur Mißbrauchsverhütung tritt die positive Bestimmung des rechten Eigentumsgebrauchs. In der Folge kann zwischen Freiheit und Pflicht inhaltlich nicht mehr unterschieden werden: es gibt nur noch die Pflicht zur Freiheit und das ist die Freiheit zur Pflicht.

IV. Der abstrakte Verfassungsbegriff des Eigentums 7. Prägung des Eigentums durch Gesetz und Verfassung a) Verfassung als eigentumsprägendes Gesetz Die immanenten Widersprüche, die gegen Idee und Praxis des pflichtgebundenen symmetrischen Eigentumsbegriff sprechen, lassen den abstrakten Eigentumsbegriff zwar als praktische Notwendigkeit erscheinen, vermögen ihn aber noch nicht als auch theoretisch zutreffend und positivrechtlich verbindlich zu erweisen. Insoweit kommt es vor allem darauf an, ihn mit der Erkenntnis notwendiger und 48

Otto von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, abgedruckt in: E. Wolf, Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, S. 491.

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unverzichtbarer Rechtsgeprägtheit des Eigentums zu vermitteln. Tatsächlich steht oder fällt der abstrakte Eigentumsbegriff mit der Bewältigung dieser Aufgabe. Auf den ersten Blick erscheint der abstrakte Eigentumsbegriff allerdings mit der Erkenntnis unverzichtbarer Normgeprägtheit des Eigentums unvereinbar. Denn die rechtsphilosophisch wie rechtsdogmatisch zwingende Notwendigkeit rechtlicher Vermittlung des Eigentums unterwirft die rechtspraktische Ausgestaltung des Eigentums den wandelbaren gesellschaftlichen Anschauungen, stellt Eigentum in historische Kontingenz. Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung zeigen denn auch unterschiedliche Antworten auf die Frage nach der rechtlichen Ausgestaltung des Verhältnisses „Mensch - Sache - Rechtsgemeinschaft". Die in Geschichte und Gegenwart sichtbaren Lösungen spiegeln in ihrer Bandbreite die sich wandelnden Ideen, Einstellungen und Wünsche wieder, die das Eigentum in der sozialen Ordnung bestimmt haben oder künftig bestimmen sollen. Auf einer prinzipiellen Ebene obliegt es der Rechtsordnung originär, ob, wie und in welcher Kombination sie die einzelnen Grundelemente des Eigentums49 gewährleistet. Einen apriorischen, natürlichen, „übergesetzlichen" oder abstrakten Rechtsbegriff des Eigentums scheint es demnach nicht geben zu können.50 Der Widerspruch ist indes nur ein scheinbarer; er beruht auf der Gleichsetzung von natürlichem und abstraktem Eigentumsbegriff. Er löst sich daher sofort auf, wenn der abstrakte Eigentumsbegriff durch eine Norm des positiven Rechts dem Gesetzgeber verbindlich vorgegeben ist. Tatsächlich beinhaltet das Grundgesetz selbst die erste normative Ausprägung des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs. Die Erkenntnis unumgänglicher Rechtsgeprägtheit des Eigentums ist nicht gleichzusetzen bzw. zu reduzieren auf notwendige „Gesetzesgeprägtheit". Normprägung vollzieht sich nicht notwendig und ausschließlich in einem Akt der einfachen parlamentarischen Gesetzgebung.51 Im Kontext einer gestuften Rechtsordnung wird das Eigentum von Verfassunggeber und Gesetzgeber zur gesamten Hand geprägt. Art. 14 Abs. 1 beinhaltet also auf Verfassungsebene eine erste grundlegende, normativ verpflichtende, weiteren Konkretisierungen zugängliche, ermöglichende und bedingende Konstituierung des rechtlich anzuerkennenden Eigentums. Aus der Vielzahl theoretisch denkbarer Eigentumskonkretisierungen hat der Verfassunggeber einen bestimmten Typus von Eigentum verfassungskräftig zum Leitbild gesetzlicher Konkretisierungen erhoben. Die Verfassung mußte Eigentum nicht neu erfinden, sondern fand es als ausgeformtes Rechtsinstitut in seinen prägenden Strukturen im bürgerlichen Recht des Jahres 1949 vor und konnte daran anknüpfen. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht zutreffend herausgestellt, 49

Vgl. zu den einzelnen theoretisch verselbständigbaren Berechtigungen aus dem Eigentum: Brocker ( N 2), S. 395 ff. so Insoweit zutreffend Böhmer (N 15), S. 62. 5i Zur Normprägung als Kategorie grundsätzlich: Peter Lerche, Grundrechtsschranken, in: HStR (N 1) V, § 121 Rdnr. 37 ff.; Bethge (N 4), S. 7, 28 ff. 20 FS Leisner

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daß das Grundgesetz in Art. 14 „das Rechtsinstitut des Eigentums, so wie es das bürgerliche Recht und die gesellschaftlichen Anschauungen geformt haben, schützen" wollte. 52 Mit dem Vorrang der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Eigentums ist Vorsorge dagegen getroffen, daß die Verpflichtung des Gesetzgebers, den Inhalt des Eigentums zu bestimmen, zu einem normativen Leerlaufen der Verfassungsgarantie führt. Die Verfassung wird nicht zu einer schlichten Transformationsnorm, die jede einfachrechtliche Bestimmung des Eigentums unvermittelt auf die Ebene der Verfassung hebt, ohne aber dort dem Gesetzgeber gegenüber Selbstand gewinnen zu können. Der verfassungsrechtliche Strukturtypus des Eigentums ist vielmehr durch das bürgerliche Sach- und Grundeigentum geprägt. 53 Dieser ist gekennzeichnet durch privatnützig zugewiesene umfassende Herrschafts- und Verfügungsbefugnis des Eigentümers, die § 903 BGB - die magna charta des Eigentumsgrundrechts - klassisch dahingehend umschreibt, daß „der Eigentümer einer Sache ... mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen" kann. 54 Für die Rechtsordnung ist das Eigentum des Bürgers eine bloße Negation, nur dadurch definierbar, daß nicht gefragt werden darf, wie der jeweilige Eigentümer sein Herrschaftsrecht ausübt.55 Art. 14 Abs. 1 stellt sich damit in die Traditionslinie des einheitlichen, abstrakten römisch-rechtlich geprägten Eigentums und beinhaltet eine prinzipielle Absage an alternative Eigentumskonstruktionen. 56 Das Leitbild des bürgerlichen Eigentums bestimmen und konturieren sowohl Inhalt als auch Befugnisse des verfassungsrechtlich garantierten Strukturtypus „Eigentum". 57 Nach Maßgabe der historischen Anknüpfung gewinnt das Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinn seine den Gesetzgeber bindenden Prägestrukturen. An ihnen entscheidet sich, ob die gesetzliche Zuweisung von Vermögenswerten Rechtspositionen Eigentum i. S. d. Art. 14 ist oder nicht. Indem das Grundgesetz „Eigentum" als Strukturtypus verbindlich vorgibt, steckt es auch den Rahmen ab für sachliche Ausweitungen des eigentumsrechtlichen Garantiegehaltes auf neuartige Rechtspositionen. Zu Recht stellt das Bundesverfassungsgericht daher in ständiger Rechtsprechung bei der eigentumsrechtlichen Qualifikationsfrage darauf ab, ob „ein vermögenswertes Recht dem Berechtigten ebenso ausschließlich wie Eigentum an 52 Vgl. BVerfGE 1, 264, 278; 65, 196,209. 53 Vgl. BVerfGE 78, 58, 71 m.w.N.; 83, 201, 208 f.; 91, 207, 220; 95, 267, 300; Depenheuer (N 3), Rdnr. 61 ff.; Wieland (N 15), Rdnr. 31 ff. 54 Grundsätzlich a. A. Böhmer (N 15), S. 63; vorsichtiger: Wieland (N 15), Rdnr. 21 ff. 55 Hattenhauer (N 40), S. 85. 56 Theoretisch kann Eigentum zwar in vielfachen Einzelberechtigungen verselbständigt und dem Bürger zugeordnet werden, z. B. Zuweisung nur einzelner Berechtigungen, Kombination mehrerer Berechtigungen an einer Sache etc., vgl. Brocker (N 3), S. 395 ff. Das Grundgesetz erteilt einem derart ausdifferenzierten Eigentumsbegriff eine Absage. Verfassungsrechtlich ist Eigentum „der umfassende Begriff für die vielfältig denkbaren sachenrechtlichen Beziehungen" (BVerfGE 24, 367, 389 f.). 57 Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Der öffentlich-rechtliche Schutz des Grundeigentums in der neueren Rechtsentwicklung, DVB1. 1987, 216, 217.

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einer Sache zur privaten Nutzung und zur eigenen Verfügung zugeordnet ist." 5 8 Neuartige, gesetzlich geprägte vermögensweite Rechtspositionen müssen mit diesem Leitbild des Sacheigentums „strukturkompatibel" sein, um als Eigentum i.S.v. Art. 14 geschützt werden zu können. Zutreffend hält das Bundesverfassungsgericht daher in ständiger Rechtsprechung daran fest, daß der Begriff des von der Verfassung gewährleisteten Eigentums aus der Verfassung selbst gewonnen werden muß. 59 Es gibt einen verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff „an sich", der dem Gesetzgeber Leitbild und Maßstab ist. 60 Dem steht nicht entgegen, daß weder das Grundgesetz noch das Bundesverfassungsgericht den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff abschließend definieren. Tatsächlich ist die Eigentumsgarantie offen für Ausweitungen und weitergehende Prägungen des Schutzbereiches. Vorgegeben ist dem inhaltsbestimmenden Gesetzgeber indes eine bestimmte Qualität der einfachrechtlich zugewiesenen Rechtsposition: diese muß dem Eigentümer „wie Sacheigentum" als umfassendes Herrschaftsrecht zugeordnet sein. Jeder Eigentümer kann sich hinsichtlich Inhalt und Befugnisse seiner Rechtsposition unmittelbar auf die Verfassung berufen.

b) Dogmatische Konsequenzen aa) Die freiheitssichernde rechtsstaatliche Struktur der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie verteilt mithin kategorisch Begründungs- und Rechtfertigungslasten bei der Beschränkung subjektiv-rechtlicher Eigentumspositionen und der Ausgestaltung einer sozial ausgewogenen Eigentumsordnung. In der gestuften Rechtsordnung des Grundgesetzes wird das Eigentum im Zusammenwirken von dirigierender Verfassungsgarantie und ausformender Gesetzgebung geprägt. Die Verfassungsgewährleistung bestimmt die Struktur jedes konkreten Eigentumsrechts im Sinne eines subjektiven und umfassenden Herrschafts- und Verfügungsrechts an der Sache. Der Gesetzgeber, der Eigentum inhaltlich bestimmt, kann auf einer logisch ersten Stufe nur entweder Eigentum im Sinne eines absoluten Herrschaftsund Verfügungsrechts zuordnen oder aber gar nicht. Eigentum in diesem Sinne ist also grundsätzlich ein verfassungsrechtlich freies, unbeschränktes und absolutes Recht; denn nur unter dieser Voraussetzung ist es dem Berechtigten ebenso ausschließlich „wie das Eigentum an einer Sache"61 zugeordnet. Erst auf einer logisch zweiten Stufe kann der einfache Gesetzgeber - gegebenenfalls uno actu mit der Rechtszuweisung - gemeinschaftsdienliche Beschränkungen des Eigentums statuieren, die gegenüber dem Eigentümer rechtfertigungsbedürftig sind. So umfaßt z. B. die rechtliche Zuordnung von Bodeneigentum grundsätzlich das Recht auf 58 BVerfGE 78, 58, 71 m.w.N.; 83, 201, 208 f.; 91, 207, 220; 95, 267, 300. 59 BVerfGE 24, 367, 389; 89, 1, 6. 60 BVerfGE 42, 263, 292 f. Rozek (N 22), S. 42 ff.; a.A. Wieland (N 15), Rdnr. 63. 61 BVerfGE 78, 58, 71 m.w.N.; 83, 201, 208 f. 20*

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Baufreiheit und Wassernutzung, Anliegerrechte oder Nachbarrechte, 62 die sich auch ohne einfachgesetzliche Vermittlung unmittelbar aus Art. 14 Abs. 1 herleiten. bb) Aus der dogmatischen Konstruktion des Eigentumsgrundrechts nach dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip folgt weiterhin, daß der Gesetzgeber das Eigentum im Interesse einer ausgewogenen und sozialverträglichen Eigentumsordnung zwar einschränken kann und ggf. muß. Insoweit aber bestehen unverrückbar staatliche Rechtfertigungslasten in Bezug auf das als dem Staat vorgegeben zu betrachtende und verfassungsrechtlich als unbelastet zu denkende subjektive Eigentumsrecht des Bürgers. Nur legitime und überwiegende Gründe des Gemeinwohls vermögen den Eigentumsschutz partiell und in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit zurückzudrängen. cc) Darüber hinaus vermittelt das dem Gesetzgeber vorausliegende Eigentumsrecht des Bürgers diesem Ansprüche auf erneute Freiheitserweiterungen hinsichtlich seines Eigentums, wenn die Legitimation für rechtmäßige Eingriffe in das Eigentum später wegfällt. Weil das Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne als Abwehrrecht dem Eigentümer einen Anspruch auf freies, unbeschränktes Eigentum vermittelt, bleiben Eigentumsschranken auch in der Zeit rechtfertigungsbedürftig. Der gesetzliche status quo von Eigentümerbefugnissen ist daher nicht identisch mit dem Umfang der verfassungsrechtlichen Gewährleistungsgarantie, sondern markiert nur die Abgrenzung der Freiheitssphären zu einem bestimmten Zeitpunkt, die bei einem Wandel der Verhältnisse sowohl auf die Statuierung weitergehender wie auf die Aufhebung bestehener Beschränkungen hinwirken können. So kann das grundsätzliche Recht des Eigentümers auf Baufreiheit und Wassernutzung aus Gründen überwiegender Gemeinwohlbelange in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit zwar eingeschränkt werden; die konkrete Rechtsposition des Eigentümers bestimmt sich dann nach dem Gesetz.63 Die Gesetzeslage steht aber von Verfassungs wegen gleichwohl latent unter Rechtfertigungszwang auch in der Zeitdimension: wegen des prinzipiellen Anspruchs auf umfassende Herrschafts- und Verfügungsbefugnis hat der Eigentümer bei Wegfall der die Eigentumsbeschränkung rechtfertigenden Umstände einen grundrechtlichen Anspruch auf Wiederherstellung unbelasteten Eigentums. Anerkannt ist diese Konsequenz der freiheitsschützenden Wirkung der Eigentumsgarantie hinsichtlich Rückübereignungsansprüchen nach Wegfall der Enteignungsvoraussetzungen.64 Die subjektive Rechtsstellung wirkt indes weitergehend auch bei gesetzlichen Inhalts- und Schrankenbestimmungen hintergründig auf schrankenfreies Eigentum. Die Eigentumsgarantie zielt nach Fortfall der eine Eigentumsbeschränkung legitimierenden Umstände auf Aufhebung der Beschränkung hin, d. h. auf Wiederherstellung der grundsätzlich umfassenden Herrschaftsbefugnis des einzelnen. 62 A.A. Dirk Ehlers, Eigentumsschutz, Sozialbindung und Enteignung bei der Nutzung von Boden und Umwelt, in: VVDStRL 51 (1992), S. 214. 63 In diesem Sinne auch BVerfGE 58, 300, 336. 64 BVerfGE 38, 175, 180 f.

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dd) Erst die konsequent rechtsstaatliche Konstruktion der Eigentumsgarantie läßt auch die Summeneffekte von immer mehr staatlichen Eingriffen durch immer weitere Detailregelungen erkennbar und beherrschbar werden: da das Gesetz die verfassungsrechtliche Stellung des Eigentümers nur in Ansehung der je gegebenen Umstände, nicht aber abschließend und für alle Zeit umschreibt, ist nicht der gesetzliche status quo Maßstab für weitere eigentumsbeschränkende Regelungen, sondern die verfassungsrechtlich grundsätzlich unbeschränkte Herrschaftsposition über das zugewiesene Vermögenswerte Recht. Je für sich genommen unerhebliche, in der Summe aber die Privatnützigkeit des Privateigentums aufhebende Regelungen werden so in ihrer freiheitserdrosselnden Wirkung transparent, müssen sich in der Summe gegenüber dem Freiheitsrecht rechtfertigen und nicht nur im Detail der konkreten, für sich genommen eventuell marginalen Einzelregelung. 65

2. Inhaltliche Prägung des Eigentums durch Art. 14 GG a) Spezifisch verfassungsrechtlicher Eigentumsbegriff Die gebotene rechtsstaatliche Struktur des Eigentumsgrundrechts ermöglicht sowohl eine strikte Trennung wie Bestimmung des Verhältnisses von Inhaltsbestimmung und Schrankenziehung. Der Inhalt des gesetzlich auszuformenden Eigentums wird durch den verfassungsrechtlichen Strukturtypus vorgeprägt. Dieser ist dem inhaltsbestimmenden Gesetzgeber verbindlicher Orientierungsmaßstab, indem er die Prägestruktur vorzeichnet, der das rechtlich zugeordnete Eigentum genügen muß. Gesetzliche Beschränkungen des Eigentumsgebrauchs dienen demgegenüber der Schaffung einer sozial gerechten Eigentumsordnung und bestimmen dadurch die konkrete Reichweite des verfassungsrechtlichen Schutzes. In diesem Sinne bekennt sich das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung ausdrücklich und zu Recht zu einem dem Gesetzgeber vorgegebenen Verfassungsbegriff des-Eigentums. „Aus Normen des einfachen Rechts, die im Rang unter der Verfassung stehen, kann weder der Begriff des Eigentums im verfassungsrechtlichen Sinne abgeleitet noch kann aus der privatrechtlichen Rechtsstellung der Umfang der Gewährleistung des konkreten Eigentums bestimmt werden." 66 Die zivilrechtliche Prägung vermittelt dem verfassungsrechtlichen Eigentum derart Identität in der Zeit, ohne der Wandelbarkeit und Flexibilität des Eigentumsbegriffs entgegenzustehen. Elemente dieses spezifisch verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs sind die Einheit des Eigentums, die Maßstäblichkeit des Sacheigentums sowie die daraus resultierenden Merkmale der Ausschließlichkeit, umfassende Verfügungsbefugnis und Privatnützigkeit. 65 In diesem Sinne rückt auch das Bundesverfassungsgericht den Gedanken der „Gesamtbelastung" zutreffend in das Zentrum seiner Rechtsprechung zu den Grenzen steuerlichen Zugriffs auf das Vermögen des Bürgers, vgl. BVerfGE 93, 121, 136. 66 BVerfGE 58, 300, 335.

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b) Einheit des Eigentumsbegriffs aa) Eigentum bezeichnet das einheitliche umfassende Herrschaftsrecht des Berechtigten über ein eigentumsfähiges Rechtsgut. Die Abstraktheit des verfassungsrechtlichen Eigentums steht einer gesetzlichen wie interpretatorischen Aufspaltung des einheitlichen Eigentums in konkrete Einzelberechtigungen entgegen. Den aus dem mittelalterlichen Recht bekannten Differenzierungen zwischen Ober- und Untereigentum, Nutzungs- und Verfügungseigentum, sowie den modernen zwischen großem Unternehmens- und kleinem Privateigentum entsprechen keine Unterschiede im Schutzbereich der Eigentumsgarantie.67 Differenzierungen aufgrund der verschiedenen sozialen Bezüge der vermögensweiten Rechtspositionen sind nicht auf Tatbestandsebene vorzunehmen, sondern ergeben sich als Konsequenz aus den unterschiedlichen Wirkungsweisen, insbesondere aus dem sozialen Bezug des Eigentums, in dem es steht. bb) Unter dem Gesichtspunkt der Wahrung eines einheitlichen Verständnisses von Eigentum im Sinne des Grundgesetzes erscheint es bedenklich, wenn das Bundesverfassungsgericht auch solchen Rechtspositionen Eigentumsqualität zuzuerkennen bereit ist, die ihrer Struktur nach deutliche Abweichungen vom verfassungsrechtlichen Typusbegriff aufweisen, weil sie als vorstaatliche nicht einmal gedacht werden können. So ist das verfassungsrechtliche Eigentum an Ansprüchen aus der Sozialversicherung a priori zurückgebunden an die „finanzielle Stabilität und Leistungsfähigkeit" der Sozialversicherung. 68 Als solidarisch gebundenes Eigentum kann es nicht abstrakt umfassende Verfügungsrechte, sondern nur konkrete Nutzungsrechte begründen. 69 cc) Auch die Qualifikation des Besitzrechts des Mieters als Eigentum läuft auf eine Aufspaltung des einheitlichen Eigentumsrechts hinaus.70 Zwar formuliert das Bundesverfassungsgericht: das „Besitzrecht [sc. des Mieters] ist eine Vermögenswerte Rechtsposition, die eine Nutzungs- und Verfügungsbefugnis zum Inhalt hat". Obwohl das Gericht damit verbal am einheitlichen Eigentumsrecht festhält, spaltet es das Eigentumsrecht in der Sache auf in ein Nutzungseigentum des Mieters, dem die Verfügungsbefugnis fehlt, und ein Verfügungseigentum des Vermieters, dem das Nutzungsrecht genommen ist. 71 Es bindet den Mieter mit quasi dinglicher Wirkung an das Eigentum des Vermieters, wenn es das Mieter-Eigentum abkoppelt von der vertraglichen Einräumung durch den Vermieter und auch den Fortbestand eines einmal entstandenen und durch Art. 14 als Eigentum erfaßten Rechts dem Grundrechtsschutz unterstellt.

67 Leisner, in: HStR (N 1) Rdnr. 46 ff. 68 BVerfGE 53, 257, 293 f.; 76, 256, 301. 69 Vgl. Depenheuer (N 3) Rdnr. 80; ders. (N 43), AöR 120 (1995), S. 439 ff. 70 BVerfGE 89, 1, 6 f. 71 Analyse: Depenheuer (N 40), NJW 1993, 2561 ff.

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c) Maßstäblichkeit des zivilrechtlichen Sacheigentums aa) Verbindlicher Orientierungsmaßstab des verfassungsrechtlich geprägten Typus „Eigentum" bildet das Sacheigentum. Eine einfachrechtlich neu eingeräumte Rechtsposition muß dem Berechtigten „wie Sacheigentum" zugeordnet sein. 72 Dieser Vorgabe muß der inhaltsbestimmende Gesetzgeber genügen; verfassungsrechtlich hat er daher nur die Wahl, durch die Bereitstellung vermögenswerter Rechtspositionen entweder Eigentum i. S. d. Art. 14 zu schaffen oder nicht. Wenn einer Rechtsposition danach Eigentumsqualität zukommt, dann eignet dieser von Verfassungs wegen ebenso wie dem maßstabsetzenden Sacheigentum notwendig umfassende Herrschafts- und Verfügungsrechte nach dem Vorbild des § 903 BGB. Begründet der Gesetzgeber eine eigentumsfähige Position und ordnet sie rechtlich dem Bürger zu, muß daher zwischen den verfassungsrechtlich gewährleisteten Eigentumsbefugnissen und der gesetzlichen Ausgestaltung unterschieden werden. Verfassungsrechtlich vermittelt die privatnützige Eigentumsposition umfassende Herrschafts- und Verfügungsbefugnisse. 73 Als verfassungsrechtliches Eigentum ist diese Rechtsposition dem Gesetzgeber vorgegeben. Gesetzliche Beschränkungen bedürfen daher der Rechtfertigung gegenüber dem im Eigentum des Rechtsinhabers angelegten Anspruch auf unbeschränktes Eigentum. Dies gilt auch für den Fall, daß Inhaltsbestimmung und Schrankenziehung uno actu zusammenfallen, d. h. bei der erstmaligen Konstitution neuer Eigentumstitel. Auch wenn diese als gesetzlich beschränkte normiert werden, vermittelt die neue Rechtsposition dem Eigentümer verfassungsrechtlich Befugnisse nicht nur im Umfang und nach Maßgabe des Gesetzes. Auch in diesem Fall folgt aus der Zuweisung der Rechtsposition als solche verfassungsrechtlich unmittelbar eine umfassende Verfügungsbefugnis des Eigentümers. Gesetzliche Regelungen über die Eigentumsnutzungen stellen sich auch in diesem Fall als rechtfertigungsbedürftige Beschränkung des Eigentums dar. 74 bb) Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Eigentums nach dem Vorbild des zivilrechtlich geprägten Eigentums gegenüber dem Gesetzgeber zeitigt als weitere normative Konsequenz, daß der einfache Gesetzgeber Eigentum einschließlich der mit ihm verbundenen Befugnisse nicht grundsätzlich aufheben darf. Eigentumsinhaltsbestimmende Gesetze i. S. d. Grundgesetzes müssen prinzipiell der umfassenden Herrschafts- und Ausschließungsbefugnis des Eigentums Rechnung tragen. „Eigentum ist eine Form der Sachherrschaft und damit der um72 So das BVerfG in stRspr., z. B. E 78, 58, 71 m.w.N.; 83, 201, 208 f.; 89, 1, 6; 91, 207, 220; 95, 267, 300. 73 A.A. Ehlers (N 62), S. 225. 74 Daher beinhalten die §§ 1 a Abs. 3, 2 Abs. 1 und 6 WHG entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (E 58, 300, 336 f.) keine Abspaltung der Grundwassernutzung vom Grundeigentum, sondern normieren präventive Verbote mit Erlaubnisvorbehalt (§ 2, 6 f. WHG); so zutreffend Wendt, in: Sachs (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, 2. Aufl., 1999, S. 14 Rdnr. 61.

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fassende Begriff für die vielfältig denkbaren sachenrechtlichen Beziehungen."75 So dirigiert die Leitbildfunktion des Sach- und Grundeigentums auch die weitere Ausdifferenzierung der Eigentumsordnung unter der Geltung des Grundgesetzes: das einfache Recht kann Rechtspositionen als Eigentum nur dadurch konstituieren und (neu) ausgestalten, indem es ihnen - „wie Sacheigentum" - prinzipiell umfassende Verfügungsbefugnisse zuordnet. Als den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff prägende Strukturmerkmale des privaten Sacheigentums hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung explizit herausgearbeitet: die ausschließliche und umfassende Herrschafts- und Verfügungsbefugnis sowie die Privatnützigkeit.76 d) Ausschließliche und umfassende Herrschafts- und Verfügungsbefugnisse Ausschließliche und umfassende Herrschafts- und Verfügungsbefugnisse zählen seit jeher zum Kernelement der Rechtseinrichtung „Eigentum". 77 Eigentum ist seinem Wesen nach ein Ausschlußrecht, 78 wie es § 903 BGB mit exemplarischer Deutlichkeit formuliert. Eigentum kann auch im Verfassungsrecht nicht anders gedacht werden als ein Rechtsbereich, der dem Bürger Unabhängigkeit und Freiheit gegenüber dem Staat und gegenüber Dritten vermittelt. Darüber hinaus ist der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff durch umfassende Herrschafts- und Verfügungsbefugnisse gekennzeichnet.79 Dazu gehört insbesondere „die Freiheit, den Eigentumsgegenstand zu veräußern und aus seiner Vermietung den Ertrag zu ziehen, der zur finanziellen Grundlage für eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung beiträgt". 80 Die Verfügungsbefugnis ist Korrelat und Konsequenz der Entscheidung zugunsten einer privatrechtlich organisierten Eigentumsordnung. Sie zählt zum elementaren Bestand grundrechtlich geschützter Betätigung im vermögensrechtlichen Bereich. Die Verfügungsfreiheit des Eigentümers einschließlich der Verfügungen von Todes wegen bilden mithin den Lackmustest für die Eigentumsqualität einer Rechtsposition und zugleich für das Bestehen einer Wirtschaftsordnung, die vom Privateigentum ausgeht. Es gilt der Grundsatz: was nicht vererbt und worüber nicht verfügt werden kann, dort besteht kein Eigentum.81 75 BVerfGE 24, 367, 389 f. 76 In Ansehung öffentlich-rechtlicher Positionen rekurriert das Bundesverfassungsgericht zudem auf die Funktionen der Existenzsicherung und Leistungsorientierung; jene Funktionsmerkmale liegen indes jenseits des verfassungsrechtlichen Begriffs- und Garantiegehaltes, vgl. Depenheuer (N 3), Rdnr. 78 f. 77 BVerfGE 31, 229, 240; 42, 263, 294; 50, 290, 339; 53, 257, 290. 78 Leisner, in: HStR (N 1) Rdnr. 8. 79 BVerfGE 52, 1,30. so BVerfGE 79, 292, 304. 8i Vgl. auch Gerd Roellecke, Sozialistisches Eigentum und Privateigentum, in: Staat und Recht 39 (1990), 778, 781; Adalbert Podlech, Eigentum - Entscheidungsstruktur der Gesellschaft, in: Der Staat 15 (1976), 31, 47 f.; Allgemein zur zentralen Bedeutung der Verfügungs-

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e) Verfassungsrechtliche Privatnützigkeit und gesetzliche Solidarpflichtigkeit „ Z u r Substanz des Eigentums gehört [ . . . ] auch die Freiheit, den Eigentumsgegenstand selbst zu nutzen." 82 Das Gebrauchs- und Nutzungsrecht (usus fructus) zählt zu den Kernelementen der Herrschaftsbefugnis des Eigentümers. Privatnützigkeit meint die Zuordnung einer vermögensweiten Rechtsposition an einen Rechtsträger, in dessen Hand es als Grundlage privater Initiative und im eigenverantwortlichen Interesse „von Nutzen" sein soll. Sie realisiert das personale freiheitsverbürgende Element der Eigentumsgarantie. Privatnützigkeit der Eigentumsgarantie steht - autonomer wie heteronomer - Sozialbindung nicht entgegen, sondern bildet sowohl deren Voraussetzung wie Grenze.

3. Verbleibende Konkretisierungsaufgabe

des Gesetzgebers

Im Rahmen der verfassungsrechtlich vorgezeichneten Strukturmerkmale bildet das Prinzip der Gesetzmäßigkeit einen tragenden Pfeiler der verfassungsrechtlichen Eigentumsdogmatik.83 Der Vorrang der Legislative gilt insbesondere für die Inhaltsund Schrankenbestimmung, aber auch für das Verfahren der Eigentumsbeschränkungen sowie für die Fragen der Entschädigung und des finanziellen Ausgleichs. Darin liegen Aufgabe, Verpflichtung und Verantwortung der Legislative. Administrative oder judikative Ausweitungen des Schutzbereiches ebenso wie die Einräumung von Kompensationsleistungen sind deshalb prinzipiell unzulässig.84 Die gesetzliche Konkretisierungsaufgabe des inhaltsbestimmenden Gesetzgebers nach Art. 14 Abs. 1 hat nichts zu tun mit immanenten oder sonstigen Schranken des Eigentums. Notwendigkeit und Sinn eines besonderen Inhaltsbestimmungsrechts im Kontext der Eigentumsgarantie ergeben sich vielmehr aus der Eigentümlichkeit der Sachbereiche sowie aus den Besonderheiten der eigentumsfähigen Güter. Walter Leisner hat zutreffend darauf aufmerksam gemacht, daß die Eigentumsfähigkeit nicht in gleicher Weise allen Gütern vorgegeben ist, sondern das reale Substrat des Eigentums in unterschiedlicher Form als Rechtsposition ausgestaltet werden muß. 85 Hier entfaltet das Inhaltsbestimmungsrecht des Gesetzbefugnis für den Eigentumsbegriff: Damian Hecker, Eigentum als Sachherrschaft, S. 88 ff. Mangels Verfügungsbefugnis ist daher weder die Rentenanwartschaft noch das Besitzrecht des Mieters eigentumsfähig; ihre verfassungsgerichtliche Anerkennung als Eigentum hat die Einheit des Eigentumsbegriffs aufgesprengt. Diese Rechtspositionen finden ihre Grundlage allein im Verfassungsrichterrecht, folgen einer anderen als der rechtsstaatlichen Logik und differieren in der Garantiewirkung, vgl. näher Depenheuer (N 43), AöR 120 (1995), S. 417, 439 ff.; ders. (N 4), Rdnr. 80 ff. 82 BVerfGE 79, 292, 304; 81, 29, 33. 83 Friedrich Schoch, Rechtliche Konsequenzen der neueren Eigentumsdogmatik für die Entschädigungsrechtsprechung des BGH, in: FS-Karlheinz Boujong, 1996, S. 655, 667. 84 Schoch (N 83), S. 667. - Zum Problem salvatorischer Entschädigungsklauseln vgl. Depenheuer (N 4), Rdnr. 245 ff., 446 f.

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gebers seine zentrale Bedeutung, wobei es sich je nach Eigentumspositionen differenziert darstellt: während das bürgerliche Sach- und Grundeigentum nicht erst normativ hervorzubringen, sondern nur bereitzustellen ist, also nur verfahrensrechtlich flankierender Regelungen im Interesse der Rechtssicherheit bedarf, müssen andere Rechtspositionen erst nach Maßgabe des Leitbildes „Sacheigentum" normativ konstituiert werden. Im einzelnen gilt: Eine erste Kategorie von Eigentum bezeichnet die „natürlich abgegrenzten Güter", insbesondere das Sacheigentum an beweglichen Sachen. Diese sind, weil außerrechtlich abgegrenzt und beherrschbar, mithin „natürlich" eigentumsfähig und bedürfen nur normativer Anerkennung. Eigentum an ihnen kann verfassungsrechtlich geschützt werden ohne jede weitere gesetzgeberische Konkretisierungsleistung. Das reale Vermögenswerte Substrat des Sacheigentums ist dem Rechtsetzer vorgegeben; es bedarf nicht rechtlicher Hervorbringung, sondern nur normativer Anerkennung, wie sie etwa das Zivilrecht für das Sacheigentum vornimmt. Bei Eigentum an „wesentlich abgrenzungsbedürftigen Gütern" muß der Gesetzgeber die Eigentumsfähigkeit im einzelnen durch Abgrenzung herstellen, um die Verkehrsfähigkeit zu ermöglichen. Insoweit ist „das Eigentum [ . . . ] das wichtigste Rechtsinstitut zur Abgrenzung privater Vermögensbereiche. Es bedarf deshalb besonders der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung." 86 So bedarf etwa das Grundeigentum flankierender gesetzlicher Regelungen bezüglich der Grenzziehungen, Grundbucheintragungen etc. Erst in Folge der Bereitstellung der sachenrechtlichen Voraussetzungen kann hier das Eigentum als Ausschließlichkeitsrecht seinen Schutz entfalten. Eigentum an „gesetzlich erst hervorzubringenden Gütern" ist dadurch gekennzeichnet, daß die Rechtsordnung das Vermögenswerte Rechtsgut seinem realen Substrat nach nicht vorfindet, sondern erst rechtlich ermöglichen und verkehrsfahige Rechtspositionen bereitstellen muß. Hierzu zählen neben den Forderungsrechten insbesondere die Immaterialgüterrechte wie Patente, Urheber- und Warenzeichenrechte. Sie sind genuine Schöpfungen der Rechtsordnung, verdanken ihre Existenz, ihren Vermögenswert und ihre Verkehrsfähigkeit erst der rechtsschöpferischen Begründung durch den Gesetzgeber. Die Rechtsordnung könnte in Zukunft auch bislang eigentumsrechtlich nicht zugewiesene meritorische Güter (Luft, Schadstoffe) rechtstechnisch privater Nutzung zuweisen,87 um im Sinne der modernen property-rights-Theorie erwünschte eigenverantwortliche Verhaltensweisen ordnungspolitisch anzuregen und zu ermöglichen. 88 85 Zum folgenden: Leisner, in: HStR (N 1) Rdnr. 67 ff. 86 BVerfGE 24, 367, 388 ff. 87 In diesem Sinne: Dietrich Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1986, S. 357 ff. Vgl. auch Christoph Enders, Ökonomische Prinzipien im Dienst des Umweltrechts?, DÖV 1998, 184, 187 ff. 88 Vgl. Karsten Heuchert, Das Eigentum in der Theorie der Property Rights, in: Veröff. Joachim Jungius-Ges. Wiss. Hamburg 58 (1998), S. 125 ff.; Christoph Enders, Ökonomische Prinzipien im Dienste des Umweltrechts?, DÖV 1998, S. 184 ff.

Stabilität der Verfassung? Von Rüdiger Breuer

I. Grundsätzliche Fragestellungen zur Stabilität der deutschen Verfassung* In der ersten Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. 9. 1949 faßte Alterspräsident Paul Löbe1 das politische Credo des Grundgesetzes und der eben konstituierten Bundesrepublik Deutschland in einfache und klare Worte: „Was erhofft sich das deutsche Volk von der Arbeit des Bundestages? Daß wir eine stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft, eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben aufrichten, unser Vaterland einer neuen Blüte und neuem Wohlstand entgegenführen."

Die Stabilität der Verfassung ist - gerade im Rückblick auf die Leidensgeschichte der Weimarer Republik - auch später von zahlreichen Autoren beschworen worden. So bemerkt Reinhard Mußgnug, daß der Parlamentarische Rat zwar vom Vorbild der Weimarer Reichsverfassung ausgegangen sei, diese jedoch keineswegs kopieren wollte. Vielmehr sei es dem Parlamentarischen Rat darauf angekommen, „der Bundesrepublik eine stabilere, krisenfestere Regierungsform zu geben, als sie die Weimarer Reichsverfassung gefunden hatte"2. Mit zahlreichen Stimmen der Staatsrechtslehre sowie der Geschichts- und Politikwissenschaft übereinstimmend, sieht Mußgnug den entscheidenden Fehler der Weimarer Reichsverfassung darin, daß sie dem Reichstag die Flucht aus seiner Verantwortung für die Regierungsbildung und die Gesetzgebung allzusehr erleichtert habe. * Die nachfolgenden Betrachtungen gehen großenteils auf einen Vortrag zurück, mit dem der Verfasser sich im Februar 1994 nach 15jähriger Tätigkeit von der Universität Trier verabschiedet hat. Aus der fünfjährigen Distanz des Jahres 1999 betrachtet, haben die seinerzeit beobachteten Spannungen im deutschen Verfassungsgefüge nicht ab-, sondern zugenommen. Nicht nur dies drängt zur Veröffentlichung. Vielmehr berühren sich manche der „angestauten" Beobachtungen und Sorgen mit den kritischen Reflexionen des Jubilars Walter Leisner (zuletzt: Demokratie - Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, 1998). Daher seien die 1994 vorgetragenen Fragestellungen und Befunde an dieser Stelle fortgesetzt und veröffentlicht. 1

In: Verh. des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode, Sten. Berichte, Bd. 1, 1950, S. 1. 2 Mußgnug, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. I, 1987, § 6 Rn. 63; ders. auch in: Jeserich/Pohl/v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. V, 1987, S. 101, 102 ff.

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Als Mittel der Abhilfe werden üblicherweise einige Regelungen des Grundgesetzes genannt, die allgemein geläufig sind: die Beschränkung der Delegation von Gesetzgebungsbefugnissen an die Exekutive (Art. 80 GG), die Ersetzung des Notverordnungsrechts des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV durch das - wie es bei Mußgnug 3 heißt - „anders geartete, für den Dauergebrauch ungeeignete Notgesetzgebungsverfahren des Art. 81 GG", die im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung stabilisierte Form der parlamentarischen Demokratie kraft der Vorschriften über die Regierungsbildung, das konstruktive Mißtrauensvotum und die Auflösung des Bundestages (Art. 63, 67 und 68 GG), ferner die zurückgenommene Stellung des Bundespräsidenten, der als Staatsoberhaupt „aus dem Spannungsfeld zwischen Parlament und Regierung ausgeschaltet", also im wesentlichen auf integrative und repräsentative Funktionen beschränkt ist 4 . Hinzu kommt die Ausgestaltung des Bundesstaatsprinzips und des Bundesrates im Sinne eines starken und traditionsverhafteten, aber doch abgewogenen Föderalismus, etwa in der Mitte zwischen der Reichs Verfassung von 1871 und der Weimarer Reichs Verfassung 5. Hervorhebung verdient weiterhin das verfassungsrechtliche Bekenntnis des Grundgesetzes zur Parteiendemokratie (Art. 21 GG) in Verbindung mit einem einfachgesetzlich geregelten Wahlsystem, das kompromißhaft die personalisierte Verhältniswahl festlegt und das Stabilisierungs- und Konzentrationselement der 5%-Klausel vorschreibt 6. Stabilisierend sollen auch die rigide Fixierung der repräsentativen Demokratie 7 und deren Wehrhaftigkeit gegenüber Angriffen auf die freiheitliche demokratische Grundordnung wirken. Hierfür stehen auf der verfassungsrechtlichen Ebene die Möglichkeiten des verfassungsgerichtlichen Partei Verbots (Art. 21 Abs. 2 GG) 8 und der Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) sowie der Ausschluß der Verfassungsfeinde vom öffentlichen Dienst9. Ebenso gewichtig erscheint die Grundentscheidung des Parlamentarischen Rates für eine betont karge und strikte Verfassung, also die Entscheidung gegen einen 3 In: HdbStR I (Fn. 2). 4

Mußgnug, in: HdbStR I (Fn. 2), § 6 Rn. 66; näher zu den Funktionen des Bundespräsidenten Schiaich, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. II, 1987, § 49 m.w.N. 5 Vgl. statt vieler Kimminich, in: HdbStR I (Fn. 2), § 26 Rn. 31, 32 ff., 36ff.; ferner v. Hassel, Bundesstaatlichkeit - Garant politischer Stabilität, in: Hrbek (Hrsg.), Miterlebt Mitgestaltet, Der Bundesrat im Rückblick, 1989, S. 35 ff. 6 § 6 Abs. 6 BWahlG; zur Verfassungsmäßigkeit BVerfGE 1, 208 (248 ff.); 6, 84 (92 f.); 14, 121 (134 f.); 24, 300 (341); 51, 222 (236 f.); 82, 322 (338); 95, 408 (418 f.); kritisch Hans Meyer, in: HdbStR II (Fn. 4), § 38 Rn. 26 ff. 7 Vgl. Krause, in: HdbStR II (Fn. 4), § 39 Rn. 11 f.; vertiefend Böckenförde, ebda., § 30 Rn. 4 ff., 12 ff., 17 ff. 8

Angewandt und maßgeblich geprägt durch BVerfGE 2, 1 ff.; 5, 85 ff.; dazu Kunig, in: HdbStR II (Fn. 4), § 33 Rn. 35 ff.; weiter ausgreifend zur wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes Jürgen Becker, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VII, 1992, § 167. 9 Maßgeblich dazu BVerfGE 39, 334 ff.; vgl. auch Stern, Zur Verfassungstreue der Beamten, 1974; rechtsvergleichend Tomuschat/Umbach (Hrsg.), Extremisten und öffentlicher Dienst, 1981.

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Volkskatechismus und für eine spezifisch juristische Verfassung 10. Primärer Hüter dieser Verfassung ist demgemäß nicht der Bundespräsident, sondern das BVerfG mit einer Fülle an Kompetenzen, die weltweit ihresgleichen sucht. Selbst dem formell legalen, aber materiell verfassungswidrigen Umsturz durch die politischen Staatsorgane sucht das Grundgesetz mit der sog. Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 entgegenzutreten: Eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig. Anders ausgedrückt: Wo der essentielle Kern des Grundgesetzes berührt ist, erklärt es seine legale, nämlich verfassungsgesetzliche Änderung zur illegitimen Revolution 11 . Die Abgründe des deutschen Staatsrechts tun sich allerdings auf, wenn man daran erinnert, daß der Grundgedanke einer solchen Stabilität der Verfassung auf Carl Schmitt 12 zurückgeht, der durch seine Formulierungs- und Argumentationskraft, aber zugleich durch seinen späteren Pakt mit dem Nationalsozialismus bis heute die Geister spaltet13. Jedenfalls vier Jahrzehnte lang hat sich die Hoffnung der Väter und Mütter des Grundgesetzes auf Stabilität im wesentlichen erfüllt, was angesichts der vorausgegangenen Katastrophen und Verstrickungen fast als Wunder erscheint. Als parlamentarische Demokratie westlichen Typs sowie als Rechts- und Sozialstaat hat die Bundesrepublik Deutschland ein beachtliches Maß an Stabilität bewiesen. Das Bemerkenswerteste daran ist, daß sich das Grundgesetz nicht nur als spezifisch juristische Verfassung bewährt hat. Vielmehr hat es sich zur soliden Basis dessen entwickelt, was Carl Schmitt jenseits des Verfassungsgesetzes als eigentliche Verfassung, nämlich als „Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit", bezeichnet hat 14 . Man kann auch mit Rudolf Smend formulieren, daß das Grundgesetz zur anerkannten Basis für die Integration des Staatsvolkes der Bundesrepublik Deutschland geworden ist 1 5 . Im Sinne der Staatslehre Hermann Hellers läßt sich dieser Befund auch in die Worte kleiden, daß sich die Bundes10 In diesem Sinne z. B. auch Stern, in: Kirchhof /Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz, 1993, S. 15 ff.; Paul Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. IX, 1997, § 221 Rn. 45 ff.: „Instrumentale, nicht finale Verfassung". n Vgl. statt vieler Paul Kirchhof, in: HdbStR I (Fn. 2), § 19 Rn. 31 ff., 47 ff. 12 Verfassungslehre, 3. Aufl. 1928, S. 102 ff.

13 Vgl. einerseits die Kritik von Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität, 1964, S. 85 ff.; Rüthers, Entartetes Recht, 2. Aufl. 1989, S. 101 ff., 120ff., 125 ff.; andererseits die Analysen und Erklärungen bei Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum, 1988; ders ., Positionen und Begriffe Carl Schmitts, 1989; zum Methoden- und Richtungsstreit der „Weimarer Staatsrechtslehre" statt vieler Scheuner, AöR 102 (1977), 161 ff.; auch Breuer, in: FS für Konrad Redeker, 1993, S. 24 ff. 14 So Carl Schmitt (Fn. 12), S. 20 ff. 15 Grundlegend zur Integrationslehre Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119ff.; Würdigungen bei Friedrich, AöR 112 (1987), 1 ff.; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung" in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987; Korioth, AöR 117 (1992), 212 (221 ff.).

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republik Deutschland unter dem Grundgesetz als „organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit" 16 formiert und stabilisiert hat. Bezeichnend, zugleich allerdings hintergründig erscheint das bekannte Wort Dolf Sternbergers vom Verfassungspatriotismus der Bundesdeutschen17. Das Grundgesetz ist, wie man mit einem Anflug von Stolz festgestellt hat, zu einem juristischen Exportschlager der Bundesrepublik geworden 18. Die innere Stabilität hat die internationale Reputation der Bundesrepublik maßgeblich gefördert und zweifellos eine ausschlaggebende Anziehungskraft auf die Deutschen in der ehemaligen DDR ausgeübt. Eben diese Stabilität und die wirtschaftliche Prosperität der Bundesrepublik waren - und sind - zwei Seiten derselben Medaille. Daß die deutsche Wiedervereinigung 1989/90 so atemberaubend rasch und verblüffend reibungslos verlief, wäre ohne jene allseits anerkannte Stabilität nicht denkbar gewesen19. Eine Frage blieb hierbei jedoch von Anfang an offen: War die vielgerühmte Stabilität wirklich den positivrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes zuzuschreiben, also eine Folge der ausgeklügelten Regelungen, die der Parlamentarische Rat den „Weimarer Erfahrungen" entgegengesetzt hatte? Umgekehrt gewendet lautet die Frage: Ist vielleicht die Stabilität nach 1949 weniger der Finesse des Grundgesetzes als vielmehr der leidvoll gereiften Konsens- und Kompromißbereitschaft der Bürger und Parteien zuzurechnen? In der Tat ist in eben diesem Sinne immer wieder bemerkt worden, daß Bonn nicht Weimar ist 20 . Namentlich Ernst Friesenhahn hat der rückschauenden Kritik an der Weimarer Reichsverfassung entgegengehalten, daß deren Scheitern nicht juristischen Konstruktionsmängeln angelastet werden könne, und bemerkt 21: „Hätte es im Weimarer Reich politische Parteien gegeben, wie sie die parlamentarische Demokratie voraussetzt, und hätte das Volk in den Wahlen solchen demokratischen, kompromißbereiten und koalitionsfähigen Parteien die Mehrheit der Stimmen gegeben, so hätte die Republik auch mit dieser Verfassung Bestand haben können."

Bis vor kurzem mochte man derartige Betrachtungen für die Weimarer Reichsverfassung als historisch und für das Grundgesetz als müßig ansehen. Einer solchen Denkungsweise mußten indessen stets Oberflächlichkeit und Borniertheit !6 So die Definition des Staates bei Heller, Staatslehre, 1934, S. 238 ff.; Würdigung bei Robbers, Hermann Heller, Staat und Kultur, 1983. 17

Sternberger, Verfassungspatriotismus, Schriften X, 1990, S. 13 f., 17 f.; vgl. auch Haungs, in: FS für Hans Buchheim, 1992, S. 195 (199 ff.), zum Staatsbewußtsein im vereinigten Deutschland. 18 Allgemein hierzu Starck (Hrsg.), Grundgesetz und deutsche Verfassungsrechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungsentwicklung, 1990. 19 Vgl. dazu aus unterschiedlichen Perspektiven Isensee, VVDStRL 49 (1990), 39 (56 f.); Tomuschat, ebda., S. 70 (75, 93); Rauschning, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Bd. VIII, 1995, § 188 Rn. 49; Lerche, ebda., § 194 Rn. 16 ff. 20 So zuerst der Schweizer Publizist Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, 1955. 21 Friesenhahn, in: Erdmann / Schulze (Hrsg.), Weimar - Selbstpreisgabe einer Demokratie, 1980, S. 81; im gleichen Sinne Hans Schneider, in: HdbStR I (Fn. 2), § 3 Rn. 86 ff.

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sowie ein Mangel an staatsbürgerlicher Gesinnung vorgeworfen werden. Nach der deutschen Wiedervereinigung hat die aufgeworfene und bis heute offene Frage eine aktuelle Brisanz gewonnen, die kaum überschätzt werden kann. Durchgedrungen ist bisher lediglich eine auffällige Verunsicherung, eine merkwürdige Stimmung der Enttäuschung, Frustration, Gereiztheit und Angst. Eben diese erscheint dem amerikanischen Historiker Gordon A. Craig - unter vielsagender Berufung auf den englischen Aufklärer Coleridge (1772 - 1834) - in Deutschland als „the national fault" 22 . Nirgendwo in der Welt folgten mehr Menschen Murphy's Law, nämlich dem Glaubenssatz, „that if anything can go wrong it will". Die American Academy of Arts and Sciences hat die Winterausgabe 1994 ihrer Zeitschrift „Daedalus" dem Thema „Germany in Transition" gewidmet 23 . Einige der dort veröffentlichten Aufsatztitel verdienen genannt zu werden, weil sie in englischer Sprache ausdrücken, worum es geht: „Germany at the Crossroads: On the Efficiency of the German Economy" (Kurt J. Lauk ), „Immigration and Social Peace in United Germany" (Klaus J. Bade), „Rebuilding of a Nation: The Germans Before and After Unification" (Heinrich August Winkler ), „On German Identity" (Anne-Marie Le Gloannec ), „The Politics of a United Germany" (Stephan Eisel), „Crisis of Unification: How Germany Changes" (Jürgen Kocka ), „Multi-German Germany" (Ludger Kühnhardt). Unter dem Titel „Deutsche Entfremdung - zum Befinden in Ost und West" 24 sind die Vorträge einer Veranstaltungsreihe erschienen, die im Wintersemester 1992/93 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattgefunden hat. Wie auch dort aus verschiedenen Blickwinkeln festgestellt wird, ist auf das Glücksgefühl der Wende von 1989/90 und die deutsche Wiedervereinigung eine Phase des nationalen Selbstzweifels und der Verunsicherung gefolgt. Die bisher klarste Analyse, zugleich aber auch den stärksten Appell zu politischer Kurskorrektur hat der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt vorgetragen. Auch er spricht von einer „Vereinigungskrise" 25. Deren Ursachen sind vielfältig. Zu ihnen gehören das offenbar unterschätzte Ausmaß der ökonomischen und ökologischen Misere in der ehemaligen DDR, die infolgedessen eskalierenden Kosten der Wiedervereinigung, die hinzugekommene weltweite Rezession, die Arbeitslosigkeit im Osten, aber auch im Westen der Bundesrepublik, die offenbar ebenfalls unterschätzten Schwierigkeiten des sozialen Zusammenwachsens der Menschen in den östlichen und westlichen Bundesländern, die hiermit zusammentreffende Aus22

Gordon A. Craig, United We Fall, in: The New York Review of Books, Ausgabe vom 13. 1. 1994, S. 36 ff. 23 Daedalus, Journal of the American Academy of Arts and Sciences, Volume 123 of the Proceedings of the American Academy of Arts and Sciences, 1994, Number 1, Winter 1994: Bade, S. 85 ff.; Winkler, S. 107 ff.; Le Gloannec, S. 129 ff.; Eisel, S. 149 ff.; Kocka, S. 173 ff.; Kühnhardt, S. 193 ff. 24 Hardtwig /Winkler (Hrsg.), Deutsche Entfremdung. Zum Befinden in Ost und West, 1994 (mit Beiträgen von Wolf gang Thierse, Jürgen Fuchs, Peter Bender, Rainer Eppelmann, Helga Schubert, Peter Merseburger und Richard Schröder). 2 s Helmut Schmidt, Handeln für Deutschland, 1993, S. 15 ff.

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länder- und Asylproblematik, politisch motivierte Gewalttaten, ein Ansteigen schwerer, teilweise international organisierter Kriminalität und die internationale Destabilisierung, namentlich durch die Entwicklung in Ost- und Südosteuropa. Aus der Sicht eines französischen Wissenschaftlers hat Henri Menudier den Deutschen herausfordernd vorgeworfen, sie litten an einer kollektiven Neurose; denn sie bildeten eine frustrierte Gesellschaft, die sich fortwährend auf ein katastrophales Ende vorbereite. Ersichtlich irritiert fragt Menudier 26, warum es gegenwärtig wieder so viel Hilflosigkeit in Deutschland gebe. Warum - so fragt er weiter - all diese Larmoyanz? War Deutschland eine bloße Schönwetterdemokratie? Vor diesem Hintergrund wirkt es begütigend, wenn Gordon A. Craig mit der angelsächsischen Mischung aus Ironie und Optimismus - frei nach Willy Brandt meint, was sowohl „Wessis" als auch „Ossis" aus dem gegenwärtigen Prozeß lernen könnten, sei, „that what has come together really belongs together" 27. Craig weiß sich hierin einig mit dem deutschen Historiker Winkler, der am Ende seiner eindrucksvollen Geschichte der Weimarer Republik deren Aktualität für die deutsche Gegenwart hervorhebt, aber vorschnellen Assoziationen entgegentritt 28: „Doch anders als Weimar ist die erweiterte Bundesrepublik keine ungelernte Demokratie mehr. Sie hat nicht nur die Weimarer, sondern auch die sehr viel erfolgreicheren Bonner Lehrjahre hinter sich. Beide Kapitel gehören zu dem Fundament an historischer Erfahrung, auf dem die Demokratie des vereinigten Deutschland aufbauen kann."

Trotzdem sitzen die angedeuteten Selbstzweifel zu tief, als daß man sie ignorieren dürfte. Der Eindruck einer nationalen Identitätskrise im Gefolge der deutschen Wiedervereinigung muß vielmehr als Alarmzeichen begriffen werden. Orientierungslosigkeit und Frustration erzeugen Verantwortungslosigkeit und Aggression. Sie untergraben die staatsbürgerlichen Tugenden, auf die namentlich Republik, Demokratie und Rechtsstaat angewiesen sind. Auch wenn Bonn nicht Weimar ist, verdeutlichen gerade die „Weimarer Erfahrungen", daß die Integration des Staatsvolkes sowie die soziale, verfassungsrechtlich geprägte Realität des Staates als „organisierte politische Entscheidungs- und Wirkungseinheit" unverzichtbar sind. Folglich verbietet sich eine wirklichkeitsfremde Selbstgenügsamkeit der Staatslehre wie auch speziell der Staatsrechtslehre.

II. Der Schatten einer positivrechtlichen Preisgabe des Grundgesetzes Angesichts der angedeuteten, politisch und historisch bedingten Verunsicherung ist der Jurist gehalten, sich zunächst Gewißheit über die positivrechtliche Geltung 26 Vortrag über „Empfindungen jenseits des Rheins", gehalten am 20. 3. 1993 in der Evangelischen Akademie Tutzing im Rahmen einer Tagung unter dem Titel „Dämon Deutschland?" (soweit feststellbar, nicht veröffentlicht), zitiert nach Craig (Fn. 22), S. 40. 27 Craig (Fn. 22), S. 40. 28 Winkler, Weimar 1918 - 1933, 1993, S. 616.

Stabilität der Verfassung?

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des Grundgesetzes sowie über dessen Vorrang und Bestandsschutz zu verschaffen. Damit fällt der Blick auf die strengen Voraussetzungen und Grenzen der Verfassungsänderung nach Art. 79 GG, insbesondere auf die vieldiskutierte Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, der die Preisgabe des dort bezeichneten Verfassungskerns kategorisch verbietet. Das Grundgesetz scheint demnach zumindest juristisch die stabilste Verfassung zu sein, die man sich denken kann. Bedauerlicherweise trifft schon dieser Eindruck heute nicht mehr zu. Vielmehr ist der Schatten einer positivrechtlichen Preisgabe des Grundgesetzes heraufgezogen. Art. 79 GG bietet weniger Sicherheit, als es noch vor wenigen Jahren schien.

1. Art. 146 GG: Die Eröffnung

einer verfassungsrechtlichen

Hängepartie

Art. 146 GG hat seine gegenwärtige Fassung durch Art. 4 des EinigungsVertrages vom 31. 8. 199029 erhalten. Damit ist eine verfassungsrechtliche Hängepartie eröffnet worden. Die ursprüngliche Fassung des Art. 146 GG war entstehungsgeschichtlich eindeutig motiviert und juristisch präzise formuliert: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Selbstbestimmung beschlossen worden ist."

In dieser Verfassungsnorm hatte sich die provisorische Staatsorganisation der Bundesrepublik Deutschland in Anbetracht der deutschen Teilung niedergeschlagen. So stabil das Grundgesetz als geschriebene Verfassung der Bundesrepublik konzipiert war, so wenig sollte es der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes im Falle der staatlichen Wiedervereinigung entgegenstehen. Die gesamtstaatliche Reorganisation Deutschlands sollte nicht durch Vorgaben des Grundgesetzes behindert werden. Im Wiedervereinigungsfalle sollte der Geltungs- und Gewährleistungsanspruch des Grundgesetzes enden. Auch die stabilisierend wirkenden Schranken der Verfassungsänderung nach Art. 79 GG sollten „automatisch" beiseite rücken, sobald das deutsche Volk bei einer staatlichen Wiedervereinigung seine verfassunggebende Gewalt frei ausüben konnte 30 . Auf dieser Grundlage hielt das Grundgesetz für die Verwirklichung der Staats- und Verfassungseinheit zwei alternative Wege bereit: einerseits den Beitritt der ehemaligen DDR oder einzelner Teile ihres Gebietes zur Bundesrepublik Deutschland, verbunden mit der obligatorischen Inkraftsetzung des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet gemäß Art. 23 Abs. 2 GG a.F., und andererseits die originäre, einheitsstiftende Verfassunggebung gemäß Art. 146 GG a.F. Über die Alternative dieser beiden Wege ist nach der friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR auf der politischen wie auf der juristischen Ebene debattiert worden 31 . Bekanntlich ist die Entscheidung zugunsten 29 EinigungsvertragsG vom 23. 9. 1990, BGBl. II S. 885. 30 Isensee, VVDStRL49 (1990), 48 ff.; ders. , in: HdbStR VII (Fn. 8), § 166 Rn. 5 ff.; letztlich wohl auch Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), 88 ff. 2

FS Leisner

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des Beitritts und der Inkraftsetzung des Grundgesetzes gemäß Art. 23 Satz 2 GG a.F. gefallen. Auf diesem Wege ist die Staats- und Verfassungseinheit Deutschlands am 3. 10. 1990 verwirklicht worden 32 . Nach herrschender und zutreffender Rechtsansicht33 konnte die Inkraftsetzung des Grundgesetzes aus sachlichen Gründen modifiziert werden. Der alternative Weg der originären und freien Verfassunggebung gemäß Art. 146 GG a.F. hätte damit obsolet werden sollen. Konsequent wäre es gewesen, diese Verfassungsnorm bei der Wiedervereinigung auf dem Weg des Art. 23 Satz 2 GG a.F. ersatzlos zu streichen 34. Eben dies ist jedoch nicht geschehen. Statt dessen ist Art. 146 GG zu einem Orakel im Verfassungsgewand umformuliert worden: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."

Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum findet sich zum einen die Aussage, das Grundgesetz sei nun über seinen Art. 23 Satz 2 a.F. zur definitiven gesamtdeutschen Verfassung geworden 35. Zum anderen wird - fast im gleichen Atemzuge angemerkt, Art. 146 GG n.F. eröffne den Weg zu einer grundlegenden Verfassungserneuerung 36. Zwischen beiden Aussagen besteht eine innere Spannung, wenn man sein Augenmerk auf den Bestand und den Rang des Verfassungsgesetzes richtet. Dem Wortlaut nach scheint Art. 146 GG n.F. - nach der Herstellung der Staatsund Verfassungseinheit, also nach der Erfüllung und Erledigung des Wiedervereinigungsgebots - außerhalb aller sonstigen Bestimmungen des Grundgesetzes den Weg in die alternative Verfassunggebung des souveränen Volkes freizugeben. Das Grundgesetz wäre dann von einer stabilen zu einer höchst labilen, jederzeit legal revolutionierbaren Verfassung geworden. Einzelne Stimmen der Rechtswissenschaft suchen dem einen Riegel vorzuschieben, indem sie Art. 146 GG n.F. als verfassungswidrige Verfassungsnorm und somit für nichtig erachten 37. Nüchtern 31 Vgl. namentlich Frowein, VVDStRL 49 (1990), 14 ff.; Isensee, ebda., S. 49 ff.; Tomuschat, ebda., S. 74ff.; Randelzhofer, ebda., S. 105 ff., 121 f.; auch Starck, JZ 1990, 349 ff.; Weis, AöR 116 (1991), 1 ff. 32 Vgl. dazu die rückschauende Darstellung von Lerche, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 194. 33 BVerfGE 82, 316 (320f.); 84, 90 (118f.); Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, 1991; Lerche, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 194 Rn. 58 m.w.N. 34 Lerche, ebda., § 194 Rn. 60, 61; auch Isensee, in: HdbStR V I I (Fn. 8), § 166 Rn. 23 ff.: Art. 146 GG a.F. sei durch Zweckerreichung obsolet geworden; a.A. allerdings Wiederin, AöR 117 (1992), 410 (418); jeweils m.w.N. 35 So Paul Kirchhof, Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz?, 1992, S. 14 f. 36 Paul Kirchhof (Fn. 35), S. 14 ff. 37 So Bartlsperger, DVB1. 1990, 1285 ff.; Kempen, NJW 1991, 964ff.; Roellecke, NJW 1991, 2441 (2443 f.); dagegen Würtenberger, in: Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. I, 1991, S. 95 (97 ff.); Mahrenholtz, Die Verfassung und das Volk, 1992, S. 32 f.; Heckel, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 197 Rn. 91, 96 ff.

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betrachtet, stellt dies einen ebenso kühnen wie fragwürdigen Versuch dar, den Willen des historischen Verfassunggebers und des Einigungsvertrages beiseite zu schieben. Andere versuchen, das Dilemma dadurch aufzulösen, daß sie die „an sich" originäre Verfassunggebung des Volkes nach Art. 146 GG n.F. an alle Schranken binden wollen, die Art. 79 GG für verfassungsändernde Gesetze bereithält. Nach dieser Ansicht 38 soll jede Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes - auch eine solche nach Art. 146 GG n.F. - an das formelle Erfordernis der Beschlußfassung mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat nach Art. 79 Abs. 2 GG und an die materiellen Inhalte der Ewigkeitsklausel nach Art. 79 Abs. 3 GG gebunden sein. Immerhin soll so jedoch eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung ermöglicht werden, indem zuvor auf dem Umweg eines verfassungsändernden Gesetzes gemäß Art. 79 GG dessen Abs. 2 geändert und dadurch die alternative Beschlußfassung durch das Volk gestattet wird 3 9 . Demnach würde auf die angeblich deklaratorische Selbstermächtigung des Verfassunggebers in Art. 146 GG n.F. im zweiten Schritt die ebenfalls verfassungsgesetzliche, aber konstitutiv wirkende Ermächtigung zur Völksabstimmung folgen, damit das Volk im dritten Schritt seine verfassunggebende Gewalt ausüben kann. Ob in einem solchen Dreisprung über Art. 146 GG n.F., eine verfassungsgesetzliche Ermächtigung des Volkes und eine abschließende Volksabstimmung auch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG aufgehoben oder eingeschränkt werden kann, mag man nur mit Beklemmung fragen. Soweit die Staatsrechtslehre sich dieser Frage stellt, neigt sie dazu, die verfassungsgesetzliche Unabänderlichkeit der in Art. 79 Abs. 3 GG aufgeführten Grundsätze auch für den Fall einer neuen Verfassunggebung gemäß Art. 146 GG n.F. zu postulieren. Die Begründung für eine solche Fessel der verfassunggebenden, verfassungsgesetzlich bestätigten Gewalt ist jedoch vage geblieben. Alle diese Überlegungen zu Art. 146 GG n.F. erinnern an juristische Sandkastenspiele mit dem revolutionären Potential des pouvoir constituant, den die Interpreten zu domestizieren oder zu umgehen suchen. Man weiß nicht, was man mehr bestaunen soll: die Orakelkunst im Verfassungsgewand, die Interpretationsartistik der deutschen Staatsrechtslehre oder den juristischen Optimismus im Umgang mit verfassungsrechtlichen Formelkompromissen. Wer freilich die Stabilität der Verfassung für bewahrenswert hält, muß die angedeuteten Unsicherheiten hinsichtlich des Verfassungsbestandes mit Sorge betrachten. Die Ursache der gegenwärtigen 38 So Stern, DtZ 1990, 289 (293 f.); Eckart Klein, DÖV 1991, 569 (577 f.); Würtenberger (Fn. 37), S. 100ff.; Paul Kirchhof ( Fn. 35), S. 15; Isensee, in: HdbStR V I I (Fn. 8), § 166 Rn. 61 ff. m.w.N.; Starck, in: FS für Herbert Helmrich, 1994, S. 291 ff.; eine extreme Gegenposition vertreten diejenigen, die das Grundgesetz nur als „Provisorium" betrachten und in Art. 146 GG (a.F. wie n.F.) einen Auftrag zu einer neuen Verfassunggebung erblicken; so Storost, in: Der Staat 29 (1990), 321 ff.; Wahl, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1990,468 ff.; Mahrenholtz (Fn. 37), S. 28ff. 39 So Würtenberger (Fn. 37), S. 104; Weis, AöR 116 (1991), 30; Isensee, in: HdbStR V I I (Fn. 8), § 166 Rn. 64. 2

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Hängepartie liegt letztlich in der zwiespältigen Entscheidung des Einigungsvertrages in der Verfassungsfrage. Die Alternative zwischen den beiden Wegen zur Verfassungseinheit ist nicht eindeutig entschieden worden. Man hat zwar den Weg des Beitritts und der Inkraftsetzung des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet gemäß Art. 23 Satz 2 GG a.F. beschritten, aber die Hintertür einer alternativen Verfassunggebung über Art. 146 GG n.F. offengehalten. Wie und wozu diese Tür genutzt werden darf und - verfassungspolitisch gesehen - genutzt werden sollte, ist weiterhin streitig und somit ein verfassungsrechtlicher Unruheherd 40. Entstehungsgeschichtlich betrachtet, hat die seinerzeitige Regierungskoalition der Bundesrepublik Deutschland offenbar der parlamentarischen Opposition mit der Neufassung des Art. 146 GG ein Zugeständnis gemacht, damit der Einigungsvertrag in Bundestag und Bundesrat die erforderlichen Mehrheiten finden konnte 41 . Um so weniger tolerabel erscheint der hierdurch bewirkte StabilitätsVerlust der Verfassung. Das Grundgesetz verfügte auch in demokratischer Hinsicht über die erforderliche Legitimität und Akzeptanz, um auf dem Wege des Art. 23 Satz 2 GG a.F. überzeugend und vorbehaltlos zur gesamtdeutschen Verfassung erstarken zu können. Der anfängliche Makel seiner mittelbar demokratischen Entstehung war im Laufe von mehr als vier Jahrzehnten durch die gelebte und bewährte Verfassungspraxis, insbesondere durch die gefestigte Demokratie der Bundesrepublik, behoben worden 42 . Zudem war der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, historisch und politisch verstanden, nicht nur auf die staatliche Einheit, sondern auch auf die Verfassungseinheit unter dem Grundgesetz gerichtet 43. Daher befremdet es, wenn nun infolge eines Huckepackverfahrens der Wiedervereinigung, inhaltlich jedoch von dieser abgelöst, mancherlei bisher nicht mehrheitsfähigen Wünschen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes auf dem Weg des

40 Ebenso Wiederin, AöR 117 (1992), 443 ff.; Isensee, in: HdbStR VII (Fn. 8), § 166 Rn. 66ff.; Lerche, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 194 Rn. 63 ff.; auch Hans H Klein, ebda., § 198 Rn. 45 ff.; Kloepfer, Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung, 1994, S. 43 f.; Grund zur Sorge gibt bereits das diffuse Bild unterschiedlicher Standpunkte und Thesen zur Interpretation des Art. 146 GG n.F., die hier (in und bei Fn. 37 39) nur unvollständig referiert werden können; den vollständigsten und gerade deshalb beunruhigendsten Überblick bietet insofern Hechel, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 197 Rn. 86 ff., der am Ende Art. 146 GG n.F. als „ergänzungsbedürftige Grundnorm der Totalrevision" ansieht und die „Absorbierung revolutionärer Tendenzen durch Totalrevision der Verfassung" befürwortet; die „Diffusheit dieses Terminus" (Lerche, ebda., § 194 Rn. 63, N 203) steigert die Bedenken, statt sie zu zerstreuen. 41 Zum entstehungsgeschichtlichen Hintergrund Schäuble, ZG 1990, 289 ff.; ders., Der Vertrag, 1991, S. 193; Bülow, in: Stern (Fn. 37), S. 49 (51 ff.); Isensee, in: HdbStR V I I (Fn. 8), § 166 Rn. 48 ff.; Lerche, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 194 Rn. 21 ff. 42 So schon Starck, JZ 1990, 349 (352); Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), 75, 93; Isensee, in: HdbStR VII (Fn. 8), § 166 Rn. 32 ff., 36 ff., 58; Heckel, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 197 Rn. 42 ff. 43 Zum Ablauf der Ereignisse Fiedler, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 184; ferner statt vieler Lerche, ebda., § 194 Rn. 12 ff., 28, 31 ff.; Heckel, ebda., § 197 Rn. 8 ff., 37.

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Art. 146 GG n.F. ebenso alternative wie vage Vorstoßmöglichkeiten in einer Grauzone zwischen Verfassunggebung und Verfassungsänderung eröffnet sind. Nur vordergründig mochte es so scheinen, als könnte Art. 5 des Einigungsvertrages die verfassungsrechtliche Hängepartie entschärfen. Immerhin sind die „gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands" der dort ausgesprochenen Empfehlung nachgekommen, sich „mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen". Nach Art. 5 des Einigungsvertrages gehörte zu diesen Themen u. a. die „Frage der Anwendung des Art. 146 GG und in deren Rahmen einer Volksabstimmung". Die Empfehlungen der demgemäß eingesetzten Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat 44 hat Josef Isensee mit den Worten kommentiert, das Grundgesetz sei noch einmal mit blauem Auge davongekommen, wenn auch nicht ohne Blessuren 45. Die Stabilität und die Kontinuität der Verfassung würden hierdurch nicht angetastet. Die Grundgesetzänderung vom 27. 10. 1994 ist im wesentlichen den Vorschlägen der Verfassungskommission gefolgt. Offenbar galt eine grundsätzliche Verfassungsdiskussion zu diesem Zeitpunkt bereits als ungelegen. Ein Umstand erweckt indessen die Sorge, daß das Grundgesetz auf die Dauer mehr als nur ein blaues Auge davontragen könnte: Nachdem im Jahre 1990 zur raschen Verwirklichung der deutschen Wiedervereinigung der neue Art. 146 GG zustande gekommen und der alternative Weg einer originären Verfassunggebung eröffnet worden war, hätte es sich angeboten, zum Abschluß der Verfassungsrevision gemäß Art. 5 des Einigungsvertrages die Hängepartie zu beenden. Am klarsten wäre dieses Ziel durch die Streichung des Art. 146 GG n.F. erreicht worden 46 . Der Auftrag zur außerordentlichen Verfassungsrevision war durch die Situation der Wiedervereinigung bedingt. Seine historische und politische Plausibilität ist jedenfalls erschöpft, nachdem die Revisionsklausel des Einigungsvertrages in der Folgephase einmal angewandt worden ist. Mit der geforderten Streichung des Art. 146 GG n.F. hätte der unklare und destabilisierende Verfassungskompromiß des Jahres 1990 sein folgerichtiges Ende gefunden. Zugleich hätte der ordentliche Bestandsschutz der Verfassung gemäß Art. 79 GG seine angestammte Stabilisierungsfunktion zurückgewonnen. Vor diesem Hintergrund muß es als erstaunlich und enttäuschend empfunden werden, daß es im Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission lapidar heißt, im Zusammenhang mit Art. 146 GG seien keine Anträge gestellt und keine Empfehlungen der Kommission ausgesprochen worden 47 . Damit drückt die Kommission eine Tendenz aus, die anschließend verfassungsgesetzliche Realität geworden ist: Art. 146 GG n.F. gilt ohne Rücksicht auf seine situative Bedingtheit fort. 44 45 46 47

BT-Drucks. 12/6000 (= BR-Drucks. 800/93); vgl. dazu Scholz, ZG 1994, 1 ff. Isensee, NJW 1993, 2583 ff. So nachdrücklich Kriele, ZRP 1991, 1 ff. BT-Drucks. 12/6000, S. 108 ff.

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Hiermit ist die verfassungsrechtliche Hängepartie auf unabsehbare Dauer verlängert worden. Schon aus positivrechtlicher Sicht steht es mithin nicht gut um die Stabilität der Verfassung.

2. Art. 23 GG: Die Offenheit der Europäischen Union Schatten einer positivrechtlichen Preisgabe des Grundgesetzes erzeugt auch die Offenheit der Europäischen Union. Der Versuch, die mit dem Maastrichter Vertrag offenbar gewordenen Probleme der nationalen Staats- und Verfassungsidentität durch den Art. 23 GG n.F. positivrechtlich zu lösen, krankt - ähnlich wie das innerstaatliche Orakel des Art. 146 GG n.F. - an dem fatalen Hang, politische Grundsatz- und Strukturfragen in dilatorische Formelkompromisse des Verfassungsrechts zu kleiden. In Wahrheit werden damit die notwendigen Entscheidungen in der Schwebe gehalten48. Sie bleiben dem labilen Wechselspiel zwischen juristischen Interpretationsartisten und politischen Stoßbataillonen überlassen. Auf dem nationalen Parkett der Bundesrepublik sind dadurch die Grundsatzentscheidungen weitestgehend dem BVerfG zugeschoben worden. Abgesehen von der so heraufbeschworenen Überforderung des BVerfG, kann dessen Rechtsmacht auf der supranationalen Ebene der Europäischen Union nur mittelbar und beschränkt wirken. Je weiter die europäische Integration unter diesen Vorzeichen vorangetrieben wird, desto prekärer wird die verfassungsrechtliche Entscheidungslast. Am Ende droht eine juristisch und politisch gefährliche Zerreißprobe für die Verfassung der Mitgliedstaaten. Dies hat sich nicht nur in Deutschland gezeigt, wenngleich der Konflikt in anderen Mitgliedstaaten eher verfassungspolitisch und nicht so sehr verfassungsrechtlich verstanden worden ist 4 9 Das Maastricht-Urteil des BVerfG vom 12. 10. 1993 50 hat die prinzipielle Zuspitzung unmißverständlich erkennen lassen. Daß das BVerfG vor der parlamentarischen Entscheidung über die deutsche Teilnahme an der dritten Stufe der Europäischen Währungsunion in dem Urteil vom 31.3.1998 51 seine pointierten Vorbehalte aufgegeben hat, ändert nichts an den im Maastricht-Urteil herausgestellten Strukturproblemen der offenen Verfassungslage. Im Gegenteil: Das BVerfG hat in dieser Lage seine Ohnmacht eingestehen müssen und damit diejenigen enttäuscht, die dem verfassungsrechtlichen Aufbegehren des Maastricht-Urteils eine Relevanz für die politische Realität unterstellt hatten. Art. 23 Abs. 1 GG i.d.F. des Änderungsgesetzes vom 21. 12. 1992 enthält eine Integrationsöffnungs- i.V.m. einer Struktursicherungsklausel (Satz 1) sowie eine Kompetenzübertragungs- i.V.m. einer Verfassungsbestandsklausel (Satz 2 und 3). Mit der Struktursicherungsklausel ist die Gründung und Entwicklung der Euro48 Kritisch in diesem Sinne bereits Breuer, NVwZ 1994, 417 (428 f.); ferner Peter M. Huber, Maastricht - ein Staatsstreich?, 1993, S. 13 ff., 16ff., 48 ff. 49 Vgl. die Nachw. bei Breuer, NVwZ 1994, 420, Fn. 33. so BVerfGE 89, 155 ff. 5i BVerfGE 97, 350 ff.

Stabilität der Verfassung?

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päischen Union daran geknüpft, daß deren Verfassungstruktur mit derjenigen der Bundesrepublik Deutschland homogen sein muß. Nach der Verfassungsbestandsklausel gilt innerstaatlich Art. 79 Abs. 2 und 3 GG für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die das Grundgesetz „seinem Inhalt nach ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden". Insbesondere unterliegt somit die deutsche Integrationsgewalt positivrechtlich der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG. Die absolute inhaltliche Tabuzone des dort bezeichneten Verfassungskerns muß somit auch bei Rechtsakten der europäischen Integration gewahrt bleiben. Wie schwer diese Tabuzone zu definieren ist, zeigen die Maastricht-Diskussion sowie die hierzu ergangenen Urteile des BVerfG vom 12. 10. 1993 und 31. 3. 199852. Daß hierbei verfassungsrechtlich die Staatlichkeit, die nationale Demokratie und die Bundesstaatlichkeit der Bundesrepublik auf dem Spiel standen und bei jedem weiteren Kompetenzverlust aufs neue aufs Spiel gesetzt werden 53, läßt sich nicht leugnen - wie immer man europapolitisch hierüber denken mag. Insbesondere hat die Rechts- und Politikwissenschaft wie auch das BVerfG zu Recht betont, daß das Demokratiedefizit auf der europäischen Ebene struktureller, kultureller und politischer Art ist und nicht allein durch organisationstechnische Reformen behoben werden kann 54 . Die Demokratie ist nach wie vor faktisch und rechtlich in den Nationalstaaten verankert. Eben dort darf sie mithin nicht beliebig ausgedünnt werden. Das Thema des Art. 23 GG n.F., das offene und offensive Entwicklungspotential der Europäischen Union sowie die bedrängte Verfassungsstruktur der Bundesrepublik sind jedenfalls mit den Urteilen des BVerfG vom 12. 10. 1993 und 31. 3. 1998 sowie mit der parlamentarischen Verabschiedung der Verträge von Maastricht und Amsterdam 55 keineswegs erledigt. Vielmehr vermittelt die Lektüre des ersten Urteils den Eindruck, daß das BVerfG den Maastrichter Vertrag und die Europäische Union „herunterinterpretiert" und so verfassungsrechtlich „gehalten" hat. 52 Oben Fn. 50, 51. 53 Bedenkenswert die „offenen" Überlegungen über „Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes" von Lerche, in: FS für Konrad Redeker, 1993, S. 131 ff.; im Widerspruch zu Art. 23 Abs. 1 Satz GG n.F. i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG halten manche eine unbegrenzte Fortentwicklung der EU zu einem europäischen Bundes-(Staat) für möglich; umfassend dazu Pernice, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 191 Rn. 34 ff., insbes. 62 ff. m.w.N. (mit eigenen Sympathien für dahingehende Thesen und Tendenzen); dagegen schon Breuer, NVwZ 1994,417 (421 ff.). 54 BVerfGE 89, 155 (182 ff.); vgl. auch Paul Kirchhof, in: HdbStR V I I (Fn. 8), § 183 Rn. 50 ff. (55), 57 ff. (61); ders., in: Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und rechtliche Form, 2. Aufl. 1994, S. 63 (92 ff.); auch Hans H Klein, ZG 1997, 209 (227 ff.). 55 Vertrag über die Europäische Union vom 7. 2. 1992, G vom 28. 12. 1992, BGBl. I I S. 1251; in Kraft getreten am 1. 11. 1993 gem. Bek. vom 19. 10. 1993, BGBl. I I S. 1947. Vertrag von Amsterdam vom 2. 10. 1997, G vom 8. 4. 1998, BGBl. II S. 386; in Kraft getreten am 1. 5. 1999.

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Ein anderes Entscheidungsergebnis konnte angesichts der politischen Implikationen des Streites gar nicht erwartet werden, so stark die rechtlichen Bedenken des Gerichts offenbar auch gewesen sind. Dies dürfte manche zugespitzten Aussagen des Urteils erklären. Verwiesen sei etwa auf die Bemerkung, daß Deutschland als einer der „Herren der Verträge" durch einen gegenläufigen Akt die Mitgliedschaft in der Europäischen Union wieder aufheben könne 56 , sowie auf die Verneinung eines „Automatismus" der Währungsunion, deren weitere Schritte angeblich noch der freien Entscheidung der Bundesregierung und des Bundestages überlassen waren 57 . Aus verfassungsrechtlichem Blickwinkel lassen solche Aussagen noch hoffen, daß die Bundesrepublik Deutschland ihre Verfassungsstruktur, insbesondere ihre Staatlichkeit, die nationale Demokratie und die Bundesstaatlichkeit, auch künftig bewahren werde. Das Urteil des BVerfG vom 31.3. 1998 hat diese Hoffnung - vorsichtig formuliert - gedämpft. Die Stunde der Wahrheit hat mit der vereinbarten dritten Stufe der europäischen Währungsunion geschlagen. Diese Stufe ist am 1. 1. 1999 erreicht, nachdem der Europäische Rat, bestehend aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, am 2. 5. 1998 mit qualifizierter Mehrheit beschlossen hat, welche Mitgliedstaaten die sog. Konvergenzkriterien der Währungsstabilität erfüllen (Art. 109j Abs. 4 EGV) 5 8 . Seit diesem Schritt kann ein „Herunterinterpretieren" des Maastrichter Vertrages nicht mehr gelingen. Eine erneute Eskalation des Verfassungsstreites läßt sich absehen. Eine Gruppe von über 60 deutschen Wirtschaftswissenschaftlern hat sich in einem „Manifest" vom Juni 1992 entschieden gegen diese Form der Währungsunion ausgesprochen. Das Manifest gipfelt in dem Satz 59 : „Die überhastete Einführung einer Europäischen Währungsunion wird Westeuropa starken ökonomischen Spannungen aussetzen, die in absehbarer Zeit zu einer politischen Zerreißprobe führen können und damit das Integrationsziel gefährden."

Die wirtschaftswissenschaftliche Kritik stützt sich auf die Schwächen der Konvergenzkriterien, die Zweifel an der Funktionsfähigkeit juristischer Stabilitätsverpflichtungen der Europäischen Zentralbank und den Befund, daß ein Konsens hinsichtlich der Priorität der Preisstabilität bisher selbst in Westeuropa fehlt 60 . Angesichts der historischen, politischen, ökonomischen und sozialen Unterschiede der Mitgliedstaaten kann der bestehende Dissens nicht überraschen. Die bislang unterschiedlichen Währungspolitiken der Mitgliedstaaten und ihrer Zentralbanken sind 56 BVerfGE 89, 155 (190); kritisch dazu Tomuschat, EuGRZ 1993, 489 (496); Frowein, ZaöRV 54 (1994), 1 (11); Hans Peteripsen, EuGRZ 1994, 1 (16 f.). 57 BVerfGE 89, 155 (204 f.). 58 ABl. EG Nr. L 139 vom 11. 5. 1998, S. 30 (35). 59 Veröffentlicht in: Börsen-Zeitung vom 12. 6. 1992, These 10. 60 Ebda., These 3 ff.; im gleichen Sinne neuerdings die von 155 Professoren der Wirtschaftswissenschaften unterzeichnete Erklärung „Der Euro kommt zu früh", veröffentlicht in: FAZ vom 9. 2. 1998, S. 15.

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ebenso bekannt61 wie die daraus resultierenden Divergenzen und Turbulenzen, die selbst innerhalb des bisherigen Europäischen Währungssystems aufgetreten sind. Die dadurch verursachten Disparitäten der Wechselkursentwicklungen sind statistisch nachlesbar 62. Bei alldem geht es nicht darum, ob die Bundesrepublik Deutschland noch als Musterland der Währungsstabilität gelten kann. Ein solches ist sie derzeit wohl nicht. Entscheidend ist, daß die bisherigen Außenkonflikte zwischen den nationalen Währungshoheiten mit der dritten Stufe der vereinbarten Währungsunion zu einem Innenkonflikt werden. Im Rahmen der Europäischen Zentralbank kann daraus zwangsläufig nur ein währungspolitischer Kompromiß zwischen den divergierenden Traditionen und Interessen erwachsen, also ein Kompromiß zwischen den Zielen der Preisstabilität nach Maßgabe des deutschen Verfassungs- und Gesetzesrechts (Art. 109 Abs. 2 GG, Stabilitätsgesetz) und gegenläufigen Bestrebungen des wirtschaftlichen Wachstums oder auch nur der Rezessionsabwehr. Hierbei sind, am deutschen Recht und an der Tradition der Deutschen Bundesbank gemessen, Konzessionen zu Lasten der Preis- und Währungsstabilität durchaus nicht unwahrscheinlich. Gewiß gibt es dazu im politischen Raum sowie in wirtschaftswissenschaftlichen Fachkreisen auch andere Bewertungen 63. Aus rechts- und staatswissenschaftlicher Sicht erscheinen jedoch drei Feststellungen geboten: Erstens zeigen geschichtliche und vergleichende Betrachtungen, daß die Praxis der nationalen Zentralbanken und die jeweilige Wertschätzung der Währungsstabilität keineswegs nur von den einschlägigen Rechtsvorschriften und deren unbestimmten Begriffen abhängen. Maßgebende Bedeutung kommt insofern jeweils dem nationalen Konsens zu, der durch vielfältige historische, politische, ökonomische und soziale Faktoren geprägt ist 64 . Auch die Organisation und die Wirkungsweise der Deutschen Bundesbank können nur als wohlausgewogenes System rechtlicher, fachspezifischer und währungspolitischer Bestimmungsfaktoren verstanden werden. Innerhalb dieses Systems sind sachverständigen und unabhängigen Amtsträgern verselbständigte Entscheidungskompetenzen überantwortet, wobei die rechtliche Begrenzung wie auch die politische Rückkoppelung an die staatliche Exekutive und die öffentliche Meinung stets im Spiele bleiben 65 . Wer hingegen 61

Vgl. die länger zurückreichende, gerade deshalb aufschlußreiche Untersuchung von Caesar, Der Handlungsspielraum von Notenbanken, 1981, S. 165 ff., 457 ff., 521 ff. 62 Vgl. die statistischen Angaben in: EG-Kommission (Hrsg.), European Economy, Nr. 4/ 1995, S. 13 ff.; Europäische Wirtschaft, Nr. 63/1997, S. 25, 104ff. 63 So z. B. Tietmeyer, in: Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2. Aufl. 1994, S. 35 (49 ff.). 64 Instruktiv dazu aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht Caesar (Fn. 61), passim; vgl. auch Breuer, in: Starck (Hrsg.), Erledigung von Verwaltungsaufgaben durch Personalkörperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, 1992, S. 15 (92 ff.). 65 Dazu bereits Breuer, VVDStRL 44 (1986), 211 (238 f.) unter Zurückweisung verfassungsrechtlicher Einwände, wie sie von Eckart Klein (Die verfassungsrechtliche Problematik des ministerialfreien Raumes, 1974, S. 215) und v. Bonin (Zentralbanken zwischen funktioneller Unabhängigkeit und politischer Autonomie, 1979, S. 166 ff., 172 ff., 235 ff.) erhoben

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meint, die Währungsstabilität allein oder auch nur „maßgeblich" durch rechtliche Klauseln gewährleisten zu können, und über die ausschlaggebende Rolle der außerrechtlichen Faktoren sowie über die unterschiedlichen Rechtstraditionen im Umgang mit unbestimmten Rechtsbegriffen großzügig hinwegsieht, offenbart eine erstaunliche Gesetzesgläubigkeit; bekanntlich haftet den Deutschen der Ruf an, ein besonders gesetzesgläubiges Volk zu sein 66 . Die Europäisierung der Währungshoheit kann man jedenfalls mit rein juristischen Betrachtungen wie auch mit wirtschaftswissenschaftlichen Abstraktionen nicht verläßlich einschätzen. Zweitens berührt die Preisgabe der Währungshoheit die nationale Verfassungsstruktur. Auf dem Spiel stehen dabei nicht nur spezielle Verfassungsbestimmungen wie die Art. 88 und 109 Abs. 2 GG, sondern darüber hinaus die staatliche Gesamtund Letztverantwortung für Wohl und Wehe der Bürger 67 , die nationale Demokratie 68 sowie die national geprägte Rechts- und Sozialstaatlichkeit. Seit dem Maastrichter Vertrag, mit der bevorstehenden Weiterentwicklung der Europäischen Union und insbesondere mit der Europäisierung der Währungshoheit kann man den gestellten Verfassungsfragen nicht mehr ausweichen. In der Anfangsphase der Europäischen Gemeinschaften mochte die Offenheit der Entwicklungsziele und Organisationsformen sinnvoll und hinnehmbar sein 69 . Diese Offenheit stößt jedoch beim gegenwärtigen, hochgradig fortgeschrittenen Entwicklungsstand und erst recht bei einer Europäisierung weiterer Kompetenzen und Politiken auf Grenzen des nationalen Verfassungsrechts und der verfassungspolitischen Akzeptanz. Die offene, offensiv fortschreitende Verlagerung von Hoheitsrechten auf die supranationale Ebene führt zur quantitativen und qualitativen Erosion der nationalen Staatlichkeit. Daraus ist schon heute eine labile Schwebelage entstanden, die auf längere Sicht die Verfassungsstruktur der Mitgliedstaaten paralysiert. Dies gilt für die staatliche Gesamt- und Letztverantwortung gegenüber dem Bürger, für die demokratischen Organisations- und Entscheidungsstrukturen sowie für die Austarierung der rechts- und sozialstaatlichen Gewährleistungen. Die verfassungsrechtliche Schwebelage provoziert positive und negative Kompetenzkonflikte, nationale Identitätskonflikte und Zerreißproben und damit auch Gefahren für den supranationalen Konsens der europäischen Integration. All dies hat die Maastricht-Diskussion nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Mitgliedstaaten, namentworden waren; im Sinne solcher Bedenken auch Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 198: „verfassungsrechtlich höchst anfechtbar". 66 Vgl. Carl Schmitt, Das Problem der Legalität (1950), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 440 (446): „ein rührend legalitätsbedürftiges Volk"; hieran anknüpfend Isensee, in: HdbStR V I I (Fn. 8), § 166 Rn. 66. 67 Allgemein dazu Doehring, ZRP 1993, 98 ff.; auch Ossenbühl, DVB1. 1993, 629 (632); Kokott, AöR 119 (1994), 207 (232 f.). 68

Vgl. dazu außer den Nachw. oben in Fn. 54 auch Doehring, DVB1. 1997, 1133 ff. 69 In diesem Sinne Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 522 m.w.N.; auch Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 227 ff.; ders., in: HdbStR V I I (Fn. 8), § 181 Rn. 19.

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lieh in Dänemark, Frankreich und Großbritannien, in alarmierender Weise verdeutlicht 70 . Blickt man von der Warte des Jahres 1999 auf die beschriebene Schwebelage, so ist zu beobachten, daß das hierdurch bedingte Konfliktpotential in den letzten Jahren nicht ab-, sondern zugenommen hat. Die Erosion der nationalen Verfassungsstaatlichkeit und die gleichzeitige strukturelle Offenheit der Europäischen Union lassen sich nicht länger verbergen, aber auch nicht technokratisch überwinden. Die Nachricht, daß in der Europäischen Union „Meinungsverschiedenheiten in fast allen Kernfragen" bestehen71, zeigt die Tiefe des Dilemmas an. Drittens lehrt die Erfahrung der Geschichte und der Staatswissenschaften, daß eine Währungsstabilität ohne einen stabilen Staat nicht gewährleistet werden kann 72 . Dieser setzt seinerseits die Stabilität seiner Verfassung und die Einheitlichkeit der politischen Willensbildung voraus. Die offene, von nationalen Differenzen geprägte Europäische Union entbehrt derartiger Kriterien. Sie vermag die Erosion der nationalen Verfassungsstaatlichkeit nicht zu kompensieren. Ohne die Einbettung in eine stabile politische Einheit und deren wirtschaftspolitischen Willen wird die Europäische Zentralbank nicht imstande sein, die Währungsstabilität mit technokratischen, juristisch festgelegten Instrumenten zu sichern. Wo die wirtschaftlichen Akteure den stabilen Staat vermissen und die politische Hege der Währungsstabilität nicht erwarten können, werden sie ihre Investitionen in andere Währungen und Märkte lenken. Die vorgezogene Europäische Währungsunion ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Kränkeln verurteilt. Strukturell betrachtet, wird die Stabilität der mitgliedstaatlichen Verfassungen durch die Dominanz der europäischen Exekutiven empfindlich erschüttert 73. Davon sind zwar alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union betroffen. Die Bundesrepublik Deutschland ist hierdurch jedoch in besonderer Weise herausgefordert, weil das Grundgesetz vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen eine spezifisch juristische Verfassung ist 74 . Die aufgeworfenen Strukturfragen der Staatlichkeit, des Demokratieprinzips und der Bundesstaatlichkeit sind danach nicht verfassungspolitisch beliebig lösbar, sondern im Kern ein verfassungsrechtliches Problem, das zudem durch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG eine beson70 Nachw. bei Breuer, NVwZ 1994, 420 Fn. 33; vgl. auch Mestmäcker, Risse im europäischen Contrat Social, in: Hanns Martin Schleyer-Stiftung (Hrsg.), Hanns Martin SchleyerPreis 1996 und 1997, 1997, S. 53 ff. 71 Titel des Berichts in FAZ vom 27. 2. 1999, S. 1; es dürfte keine Schwarzmalerei sein, wenn man prognostiziert, daß die einen Monat später im Europäischen Rat, d. h. unter den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten, erzielte Einigung auf die sog. Agenda 2000 (Berichte in der FAZ vom 27. 3. 1999, S. 1 - 3) das Konfliktpotential nicht ausgeräumt und die „Risse im europäischen Contrat Social" (Mestmäcker, Fn. 70) nicht geschlossen hat. 72 In diesem Sinne auch Tietmeyer (Fn. 63), S. 53 f.; vgl. ferner zur Reichsbank von 1901 1914 die informative Darstellung von Hettlage, in: Jeserich / Pohl / v. Unruh (Fn. 2), Bd. III, 1984, S. 272 ff. 73 Vgl. statt vieler Steinherger, VVDStRL 50 (1991), 9 (39 ff.); Eckart Klein, ebda., S. 56 (75 ff.); Paul Kirchhof, HdbStR IX (Fn. 10), § 221 Rn. 34 ff. 74 Oben Fn. 10.

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dere Zuspitzung erfährt. In der Maastricht- und Währungsdiskussion haben die Bundesregierung und der tonangebende Teil der sog. politischen Klasse der Bundesrepublik in erstaunlichem Maße die notwendige Sensibilität für die verfassungsrechtlichen und -politischen Stabilitätsverluste infolge der offenen und betont offensiven Europäisierung staatlicher Hoheitsrechte vermissen lassen. Es erscheint höchst bedenklich, wie gerade in der Bundesrepublik unter Hinweis auf den „abgefahrenen Zug" und mit dem polemischen Vorwurf der Europafeindlichkeit die demokratische Diskussion darüber verweigert worden ist, welcher Weg der europäischen Integration den Vorzug verdient 75. Der „Maastricht-Weg" mit der Europäisierung der Währungshoheit sowie zahlreicher weiterer Kompetenzen und Politiken ist gerade unter politischen und konzeptionellen Gesichtspunkten nicht der einzig denkbare. Die möglichen und erörterungsbedürftigen Alternativen der Europapolitik sind einer vorherigen Diskussion in der demokratischen Öffentlichkeit der Mitgliedstaaten vorenthalten worden. Während insbesondere in Dänemark und Frankreich wenigstens im nachhinein unter dem Vorzeichen der Referenden eine demokratische Diskussion über den europapolitischen „Maastricht-Weg" herbeigeführt worden ist, mußte die Haltung der Bundesregierung und der parlamentarischen Mehrheit in der Bundesrepublik Deutschland eher als Diskussionsverhinderungsstrategie verstanden werden, da den Kritikern des „Maastricht-Weges" Zwangsbilder und Katastrophenszenarien entgegengehalten wurden. Über die hierdurch provozierten Widerstände und Frustrationen sowie die damit verbundenen demokratischen Stabilitätsverluste braucht sich niemand zu wundern. Die dilatorischen Formelkompromisse des Art. 23 GG n.F. kaschieren die Strukturprobleme, lösen sie aber nicht. Eher enthalten sie eine trügerische Scheinbewältigung der europäischen Herausforderungen 76.

I I I . Gewährleistung, Voraussetzungen und Grenzen der staatsorganisationsrechtlichen Stabilität Ist somit die Stabilität der Verfassung in der Bundesrepublik Deutschland schon wegen des innerstaatlichen Orakels des Art. 146 GG n.F. und wegen der fortschreitenden Verlagerung von staatlichen Kompetenzen und Politiken auf die Europäische Union keineswegs derart gesichert, wie das Grundgesetz es lange glauben ließ, so bleibt nach der staatsorganisationsrechtlichen Stabilität zu fragen. War es doch diese, die der Parlamentarische Rat nach den „Erfahrungen von Weimar" besonders sorgfältig zu gewährleisten suchte. Die einschlägigen, eingangs erwähnten Bestimmungen des Grundgesetzes haben sicher zur Konsolidierung der Bundesrepublik und zur Stabilität ihrer Verfassung beigetragen. Dennoch liegen gegen75 Entsprechende Kritiken und Appelle finden sich bei Ossenbühl, DVB1. 1993, 629 (637); Di Fabio, in: Der Staat 32 (1993), 191 (216 f.); Huber (Fn. 48), S. 44 ff., 48 ff. 76 Näher dazu Breuer, NVwZ 1994, 417 ff.; tendenziell anders Pernice, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 191 Rn. 35 ff.

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wärtig klarer denn je die Grenzen zutage, die dem Verfassungsgesetzgeber bei dem Bemühen um staatsorganisationsrechtliche Stabilität gesetzt sind. Die Herausforderungen, denen die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus" und der staatlichen Wiedervereinigung ausgesetzt ist, sowie die aufgekommene Verunsicherung lassen erneut deutlich werden, was das Staatsorganisationsrecht leisten kann und was es nicht leisten kann. 1. Parlamentarische Mehrheits- und Regierungsbildung, Mißtrauensvotum und Parlamentsauflösung Verfassungsrechtlich haben die Vorschriften über die Kanzlerwahl und die Regierungsbildung, das konstruktive Mißtrauensvotum und die nur ausnahmsweise zulässige Auflösung des Bundestages (Art. 63, 67 und 68 GG) - in erfolgreicher Abkehr von den „Weimarer Verhältnissen" - den Bundestag in die Verantwortung gezwungen. Sie haben so dazu beigetragen, die parlamentarische Demokratie zu stabilisieren. Dabei darf man jedoch nicht übersehen, daß die Wähler bisher bei allen Bundestagswahlen durch ihre Stimmabgabe für eine mehrheitsfähige Besetzung des Bundestages gesorgt haben77. Das Volk hat mithin die entscheidende politische Voraussetzung für die repräsentative Mehrheitsbildung und stabile parlamentarische Kräfteverhältnisse geschaffen. Vor allem darin unterscheidet sich bisher die Demokratie der Bundesrepublik von der labilen, letztlich an sich selbst gescheiterten Demokratie der Weimarer Republik. Das konstruktive Wählerverhalten kann indessen nicht erzwungen werden. Bei einigen Landtagswahlen der letzten Jahre ist es bereits abhanden gekommen. Bekanntermaßen hat sich daher in den betreffenden Bundesländern die Mehrheits- und Regierungsbildung höchst schwierig und wenig überzeugend gestaltet78. Hier ist die mißliche Alternative zwischen einer brüchigen oder zwiespältigen Koalition und einer labilen Minderheitsregierung bereits Wirklichkeit geworden. Vor der Bundestagswahl vom 16. 10. 1994 hat Helmut Schmidt, von der gegenwärtig unrealistischen Möglichkeit der absoluten Mehrheit irgendeiner Partei absehend, für den realistischen Fall, daß weder die CDU / CSU noch die SPD mit der F.D.P. eine parlamentarische Mehrheit finden kann, die verbleibenden Mög77

Vgl. dazu die Schilderung und die Daten bei Eschenburg , in: Jeserich / Pohl / v. Unruh (Fn. 2), S. 2ff.; im Vergleich dazu die entsprechenden Daten für die Weimarer Republik bei Hans Schneider, in: HdbStR I (Fn. 2), § 3 nach Rn. 89. 78 Vgl. die statistischen Ergebnisse der jüngeren Landtagswahlen in: Hdb. des Bundesrates für das Geschäftsjahr 1998/99, S. 368 ff.; die Schwierigkeiten der Mehrheits- und Regierungsbildung, wie sie namentlich in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt offenbar geworden sind, zeichneten sich bereits im Vorfeld des „Superwahljahres" 1994 ab; dazu die Berichte in FAZ vom 20. 12. 1993, S. 9ff.; zu den Ergebnissen und Folgen der Bundestagswahl vom 16. 10. 1994 die Daten und Berichte in: Chronik '94, 1995, S. 89 ff., entsprechende Angaben zu den Landtagswahlen des Jahres 1994 ebda., S. 30, 57, 86, 92.

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lichkeiten durchgespielt 79. Die Erweiterung einer CDU / CSU-Koalition mit der F.D.R nach rechts hat er als „schrecklichen Gedanken" bezeichnet, die Erweiterung einer Koalition der SPD mit der F.D.P. nach links - fein differenzierend - als „abstoßenden Gedanken". Eine Koalition mit der PDS erschien ihm als Verstoß gegen die „politische Moral". Den Gedanken an eine Minderheitskoalition verwarf er als gefährliches Experiment. Schließlich stellte sich ihm eine große Koalition von CDU /CSU und SPD als bedenkliches, aber noch geringstes Übel dar. Dieser Beurteilung braucht man von wissenschaftlicher Seite nicht zu widersprechen. Sie zeigt, wie sehr die Stabilität der gelebten Verfassung in der Bundesrepublik Deutschland bereits im Wahljahr 1994 gefährdet war und bis zum erneuten Wahljahr 1998 weitere Einbußen erlitten hat. Die 1993 geäußerten Befürchtungen Helmut Schmidts sind längst Wirklichkeit geworden. Hierzu braucht man sich nur die von der PDS geduldete Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt, die Regierungskoalition der SPD und der PDS in Mecklenburg-Vorpommern sowie die allgemeine und ausdrückliche Billigung solcher Koalitionen mit der SED-Nachfolgepartei seitens des SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine zu vergegenwärtigen. Derartige Bündnisse verstoßen nicht nur gegen die „politische Moral"; am Maßstab des Art. 79 Abs. 3 i.V.m. den Grundsätzen der Art. 1 und 20 GG sowie an Art. 21 Abs. 2 GG gemessen, bewegen sie sich zumindest im verfassungsrechtlichen Zwielicht. Die nach der Bundestagswahl vom 27. 9. 1998 begründete, das Wahlergebnis umsetzende, aber innerlich zerrissene und diffus agierende Regierungskoalition der Bundesebene80 - die zwar ohne die F.D.P., aber mit den „Bündnisgrünen" vollzogene „Erweiterung nach links" - scheint im nachhinein zu verdeutlichen, was Helmut Schmidt im Jahre 1993 als „abstoßender Gedanke" vorgekommen sein mag. Jedenfalls lassen diese Entwicklungen auf Landesund Bundesebene desintegrierende und destabilisierende Tendenzen der gelebten Verfassung erkennen. Hiergegen vermögen die staatsorganisationsrechtlichen Mechanismen der parlamentarischen Mehrheits- und Regierungsbildung nichts auszurichten. Das einzige staatsorganisationsrechtliche Gegenmittel könnte in der parlamentsgesetzlichen Änderung des Wahlrechts bestehen, nämlich in der Ersetzung der personalisierten Verhältniswahl durch eine Mehrheitswahl, sei es in der Form einer relativen Mehrheitswahl (nach britischem Vorbild) oder in der schonenderen Form einer absoluten Mehrheitswahl mit einem Stichentscheid im 2. Wahlgang (wie bei der Reichstagswahl unter der deutschen Reichsverfassung von 79 Helmut Schmidt (Fn. 25), S. 75 ff. 80 Statistisches Ergebnis der Bundestagswahl vom 27. 9. 1998 in: Hdb. des Bundesrates 1998/99 (Fn. 78), S. 298 ff.; im übrigen sei beispielhaft verwiesen auf die Energie-, insbes. Kernenergiepolitik (Berichte in FAZ vom 25. 1., 26. 1., 27. 1., 28. 1. und 10. 3. 1999), auf die Steuerpolitik (Berichte in FAZ vom 22. 1. und 5. 3. 1999), das Verhältnis der SPD zur PDS (Berichte in FAZ vom 1. 3. und 2. 3. 1999), den internen Richtungsstreit unter den Grünen (Bericht in FAZ vom 8. 3. 1999) und die Auseinandersetzungen innerhalb der SPD und der Regierungskoalition bis zu den Rücktritten des Bundesfinanzministers und SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine (Berichte in FAZ vom 12.2., 12.3., 13.3. und 15. 3. 1999).

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1871 und gegenwärtig z. B. bei den Wahlen zur französischen Nationalversammlung) 81 . Dahingehende Vorschläge sind seit der Entstehung der Bundesrepublik diskutiert worden 82 . Als verlockendes Argument wurde und wird dabei immer wieder der Verstärkereffekt hervorgehoben, mit dem jedes Mehrheitswahlrecht die Bildung einer regierungsfähigen Mehrheit begünstigt. In der Geschichte der Bundesrepublik fiel der letzte ernsthafte Versuch zur Einführung eines Mehrheitswahlrechts in die Zeit der großen Koalition; er scheiterte 196883. Zum einen konnte für den Selektionseffekt der Mehrheitswahl kein Konsens mehr erzielt werden, nachdem sich die demokratischen Parteien einmal auf der Grundlage der personalisierten Verhältniswahl etabliert hatten. Zum anderen schien sich der Gedanke an einen Übergang zur Mehrheitswahl zu erledigen, da das Spektrum der demokratischen Parteien sich stabilisiert und sogar in bemerkenswerter Weise konzentriert hatte. In dieser Lage bereitete auch die parlamentarische Mehrheits- und Regierungsbildung keine nennenswerten Schwierigkeiten. Jener Zustand politischer Stabilität hat sich offenbar gewandelt. Daraus erklären sich neuerliche Überlegungen zur Änderung des Wahlrechts 84. Sie sind jedoch weder realistisch noch hilfreich. Heute wäre noch weniger als 1968 im Parlament, unter den etablierten Parteien und in der politischen Öffentlichkeit der Selektions-, Konzentrations- und Ausgrenzungseffekt eines Mehrheitswahlrechts konsensfähig. Vielmehr würde diese Wirkung manipulatorisch und dirigistisch erscheinen. Sie wäre mithin nicht geeignet, die Stabilität der gelebten Verfassung zu fördern. Vielmehr würde sie höchstwahrscheinlich das genaue Gegenteil bewirken, nämlich die wachsende Politikverdrossenheit und Wahlabstinenz85 noch fördern und somit in der gegenwärtigen Situation desintegrierend und destabilisierend wirken.

2. Die Rolle der politischen Parteien Die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes schien lange von der Stabilität der Parteienstruktur zu profitieren. Die Konzentration und Übersichtlichkeit des Parteienspektrums, aber auch die Entideologisierung der etablierten Parteien haben 81 Zur Reichstagswahl unter der RV von 1871 gemäß den Gesetzen vom 31. 5. 1869 (BGBl. S. 145) und 16. 4. 1871 (RGBl. S. 63) Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 - 1918, Bd. II, 3. Aufl. 1995, S. 497 ff.; zur Reichstagswahl unter Art. 22 WRV Hans Schneider, in: HdbStR I (Fn. 2), § 3 Rn. 47 ff.; rechtsvergleichend: Jesse, in: Gabriel/Brettschneider (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich, 2. Aufl. 1994, S. 174 ff. 82 Umfassend dazu Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, 1985 (für die Zeit von 1949 bis 1983). 83 Vgl. dazu Jesse (Fn. 82), S. 169 ff. 84 Vgl. das Plädoyer für das Mehrheitswahlrecht von Ziemske, ZRP 1993, 369 ff.; dagegen Bakker, ZRP 1994,457 ff. S5 Vgl. zur Partei Verdrossenheit aus juristischer Sicht Stolleis, VVDStRL 44 (1986), 7 (16 ff.); aus politikwissenschaftlicher Sicht Haungs, in: Jahrbuch für Politik 1992, 2. Jahrgang, Halbband 1, S. 37 ff.; zu der erst später aufgetretenen Wahlabstinenz Eilfort, Die Nichtwähler, 1994; Kleinhenz, Die NichtWähler, 1995.

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wesentlich zur Orientierung des Bürgers beigetragen. Dadurch hat sich die Akzeptanz der repräsentativen Demokratie gefestigt, wie die Statistik der Wahlbeteiligung und der Stimmenverteilung belegt 86 . Die Bereitschaft des Bürgers, sich auf die geforderte Wahlentscheidung zwischen den sachlichen und persönlichen Alternativen des Stimmzettels einzulassen, war jedenfalls bis Ende der 80er Jahre bemerkenswert dominant und konstant. Diese Basis der demokratischen Stabilität zeigt in den letzten Jahren zunehmend Risse. Die Symptome bestehen in sinkender Wahlbeteiligung, im Aufkommen von Parteien oder Quasi-Parteien mit punktuellem, diffusem oder gänzlich fehlendem Programm und in dubiosen Wahlergebnissen, welche die Mehrheits- und Regierungsbildung erschweren. Hinter der so artikulierten Parteienverdrossenheit steht ein offensichtlicher Vertrauensschwund, ja eine Parteienkrise - ein Sachverhalt, der im übrigen nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Demokratien westlichen Typs beobachtet wird 8 7 . Die Ursachenforschung wird derzeit von verstörten Politikern, in wissenschaftlichen Institutionen und an Stammtischen intensiv betrieben. Tatsächlich weist die Präsentation der politischen Parteien Zeichen der Machtversessenheit und der gleichzeitigen Machtvergessenheit (so Richard von Weizsäcker 88), der Ämterpatronage im öffentlichen Dienst (so Hans Herbert von Arnim 89) und der großzügigen Neigung zur finanziellen Selbstbedienung90 auf. Das Problembewußtsein auf Seiten der etablierten Parteien ist offenbar immer noch unterentwickelt. Die Gefahr, daß aus der Parteienverdrossenheit eine Demokratieverdrossenheit wird, muß ernst genommen werden. Man ist leicht geneigt, der Kritik zuzustimmen, zögert aber wieder, wenn man an die unstreitige Unverzichtbarkeit der politischen Parteien in der repräsentativen Demokratie 91 denkt. Mehr noch: Manche Äußerungen der gegenwärtigen, so plausibel klingenden Parteienschelte erinnern fatal an die rigorose, weltanschaulich befrachtete Parlamentarismuskritik Carl Schmitts 92. Kurz: Das Bild der politischen Parteien ist 86 Nachw. bei Gabriel/Brettschneider (Fn. 81), S. 596; zum lange vorherrschenden „Trend zur Volkspartei" v. Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1984, S. 252 ff. m.w.N. 87 Vgl. Haungs (Fn. 85), S. 52 ff. (für Frankreich, Großbritannien, USA); statistische Angaben über Wahlergebnisse in anderen EU-Staaten bei Gabriel/Brettschneider (Fn. 81), S. 590 ff.; Vergleich der zugrundeliegenden Parteiorganisationen, -programme und -strukturen bei Naßmacher, ebda., S. 221 ff. 88 So der ehem. Bundespräsident Richard v. Weizsäcker im Gespräch mit G. Hofmann und W A. Perger, 1992, S. 139 ff. (164). 89 So v. Arnim, Staat ohne Diener, 1993, S. 129 ff.; auch Rupp, in: HdbStR I (Fn. 2), § 28 Rn. 54. 90 Antwort hierauf ist die Rechtsprechung des BVerfG zur Parteienfinanzierung, zuletzt BVerfGE 85, 264 ff.; vgl. im übrigen v. Arnim (Fn. 89), S. 173 ff.; ders., Der Staat als Beute, 1993; ders., „Der Staat sind wir!", 1995; ders., Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, 1996.

Vgl. statt vieler Stolleis, VVDStRL 44 (1986), 8 ff.; Kunig, in: HdbStR I (Fn. 2), § 33; Grimm, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Hdb. des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1995, Teil 1, S. 599 ff.; Herzog, Verfassungsrechtliche Grundlagen des Parteienstaates, 1993.

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zwiespältig. Jedenfalls ist auch unter diesem Blickwinkel - gleichsam aus dem heiteren Himmel bundesdeutscher Beschaulichkeit - die Stabilität der Verfassung in Frage gestellt. Selbst wenn die Parteien - wohl eher durch Wahlniederlagen als durch Staatsrechtslehrerworte - ihr Problembewußtsein schärfen und einigen Kritikpunkten durch tätige Reue abhelfen sollten, bleibt ein Strukturproblem bestehen, das bisher kaum gewürdigt worden ist. Der jahrzehntelange Erfolg der etablierten Parteien beruhte gerade auf ihrer Entideologisierung 93. Hierdurch gelang ihnen die Verbreiterung ihres „Wählerpotentials". Sie entwickelten sich mit strategischen und taktischen Schachzügen zu „Volksparteien". Dies geschah zwar seitens der einzelnen Parteien zu verschiedenen Zeitpunkten und in verschiedenen Vorgängen 94, letztlich aber doch mit gleicher Tendenz und ähnlichem Ergebnis. Damit haben sich die etablierten Parteien aus ihren traditionellen Werten und Sozialmilieus gelöst. Lange Zeit tauchten die Wahlerfolge und der Beifall der Medien wie auch der Wissenschaft dieses Vorgehen in ein positives Licht. Es hat insoweit durchaus integrierend und stabilisierend gewirkt. Der hiermit einhergehende Profilverlust und der taktische Opportunismus der etablierten Parteien schienen allenfalls ein Thema für kulturhistorische Anmerkungen zu sein. Auf der Verlustseite erkannten die Parteistrategen und Demoskopen zunächst nur eine Abwendung von Stammwählern an den Rändern des demokratischen Meinungsspektrums 95. Verdrängt wurde offenbar lange, daß durch Profilverlust und Opportunismus ein allgemeiner Ansehens- und Vertrauensverlust der etablierten Parteien und schließlich auch Stimmenverluste in kritischen Wählerschichten der demokratischen Mitte vorprogrammiert waren. Auffälligerweise wird diese Entwicklung, die jahrzehntelang als Erfolgsprinzip der „Volksparteien" galt und nur von wenigen „Intellektuellen" kritisiert wurde, seit einigen Jahren in immer geringerem Maße akzeptiert 96. Daraus folgt - für manche überraschend eine Entfremdung zwischen Parteien und Wählern, also eine Destabilisierung der Parteiendemokratie. Es dürfte kein Zufall sein, daß sich der Stimmungsumschwung zu Lasten der etablierten Parteien vollzogen hat, als sich die politischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen der Bundesrepublik Deutschland infolge weltweiter Entwicklungen gewandelt haben. Damit soll nicht einer Re-Ideologisierung der politischen Parteien im Stile der Weimarer Verhältnisse das Wort geredet werden. Man wird auch zugeben müssen, 92

Vgl. insbes. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1923, zuletzt 7. Aufl. 1991. 93 Kirchheimer, PVS 1965, 20 ff.; Mintzel, Die Volkspartei, Typus und Wirklichkeit, 1983; Stolleis, VVDS1RL44 (1986), 9 f. 94 Vgl. für die CDU die Analyse von Dettling, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 1/94, S. 3 ff.; für die SPD Fuhr, ebda., S. 8 ff.; für die F.D.P. Winke, ebda., S. 12 ff. 9 5 Vgl. statt vieler Haungs, in: FS für Dolf Sternberger, 1977, S. 141. 96 Vgl. v. Arnim (Fn. 86); auch die Nachw. oben in Fn. 93.

22 FS Leisner

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daß die Entwicklung der politischen Parteien Spiegelbild einer allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz ist. Werteverluste, Konformismus sowie individuelle und kollektive Identitätskrisen sind allgemeine Erscheinungen unserer Zeit 9 7 . Dem entgegenzutreten, verlangt viel. Aber eines ist sicher: Der Pendelschlag von der Ideologisierung der Politik zum politischen Prinzipienverlust ist zu weit gegangen. Er muß - mit Augenmaß und geistiger Führungskraft - korrigiert werden. Wenn es den politischen Parteien nicht gelingt, die Tendenz des Profilverlustes und des Opportunismus überzeugend umzukehren, wird die krisenhafte Wahlabstinenz vermutlich weiter steigen und die Gefahr labiler Mehrheitsverhältnisse noch zunehmen. Andererseits dürfte diejenige Partei, die zuerst - ob als etablierte oder neue Formation - die notwendige Umkehr glaubhaft macht und den neuen Herausforderungen konzeptionell begegnet, die gegenwärtige demokratische Destabilisierung am stärksten zu ihren Gunsten nutzen können. Daß jede derartige Verschiebung auf der unverrückbaren Basis der parlamentarischen Demokratie geschehen muß, steht nach den Erfahrungen der deutschen Geschichte außer Frage. Im übrigen bietet die gegenwärtige Situation ein Lehrbeispiel dafür, daß das an sich scharfe Instrument eines Parteiverbots durch das BVerfG nach Art. 21 Abs. 2 GG 9 8 aus Gründen des faktischen Zwangs und der politischen Opportunität stumpf werden kann. Unabhängig davon, ob man die PDS für verfassungsverträglich hält, scheidet in deren Fall ein Verbotsantrag de facto aus, und zwar mit Rücksicht auf die immer noch unbewältigte und konsolidierungsbedürftige Lage nach der Wiedervereinigung. IV. Die gewandelte Situation im Gefolge der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands Als mit der Wende der Jahre 1989/90 der „real existierende Sozialismus" zusammenbrach und die deutsche Wiedervereinigung verwirklicht wurde, wandelte sich mit einem Schlage die historische Situation, und zwar auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Der Umbruch traf das politische System der Bundesrepublik Deutschland unvorbereitet. Die neuen Aufgaben und Herausforderungen sind nur partiell begriffen und weitgehend verdrängt worden. In ihrem Licht traten plötzlich die zuvor erwähnten Schwächen und Risiken viel deutlicher hervor. Daraus erklärt sich das merkwürdige Bild der gegenwärtigen Verunsicherung und der „Vereinigungskrise" 99. Manche fragen sich allerdings immer noch ratlos, wie es dazu kommen konnte, daß die Bundesrepublik gerade nach dem Erfolg ihrer stabilen Verfassung sowie der hierauf gegründeten Stabilität ihres politischen, ökonomischen und sozialen Milieus Zeichen der Instabilität offenbart. Derartige Fragen offenbaren deutlicher als alle Theorie, was die politische und geistige Introvertiertheit eines 97

Vgl. zum Ganzen Bracher, Zeit der Ideologien, erw. Ausg. 1984. « Vgl. oben Fn. 8. 99 Helmut Schmidt (Fn. 25); ferner in und bei Fn. 22, 23, 24, 26. 9

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auf sich selbst zurückgeworfenen Volkes bedeutet, das nach den nationalsozialistischen Verwirrungen und Verstrickungen, dem politischen, militärischen und ideologischen Inferno des verlorenen, vom eigenen „Führerstaat" entfachten Weltkrieges und dem nationalen Schicksalserlebnis von Versagen, Scheitern, Selbstanklage und fortwährenden Selbstzweifeln sowie nach dem Trauma der erlittenen, lange aber eher verdrängten Teilung mit sich ringt. So hatte es sich jahrzehntelang in die supra- und internationale Umhegung zurückgezogen. Das abrupte Ende des antithetischen Ost-West-Konflikts hat indessen mit der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands und der gleichzeitig zurückgewonnenen Souveränität der Bundesrepublik die Zäune jener Umhegung fortfallen lassen. Den hierdurch bedingten Herausforderungen selbständig, selbstbewußt und eigenverantwortlich begegnen zu müssen, läßt offenbar weite Kreise der Deutschen und ihrer Politiker zurückschrecken. Unsicherheit, Verweigerungsreaktionen und innerer Zwist sind die Folge. 7. Die unbewältigte Aufgabe der inneren Wiedervereinigung Die Fakten der deutschen Teilung und der staatlichen Wiedervereinigung zwingen zu einigen unbequemen Feststellungen: Die staatliche Wiedervereinigung Deutschlands gehörte zwar seit 1949 zu den feierlich proklamierten Verfassungszielen der Bundesrepublik 100. Unter dem beherrschenden Einfluß des ersten Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, ist die Bundesrepublik jedoch den Weg der Westintegration gegangen, was zwangsläufig für eine ungewisse Dauer zur Vertiefung der deutschen Teilung führen mußte. Auch wenn dieser Weg, ex post betrachtet, eine „realpolitische" Bestätigung gefunden hat, darf man nicht übersehen, daß er seinerzeit höchst schmerzlich und umstritten war. Die Sozialdemokraten unter Kurt Schumacher haben diese Politik erbittert bekämpft und Adenauer nationalen Verrat vorgeworfen 101. Nachdem die Würfel insoweit gefallen waren und die Sozialdemokraten die unvermeidliche Anpassung vollzogen hatten, haben sich die deutschlandpolitischen Fronten verkehrt. Unter dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler, Willy Brandt, wurde der sog. Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 8. 11. 1972 102 geschlossen, dessen Formulierungen in bezug auf die deutsche Einheit zumindest zweideutig waren. Der auf Verlangen der parlamentarischen Opposition durchgesetzte Begleitbrief zur deutschen Einheit und der Bundestagsbeschluß vom 17. 5. 1972 suchten in schwacher Rechtsform dem Eindruck einer Anerkennung der Zweistaatlichkeit entgegenzutreten 103. 100 Präambel, Art. 23 und 146 GG a.E; dazu BVerfGE 5, 85 (127); 36, 1 (17 f.); Ress, in: HdbStR I (Fn. 2), § 11 Rn. 55 ff.; Dolzer, ebda., § 12 Rn. 7 ff. 101 Vgl. dazu Kremp, in: Barzel (Hrsg.), Sternstunden des Parlaments, 1989, S. 16 (33 ff.); tiefgründig zu dem seit Adenauers Weichenstellung waltenden Zwiespalt in der westdeutschen Haltung zur Wiedervereinigungsfrage Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 1958, S. 994 ff., 1013 ff. 102 Gesetz vom 21. 12. 1972, BGBl. II S. 423. 22*

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Schließlich war es das BVerfG, das - von der bayerischen Staatsregierung angerufen - in seinem Urteil vom 31. 7. 1973 104 das Wiedervereinigungsgebot, den Fortbestand des Deutschen Reiches, die Teilidentität der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich, die Existenz des einheitlichen deutschen Staatsvolkes mit gemeinsamer Staatsangehörigkeit und die Verantwortung der Bundesrepublik für das ganze Deutschland fixierte und alle diese Aussagen zu tragenden und mithin verbindlichen Entscheidungsgründen erklärte. Jenseits aller juristischen Zweifel 105 muß dieses Urteil nach wie vor als eindrucksvolle und überzeugende Dokumentation einer Verfassungsauslegung gewürdigt werden, die im Bewußtsein der historischen Problemdimension nach Sinn und Zweck des Wiedervereinigungsgebots alle Möglichkeiten genutzt hat, um die Entscheidungslage offenzuhalten und die Besiegelung der Zweistaatlichkeit aufzuhalten. Auch das BVerfG hat mit der staatlichen Wiedervereinigung am 3. 10. 1990 eine glänzende Bestätigung erfahren. Immerhin hat es die historische und politische Kontinuität gewahrt, wo die politischen Staatsorgane wankend wurden. Das spätere Wort Willy Brandts , die Rede von der Wiedervereinigung sei die Lebenslüge der zweiten deutschen Republik 106 , drückte eine verbreitete Stimmung aus. Kennzeichnend erscheint deren selbstquälerische Ambivalenz zwischen aufgezwungenem Realismus und verdrängter Verbitterung. Richtig ist auch, daß Ende der 80er Jahre nur 65% der jüngeren Westdeutschen (bis zum Alter von 29 Jahren) erklärten, sie betrachteten sich als Angehörige eines einheitlichen deutschen Volkes 107 . Überraschen konnte ein solches Umfrageergebnis nicht, war es doch Ausdruck eines politischen Selbstverständnisses, das Karl Dietrich Bracher auf die Formel der „postnationalen Demokratie" gebracht hat 1 0 8 . Hinzu kam, daß in der westdeutschen Gesellschaft Individualismus und Utilitarismus vordrangen, Traditionsgefühl und Gemeinsinn aber tendenziell abnahmen. Das nationale Anliegen der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands wurde schließlich Ende der 80er Jahre nur noch verhalten vertreten 109 . Wer als Staatsrechtslehrer das Urteil des 103

Texte bei Rauschning (Hrsg.), Rechtsstellung Deutschlands, Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte, 1985, S. 123 ff.; vgl. dazu Plück, in: Barzel (Fn. 101), S. 44 ff. 104 BVerfGE 36, 1 ff.; bestätigt in BVerfGE 77, 137 (149ff.); dazu Bernhardt, in: HdbStR I (Fn. 2), § 8 Rn. 27 ff. los Vgl. dazu statt vieler Bernhardt, in: HdbStR I (Fn. 2), § 8 Rn. 34 ff. 106 Brandt, Erinnerungen, 1989, S. 156 f. 107 Jansen, Deutschland Archiv 22 (1989), 1132ff.; referiert und reflektiert auch von Winkler (Fn. 23), S. 112 f. los Bracher, Politik und Zeitgeist, Tendenzen der siebziger Jahre, in: ders. u. a. (Hrsg.), Republik im Wandel 1969 - 1974. Die Ära Brandt, 1986, S. 285 (406). 109 Näher dazu Winkler (Fn. 23), S. 109 ff. Selbst die sich seinerzeit immer mehr zuspitzende Frage, inwieweit vor einer Wiedervereinigung die fortschreitende europäische Integration mit dem Wiedervereinigungsgebot der Präambel des GG a.F. vereinbar war oder nicht vielmehr zu einer verfassungswidrigen Preisgabe des Wiedervereinigungsziels werden konnte, wurde nur noch von wenigen gestellt; nachdrücklich i.S. dieser Frage jedoch Doeh-

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BVerfG zum Grundlagenvertrag zu erläutern hatte, spürte bestenfalls freundliches Interesse, meist aber Distanz oder tendenzielle Ungläubigkeit. Schon in der Vorwendezeit war hierauf zu antworten, daß die juristische Position des BVerfG ihre Richtigkeit letztlich daran erweisen müsse, welche Kraft den längeren historischen Atem habe - die postulierte Einheit des deutschen Staatsvolkes oder die Gegenbewegung des „real existierenden Sozialismus". Die deutsche Wiedervereinigung ist indessen nicht durch die freien Westdeutschen, sondern durch die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR herbeigeführt worden. Die dortige Bürgerbewegung war zunächst die Eruption eines internen und spontanen FreiheitsVerlangens. Erst nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. 11. 1989 setzte sich der demokratische und nationale Impetus durch, von der Parole „ Wir sind das Volk" bis zu dem Ruf „Wir sind ein Volk" 1 1 0 . Namentlich Bundeskanzler Helmut Kohl hat die historische Gelegenheit der Wiedervereinigung entschieden wahrgenommen. Der Erfolg der CDU in der Volkskammerwahl vom 18. 3. 1990 111 , der Staatsvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR vom 18. 5. 1990 112 und der Einigungsvertrag vom 31. 8. 1990 113 , international flankiert durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. 9. 1990 114 , ermöglichten den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Die erste gemeinsame Bundestagswahl am 2. 12. 1990 115 bestätigte die erfolgreiche Vereinigungspolitik. Trotzdem fiel auf westdeutscher Seite ein Schatten auf den politischen Prozeß der Vereinigung, die aus verfassungsrechtlichen Gründen des Konsenses mit der parlamentarischen Opposition bedurfte. Deren Zustimmung wurde - wie schon im Hinblick auf Art. 146 GG bemerkt - nur unter Mühen erreicht. Der damalige sozialdemokratische Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine ließ - in den Worten von Helmut Schmidt 116 - „den Eindruck aufkommen, daß er die Vereinigung gar nicht wollte". Offenbar bedurfte es des Zuredens seitens der älteren Sozialdemokraten. ring, in: Festg. für Ernst Forsthoff, 1967, S. 105 (122ff.); ders., DVB1. 1979, 633 ff.; ders., NJW 1982, 2209 ff. no Schilderungen bei Winkler (Fn. 23), S. 114; Le Gloannec (Fn. 23), S. 130 ff.; Fiedler, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 184 Rn. 36; Würtenberger, ebda., § 187 Rn. 6; Rauschning, ebda., § 188 Rn. 12; Quaritsch, ebda., § 193 Rn. 59 f. in Hierzu Hoog, in: v. Münch (Hrsg.), Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands, 1991, S. XXIV f. 112 Gesetz vom 25. 6. 1990, BGBl. I I S. 537; abgedruckt auch bei v. Münch (Fn. 111), S. 213 ff., 281 f. 113 Gesetz vom 23. 9. 1990, BGBl. I I S. 885; abgedruckt auch bei v. Münch (Fn. 111), S. 327 ff.; vgl. dazu Badura, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 189. 114 Gesetz vom 11. 10. 1990, BGBl. II S. 1317; abgedruckt auch bei v. Münch (Fn. 111), S. 37.2 ff. Iis Statistisches Ergebnis in: Chronik des 20. Jahrhunderts, 12. Aufl. 1992, S. 1347f.; zu den wahlrechtlichen Grundlagen: BVerfGE 88, 322ff.; Wahl, NJW 1990, 2585 ff.; Brenner, AöR 116 (1991), 537 ff.; Rauschning, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 188 Rn. 56ff.; Badura, ebda., § 189 Rn. 12 ff. ii6 A.a.O. (Fn. 25), S. 20.

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Es drängt sich auf, daß diese Vorgänge eine wesentliche Ursache für das schwache Abschneiden der SPD in der Volkskammerwahl vom 18. 3. 1990 117 sowie in der Bundestagswahl vom 2. 12. 1990 118 darstellen. Alles in allem hätten somit schon die historischen Vorbelastungen auf westdeutscher Seite genügend Anlaß geboten, die innere Wiedervereinigung des deutschen Volkes nach 45jähriger Spaltung nicht nur als ökonomische, sondern auch als politische, soziale und menschliche Aufgabe erstens Ranges zu begreifen. Wer die gewaltsame Teilung des deutschen Volkes erlebt und sich selbst danach - mehr oder minder zufällig - auf der Seite der Freiheit und des Wohlstands wiedergefunden hatte, mußte die Spaltung der nationalen Schicksalsgemeinschaft - gerade nach den historischen Verhängnissen - als kollektives Trauma empfinden. Es war - jedenfalls bei einem Mindestmaß an historischem und politischem Bewußtsein - auch unschwer zu erkennen, daß mit der Wiedervereinigung die staatsbürgerliche Verantwortung vor allem der Westdeutschen gefordert war. Zur Verantwortung gehört Opferbereitschaft. Das schöne Wort Richard von Weizsäckers von der notwendigen Bereitschaft zum Teilen 119 ist sicher richtig, seine Verwirklichung aber schwieriger. Überdies hätte von Anfang an klar sein sollen, daß der „real existierende Sozialismus" nicht nur ökonomische und ökologische, sondern weithin auch geistige und soziale Wüsten hinterlassen hat. Seine Instrumente der ideologischen Indoktrination, des Terrors und der Bespitzelung waren im Grunde bekannt 120 . Die später offenbar gewordene Entwurzelung und Desorientierung vor allem innerhalb der jüngeren Generation kann bei realistischer Betrachtung ebenfalls nicht überraschen. Zu diesem Bild gehören auch der bestürzende, aber psychologisch und soziologisch erklärbare Hang zu politischen Extremen und die typische Gewalttätigkeit der Entwurzelten, insbesondere junger Menschen aus dem Milieu der sozialistischen Diktatur 121 . Angesichts der fundamentalen Verschiedenheit der westlichen und der östlichen Gesellschaft ließ sich schließlich voraussehen, daß die plötzliche Konfrontation mit der westlichen Denk- und Handlungsweise auf der östlichen Seite den später festgestellten Kulturschock 122 auslösen würde. Unter ii7 ObenFn. 111. Ii® Oben Fn. 115; Gleiches dürfte für die ersten Landtagswahlen (vom 14. 10. 1990) in den neuen Ländern gelten, Ergebnisse in: Chronik des 20. Jh. (Fn. 115), S. 1342. 119 Ansprache beim Staatsakt zum Tag der deutschen Einheit am 3. 10. 1990 in Berlin: „Vereinen heißt teilen lernen"; Chronik des 20. Jh. (Fn. 115), S. 1341. 120 Vgl. dazu Dolzer, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 195 Rn. 10 ff.; Isensee, in: HdbStR IX (Fn. 10), § 202 Rn. 20 ff., 83 ff.; auch Stank, Berg und Pieroth, VVDStRL 51 (1992), 9 ff., 46ff., 91 ff.; Breuer, in: FS für Konrad Redeker, 1993, S. 37 ff.; speziell zur Justiz Beckert, Die erste und letzte Instanz, 1995. 121 Ähnlich Heitmeyer, Gesellschaftliche Desintegrationsprozesse als Ursachen von fremdenfeindlicher Gewalt und politischer Paralysierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 2 - 3 / 93, S. 3 ff. 122 Vgl. z. B. die Beiträge in: Hartwig/Winkler (Fn. 24); grundsätzliche Analyse bei Isensee, in: HdbStR IX (Fn. 10), § 202 Rn. 31 ff. („Fremdheitsphobie", „Rechtsstaatsschock"), 54 ff. („Fundamentaldissens über die Prämissen"); Sendler, DÖV 1998, 768 ff.

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den realen Ausgangsbedingungen lag es auf der Hand, daß der Import der Freiheit, der Marktwirtschaft und des hochkomplizierten westdeutschen Rechts- und Verwaltungssystems in den neuen Bundesländern - nach dem ersten Glücksgefühl der Maueröffnung, der Befreiung und der innerdeutschen Wiederbegegnung der Jahre 1989/90 - nicht „unvermittelt" und von jedem begriffen, verinnerlicht, akzeptiert und mit- oder nachvollzogen werden konnte. Gegenteilige Erwartungen waren von vornherein wirklichkeitsfremd und - auf westdeutscher Seite - Zeichen einer verflachten Wohlstandsperspektive. Selbst die seinerzeitige Bundesregierung hat jedoch die Tiefgründigkeit der historischen Herausforderung offenbar verkannt. Helmut Schmidt berührt in seiner Kritik den wunden Punkt, wenn er schreibt, er habe beim Fall der Berliner Mauer eine „Blut-, Schweiß- und Tränenrede" des Bundeskanzlers an das deutsche Volk erwartet. Erläuternd fügt Schmidt 123 hinzu: „In unserem Fall war im November 1989 klar: Wir Deutschen im Westen würden eine ganz ungewöhnliche Anstrengung nötig haben, wir würden Opfer zu bringen haben; und die Deutschen im Osten würden viel Geduld brauchen. Leider hat Helmut Kohl keinen solchen Appell an die Nation gerichtet. Er wäre damals auf große Bereitschaft und Zustimmung gestoßen. Ich selbst war über dieses Versäumnis enttäuscht."

Natürlich muß der Wissenschaftler eine solche Kritik mit Vorsicht beurteilen. Nicht nur der Bundeskanzler und seine Regierung, sondern auch Ökonomen aus Theorie und Praxis haben die wirtschaftlichen Lasten der Wiedervereinigung unterschätzt 124. Die frühen, allzu vollmundigen Versprechungen des Bundeskanzlers sind zwar falsifiziert worden. Aber es bleibt sein Verdienst, die historische Chance der Wiedervereinigung rasch genutzt zu haben. Ein finanzwirtschaftliches Prognoserisiko mußte dabei wohl in Kauf genommen werden. Auch die zügige Herstellung der Rechts- und Wirtschaftseinheit 125 verdient keinen prinzipiellen Tadel. Der Rechts- und Sozialstaat verlangt grundsätzlich einheitliche, zumindest aber harmonisierte Rechtsvorschriften. Die gewählte Finanzierung über die Fondswirtschaft und den Kreditmarkt 126 beruht, soweit ersichtlich, auf der zu optimistischen Anfangsprognose des Finanzbedarfs. Das gleiche gilt für das frühe Versprechen, 123 A.a.O. (Fn. 25), S. 16. 124 Über Ursachen der Fehleinschätzung Helmut Schmidt (Fn. 25), S. 21 ff.; ferner aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht Sinn/Sinn, Kaltstart, 2. Aufl. 1992; Daten zur wirtschaftlichen Uneinheitlichkeit der Lebensverhältnisse in: Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern, BT-Drucks. 12/6854 und 13/2280; zum Problem dieser Uneinheitlichkeit Eisel (Fn. 23), S. 158 ff.; Depenheuer, in: HdbStR IX (Fn. 10), § 204 Rn. 5 ff. 125 Über die Rechtseinheit als Aufgabe Haverkate, in: HdbStR IX (Fn. 10), § 209; zur wirtschaftlichen und sozialen Angleichung Depenheuer, ebda., § 204. 126 Vgl. die Kritik hieran bei Helmut Schmidt (Fn. 25), S. 30, 38 f., 89, 121; vertiefend Badura, in: Verfassungsrecht im Wandel. Zum 180jährigen Bestehen der Carl Heymanns Verlag KG, 1995, S. 3ff.; Selmer, ebda., S. 231 ff.; Bauer, in:: HdbStR IX (Fn. 10), § 206 Rn. 12 ff., 15 ff.

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zur Finanzierung der deutschen Einheit seien keinerlei Steuererhöhungen notwendig. Finanzwirtschaftliche Fehlprognosen müssen zur Not korrigiert werden, insbesondere wenn die kalkulatorischen Risiken groß und schwer überschaubar sind und die realen Lasten erst im nachhinein hinlänglich offenbar werden. Die unbewältigten Herausforderungen der inneren Wiedervereinigung und die Ursachen der „Vereinigungskrise" liegen zudem nicht allein auf wirtschaftlicher Ebene - abgesehen davon, daß die wirtschaftliche und soziale Lage in den neuen Bundesländern trotz der hohen Arbeitslosigkeit keineswegs so schlecht ist, wie es in den Medien oft dargestellt wird 1 2 7 . Die vorhandenen Defizite liegen tiefer. Beispielhaft lassen sich folgende Gravamina ausmachen: a) Die staatliche Wiedervereinigung Deutschlands war - entgegen allen Sonntagsreden - seit den 60er Jahren von der Bundesregierung und der Ministerialverwaltung offenbar nicht mehr als reale politische Möglichkeit vorgedacht worden 1 2 8 . Es fehlte daher bei der Wende der Jahre 1989/90 an konzeptionellen Leitideen und Planungen. Die Vorstellung, allein die Einführung der DM, der marktwirtschaftlichen Freiheit und des hochkomplizierten westdeutschen Rechts werde Tausende von Unternehmern herbeiströmen lassen und eine „blühende Landschaft" aufbauen, war eine allzu schlichte, auf ungenügender Vorkenntnis beruhende Fehleinschätzung. Bestimmte Gesetzgebungs- und Vollzugsmaßnahmen hätten durchaus im vorhinein konzipiert werden können. Hierdurch hätte im späteren Ernstfall vieles erleichtert werden können. Dies trifft z. B. für die Vermögensgesetzgebung zu, die sich in der Realität durch das Tauziehen um das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" als mißliches Investitionshindernis erwiesen hat 1 2 9 . b) Aus der westdeutschen Perspektive ist die politische, ökonomische, soziale und menschliche Dimension der inneren Wiedervereinigung unterschätzt worden. So schwierig die finanzwirtschaftliche Prognose gewesen sein mag, so sehr erstaunt, mit welcher Wirklichkeitsferne die sog. politische Klasse der alten Bundesrepublik den „real existierenden Sozialismus" und dessen Folgen beurteilt hat. Daß man im ehemaligen Herrschaftsbereich der sozialistischen Diktatur verunsicherte, auf soziale Wegweisung angewiesene und teilweise entwurzelte, schlicht überforderte Menschen antreffen würde, ließ sich voraussehen. Korrekturbedürftige Fehleinschätzungen sind noch nach der Wiedervereinigung unterlaufen. Wo die man127 Vgl. dazu die „positive" Übersicht bei Depenheuer, in: HdbStR IX (Fn. 10), § 204 Rn. 78 ff., 96ff., 134ff., 142 ff., 146 f.; ferner Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Hrsg.), Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Ausg. 1997, S. 137: statistischer Ost-West-Vergleich für die Jahre 1991 - 1996. 128 Dabei wird der von der Bundesregierung beständig erklärte Wille zur staatlichen Einheit Deutschlands nicht verkannt; vgl. dazu für die Jahre 1987/88 Rauschning, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 188 Rn. 14; ebenso ist die „aus dem Stand heraus" erbrachte Leistung der Ministerialverwaltung bei der Erarbeitung des Einigungsvertrages vom 31. 8. 1990 (oben Fn. 113) anzuerkennen; dazu Schnapauff, DVB1. 1990, 1249 ff. 129

Vgl. zum Ganzen Bertrams, DVB1. 1994, 374ff.; Ossenbühl, in: Verfassungsrecht im Wandel (Fn. 126), S. 129ff.; Papier, in: HdbStR IX (Fn. 10), § 213 Rn. 26 ff.; jeweils m.w.N.

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gelnde Vertrautheit mit den tatsächlichen Verhältnissen der sozialistischen Diktatur zu pauschalen Benachteiligungen durch das neue Recht führt, folgt darauf Befremden der Betroffenen - oder gar Entfremdung. c) Die objektiv falsche Regierungsthese, daß die ökonomische und soziale Entwicklung in den neuen Bundesländern innerhalb weniger Jahre und ohne individuelle Opfer bewältigt werden könnte, hat dazu geführt, daß die beiden Gesellschaften im Westen und im Osten der Bundesrepublik in der kurzen, aber entscheidenden Phase der Wende und der staatlichen Wiedervereinigung nicht gezwungen worden sind, sich auf die Opferidee der nationalen Schicksalsgemeinschaft einzulassen. Damit ist, wie Helmut Schmidt 130 rügt, einerseits die Chance einer rascheren und intensiveren Re-Integration des deutschen Volkes verspielt worden. Andererseits haben die später hervorgetretenen Probleme der Haushaltswirtschaft, der Wirtschaftskonjunktur und des Arbeitsmarktes im Westen wie im Osten nur noch Verärgerung gegenüber der Bundesregierung und der jeweils anderen Seite ausgelöst, also desintegrierend und destabilisierend gewirkt 131 . Ebenso ist es angesichts eines allgemeinen wirtschaftspolitischen Orientierungsmangels nicht gelungen, die Tarifparteien in den neuen Ländern durch eine konzertierte Aktion (§ 3 StabG) zu realistischen Abschlüssen zu bewegen 132 . Es hat sich erwiesen, daß dies weitere Arbeitsplätze gekostet hat. d) Die Akzeptanz der politischen Parteien ist bisher in den neuen Bundesländern bestürzend gering 133 . Dies kann nicht nur den destruktiven Nachwirkungen des Sozialismus zugerechnet werden. Profilschwächen und Opportunismen der Parteien werden zwangsläufig in den neuen Ländern noch viel kritischer als in den alten Ländern registriert. Die Stabilität der Demokratie hängt indessen auch und gerade in den neuen Ländern von der Funktionsfähigkeit und vom Ansehen der Parteien ab. Auch ohne demoskopische Akribie läßt sich ausmalen, daß beispielsweise das Tauziehen und der verzögerte Vollzug in der Hauptstadtfrage besonders innerhalb der neuen Länder sowie im östlichen Teil Berlins negative Reaktionen gegenüber dem Parteienstaat und seinen Parteien ausgelöst hat. Daß die während der deutschen Teilung stets aufrechterhaltene, rechtlich und politisch konsequente Statusdefinition Berlins als Hauptstadt des fortbestehenden deutschen Gesamtstaates und Symbol der deutschen Einheit wie des Freiheitswillens ausgerechnet nach dem historischen Erfolg der staatlichen Wiedervereinigung im Zeichen von Frieden, Demokratie und Freiheit ihre Gültigkeit hätte verlieren sollen, fast auch verloren hätte und immer noch politisch verteidigt werden muß, rührt an die Glaubwürdigkeit der deutschen Nachkriegspolitik - gerade gegenüber denjenigen 130 A.a.O. (Fn. 25), S. 16 f. 131 So schon Biedenkopf, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1990, 105 (110) (mit lesenswerter Warnung); Depenheuer, in: HdbStR IX (Fn. 10), § 204 Rn. 22 ff., 64, 82, 93. 132 Vgl. dazu die wirtschaftswissenschaftliche Kritik von Sinn/Sinn (Fn. 124), S. 162 ff., 209 ff. 133 Vgl. dazu Ute Schmidt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 1 - 2/98, S. 37 (49 f.).

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Bürgern, die mit der friedlichen Revolution in der ehemaligen DDR und der Entscheidung für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik die staatliche Wiedervereinigung herbeigeführt haben 134 . e) Die Integration eines Staatsvolkes setzt nach den grundlegenden Erkenntnissen Rudolf Smends auch eine geistige Führung voraus, insbesondere im Hinblick auf „die Bildung und das Fortleben einer allgemeinen Rechtsüberzeugung" 135. Das unrühmliche, auch juristisch konfuse Ende des Strafverfahrens gegen Erich Honecker 136 spricht diesem Postulat Hohn. Die desintegrierende und für den Rechtsstaat destabilisierende Wirkung liegt auf der Hand. Ersichtlich hat es der subtile und distanzierte Rechtsstaat der Bundesrepublik ersichtlich schwer, in den neuen Ländern Fuß zu fassen 137. Seine Praxis verlangt auch insofern Sensibilität. Im übrigen besteht dringender Anlaß, die Verständlichkeit, Stimmigkeit und Vollzugsfähigkeit des deutschen Rechts einer kritischen Generalrevision zu unterziehen. Wahrscheinlich ist dieses Recht für die Bürger in den neuen Ländern auch heute noch nahezu unverständlich. Eine derartige Generalrevision würde aber auch den Bürgern in den alten Ländern nutzen, also in ganz Deutschland die integrierende und stabilisierende Wirkung des Rechts stärken. f) Trotz der Defizite im Prozeß der inneren Wiedervereinigung und der Stabilitätsverluste, die infolgedessen im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik eingetreten sind, bleibt festzuhalten, daß hiermit nicht „Weimarer Verhältnisse" zurückgekehrt sind. Wenn unter dem Titel „Druck von rechts" ein gegenteiliges Bild suggeriert und mit der hieran geknüpften Frage „Wohin treibt die Bundesrepublik?" 138 auf die Weimarer Zeit und ein angebliches Wiedererstarken des Nationalsozialismus angespielt wird, werden unzutreffende Assoziationen geweckt. Die Phänomene der Entwurzelung und Desorientierung sowie der nationalistisch motivierten Gewalttätigkeit innerhalb der jüngeren, im „real existierenden Sozialismus" aufgewachsenen Generation sind Ausdruck einer individuellen und kollektiven Identitätskrise. Darin wirkt das gescheiterte kommunistische Experiment am Menschen fort, und zwar sowohl die totalitäre Indoktrination als auch die jahrzehntelang betriebene, allerdings nie gänzlich durchgedrungene Politik zur Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Werte und ihres Nährbodens in den Familien. Aus diesem Erbe des Kommunismus erwachsen zwangsläufig Frustrationen, Aggressionen und Eruptionen der Gewalt bei jüngeren Menschen, die sich - nicht ohne Grund verraten fühlen 139 . 134 Vgl. oben in und bei Fn. 110; zur Verfassungsfrage der „Hauptstadt" (Art. 2 Abs. 1 EinigungsV) Wieland, in: Der Staat 30 (1991), 231 ff.; Wochner, ZRP 1991, 207 ff. 135 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 143. 136 BerlVerfGH, NJW 1993, 515; berechtigte Kritik bei Bartlsperger, DVB1. 1993, 333 ff.; Starck, JZ 1993, 341 ff.; Wilke, NJW 1993, 887 ff.; Berkemann, NVwZ 1993,409 ff. 137 138

Vgl. oben in und bei Fn. 122. So Leggewie, Druck von rechts. Wohin treibt die Bundesrepublik?, 1993.

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Wer diese Phänomene wegen der nationalistisch motivierten Aggressivität mit einem politischen „Druck von rechts" und der Gefahr „Weimarer Verhältnisse" verwechselt, verfehlt die Wirklichkeit. Er verfällt dem deutschen Wiederholungstrauma. Die Bewältigung der gesellschaftspolitischen Herausforderungen im wiedervereinigten Deutschland wird mit solchen Assoziationen nicht gefördert, sondern verstellt.

2. Die Bundesrepublik Deutschland als Nationalstaat Die neue, seit der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands entstandene Situation schließt einen tatsächlichen und rechtlichen Befund ein, den deutsche Politiker kaum auszusprechen wagen, die Geschichts- und Politikwissenschaftler jedoch auf internationaler Diskussionsebene zutreffend formulieren: Deutschland ist wieder ein Nationalstaat, und zwar nach dem Verlust der Ostgebiete jenseits von Oder und Neisse deutlicher als jemals zuvor 140 . Eine französische Wissenschaftlerin hat diesen Befund im Hinblick auf die Suche nach der deutschen Identität mit dem vielsagenden Zusatz ergänzt, daß die Bundesrepublik das „real existierende Deutschland" geworden sei 1 4 1 . In der Tat steht seit dem 3. 10. 1990 nach allen einschlägigen Kriterien 142 außer Zweifel, daß die Deutschen nicht nur eine Kultur-, sondern auch eine Staatsnation bilden. Die ohnehin fragwürdige These, daß die Bundesrepublik Deutschland alten Zuschnitts eine „postnationale" Demokratie gewesen sei 1 4 3 , hat sich erledigt. Aus juristischer Sicht ist die Erkenntnis des BVerfG 144 beizusteuern, daß das Volk i.S. des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland ist und dieses Staatsvolk von den Deutschen i.S. des Art. 116 Abs. 1 GG gebildet wird. Der statusrechtliche Unterschied zwischen Deutschen und Ausländern verträgt daher von Verfassungs wegen keine Einebnung. Das einfachgesetzliche Staatsangehörigkeitsrecht ist verfassungsrechtlich in der vorgefundenen und durch das Grundgesetz bestätigten Basis der identitäts- und einheitsstiftenden Staatsnation verankert. Der hierdurch definierte Staatsbürger ist - in der „klassischen" französischen Terminologie - Citoyen, nicht Bourgeois. Unvereinbar hiermit sind alle Bestrebungen, die auf eine Staatsangehörigkeit aufgrund bloßen, wenn auch 139

Sturzbecher /Dietrich, Jugendliche in Brandenburg - Signale einer unverstandenen Generation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 2 - 3/93, S. 33 ff.; vgl. auch oben in und bei Fn. 120 - 122. 140 Winkler (Fn. 23), S. 107 ff. (108); ebenso Le Gloannec (Fn. 23), S. 129 ff. 141 So Le Gloannec (Fn. 23), S. 140: „the real existierendes Deutschland". 142 Vgl. zum Begriff des Staatsvolkes und zum vorangegangenen Streit über den Fortbestand des deutschen Staatsvolkes statt vieler Grawert, in: HdbStR I (Fn. 2), § 14 Rn. 1 ff.; Paul Kirchhof, in: HdbStR IX (Fn. 10), § 221 Rn. 16 ff. 143 So Bracher (Fn. 108); wie hier Winkler (Fn. 28); ders. (Fn. 23), S. 107. 144 BVerfGE 83, 37 (51 f.); 83, 60 (71).

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langdauernden Aufenthalts, eine Staatsangehörigkeit auf Probe oder eine generalisierte mehrfache Staatsangehörigkeit hinauslaufen. Auch die letztere wäre aus der Sicht der Staatsnation ein desintegrierender Spaltpilz, da sie den bequemen und opportunistischen Ausstieg aus der nationalen Schicksalsgemeinschaft eröffnen und somit als Rückversicherung für die Wechselfälle des staatlichen Lebens wirken würde - eine Konsequenz, die gerade für die Staatsform der Demokratie nicht hinnehmbar ist 1 4 5 . Diese Feststellungen versetzen offenbar manchen deutschen Politiker in Verlegenheit oder Aufregung. Damit fliehen solche Völksvertreter vor der nationalen Existenz; gerade hierdurch fallen sie im Ausland auf. Die stereotype Redewendung, daß es keinen „Nationalstaat früherer Zeiten" geben könne 146 , ist sicher richtig, wenn man die supranationale Europäische Gemeinschaft und die seit dem 1.11. 1993 existierende Europäische Union sowie die internationalen Verträge und Mitgliedschaften der Bundesrepublik Deutschland in Betracht zieht. Die negative Aussage reicht jedoch nicht aus. Vielmehr bedarf es einer positiven Bestimmung der nationalen Identität sowie der nationalen, staatlich wahrzunehmenden Interessen - selbstverständlich im Rahmen der supranationalen und internationalen Bindungen. Was für andere Nationalstaaten außer jeder Frage steht, bereitet den meisten deutschen Politikern offenbar erhebliche Probleme. Sie neigen dazu, unbequemen Entscheidungen auszuweichen, wo es um die nationalen Belange geht. Aber gerade insoweit kann und will kein ausländischer Staat oder Politiker die Entscheidungslast übernehmen. Die Bundesrepublik ist mit der staatlichen Wiedervereinigung und der Gewinnung ihrer Souveränität unvermittelt aus dem bisherigen Windschatten der fortgefallenen alliierten Vörbehaltsrechte herausgetreten 147. Sie ist nun rechtlich und politisch für sich selbst verantwortlich. Jede Staatsnation und jeder Nationalstaat sind auf Integration angewiesen148. Sie müssen sich zur Bewahrung des sozialen Friedens ihrer kollektiven Identität vergewissern. Dies kann nie konfliktfrei geschehen. Aber es gilt, die Basis des nationalen Konsenses zu suchen und zu wahren. Anderenfalls drohen Unfrieden, Unruhen und Rechtsbrüche. Die Definition des nationalen Interesses darf daher nicht den Extremisten überlassen werden. Vielmehr sind gerade die politischen Parteien von der linken bis zur rechten Mitte des demokratischen Spektrums gehalten, das nationale Interesse unter den gegenwärtigen Verhältnissen positiv zu definieren und zu vertreten. Bisher scheint diese Erkenntnis kaum durchgedrungen zu sein. Die meisten Parteipolitiker agieren und taktieren in der Bundes145 Eingehend hierzu Ziemske, Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundgesetz, 1995, S. 132 ff., 277 ff.; a.A. Sacksofski, in: FS für Ernst-Wolfgang Böckenförde, 1995, S. 317 ff. i 4 * In diesem Sinne statt vieler Pernice, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 191 Rn. 43 f. m.w.N. w Quaritsch, in: HdbStR VIII (Fn. 19), § 193 Rn. 69 ff., insbes. 84 f. 148 Zur Integrationslehre Smends oben Fn. 15; speziell unter dem Titel „On German Identity" Le Gloannec (Fn. 23), S. 129 ff.

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republik Deutschland eher so wie bisher, indem sie die Nation ignorieren. Verunsicherung, Politikverdrossenheit und Wahlabstinenz breiter Schichten des Bürgertums dürften hierdurch nicht unwesentlich mitbedingt sein. Viele Bürger vermissen - weithin zu Recht - Antworten auf die Fragen, die mit der gewandelten Situation seit dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus" und der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands neu oder zugespitzt gestellt sind. Daß diese Schwäche der Demokratie destabilisierend wirkt und angesichts der gesteigerten Aufgaben und Herausforderungen am allerwenigsten akzeptabel ist, liegt offen zutage. Die kollektive Identität einer Nation beruht auf der historischen, politischen und kulturellen Schicksalsgemeinschaft, auf gemeinsamen Traditionen und Erinnerungen, kohärenter Bewußtseins-, Meinungs- und Willensbildung sowie typischerweise auf gemeinsamer Sprache und Denkweise 149 . Gewiß ist die ideologische Überhöhung der Nation gerade in Deutschland gründlich und auf Dauer diskreditiert und die korrespondierende Aversion gegen fremde Nationen und Bevölkerungsgruppen als politische Brandfackel verrufen. Das gegenteilige Extrem, die eigene Nation verleugnen oder auflösen zu wollen, führt jedoch ebensowenig weiter. Als Versuch eines Ausstiegs aus den historischen Fakten, Traditionen und Bindungen mutet ein solcher Abschieds- oder Untergangsappell nicht nur unpolitisch und wirklichkeitsfremd an. Vielmehr erscheint gerade das Ansinnen der nationalen Selbstpreisgabe so radikal, tiefgründig und riskant, daß es sich den Vorwurf der „Unberufenheit" des Deutschen zu realistischer Politik 1 5 0 zuzieht. Die Erfahrung lehrt, daß ein Volk, das seiner kollektiven Identität nicht mehr sicher ist, in der politischen Meinungs- und Willensbildung allzu leicht in Unsicherheit und Instabilität verfällt. Daß dies nicht nur im Staatsinnern, sondern auch nach außen Irritationen hervorrufen kann, deutet das eingangs wiedergegebene Auslandsecho151 auf die Zeichen der deutschen „Vereinigungskrise" an. Bundesregierung, Bundestag und politische Parteien der Bundesrepublik haben nach der staatlichen Wiedervereinigung wenig unternommen, was als Initiative zur nationalen Selbstfindung und Integration sowie zur Stabilisierung der gelebten Verfassung im wiedervereinigten, aber noch konsolidierungsbedürftigen Deutschland gedeutet werden kann. Im Gegenteil: Die Art und Weise des europapolitischen „Maastricht-Weges" 152 und die Behandlung der mit der inneren Wiedervereinigung aufgeworfenen Probleme 1 5 3 setzen eher verwirrende Zeichen, die weder integrierend noch stabilisierend auf das Verfassungsleben einwirken. 149 Vgl. allgemein die Nachw. in Fn. 142; speziell für Deutschland nach der Wiedervereinigung Le Gloannec (Fn. 23), S. 134 ff., 142 ff. 150 In diesem Sinne Le Gloannec (Fn. 23), S. 140, in Auseinandersetzung mit Günter Grass, Deutscher Lastenausgleich. Wider das dumpfe Einheitsgebot. Reden und Gespräche, 1990, S.8, 11. 151 Oben in und bei Fn. 22 - 27. 152 Oben II 2 mit Fn. 50 - 76. 153 Oben IV 1 mitFn. 110-139.

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Vieles spricht dafür, daß das Ergebnis der Bundestagswahl vom 27. 9. 1998 154 Ausdruck der Verunsicherung und der Unzufriedenheit mit der vorausgegangenen Regierungspolitik und ihrer parlamentarischen Mehrheitsbasis ist. Aus einer solchen Negativperspektive getroffene Wahlentscheidungen können kontraproduktiv wirken, wenn erst nach der Wahl die positive Zielrichtung gefunden und bestimmt werden muß. Verläßlich ist auf die Dauer nur eine Nation, die in historischer und politischer Hinsicht zu sich selbst gefunden hat; die inter- und supranationalen Bündnisse sind auf derart gefestigte und verläßliche Nationen angewiesen. Deren Organisation in stabilen Nationalstaaten ist kein Hindernis, sondern Voraussetzung für den Bestand und die weitere Entwicklung der inter- und supranationalen Zusammenschlüsse. Auch aus dieser Sicht ist gerade in Deutschland nicht die Selbstpreisgabe, sondern die Selbstfmdung der nationalen Gemeinschaft geboten. Dazu gehört nicht zuletzt die Vergewisserung hinsichtlich der historischen, zugleich in die Zukunft weisenden Schicksalsgemeinschaft, und zwar nicht nur - wie in den letzten Jahrzehnten vorherrschend - in negativer Fixierung auf die Verhängnisse der nationalsozialistischen Verirrung, sondern auch in positiver Hinwendung zu den integrierenden Idealen, Personen und Ereignissen, die geeignet sind, Kontinuität, kollektive Identität und stabilisierenden Konsens zu vermitteln.

V. Resümee und Ausblick 7. Die unverminderte

Aktualität der Verfassungsstabilität

Festzuhalten ist, daß der Stabilität der Verfassung gerade in der gegenwärtigen Zeit des Umbruchs unverminderte Bedeutung zukommt. Das Bestreben des Grundgesetzes, als spezifisch juristische und zugleich wertbestimmte Verfassung sowie durch staatsorganisationsrechtliche Zwangshebel Stabilität der politischen Entscheidungsprozesse zu gewährleisten, ist keineswegs zeitbedingt und überholt, sondern so aktuell wie 1949 im Angesicht der „Weimarer Erfahrungen". Daß das Grundgesetz, über seine Eigenschaft als positives Verfassungsgesetz hinausweisend, zum Kristallisationskern der staatsbildenden Integration (Rudolf Smend) sowie zur anerkannten Basis der „Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit" (Carl Schmitt) geworden ist und die Bundesrepublik Deutschland unter seiner Geltung zur Staatlichkeit im Sinne der „organisierten Entscheidungs- und Wirkungseinheit" (Hermann Heller) zurückgefunden hat 1 5 5 , beruht ersichtlich auf seiner besonderen normativen Qualität. Sie besteht im wesentlichen in inhaltlicher Konzentration und juristischer Stringenz. Damit ist die Bundesrepublik seit 1949 gut gefahren, und es gibt im grundsätzlichen keinen überzeugenden Grund, diese Verfassungsbasis zu revidieren. 154 Oben Fn. 80. 155 Vgl. hierzu oben in und bei Fn. 14 - 16.

Stabilität der Verfassung?

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2. Die Abhängigkeit der Verfassungsstabilität von vor- und außerrechtlichen Voraussetzungen Ebenso ist festzuhalten, daß die Stabilität der Verfassung durch das geschriebene Verfassungsgesetz gesichert und gefördert, nicht aber in der politischen Realität garantiert werden kann. Gerade der Jurist sollte die Einsicht in die begrenzte Wirkungsmacht des positiven Rechts, auch des geschriebenen Verfassungsgesetzes, bewahren. In der verfassungspolitischen Diskussion wird er demgemäß die unbequeme Rolle des skeptischem Mahners übernehmen müssen, wenn hochfliegende Pläne zur Verfassungsrevision auf unrealistische Heilsbotschaften oder hohle dilatorische Formelkompromisse hinauslaufen. Ebenso vermittelt die juristische Einsicht in die begrenzte Wirkungsmacht des Verfassungsgesetzes die komplementäre Erkenntnis, wie sehr die Stabilität der Verfassung von vor- und außerrechtlichen Umständen abhängt 156 . Zugleich wird deutlich, in welchem Maße die integrierenden und stabilisierenden Faktoren der Kontinuität, der Tradition und des staatsbürgerlichen Konsenses in der Bundesrepublik Deutschland in jüngster Zeit Einbußen erlitten haben. Die Stabilität der Verfassung ist deshalb stärker bedroht, als die ausschließlich juristische Betrachtung meinen läßt. Richtig bleibt, daß „Bonn nicht Weimar ist"; auch die Verlagerung der Bundesorgane in die Hauptstadt Berlin begründet nicht die Befürchtung, daß die Bundesrepublik in die „Weimarer Verhältnisse" zurückfallen werde. Deshalb dürfen die anders gelagerten, gegenwärtig anstehenden Herausforderungen der Bundesrepublik nicht unterschätzt werden. Die reflektierte Stabilität setzt vielmehr die nationale und staatliche Integration im Bewußtsein der historischen, politischen und kulturellen Schicksalsgemeinschaft voraus.

156 So schon Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, Neudruck 1960, S. 250f.; auch Isensee, in: HdbStR I (Fn. 2), § 13 Rn. 124; Paul Kirchhof, in: HdbStR IX (Fn. 10), § 221 Rn. 136 ff.

Verfassungserfahrung und Verfassungsgestaltung Von Michael Kloepfer*

I. Einführung Das Jahr 1999 ist nicht nur ein Jubiläumsjahr für den hier zu ehrenden Staatsrechtslehrer Walter Leisner, sondern auch für das vor 50 Jahren geschaffene Grundgesetz wie für die Paulskirchenverfassung, die vor 150 Jahren entstanden ist. Solche Jubiläen reizen dazu, das Verfassungsrecht in seiner zeitlichen Dimension zu betrachten und dabei insbesondere der Frage nachzugehen, inwieweit historische Erfahrungen in die inhaltliche Gestaltung von Verfassungsrecht einfließen bzw. einfließen sollten. Dieses grundsätzliche Verhältnis von Verfassungserfahrung und Verfassungsgestaltung kann an dieser Stelle freilich nur exemplarisch beleuchtet werden und zwar an den Beispielen der Paulskirchenverfassung (unten II.), des Grundgesetzes (unten III.), der Verfassungen der DDR (unten IV.) und dem Verfassungsproblem im wiedervereinigten Deutschland (unten VI.). 7. Verfassung als historische Erfahrung Hegel 1 bemerkt in seinen Zusätzen zur Rechtsphilosophie: „Eine Verfassung ist kein bloß Gemachtes; sie ist die Arbeit von Jahrhunderten, die Idee und das Bewußtsein des Vernünftigen, inwieweit es in einem Volke entwickelt ist. Keine Verfassung wird daher bloß von Subjekten geschaffen. Das Volk muß zu seiner Verfassung das Gefühl seines Rechts und seines Zustandes haben; sonst kann sie zwar äußerlich vorhanden sein, aber sie hat keine Bedeutung und keinen Wert."

Diese entscheidend vom Verfassungsbewußtsein her geprägte Sicht der Verfassung ist in ihrer zeitlichen Dimension besonders interessant. Die Verfassung als eine historisch gewonnene Erfahrung; das Werden zentraler normativer Wertvorstellungen angesichts von Enttäuschungen und erlittenen Unrechts - das macht den eigentlichen Tiefgang und die sinnstiftende und legitimierende Kraft von Verfassungsrecht aus.2 * Meinem Assistenten, Herrn Claudio Franzius, Berlin, danke ich für seine Mitarbeit. 1 G. W. Hegel, Zusätze zur Rechtsphilosophie, § 274. 2 Siehe dazu Kloepfer, Verfassungsgebung als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung, in: ders./Merten/Papier/Skouris, Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte, 1994, S. 35 ff. 23 FS Leisner

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In diesem Sinne ist jede Verfassung auch so etwas wie das kollektive Gedächtnis eines Volkes. In dem, was sie verhindern (oder aber auch umgekehrt erhalten) will, registriert und verarbeitet die Verfassung die Geschichte einer Nation. Dabei ist die Verfassung nicht nur so etwas wie ein Archiv von historischen Geschehen mit Rechtsverbindlichkeit, sondern gerade auch das Ergebnis eines nicht selten leid vollen historischen Lernprozesses: Häufig (aber nicht nur) angesichts der Erfahrungen kollektiven Leids in der Vergangenheit bilden sich zentrale politische Wertvorstellungen eines Volkes heraus, die dann schließlich in seine Verfassung Eingang finden. 2. Verfassung als Gestaltungsinstrument zur Zukunftsbewältigung, aus Vergangenheitserfahrung Unter den vielen möglichen Motiven für Verfassungsgestaltungen taucht in der Verfassungsgeschichte immer wieder ein Phänomen auf: die bewußte und ausdrückliche Abkehr des Verfassungsgebers für die Zukunft von einer als verfehlt (oder doch als korrekturbedürftig) erkannten Vergangenheit. Vor allem nach Revolutionen und nach der militärischen Ablösung bisheriger Regime wird diese - mehr oder weniger - kursumsteuernde Variante der Verfassungsgebung typisch sein. In Fällen einer bloßen Verfassungsreform bei grundsätzlicher Beibehaltung des bisherigen politischen Systems wird die Vergangenheit dagegen häufiger positiver erlebt worden sein, weshalb insoweit dann an Strukturen und Lösungen der bisherigen Verfassung angeknüpft wird im Sinne einer kurswahrenden Verfassungsgebung. In der Realität wird es in der Regel zu Mischformen zwischen Kurswahrung und Kursumsteuerung kommen. Die Verabschiedung einer neuen Verfassung ohne Systemablösung dürfte regelmäßig auf eine kurskorrigierende Variante hinauslaufen. Derartige Kurskorrekturen werden dann freilich die Frage aufkommen lassen, ob es hierfür überhaupt einer Verfassungsgebung bedarf oder ob nicht bloße Verfassungsänderungen ausreichen. Kleinschrittige, zeitlich gedehnte Verfassungsänderungen werden ohnehin auch mit den Mitteln bloßer Umdeutung der Verfassung bzw. mit dem sog. stillen Verfassungswandel zu bewältigen sein. Die Position der Kurswahrung (als politische Position) wird der einer Verfassungsneugebung ohnehin skeptisch gegenüberstehen und hierzu nur gelangen, wenn er durch eher formale Gründe (Ablauf einer befristeten Verfassung oder Veränderung des Staatsterritoriums mit Staatsumgründungen oder -neugründungen) sich dazu genötigt sieht. In der Regel dürfte die eigentlich inhaltlich bewegende Kraft einer die Vergangenheit reflektierenden Verfassungsgebung aber stets die Abkehr von einer negativ erfahrenen Vergangenheit darstellen. Soweit die Kursumsteuerung, Kurskorrektur oder auch Kurswahrung durch eine Verfassungsgebung im Hinblick auf eine gelebte Vergangenheit erfolgt, kann dies ingesamt als das Motiv der „Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung" 3 bezeichnet werden. 3 Siehe Kloepfer (FN 2), S. 35 ff.

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II. Paulskirchenverfassung (1849) 1. Aufbruch Ausgehend von dem seine revolutionäre Kraft wiederfindenden Frankreich hatte sich 1848 der tiefe Wunsch nach Freiheit wie ein Lauffeuer in Europa mit Ausnahme vor allem Rußlands und Englands verbreitet. Insbesondere in den deutschen Staaten traf der Freiheitsgedanke auf fruchtbaren Boden: Preußen hatte sich nach der katastrophalen Niederlage gegen Napoleon durch „Reformen von oben" zwar weitgehend selbst modernisiert. Gleichwohl schien der preußische Verwaltungsstaat nicht mehr imstande zu sein, die Enttäuschungen des aufstrebenden Bürgertums gleichsam „revolutionsvorbeugend" zu verarbeiten. Je mehr sich die bürgerliche Gesellschaft entfaltete und Schritt für Schritt die ständische Ordnung ersetzte, desto dringender bedurfte es einer Vermittlung zwischen ihr und dem Staat.4 Das einigende Band der Gesellschaft zum Staat (und zur Monarchie, um dessen Abschaffung es jedenfalls dem Bürgertum nicht ging) sollten - so die schon seit längerer Zeit erhobenen Forderungen - Volksvertretung und Repräsentativ-Verfassung sicherstellen. Mit dem Aufschub der Verfassungsgebung (und den bloßen Verfassungsversprechen des preußischen Königs) wurden diesbezügliche Erwartungen des Bürgertums tief enttäuscht. Sie entluden sich in der Märzrevolution ebenso heftig wie letztlich erfolglos und mündeten zunächst in den Märzversprechen des Königs, nach denen die aufgebrachte Menge auf dem Schloßhof in Berlin u. a. mit den Worten besänftigt werden konnte, das Rauchen auf öffentlichen Straßen sei nunmehr erlaubt. Aus heutiger Sicht erscheint die scheinbare Hilflosigkeit und das Zaudern des Königs auch als geschicktes, wenn nicht sogar zynisches Taktieren deutbar. Aber auch in Staaten, die - wie Baden seit 1818 - bereits über eine Verfassung verfügten, waren die Erwartungen des Bürgertums enttäuscht worden. Da es sich insoweit um oktroyierte „Verfassungen von oben" handelte, die dem monarchischen Kalkül entsprangen und jedenfalls auch als Mittel der Revolutionsprävention verstanden wurden, konnte der Monarch die in den Verfassungen enthaltene Anerkennung einer Völksvertretung und der Rechte der Untertanen dosieren. Ging danach auch die Gewalt letztlich vom Monarchen aus, so konnte dieser sich gleichwohl nicht mehr aus der verfassungsrechtlichen Bindung zurückziehen und die Verfassung einseitig zurücknehmen. In den vormärzlichen Verfassungen waren Verfassungsänderungen nur noch mit, nicht aber gegen die Volksvertretung möglich. In dieser hatten aber gerade auch die Träger der alten politischen und sozialen Ordnung Mitwirkungspositionen und vielfältige Veto-Möglichkeiten erhalten, die den evolutionären Ablösungsprozeß von der Ständegesellschaft verlangsamen und blockieren konnten. Von daher nimmt es nicht Wunder, daß die bürgerliche Verfassungsbewegung gerade in Süddeutschland ein starkes Gewicht erhielt. Sie richtete 4

Vgl. Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: Isensee/ Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 1987, § 1 Rn. 16. 23*

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sich nicht allein gegen den Monarchen mit dem Ziel seiner stärkeren Bindung an die Verfassung, sondern mehr und mehr auch gegen den Adel und für eine freiheitliche Verfassung, die den Anteil des Bürgertums an der politischen Macht sicherstellen sollte. Innerhalb von nur vier Wochen konstituierte sich die Frankfurter Nationalversammlung und nahm am 18. Mai 1848 in der Paulskirche die Arbeit auf. Die Frankfurter Nationalversammlung war das erste durch Wahlen hervorgegangene gesamtdeutsche Parlament. Auf ihm - „Deutschlands großer Hoffnung", wie es nach dem Scheitern der Revolution seufzend hieß - ruhten die recht unterschiedlichen Erwartungen des Volkes, das sich, durch die Märzerfolge ermutigt, eine „Verfassung von unten" zu geben suchte. Im Vordergrund der Arbeit der - manche frühe Sternstunde parlamentarischer Kultur erlebenden - Nationalversammlung stand die Ausarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung. Damit sollten zum einen der lange hingehaltene, nunmehr offen auf die Straße getragenen Machtanspruch des Bürgertums aufgegriffen und in rechtliche Bahnen gelenkt werden. Zum anderen aber sollte die Verfassung als das einigende Gesamtwerk einer Nation für eine erst noch zu bildende Nation wirken. Freiheit durch Einheit im Recht, so hätte die Präambel der am 28. März 1849 verkündeten Paulskirchenverfassung lauten können. Einheitsbildung durch Verfassung ist die Botschaft, die wir auch noch nach 150 Jahren vernehmen können.

2. Paulskirchenverfassung als Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung? Kann die Paulskirchenverfassung in dem oben bezeichneten Sinne als Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung verstanden werden? Als Verfassung wurde die Paulskirchenverfassung bekanntlich nie wirksam. Sie scheiterte im Vorfeld machtpolitisch, bevor sie als geltende Verfassung scheitern oder bestehen konnte. Und doch läßt sich die Paulskirchenverfassung als erster großer Versuch auf gesamtdeutscher Ebene begreifen, der sich immer deutlicher gegenüber der alten feudalen ständischen Ordnung absetzenden bürgerlichen Gesellschaft einen rechtlichen Entfaltungsrahmen zu geben. Dessen Inhalte wurden vor dem Hintergrund der Enttäuschungen (Freiheit vom Staat) und Erwartungen des Bürgertums (Freiheit durch den Staat) im Vormärz formuliert. Hinsichtlich der unmittelbaren Verfassungsgebung 5 sind einige markante Motivlinien zu erkennen. Grundlage der Beratung der Nationalversammlung war der sogenannte Siebzehnerentwurf 6, der seinerseits auf einen Vorentwurf von Fr. Chr. 5 Vgl. aus der zeitgenössischen Literatur nur H. Künßberg, Das deutsche Verfassungswerk im Jahre 1848, 1849 und J. G. Droysen, Die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der deutschen Nationalversammlung, 1849. 6 Hübner, Der Verfassungsentwurf der siebzehn Vertrauensmänner, in: FS für E. Rosenthal, 1923, S. 109 ff.

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Dahlmann und W. Albrecht zurückging. 7 Dieser weithin als in seiner sprachlichen Klarheit gelobte8 Entwurf rezipierte in weiten Teilen europäisches Verfassungsgut in der Tradition einer konstitutionellen Monarchie. 9 Als ihre erste Aufgabe sah die Frankfurter Nationalversammlung die Einführung von Grundrechten des deutschen Volkes an. 10 In weiten Bereichen sind diese Grundrechte sehr klar durch die Abkehr von der Monarchie alter Prägung gezeichnet. § 137 erklärte Standesunterschiede und Adel für aufgehoben, § 166 bestimmte das endgültige Ende jedes Unterthänigkeits- oder Hörigkeitsverbandes. Insoweit nahm die Verfassung den revolutionären Grundgedanken von 1848 auf und formulierte Grundrechte als das notwendige Fundament des Staates mit einem Vorrang gegenüber dem Gesetzgeber und der ihre Geltungs- und Durchsetzungskraft verstärkenden Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Hier wird man mit der gebotenen Vorsicht von einer Kursumsteuerung sprechen können, welche die virulente Machtfrage zwischen König und Volk zugunsten des Volkes entschied bzw. entscheiden sollte. Trotz der in den Grundrechten angelegten - kursumsteuernden - Umwälzung, welche mit der Befreiung der Bauern von allen überkommenen grundherrlichen Abhängigkeiten die alte feudale Ständeordnung in eine freiheitliche Staatsbürgergesellschaft verwandeln sollte, bemühte man sich in den Beratungen zur Verfassungsgebung um den politischen Kompromiß der beteiligten politischen Kreise. 11 Nicht nur dem König, auch dem Bürgertum saß der Schrecken der französischen Revolution noch tief in den Knochen: Nahezu allen Fraktionen war klar, daß die Ziele der Revolution nur gemeinsam mit traditionellen Werten und Strukturen in der Verfassung niedergeschrieben werden konnten. Deshalb finden sich in der Paulskirchenverfassung auch viele lediglich kurskorrigierende und kurswahrende Elemente. An zentraler Stelle seien hier die Regeln über das Regierungssystem genannt. Obwohl nach den Vorstellungen der Paulskirche der Schwerpunkt des politischen Lebens im Parlament liegen sollte, schritt man bewußt nicht zur völligen 7

Hedler, Die deutschen Verfassungen im Wandel der Zeiten, 2. Aufl. 1925, S. 65. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 769. 9 Die Motive sind im Entwurfstext ausführlich niedergelegt, vgl. den Abdruck bei E. R. Huber, Dokumente Bd. 1 Nr. 91. Zu den Einflüssen der nordamerikanischen Verfassungen Ellwein, Der Einfluß des nordamerikanischen Bundesverfassungsrechts auf die Verhandlungen der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, 1950. 10 Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 1865, S. 442. 8

11 Zur politischen Zusammensetzung der Nationalversammlung vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 613. Bisher nur wenig untersucht ist die Bedeutung der berufsständigen Zusammensetzung der Nationalversammlung für die Ergebnisse der Verfassungsgebung. Zwar wurde die Versammlung teilweise als „Beamtenparlament" (E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 611) bezeichnet. Ebenso richtig wäre aber auch die Bezeichnung des »Juristenparlaments", denn von den 830 Abgeordneten waren 223 Angehörige klassischer juristischer Berufe (Richter, Staatsanwälte, Advokaten) hinzu dürfte ein beträchtlicher Anteil der 49 Universitätsprofessoren, 118 höheren Verwaltungsbeamten und 3 Diplomaten kommen (Zahlenangaben nach Huber, a. a. O., S. 610 f.; vgl. auch E. Bucher, Die Juristen in der Frankfurter Nationalversammlung, 1942.

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Parlamentarisierung. Dem Prinzip des Parlamentarismus wurde - mit erheblichen Konsequenzen für die weitere Verfassungsentwicklung - die Rechtsstaatsvorstellung entgegengesetzt. Dabei war der Gedanke maßgeblich, daß eine absolut regierende Versammlung der Freiheit ebenso gefährlich werden könnte wie ein einzelner Despot. Obwohl die Rechte des Monarchen teilweise erheblich beschränkt wurden, sollte im Prinzip lediglich eine Parität zwischen Fürst und Volk verwirklicht werden. Konnte man mit dem Erreichten, den vormärzlichen Verfassungen und dem Vorrang des monarchischen Prinzips, auch nicht zufrieden sein, so schien das in die Zukunft weisende Modell eines prinzipiellen Vorrangs der Völksvertretung doch ebenfalls kaum erreichbar zu sein. Als problematisch erwies sich die Verarbeitung der seit Jahrzehnten vordrängenden nationalen Idee, die sich mehr und mehr neben den Wunsch nach Freiheit stellte. Freiheit und deutsche Einheit waren zusammengedacht und die Verfassungsgebung wirkte als nationbildender Prozeß. Existierte der Staat, den es zu verfassen galt, auch noch nicht, so konnte sich doch ein jeder Bewohner im Deutschen Bund mit Blick auf Frankfurt am Main als Angehöriger einer Nation erkennen. Gewiß gab es dabei manche anmaßende, großmachtsüchtige Forderung, die Nachbarstaaten dem Reich einzuverleiben oder ihm doch zu Diensten zu machen. Gleichwohl orientierte sich die Paulskirchenverfassung an den Grenzen des deutschen Bundes und formulierte zur Vorbeugung aufkeimender Nationalitätenkonflikte einen für das damalige Europa beispiellosen Minderheitenschutz. Neben diesen vergleichsweise neuen Regelungen offenbaren sich die kurswahrenden Elemente der Verfassung in der Beibehaltung der Monarchie. Der Weg zur Einheit - so die deutliche Mehrheit in der Paulskirche - führe über den „Kaiser der Deutschen" (§ 70), von dessen integrativer Kraft die Abgeordneten letztlich überzeugt waren. Inzwischen war jedoch der erste revolutionäre Wind verflogen und die Gegenrevolution vor allem in Österreich und Preußen hatte Fuß gefaßt. Nachdem der preußische König die Wahl zum Deutschen Kaiser rüde zurückgewiesen hatte, verließen im Mai 1849 die konservativen und liberalen Abgeordneten das Parlament. Das sich in Stuttgart versammelnde Rumpfparlament wurde von Regierungstruppen am 18. Juni 1849 auseinandergetrieben. Mit der gescheiterten Einheit fiel auch das aufgebaute Freiheitsgerüst der Paulskirchenverfassung in sich zusammen. Das Scheitern der Revolution von 1848 und der Paulskirchenverfassung ist vor allem früher oft für den sog. deutschen Sonderweg verantwortlich gemacht worden, der vielfach in einer scheinbar geradezu zwangsläufigen Linie über Bismarck zu Hitler gesehen wurde. Abgesehen von dem Umstand, daß es sich dabei aber um viel zu einfache und teilweise nur ideologisch zu erklärende Abfolgen und Gleichsetzungen handelt, darf der verfassungspolitische Impetus nicht übersehen werden, der von der Ausarbeitung und Verkündung der Paulskirchenverfassung ausging: In der deutlichen Abkehr von den überkommenen Verfassungen der konstitutionellen Monarchie hatte sie jedenfalls insoweit ein Zukunftsmodell entworfen, als die Begründung der monarchischen Rechte allein auf dem Boden der Volkssouveränität

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vorgenommen wurde. Die große und bis heute fortdauernde Bedeutung der Paulskirchen Verfassung liegt schließlich auch in der ideellen Vorbildfunktion auf nachfolgende deutsche Verfassungen. Sowohl die Weimarer Reichsverfassung als auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland haben in weiten Teilen Inhalte und Formulierungen der Paulskirchenverfassung rezipiert. Gewiß ist die Paulskirchenverfassung also auch Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung. Wenn dies freilich bei weitem nicht so markant ist wie in anderen Verfassungen wie z. B. dem noch zu erörternden Grundgesetz, dann mag dies nicht nur an dem zukunftsgerichteten Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts liegen, sondern vor allem auch darin, daß aus der Sicht der Väter der Paulskirchenverfassung die Lehren der Vergangenheit eben nicht eindeutig waren. Weg von der ständischen Gesellschaft, aber keineswegs mit den Revolutionsfolgen à la française. Kein Wunder, daß bei dieser selektiven historischen Positionierung der Vergangenheitsbezug nur in gebrochenen Farben erfolgt. Obwohl natürlich auch auf die Geschichte bezogen und von ihr gespeist, war die für die Paulskirchenverfassung konstituierende Idee der Nation doch eher zukunfts- als vergangenheitsgerichtet, auch wenn sie sich insbesondere auf den Mythos des mittelalterlichen Kaiserreichs berief.

I I I . Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Die Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland fiel (wie die der Weimarer Reichsverfassung) in eine Zeit des Wechsels der Staatsform nach einem verlorenen Krieg, freilich mit ungleich schwereren und vernichtenderen Folgen und erheblichsten politischen, sozialen und demographischen Verschiebungen. Die traumatischen, damals noch weitgehend unverarbeiteten Erfahrungen mit dem Hitlerregime und seinen allseits noch sieht- und spürbaren Folgen legten es nahe, das Grundgesetz in prägnanter Weise als „Aufarbeitungsverfassung" auszugestalten. 12 Die bewußte Zäsur als Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung scheint das - vielleicht auch durch die Besatzungsmächte mit inspirierte - Credo des Grundgesetzes mehr als bei jeder anderen deutschen Verfassung zuvor zu sein. Nie wieder Faschismus - oder genauer: nie wieder Voraussetzungen der Machtergreifung durch den Faschismus - prägt viele markante Bestimmungen des Grundgesetzes. Von einigen Unbelehrbaren abgesehen, war insoweit der Wille zur kursumsteuernden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung damals allgemein. In der Tat ist die bundesrepublikanische Verfassung in vielen Punkten ganz eindeutig als Antwort auf das Unrecht des Naziregimes zu verstehen. Der lange in der Diskussion befindliche ursprüngliche Einleitungssatz der Entwürfe zur Präambel des Grundgesetzes lautete: „Nationalsozialistische Zwingherrschaft hat das deut12 Vgl. Kloepfer,

ZRP 1983, 57 ff.

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sehe Volk seiner Freiheit beraubt." 13 Auch wenn diese Vorschrift schließlich nicht in das Grundgesetz übernommen wurde, sind viele seiner Bestimmungen nur aus der bewußten Abkehr von nationalsozialistischen Herrschaftsformen erkennbar. Umgekehrt hat z.B.W. Weber dem Grundgesetz bereits früh vorgeworfen, es sei weniger eine Abrechnung mit dem Nationalsozialismus als mit der Weimarer Republik. 14 An vielen Stellen des Grundgesetzes zeigt sich die Abkehr von der unmittelbar erlebten Vergangenheit, so etwa in den Grundrechten (z. B. Menschenwürde, Diskriminierungsverbot, Informationsfreiheit, Asylrecht, Ausbürgerungsverbot) 15 und besonders prägnant in den Vorschriften zum politischen System, die zu weiten Teilen als Vergangenheit aufarbeitende Zukunftsbewältigungen verstanden werden können. Typisch ist etwa die grundgesetzliche Stabilisierung und Stärkung des demokratischen Systems etwa durch das Konzept der „wehrhaften Demokratie" oder durch Machtausdünnung des Staatsoberhauptes bzw. durch die Option für die sog. Kanzlerdemokratie. Hinzu kommen z. B. Vorschriften über die Kriegs Verhütung in Art. 26 GG. Eine bekannte Abwehrreaktion des Grundgesetzes ist seine Zurückhaltung gegenüber der Realisierung plebiszitärer Elemente.16 Abgesehen von den Fällen der Neugliederung des Bundesgebietes nach Art. 29 GG bleibt das Volk auf die Mitwirkung an Wahlen beschränkt. 17 Diese Zurückhaltung wird von der h. M. heute nahezu stereotyp mit den schlechten Erfahrungen in der Weimarer Republik mit Referenden 18 und deren Mißbrauch durch die Nationalsozialisten19 begründet. Ob dies historisch wirklich zutrifft, ist indessen zweifelhaft. Heuss nannte das Plebiszit eine Prämie für den Demagogen. Staaten mit stärkeren plebiszitären Elementen wie insbesondere die alte Demokratie Schweiz, aber auch die deutschen Bundesländer selbst, werden dies mit Verwunderung gehört haben. Möglicherweise zeigen sich aber gerade am Beispiel der Elemente unmittelbarer Demokratie zugleich 13

Erst der Abg. Süsterhenn (CDU) warf die Frage auf, ob ob es gut und notwendig sei, in der Präambel dem Nationalsozialismus ein ewiges Denkmal zu setzen, JöR n.F. 1 (1951), 29. Auch der Abg. Heuß (FDP) wollte „Überdeutliches" streichen und der Präambel Zeitlosigkeit geben. Diese Ansicht setzte sich durch. Damit waren auch die in anderen Entwürfen enthaltenen Bezugnahmen auf das dritte Reich weggefallen. 14 W. Weber, „Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz", abgedr. in: ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 9 ff. 15 Einzelheiten bei Kloepfer (FN 2), S. 48 ff. 16

Dabei ist im einzelnen vieles umstritten. Die Breite der vorgetragenen Meinungsäußerungen markieren die Beiträge in dem Samelband Leinen (Hrsg.), Volksbefragung, Keine Raketen - mehr Demokratie, 1984 einerseits sowie Krause, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR II, § 39 RN 18 andererseits, der die Einführung konsultativer Referenden selbst durch Verfassungsänderungen nicht für zulässig hält. 17 Vgl. zum Ganzen Rommelfanger, Das konsultative Referendum, S. 62 ff.; Pestalozza, NJW 1981, 733 ff.; Bleckmann, JZ 1978, 217 m.w.N. (FN 1). 18 Vgl. etwa Th. Eschenburg, Zur politischen Praxis in der Bundesrepublik, Bd. I 2 , S. 55; Krause, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HbStR II, § 39 RN 11. 19 Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, S. 650.

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auch Grenzen des Modells der kursändernden Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung. Möglicherweise handelt es sich um eine Überreaktion, die möglicherweise nun ihrerseits der vorsichtigen Korrektur bedarf. Ist die heutige weitgehende Abkoppelung der institutionalisierten Politik vom Volkswillen nicht auch ein Ergebnis des Fehlens unmittelbarer Demokratie? Ist die heutige „Politikverdrossenheit" nicht auch ein Ausdruck der Empfindung mangelnder Repräsentation durch die Repräsentanten? Hat bei der Entscheidung des Grundgesetzes für ein strikt repräsentatives System das Motiv der Vergangenheitserfahrung vielleicht ein Ergebnis hervorgebracht, dessen verfassungspolitische „Nebenwirkungen" im Jahre 1949 nicht voll erkannt wurden? Die vom Grundgesetz angestrebte Sicherung der Regierungsfähigkeit wurde sicher durch die Abwesenheit von Plebisziten gefördert. Wurde dies aber nicht um den möglicherweise zu hohen Preis des Verlustes der grundsätzlich notwendigen Identifikation der Bürger mit ihrem Staat und der Willensbildung seiner Organe erkauft? Hier deutet sich bereits an, daß Ergebnisse der Verarbeitung von Vergangenheitserfahrung ihrerseits der Bewährungserfahrung unterliegen. Dem Aufarbeitungsmotiv des Grundgesetzes kam auch bei der Frage der Regelung des Sachkomplexes „Parteien" eine wichtige Rolle zu, war doch das Regime des Nationalsozialismus sowohl in der Machterlangung als auch in der Staatsführung von der absoluten Dominanz einer Partei, der NSDAP, geprägt. Daraus folgte die Gewährleistung eines Mehrparteiensystems durch Art. 21 GG, zumal in der damaligen sowjetischen Besatzungszone die faktische Vorherrschaft der SED längst als besiegelt erschien. Auch die Regelung des Art. 21 Abs. 2 GG über das Verbot verfassungswidriger Parteien hat erkennbar einen entscheidenden Vergangenheitsbezug im Hinblick auf die Machtergreifung durch die NSDAP. Gleiches gilt für das Gebot in Art. 21 Abs. 3 GG, wonach die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muß. Dieses Gebot der Binnendemokratie für Parteien ist im Redaktionsausschuß insbesondere zur Abwehr des in der NSDAP praktizierten Führerprinzips entstanden20. Besonderes Augenmerk legte das Grundgesetz im Hinblick auf Weimar und die Machtergreifung der Nazis bekanntlich auf Verfassungsänderungen und Verfassungsdurchbrechungen. Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG bestimmt, daß die Verfassung nur ausdrücklich geändert werden kann. Verfassungsdurchbrechungen sind demnach unzulässig.21 Ausgangspunkt der Regelung sind erkennbar die Erfahrungen der Weimarer Republik. Zwischen 1920 und 1932 änderten 8 Gesetze den Verfassungstext. Hingegen kamen in dieser Zeit mit der erforderlichen „doppelten Zweidrittelmehrheit" 22 und in dem für Verfassungsänderungen vorgesehenen Verfahren 20 JöRn.F. 1 (1951), 206. 21 Eingehend Hoffmann, in: BK, Art. 79 Abs. 1, 2 GG (Zweitbearb. 1982), RN 6 ff. 22 Nach Art. 76 WRV war für eine Verfassungsänderung erforderlich, daß bei Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Anwesenden erfolgte.

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28 verfassungsdurchbrechende Gesetze zustande, die entweder ausdrücklich von der Verfassung abwichen oder „zur Vermeidung von Zweifeln" die Form der zulässigen Verfassungsdurchbrechung einhielten.23 Besonders wichtig ist für unseren Zusammenhang auch Art. 79 Abs. 3 GG. Eine der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes entsprechende Regelung existierte weder in der Weimarer Reichsverfassung noch in einer der vorhergehenden deutschen Verfassungen. 24 Allerdings wurde im Anschluß an die Lehren Carl Schmitts über die unabänderlichen Essentialia der Verfassung und seiner Unterscheidung zwischen Verfassung und reinem Verfassungsgesetz25 gegen Ende der Weimarer Republik darüber gestritten, ob eine Abgrenzung der (abänderbaren) Verfassungsgesetze von der (unabänderlichen) Verfassung möglich sei. 26 So umstritten die Formulierung der einschlägigen Bestimmungen in den Beratungen zum Grundgesetz war - der Haupteinwand des Abgeordneten Katz (SPD) war, eine Verfassungsbestimmung könne eine Revolution nicht verhindern 27 - so deutlich überwog die Auffassung, der Revolution müsse zumindest die Maske des Legalen genommen werden. 28 Auch wenn die Therapie der Ewigkeitsgarantie der Sache nach weitgehend auf die Rezeption theoretischer Ansätze von Carl Schmitt (Verfassung und Verfassungsgesetz) hinauslief, 29 ist maßgebliches Motiv für die Einführung des Art. 79 Abs. 3 GG doch die (kursumsteuernde) Vergangenheitserfahrung in der Weimarer Republik. In der Summe der Ergebnisse kann man die Aussage treffen, daß sich das Motiv der Verarbeitung der kursumsteuernden Vergangenheitserfahrung zur Zukunftsbewältigung leitbildartig durch weite Teile des Grundgesetzes zieht (daneben haben zweifelsohne zwei andere Ursachen besonderen Einfluß auf den Wortlaut des Grundgesetzes ausgeübt: wie bei jeder demokratischen Verfassungsgebung der Kompromiß der politischen Kräfte der Mitte und die stille Macht der Redaktion 30 ). Insgesamt enthält das Grundgesetz neben vielen kursumsteuernden Arti23 Detaillierte Aufstellung bei Poetzsch-Heffter, Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung. Teil I: 1920 - 24, JöR 13 (1925), 226 ff.; Teil II: 1925 - 28, JöR 17 (1929), 139 ff.; Teil in: 1929 bis 31. Januar 1933, JöR 21 (1933/34), 201 ff. 24 S. aber die bemerkenswerten Äquivalente in einigen östlichen Landesverfassungen der Nachkriegszeit. Art. 58 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt v. 10. 1. 1947. Vgl. auch die Art. 96, 97 der sächs. Verfassung v. 28. 2. 1947, die bestimmten, daß die Grundsätze von Demokratie und Humanismus unantastbar seien, ohne - wie Evers in: BK, Art. 79 Abs. 3 GG (Zweitbearb. 1982), RN 26 treffend bemerkte - die Rechtsentwicklung aufhalten zu können. 2 5 C. Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1928, S. 3 ff. 2 6 Anschütz, WRV, 14. Auflage 1933, Art. 76, Anm. 6; H. Preuß, Reich und Länder, 1928, S. 207; W. Jellinek, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), HbdStR I I (1932), S. 183 f. 27 Allerdings sah die Formulierung des Herrenchiemseer Entwurfs noch die Unzulässigkeit derartiger Anträge im Gesetzgebungsverfahren vor, vgl. Füsslein, in: JöR n.F. 1 (1951), 585 f. 2 « Füsslein, in: JöR n.F. 1 (1951), 586. 29 Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950, S. 28; H. Schneider, FS C. Schmitt, 1959, S. 170.

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kein aber auch eine Reihe bewährter, traditioneller Verfassungsbestimmungen. Insoweit enthält das Grundgesetz sowohl Elemente der kursändernden wie kurswahrenden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung. Das Motiv der Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung ist auch bei vielen Änderungen des Grundgesetzes zu spüren. Verfassungsänderungen beruhen zwar auf den unterschiedlichsten Motiven. Häufig soll die Verfassung aber geändert werden, weil sie sich in der Vergangenheit als Hemmnis für bestimmte politische Aktivitäten erwiesen hat. Bei einer (nach Art. 20 Abs. 3 GG) verfassungsgebundenen Gesetzgebung besteht sehr häufig die Notwendigkeit, erkannte verfassungsrechtliche Hemmnisse für ein konkretes Gesetzesvorhaben beiseitezuräumen. In der Regel waren dies in der Vergangenheit die Kompetenzmängel seitens des Bundes (z. B. bei Art. 74 Nr. 24 GG für die Umweltgesetzgebung) oder entgegenstehende Grundrechtsgewährleistungen (z. B. Art. 16 a GG - Asylgesetzgebung; Art. 13 GG n. F. - sog. Lauschangriff), die durch verfassungsändernde Kompetenzanreicherungen für den Bund oder durch Schaffung neuer Grundrechtsschranken ausgeräumt wurden. Der eigentliche politische Impuls ist hierbei der Wunsch nach einer gesetzlichen Regelung, die Verfassungsänderung folgt politisch (nicht rechtlich!) nur nach. Da der Wunsch nach entsprechenden Gesetzen selbst regelmäßig auf Lernerfahrungen beruht, stellen diese häufig kurskorrigierende, bisweilen auch kursändernde Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung dar. Die dafür erforderlichen Verfassungsänderungen sind dann mittelbare, gesetzesinduzierte Formen der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung.

IV. Verfassungen der DDR Da die DDR sich selbst als konsequent antifaschistischer Staat verstanden hat, ist die erste Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 maßgeblich auch als ,Aufarbeitungsverfassung" zu verstehen. Bereits der - später verpönte - Text der Nationalhymne von Becher 31 zeigt sowohl das retrospektive Element der Vergangenheitserfahrung „Auferstanden aus Ruinen" als auch das prospektive „und der Zukunft zugewandt" der Zukunftsbewältigung und kennzeichnet damit das Selbstverständnis der jungen DDR. Es gelte, so Polak, „nicht nur die Folgen der HitlerDiktatur zu überwinden", es gelte „weit darüber hinaus mit einer Tradition abzurechnen, die die Hitler-Diktatur mit all ihren ungeheuerlichen Folgen für uns möglich machte". 32

30 Der allgemeine Redaktionsausschuß des parlamentarischen Rates bestand ursprünglich aus den Abg. v. Brentano (CDU), Zinn (SPD) und Dehler (FDP). Für die CDU trat später v. Mangoldt ein; vgl. Matz, JöR n. F. 1 (1951), S. 10 f. 31 Singen - Kämpfen - Leben, Liederbuch der deutschen Jugend, 1950, S. 5. 32 K. Polak, Das Verfassungsproblem in der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands, 1950, S. 5.

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Dabei darf nicht übersehen werden, daß in der Realität der DDR das „Abkehrargument" auch eine gewichtige Rolle im außen- wie innenpolitischen Machtkampf spielte. Dabei lag es in der inneren Logik der diktatorischen Struktur der DDR, daß das Argument des Antifaschismus schließlich zu einem Kampfinstrument gegen jedwede Opposition gegenüber der SED wurde. Nach außen sollte den westlichen Ländern ein Vorbild gegeben werden. Vor allem sollte so den Verfassungsgebungsbestrebungen zum Grundgesetz insbesondere mangelnde Vergangenheitsbewältigung vorgeworfen werden. O. Grotewohl führte 1947 aus, die Kernfrage eines zukünftigen deutschen Verfassungsrechts, gleich wo man an seiner Ausgestaltung arbeite, habe die Überwindung der verhängnisvollen Staatstradition zu sein.33 Die Kursumkehr ist insoweit bestimmend für die erste Verfassung der DDR. Umgekehrt enthält die erste Verfassung der DDR auch bemerkenswerte Elemente der Kontinuität. Die Präambel etwa stimmt fast wörtlich mit jener der Weimarer Reichsverfassung überein. Spätestens mit der sogenannten Periode des „planmäßigen Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus"34, der seinen Abschluß in der Verfassung der DDR vom 26. März 196835 fand, war - verfassungsrechtlich - der Weg von der Aufarbeitung der Vergangenheit in eine neue Phase beschritten. Das Prinzip des demokratischen Zentralismus, die sozialistische Gesetzlichkeit, das gesellschaftliche System des Sozialismus und die längst durchgesetzte führende Rolle der SED wurden in dieser demokratie- und rechtsstaatsfremden Verfassung ebenso festgeschrieben wie die bereits frühzeitig erfolgte Beseitigung des Föderalismus. Da gerade auch eine Festschreibung des Erreichten gewollt war, spielt die Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung keine wesentliche Rolle mehr. Verfassungsrechtlich paßte die Verfassung von 1968 sich teilweise den Freiheitsverletzungen und -eleminierungen an, die im SED-Staat längst Realität geworden waren. Die Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit durch die Verfassung von 1949 - auch wenn sie wenigstens teilweise noch als Instrument der Machtsicherung der SED wirkte - hatte mit der Verfassung von 1968 im wesentlichen als Leitfigur ausgedient. W. Ulbricht erklärte zur zweiten DDR-Verfassung vor der Volkskammer 36, die Aufgabe der alten Verfassung der DDR sei die Säuberung und teilweise Zerschlagung des alten Staatsapparates und der Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Verwaltung gewesen. 1974 wurde die Verfassung nach offizieller Auffassung „präzisiert und vervollkommnet". 37 Das Motiv der 33

O. Grotewohl, Deutsche Verfassungspläne, 1947, S. 12 Vgl. G. Riege, in: Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hrsg.), StaatsR der DDR, 2. Aufl. 1984. 3 5 GBl. 1 1968, Nr. 7, S. 192. 34

36

Rede zur Ausarbeitung der Verfassung von 1968 am 1. 12. 1967, abgdr. bei Sorgenicht, u. a. (Hrsg.), Kommentar zur Verfassung der DDR, Bd. 1, Berlin 1969, S. 11 ff., 13. 37 W. Weichelt, in: Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR (Hrsg.), Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, 1980, S. 260.

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Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung trat naturgemäß nicht mehr neu auf, da ja gerade die Festschreibung des Erreichten bezweckt war. 38 Insoweit handelte es sich bei der zweiten DDR-Verfassung maßgeblich um die Variante einer kursbewahrenden Verfassungsgebung. Die sogenannten Errungenschaften der antifaschistisch-demokratischen und der sozialistischen Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung sollten für die Zukunft bewahrt werden. Die fortlaufende Vervollkommnung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus sollte durch die sozialistische Verfassung von 1968 ermöglicht werden. Die alte Verfassung, deren Geist freilich weitergeführt werden sollte, wurde eher als Hemmnis für die weitere Kurswahrung angesehen. Aufgrund ihrer schwachen Verbindlichkeit war der Kurs der Partei- und Staatsführung längst an ihr vorbeigegangen. Als sich nach der Maueröffnung am 9. November 1989 - einem politischen Ereignis, das - bei aller berechtigten Freude der Nation - ähnlich wie die 48er Revolution nur in seiner europäischen Dimension wirklich verstanden werden kann die politischen Ereignisse überschlugen, war auch die Verfassung der etablierten sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht mehr zu halten. Bereits am 1. Dezember 1989 wurde der Führungsanspruch der „Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" aus Art. 1 Abs. 1 der Verfassung von 1968 gestrichen. 39 Am 12. Januar 1990 wurde die ausländische Beteiligung an Unternehmen in der DDR gestattet40 und am 20. Februar 1990 wurden neue Wahlgrundsätze und die Möglichkeit eines zivilen Ersatzdienstes eingeführt. 41 Vom gleichen Tag stammt das neue Wahlgesetz für die Volkskammerwahl am 18. März 1990, deren Ausgang endgültig die Voraussetzungen für die Wiedererlangung der deutschen Einheit bringen sollte. Faktisch hatte die alte Ambiance der Verfassung der DDR weitgehend aufgehört zu existieren, auch wenn der Schritt der ausdrücklichen Abkehr erst in den fundamentalen Verfassungsänderungen vom 17. Juni 1990 vollzogen wurden. 42 Dort erst wurde die freiheitliche Grundordnung etabliert (Art. 1 Abs. 1) und die Aufhebung entgegenstehender Rechtsvorschriften angeordnet (Abs. 2), das Privateigentum und die wirtschaftliche Handlungsfreiheit sowie die Unabhängigkeit der Rechtsprechung (Art. 2, 3, 5) eingerichtet. Jede einzelne Vorschrift dieser Verfassungsreform - auch wenn sie sich selbst nur als ein Interregnum verstand ist zentral vom kursändernden Gedanken der Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung geprägt. Sie sind normierte Zeichen der rigorosen Abkehr von dem bis dahin wirksamen politischen System der DDR. Dabei darf gleichwohl nicht vergessen werden, daß die Wende juristisch keine Revolution war, die nicht zu einer Selbstbegründung politischer Legitimität führte, sondern den juristisch evolutionären Weg über Verfassungsänderungen ging. 38 Ebd. 39 GBl. I Nr. 25 v. 22. 12. 1989, S. 265. 40 GBl. I Nr. 4 v. 30. 1. 1990, S. 15. 41 GBl. I Nr. 9 v. 23. 2. 1990, S. 59 f. 42 GBl. I Nr. 33 v. 22. 6. 1990, S. 299 f.

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V. Verfassung im wiedervereinigten Deutschland 1. Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung nach der Wiedervereinigung Ist auch in der Verfassung des wiedervereinigten Deutschland der Gedanke der Zukunftsbewältigung aus Vergangeheitserfahrung spürbar? Wird der Verfassungsgeschichtler zukünftig insbesondere in dem novellierten Grundgesetz des Jahres 1994 den historischen Rahmen der Verfassung des demokratisch vereinten Deutschland wirklich ablesen können? M. a. W.: Wird man den Geist der Wende bis hin zur Wiedervereinigung aus dem Grundgesetz ablesen können wie man heute den verfassungspolitischen Aufbruch vor 150 Jahren noch immer in der Paulskirchenverfassung erkennen kann? Ging es dieser ersten großen deutschen Verfassung von Frankfurt um die Erlangung von Freiheit und Einheit, so stellte sich der Verfassung von Bonn für das wiedervereinigte Deutschland die kaum weniger bedeutsame Frage, wie immerhin vierzig Jahre Unfreiheit und Teilung im Osten Deutschlands durch die Verfassung verarbeitet werden konnten. Denn: Der Umbruch von 1989 in der DDR war wahrlich eine Wende. Es war der fulminante Beginn einer kursumsteuernden Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung vor allem gegenüber dem SED-Regime und den rechtsstaatswidrigen Zuständen in der DDR. Die Deutschen im Osten wie im Westen Deutschlands waren und sind sich - trotz mancher DDR-Nostalgie in den neuen Ländern - wohl immer noch in ihrer überwiegenden Mehrheit darüber einig, daß sich ein totalitäres Regime wie in der DDR nicht wiederholen darf. So war die historische Aufgabe eines erneuerten Grundgesetzes nach der Wiedervereinigung die Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrungen in der DDR. Dieser Aufgabe ist die gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat und schließlich der Bundesgesetzgeber ganz überwiegend nicht gerecht geworden. 43 Im wesentlichen haben sich die politischen Institutionen lediglich zu solchen Verfassungsänderungen durchringen können, die bereits in der alten Bundesrepublik Deutschland schon vor der Wiedervereinigung grundsätzlich diskutiert worden sind, wie z. B. die Staatszielbestimmung Umweltschutz (Art. 20a GG). Wirklich wiedervereinigungsbedingt sind von der Verfassungskommission als neue Inhalte im wesentlichen nur (im Hinblick vor allem auf die Sorben) die Bestimmung zum Schutz ethnischer, kultureller und sprachlicher Minderheiten (Art. 20b GG) sowie zum Verfahren einer möglichen (vorerst aber wohl in weite Ferne gerückten) Vereinigung von Berlin und Brandenburg (Art. 118a GG) vorgeschlagen worden. Art. 20b GG scheiterte im parlamentarischen, Art. 118a GG im politischen Leben. Den zentralen Auftrag von Art. 5 des Einigungsvertrages, sich mit den „im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes" zu befassen (und wohl auch zu 43

Vgl. Kloepfer, Verfassungsänderung statt Verfassungsreform. Zur Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, 1995, S. 136 ff.

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lösen), haben die Gemeinsame Verfassungskommission, aber auch der Bundesgesetzgeber im wesentlichen verfehlt. Die Folgen werden noch lange zu spüren sein. Um nicht mißverstanden zu werden: Es ging - entgegen mancher revisionistischer Sehnsucht in der PDS und anderswo - nicht um die Konstitutionalisierung von sog. Errungenschaften der DDR, sondern umgekehrt um die Verarbeitung von Unrechtserfahrungen in der DDR. Nie wieder ein freiheitsfeindliches Regime wie in der DDR - das hätte nach der Wende inhaltlich in die Verfassung (etwa in die Präambel) aufgenommen werden oder wenigstens als erkennbares Fundament darauf bauender Verfassungsänderungen dienen müssen. Das wäre gerade in seiner Abgrenzung vom totalitären Sozialismus eine inhaltliche Einheitsbildung durch Verfassung gewesen. Die Erfahrungen mit dem Unrecht in der DDR (z. B. Reiseverbote, Stasi) hätten es nahegelegt, etwa die Reisefreiheit oder den Datenschutz ausdrücklich in der Verfassung zu verankern und z. B. die verfassungsrechtlichen Grenzen geheimdienstlicher Tätigkeit mehr zu konturieren. Eine Zukunftsbewältigung durch Vergangenheitserfahrung, wie sie in der deutschen Verfassungsgeschichte immer wieder erkennbar wird, findet durch das reformierte Grundgesetz von 1994 nur äußerst rudimentär statt. Die gewollte und erfolgreich begonnene Kursumsteuerung in der Nach-Wende-DDR fand ihren Abschluß in der Bundesrepublik Deutschland und ihrer selbstgewissen Position einer grundsätzliche Kursbewahrung. Während die Bewohner der neuen Länder Treibende, aber auch Getriebene einer gewaltigen Kursumkehr waren, blieben die Vertreter der alten Bundesrepublik bei ihrem bisherigen Kurs und waren selbst zu begrenzten Kurskorrekturen kaum bereit. Kursumkehr im Osten, Kursbewahrung im Westen - hier liegt eine entscheidende Ursache für die Schwierigkeiten bei der Erstellung der inneren Einheit im wiedervereinigten Deutschland. Der Wunsch einiger meinungsbildender Kreise in der DDR und mancher ihrer vor allem „linken" - Sympathisanten in der Bundesrepublik nach einer gesamtdeutschen Verfassungsneuschöpfung im Sinne des hierauf zugeschnittenen Art. 146 GG a.F. blieb unerfüllt. Stattdessen wählte man bekanntlich den - aus außenpolitischen Gründen höchstwahrscheinlich einzig realistischen - „schnellen" Weg über den Beitritt nach Art. 23 GG a.F. und begnügte sich mit der juristisch relativ unverbindlichen Option des Art. 5 EV der Beratungsempfehlung an die gesetzgebenden Körperschaften zu künftigen Verfassungsänderungen. Diese Vorschrift des Einigungsvertrages stellte zumindest die Einräumung einer Chance dar, inhaltlich die prinzipielle Position des Festhaltens am Grundgesetz durch eine Option zu Kurskorrekturen bezüglich der einigungsbedingten Verfassungsfragen zu flexibilisieren. Daß diese Chance ganz überwiegend nicht genutzt wurde, wiegt schwer. Konnte sich in der Paulskirchenverfassung die meisten Bewohner des deutschen Bundes wiederfinden, versuchte diese Verfassung damit zumindest ihren integrativen Auftrag einzulösen, so spiegelt das reformierte Grundgesetz die leidvollen Erfahrungen der ehemaligen DDR-Bewohner nicht wider und dürfte daher insoweit nur

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recht schwache Leistungen für die innere Einheit entfalten. Eine Verfassungsreform, welche die Unrechtserfahrungen in der DDR erkennbar aufgearbeitet hätte, wäre eine Chance zu mehr Integration im wiedervereinigten Deutschland gewesen. Ein weiteres kommt hinzu: Klare Aussagen zum Unrecht in der DDR hätten einer politischen DDR-Nostalgie frühzeitig ihre verfassungsrechtlichen Schranken und ihre verfassungspolitische Illegitimität gezeigt.

2. Grundgesetz zwischen Bewährung und Wiedervereinigung Eines der entscheidenden fachlichen Argumente insbesondere in der westdeutschen Staatsrechtswissenschaft für die Position der Kursbeibehaltung war dabei die immer wieder beschworene grundsätzliche Bewährtheit des Grundgesetzes. Richtig daran ist, daß aus dem Grundgesetz als provisorischer westdeutscher Verfassung von 1949 nach vielen Verfassungsänderungen und nach einer imponierenden Entfaltung der Einzelgehalte der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht und durch die deutsche Staatsrechtswissenschaft wahrscheinlich - gemessen an ihrer normativen und gerechtigkeitsstiftenden Kraft - die bisher erfolgreichste Verfassung der deutschen Geschichte geworden ist. Aber nichts ist so gut, daß es nicht noch verbessert werden könnte. In der ewigen Meisterschaft aller deutscher Verfassungen wird über die Meisterschaft immer wieder neu entschieden - aber über den Abstieg auch. Anders ausgedrückt: Um die Meisterschaft muß immer wieder neu gerungen werden. Insbesondere sollte nicht vergessen werden, daß das Grundgesetz auch heute noch eine Reihe zentraler verfassungsrechtlicher Schwachstellen enthält, über die vor 1989 auch relative Einmütigkeit unter den westdeutschen Staatsrechtslehrern bestand. Gedacht sei etwa an den Schrankenwirrwarr des Grundrechtsteils oder an die konzeptionelle Unverbundenheit der klassischen Elemente einer repräsentativen Demokratie einerseits und der Parteienstaatlichkeit andererseits. Mit Sicherheit hat es die Verfassungskommission nicht vermocht, die wesentlichen Teile des grundgesetzlichen Reformbedarfs in entsprechenden Formulierungsvorschlägen abzuarbeiten. Dies zeigen nicht nur die erfolgten, z. T. weitgehenden Verfassungsänderungen nach 1994, sondern auch die zahlreichen Vorschläge für weitere Verfassungsänderungen bis hin zu der 1998 vom Bayerischen Ministerpräsidenten geäußerten - sehr weitgehenden - Idee der Einberufung eines neuen Verfasungskonvents. Im übrigen darf auch die kursbewahrende Argumentation, es bedürfe keiner Totalrevision des Grundgesetzes, weil sich dieses bewährt habe 44 , eines nicht verkennen: Das Grundgesetz ist bereits heute - trotz seiner relativ geringen Änderungen im Verfassungstext - nach der Wiedervereinigung faktisch eine nicht uner44

S.5.

Scholz, 1. Sitzung d. Gemeinsamen Verfassungskommission v. 16. 1. 1992, Sten. Ber.

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heblich gewandelte Verfassung geworden. Die stark veränderte Ambiance nach der deutschen Vereinigung, die neuen sozialen Fragen der Transformation und insbesondere der (durch Erfüllung erfolgte) Verlust der alten Staatsräson (Wiedervereinigung in Freiheit) verändert das Grundgesetz auch ohne Antasten des Verfassungstextes in essentieller Weise. Das wird z. B. besonders deutlich an der Öffnung des Grundgesetzes für seine eigene Ablösung durch eine neue Verfassung in Art. 146 GG. War diese Bestimmung vor dem Einigungsvertrag an die Wiedervereinigung gebunden und deshalb viele lange Jahrzehnte vor allem wegen der außenpolitischen Verhinderungslage bezüglich der Wiedervereinigung praktisch unanwendbar gewesen, so ist Art. 146 GG nach der Wiedervereinigung nun ohne den Anlaß der Wiedervereinigung in sich jederzeit anwendbar mit entsprechenden potentiell verfassungsdestabilisierenden Effekten in Deutschland. Die weitere Verdichtung der europäischen Integration wird freilich die Bedeutung aller dieser Fragen relativieren. Bei näherer Betrachtung werden sich viele der erörterten Fragen schon in mittlerer Zukunft auf die Höhe der Europäischen Verfassung verlagern. Diese wird sich allerdings auch als Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung in den einzelnen Mitgliedstaaten darstellen müssen, will sie als Gemeinschaftsverfassung erfolgreich sein.

VI. Konsequenzen und Schlußbetrachtungen 1. Allgemeines Die Paulskirchenverfassung von 1849 stellte trotz ausländischer Vorbilder und den vor allem in Süddeutschland bereits okroyierten Verfassungen so etwas wie einen verfassungspolitischer Neuanfang dar und wollte mit der Vergangenheit, insbesondere mit Unfreiheit und Kleinstaaterei brechen. In manchen Teilregelungen wie dem Minderheitenschutz war sie ihrer Zeit sogar weit voraus. Und doch mußte sie an ihrem eigenen Anspruch, für das „ganze Deutschland" wirksam zu werden, letztlich scheitern. Folgende Verfassungen - wie die Reichsverfassung 1871 im Bestreben der Sicherung der Einheit oder die Weimarer Reichsverfassung 1919 in der Stärkung der Grundrechte - haben in weiten Teilen hierauf aufgebaut und in kursumsteuernder sowie kurswahrender Weise Vergangenheitserfahrungen für Zukunftsbewältigungen fruchtbar gemacht.

2. Paulskirchenverfassung

und Grundgesetz

Auch und gerade das Grundgesetz steht in der Tradition der Paulskirchenverfassung. Trotz vieler nahezu textgleicher Stellen beider Verfassungen muß allerdings vor vorschnellen Parallelisierungen gewarnt werden. Vergleiche zwischen Paulskirchenverfassung und Grundgesetz haben ohnehin naturgemäß etwas Unrealistisches, weil ein bloß papieren gebliebener Verfassungstext mit einer real geltenden 24 FS Leisner

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und in vielen Jahrzehnten fortentwickelten Verfassung verglichen wird. Die Paulskirchenverfassung lebt gerade in den Feiern der Gegenwart von der Faszination des Unwirklichen, wo das Grundgesetz im Tal der Mühen der Realität und der von ihr erzwungenen Kompromisse existieren muß. Vorschnellen Gleichsetzungen von Paulskirchenverfassung und Grundgesetz stehen elementare Unterschiede in den Verfassungsinhalten entgegen (z. B. im Hinblick auf Demokratie und Sozialstaat) oder hinsichtlich des Gegensatzes von Monarchie und Republik und vor allem völlig andere soziale, wirtschaftliche, technische, ökologische, kulturelle und politische Umwelten. Ist für die Paulskirchenverfassung der unbegrenzte Glaube an die Nation typisch, so ist für das Grundgesetz nach dem zweiten verlorenen Weltkrieg und den Greueln der Nazizeit eher der Zweifel an der Nation kennzeichnend. Die der französischen Marianne nachempfundene Kunstfigur der Germania schien vielen 1949 noch immer auf schlimme Weise entstellt. Die unterschiedliche Haltung zur Nation führt wohl auch dazu, daß sich die Paulskirchenverfassung an Deutschen-Rechten, d. h. den Deutschen vorbehaltenen Rechten orientiert, während das Grundgesetz sich stärker auch dem Gedanken der Menschenrechte (und zunehmend auch den Gedanken der Gemeinschafts-Bürgerrechte in der EU) öffnet. War der Glaube an die Verfassung selbst 1849 (noch) ungebrochen, so ist das Grundgesetz entscheidend von der Einsicht geprägt, daß eine Verfassung als solche Unfreiheit, Diktatur und Rechtlosigkeit nicht wirklich verhindern kann. Enorme Unterschiede im sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bereich (ursprünglich deutsche Teilung sowie Europäisierung von Herrschaft) kommen hinzu. Diese Unterschiede sind so gewaltig, daß die Frage nach wirklicher historischer Vergleichbarkeit beider Verfassungen aufkommt.

3. Über die Vermittlung

historischer Erfahrungen

Obwohl die Weitergabe historischer Erfahrungen ein Stück geistiger Nachweltverantwortung zwischen den Generationen wahrnimmt, stellt sich die Frage, ob und inwieweit überhaupt geschichtliche Erfahrungen wirklich weitergegeben werden können. Geschichte kann faszinierend sein. Noch interessanter als die Geschichte selbst ist aber die Geschichte der Geschichte, d. h. die Wahrnehmung und Weitergabe von Geschichte. Denn in der Art, wie in einer Zeit ein bestimmter Abschnitt der Geschichte wahrgenommen, geschildert und bewertet wird, erfahren wir nicht nur etwas von Geschichte selbst, sondern vor allem auch über die Rezeptionszeit und die ihr zugrundeliegenden Bewertungen. Wenn wir Stellung zu Geschichte beziehen, geben wir auch unsere Position in der Zeit kund. Dies mag exemplifiziert werden an den Jubiläumsfeiern zu 1848: War die 50Jahresfeier 1898 vor allem ein Jubiläum für die politische Opposition, so sind die Hundertjahrfeiern 1948 geprägt von dem mit aller Schärfe einsetzenden Kalten

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Krieg. Und 1998 hat sich erneut der Wind gedreht: Alle politischen Kräfte scheinen 1848 zu lieben. Für letzteres lassen sich etwa fünf Gründe nennen: Als erster Grund mag der Umstand genannt werden, daß die Vorgänge 1848/49 so vielgestaltig waren, daß die unterschiedlichsten politischen Kräfte jeweils ihren Aspekt der Vorgänge finden. Zum zweiten ist die historische Distanz unterdessen so groß, daß aus der Feier von allen Revolutionen keine revolutionäre Energie mehr erwächst. Ein dritter Aspekt kommt hinzu: Nach dem Wiederaufbau und der Wiedervereinigung ist die Bundesrepublik Deutschland auf der Suche nach einer neuen Staatsräson, einer Staatsräson, die nicht mit dem Wort „Wieder ..." anfangen kann. Damit hängt ein viertes zusammen. Über 50 Jahre nach Kriegsende, Wiederaufbau und nach der Wiedervereinigung scheint die antitotalitäre Haltung als Sinnstiftung des politischen Lebens in Nachkriegsdeutschland als Raison des deutschen politischen Gemeinwesens nicht mehr ausreichend sein. Das diffuse Verhältnis wichtiger politischer Kräfte zur PDS und das Vorrücken rechtsextremistischer Parteien im Inland, vor allem aber im europäischen Ausland zeigen, wie brüchig die so oft beschworene Gemeinsamkeit aller Demokraten geworden ist bzw. zu werden droht. In solchen Zeiten verlegt man die Gemeinsamkeit gerne in die Vergangenheit. Und schließlich istfiinftens nicht verwunderlich, daß die ritualhafte - gerade im politischen Bereich so oft praktizierte - Beschwörung von Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte nach jahrzehntelangen Kellergängen nun - zugleich beflügelt durch die Wiedervereinigung - auch nach den Höhen der deutschen Geschichte fragt.

4. „Erfüllung " der Paulskirchenverfassung

durch das Grundgesetz?

Auf dieser Suche nach historischen Höhen wird auch den gescheiterten Revolutionen von 1848 und aus der niemals wirksam gewordenen Paulskirchenverfassung im Nachhinein schnell eine Erfolgsstory: 1848 und erst recht die Paulskirchenverfassung sollen in und mit der Bundesrepublik Deutschland in Erfüllung gegangen sein. Nun ja. In einem weiteren Sinne ist Geschichte stets eine zeitlich gegliederte Kausalkette zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Die Gegenwart muß stets auf den Sedimenten der Vergangenheit bauen. In diesem Sinne hat 1848 gewiß auch noch Wirkungen in der Gegenwart. Darüber hinaus ist - wie erwähnt gewiß richtig, daß im Grundgesetz viele Gehalte der Paulskirchenverfassung auftauchen. Bemerkenswert ist insbesondere die Betonung der Presse- und Versammlungsfreiheit. Allerdings sind hinsichtlich der rechtstaatlichen und grundrechtlichen Gehalte des Grundgesetzes jedenfalls die entscheidenden Impulse doch weniger in der Paulskirchenverfassung selbst als vielmehr in der insoweit auch diese prägenden französischen Revolution zu sehen. Anderes gilt für die föderalistischen Strukturen der Paulskirchen Verfassung. Allerdings ist hier - gerade unter geschichtlichen Aspekten - zu bedenken, daß 1849 die föderalistischen Strukturen zur Erstellung staatlicher Einheit, diese Strukturen 1949 aber zur Dezentralisierung des Staates dienten. Angesichts der jahrzehntelangen Erosion föderalistischer 2*

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Michael Kloepfer

Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland mag insoweit eine Rückbesinnung auf die Paulskirchenverfassung doch sehr hilfreich sein.

5. Erfolg und Erfolglosigkeit

in der Geschichte

Mit der Beschwörung des Einflusses der Paulskirchenverfassung auf das Grundgesetz im Sinne ihres geistigen Einflusses wird deutlich, wie problematisch es ist, historische Ereignisse als Erfolge oder Mißerfolge zu bewerten. Vieles ist hier eine Frage der Dimension und vor allem des betrachteten Zeitraums. Schien die Russische Revolution lange Zeit der Inbegriff einer politischen Stabilität begründenden Revolution zu sein, so sehen wir dies spätestens seit 1989 anders. Und war etwa der Gewinn des 2. Weltkrieges durch Großbritannien wirklich ein Erfolg, obwohl damit dessen Weltmachtrolle verlorenging? Umgekehrtes mag heute für die zunächst scheinbar erfolglosen Ereignisse 1848/49 gelten. Und wie ist das mit dem Grundgesetz, das - wie erwähnt - häufig (und bisher zu Recht) - als erfolgreichste deutsche Verfassung in der Geschichte bezeichnet wird? Nach 1990 - aber vor allem nach der begrenzten Verfassungsänderung von 1994 stellt sich die Frage, ob der Erfolg des Grundgesetzes auch im Zeitraum der Erringung der inneren Einheit erhalten bleiben wird. Eine Verfassung, welche die Erfahrungen mit jahrzehntelangem Unrecht in der DDR für ihre Aufgabe der Zukunftsbewältigung zu entsprechenden Neugestaltungen nicht nutzte, hat jedenfalls eine große Chance der Erneuerung und der Integration vertan. Mit den Verfassungsänderungen in Form des Fortfalls der wiedervereinigungsbezogenen Artikel und der Feststellung der Völlendung der Einheit Deutschlands in der Präambel - die den Prozeß der inneren Einheit so augenfällig mißachtet - ist es gewiß nicht getan. Die Erstellung der inneren Einheit bleibt verbindlicher Verfassungsauftrag. Zwar ist dies nicht ausdrücklich dem Text des Grundgesetzes zu entnehmen, so aber doch dem Sinn der Verfassung eines formell wiedervereinigten Landes. Juristisch kann die Erstellung und Wahrung der inneren Einheit des Landes auch als Verfassungserfüllung gesehen werden. Einheitsbildung durch Verfassung, das ist die Botschaft der Paulskirchenverfassung auch heute und in der Zukunft.

Vorbehalt der Verfassung Das Grundgesetz als abschließende und als offene Norm Von Josef Isensee

I. Vom Vorbehalt des Gesetzes zum Vorbehalt der Verfassung? 1. Drei Normstufen: Verwaltungsnormen - Gesetz - Verfassung In der Lehre des Verwaltungsrechts bildet der Vorrang des Gesetzes ein Gespann mit dem Vorbehalt des Gesetzes.1 Der Vorrang bedeutet, daß im Falle der Kollision des (Parlaments-)Gesetzes mit untergesetzlichen Normen diese weichen, der Vorbehalt dagegen, daß die Verwaltung auf das Gesetz angewiesen ist, wenn sie Maßnahmen bestimmter Art tätigen will. Dort wirkt das Gesetz als Grenze, hier als Grundlage der Verwaltung. Das eine Prinzip gebietet ihr, nicht gegen das Gesetz, das zweite, nicht ohne Gesetz zu handeln. In der klassischen Deutung Otto Mayers bedeutet der Vorrang: „der in Form des Gesetzes geäußerte Staatswille geht rechtlich jeder anderen staatlichen Willensäußerung vor; das Gesetz kann nur wieder durch Gesetz aufgehoben werden, hebt aber seinerseits alles auf oder läßt gar nicht erst wirksam werden, was ihm widerspräche." 2 Die Verwaltung unterliegt in ihrer gesamten Tätigkeit dem Vorrang, nicht aber dem Vorbehalt des Gesetzes. Nach Otto Mayer ist das verfassungsmäßige Gesetz „nur für gewisse besonders wichtige Gegenstände aller Staatstätigkeit" gemacht worden. , f ü r alle übrigen ist die vollziehende Gewalt an sich frei; sie wirkt aus eigener Kraft, nicht auf Grund des Gesetzes."3 Die hergebrachte Eigenständigkeit der Verwaltung geht jedoch unter der Einwirkung des Grundgesetzes zunehmend über in umfassende Abhängigkeit vom Gesetz. Das rechtsstaatliche wie das demokratische Prinzip wirken darauf hin, daß die Verwaltung zunehmend angewiesen ist auf gesetzliche Vorgaben und daß diese 1

Zum Stand der Lehre Fritz Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Bd. III, 21998, § 62 Rn. 1 ff., 7 ff. Europarechtliche Perspektive: Thomas von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, S. 64 ff., 204 ff., 220 ff. 2

Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Bd., 31924, S. 68. 3 Mayer (N 2), S. 69.

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Josef Isensee

immer dichter ausfallen. Der Vorbehalt wächst über sein genuines Feld, den Eingriff in Freiheit und Eigentum, hinaus auf alles „Wesentliche", und da kein verläßliches Kriterium das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden vermag, neigt er dazu, aller dogmatischen Protestationen zum Trotz, sich auszuwachsen zum Totalvorbehalt.4 Im Rechtssystem des Grundgesetzes setzt sich der Vorrang des Gesetzes fort im Vorrang der Verfassung. In diesem erhöht sich der Stufenbau der Rechtsordnung um eine weitere Ebene und findet so seine Vollendung. Keine Norm darf der Verfassung widersprechen. Im Kollisionsfall geht die Verfassung vor. Die abweichende Norm ist in der Regel nichtig. Freilich ist der Vorrang kein Wesensmerkmal der Verfassung schlechthin. Im historischen Vergleich erscheint er alles andere als selbstverständlich.5 Gleichwohl liegt er in der Logik der Verfassung als Rechtsgesetz. Das Grundgesetz, das auf volle rechtliche Wirksamkeit ausgeht, führt den Vorrang zu letzter Konsequenz, indem es die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung bindet und die Staatsgewalt in allen ihren Funktionen auf die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht verpflichtet, indem es die Gesetze der Normenkontrolle des Verfassungsgerichts unterstellt und indem es die Verfassungsänderung durch formelle wie materielle Vorkehrungen erschwert und so von der normalen Gesetzgebung scheidet.6 Der Vorrang ist damit allerdings nur als Anspruch der Verfassung inauguriert. Seine Verwirklichung stößt auf das Dilemma, das Walter Leisner aufgedeckt hat: daß die höchste Norm der Rechtsordnung die abstrakteste und wortkargste ist und daß ihre Interpreten dazu neigen, sie inhaltlich aufzufüllen aus der Substanz des einfachen Rechts, dessen Maßstab sie doch sein soll, so daß die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze umschlagen kann in die Gesetzmäßigkeit der Verfassung. 7 Der Zirkel des Vorrangs der Verfassung und ihrer inhaltlichen Abhängigkeit vom Gesetz tritt besonders deutlich zutage im Grundrecht des Eigentums, das den Gesetzgeber bindet, zugleich aber Inhalt wie Schranken durch eben diesen Gesetzgeber erhält. Dennoch steht außer Zweifel, daß der Gel4 Dazu Ossenbühl (N 1), § 62 Rn. 17 ff., 41 ff., 51 ff. 5

Historische Genese und Dogmatik des Vorrangs der Verfassung: Ulrich Scheuner , Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts (1973), in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, Gesammelte Schriften, 1978, S. 633 ff. (642 f., 651, 653); ders. y Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und im 20. Jahrhundert, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, hg. von Christian Starck, 1. Bd., 1976, S. 1 (40); Rainer Wahl , Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff.; ders ., Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: HStR Bd. I, 2 1995, § 1 Rn. 35 ff.; ders ., Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, in: NVwZ 1984, S. 401 ff.; Hasso Hofmann , Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht - Politik - Verfassung, 1986, S. 261 (286 ff.); Christian Starck , Die Verfassungsauslegung, in: HStR Bd. VII, 1992, § 164 Rn. 9 ff. 6 Dazu Walter Leisner , Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964, S. 6. 7 Walter Leisner , Die Gesetzmäßigkeit der Verfassung (1964), in: ders., Staat, 1994, S. 276 ff.; ders. (N 6), S.6ff.

Vorbehalt der Verfassung

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tungsanspruch sich nicht in diesem Zirkel verfangen und an dem Dilemma zunichte werden darf. 8 Die Frage liegt nahe, ob nicht auch der Vorbehalt des Gesetzes ein Analogon auf Verfassungsebene findet und der Vorrang der Verfassung ergänzt wird durch den Vorbehalt der Verfassung, so daß diese nicht nur als Schranke der Legislative fungiert, sondern auch als deren Grundlage.9 Die Antwort verheißt Aufschlüsse über den Geltungsanspruch der Verfassung und ihre thematische Reichweite sowie über die Stellung der Legislative im Verfassungsstaat. Eine Vorbemerkung zur Terminologie: Im Folgenden werden die Bezeichnungen Vorbehalt der Verfassung und Verfassungsvorbehalt synonym verwendet, wie es dem Sprachgebrauch der Literatur entspricht. Heute hat sich auch die semantische Unterscheidung zwischen dem (genuin objektivrechtlichen) Vorbehalt des Gesetzes und dem (genuin grundrechtlichen) Gesetzesvorbehalt abgeschliffen. Darin liegt allerdings eine Einbuße an terminologischer Klarheit, die aus dem Kontext heraus ausgeglichen werden muß.

2. Aufbrechen des Fundamentaldissenses Wehrbeitrag ohne oder nur mit Verfassungsergänzung? In der Frühzeit der Bundesrepublik gewann die Frage unversehens Aktualität im Kampf um den Wehrbeitrag vor dem Bundesverfassungsgericht, darüber, ob Legislative und Exekutive ohne ausdrückliche Ermächtigung durch das Grundgesetz befugt seien, Streitkräfte aufzubauen, oder ob es dazu der förmlichen Ergänzung des Grundgesetzes bedürfe. Das Grundgesetz enthielt keine ausdrückliche Regelung der Frage. In seiner ursprünglichen Fassung von 1949 bildet die Wehrhoheit kein Thema. Das eine Lager folgerte aus der Nichtregelung auf ein Verbot durch die Verfassung und stellte so die Aufrüstung unter Verfassungsvorbehalt. „Der Höherwertigkeit des Grundgesetzes im Verhältnis zum einfachen Bundesrecht muß ein Vorbehalt entsprechen, ebenso wie es den Vorbehalt des Gesetzes im Verhältnis zur Verwaltungsanordnung und zur Verordnung gibt. Und dieser Vorbehalt des Grundgesetzes als der provisorischen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland kann sich nur auf die grundlegenden politischen Entscheidungen beziehen. Er muß sich jedenfalls auf die politischen Entscheidungen von weittragender und schicksalhafter Bedeutung, zu denen vor allem die Entscheidung über die Konstituierung der 8 Den Weg der Auflösung des Eigentumsdilemmas weist Walter Leisner: Eigentum, in: HStR Bd. VI, 1989, § 149 Rn. 54ff., 72ff.; ders., Eigentumswende (1983), in: ders., Eigentum, 21998, S. 520 (526ff.); ders., Eigentum in engen Rechtsschranken des Umweltschutzes (1993), ebd., S. 414 (421 ff.). Siehe auch ders., Sozialbindung des Eigentums, 1972, S. 54f.; ders., Der Abwägungsstaat, 1997, S. 20f. Generell zur Lösung der Aporie „Verfassung nach Gesetz": Leisner (N 6), S. 63 ff.; ders. (N 7), S. 288 f. 9 „Der Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes kehrt auf der Ebene der Legislative wieder als Vorrang und Vorbehalt der Verfassung", so Karl August Bettermann, Der totale Rechtsstaat, 1986, S. 11.

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Josef Isensee

Wehrhoheit bei den heutigen Gegebenheiten gehört, erstrecken." 10 Nach deutscher Verfassungstradition könne allein im urkundlichen Verfassungsrecht gültig entschieden werden, ob es eine bewaffnete Streitmacht geben solle, wer über sie den Befehl habe, wie und in welchen Grenzen der Befehl auszuüben sei und welche Veränderungen in der grundrechtlichen Stellung der Waffenträger einträten. 11 Als Vollverfassung enthalte das Grundgesetz eine abgeschlossene und ausbalancierte Normierung und sei insofern lückenlos. Aus einem solchen System könne weder ein Teil herausgebrochen noch von ihm ferngehalten werden. Die Einführung einer Armee reiche in diese Verfassungssphäre hinein und mache eine Ergänzung des Grundgesetzes notwendig.12 Das gleiche Ergebnis, das sich aus dem Wesen des Grundgesetzes als Vollverfassung ergeben soll, wird aus seinem situationsbedingten Charakter als provisorische Regelung deduziert, daß er ein Verfassungstypus sei, „der für die individuelle, ganz besondere Lage eines bestimmten Staates gelten will - hier für die einzigartige, einmalige, vorübergehende Lage dieses Staatsfragments, mit seinem Gefälle hin zur Vereinigung mit der Ostzone. Für diesen Typus bedeutet ganz besonders jede Änderung, zum Beispiel jede Zuordnung eines neuen Bestandteils eine Wesensänderung der Verfassung selbst, die ja gerade für diesen einmalig gegebenen Bestand geschaffen ist". 1 3 Die Bundesrepublik ändere mit der Wehrhoheit ihr Wesen und müsse dafür zunächst durch Verfassungsänderung die Voraussetzungen schaffen. 14 Die prototypische Gegenposition: „Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß ein Staat durch Gesetz alles regeln kann, was nach seiner Ansicht einer Regelung bedarf. Bei Staaten ohne geschriebene Verfassung, wie Großbritannien, leuchtet dies ohne weiteres ein, aber auch bei Staaten mit geschriebener Verfassung ist der Gesetzgeber frei, soweit nicht die Verfassung im Wege steht." 15 Diese Prämisse läßt keinen Raum für einen Verfassungsvorbehalt. Daß ein solcher gerade für die Wehrhoheit nicht in Betracht komme - diese These stützt sich auf mehrere Gründe. Das Recht der Selbstverteidigung der Individuen und der Staaten habe so hohen Rang und so hohe Würde, daß es der Festlegung im Verfassungstext nicht bedürfe. Das Grundgesetz setze dieses Recht in einzelnen Bestimmungen erkennbar voraus. 16 10 Stellungnahme des Niedersächsischen Ministerpräsidenten vom 6. Juni 1952, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Veröffentlichungen des Instituts für Staatslehre und Politik e.V. in Mainz, Bd. 2/1. Hbd., 1952, S. 102 (115). 11 Adolf Arndt/Bernhard Reismann , Antragsschrift der Feststellungsklage von 144 Bundestagsabgeordneten vom 31. Januar 1952, in: Kampf (N 10), Bd. 2/1. Hbd., 1952 S. 3 (11). 12 Eberhard Menzel , Gutachten über die Notwendigkeit eines verfassungsändernden Gesetzes zur Einrichtung deutscher bewaffneter Streitkräfte im Rahmen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, in: Kampf (N 10), Bd. 2/1. Hbd., 1952, S. 280 (302ff., 305 ff.). Ähnlich Ernst Forsthoff, Gutachten, in: Kampf (N 10), Bd. 2/2. Hbd., 1953, S. 312 (319ff.); Friedrich Klein , Gutachten nebst ergänzender Äußerung, in: Kampf (N 10), ebd., S. 456 (482 ff.). 13 Rudolf Smend, Gutachten, in: Kampf (N 10), Bd. 2/1. Hbd., 1952, S. 148 (152). 14 Smend (N 13), S. 153. 15 Walter Jellinek, Grundgesetz und Wehrmacht, in: DÖV 1951, S. 541.

Vorbehalt der Verfassung

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Die Regelung der Wehrfrage füge sich in die Grundentscheidungen des Grundgesetzes ein, zumal in die Gewaltenteilung, und taste diese nicht an. 17 Der Glaube, daß die geschriebenen Verfassungen erschöpfende Kodifikationen des Verfassungsrechts der Staaten sein könnten, sei irrig. Aus der grundsätzlichen Bedeutung einer Regelung könne nicht auf das Erfordernis einer verfassungsrechtlichen Grundlage geschlossen werden. 18 Die Verfassung nehme am Leben des Staatswesens teil, sie wachse mit ihm; sie müsse „bei Erhaltung ihrer normativen Grundidee und Grundprinzipien auch der sich wandelnden Zeit und der sich erweiternden Erfüllung eines Staates folgen". 19

3. Verfassungsvorbehalt

als Argumentationstopos

Der Verfassungsstreit um den Wehrbeitrag erledigte sich, ohne daß das Bundesverfassungsgericht in der Sache entschied. Aber die Grundpositionen für und wider den Vorbehalt der Verfassung, die sich in diesem Streit kristallisierten, haben überdauert und wirken weiter, 20 freilich zumeist unterschwellig, als Argument in der Diskussion konkreter Probleme. Selten tritt der Gegensatz offen zutage, selten erhebt er sich zu dogmatischer Grundsätzlichkeit. Anlaß dazu gibt die Lehre der Staatsaufgaben. Diese sollen notwendiger Bestandteil des Verfassungsgesetzes sein.21 Dem Vorbehalt des Gesetzes als Bedingung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sei der „Vorbehalt der Verfassung" vorgeschaltet; von ihm hänge die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns in einem vorrangigen Sinne ab. 22 Nach dem gleichen Muster werden die Formen des staatlichen Handelns bestimmt; das Grundgesetz schaffe einen Kanon der Rechtsquellen23 und einen der Abgaben16 Erich Kaufmann , Gutachten, in: Kampf (N 10), Bd. 2/2. Hbd., 1953, S. 42 (45ff.). Ähnlich Ulrich Scheuner , Gutachten, ebd., S. 95 (124 ff.); Werner Weber , Gutachten, ebd., S. 177 (178 ff.). 17 Scheuner(N 16), S. 112 ff. 18 Hermann von Mangoldt , Gutachten, in: Kampf (N 10), Bd. 2/2. Hbd., 1953, S. 72 (74). 19 Scheuner(N 16), S. 101. 20

Die Fundamentalkontroverse wurde gleichsam postum fortgesetzt durch Wolfgang Martens, der staatliches Handeln an eine Grundlage in der Verfassung bindet (Grundgesetz und Wehrverfassung, 1961, S. 82), sowie durch Albert Bleckmann , der die Geltung eines Verfassungsvorbehalts grundsätzlich ablehnt (Der Verfassungsvorbehalt, in: JR 1978, S. 221 ff.). 21

Hans Peter Bull , Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, Taschenbuchausgabe der 2. Aufl., 1977, S. 114 f. 22 Bull (N 21), S. 116. 23 Udo di Fabio , Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1993, S. 366 („numerus clausus der allgemein-verbindlichen Rechtsquellen" kraft Art. 80 GG); Fritz Ossenbühl , Richtlinien im Vertragsarztrecht, in: NZS 1997, S. 497 (499 f.); Thomas Clemens , Normenstrukturen im Sozialrecht - Unfallversicherungs-, Arbeitsförderungs- und Kassenarztrecht, in: NZS 1994, S. 337. Grundlegend zum „Verfassungsvorbehalt für Normsetzungsformen": Peter Axer , Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung. Ein Beitrag zu den Voraussetzungen und Grenzen untergesetzlicher Normsetzung im Staat des Grundgesetzes. Habilitationsschrift, Bonn 1999, Typoskript, S. 195 ff. (Nachw.).

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Josef Isensee

typen. 2 4 Untergesetzliche Normen und außersteuerliche Abgaben, die nicht in die Kanones paßten, seien verfassungswidrig. Der Gesetzgeber stößt an den unterschiedlichsten Orten auf „Verfassungsvorbehalte". So sei ihm die Einführung plebiszitärer Verfahren versagt, soweit diese nicht eigens i m Grundgesetz vorgesehen seien. 25 Veränderungen des Bundesgebiets bedürften der Verfassungsänderung. 26 Grundrechte dürfe er nur einschränken und die Exekutive und Judikative nur dann zu Eingriffen in Grundrechte ermächtigen, wenn und soweit die Verfassung es erlaube. Grundrechtseingriffe der Verwaltung und der Justiz stünden unter dem „doppelten Vorbehalt des Gesetzes und der Verfassung". 27 Der „Verfassungsvorbehalt" könne sogar den Gesetzesvorbehalt ersetzen, wenn die Verfassung unmittelbar, ohne Zwischenschaltung des (einfachen) Gesetzgebers, die Exekutive oder Judikative zu Grundrechtseingriffen ermächtige. 28 Alle Grundrechte unterlägen dem „Vorbehalt des verfassungsändernden Gesetzes" gemäß Art. 79 Abs. 1 und 2 GG; deshalb sei auch kein Raum für Grundrechtsbeschränkungen aus einem ungeschriebenen Notrecht des Staates. 29 24 Grundsätzliche Frage: Karl Matthias Meessen, Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Sonderabgaben, in: BB 1971, S. 928. - Rechtstheoretische Hinterfragung eines Verfassungsvorbehalts: Manfred Rack, Die Verfassung als Maßstab, 1978, S. 34 ff. (Nachw.). 25

Ausdrücklich statuieren einen „Verfassungsvorbehält": Hasso Hofmann, Bundesstaatliche Spaltung des Demokratiebegriffs? (1985), in: ders. Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 146 (159); Wolf gang Löwer, in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hg.), GrundgesetzKommentar, 31995, Art. 28 Rn. 19; Christoph Degenhard Staatsrecht I, 14 1998, S. 14. In der Sache gleich: Heinrich Götz, Die Zuständigkeit für normative Entscheidungen über schicksalsbestimmende Fragen in der Bundesrepublik, in: NJW 1958, S. 1020 ff.; Martin Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, in: VVDStRL 29 (1971), S. 46 (60 f.); Roman Herzog, in: Theodor Maunz/Günter Dürig, Grundgesetz, Stand 1978, Art. 20, II, Rn. 43 ff.; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20 1995, S. 67 (Rn. 148); Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1. Bd., 21984, S. 607 f., 2. Bd., 1980, S. 14 f.; Peter Badura, Die parlamentarische Demokratie, in: HStR Bd. II, 21995, § 23 Rn. 44; Peter Krause, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie, in: HStR Bd. II, 21998, § 39 Rn. 14 f.; Michael Sachs, in: ders. (Hg.), Grundgesetz, 2 1999, Art. 20 Rn. 32 f. - Gegenposition: Hans Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, in: VVDStRL 33 (1975), S. 69 (115); Albert Bleckmann, Die Zulässigkeit des Volksentscheides nach dem Grundgesetz, in: JZ 1978, S. 217 (222 f. - grundsätzliche Ablehnung eines Verfassungsvorbehalts); Christian Pestalozza, Der Popularvorbehalt, 1981, S. 11 ff.; Bodo Pieroth, in: Hans Jarass / Bodo Pieroth, Grundgesetz, 41997, Art. 20 Rn. 5. 26 Dazu mit Nachw. Christoph Engel, Verfassungs-, Gesetzes- und Referendumsvorbehalt für Änderungen des Bundesgebiets und andere gebietsbezogene Akte, in: AöR 114 (1989), S. 46 (Hans Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, in: VVDStRL 33 (1975), S. 69 (115); 54 ff.). 2 ? Bettermann (N 9), S. 11; ders., Grenzen der Grundrechte, 21976, S. 6. 2 « Bettermann (N 27), S. 6 - Beispiel: Art. 13 Abs. 3 GG a. F. (= Art. 13 Abs. 7 GG n. F.). Die Position wird übernommen von Thomas Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, 1981, S. 40. Ablehnend: Herbert Bethge, Der Grundrechtseingriff, in: VVDStRL 57 (1998), S. 7 (51). 29 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 543 f. - in Anknüpfung an Michael Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbotes, 1987, S. 82.

Vorbehalt der Verfassung

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Die Frage, ob das Grundgesetz eine Materie abschließend regelt und den Gesetzgeber ausschließt oder ihm nur nach Maßgabe besonderer Ermächtigung Regelungen gestattet, wird, mit oder ohne den Terminus Vorbehalt der Verfassung, für verschiedene Bereiche erörtert, zumal für die Zuständigkeitsordnung des Bundes und der Länder, für das Verhältnis der Bundesorgane untereinander, für die Finanz-, die Wehr- und die Notstandsverfassung. Das Grundgesetz selbst statuiert ausdrücklich einen Verfassungsvorbehalt in Art. 87a Abs. 2: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt." Doch gerade an dieser Bestimmung hat sich die Kontroverse entzündet, ob Out-of-area-Einsätze der Bundeswehr unter den Vorbehalt fallen. 30 Die Frage erhebt sich, ob und wieweit der Gesetzgeber befugt ist, verfassungsrechtliche Regelungen zu ergänzen und inhaltlich auszugestalten, falls die Verfassung ihm dazu keinen ausdrücklichen Auftrag erteilt, wie es mit der stereotypen Formel, „das Nähere" zu regeln, in Art. 38 Abs. 3 GG für das Wahlrecht vorgesehen ist. Sind die zahlreichen Gesetzesvorbehalte, Gesetzesaufträge und -ermächtigungen des Verfassungstextes als abschließend zu verstehen? Ist es dem Gesetzgeber verwehrt, Materien zu regeln, die ihm von Verfassungs wegen nicht förmlich eröffnet sind? Das Bundesverfassungsgericht bejaht die Frage für die vorbehaltlosen Grundrechte und erkennt der Vörbehaltlosigkeit die Bedeutung zu, daß Grenzen der Kunst- wie der Religionsfreiheit „nur von der Verfassung selbst zu bestimmen sind". 31 Ähnlich operiert der Bayerische Verfassungsgerichtshof im Staatsorganisationsrecht. Er attestiert den staatsorganisatorischen Bestimmungen der Bayerischen Verfassung, „soweit sich nicht ausdrücklich ein anderes ergibt, den Charakter einer abschließenden und erschöpfenden Regelung", mit der Folge, daß dem Gesetzgeber, falls er keinen besonderen Regelungstitel im Verfassungstext findet, der Zugang zum Staatsorganisationsrecht versperrt ist. 32 30 Auf den Verfassungsvorbehalt aus Art. 87a Abs. 2 GG berufen sich: Michael Bothe, Antragsschrift der SPD vom 7. August 1992 im Adria-Verfahren, in: Klaus Dau/Gotthard Wöhrmann (Hg.), Der Auslandseinsatz deutscher Streitkräfte, 1996, S. 377 (388 ff.); ders., Antragsschrift der SPD vom 18. Juni 1993 im AWACS-Verfahren, ebd., S. 558 (573 ff.); ders., Antragsschrift vom 14. Juli 1993 im Somalia-Verfahren, ebd., S. 597 (612 ff.); Edzard SchmidtJortzig, Antragsschrift der FDP vom 2. April 1993 im AWACS-Verfahren, ebd., S. 19 (28 ff.); Bodo Pieroth, in: Hans D. Jarass/Bodo Pieroth, Grundgesetz, 41997, Art. 87a Rn. 3. - Dagegen halten den Vorbehalt des Art. 87a Abs. 2 GG nicht für thematisch relevant: Ferdinand Kirchhof Bundeswehr, in: HStR Bd. III, 21996, § 78 Rn. 29 ff.; Albrecht Randelzhofer } in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Hg.), Grundgesetz, Stand 1992, Art. 24 Abs. I I Rn. 43 ff.; Torsten Stein, Landesverteidigung und Streitkräfte im 40. Jahr des Grundgesetzes, in: FS für Karl Doehring, 1989, S. 935 (939 ff.); Josef Isensee/Albrecht Randelzhofer, Gegenäußerung der CDU /CSU-Fraktion vom 22. April 1993 im Adria-Verfahren, in: Dau/Wöhrmann, a. a. O., S. 524 (542 ff.); Juliane Kokott, in: Michael Sachs (Hg.), Grundgesetz, 21999, Art. 87a Rn. 9 ff. 3 1 Richtungweisend: BVerfGE 30, 173 (193) - „Mephisto"; 32, 98 (108) - unterlassene Hilfeleistung. Dazu Walter Schmidt, Der Verfassungsvorbehalt der Grundrechte, in: AöR 106 (1981), S. 497 ff. (498, 523). 32 BayVerfGHE 2, 181 (217 f.). - Kritik: Josef Isensee, Verfassungsreferendum mit einfacher Mehrheit, 1999, S. 49 ff.

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II. Inkorporation des Vorbehalts in den Vorrang der Verfassung Auf Verfassungsniveau gehoben, verändern die verwaltungsrechtlichen Prinzipien ihr Wesen. Der Vorbehalt des Gesetzes, ebenso dessen Vorrang, ist auf drei Ebenen im Stufenbau der Rechtsordnung verankert: der Verwaltung als des Adressaten, des Gesetzes als des Maßstabs sowie der Verfassung als der Geltungsgrundlage der Prinzipien. Das dreistufige Konzept reduziert sich auf ein zweistufiges, wenn der Vorbehalt und der Vorrang sich nun nicht mehr (oder jedenfalls nicht mehr ausschließlich) an die Verwaltung, sondern an den Gesetzgeber richten.33 Die Funktion des Maßstabes geht auf die Verfassung über, die weiterhin Geltungsgrundlage bleibt. Sie vereint nunmehr in sich die Funktionen, die zuvor auf zwei Ebenen verteilt gewesen sind. Zum einen legt sie den Inhalt der Vorgaben für das Gesetz fest, zum anderen statuiert sie die Verbindlichkeit der Vorgaben. Die Reduktion vom dreistufigen auf das zweistufige Konzept ergibt sich aus dem Höchststand der Verfassung. Mit ihr endet die Normenpyramide. Oberhalb der Verfassung vermag allenfalls der Rechtstheoretiker, im Lichte Hans Kelsens, noch eine Grundnorm auszumachen, die sich als Verfassung im rechtslogischen Sinne abhebt von der Verfassung im positivrechtlichen Sinne.34 Doch die Grundnorm ist keine überpositive und keine überkonstitutionelle Norm, sondern lediglich die rechtslogische Prämisse, die das Rechtssystem voraussetzt: daß die (positivrechtliche) Verfassung die letztverbindliche Norm ist. 35 Der Vorbehalt verliert seine spezifische Bedeutung, wenn die Anordnung, daß eine förmliche Ermächtigung erforderlich ist, nicht mehr auf anderer, höherer Normstufe verortet ist als der Akt der Ermächtigung, wenn vielmehr beide in einer Norm konvergieren. Just das ist beim Vorbehalt der Verfassung der Fall. Er bedeutet, daß die Verfassung für bestimmte Gegenstände gesetzliche Regelungen ausschließt, gebietet oder gestattet. Verbote, Aufträge und Gestattungen werden aber auch vom Vorrang der Verfassung abgedeckt. Grundlage und Grenze des gesetzgeberischen Handelns gehören gleichermaßen zum Inhalt der Verfassung. Mithin werden beide erfaßt von der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Der Vorbehalt geht auf im Vorrang der Verfassung. Anders als im Verwaltungsrecht liegen nicht zwei Rechtsprinzipien vor; es gibt nur ein einziges. Die juristischen Probleme, die dort mit dem Vorbehalt des Gesetzes zu lösen sind, lassen sich hier allein mit Hilfe des Vorrangs der Verfassung beantworten.

33 Der Gesetzgeber ist primärer, freilich nicht alleiniger Adressat. Die Verfassung beansprucht Vorrang vor allen Akten der Staatsgewalt, auch denen der Exekutive und der Judikative. 34 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, *1925, S. 249; ders., Reine Rechtslehre, 21960, S. 201 f. 3 5 Vgl. Kelsen, Rechtslehre (N 34), S. 203.

Vorbehalt der Verfassung

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I I I . Verfassungsvorbehalt als Kategorie der Verfassungsdogmatik Dennoch braucht darum der Vorbehalt der Verfassung nicht verabschiedet zu werden. Wenn er auch kein selbständiges Rechtsprinzip verkörpert, so bildet er doch eine dogmatische Kunstfigur. Diese repräsentiert ein Erkenntnisinteresse der Dogmatik: ob die Legislative, mittelbar auch die Exekutive, sich stets einer ausdrücklichen Ermächtigung in der Verfassung versichern muß oder ob sie politisch frei entscheiden und gestalten kann, soweit sie nicht Gebote der Verfassung verletzt. In dieser spezifischen Bedeutung als Grundlage hebt sich der Vorbehalt vom allgemeinen Vorrang der Verfassung ab. Ein Vorbehalt ist nur möglich, wenn und soweit das Verfassungsgesetz eine Materie abschließend regelt. Damit stellt sich die Frage nach Exklusivität oder Offenheit des Regelungskonzepts der Verfassung. Der Verfassungsvorbehält kann in zwei Spielarten auftreten: - daß er dem Gesetzgeber schlechthin Zugriff auf einen bestimmten Gegenstand verwehrt (Ausschluß des Gesetzgebers) oder - daß er ihm zwar die Regelung gestattet, vielleicht sogar gebietet, jedoch Inhalt, Zweck und Ausmaß der Regelung vorgibt, ihn auf den Nachvollzug von Vorgaben und deren Konkretisierung beschränkt (Ausschluß politischer Gestaltungsfreiheit). „Verfassung" meint in diesem Zusammenhang das Grundgesetz. Die Kategorie des Vorbehalts macht nur Sinn in Hinsicht auf ein bestimmtes Verfassungsgesetz, das alle normativen Qualitäten eines solchen aufweist: Anspruch auf rechtliche Geltung, Priorität, Einzigkeit des Verfassungsgesetzes, Vorrang und erschwerte Abänderbarkeit. Der Bezug der Verfassung im materiellen Sinne, in einer beliebigen unter den vielen der kursierenden Bedeutungen, reicht nicht aus. Normen der materiellen Verfassung kommen nur in Betracht, wenn und soweit sie vom Verfassungsgesetz sanktioniert werden. Prämisse der anstehenden Untersuchung ist, daß die Regelungen, die das Grundgesetz trifft, notwendig zur materiellen Verfassung gehören. 36 Das bedeutet nicht, daß Verfassungsnormen ausdrücklich geschrieben sein müssen. Es genügt, daß sie einschlußweise in ihm enthalten sind. Jede Verfassungsurkunde birgt eine Fülle ungeschriebener Normgehalte, die zwischen und hinter den Zielen stehen und die durch Interpretation aufgedeckt und ausformuliert werden. Dagegen scheidet das Verfassungsgewohnheitsrecht aus. Das Grundgesetz duldet neben sich keine gleichrangige, selbständige Rechtsquelle.37 Insoweit steht Verfassungsrecht unter Vorbehalt der verfassungsförmlichen Beurkundung. Vom Begriff der Verfassung als Rechtsquelle zu unterscheiden ist die Typologie der Verfassungsgesetze nach ihrer thematischen Reichweite, nach Art und Inhalt 36

Ähnliche Position: Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 60 ff. Dazu: Christian Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, 1972, S. 7 ff., 81 ff., 132 ff., 145 ff.; Bryde (N 36), S. 433 f.; Peter Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: HStR Bd. VII, 1992, § 160 Rn. 10. 37

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ihres Geltungsanspruchs: als Voll- oder Teil Verfassung, als Wertordnungs- oder Rahmenverfassung, als offene oder geschlossene Verfassung. 38 Es läge nahe, das Grundgesetz einem dieser Typen zuzuordnen und daraus zu folgern, ob und in welcher Hinsicht ein Verfassungsvorbehalt besteht. Doch eine solche Antwort nähme vorweg, was zu beweisen wäre. Die Einordnung des Grundgesetzes in eine Typologie, so sie denn überhaupt ohne Gewaltsamkeit möglich ist, kann nur das Ergebnis einer Prüfung des Normenbestandes sein, nicht aber eine solche Prüfung erübrigen. Im übrigen sind die Typologien Hilfsmittel der Verfassungstheorie, dazu bestimmt, die vorhandenen Verfassungen nach allgemeinen Merkmalen zu charakterisieren. Die Zuordnung eines Verfassungsgesetzes zu einem Typus enthält keine normative Aussage. Deskription darf nicht verstanden werden als Präskription. Der juridische Rekurs auf ganzheitliche Qualifikation wie Vollverfassung oder Rahmenordnung gerät leicht zur petitio principii, weil sie aus dem jeweiligen Begriff herausholt, was sie zuvor selbst hineingelegt hat. Aus diesem Grunde ist es auch nicht angebracht, das Grundgesetz als Kodifikation zu deuten und daraus juristische Folgerungen zu ziehen,39 oder das längst betriebene Dogma der Lückenlosigkeit der Verfassung zu exhumieren.

IV. Vorbehalt der verfassungsmäßigen Rechtserzeugung In einer Hinsicht statuiert jedwede Verfassung einen Vorbehalt: für den Ausgangstatbestand der Rechtserzeugung. Verwaltungsakte und Urteile, Satzungen und Verordnungen, Verwaltungsvorschriften und Gesetze - alle diese Normen erheben innerhalb des staatlichen Rechtssystems Anspruch auf Geltung, weil sie sich auf einen gemeinsamen Tatbestand der Rechtserzeugung zurückführen lassen.40 Der Verwaltungsakt gilt, weil die erlassende Behörde durch eine Rechtsverordnung, diese, weil der Verordnunggeber durch ein Gesetz, dieses wiederum, weil der Gesetzgeber durch die Verfassung ermächtigt worden ist. Doch ein regressus in infinitum findet nicht statt. In der Verfassung endet die Möglichkeit rechtlicher Ableitung. Die höchste Norm des positiven Rechts verdankt ihre Geltung keiner positivrechtlichen Norm. 41 Als unabgeleitete Norm bildet sie den Ursprung der 38 Kritisch zu den entsprechenden Ausführungen Menzels im Streit um den Wehrbeitrag Scheuner (N 16), S. 112f. - Vgl. auch die Kritik von Götz (N 25, S. 1024) an Menzels und Friedrich Kleins Argumentation (N 12). 39 Zum sog. Kodifikationscharakter des Grundgesetzes kritisch Wolfgang Knies , Das Grundgesetz kein Kodex des Staatsrechts, in: Detlef Merten/Waldemar Schreckenberger (Hg.), Kodifikation gestern und heute, 1995, S. 221 ff. (Nachw.). 40 Das gilt freilich nur für das heute vorherrschende „dynamische" Normensystem, nicht für das „statische", das auf inhaltlichen Richtigkeitsvorstellungen gründet und dessen einzelne Normen sich aus allgemeinen Normen inhaltlicher Art ableiten (dazu Kelsen , Rechtslehre [N 34], S. 198 ff.). 41 Kelsen treibt den regressus zwar eine rechtslogische, doch nicht eine positivrechtliche Stufe weiter mit der Annahme einer hypothetischen Grundnorm (Rechtslehre, N 34, S. 200 ff.). Auch die gängige Ableitung der Verfassung aus der verfassunggebenden Gewalt

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Rechtserzeugung. Damit begründet sie, daß die disparaten einzelnen Normen zur Rechtsordnung des betreffenden Staates gehören. 42 Rechtlich gesehen, liegt dieser Ursprung in der Bestimmung von Kompetenz und Verfahren der Gesetzgebung. Die Ursprungskompetenz enthält die Fähigkeit zur Delegation und Subdelegation der Rechtserzeugungskompetenz. Notwendiges Thema der Verfassung ist nur der Ausgangstatbestand der Rechtserzeugung, nicht mehr deren Weitergabe; diese muß nur den normgenetischen Zusammenhang wahren und den legitimatorischen regressus in constitutionem ermöglichen. Die Basisregel der Rechtserzeugung hat die Qualität materiellen Verfassungsrechts, unabhängig davon, ob sie ausdrücklich in der Verfassungsurkunde ausgewiesen ist oder nicht. Denn sie ist die Bedingung des modernen Staates als Entscheidungseinheit und als Rechtseinheit und liegt daher jeder möglichen Verfassung voraus. Die Grundstrukturen des modernen Staates sind formaler Natur. Die inhaltliche Spezifikation leistet die Verfassung. Diese entscheidet über den Legitimationsursprung und den primären Träger der Rechtserzeugungskompetenz. Das Grundgesetz weist die Rechtserzeugung in die Kompetenz- und Verfahrensbahnen der parlamentarischen, gewaltenteiligen, föderalen Demokratie. In diesen Bahnen fließt die Legitimation, die sich aus dem Willen des verfaßten Volkes speist, vom Gesetz zu den einzelnen Rechtsakten.43 Unter den Auspizien des Rechtsstaates erstarken die Normen des staatlichen Rechtssystems zu Wirksamkeit und führen so, jedenfalls tendenziell, die Herrschaft des Rechts herauf. 44 Im Ergebnis mündet der Vorbehalt der verfassungsmäßigen Rechtserzeugung ein in den Vorrang und in den Vorbehalt des Gesetzes. Daß aber ein Verfassungsvorbehalt besteht, daß alles staatliche Handeln sich auf eine kompetenzielle Ermächtigung in der Verfassung stützen muß, steht außer Zweifel. Der Vorbehalt erledigt sich nicht für die Staatsakte, die, durch die Verfassung inhaltlich determiniert, deren Vorgaben konkretisieren: das Gesetz, das einen Regelungsauftrag umsetzt, der Verwaltungsakt, der ein grundrechtliches Gebot erfüllt, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das einen Streit über die richtige Anwendung der Verfassung entscheidet. Konkretisierung ist mehr als Rekonstruktion des Normgehaltes, sie ist auch Zutat des Normanwenders. Diese Anreicherung ist des Volkes erschließt keine zusätzliche Ebene im Prozeß der Normerzeugung. Vielmehr bildet sie nur den Versuch, deren Fehlen mit außerrechtlichen Argumenten zu kompensieren. Dazu Josef Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, S. 21 ff., 43 ff., 68 ff. 42 Grundlegend: Adolf Julius Merkl , Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus (1931), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1/1, 1993, S. 437 ff. (473). 43 Zum Gesetz als Medium demokratischer Legitimation: Dietrich Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 204 f.; Matthias Jestaedt , Demokratieprinzip und KondominialVerwaltung, 1993, S. 335 ff. 44 Das Ideal einer Herrschaft der Gesetze, das letztlich zurückgeht auf Piatons „Nomoi" und Aristoteles' „Politik", ist Leitbild des Rechtsstaates. Unter dem Titel „Herrschaft des Gesetzes" traktiert Otto Mayer den Vorrang und den Vorbehalt des Gesetzes (N 2, S. 64 ff.). Im Kontext des Grundgesetzes wird dieser Bezug hergestellt von Hans Heinrich Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 2 1991,S. 113 ff.

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Rechtserzeugung und bedarf der kompetenziellen Ermächtigung aus der Verfassung. V. Staatsaufgaben unter Verfassungsvorbehalt? 1. Virtuelle Allzuständigkeit

oder Enumeration

Offen bleibt, ob die formale demokratische Legitimation ausreicht oder ob das Staatshandeln darüber hinaus der materialen Legitimation aus einer gegenständlich bestimmten Ermächtigung des Verfassungsgesetzes bedarf: der Zuweisung einer Staatsaufgabe. Das Verfassungsverständnis folgt konträren Prämissen, dort der virtuellen Allzuständigkeit des Staates, hier dem System der Enumeration der Staatsaufgaben im Grundgesetz. Seit der Fundamentaldissens in seiner ganzen Tiefe aufgerissen ist, anläßlich des Kampfes um den Wehrbeitrag, 45 hat er sich nicht mehr geschlossen. Anlässe ergeben sich immer wieder, an denen sich der Streit entzündet: Stationierung amerikanischer Raketen oder Auslandseinsätze der Bundeswehr, zivile Nutzung der Kernenergie, Nutzung der Gentechnologie, Organtransplantation oder Rechtschreibreform, Sexualaufklärung oder Ethikunterricht in öffentlichen Schulen. Auf der einen Seite steht die Auffassung, der parlamentarische Gesetzgeber besitze in der Demokratie die verfassungsrechtliche Blankovollmacht zur politischen Entscheidung, auf der anderen, er bedürfe eines besonderen Rechtstitels aus der Verfassung, wenn nicht für jedwede Art von Entscheidung, so doch für die wesentlichen, die irreversiblen, die schicksalbestimmenden. Nach demselben Muster formieren sich die juristischen Argumente, wenn es gilt, den Staat zu bestimmtem Tun zu bewegen, etwa dazu, die Kultur stärker zu fördern oder die Handelsflotte wirtschaftlich über Wasser zu halten. Desgleichen, wenn der Staat sich aus einzelnen Feldern seiner bisherigen Tätigkeit zurückziehen will, etwa aus dem Betrieb von Bahn und Post, und sich rechtlicher Widerstand gegen die Privatisierung artikuliert. Der Widerspruch läßt sich nicht leichter Hand abtun mit dem Hinweis darauf, daß das Grundgesetz ausdrückliche Zuweisungen von Staatsaufgaben enthalte, so unter anderem das Wächteramt über die Betätigung des Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 2), den Mutterschutz (Art. 6 Abs. 4), den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a), die Grundverantwortung für Schienenverkehr, Post und Telekommunikation (Art. 87e Abs. 4, Art. 87f Abs. 1), den Schutz der Sonn- und Feiertage (Art. 139 WRV iVm. Art. 140 GG). Die Frage ist gerade, ob diese Normen vereinzelt dastehen oder Ausdruck eines flächendeckenden Konzepts sind, eines Verfassungsvorbehalts für Staatsaufgaben. Der Umkehrschluß ist formallogisch ebenso plausibel wie der Analogieschluß.

45 S.o. 1.2.

Vorbehalt der Verfassung

2. Staatsaufgaben als Gegenstand der Kompetenzverteilung

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im Bundesstaat

Ein Verfassungsvorbehalt für Staatsaufgaben, so er denn gälte, schiede den Wirkungskreis des Staates von dem der Gesellschaft. Aus der Sicht der Grundrechte werden die Sphären konstituiert durch Grundrechtsbindung und durch Grundrechtsfreiheit. Auf der einen Seite steht der „Staat" als der Adressat der Grundrechte, auf der anderen die „Gesellschaft" als die Gesamtheit ihrer Träger. 46 Nach der Lehre vom Verfassungsvorbehalt regelt das Grundgesetz umfassend die Zuständigkeit des Staates gegenüber der Gesellschaft. Er muß einen Kompetenztitel im Verfassungsgesetz nachweisen, wenn er eine Aufgabe an sich ziehen will. Die Kompetenzverteilung zwischen Staat und Gesellschaft, so die Prämisse, ist ähnlich geregelt wie die innerhalb des föderal ausdifferenzierten Staates zwischen Bund und Ländern. Doch die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den zwei Ebenen des Bundesstaates wird ausdrücklich, umfassend und eingehend im Grundgesetz geregelt. 47 Eine entsprechende Regelung der Staatsaufgaben ist prima facie nicht erkennbar. Sie müßte durch Interpretation aufgedeckt werden - falls es sie gibt. Der Gedanke liegt nahe, daß sie einschlußweise in der föderalen Kompetenzordnung enthalten sei. In der Tat hängen beide zusammen. Die Kompetenznormen sagen nicht, ob der Staat eine bestimmte Aufgabe wahrnehmen muß. Sie haben nur hypothetische Natur. Wenn der Staat eine bestimmte Aufgabe wahrnehmen will, bestimmen die Kompetenznormen, welche staatliche Ebene handelt, Bund oder Land. Die föderalen Kompetenzen setzen also verfassungslegitime Staatsaufgaben voraus. Daher gestatten die geschriebenen Kompetenznormen in bestimmtem Maße Rückschlüsse auf ungeschriebene Staatsaufgaben. Deren Legitimität ist an sich nicht ihr Thema. Dieses liegt für sie in der Ordnung der bundesstaatlichen Binnenbeziehungen, nicht aber der Außenbeziehung von Staat und Gesellschaft. Dennoch zeitigen die Kompetenznormen über ihr eigentliches Regelungsziel hinaus normative Nebenwirkungen. Wenn eine Kompetenznorm dem Bund die Gesetzgebungskompetenz über bestimmte Gegenstände zuweist, etwa über die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwekken (Art. 74 Abs. 1 Nr. IIa GG) oder über Gentechnologie und Organtransplantation (Art. 74 Abs. 1 Nr. 26 GG), so kann die Ausübung der Kompetenzen nicht von Grund auf unzulässig und mit anderen Verfassungsnormen, etwa den Grundrechten, schlechthin unvereinbar sein.48 Das folgt aus dem Axiom der Wider46 Dazu Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968, S. 149 ff.; Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR Bd. I, 21995, § 28 Rn. 29 ff. 47 Zum Ordnungscharakter des grundgesetzlichen Kompetenzregimes Markus Heintzen, Die Beidseitigkeit der Kompetenzverteilung im Bundesstaat, in: DVB1. 1997, S. 689. 48 Exemplarisch BVerfGE 53, 30 (56). Kasuistik: Matthias Jestaedt, Zuständigkeitsüberschießende Gehalte bundesstaatlicher Kompetenzvorschriften, in: Josef Aulehner u. a. (Hg.), Föderalismus - Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit?, 1997, S. 315 (317ff., bes. 319f. Fn. 22).

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spruchslosigkeit („Einheit") der Verfassung. 49 Kompetenztitel lassen Rückschlüsse zu auf die Legitimität der Staatsaufgabe, die ihnen zugrunde liegt. 50 Die bundesstaatliche Verteilungsfunktion der Kompetenznormen wird also von einer rechtsstaatlichen Klarstellungsfunktion begleitet. Darüber hinaus schießen aber die Versuche, die Kompetenznormen als Pflichten zur Kompetenzausübung zu deuten. So wurden aus den Verwaltungszuständigkeiten des Bundes für Bahn und Post (Art. 87 Abs. 1 GG a.F.) Privatisierungsverbote abgeleitet.51 Da sich mächtige politische Interessen dieser Rechtsmeinung bedienten, bedurfte es aufwendiger Verfassungsänderungen, ehe der politische Weg zur Privatisierung der öffentlichen Unternehmen frei wurde. Kompetenzrechtlich wäre der Aufwand jedoch nicht erforderlich gewesen. Die obwaltende Rechtsauffassung verwechselte die Kompetenznorm mit einer institutionellen Garantie. Letztere soll einen Bestand an Normen oder ein Stück Wirklichkeit bewahren. Die Kompetenznorm dagegen verhält sich indifferent zu Bewahrung, Abschaffung oder Änderung ihres Gegenstandes. Sie enthält nicht den Normbefehl an Bund oder Länder, die jeweilige Aufgabe wahrzunehmen und an ihr festzuhalten. Vielmehr deckt sie gleichermaßen die Inanspruchnahme eines Tätigkeitsbereichs wie die Privatisierung. 52 Ob die Privatisierung zulässig ist, entscheidet sich nicht auf der Ebene der Verbandszuständigkeit von Bund und Ländern, sondern auf der Ebene der Staatsaufgaben. Die Kompetenznorm als solche hat hypothetischen Charakter: wenn eine Aufgabe wahrgenommen oder eingestellt wird, weist sie die Entscheidung dem Bund oder den Ländern zu. 53 Das Grundgesetz zählt in seinen Kompetenzkatalogen nur die Gesetzgebungsund Verwaltungsbefugnisse des Bundes auf. 54 Die den Ländern nach dem Subtrak49 Affirmativ zu dem Topos „Einheit der Verfassung": Christian Starck, Die Verfassungsauslegung, in: HStR Bd. VII, 1992, § 164 Rn. 19. Kritisch: Jestaedt (N 48), S. 318 f. (Nachw.). Auf anderer Ebene liegt die These der „Einheit" (von Recht und Politik) „durch Verfassung" (dazu Hasso Hofmann, Das Recht des Rechts, das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung, 1998, S. 52 ff.). 50

Christian Pestalozzi Der Garantiegehalt der Kompetenznorm, in: Der Staat 11 (1972), S. 161.ff.; Jestaedt (N 48), S. 317ff. 51 Zur Auslegung des Art. 87 Abs. 1 GG in seiner Stammfassung vor der Änderung im Jahre 1993: Helmut Lecheler, Privatisierung - ein Weg zur Neuordnung der Staatsleistungen?, in: ZBR 1980, S. 69 (70); Eberhard Schmidt-Aßmann/Günter Fromm, Aufgaben und Organisation der Deutschen Bundesbahn in verfassungsrechtlicher Sicht, 1986, S. 56 ff.; Fritz Ossenbühl, Staatliches Fernmeldemonopol als Verfassungsgebot?, in: FS für Rudolf Lukes, 1989, S. 525 (528 ff.). Zu den zuständigkeitsüberschießenden Gehalten von Art. 87 GG n.F. Jestaedt (N 48), S. 328 ff. - Aufschlußreich die expansive Ausdeutung des Art. 27 GG als Schutzpflicht und institutionelle Garantie einer deutschen Handelsflotte: Dieter Dörr, Die deutsche Handelsflotte und das Grundgesetz, 1988, S. 150 ff. Kritisch Wilfried Erbguth, in: Michael Sachs (Hg.), Grundgesetz, 21999, Art. 27 Rn. 8. 52 Dazu Lerke Osterloh, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, in: VVDStRL 54 (1995), S. 204 (222 ff.). 53 Vgl. Hans-Werner Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: HStR Bd. IV, 1990, § 100 Rn. 7. 54

Die anders gefaßten Kataloge der Finanzverfassung im X. Abschnitt des Grundgesetzes bleiben außer Betracht.

Vorbehalt der Verfassung

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tionsprinzip verbleibenden (Residual-)Kompetenzen werden von Verfassungs wegen nicht im einzelnen genannt (Art. 30, 70, 83 GG). 55 Die Kompetenzgeneralklausel, die den Ländern die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Ausübung staatlicher Aufgaben zuweist (Art. 30 GG), schließt auch die Möglichkeit ungeschriebener Zuständigkeiten des Bundes nicht aus.56 Daher erweisen sich die bundesstaatlichen Kompetenzkataloge ihrer Anlage nach als unvollständig. Das Grundgesetz läßt erkennen, daß es die Staatsaufgaben nicht enumerativ erfassen will, daß diese unabsehbar und zukunftsoffen sind. Ein Verfassungsvorbehalt läßt sich also insoweit nicht begründen. 3. Grundrechtsgarantiert

als Staatsaufgaben

Kehrseite der Grundrechtsgarantien sind Staatsaufgaben. Grundrechte konstituieren die Rechtsstellung des Bürgers gegenüber der Staatsgewalt. Damit begründen sie für diese Unterlassungs- und Handlungspflichten. Die Fundamentalnorm von der Würde des Menschen wird auch als Staatsaufgabe gefaßt, wenn es heißt, daß Achtung und Schutz „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" ist (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG). In ihrer Funktion als Abwehrrechte stecken die Grundrechte der Wirksamkeit des Staates Grenzen. Dagegen aktivieren sie seine Wirksamkeit in ihrer Funktion als Schutzpflichten. Diese stellen in erster Linie Staatsaufgaben dar. 57 Doch auch die Abwehrrechte lassen sich nicht schlechthin als Ausschluß staatlicher Aktivität deuten. Vielmehr ist der Staat, vornehmlich die Legislative, in mehrfacher Hinsicht gehalten, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Grundrechtsausübung herzustellen und die sozialen wie die soziokulturellen Voraussetzungen zu fördern. Das Gesetz fungiert nicht nur als Schranke der Freiheit, sondern auch als deren Grundlage, Prägung, Ausgestaltung, Ermöglichung, Ausübungshilfe. 58 Gerade wenn der Gesetzgeber die Schranken und in ihnen den effektiven Umfang der grundrechtlichen Freiheit bestimmt, verwirklicht er Staatsaufgaben. 59 55 Das bedeutet aber nicht, daß die Kompetenzen der Länder deshalb normativ nicht gefaßt und gegenständlich nicht fixiert seien. Die Kompetenzzuweisung der Art. 30 und 70 ff. GG wirkt beidseitig: sowohl zugunsten des Bundes als auch zugunsten der Länder (Heintzen,N41, S. 689 ff.). 56 Dazu Rengeling (N 53), § 100 Rn. 55 ff. (Nachw.). 57 Näher Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR Bd. V, 1992, § 111 Rn. 83 ff., 137 ff. (Nachw.). 58 Dazu: Martin Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: HStR Bd. V, 1992, § 110 Rn. 52ff.; Erhard Denninger, Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausübung durch Verfahren, Organisation und Finanzierung, in: HStR Bd. V, 1992, § 113 Rn. 1 ff.; Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, ebd., § 115 Rn. 136 ff. (Nachw.). - Übersicht über objektivrechtliche Gehalte Klaus Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: HStR Bd. V, 1992, § 109 Rn. 38 ff., 50 ff. (Nachw.). 59 Allgemein zum Zusammenhang von Grundrechten und Staatsaufgaben Peter Häberle, Verfassungsstaatliche Staatsaufgaben, in: AöR 111 (1986), S. 595 (603, 605, 607, 608).

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Eine solche bildet den Zweck des Gesetzes, an dem die Beschränkung der Freiheit als Mittel auf ihre Zwecktauglichkeit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit gemessen wird. Einzelne Staatsaufgaben werden im Grundgesetz eigens benannt als Rechtfertigungsgründe eines Grundrechtseingriffs, etwa der Schutz der Jugend und die persönliche Ehre (Art. 5 Abs. 2) oder die Behebung der Raumnot, die Bekämpfung von Seuchengefahr, allgemein die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Art. 13 Abs. 7 GG). Doch die Gesetzesvorbehalte öffnen sich darüber hinaus anderen Zwecken, die nicht vorab von der Verfassung vorgegeben, sondern vom Gesetzgeber gewählt und gewichtet werden. Das gilt allerdings nicht für die vorbehaltlosen Grundrechte. Diese unterliegen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausschließlich den Schranken, die die Verfassung selbst, sei es im Grundrechts-, sei es im Organisationsteil, aufgerichtet hat (verfassungsimmanente Schranken). Insoweit postuliert das Gericht einen Verfassungsvorbehalt.60 Dieser aber betrifft nur einen bestimmten Kreis von Grundrechten. E contrario wird damit deutlich, daß sich das Grundgesetz im übrigen gesetzgeberischen Zielentscheidungen offenhält und daß aus den Grundrechten ein durchgehender Verfassungsvorbehalt nicht abzuleiten ist. Die Grundrechte definieren nicht das ganze Potential der legitimen Staatsaufgaben. 61

4. Rückschluß vom Vorrang der Verfassungsgeltung auf die Universalität des Verfassungsinhalts Dem spärlichen Textbefund des Grundgesetzes trotzt eine Verfassungstheorie, der die Verfassung als „konstitutiv, umfassend und universal, Rechtsgrund und Maßstab für die staatliche Herrschaftsausübung" gilt. 6 2 Der Verfassungsvorbehalt soll den Rekurs auf vorverfassungsrechtliche Gegebenheiten sperren, auf apriorische Staatszwecke wie auf eine Blankovollmacht des Staates zum Handeln. „Staat" existiert in dieser Sicht nur aufgrund der Verfassung. 63 Diese befindet über Art, Güte und Menge des staatlichen Handelns. Mithin müssen die Staatsaufgaben sich aus ihr ableiten. Damit wird die Bestimmung der Staatsaufgaben zur verfassungsrechtlichen Frage. Als solche entzieht sie sich der politischen Disposition des Gesetzgebers. 60 So Helmuth Schulze-Fielitz, Staatsaufgabenentwicklung und Verfassung, in: Dieter Grimm (Hg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 9 (15). Ähnlich Martens (N 20), S. 82; Bull (N 21), S. 114 f., 116 f.; Haberle (N 59), S. 600; Wolf gang Roth, Zur Verfassungswidrigkeit der Rechtschreibreform, in: BayVBl 1999, S. 257

(262).

61 Roth (N 60), S. 261 f. 62 Repräsentativ Schulze-Fielitz (N 60), S. 14 ff.; Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 32 ff. - Dazu differenzierend Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR Bd. I, 21995, § 13 Rn. 26 ff., 171 ff. 63 Repräsentativ für diese Sicht Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, *1964, S. 759 ff. (760 f.).

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Die Theorie vom Vorbehalt der Verfassung stützt sich auf deren Vorrang. 64 Aus der Stellung an der Spitze der Normenhierarchie wird zurückgeschlossen auf das Normprogramm. Doch der Geltungsanspruch zieht nicht den Inhalt nach sich, sondern setzt ihn voraus. Aus dem Höchststand der Verfassung folgt nicht die Universalität ihrer Thematik. Vielmehr ist es ihr Normprogramm, das den Vorrang beansprucht. Der Vorrang bildet eine Kollisionsregel. Er kommt zum Zuge, wenn einfaches Recht dem Verfassungsrecht widerspricht. 65 Darüber hinaus hat er keine Funktion. Im übrigen läßt sich dem Grundgesetz auch nicht pauschal ein umfassender Geltungsanspruch attestieren. Die Verfassungsnormen haben unterschiedliche Adressaten und unterschiedliche Modi der Verbindlichkeit. Staatsfundamentalnormen und Verfahrensregeln, Grundrechte und Staatsziele, Verbandskompetenzen und Organkompetenzen ergeben insgesamt ein überaus differenziertes Bild. Gleichwohl soll das Grundgesetz „alle maßgeblichen Gerechtigkeitsprinzipien" konstitutionalisieren. 66 Der Gedankengang gerät allerdings in den Engpaß des Verfassungstextes. Dieser erweist sich als zu schmal, um als Zugang zu einer ganzheitlichen und geschlossenen Konzeption der Staatsaufgaben zu dienen, die eine analoge Bestimmtheit und Dichte aufwiese wie die bundesstaatlichen Kompetenzkataloge. Die Vertreter des Verfassungsvorbehalts begnügen sich daher mit „letzten Grundaussagen" des Verfassungsgesetzes auf der Abstraktionshöhe der Sozialstaatsklausel,67 oder sie finden sich damit ab, daß „nur die wichtigsten, grundsätzlichen, das heißt praktisch: die politisch umstrittenen Entscheidungen und nicht die Details der Konkretisierung auf der Ebene der Verfassung angesiedelt" seien.68 Das Kriterium des politisch Umstrittenen verfängt freilich nicht für die verfassungsdogmatische, auch nicht für die verfassungstheoretische Grundsatzfrage. Es erklärt nur, weshalb einzelne Aufgaben und Befugnisse, welche die Bundesrepublik nach Inkrafttreten des Grundgesetzes übernahm, zuvor eine eingehende, zum Teil detailreiche Regelung durch Verfassungsergänzung erfuhren: Landesverteidigung, Notstand, Bildungsplanung, gesamtwirtschaftliche Steuerung. 69 Die vom Grundgesetz vorgefundenen sowie die nicht bestrittenen Aufgaben werden von den Kriterien nicht erfaßt. Die Lücken und Vagheiten im Normenbestand des Grundgesetzes werden ausgefüllt durch niederrangiges Recht: die Konkretisierung durch Gesetze und unter64 Vgl. Bull (N 21), S 116; Schulze-Fielitz (N 60), S. 16. 65 Dazu Matthias Jestaedt , Grundrechtsentfaltung im Gesetz, Habilitationsschrift, Bonn 1999, Typoskript, S. 20 f., passim. 66 Schulze-Fielitz (N 60), S. 16. 67 Bull (N 21), S. 163 ff.; Schulze-Fielitz (N 60), S. 16, 20ff., 26ff., 31 ff. Letzterer gießt viel verfassungsdogmatisches Wasser in den verfassungstheoretischen Wein und konzediert die „latente Allzuständigkeit" des Verfassungsstaates (ebd., S. 30). 68 Bull (N 21), S. 117. 69 Entsprechendes gilt auch für die politisch umstrittene Reduktion der Staatstätigkeit bei der Privatisierung von Bahn und Post (Art. 87 e, 87 f, 143 a, 143 b GG) sowie bei der Intensivierung der Abgabe von Hoheitsbefugnissen an die Europäische Union (Art. 23 GG n.F.).

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gesetzliche Rechtssätze, zumal Verwaltungsvorschriften. Die untergesetzlichen Regelungen sollen „nach längerer unangefochtener Geltung selbst zum Inhalt der Verfassung werden". 70 Die Verfassung zehrt über eine rechtlich unfaßbare Osmose von der Substanz unterer Normschichten. Der Gegenstand der Aufgabenkontrolle avanciert zum Maßstab..Der Vorbehalt, der die normative Reichweite der Verfassung steigern soll, ist angewiesen auf präterlegale Prozesse des stillen Verfassungswandels. Der Aufstieg niederrangiger Normengehalte in Gegenrichtung zur Normenhierarchie ist Exempel für das Leisner'sche Paradoxon „Verfassung nach Gesetz".71 Soweit auch dieses Verfahren der informellen Ergänzung des Grundgesetzes und seiner interpretatorischen Substanzzufuhr nicht verfangen will, soll Verfassungsgewohnheitsrecht die Lücke schließen.72 Doch das Grundgesetz gibt der Entstehung eines Verfassungsgewohnheitsrechts keinen Raum. Nunmehr erscheint das niederrangige Recht als Konkretisierung des Grundgesetzes und Rechtserzeugung als Verfassungsvollzug. „Die Verfassung als juristisches Weltenei, aus dem alles hervorgeht vom Strafgesetzbuch bis zum Gesetz über die Herstellung von Fieberthermometern." 73 In der Verfassungsdogmatik erneuern sich die naiven Spielarten des mittelalterlichen Begriffsrealismus, der durch geduldige Deduktion aus obersten Prinzipien Antworten auf alle Lebensfragen zu finden vermeinte. 5. Theorie der totalen Verfassung Der Hiatus zwischen Wortkargheit des Verfassungstextes und Üppigkeit der Verfassungsinterpretation wird aufgehoben im Verfassungsverständnis Peter Häberles. 74 Dieser gibt der hergebrachten Integrationslehre Rudolf Smends eine neue Wendung. Nach ursprünglicher Lehre zeitigen die Verfassungsnormen über ihre 70 So Bull (N 21), S. 117. Bull räumt ein, das sei „natürlich ... nicht unproblematisch", und weist („etwa") auf Leisner hin (a. a. O., S. 114 Fn. 108). 71 Kategorie von Walter Leisner (N 6), S. 26 ff.; ders. (N 7), S. 279 ff. 72

So Bull (N 21), S. 116 - unter Berufung auf Erich Becker , der freilich neben den Verfassungsgesetzen auch andere Gesetze nennt und Gewohnheitsrecht nicht nur auf Verfassungsebene als ergänzende Grundlage nennt (Verwaltungsaufgaben, in: Fritz Morstein Marx [Hg.], Verwaltung, 1965, S. 187 [191]). 73 Zitat: Ernst Forsthojf, Der Staat der Industriegesellschaft, 21971, S. 144. 74 Vgl. Peter Häberle , Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, S. 297ff.; ders., Verfassungsinterpretation als offener Prozeß - ein Pluralismuskonzept (1978), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 121 ff.; ders., Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 97 (1978), S. 1 (10ff.); ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, *1982, S. 18 ff.; ders., Die Entwicklungsstufen des heutigen Verfassungsstaates, in: Rechtstheorie 22 (1991), S. 431 (438 ff.); ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft am Beispiel von 50 Jahren Grundgesetz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16/99 vom 16. April 1999, S. 20ff. Auf gleicher Linie Helmuth Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984, S. 15 ff. Kritik: Wilhelm Henke, Der fließende Staat, in: Der Staat 20 (1981), S. 580ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Diskussion um die Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung, in: AöR 106 (1981), S. 580 (598 ff.); Starck (N 49), § 164 Rn. 25; Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht", in: HStR Bd. VII, 1992, § 162 Rn. 48.

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rechtlichen Funktionen hinaus integrative Wirkungen dadurch, daß sie als nationale Werte den Einungsprozeß des Gemeinwesens inspirieren und in Gang halten. 75 Für Smend leistet Verfassung auch Integration, für Häberle aber ist alles, was Integration leistet, auch Verfassung. Damit löst sich der Verfassungsbegriff ab von der Verfassungsurkunde und wird zum ganzheitlichen Lebensprinzip: totale Verfassung. Die Unterscheidungen, welche die Verfassung als Rechtsgesetz ausmachen, verfließen: zwischen höherrangigen und niederrangigen Normen, zwischen inländischem und ausländischem Recht, zwischen Rechtserkenntnis und Politik, zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Norm und Wirklichkeit. Kultur wird Verfassung, Verfassung wird Kultur. Relative Regelungen gewinnen Allseitigkeit. Der erweiterte Verfassungsbegriff Peter Häberles ergibt das Pendant zum erweiterten Kunstbegriff Joseph Beuys': Alles ist Verfassung, jedermann ist Verfassungsinterpret. Die normative Rigidität und Stabilität der Verfassung verlieren sich mit der Aufschwemmung ihres Inhalts. Die gegenständliche Ausweitung wird erkauft mit der Aufweichung des normativen Geltungsanspruchs. Verfassung wird nachgiebig und folgsam den Bewegungen des Zeitgeistes. Unter solchen Theorie-Auspizien erlangen Staatsaufgaben Verfassungsqualität schon dadurch, daß sie sich hier und heute als politisch notwendig erweisen oder daß sie im Trend liegen. Freilich läßt sich irgendein Bezug zum Verfassungsgesetz, wenn einmal ein bestimmtes Vor-Urteil gefallen ist, im nachhinein immer herstellen, wenn schon nicht zu einer konkreten Regel, dann zu einem abstrakten Prinzip, wenn nicht zu einer expliziten, dann zu einer impliziten Aussage, wenn nicht zum rechtlichen Gehalt, dann zum politischen Assoziationsfeld. Die Verfassungstheorie der Staatsaufgaben eilt der Verfassungsdogmatik voraus. Kommt letztere nicht nach, so gesellt sich die Verfassungspolitik hinzu, um das Verfassungsgesetz um Staatsziel- und Staatsaufgabennormen zu ergänzen.76 Ein Verfassungsbegriff, der sich vom Verfassungsgesetz emanzipiert, hebt ab von der Ebene, auf der sich die Frage nach dem Vorbehalt der Verfassung stellt. Diese bezieht sich auf das Verfassungsgesetz. Sie macht nur Sinn innerhalb der Positivität des Rechts und seinen Unterscheidungen. Überhaupt ist die Theorie der Totalverfassung inkompatibel der Dogmatik des Verfassungsrechts, weil sie die Grenzen überspielt, die das Wesen des Rechts ausmachen. Recht setzt ein, wo Grenzen zu markieren sind. Wo es aber der Grenzen nicht bedarf, ist das Recht entbehrlich - im Reich der Liebe, der Phantasie, der Poesie. 75

Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders. Staatsrechtliche Abhandlungen, 21968, S. 119 (215 ff., 233 ff.). 76 Allgemein Hciberle (N 59), S. 605 ff. Verfassungspolitische Forderungen zur Reform des Grundgesetzes: ders., Die Verfassungsbewegung in den fünf neuen Bundesländern, in: JöR n. F. 41 (1993), S. 71 (81 ff.); ders., Die Schlußphase der Verfassungsbewegung in den neuen Bundesländern, in: JöR n. F. 43 (1995), S. 355 (363 ff., 376ff., 395 f.); ders., Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands. Ein wissenschaftlicher Diskussionsbeitrag im Vormärz 1990, in: JZ 1990, S. 358 (360 ff.).

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6. Testfall Rechtschreibreform Die staatliche Regulierung der Rechtschreibung stößt auf den rechtlichen Einwand, daß dem Staat die verfassungsrechtliche Kompetenz dazu fehle. Auf eine solche aber sei er angewiesen. Weder im geschriebenen noch im ungeschriebenen Verfassungsrecht lasse sich eine Kompetenznorm nachweisen, welche die Reform der vorstaatlich entstandenen und sich im gesellschaftlichen Bereich entwickelnden Schriftsprache als eine legitime Staatsaufgabe erscheinen ließe. 77 Prämisse ist also, daß dem Staat verboten ist, was ihm die Verfassung nicht erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht geht von der konträren Prämisse aus: dem Staat ist erlaubt, was die Verfassung ihm nicht verbietet. „Dem Grundgesetz liegt nicht die Vorstellung zugrunde, daß sich jede vom Staat ergriffene Maßnahme auf eine verfassungsrechtliche Ermächtigung zurückführen lassen müsse. Es geht vielmehr von der generellen Befugnis des Staates zum Handeln im Gemeinwohlinteresse aus, erlegt ihm dabei aber sowohl formell als auch materiell bestimmte Beschränkungen auf. Ein Regelungsverbot kann sich unter diesen Umständen nicht schon aus einer fehlenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung, sondern nur aus den verfassungsrechtlichen Schranken staatlicher Entscheidungen ergeben." Das Grundgesetz aber, so das Bundesverfassungsgericht, enthält kein Verbot, die Rechtschreibung zum Thema staatlicher Regelung zu machen.78 Auf den ersten Blick liegt hier ein fundamentaler Dissens vor: dort der Vorbehalt einer Spezialermächtigung im Grundgesetz, hier eine generelle Befugnis des Staates zum Handeln. Doch der Gegensatz flacht ab, wenn man die „generelle Befugnis" auf das Grundgesetz zurückführt. 79 Der Dissens reduziert sich auf zwei Punkte: - ob eine Globalermächtigung ausreicht oder ob eine Spezialermächtigung erforderlich ist, - ob die Ermächtigung der Regelung durch das Verfassungsgesetz bedarf oder ob es genügt, daß die Verfassung von ihr schweigend ausgeht, daß es sich nicht um eine Vorschrift, sondern lediglich um eine Voraussetzung handelt.

7. Verfassungsrechtlich modifizierte und limitierte virtuelle Allzuständigkeit Das Grundgesetz errichtet keinen Kanon der Staatsaufgaben. Es enthält kein durchgehendes Verteilungsprinzip, vergleichbar dem für die föderalen Kompetenzen. Die einzelnen Bestimmungen, disparat nach Regelungsintention, Dichte, Gegenstand und Adressaten, ergeben kein Ganzes. Vielmehr geht die Verfassung von der virtuellen Allzuständigkeit des Staates aus. Diese aber stellt keine Verfassungs77 Eindrucksvoll Roth (N 60), S. 261 f. (Nachw.). 78 BVerfGE 98, 218 (246). 79 Zutreffend Jestaedt (N 65), S. 10 Anm. 10.

Vorbehalt der Verfassung

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norm dar. Vielmehr bildet sie deren ungeschriebene Prämisse, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß das positivrechtliche Normengefüge Sinn und Praktikabilität verlöre. Man mag eine ungeschriebene Globalermächtigung dem Verfassungsrecht unterlegen; das ist mehr eine Frage des Geschmacks als der Dogm a t i l Jedenfalls gehört die virtuelle Allzuständigkeit des Staates zum „vorverfassungsmäßigen Gesamtbild".80 Das Regelungskonzept des Grundgesetzes bildet kein geschlossenes System. Es erweist sich als unvollständig und abhängig von ungeschriebenen Voraussetzungen. Es knüpft an vorgegebene Leitvorstellungen und Strukturen an, die es sich zu eigen macht und adaptiert. 81 Damit aber lösen sich die fundamentalistischen Kontroversen auf, sowohl die vorgestrige „Staat versus Verfassung" als auch die heutige „Verfassung statt Staat". Die Frage bleibt, ob die virtuelle Allzuständigkeit des Verfassungsstaates nicht auf apriorische Grenzen stößt. In der Tat liegen diese in der Säkularität des Staates. Der Staat identifiziert sich nicht mit Religion und Weltanschauung. Gleichwohl bleiben Religion und Weltanschauung als soziale Phänomene für ihn relevant; sie sind Themen grundrechtlicher Freiheitsgarantien. Wenn der Staat sich mit Anbruch der Neuzeit aus Fragen letzter Wahrheit zurückgezogen hat, so erzeugt er, gerade im Namen der Demokratie, seine neuen „Staatswahrheiten" - mit ungelösten verfassungsrechtlichen Fragen. 82 Es läge nahe, die Reichweite verfassungsstaatlicher Wirksamkeit auf die Regulierung äußeren Verhaltens zu beschränken und ihm die Einwirkung auf Gesinnung a priori abzuerkennen: Legalität ja - Moralität nein. Doch die Unterscheidung Kants greift nur für die Zwangsbefugnisse des Staates, nicht aber für die vielfältigen „schlichten" Einwirkungen, wie etwa für die pädagogischen der staatlichen Schule, die auf die Moralität des Bürgers zielen. - Praktisch scheitern die immer wieder unternommenen Versuche, bestimmte Bereiche a priori aus dem Wirkungskreis des Staates herauszunehmen, etwa Wissenschaft, Weltanschauung, Kultur, Moral, Konvention, Sprache, Rechtschreibung.83 Auch die Schutzbereiche der Grundrechte liegen nicht außerhalb des staatlichen Aktionsfeldes. Wenn sie ihm Eingriffe verwehren oder erschweren, so verlangen sie doch seinen Schutz, und sie halten sich mehr oder weniger seiner Forderung offen. 84 Gleichwohl begrenzen die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion die Reichweite der Staatsgewalt. Doch sie setzen nicht so sehr bei den Zielen des Staates an als bei den Mitteln. Diese werden freiheitsschonend reduziert und dosiert. Die Verfaßtheit des Staates ergibt sich zuvörderst aus der Beschränkung seiner Mittel. 85 Das 80 Kategorie: Hans Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 21948, S. 138. Zu der Sachfrage Isensee (N 62), § 13 Rn. 17 ff. 81 Näher Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HStR Bd. III, 21996, § 57 Rn. 156 ff. 52 Walter Leisner, Staatswahrheit, 1999.

53 Jüngster Versuch Roth (N 60), S. 261 f. 84 S. oben 3. S5 Grundlegend Paul Kirchhof Mittel staatlichen Handelns, in: HStR Bd. III, 21996, § 59 Rn. 1 ff.

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Ergebnis wird auch nicht in Frage gestellt durch das Subsidiaritätsprinzip, das zu den Bestandteilen des sozialen Rechtsstaats und zu den Regulativen grundrechtlicher Rechtfertigung des staatlichen Handelns gehört. Dieses regelt die Ausübung der Staatsaufgaben, setzt diese also als Handlungspotential voraus und konstituiert sie nicht. 86 Staatliches Handeln ist notwendig und ausschließlich auf das Gemeinwohl ausgerichtet. Das ist eine Prämisse des Grundgesetzes, die sich von selbst versteht. 87 Doch darum wird die Bestimmung dessen, was das Gemeinwohl erheischt, nicht zu einer Frage der juristischen Verfassungsauslegung. Vielmehr fällt die rechtsverbindliche Antwort den zuständigen Staatsorganen zu, vornehmlich dem Gesetzgeber. Das Gemeinwohl ist als Ziel vorgegeben, aber in der Bestimmung seiner praktischen Konsequenzen den von Verfassungs wegen berufenen Entscheidungsträgern aufgegeben. 88 Soweit das Grundgesetz keine inhaltlichen Vorgaben trifft, werden die Ziele und Gegenstände des staatlichen Handelns politisch bestimmt, zuvörderst durch das Parlament in der Form des Gesetzes.89 Das Grundgesetz statuiert keinen Vorbehalt der Staatsaufgaben, sondern nur den Vorbehalt der Normerzeugung. 90 Es übt weitgehende programmatische Askese und hält so dem politischen Prozeß den Bewegungsraum offen, die Staatsaufgaben dem Wandel der realen Möglichkeiten und Bedürfnisse anzupassen, und es führt den staatlichen Akteuren die für die Entscheidungen erforderliche kompetenzadäquate demokratische Legitimation zu.

VI. Numerus clausus der Handlungsinstrumente? Da das Grundgesetz sich mehr den Mitteln als den Aufgaben, mehr den Formen als den Inhalten des staatlichen Handelns widmet, liegt die Frage nahe, ob es einen Kanon der Handlungsinstrumente festschreibt. Unter diesem Aspekt seien die Rechtsetzung der Exekutive, die Typen der Abgabe und die Notstandsbefugnisse untersucht.

86 Näher Isensee (N 81), § 57 Rn. 165 ff. 87 „Befugnis des Staates im Gemeinwohlinteresse" - die Beiläufigkeit des Hinweises in BVerfGE 98, 218 (246) ist aufschlußreich. Allgemein zum Gemeinwohl im Verfassungsstaat Isensee (N 81), § 57 Rn. 41 ff., 78 ff. (Nachw.). 88 Näher Isensee (N 81), § 57 Rn. 88 ff. (Nachw.). 89 Vgl. Klaus Stern, Staatsziele und Staatsaufgaben in verfassungsrechtlicher Sicht, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1984, S. 5 (12); Isensee (N 81), § 57 Rn. 124, 125 ff., 147. Im Ergebnis auch Bleckmann, der grundsätzlich einen Verfassungsvorbehalt für Aufgaben und Befugnisse des Staates ablehnt (N 20, S. 223 ff.). - Vgl. auch die Grundsatzkritik von Rack (N 24), S. 34 ff. 90 Mit Vorbehalt läßt sich aus der Erwähnung der Körperschaftsqualität der sozialen Versicherungsträger (Art. 87 Abs. 2) auf Satzungsautonomie schließen.

Vorbehalt der Verfassung

1. Typen exekutivischer

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Rechtsetzung

Im Schrifttum findet sich die These, das Grundgesetz statuiere einen Kanon der Rechtsetzungstypen, der neben dem formeilen Gesetz die Rechtsverordnung, die Satzung und (allenfalls) die Verwaltungsvorschrift enthält.91 Sie kann sich darauf stützen, daß die exekutivische Rechtsetzung eine Ausnahme vom Prinzip der Gewaltenteilung bedeutet, daß die Rechtsetzung der Legislative zukommt. Soweit die Exekutive an der Gesetzgebung partizipiert, liegt eine Abweichung vom Prinzip der Gewaltenteilung vor. Das Grundgesetz erkennt das Parlamentsgesetz denn auch an als die reguläre Form der Rechtsetzung und widmet sich ihm unter den Aspekten von Zustandekommen und Ausführung, Kompetenz und Verfahren, Gebundenheit der Gesetzgebung an die Verfassung und Bindung der vollziehenden wie der richterlichen Gewalt an das Gesetz, als Schranke der Grundrechte und als Gegenstand der Normenkontrolle. Von den Rechtssätzen der Exekutive bildet allein die Rechtsverordnung ein Thema des Grundgesetzes. Es regelt die Bedingungen ihrer Zulässigkeit, indem es den Vorbehalt des Gesetzes lockert (aber nicht aufhebt) und den Vorrang des Gesetzes wahrt (Art. 80 GG). Die VerwaltungsVorschriften werden in speziellen Zusammenhängen erwähnt. 92 Das Grundgesetz geht also von ihrer Existenz aus. Doch trifft es deshalb keine Regelung über ihre normative Verbindlichkeit, und es läßt ihre prekäre Qualität als Rechtsquelle dahinstehen. 93 Die Satzung erscheint nicht im Verfassungstext. Doch ist sie einschlußweise Bestandteil der Verfassungsnorm über die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, zu der die Satzungsautonomie gehört (Art. 28 Abs. 2) und die Befugnis der Gemeinden, Hebesätze festzulegen (Art. 28 Abs. 2 S. 3, Art. 106 Abs. 5 S. 3 und Abs. 6 S. 2), schließlich in allen Bestimmungen, die sich auf körperschaftliche Selbstverwaltung beziehen.94 Die Praxis der Verwaltung hat zahlreiche Typen der Rechtserzeugung hervorgebracht, und sie bringt stetig neue hervor. Als Beispiele seien genannt: Sonderverordnung, technisch-wissenschaftliche Standards, Empfehlungen, Warnungen. 95 Besonders üppig vermehren sich die Handlungsformen der Verwaltung im Sozial91 Di Fabio (N 23), S. 366; Clemens (N 23), S. 337; Ossenbühl (N 23), S. 499 f. Die Vertreter der Lehre vom „Typenzwang" berufen sich auf die Judikate BVerfGE 8, 274 (323) und 24, 184 (199). Doch das Bundesverfassungsgericht läßt die Frage dahinstehen: BVerfGE 44, 322 (346 f.). Analyse der Judikatur Axer (N 23), S. 201 ff. 92 Art. 84 Abs. 2; Art. 85 Abs. 2 S. 1; Art. 86 S. 1; Art. 87b Abs. 2 S. 2; Art. 108 Abs. 7; Art. 129 Abs. 1 S. 1 GG. 93 Streitstand mit Nachw.: Fritz Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, in: HStR Bd. III, 21996, § 65 Rn. 30 ff., 35 ff. 94 Fritz Ossenbühl, Satzung, in: HStR Bd. III, 21996, § 66 Rn. 24 f. (Nachw.). 95 Dazu mit Nachw.: Rüdiger Breuer, Direkte und indirekte Rezeption technischer Regeln durch die Rechtsordnung, in: AöR 101 (1976), S. 46 ff.; Ossenbühl (N 93), § 65 Rn. 6 ff.; Markus Heintzen, Die öffentliche Warnung als Handlungsform der Verwaltung?, in: Kathrin Becker-Schwarze u. a. (Hg.), Wandel der Handlungsformen im öffentlichen Recht, 1991, S. 167 ff.

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versicherungsrecht, zumal in der Gesetzlichen Krankenversicherung: Richtlinien, Anforderungen, Empfehlungen, Rahmenempfehlungen, Gemeinsame und Einheitliche Entscheidungen, Bedarfspläne, Dienstordnungen, Strukturverträge, Rahmenverträge, Schiedssprüche, Festbetragsregelungen, Aufnahmen in das Hilfsmittelverzeichnis etc. 96 Die disparaten Formen der heutigen Gesetzgebung lassen sich durchwegs nicht oder jedenfalls nicht ohne Gewaltsamkeit den klassischen Formen der Rechtsetzung zuordnen. Das Grundgesetz zwingt nicht dazu, die atypischen Rechtsfiguren auf Biegen und Brechen als Rechtsverordnung, Satzung oder Verwaltungsvorschrift zu qualifizieren. Denn es läßt nicht erkennen, daß es ein begrenztes Repertoire der untergesetzlichen Handlungsformen festschreiben will. Es greift einzelne vorgefundene Formen auf, 97 bedient sich ihrer als Bausteine und attestiert so implicite die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit. Neben der Rechtsverordnung werden andere Handlungsformen genannt: die Richtlinien des Bundeskanzlers, die Geschäftsordnungen der Kollegialorgane, völkerrechtliche, staats- und verwaltungsrechtliche Verträge. Das Grundgesetz definiert die Formen nicht, und es regelt, mit Ausnahme der Rechtsverordnung, nicht deren Zulässigkeit. Vielmehr verwendet es sie nur als Tatbestandsmerkmale für Regelungen, die andere Themen behandeln als die der Rechtsquellen und der Rechtserzeugung. Das Grundgesetz hält dem Gesetzgeber die Entwicklung neuartiger Formen offen, die den legitimen Verwaltungsaufgaben und Organisationsstrukturen, zumal der Dezentralisierung, und den Besonderheiten der Selbstverwaltung entsprechen.98 Unverrückbar sind jedoch die allgemeinen Erfordernisse der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Legitimation, vor allem der Vorrang des Gesetzes. Die neuartigen Handlungsformen dürfen die Kautelen des Art. 80 GG nicht unterlaufen. Doch müssen diese sich darauf befragen lassen, ob und wieweit sie anwendbar sind oder nicht. 99 Der Wissenschaft ist ohnehin unbenommen, nach eigenen Kriterien den Wirrwarr der vorhandenen Regelungsformen zu klassifizieren.

2. Typen nichtsteuerlicher

Abgaben

Das Grundgesetz folgt dem Konzept des Steuerstaates.100 Grundrechte und Finanzverfassung setzen die Steuer als die reguläre Einnahmequelle des Staates voraus. Die Verteilung der Steuerkompetenzen zwischen Bund und Ländern, die wesentliche Machtfrage im Bundesstaat, wird eingehend, differenziert und dicht geregelt unter Bezugnahme auf einzelne Steuerarten (ohne daß aber die Steuer96 97 98 99

Dazu eingehend Axer (N 23), S. 65 ff. Zum Rückgriff auf die Tradition niederrangiger Normbereiche Leisner (N 6), S. 42 ff. Grundlegend Axer (N 23), S. 267 ff. Dazu Axer (N 23), S. 306 ff.

100 Dazu: Josef Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: Festschrift für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 409 ff.; Klaus Vogel , Der Finanz- und Steuerstaat, in: HStR Bd. I, 21995, § 27 Rn. 51 ff.; Paul Kirchhof Staatliche Einnahmen, in: HStR Bd. IV, 1990, § 88 Rn. 45 ff.

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erfindungspotenz vollständig zum Erlöschen käme). Das Grundgesetz läßt außersteuerliche Finanzquellen nur als Ausnahmen von der steuerstaatlichen Regel zu, unter bestimmten Voraussetzungen und innerhalb bestimmter Grenzen. So unterwirft es die Kreditaufnahme als außerordentliche Finanzierungsmöglichkeit formellen und materiellen Kautelen. Fiskalisch motiviertes Staatshandeln, das nicht in der Form der Steuer erfolgt, stößt auf grundrechtlichen Widerstand, vor allem in der Gewähr des Eigentums und der Berufsfreiheit. Die Steuer aber ist als Typus (nicht notwendig jedoch in ihrer individuellen gesetzlichen Erscheinung) mit den Grundrechten vereinbar. Als Last, die jedermann nach Maßgabe seiner Zahlungsfähigkeit zu tragen hat, entspricht sie dem Erfordernis der Lastengleichheit. Als solche bildet sie ein legitimes Medium des sozialstaatlichen Ausgleichs. Prekär bleiben die nichtsteuerlichen Abgaben, die in vielerlei wandelbaren und sich vermehrenden Formen auftreten und die ein erhebliches Finanzvolumen erreichen. Sie greifen auf dieselben wirtschaftlichen Ressourcen zu, von denen die Steuer zehrt, und können so mit der bundesstaatlichen Verteilung der Gesetzgebungs- und der Ertragskompetenzen kollidieren. Soweit sie parafiskalischen Verwaltungsträgern zufließen, entgleiten sie der Etathoheit des Parlaments. Sie belasten den Privaten und geraten damit unter Rechtfertigungszwang vor den Grundrechten, in deren Schutzbereich sie eingreifen. Besonders schwierig ist die grundrechtliche Rechtfertigung vor dem Gleichheitsgebot. Die verfassungsrechtlichen Reibungen führen nicht dazu, außersteuerliche Abgaben schlechthin auszuschließen. Doch sind sie nur zulässig, wenn sie in ihrem Belastungstatbestand und in ihrer Belastungsintention Distanz zur Steuer halten und sich in ihrer Besonderheit den verfassungsrechtlichen Vorgaben fügen, zumal der Lastengleichheit.101 Es liegt nahe, den Kreis der nichtsteuerlichen Abgaben auf die Typen zu beschränken, die das Grundgesetz im vorkonstitutionellen Recht vorgefunden und einschlußweise anerkannt hat, wie die Gebühr, die es in finanzindifferentem Kontext erwähnt, 102 und den Sozialversicherungsbeitrag, der zu den Implikationen des Kompetenztitels über die Sozialversicherung gehört. 103 Doch die Beiläufigkeit, mit der es diese Materien behandelt, zeigt, daß es keine abschließende Regelung treffen will. Vielmehr läßt das Grundgesetz der Regelungsphantasie des Gesetzgebers Spielraum, Abgaben zu Finanzierungs-, Ausgleichs-, Lenkungs- und weiteren Zwecken zu erfinden, soweit er die Präponderanz der Steuer 101 Dazu P. Kirchhof (N 100), § 88 Rn. 181 ff., 221 ff., 269 ff. 102 Art. 74 Abs. 1 Nr. 22, Art. 80 Abs. 2 GG. 103 Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Vgl. auch Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG. Allgemein dazu: Ferdinand Kirchhof Finanzierung der Sozialversicherung, in: HStR Bd. IV, 1990, § 93 Rn. 13 ff., 16ff.; ders., Sozialversicherungsbeitrag und Finanzverfassung, in: NZS 1999, S. 161 ff. Verfassungsrechtliche Kritik der bestehenden Sozialabgaben als Personalzusatzkosten: Walter Leisner, Die verfassungsrechtliche Belastungsgrenze der Unternehmen, 1996, S. 78ff.; ders., Umbau des Sozialstaates, in: ders., Eigentum, 21998, S. 971 (973 ff.); ders., Fremdlasten der Sozialversicherung - ein schwerwiegender Verfassungsverstoß, ebd., S. 988 (992 ff.).

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respektiert und die freilich rigiden Strukturen der Finanz- und Grundrechtsordnung einhält. 104 Das Bundesverfassungsgericht stellt lapidar fest, die Finanzverfassung des Grundgesetzes enthalte „keinen abschließenden Kanon zulässiger Abgabetypen". 105 3. Notstandsbefugnisse

und Einsatz militärischer

Mittel

Das Grundgesetz enthält ein Tableau unterschiedlicher Notstandsvorschriften, die bei Vorliegen einer tatbestandlich beschriebenen außerordentlichen Lage die Handlungsmöglichkeiten erweitern dadurch, daß sie zur Steigerung der Effizienz das reguläre Zuständigkeits- und Verfahrensreglement vereinfachen und zusätzliche Grundrechtseingriffe eröffnen. Die Perfektion, welche die Regelungen prägt, spricht für die Annahme, daß sie das äußerste Maß staatlicher Ausnahmebefugnisse markieren und über sie hinaus keine ungeschriebenen Befugnisse zur Abwehr der betreffenden Gefahren zulässig sein sollen. 106 Für einen solchen Verfassungsvorbehalt der Notstandsbefugnisse spricht der Umstand, daß in dem Interim zwischen dem Inkrafttreten der Wehrverfassung (1956) und dem Inkrafttreten der Notstands Verfassung (1968) Art. 143 GG als Übergangsvorschrift galt, die einen ausdrücklichen Vorbehalt der Verfassungsänderung enthielt: „Die Voraussetzungen, unter denen es zulässig wird, die Streitkräfte im Falle eines inneren Notstandes in Anspruch zu nehmen, können nur durch ein Gesetz geregelt werden, das die Erfordernisse des Art. 79 erfüllt." Dieser Verfassungsvorbehalt ist von einem neuen in der nunmehr geltenden Notstandsverfassung abgelöst worden: daß die Streitkräfte außer zur Verteidigung im Inland 107 nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt (Art. 87a Abs. 2 GG). Die Rechtsmeinung, daß das Arsenal der Ausnahmebefugnisse im Grundgesetz abschließend normiert ist, entspricht den in der Bundesrepublik herrschenden Normalitätserwartungen, die, im 104

Näher Josef Isensee, Nichtsteuerliche Abgaben - ein weißer Fleck in der Finanzverfassung, in: Staatsfinanzierung im Wandel, Verhandlungen auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, 1983, S. 435 ff.; P. Kirchhof (N 100), § 88 Rn. 269 f.; Klaus Vogel/Christian WaldhoffGrundlagen des Finanzverfassungsrechts, 1999, S. 232 ff. Aus der Judikatur: BVerfGE 55, 274 (297 ff.); 57, 139 (166 ff.); 78, 249 (267); 82, 159 (178 ff.); 92, 91 (113 f., 120 f.); 93, 319 (342 f.). los BVerfGE 93, 319 (342) - unter Bezugnahme auf BVerfGE 82, 159 (181). Methodologische Kritik an der Theorie eines Verfassungsvorbehalts für nichtfiskalische Abgaben: Rack (N 24), S. 47, 48 ff. 106 In diesem Sinne Stern (N 29), S. 543 f. - Die gegenteilige Position vertritt ders. in: Das Staatsrecht der Bundesrecht Deutschland, Bd. II, 1980, S. 1334 ff. Für eine abschließende Regelung der Notstandsbefugnisse im Verfassungsgesetz: Erhard Denninger, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: VVDStRL 37 (1979), S. 7 (44 ff.); Adolf Arndt, Demokratie - Wertsystem des Rechts, in: ders./Michael Freund, Notstandsgesetze - aber wie?, 1962, S. 7 ff. Antithese: Michael Freund, Demokratie - Wagnis des Vertrauens, ebd., S. 67 ff. i° 7 Die Beschränkung auf Inlandseinsätze ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut, doch aus dem Sinn der Vorschrift. Zutreffend: F. Kirchhof (N 30), § 78 Rn. 29; Randelzhofer (N 30), Art. 24 Abs. II Rn. 63 (Nachw.). Weit. Nachw. zu der Kontroverse oben Anm. 30.

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Gegensatz zur Weimarer Republik, noch nicht durch tiefgreifende Krisenerfahrung gebrochen sind. Dennoch steht über dem geschlossenen System des Verfassungslegalismus und Notstandsperfektionismus das Menetekel des ungeschriebenen Notrechts: daß in der höchsten Gefahr für den Bestand des Staates und für die Güter, zu deren Schutz er bestellt ist, er hinderliche Bindungen der Legalität abstreift, um mit größtmöglicher Wirksamkeit der Gefahr zu wehren. 108 Ob ein Notrecht praeter constitutionem besteht, entscheidet sich nicht in akademischer Verfassungsexegese, sondern im Ernstfall. In der Hamburger Flutkatastrophe des Jahres 1962 und in der terroristischen Bedrohungslage des Jahres 1977, die eine vor, die andere nach Inkrafttreten der Notstandsverfassung, nahmen die handelnden Staatsorgane ein solches Notrecht in Anspruch und verfügten Maßnahmen ohne Deckung durch das Gesetz. Außerhalb der Notstandstatbestände paßt sich die Grundrechtsauslegung elastisch außerordentlichen und neuartigen Sicherheitsbedürfnissen an. Das Bundesverfassungsgericht läßt die Erfüllung einer grundrechtlichen Schutzpflicht über den Grundrechtseingriff gegen den Störer (Fangschaltungen der Post zum Schutz gegen bedrohliche und belästigende anonyme Anrufer) nicht von vornherein daran scheitern, daß die - an sich von Verfassungs wegen erforderliche - gesetzliche Ermächtigung fehlt. 109 Das Bundesverfassungsgericht beharrt nicht auf starrem Legalismus, wählt im Konflikt verfassungsrechtlicher Normen das geringere Übel und hält sich Not- und Übergangslösungen offen. Für den Grenzfall, daß Staat und Verfassung bedroht sind und die Mittel der legalen Abhilfe, auch die der Notstandsverfassung, versagen, stößt das Grundgesetz selbst die Tür zu anarchischer Gegenwehr auf - über das Widerstandsrecht, das, wenn auch verfassungsgesetzlich anerkannt, so doch nicht staatlich organisierbar und nicht rechtlich verfaßbar, den staats- und verfassungsloyalen Kräften zuwächst. 110 Überhaupt markieren die Notstandstatbestände des Grundgesetzes nur die Schwelle, an der die Sonderbefugnisse einsetzen; aber sie regeln nicht den Fall, daß diese nicht ausreichen. Der eingehend geregelte Tatbestand des Verteidigungsfalles, der auf die traditionelle Bedrohungs- und Entscheidungslage des Nationalstaats abstellt, vermag die heutigen Möglichkeiten des auswärtigen Einsatzes der Bundeswehr nicht zu fassen. Die Entscheidung hat sich im wesentlichen auf die internationale Ebene des Bündnissystems verlagert und entzieht sich so weitgehend der Verfassung, die sich damit begnügt, die Ermächtigung zur Integration vorzusehen (Art. 24 Abs. 2 GG), das Erfordernis des Zustimmungsgesetzes zum Bündnisvertrag und das Erfordernis los Eingehend mit Nachw. Stern (N 106), Bd. II, S. 1328 ff. 109 BVerfGE 85, 386 (400 ff.). Aufschlußreich auch die Güterabwägung praeter legem im Entführungsfall Schleyer: BVerfGE 49, 24 (53 ff.). - Zur Selbstbehauptung des Verfassungsstaates nach Maßgabe des Verfassungsrechts Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht", in: HStR Bd. VII, 1992, § 162 Rn. 90 ff., 93 ff. ho Dazu Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 13 ff., 78 ff.

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der Zustimmung des Parlaments zum konkreten Einsatz der Bundeswehr. 111 Die vertragliche Grundlage des Bündnissystems entwickelt sich nach den Bedürfnissen der internationalen Politik und dem Wandel des Völkerrechts, nicht zuletzt der Permeabilisierung der Staaten durch die universalen Menschenrechte, die sich heute zu Wehrhaftigkeit erheben. Das Residuum nationaler Entscheidungskompetenz, damit das Geltungssubstrat der Verfassung, schrumpft. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit des militärischen Einsatzes, nach verfassungs- wie völkerrechtlichen Kriterien verstummt angesichts der Notwendigkeit Deutschlands, seine Bündnisfähigkeit unter Beweis zu stellen. Mit der supranationalen und globalen Öffnung bricht die Verfassung von außen her auf. Interpretatorische Bestrebungen, sie als geschlossenes System zu deuten und Verfassungsvorbehalte zu deduzieren, stoßen damit auf eine unübersteigbare, verfassungsexterne Grenze ihrer Möglichkeiten.

VII. Verfassungsvorbehalt für Grundrechtsschranken 1. Grundrechtliche

Gesetzesvorbehalte

Die unterschiedlichen Gesetzesvorbehalte, die in einzelne Grundrechtsnormen eingebaut sind, enthalten die formellen und die materiellen Bedingungen, unter denen die Legislative in die verfassungsrechtlich vorgegebenen Schutzbereiche gegen den Willen des Berechtigten eindringen und so den virtuellen Freiraum rechtswirksam einschränken darf. Die Gesetzesvorbehalte sichern den Vorrang der Grundrechte dadurch, daß sie dem Gesetzgeber, wenn sie ihn auch nicht aus den verfassungsrechtlich abgeschirmten Bezirken schlechthin verbannen, so doch nur eine mehr oder weniger enge Pforte öffnen und den Einlaß regulieren und limitieren. Neben dem Gesetzesvorbehalt gibt es für ihn keinen weiteren Einlaß. In seiner Exklusivität gibt dieser indirekt einen Verfassungs vorbehält zu erkennen. 112 Dieser aber bezieht sich auf das Thema der Gesetzesvorbehalte, auf die planmäßige Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit durch Gesetz, also die klassische Form des Grundrechtseingriffs. 113 Auf ihn sind die (praktisch freilich wenig wirksamen) grundgesetzlichen Kautelen des Art. 19 Abs. 1 und 2 GG abgestellt. Die Gesetzesvorbehalte schließen jedoch nicht gesetzgeberische Aktivitäten mit grundrechtlicher Relevanz aus, die außerhalb der kritischen Schwelle des Eingriffs liegen: etwa Vorkehrungen zur Sicherstellung der Grundrechts Voraussetzungen und zur Förderung der Grundrechtsausübung.

in BVerfGE 90, 286 (344 ff.) - out of area. Vgl. auch BVerfGE 68, 1 (79 ff.) - Pershing. 112 Vgl. Wülfing (N 28), S. 20ff. 113 Dazu Isensee (N 57), § 111 Rn. 58 ff. (61 ff.); Bethge (N 28), S. 10 ff., 37 ff.

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2. Keine verfassungsunmittelbare

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Eingriffsermächtigung

In den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten wird der allgemeine Vorbehalt des Gesetzes verschärft und konkretisiert. Aber er wird nicht auf ganzer Linie unentbehrlich. Das zeigt der Vorbehalt für Eingriffe und Beschränkungen der Wohnungsfreiheit, die zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen von Verfassungs wegen gestattet werden, ohne daß die Zwischenschaltung eines Gesetzes gefordert wird, während ansonsten, bei weiteren Zielen der Gefahrenabwehr, eine gesetzliche Grundlage notwendig ist (Art. 13 Abs. 7 GG). Im Schrifttum herrscht die Meinung, daß eine verfassungsunmittelbare Eingriffsermächtigung vorliegt, 114 mit der (zumeist nicht bedachten) Folge, daß die Exekutive ohne einfachgesetzliche Ermächtigung Eingriffe tätigen könnte. Damit sänke der Schutz der Wohnungsfreiheit unter das Normalniveau des demokratischen Rechtsstaates, wie es durch den allgemeinen Eingriffsvorbehalt des Gesetzes garantiert wird. Das aber ist nicht der Fall. Der allgemeine Vorbehalt wird nicht durchbrochen, wenn der bereichsspezifische Vorbehalt nicht greift. 115 Die Verwaltung bleibt aus rechtsstaatlichen Gründen angewiesen auf eine formellgesetzliche Eingriffsgrundlage sogar unabhängig davon, ob der Eingriffsadressat sich innerhalb eines grundrechtlichen Schutzbereichs bewegt oder nicht. 116 Dem Grundgesetz, sind unmittelbare Pflichten des Bürgers fremd. Als rechtsstaatliche Verfassung nimmt es die Staatsgewalt unmittelbar in die Pflicht, doch nicht den Bürger. Dagegen gewährleistet es diesem unmittelbare Grundrechte. Seine einseitige Regelungsintention ist es, die Freiheit der Bürger gegenüber der Staatsgewalt zu begründen, nicht aber, sie einzuschränken. 117 Soweit diese der Einschränkung bedarf, weist es die Kompetenz dem Gesetzgeber zu, der, gebunden n* So Bettermann (N 27), S. 6 („Verfassungsvorbehalt"); Wülfing (N 28), S. 40; Walter Schmitt Glaeser, Schutz der Privatsphäre, in: HStR Bd. VI, 1989, § 129 Rn. 60; Matthias Herdegen, in: Bonner Kommentar, Stand 1993, Art. 13 Rn. 73 f. („verfassungsunmittelbare Vorbehalte"); Philip Kunig, in: von Münch/Kunig (N 25), Bd. 1, 41992, Art. 13 Rn. 40 („verfassungsunmittelbare" Beschränkungsmöglichkeit). 115 Richtiger Ansatz: Hans D. Jarass, in: ders./Bodo Pieroth, Grundgesetz, 41997, Art. 13 Rn. 11; Georg Hermes, in: Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd. I, 1996, Art. 13 Rn. 46. 116 Vgl. Bethge (N 28), S. 51. 117 Als Durchbrechung der rechtsstaatlichen Regel erscheint die mögliche Inpflichtnahme Privater durch Untersuchungsausschüsse aufgrund der dynamischen Verweisung auf das Strafprozeßrecht (Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG). Doch die Verweisung ersetzt nicht die gesetzliche Ermächtigung. - Eine Anomalie bildete die Strafnorm des Hochverrats in Art. 143a GG, freilich eine Notlösung des Übergangs von planmäßig kurzer Geltungsdauer (dazu Matthias Jestaedt, Das Grundgesetz im Spiegel seiner Änderungen, in: Angela Bauer/Matthias Jestaedt, Das Grundgesetz im Wortlaut, 1997, S. 1 [18 ff.]). - Das spektakuläre Exempel bildet dagegen die zeitweilige Handhabung des Sozialisierungsartikels der Hessischen Verfassung, Art. 41. Kritik: Carl Schmitt, Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug, 1952, S. 7 ff., 44 ff. - Allgemein zum Ausschluß verfassungsgesetzlicher Inpflichtnahme des Bürgers: Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR Bd. I, 21995, § 13 Rn. 15; ders. (N 57), § 111 Rn. 151 f.; ders. (N 58), § 115 Rn. 165, 172 ff. 26 FS Leisner

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an verfassungsrechtliche Direktiven, über Inhalt und Umfang der Pflichten politisch entscheidet. Die aktuellen Pflichten des Bürgers haben ihren Standort unterhalb der Verfassungsebene. Als Grundrechtsbeschränkungen stehen sie unter Rechtfertigungszwang. Das gilt auch dann, wenn sie im Verfassungsgesetz vorgesehen sind wie die Pflichten des Eigentümers (Art. 14 Abs. 2 GG). Derartige Pflichtenregelungen sind nicht self-executing. Sie tasten den Vorbehalt des Gesetztes nicht an und sind angewiesen auf die Vermittlung des Gesetzes, das sie parlamentarisch sanktioniert und die Rechtsverbindlichkeit für den Bürger herstellt. In ihrer plakativen Fassung („Eigentum verpflichtet") wären die Pflichtenformeln des Grundgesetzes auch nicht rechtlich vollziehbar. Sie bedürfen der Konkretisierung durch Gesetz, das ihnen die rechtsstaatliche Bestimmtheit verschafft. Der Vorbehalt des Gesetzes hat nicht nur staatsorganisatorische Bedeutung dadurch, daß er die Kompetenzen zwischen Legislative und Exekutive verteilt, er dient auch dem Schutz der grundrechtlichen Freiheit. „Wenn das Grundgesetz die Einschränkung von grundrechtlichen Freiheiten und den Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechten dem Parlament vorbehält, so will es damit sichern, daß Entscheidungen von solcher Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten und die Volksvertretung anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären." 118 Erst das Gesetz gibt den Rechtspflichten die notwendige Befehlsklarheit und faßt sie zu der rechtsstaatlich notwendigen Bestimmtheit, die den lapidaren Pflichtenformeln des Verfassungsgesetzes („Eigentum verpflichtet") abgeht. 119 Der Vorbehalt des Gesetzes markiert also eine Grenze des Geltungsanspruchs der Verfassung und schützt so die Eigenständigkeit der unteren, der einfachgesetzlichen Normstufe, in ihr das Prinzip der Gewaltenteilung. Insoweit zeitigt der Vorbehalt des Gesetzes gegenläufige Wirkungen wie die Verfassungsvorbehalte.

3. Verfassungsimmanente

Schranken

Grundrechtsnormen, die den Gesetzgeber nicht ausdrücklich zur Bestimmung ihrer Schranken ermächtigen, stoßen jedenfalls auf die Schranken, die das Grundgesetz selbst aufrichtet. Diese verfassungsimmanenten Schranken sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die einzigen, die den „vorbehaltlosen" Grundrechten gezogen sind. Das Gericht verwirft den Gedanken, daß es eine ungeschriebene generelle Eingriffsermächtigung gebe, sowie die Anwendung spezieller Gesetzesvorbehalte wie jenes der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG) oder der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG. 1 2 0 na BVerfGE 85, 386 (403 f.). Ii 9 Zu den Implikationen der Sozialbindung: Leisner, Sozialbindung (N 8), S. 43ff., 147 ff., 185 ff.; ders.> Eigentum (N 8), § 149 Rn 133 ff.

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So einfach die dogmatische Prämisse, so schwierig ist die juristische Anwendung, zumal die Feststellung, daß eine Grundrechtsnorm mit einer anderen Norm des Verfassungsgesetzes kollidiert. Die anderen Normen sind nicht als Grundrechtsschranken konzipiert, sondern als Kompetenzen, Verfahrensregeln, Handlungsaufträge oder eben selber als Grundrechtsgarantien. Diese müssen im Wege der Auslegung erst aufbereitet und dem jeweiligen Grundrecht kompatibel gemacht werden, als Rechtsgüter, „Werte", Prinzipien oder Regeln, damit ein möglicher Widerspruch erkennbar und Abwägung zur Herstellung des Ausgleichs möglich wird. Die Verfassungsinterpretation leitet aus den Kompetenzen der Staatsorgane das Prinzip ab, daß die Funktionsfähigkeit der Staatsorgane gegenüber bestimmten Formen der Grundrechtsausübung aufrechtzuerhalten sei, 121 und aus dem Nebeneinander der Grundrechtsträger, daß die Grundrechtsfreiheit des einen neben der Grundrechtsfreiheit des anderen bestehen müsse, und allgemeine, gleiche Rahmenbedingungen wie das Gewaltverbot einzuhalten seien. 122 In der Rechtsprechung geht der Aufweis einer verfassungsimmanenten Schranke nicht ohne exegetischen Kampf und nicht ohne weit hergeholte Deduktionen ab, wenn das Gericht ein bestimmtes Ergebnis, das der praktischen Vernunft als richtig einleuchtet, a posteriori begründet. Die Friktionen sind unvermeidlich, weil das Grundgesetz nicht das Ganze legitimer Prinzipien, welche die materielle Verfassung ausmachen, kodifiziert. Schon aus föderalen Gründen hält es sich zurück und beläßt den Ländern wichtige Materien, zumal das Bildungswesen und die Kulturverfassung, weithin zu eigenverantwortlicher Regelung. Die Doktrin der verfassungsimmanenten Schranken darf daher nicht auf das Grundgesetz allein und nicht allein auf das formelle Verfassungsrecht bezogen werden. Vielmehr macht sie nur Sinn, wenn sie das materielle Verfassungsrecht des Gesamtstaates umschließt, das sich auch aus den Landesverfassungen speist und das heute in zunehmendem Maße europäische und universale Menschenrechtsgehalte aufnimmt. Ein strenger Vorbehalt des Grundgesetzes besteht also nicht, sondern nur ein Vorbehalt der materiellen Verfassung. Deren Substanz bedarf der interpretatorischen Erschließung durch die Praxis wie durch die Staatsrechtslehre. 123 Manches Schrankenjudikat, das auf Bie120 Repräsentativ: BVerfGE 30, 173 (193); 32, 98 (108); 48, 127 (163). - Dazu: Schmidt (N 31), S. 497ff.; Kriele (N 58), § 110 Rn. 69ff.; Peter Lerche, Grundrechtsschranken, in: HStR Bd. V, 1992, § 122 Rn. 23 f.; Stern (N 29), S. 571 ff. (Nachw.). 121 Exemplarisch BVerfGE 32, 40 (46); 48, 127 (Ls. 1, 159 ff.); 69, 1 (21) - „Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr"; 33, 367 (383); 53, 152 (160) -„Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege". Dazu: Isensee (N 81), § 57 Rn. 118 (Nachw. Anm. 179); Volkmar Götz., Innere Sicherheit, in: HStR Bd. III, 21996, § 79 Rn. 22; Kriele (N 58), § 110 Rn. 110 ff. Grundsätzliche Kritik: Erhard Denninger, Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe, in: Festschrift für Rudolf Wassermann, 1985, S. 279 (292); Winfried Hassemer, Die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" - ein neuer Rechtsbegriff?, in: Klaus Lüderssen (Hg.), V-Leute. Die Falle im Rechtsstaat, 1985, S. 71 (76 ff.). Vgl. auch Wülfing (N 28), S. 129. 122 Dazu mit Nachw. Isensee (N 57), § 111 Rn. 171 ff.; ders. (N 58), § 115 Rn. 109 ff. 123 Vgl. Josef Isensee, Schranken der vorbehaltlosen Grundrechte, in: 100 Jahre Koreanisch-deutsche Beziehungen in der Rechtswissenschaft, Zeitschrift der Koreanisch-deutschen 26*

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gen und Brechen den Wortlaut strapaziert, um ein an sich akzeptables Ergebnis zu begründen, gewänne Plausibilität, wenn es sich offen zu ungeschriebenen Grenzen der Freiheitsausübung bekennen würde, wie dem Vorbehalt der Friedlichkeit, der Nichtstörungsschranke, den Funktionserfordernissen staatlicher Institutionen. 124 Auch in seinem engsten Verständnis schließt der Verfassungsvorbehalt gesetzgeberische Aktivität nicht aus. Dem Gesetzgeber ist lediglich verwehrt, von sich aus das (vorbehaltlose) Grundrecht einzuschränken und über die verfassungsimmanente Schranke hinauszugehen. Doch er kann und muß die verfassungsimmanente Schranke nachzeichnen dadurch, daß er den schonendsten Ausgleich zwischen den kollidierenden Rechtsgütern herstellt. 125 Dazu bedarf es keiner speziellen Ermächtigung im Verfassungsgesetz, abgesehen vom allgemeinen rechtsstaatlichen und demokratischen Gesetzesvorbehalt, der, wenn nicht sub specie des Eingriffs, so doch sub specie der „Wesentlichkeit" der Materie auflebt. Wäre dem Gesetz der Bereich der vorbehaltlosen Grundrechte schlechthin versperrt, so könnte es seine freiheitssichernde Funktion gerade dort nicht entfalten, wo die Freiheit in gesteigertem Maße des grundrechtlichen Schutzes bedarf. Das Schutzniveau sänke bei den vorbehaltlosen Grundrechten unter das der vorbehaltbelasteten. 126 Die Normenkollision ergibt sich aus der Verfassung selbst. Aus dieser folgt die Aufgabe, die Kollision aufzulösen. Die Kompetenz dazu liegt in der gewaltenteiligen Demokratie zuvörderst bei der Legislative. Diese verfügt über die demokratische Legitimation zur politischen Konkretisierung der Verfassung. Wenn auch die Markierung der verfassungsimmanenten Schranken der Idee nach Verfassungsinterpretation ist, so kommt sie nicht aus ohne schöpferische Zutat des Interpreten, der den Ausgleich der Normenkollision herzustellen und damit Rechtssicherheit zu ermöglichen hat. - Das Bundesverfassungsgericht merkt freilich an, daß, soweit sich durch Auslegung die sachliche Reichweite eines Grundrechts unmittelbar erschließen lasse, dem einfachen Gesetzgeber kein Raum bleibe für eine konstitutive Regelung. „Eine authentische Interpretation der Verfassung ist ihm verwehrt" 127 doch auch das Bundesverfassungsgericht interpretiert nicht authentisch, sondern nur verbindlich für die übrigen Staatsorgane. „Versucht ein Gesetz, den Gehalt des Gesellschaft für Rechtswissenschaft, Seoul 1985, S. 51 (66 ff.). Vgl. auch Wülfing (N 28), S. 120 ff. 124 Dazu Lerche (N 120), § 122 Rn. 3 ff., 23 f. 125 Zur ungeschriebenen Aufgabe des Gesetzgebers, verfassungsrechtliche Kollisionen aufzulösen: Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 106 f., 125 ff.; ders ., Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, in: HStR Bd. V, 1992, § 121 Rn. 47; Wolfgang Rüfner , Grundrechtskonflikte, in: Christian Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 2. Bd., 1976, S. 453 (471 ff.); Isensee (N 58), § 115 Rn. 146. - Exempel aus der Judikatur: BVerfGE 57, 295 (319 ff.); 85, 386 (403 - Parlamentsvorbehalt für den „Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechten"). 126 Vgl. Wülfing (N 28), S. 131. Vgl. auch Walter Krebs , Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975, S. 102 ff. 127 BVerfGE 12, 45 (53). - Treffende Kritik am gängigen Verständnis der „authentischen" Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht Jestaedt (N 65), S. 449 ff.

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Grundrechts mit eigenen Worten verdeutlichend zu umschreiben, so geschieht das auf die Gefahr, daß dieser Interpretationsversuch mit der Verfassung in Widerspruch gerät" 128 - genauer: mit jener Interpretation der Verfassung, die das Bundesverfassungsgericht später für verbindlich erklärt. Diesem fällt das letzte, aber deshalb nicht das einzige Wort im Streit über die richtige Bestimmung der verfassungsimmanenten Schranken zu.

V I I I . Staatsorganisatorische Verfassungsvorbehalte 7. Verhältnis von Bund und Ländern Der Bundesstaat ist in besonderem Maße angewiesen auf die Verfassung. Diese sieht vor, wie die föderalen und die unitarischen Elemente auszubalancieren sind. Den Gliedern sichert sie die Eigenständigkeit und dem Gesamtstaat die Handlungsfähigkeit. Sie garantiert zwar dem einzelnen Land nicht das Recht auf Existenz, aber sie macht die Aufhebung bestehender und die Schaffung neuer Länder sowie Veränderungen ihres Gebietszuschnitts abhängig von anspruchsvollen Verfahren (Art. 29, 118, 118a GG), so daß der formelle Verfassungsvorbehalt einer materiellen Bestandsgarantie nahekommt. Das Grundgesetz regelt die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern strikt und abschließend. Die Kompetenzen stehen nicht zur Disposition ihrer Träger. Diese dürfen sie auch nicht im gegenseitigen Einvernehmen verschieben. 129 Der Verfassungsvorbehalt für Kompetenzen wird durch die förmliche Ausnahmevorschrift bestätigt, daß ein Bundesgesetz die Länder (widerruflich) ermächtigen kann, die Befugnis zur Gesetzgebung im Bereich der ausschließlichen Bundeskompetenz auszuüben (Art. 71 GG). 1 3 0 Die bundesstaatliche Finanzverfassung bildet ein abschließendes Konzept. 131 Der Bundesgesetzgeber darf Bestimmungen nur treffen, wenn ihn das Grundgesetz dazu ausdrücklich ermächtigt, wie es bei der Aufteilung des Aufkommens der Umsatzsteuer (Art. 106 Abs. 3 und 4) und beim Länderfinanzausgleich (Art. 107 Abs. 2) der Fall ist. Die Einnahmen- wie die Ausgabenkompetenzen sind unverrückbar. Die Länder können nicht einvernehmlich mit dem Bund die Finanzierungskompetenzen unterlaufen. Sie dürfen dem Bund nicht im Rahmen eines Finanzhilfeverhältnisses Befugnisse einräumen, die diesem nach Art. 104 Abs. 4 GG nicht zustehen.132 Auf der anderen Seite darf der Bund den Ländern nicht 128 BVerfGE 12,45 (53). 129 BVerfGE 41, 291 (311); 63, 1 (39). Vgl. auch BVerfGE 32, 145 (156). 1 30 Kunig 131 132

Zu dieser in der Praxis bedeutungslosen Ermächtigung Philip Kunig , in: von Münch/ (N 25), Bd. 3, 3 1996, Art. 71 Rn. 1 ff., 8 ff. BVerfGE 67, 256 (286); 92, 91 (115). BVerfGE 41, 191 (311). Vgl. auch BVerfGE 39, 96 (109).

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durch präterkonstitutionelle Wohltaten politisch genehmes Verhalten im Bundesrat abkaufen. Die Kompetenzordnung ist mehr als eine Schutzvorkehrung zugunsten der Länder. Sie dient der bundesstaatlichen Machtbalance, innerhalb deren Bund und Ländern Rollen bestimmter Art und von bestimmtem Gewicht zugeteilt werden, die sie wahrzunehmen haben, die sie aber nicht verändern oder gar vertauschen können. Der bundesstaatliche Verfassungsvorbehalt erstreckt sich auch auf die Ingerenzrechte des Bundes in den Eigenbereich der Länder. Befugnisse solcher Art stehen dem Bund gegenüber den Ländern zu, wenn sie Bundesgesetze ausführen (Art. 84, 85 GG). Der Bund darf seine Befugnisse nicht erweitern. Er hat die Kriterien der Ermächtigungsnorm strikt einzuhalten. Wenn die Bundesregierung von Verfassungs wegen ermächtigt ist, mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften für die Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder als eigene oder als Auftragsangelegenheit zu erlassen (Art. 84 Abs. 2, Art. 85 Abs. 2 S. 1 GG), so steht der Erlaß ausschließlich der Bundesregierung als Kollegium zu. Diese kann die Kompetenz nicht auf den Ressortminister delegieren, ebensowenig wie das ein Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates vermöchte. 133 Ohne ausdrückliche Ermächtigung im Grundgesetz könnte der Bundesgesetzgeber den Ländern auch keine Vorgaben machen für die Erfüllung von Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a) oder für die Investitionsförderung (Art. 104a Abs. 4). Der numerus clausus der Ingerenzrechte des Bundes wird nicht relativiert durch die verfassungsrechtliche Gewährleistungspflicht des Bundes für die verfassungsmäßige Ordnung der Länder (Art. 28 Abs. 3). Im Gegenteil: die Gewährleistungspflicht ist nur durchsetzbar über die begrenzten Eingriffsbefugnisse, die das Grundgesetz dem Bund zur Verfügung stellt. 134 Der starre Formalismus, der hier obwaltet, sichert die Eigenverantwortung der Länder. Diesem Regelungsstil entspricht die strikte Handhabung der Vorschrift über die Adressaten einer Verordnungsermächtigung, zu denen nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG die Landesregierungen gehören; an deren Statt kann das Bundesgesetz nicht einen Landesminister ermächtigen, selbst dann nicht, wenn nach Landesverfassungsrecht ein Minister für die Landesregierung tätig werden kann. 135 Der Bund respektiert die Verfassungshoheit der Länder und greift in ihre Binnenorganisation nur ein, wenn das Grundgesetz es ausdrücklich bestimmt oder zuläßt. Dieses sieht aber grundsätzlich davon ab, die Organe der Länder zu bestimmen, die eine Landeskompetenz wahrzunehmen haben. 136 Das Grundgesetz stellt es den Ländern sogar anheim, die der Landesregierung gewidmete Verordnungsermächti133 BVerfG, Beschluß vom 2. März 1999, Umdruck S. 17 f. - in Abweichung von BVerfGE 26, 338 (399). 134 Dazu Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR Bd. IV, 1990, §98 Rn. 92, 124 f. 135 BVerfGE 11, 77 (86); 15, 268 (271); 88, 203 (332). 136 BVerfGE 88, 203 (332).

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gung durch Landesgesetz auszuüben (Art. 80 Abs. 4). - Dem Vorbehalt unterliegen auch die Befugnisse der Gliedstaaten, an der politischen Willensbildung des Zentralstaates mitzuwirken. Der bundesstaatliche Verfassungsvorbehalt schließt die Möglichkeit ungeschriebenen Verfassungsrechts nicht aus, soweit dieses im geschriebenen einschlußweise enthalten ist: Kompetenzen kraft Natur der Sache und Annexkompetenzen, die Kompetenzausübungsmaxime der Bundestreue. Bund und Länder haben diese ungeschriebenen Normen zu beachten. Doch keine Seite kann sie für die andere verbindlich regeln. Sie entziehen sich auch der Regelung durch den Bundesgesetzgeber, selbst wenn dieser sich der politischen Gestaltung enthielte und sich darauf beschränkte, die Ergebnisse der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu kodifizieren. Außerhalb des Verfassungsvorbehalts bewegen sich Bund und Länder, wenn sie auf der Ebene der Gleichordnung miteinander verkehren, verhandeln, ihr Verhalten aufeinander abstimmen, Verträge schließen und gemeinsame Einrichtungen schaffen. Die Verfassung erweist sich hier weniger als spezielle Grundlage des Handelns denn als Grenze kooperativen Handelns. Die bündische Einung ist Lebensprinzip des Föderalismus als Staatsform. 137 Gerade wenn die Länder kraft verfassungsrechtlicher Gewährleistungen ihres Existenzrechts, ihrer Selbständigkeit und ihrer Rechtsgleichheit sicher sind, können sie selbstbewußt und beweglich kooperieren.

2. Verhältnis der obersten Bundesorgane zueinander Status und Kompetenzen des Bundestages, des Bundesrates, der Bundesregierung und des Bundespräsidenten werden abschließend im Grundgesetz normiert. Keines dieser Organe kann auf Kosten eines anderen seinen Zuständigkeitskreis erweitern. Das gilt auch für die rechtlichen Ingerenzen eines Bundesorgans auf ein anderes. Der Bundestag vermag nicht, aus eigener Machtvollkommenheit die Außenpolitik der Bundesregierung rechtlich zu steuern, es sei denn, das Grundgesetz gäbe ihm dazu die Befugnis. So bedurfte es einer förmlichen Verfassungsrevision, damit der Bundestag wie der Bundesrat Rechte erhielten, um das Verhalten der Bundesregierung bei Außenvertretung der Bundesrepublik in den europäischen Gremien rechtswirksam zu beeinflussen (Art. 23 Abs. 2 - 7 GG n.F.). Das Bundesverfassungsgericht geht von einem Verfassungsvorbehalt aus, wenn es den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen des Bündnisses, ungeachtet der verfassungsrechtlichen Organkompetenz der Bundesregierung, von einer („konstitutiven") Zustimmung des Parlaments abhängig macht. Denn das Gericht verortet diesen ungeschriebenen „Parlamentsvorbehalt" im Grundgesetz und sucht seine Geltung als dessen Implikation aufzudecken. 138 Die Regelungen des Grundgesetzes erweisen »37 Walter Leisner, Staatseinung, 1991, S. 213 ff. 138 BVerfGE 90, 286 (381 ff.).

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sich im Bereich der obersten Staatsorgane als abschließend, mag es sich um die Mitwirkung des Bundesrates an der Gesetzgebung handeln, um die Gegenzeichnungsbedürftigkeit der Akte des Bundespräsidenten oder um die vorzeitige Auflösung des Bundestages. Der Bundestag kann nicht das Verhalten anderer oberster Bundesorgane durch Gesetz regeln, weil er diesen nicht übergeordnet ist und sie, im Unterschied zu Behörden oder Gerichten, seiner Hoheit nicht unterliegen. So konnte der Bundestag nicht durch Gesetz den Sitz der Bundesregierung, des Bundesrates oder des Bundespräsidenten von Bonn nach Berlin verlegen. 139 In dieser Sache entschied jedes der Bundesorgane für sich. Die Verfassung gab nicht mehr vor als das - vage - Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme aus Verfassungsorgantreue. 140 Dagegen hätte der Bundesgesetzgeber ohne weiteres den Sitz des Bundesverfassungsgerichts neu bestimmen können; denn dessen Status unterliegt im Unterschied zu den sonstigen obersten Bundesorganen einem Gesetzesvorbehalt (Art. 94 Abs. 2 GG). Gesetzesvorbehalte, die den Status der obersten Bundesorgane betreffen, 141 sind konstitutiv. Ohne ausdrückliche Ermächtigung im Grundgesetz darf sich der Gesetzgeber nicht mit den Materien befassen. Der Verfassungsvorbehalt erfaßt aber nicht die übrigen Bundesorgane, so nicht den Bundesrechnungshof und die Bundesbank. Jedes der Kollegialorgane regelt innerhalb der verfassungsrechtlichen Vorgaben seine inneren Angelegenheiten selbst, mit Wirkung für seine Mitglieder (aber auch nur für diese) und gibt sich eine Geschäftsordnung. Die Geschäftsordnungsautonomie, die sich aufgrund des verfassungsunmittelbaren Status und des Verfassungsvorbehalts von selbst versteht, wird dem Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung ausdrücklich vom Grundgesetz bestätigt. Die Geschäftsordnungsautonomie ergänzt das Verfassungsrecht und kompensiert den Ausschluß des Gesetzes. Der Verfassungsvorbehalt bezieht sich allein auf die rechtliche Seite der Staatsorganisation. Er verhindert nicht, daß sich im Verkehr der Staatsorgane untereinander bestimmte Usancen herausbilden und daß sich innerhalb des Bundestages Parlamentsbrauch verfestigt. Der Vorbehalt gewährleistet nicht, daß die politische Praxis sich in den Bahnen der verfassungsrechtlichen Verfahren bewegt, und daß die politische Machtlage mit der verfassungsrechtlichen Kompetenzlage überein139 Dazu Peter Lerche, Verfassungsfragen der Festlegung des Parlaments- und Regierungssitzes - Erforderlichkeit eines Gesetzes?, in: ZG 6 (1991), S. 193 ff. (Nachw.). 140 Dazu allgemein Wolf-Rüdiger Schenke, Verfassungsorgantreue, 1977.

141 Beispiele sind Art. 54 Abs. 7 GG für die Bundesversammlung; Art. 60 Abs. 1 GG für die Ernennungs- und Entlassungskompetenz des Bundespräsidenten, Art. 23 Abs. 3 S. 3 und Abs. 7 GG für die gemeinschaftsrechtlichen Befugnisse von Bundestag und Bundesrat. Die Gesetzgebungsaufträge zu den Themen Wehrbeauftragter (Art. 45b S. 2 GG) und Petitionsausschuß (Art. 45c Abs. 2 GG) greifen über den Bereich des staatsorganisatorischen Verfassungsvorbehalts hinaus in den Bereich grundrechtlicher Belange. - Zu den Organen, die der Verfassungsvorbehalt nicht erfaßt: Bleckmann (N 20), S. 226.

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stimmt. 142 Mit den Mitteln des Verfassungsrechts läßt sich nicht verhindern, daß der politische Prozeß sich aus den Institutionen in informelle, außerrechtliche Gremien verlagert, die den parteipolitischen und den gesellschaftlichen Machtkonstellationen entsprechen: Koalitionsausschüsse, Elefantenrunden, Parteivorstände, Parteitage, Parteizirkel, Küchenkabinette, Krisenstäbe, Runde Tische, Bündnisse für Arbeit. Phänomene dieser Schattenstaatlichkeit sind überhaupt kein Thema des Verfassungsrechts, sondern rechtlich unverfaßte Realien. 143

3. Plebiszitäre und parlamentarische Gesetzgebung In der Demokratie des Grundgesetzes übt das Volk die Staatsgewalt unmittelbar aus in Wahlen und Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Welche Abstimmungen in Betracht kommen, sagt die Verfassung selbst. Dem einfachen Gesetzgeber ist es versagt, den Kreis zu erweitern und von sich aus, sei es allgemein, sei es im Einzelfall, Volksbegehren und Volksentscheide einzuführen. 144 Der plebiszitäre Vorbehalt der Verfassung entspricht dem Vorbehalt für den Bereich der obersten Bundesorgane. 145 Das Parlament kann nicht über die Verteilung der Organkompetenzen disponieren, vollends nicht über die Verteilung der Kompetenzen zwischen der repräsentativen und der plebiszitären Ebene (auf der das Volk als verfaßte, an Kompetenz- und Verfahrensregeln gebundene Entscheidungseinheit zwar nicht als Staatsorgan, so doch wie ein Staatsorgan) fungiert. 146 Wenn der parlamentarische 142

Dazu Georg Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandel, 1906, S. 72. Die Flucht des Staates in die außerstaatlichen, unverfaßten Entscheidungsgremien und -Prozeduren gehört zum Charakter des „unsichtbaren Staates", den Walter Leisner analysiert (Der unsichtbare Staat, 1994, bes. S. 270 ff.). 144 Nachw. oben Anm. 25. 143

145 Eine Fehldeutung des Verfassungsvorbehalts unterläuft dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof, wenn er im Jahre 1949 dem Gesetzgeber unter Berufung auf einen Verfassungsvorbehalt versagt, für den Volksentscheid nach Art. 74 BV, der sich auf ein verfassungsänderndes Gesetz bezieht, ein Quorum einzuführen, das nicht ausdrücklich im Verfassungstext vorgesehen ist (BayVerfGHE 2, 181 [217 f.]). Das Gericht setzt sich seinerseits über einen Verfassungsvorbehalt hinweg, indem es die Volksgesetzgebung nach Art. 74 BV als statthaften Weg der Verfassungsrevision behandelt, obwohl der Verfassungstext dazu schweigt und allein den (primär) parlamentarischen Weg über Art. 75 B V ausdrücklich vorzeichnet. Wenn nach Art. 75 Abs. 1 S. 1 BV die Verfassung „nur im Wege der Gesetzgebung" geändert werden kann, so schließt diese Bestimmung außergesetzliche Wege aus, doch sie eröffnet nicht beide Wege der Gesetzgebung, den parlamentarischen und den plebiszitären. Der Weg der reinen Volksgesetzgebung nach Art. 74 BV wäre, wenn überhaupt, mit dem Anspruch der Bayerischen Verfassung auf Stabilität und Vorrang, mithin auf erschwerte Abänderbarkeit, nur vereinbar, wenn das einfache Gesetz für Kompensation sorgte und von sich aus Erschwernisse einführte. Entweder gilt ein strikter Verfassungsvorbehalt, dann ist das Verfassungsreferendum nach Art. 74 BV nicht statthaft, oder es ist statthaft, dann besteht kein Verfassungsvorbehalt. Dazu näher Isensee (N 32), S. 39 ff.

Nach BVerfGE 8, 104 (114, 115) hat das Volk im Plebiszit die Qualität eines „Verfassungsorgans".

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Gesetzgeber ohne ausdrückliche Ermächtigung durch die Verfassung das Plebiszit zuließe, so veränderte er seine eigene Kompetenzbasis, die unverrückbar vorgegeben ist und die er weder erweitern noch schmälern darf. Er relativierte seine Verantwortung als Volksvertretung dadurch, daß er die Entscheidungskompetenz an das Abstimmungsvolk delegierte. Im praktischen Ergebnis bedeutet der Verfassungsvorbehalt, daß dem Plebiszit zwar in den Ländern nach Maßgabe ihrer mehr oder weniger plebiszitfreundlichen Verfassungen Anwendungsmöglichkeiten offenstehen, doch so gut wie gar nicht auf Bundesebene.147 Denn das Grundgesetz sieht das Plebiszit nur für die Neugliederung des Bundesgebietes vor (Art. 29, 118, 118a GG); die Neugliederung aber ist, rebus sie stantibus, politisch nicht realisierbar. Eben dieses Ergebnis entspricht den Intentionen des historischen Verfassunggebers, der das Plebiszit auf Bundesebene prinzipiell ablehnte.148 Es entspricht auch dem grundgesetzlichen Bauplan der Staatsorganisation des Bundes in strikter Ausrichtung auf die repräsentative Form der Demokratie, die nicht deren defizienter Modus ist, sondern ihre wesensgemäße Erfüllung. 149 Im Schrifttum regen sich einzelne Versuche, den Verfassungsvorbehalt des Plebiszits auf gesetzgeberische Entscheidungen zu reduzieren und Abstimmungen ohne Entscheidungscharakter und ohne rechtsverbindliche Wirkungen auszunehmen. So soll der einfache Gesetzgeber freie Hand haben, („konsultative") Volksbefragungen zuzulassen, die keine Bindung für die Entscheidungsträger des Repräsentationssystems auslösen sollten. 150 Doch politische Wirkung zeitigte eine solche staatsamtliche Konsultation allemal. Die parlamentarische Mehrheit könnte sich bei einem politisch umstrittenen Vorhaben glimpflich der Entscheidungsverantwortung enthoben sehen und hinter dem (von ihr selbst bestellten, jedenfalls 147 Die Vereinbarkeit der plebiszitären Vorschriften der Landesverfassungen mit der Bundesverfassung ergibt sich bereits aus Art. 20 Abs. 2 GG. Dazu bedarf es nicht erst des Rückgriffs auf die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG. Diese steht den Plebisziten auf Landesebene dem Grunde nach nicht entgegen. Da die Fundamentalnorm der Demokratie in Art. 20 Abs. 2 GG für Bund und Länder bedeutsam ist, greift die Abstimmungsklausel nicht ins Leere und die in der Literatur gehegten Sorgen (etwa Hofmann, N 25, S. 153 ff.) sind unnötig. 1 48 Zur Entstehungsgeschichte und ihren Motiven, zumal zum Weimarer Trauma: Stern (N 25), Bd. II, S. 12 f.; Krause (N 25), § 39 Rn. 11 f. Zum Plebiszit der Weimarer Ära: Reinhard Schiffers, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, 1991, S. 37 ff. 157 ff. - Material aus der Entstehungsgeschichte, in tendenziöser, einseitiger Auswertung zum Zwecke der historischen Delegitimation der antiplebiszitären Haltung des Grundgesetzes als situationsbedingter, antikommunistischer Strategie: Otmar Jung, Grundgesetz und Volksentscheid, 1994. 149 Grundsätzliche staatstheoretische Kritik der direkten Demokratie: Walter Leisner, Demokratie, 1998, S. 30 ff., 533 ff. 1 50 So Hasso Hofmann, Verfassungsrechtliche Sicherungen der parlamentarischen Demokratie (1986), in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1985, S. 129 (145); ders. (N 25), S. 155 ff. (159 f.); Pieroth (N 25), Art. 20 Rn. 5; Horst Dreier, in: ders. (Hg.), Grundgesetz, Bd. II, 1998, Art. 20 Rn. 102. - Weitergehend Bleckmann (N 25), S. 222 f.

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politisch genehmen) Votum des „Volkes" verstecken. Setzte sie sich jedoch über das Votum hinweg, so drohte der Vorwurf, daß sie den „Willen des Volkes" mißachte. Die Demagogie hätte leichtes Spiel, die unverbindliche Antwort der Mehrheit der Konsultierten in eine verbindliche Weisung umzumünzen. Immerhin käme der Volksbefragung staatsamtliche Qualität zu. 1 5 1 Das unterschiede sie von der Demoskopie oder von privaten Unterschriftenaktionen, die im Raum der Gesellschaft auf grundrechtlicher Legitimationsbasis stattfinden. In dieser staatsamtlichen Qualität aber unterfallen die konsultativen Plebiszite dem Vorbehalt der Verfassung. 152 Deren gesetzliche Zulassung unterliefe denn auch das Repräsentationssystem der Demokratie. Für die hinreichende politische Rückkoppelung der Repräsentanten an die Repräsentierten sorgen aber die Meinungsimpulse aus der Gesellschaft, ebenso die permanenten der Wahlen auf kommunalen, regionalen, nationalen und supranationalen Ebenen.

IX. Verfassung - segmentare Kodifikation und „Rahmen" einer offenen Rechtsordnung Die tour d'horizon ergibt kein einheitliches und kein einfaches Bild. Der Vorrang der Verfassung verdichtet sich zum Vorbehalt der Verfassung nur in bestimmten Bereichen und in bestimmten Hinsichten, mit unterschiedlichen Wirkungen für den Gesetzgeber. Es gibt nicht den Vorbehalt der Verfassung, sondern nur einzelne Verfassungsvorbehalte. Diese können nicht durchgehend vorausgesetzt, vielmehr müssen sie jeweils durch Interpretation nachgewiesen werden. Das Verfassungsgesetz will rechtliche Grundlagen des Gemeinwesens sicherstellen. Doch deshalb gehören nicht alle Grundlagen, auch nicht alle rechtlichen, zum Inhalt der Verfassung. Der Aufweis, daß eine Materie rechtlich wesentlich oder politisch notwendig ist, besagt noch nicht, daß sie in der Verfassungsurkunde verbrieft ist. Das formale Erfordernis verfassungsgesetzlicher Ermächtigung gilt nur für die Rechtserzeugung, die zur Gänze von der Verfassung begründet und gesteuert wird. Alle Normen müssen sich auf das Grundgesetz (bzw. nach Maßgabe der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung im Bundesstaat auf die Landesverfassung) zurückführen lassen: förmliche Gesetze unmittelbar, sonstige Normen mittelbar über gesetzliche Delegation und Subdelegation. Insoweit stiftet das Grundgesetz die Einheit der Rechtsordnung. Dieser korrespondiert jedoch keine entsprechende Einheit der Verfassung, als geschlossenes Subsystem im Gesamtsystem des staatlichen Rechts. 151 Das Bundesverfassungsgericht trifft die verfassungsrechtliche Grundentscheidung zwischen einer Veranstaltung des gesellschaftlich-politischen und einer solchen des staatsorganschaftlichen Bereichs - mit der Folge, daß die staatlich organisierte Volksbefragung dem zweiten Bereich zuzurechnen ist (BVerfGE 8, 104 [112 ff.]). 152 Zutreffend: Kriele (N 25), S. 61; Stern (N 25), Bd. II, S. 15 f.; Krause (N 25), § 39 Rn. 17 ff.; Degenhart (N 25), S. 7.

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Ein materialer Vorbehalt der Verfassung besteht nur in bestimmten Regelungsbereichen, vor allem für Zuständigkeiten, Ingerenzen und institutionelle Verflechtungen im Verhältnis von Bund und Ländern und von obersten Bundesorganen sowie für die Zulässigkeit des Plebiszits. Das Grundgesetz trifft abschließende Regelungen lediglich für zentrale Materien des Staatsorganisationsrechts. Ansonsten bildet ein Verfassungsvorbehalt eine Ausnahme von der Regel der (bundesstaatlich aufgeteilten) virtuellen Allzuständigkeit des Gesetzgebers. Dieser findet in der Verfassung weitreichende Vorgaben inhaltlicher Art, Verbote wie Gebote, doch (außerhalb des staatsorganisatorischen Zentrums) selten eine absolute Regelungssperre. Auch die Grundrechte bewirken grundsätzlich keine Exemtionen vom Gesetz, sondern nur Direktiven für dessen freiheitsschonende und freiheitsermöglichende Ausgestaltung. Für Staatsaufgaben besteht kein Verfassungsvorbehalt, wohl aber ein solcher für Grundrechtsschranken. Die Grundrechte ohne Gesetzesvorbehalt schließen nicht schlechthin jedwede Regelung des Gesetzgebers aus; sie verwehren ihm nur die eigenständige politische Gestaltung. Insofern besteht ein Verfassungsvorbehalt für Inhalt, Zweck und Ausmaß eines Gesetzes, das die verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken sanktioniert. Die zahlreichen Hinweise der Verfassung auf das Gesetz, das eine bestimmte Angelegenheit oder „das Nähere" regelt, sind in der Regel nicht als abschließend zu verstehen. Sie enthalten Aufträge an den Gesetzgeber; aber sie begründen nicht seine Regelungszuständigkeit, sondern setzen sie voraus. Nur in den Ausnahmefällen sind die Hinweise konstitutiv und exklusiv, in denen sie im Konnex mit einem strikten Verfassungsvorbehalt stehen, die Verfassung also ihre Normen als abschließend betrachtet. Aus dem Fehlen einer verfassungsgesetzlichen Ermächtigung darf also grundsätzlich nicht auf das Verbot staatlichen Handelns, insbesondere nicht auf das Verbot einer gesetzlichen Regelung gefolgert werden. Behandelt das Verfassungsgesetz ein Regelungsthema unvollständig, so darf, falls kein Verfassungsvorbehalt blockiert, das Gesetz die Aufgabe vervollständigen. Das Grundgesetz gibt in weiten Passagen ein fragmentarisches Bild ab. Doch das bedeutet nicht, daß es lückenhaft wäre. Lücken im Rechtssinne bedeuten eine planwidrige Unvollständigkeit. Das Grundgesetz aber ist durchwegs unvollständig nach Plan. Von echten Lücken ist nur die Rede in den wenigen Bereichen des Verfassungsvorbehalts, für die es Vollständigkeit anstrebt. Das Grundgesetz will kein Staatsgesetzbuch sein und nicht das Ganze der (wie immer zu verstehenden) materiellen Verfassung abdecken, weder in der gegenständlichen Reichweite noch in der Dichte der Normierung. Freilich erstrebt Verfassunggebung immer auch ein Stück Kodifikation, doch diese bleibt Stückwerk. Das gilt gerade für das Grundgesetz. Es enthält kodifikatorische Segmente. Im übrigen sieht es jedoch davon ab, die Materien, die es behandelt, umfassend und abschließend zu regeln. Auf diese Weise hält es dem niederrangigen Recht den Entscheidungs- und Gestaltungsraum offen. Es begnügt sich damit, diesen in bestimmter Hinsicht zu begrenzen sowie der Rechtsetzung und Rechtsanwendung Impulse zu geben, ohne sie jedoch vollständig zu determinieren.

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Außerhalb der Verfassungsvorbehalte macht die beliebte Metapher von der „Rahmenverfassung" gewissen Sinn. Dennoch hinkt der Vergleich. Denn die (materiellen) Verfassungsnormen bilden keinen „Rahmen", der das einfache Recht auf allen Seiten umfaßt; sie stecken ihm nur auf der einen oder der anderen Seite eine Grenze. „Rahmen" und „Inhalt" sind auch nicht gegenständlich unterscheidbar. Denn die Verfassung ist allbezüglich. Der Verfassungs-„Rahmen" greift in den „Inhalt" über, durchdringt das niederrangige Recht und gleicht, um ein biblisches Bild zu verwenden, dem Sauerteig, der den Teig der ganzen Rechtsordnung durchsäuert. Die Grundrechte, so die Metaphorik des Bundesverfassungsgerichts, „strahlen aus" auf die Entwicklung des einfachen Rechts - und gefährden diese, wenn das Bundesverfassungsgericht die Strahlung übermäßig dosiert. Das Verhältnis der Verfassung zum Gesetz bleibt prekär, trotz des Vorrangs der ersteren und wegen dieses Vorrangs. Die verschiedenen Vorbehalte der Verfassung verringern die Schwierigkeit nur in bescheidenem Maße.

I I I . Grundrechte und Demokratie

Territorialprinzip und Grundrechtsschutz Von Peter Badura

I. Die Territorialität der Staatsgewalt Der als Staat organisierte politische Herrschaftsverband ist auf einen bestimmten Teil der Erdoberfläche, das Staatsgebiet, bezogen und begrenzt. Wegen ihrer Territorialität, die sich in Europa im späteren Mittelalter durchgesetzt hat, ist die Staatsgewalt nicht nur eine Verbandsgewalt über die Staatsangehörigen. Der Staat ist territoriale Herrschaft auf der Basis eines Verbandes. Die neuere Entwicklung im Zuge der europäischen Integration hat das Prinzip des territorium clausum durch die „Übertragung von Hoheitsrechten" auf die Organe der Europäischen Union und neuerdings durch den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen der Mitgliedstaaten auf Grund der Übereinkommen von Schengen vom 14. Juni 1985 und vom 19. Juni 19901 modifiziert. Die territoriale Ausschließlichkeit der Staatsgewalt ist dadurch eingeschränkt. Die Gebietsbezogenheit der Staatsgewalt, deren rechtliche Tragweite durch das Territorialitätsprinzip ausgedrückt wird, bleibt ungeachtet dessen bestehen. Die territoriale Souveränität ist der Bereich, in dem ein Staat ausschließlich räumlich zuständig ist, einschließlich der Befugnis, über die Zuordnung des Staatsgebiets und von Gebietsteilen zu verfügen. Die territoriale Souveränität ist eine durch das Völkerrecht anerkannte und geschützte Kompetenz des Staates2. Ihr entspricht die Gebietshoheit, d. h. die Befugnis, die Staatsgewalt auf dem zugewiesenen Gebiet auszuüben; diese Befugnis kann einem anderen Staat, z. B. durch Verwaltungszession, übertragen oder zugunsten eines anderen Staates eingeschränkt werden. Auf der anderen Seite bewirkt das Territorialprinzip eine Begrenzung der Staatsgewalt auf das Staatsgebiet, insbes. eine Beschränkung der Geltung staatlichen Rechts auf das Staatsgebiet. Im Verhältnis zu anderen Staaten gilt das Prinzip der territorialen Integrität. Das darin einbegriffene Schädigungsverbot - sie utere tuo ut alienum non laedas - beherrscht vor allem das internationale Nachbar1 Siehe das dem Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 beigefügte Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union. 2 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, I. Bd., 2. Aufl., 1975, S. 305 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, Nrn. 1019 ff., 1038 ff.; W. Graf Vitzthum, Staatsgebiet, HStR, Bd. I, 2. Aufl., 1995, § 16 RNrn. 4ff.; K. Hailbronner, in: W. Graf Vitzthum, Hrsg., Völkerrecht, 1997, III 101 ff.; W. Graf Vitzthum, ebd., V 2 ff., 15 ff.

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recht, aus dem sich wechselbezügliche Rechte und Pflichten der Staaten auf Rücksichtnahme ergeben3. Grenzüberschreitende Wirkungen staatlichen Handelns oder der nationalen Rechtsordnung können in vielfältiger Weise die völkerrechtlichen Rechtspositionen anderer Staaten, aber auch die Rechte einzelner berühren 4. Nur beiläufig kam ein derartiger Sachverhalt in dem Streit über den deutsch-österreichischen Vertrag über Auswirkungen der Anlage und des Betriebs des Flughafens Salzburg zur Sprache. Der vertragliche Ausschluß privater Rechte berührte die Eigentumsgarantie deutscher Grundeigentümer; denn die mit dem Zustimmungsgesetz gebilligte Vertragsregelung darüber, ob sich aus dem Eigentum Abwehransprüche gegen Störungen ableiten, betrifft den Inhalt des Grundeigentums. Ohne den Vertrag aber wären die Grundeigentümer praktisch schutzlos, jedenfalls soweit sie Ansprüche aus dem deutschen Recht ableiten würden 5. Es ging hier um den grundrechtlichen Schutz durch die deutsche Staatsgewalt für in Deutschland belegene Rechte gegen grenzüberschreitende Störungen. Ein Grundrechtsschutz gegen die fremde Staatsgewalt, die - ungeachtet ihrer grenzüberschreitenden Auswirkungen - nur auf deren Territorium ausgeübt wurde, konnte durch die deutsche Verfassung nicht gewährt werden 6. Anders stellte sich die Sachlage in dem Verwaltungsrechtsstreit dar, mit dem ein Ausländer im Ausland vor den deutschen Gerichten die dem Kernkraftwerk Lingen erteilte atomrechtliche Genehmigung angriff 7. Die Klagebefugnis wurde bejaht. Zwar folgt, wie das Bundesverwaltungsgericht darlegt, aus der völkerrechtlichen Verpflichtung, grenzüberschreitende Umweltbelastungen auf schadlose Auswirkungen zu beschränken, nicht auch die Pflicht des Staates, dem potentiell betroffenen Ausländer im Ausland subjektive Abwehrrechte zu verleihen. Doch kann der Staat Anforderungen des zwischenstaatlichen Nachbarrechts durch drittschützende Normen, hier des Atomgesetzes, sicherstellen. Ein Ausländer kann demzufolge hinsichtlich seiner im Ausland belegenen Rechtsgüter gegen3 A. Verdross/B. Simma a. a. O., Nrn. 1029ff.; C. Gloria/V. Epping, in: K. Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl., 1990, § 23, RNrn. 11 ff.; W. Heintschel von Heinegg, ebd., § 55, RNrn. 5 ff.; W. Graf Vitzthum, Völkerrecht aaO., V 95, 103 ff. 4

M. Schröder, Zur Wirkkraft der Grundrechte bei Sachverhalten mit grenzüberschreitenden Elementen, in: Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer, 1981, S. 187; K. Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, § 72 V, S. 1224ff.; H.-J. Cremer, Der Schutz vor den Auslandsfolgen aufenthaltsbeendender Maßnahmen, 1994; R. Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, 1994. 5 BVerfGE 72, 66. 6 Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes (Art. 14 GG) konnte und kann für die Konfiskationen in Ostdeutschland (Art. 143 Abs. 3 GG) keinen Maßstab ergeben (BVerfGE 84, 90/ 122 ff.), müßte aber doch beachtet werden, soweit fortdauernde Wirkugen im heutigen räumlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes vorhanden und der deutschen Staatsgewalt zuzurechnen sind (P. Badura, Der Verfassungsauftrag der Eigentumsgarantie im wiedervereinigten Deutschland, DVB1. 1990, 1256; W. Leisner, Das Bodenreform-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1991, 1569). i BVerwG JZ 1987, 351 mit Anm. P. Freu, JZ 1987, 354; D. Rauschning, AVR 25, 1987, S. 312; A Weber, DVB1. 1987, 377.

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über einem inländischen Rechtsakt geltend machen, in seinen Rechten verletzt zu sein, wenn beim Erlaß dieses Rechtsakts Rechtsvorschriften zu beachten sind, die (auch) im Interesse des Ausländers ergangen sind. Für eine derartige den Ausländer im Ausland schützende Norm besteht im Fall der atomrechtlichen Anlagengenehmigung ein hinreichender inländischer Anknüpfungspunkt; denn das Risikopotential einer derartigen Anlage macht vor den Staatsgrenzen nicht halt. Das Bundesverwaltungsgericht ist nicht auf die Frage eingegangen, ob die grundrechtliche Schutzpflicht (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, 14 GG), der mit den Regelungen des Atomgesetzes Rechnung getragen wird, auch gegenüber dem Ausländer im Ausland besteht. Da es den geltend gemachten Störungsabwehranspruch des Ausländers gegen die grenzüberschreitenden Risiken im Gesetz geregelt sah, brauchte es der Schutzwirkung der Grundrechte nicht nachzugehen. Eine noch offene, demnächst vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidende Streitfrage des grenzüberschreitenden Grundrechtsschutzes ergibt sich aus der strategischen („verdachtslosen") Überwachung des internationalen nicht leitungsgebundenen Fernmeldeverkehrs durch den Bundesnachrichtendienst auf Grund des Art. 1 § 3 G 108. Ein im allgemeinen Völkerrecht begründetes Verbot, den außerhalb des eigenen Staatsgebiets verlaufenden - heute hauptsächlich durch Satelliten vermittelten - Funkverkehr „abzuhören", besteht nicht. Die strategische Fernmeldeaufklärung erfolgt mithilfe von auf deutschem Boden installierten Einrichtungen, erfaßt aber Vorgänge, die ganz oder zum Teil im Ausland ablaufen und die, wenn und soweit sie das deutsche Staatsgebiet berühren, vom Schutz des Fernmeldegeheimnisses umkleidet wären. Eine Ausübung deutscher Hoheitsgewalt auf fremdem Territorium findet nicht statt.

II. Die strategische Fernmeldeaufklärung durch den Bundesnachrichtendienst Der Bundesnachrichtendienst, eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Chefs des Bundeskanzleramtes, sammelt zur Gewinnung von Erkenntnissen über das Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind, die erforderlichen Informationen und wertet sie aus (§ 1 Abs. 2 BNDG) 9 . Hierzu stehen ihm nach dem BND-Gesetz verschiedene Befugnisse zu, so auch die Befugnis, die erforderlichen Informationen einschließlich personenbezogener Daten über Vorgänge im Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind, zu erheben, zu 8 Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) (G 10) vom 13. August 1968 (BGBl. I S. 949), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. Dezember 1997 (BGBl. I S. 3108). 9 Gesetz über den Bundesnachrichtendienst (BND-Gesetz-BNDG) = Art. 4 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des Datenschutzes vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954, 2979). - M Brenner, Bundesnachrichtendienst im Rechtsstaat, 1990.

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verarbeiten und zu nutzen, wenn sie nur auf diese Weise zu erlangen sind und für ihre Erhebung keine andere Behörde zuständig ist (§ 2 Abs. 1 Nr. 4 BNDG). Sofern die Informationsbeschaffung des Bundesnachrichtendienstes das Post-, Brief- oder Fernmeldegeheimnis berührt, stehen die besonderen Befugnisse des G 10 zur Verfügung. Das G 10 regelt und begrenzt die Aufklärungstätigkeit des BND für die Fälle, in denen sie die Grundrechte des Art. 10 GG beschränkt, und gewährleistet insoweit die rechtsstaatlich gebotenen Bindungen und Vorkehrungen im Hinblick auf die Erfassung, Verarbeitung, Verwendung und Weitergabe personenbezogener Daten. Das Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz ist durch Art. 13 des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) vom 28. Oktober 1994 (BGBl. I S. 3186, 3194) novelliert worden, in erster Linie durch die Neufassung des Art. 1 § 3 G 10, der die strategische Fernmeldeaufklärung behandelt. Die Gesetzesnovelle erweitert nicht die Aufgaben des BND, sondern lediglich die Nutzung des ihm zur Erfüllung dieser Aufgaben zur Verfügung stehenden Instrumentariums. Ihr Hauptziel ist es, Beschränkungen auch zur Überwachung des internationalen Fernmeldeverkehrs anordnen zu können, um Erkenntnisse über den internationalen Terrorismus, Rauschgiftschmuggel nach Deutschland, den illegalen Handel mit Kriegswaffen und über internationale Geldwäsche- und Geldfälschungsaktivitäten zu gewinnen. Die Erkenntnisse sollen den zuständigen Sicherheitsbehörden zur Verhinderung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten übermittelt werden können. Bei alledem bleibt es dabei, daß der BND entsprechend seiner Aufgabenstellung keine Inlandsaufklärung betreibt 10. Der Bundesnachrichtendienst ist im Rahmen seiner Aufgaben nach § 1 Abs. 2 BNDG auch zu den in § 3 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 G 10 bestimmten Zwecken der Aufklärung internationaler organisierter Kriminalität berechtigt, die Telekommunikation zu überwachen und aufzuzeichnen (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 G 10). Derartige Beschränkungen des Fernmeldegeheimnisses sind nur zulässig für internationale nicht leitungsgebundene Telekommunikationsbeziehungen und zur Sammlung von Nachrichten über Sachverhalte, deren Kenntnis notwendig ist, um bestimmte im Gesetz aufgezählte Gefahren u. a. des Terrorismus, der Proliferation und des konventionellen Kriegswaffenhandels rechtzeitig zu erkennen und einer solchen Gefahr zu begegnen. Die Überwachung und Aufzeichnung des Fernmeldeverkehrs durch den BND setzt voraus, daß die zu überwachende internationale Telekommunikationsbeziehung unter Bezeichnung des aufzuklärenden Gefahrenbereichs durch den Bundesminister des Innern mit Zustimmung des Abgeordnetengremiums gemäß § 9 Abs. 1 G 10 (neun Bundestagsabgeordnete) bestimmt wird und daß der Bundesminister mit Mitwirkung der Kommission gemäß § 9 Abs. 2 G 10 (Vorsitzender, drei Beisitzer, bestellt von dem Abgeordnetengremium) die Beschränkung unter Bezeichnung des Gefahrenbereichs und Benennung von Suchbegrifio Gesetzesvorlage der BReg., BT-Drucks. 12/6853, S. 42, 43.

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fen 11 anordnet. Die Sammlung von Nachrichten darf nur mithilfe von Suchbegriffen erfolgen, die zur Aufklärung von Sachverhalten über den in der Anordnung des Bundesministers bezeichneten Gefahrenbereichs bestimmt und geeignet sind. Die Suchbegriffe dürfen Identifizierungsmerkmale, die zu einer gezielten Erfassung bestimmter Fernmeldeanschlüsse im Ausland führen, nur enthalten, wenn ausgeschlossen werden kann, daß Anschlüsse deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Unternehmen mit Sitz im Ausland gezielt erfaßt werden (§ 3 Abs. 2 G 10). Dabei erlangte personenbezogene Daten dürfen nur verwendet werden zur Verhinderung, Aufklärung oder Verfolgung aufgezählter Straftaten durch die dafür zuständigen Stellen, denen der BND die Daten zu übermitteln hat, zur Erfüllung der Berichtspflicht gegenüber dem Chef des Bundeskanzleramtes und den Bundesministerien (§ 12 BNDG) und zur Erarbeitung interner Lageanalysen. Die Novellierung des G 10 durch Art. 13 des Verbrechensbekämpfungsgesetzes hat klargestellt, daß die Aufklärungsaufgabe des Bundesnachrichtendienstes als eines Auslandsnachrichtendienstes auch die ohne konkreten Gefahrenverdacht erfolgende Überwachung nicht leitungsgebundener Fernmeldeverkehre umfaßt, die ihren Ausgangs- oder Endpunkt in Deutschland haben, sofern ein Bezug zu bestimmten Gefahrenlagen besteht, die ihren Herd im Ausland haben. Die Novelle hat zur Erfüllung dieser Aufgabe die Befugnisse des Bundesministers des Innern und des BND in der Richtung erweitert, daß bei der Überwachung der verdachtsträchtigen Telekommunikation mögliche Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis gedeckt sind und etwa erfaßte personenbezogene Daten erhoben, verarbeitet und unter engen Voraussetzungen übermittelt werden dürfen, um bestimmte Straftaten zu verhindern, aufzuklären und zu verfolgen. Dies ist und bleibt nur ein Element der maßgeblichen Existenzgrundlage und Aufgabe des Dienstes, die der Bundesregierung obliegende Staatsleitung durch Information über außen- und sicherheitspolitisch bedeutsame Vorgänge im Ausland zu unterstützen. Die durch den Zweck der Aufklärung bestimmter Gefahrenlagen gesteuerte Auswahl der Suchbegriffe wird in erster Linie auf Tätigkeiten von Unternehmen und ausländischen Funktionsträgern treffen, also auf Akteure, die sich für ihre Handlungen und Eigenschaften nicht auf das Recht auf informelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verb, mit Art. 1 Abs. 1 GG) berufen können. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz intendiert auch nicht darum ein „personenbezogenes Kontrollkonzept", weil es eine gezielte Erfassung der im diffusen Telekommunikationsstrom mitgeführten Signale bestimmter Fernmeldeanschlüsse von Ausländern im Ausland mithilfe formaler Suchbegriffe gestattet. Die Verwendung formaler Suchbegriffe bei der Überwachung durch den Zufall des Übermittlungsvorgangs verbundener Fernmeldeverkehre eines Satelliten ist keine personenbezogene Anzapfung eines bestimmten Fernmeldeanschlusses. Der nach Schaffung der technischen Voraussetzungen am 1. März 1996 einsetzende Vollzug des novellierten Gesetzes bestand entsprechend 11

Sachliche Suchbegriffe sind die Bezeichnungen von Substanzen oder Gegenständen, formale Suchbegriffe sind die Kennungen von Fernmeldeanschlüssen.

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den Bestimmungen und Anordnungen des Bundesministers des Innern zunächst in strategischen Kontrollmaßnahmen des BND gegenüber internationalen Telex-, später auch Telefaxverkehren im Hinblick auf die Gefahrenbereiche Proliferation, internationaler Terrorismus, konventioneller Rüstungshandel und internationaler Rauschgifthandel; er beschränkt sich gegenwärtig auf Proliferation und Waffenhandel12. Der Vollzug des Gesetzes ist durch die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Juli 1995 eingeschränkt worden, soweit es sich um die Verwendung und Übermittelung personenbezogener Daten handelt, die durch die Durchführung von Maßnahmen nach § 3 Abs. 1 G 10 erlangt worden sind 13 . Der Gesetzgeber und die Bundesregierung orientieren sich bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ob die Maßnahmen der Überwachung internationaler Telekommunikationsverkehre als Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis anzusehen sind, an dem Territorialprinzip. Die Erhebung von Daten im Sinne einer Kenntnisnahme durch deutsche Stellen wird demnach nur dann als ein Eingriff in das Grundrecht und als eine den besonderen Anforderungen einer Beschränkung des Fernmeldegeheimnisses unterliegende Wirksamkeit der Staatsgewalt betrachtet, wenn der Fernmeldeverkehr das Gebiet der Bundesrepublik berührt. Demzufolge fällt der gesamte drahtlose Fernmeldeverkehr von der Bundesrepublik Deutschland in das Ausland und vom Ausland in die Bundesrepublik Deutschland unter den Schutzbereich des Art. 10 GG. Darüber hinaus wird jede zielgerichtete Maßnahme staatlicher Stellen zur Erfassung und Ausweitung von Fernmeldeverkehren, die durch Art. 10 GG geschützt sind, als Grundrechtseingriff aufgefaßt (vgl. § 3 Abs. 2 Satz 3 G 10); diese Ergänzung stellt - sollte sie nicht nur eine Tautologie sein - eine durch die staatliche Personalhoheit bedingte Erweiterung des Grundrechtsschutzes über das Territorialitätsprinzips hinaus dar 14 . Personenbezogene Daten, die der BND außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 GG durch strategische Fernmeldeaufklärung erfaßt, sind hinsichtlich Verwendung, Verarbeitung und Übermittlung durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt.

12

Siehe Antwort der BReg. auf eine Kleine Anfrage betr. Abhören von Auslandstelefonaten, BT-Drucks. 13/1592, und die Antwort des Staatssekretärs Werthebach auf eine Schriftliche Anfrage, BT-Drucks. 13/7582, S. 5 f. 13 BVerfGE 93, 181. 14 Antwort der BReg. auf eine Große Anfrage betr. Überwachung des Fernmeldeverkehrs durch den Bundesnachrichtendienst, BT-Drucks. 12/5759, S. 5; Begründung des Entwurfs der BReg. für das Verbrechensbekämpfungsgesetz, Zu Art. 12 Nr. 3 (§ 3 G 10), BT-Drucks. 12/6853, S. 43; Antwort der BReg. auf eine Kleine Anfrage betr. Abhören von Auslandstelefonaten, BT-Drucks. 13/1592, S. 2.

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I I I . Gebietsbezogene Voraussetzungen eines grundrechtserheblichen Eingriffstatbestandes Räumlicher Geltungsbereich der Verfassung und damit auch der Grundrechte ist das Staatsgebiet Deutschlands. Daß die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden (Art. 1 Abs. 3 GG) ist eine Geltungsanordnung, die sich - vorbehaltlich zusätzlicher Rechtsgründe - auf den territorialen Wirkungsraum der deutschen Staatsgewalt bezieht 15. Dasselbe gilt für die in den grundrechtlichen Freiheiten und Garantien vorgenommene Unterscheidung der auch den Ausländern zukommenden Menschenrechte - zu denen das Fernmeldegeheimnis ebenso gehört wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht - und der den Deutschen vorbehaltenen Bürgerrechte. Das Territorialitätsprinzip und die davon abzuleitende Gebietshoheit sind grundsätzlich auch für die Reichweite des Grundrechtsschutzes maßgebend. Weder aus Art. 1 Abs. 3 GG, noch aus allgemeinen Verfassungsgrundsätzen kann für extraterritoriale Auswirkungen der Ausübung deutscher Staatsgewalt eine unterschiedslose Bindungswirkung der Grundrechte erschlossen werden 16. Ob Auswirkungen der Ausübung deutscher Staatsgewalt im Ausland einen Grundrechtsschutz für Deutsche oder Ausländer im Ausland auslösen, kann nicht allgemein, sondern nur bei Betrachtung der Eigenart dieser grenzüberschreitenden „Auswirkung" und nach dem Schutz- und Ordnungsgehalt des jeweiligen Grundrechts beantwortet werden 17. Eine die grundrechtliche Schutzbedürftigkeit begründende Eingriffswirkung wird jedenfalls bei einer zwar grenzüberschreitenden, aber gebietsbezogenen finalen Handlung der Staatsgewalt anzunehmen sein 18 . Weitergehende, den „Gebietsbezug als grundrechtlichen Kernstatus" 19 vernachlässigende Auffassungen haben sich auf vereinzelte Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts gestützt20. Die allgemeine Feststellung, daß die Grundrechte 15

J. Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, HStR, Bd. V, 1992, § 115, RNrn. 82 ff. („Gebietskontakt" oder Personalhoheit); H. Quaritsch, Der grundrechtliche Status des Ausländers, HStR, Bd. V, 1992, § 120, RNr. 74 (hinreichend konkrete „Inlandsbeziehung"). 16 Anders H. von Mangoldt/F. Klein/Chr. Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl., Bd. 1, 1985, Art. 1, RNr. 140; K. Stern aaO., S. 1230; Chr. Göpl, Das Fernmeldegeheimnis des Art. 10 GG vor dem Hintergrund des internationalen Aufklärungsauftrag des BND, ZRP 1995, 13; Cl. Arndt, Grundrechtsschutz bei der Fernmeldeübewachung, DÖV 1996, 459/ 461; B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, 13. Aufl., 1997, RNr. 188. 17 M. Schröder aaO., S. 141 f., 144. Differenzierende Lösungen auch bei M. Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 96ff.; Ph. Kunig, in: I. von Münch/ ders., Hrsg. Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 4. Aufl., Art. 1, RNrn. 52 ff. 18 J. Isensee aaO., RNr. 90; H Quaritsch a. a. O., RNrn. 81,87. 19 M. Heintzen aaO., S. 97 ff., 122 ff. 20 Z. B. K.-H. Seifert/D. Hömig, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl., 1995, Vorbem. vor Art. 1, RNr. 18, und Art. 1 RNr. 20; OVG NW DVB1. 1995, 1194 (Sozialhilfeleistungen an einen Deutschen im Ausland).

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die deutsche öffentliche Gewalt auch binden, „soweit Wirkungen ihrer Betätigung im Ausland eintreten" 21, daß die Grundrechte in ihrem sachlichen Geltungsumfang die deutsche öffentliche Gewalt auch binden, „soweit Wirkungen ihrer Betätigung außerhalb des Hoheitsbereichs der Bundesrepublik Deutschland eintreten" 22, kann nur mit der Einschränkung als Grundsatz übernommen werden, daß die Entscheidungskonstellationen berücksichtigt werden. „Auswirkung" oder „Wirkung" im Ausland kann der im Inland handelnden Staatsgewalt in sehr verschiedener und nicht ohne weiteres grundrechtlich erheblicher Weise eintreten. Das Gericht hat selbst offenbar keine absolute Regel aufstellen, sondern nur klarstellen wollen, daß der - territoriale - Auslandsbezug für sich allein die Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt nicht ausschließt. In diesem Sinn gilt in der Tat: „Die Grundrechtsbindung »endet* ... nicht an der Staatsgrenze"23. Im Spanier-Fall wird auf die Eigenart des Grundrechts und die Besonderheit des Sachverhalts abgestellt. Durch Auslegung der jeweiligen Verfassungsnorm sei festzustellen, ob sie nach Wortlaut, Sinn und Zweck für jede nur denkbare Anwendung hoheitlicher Gewalt innerhalb der Bundesrepublik gelten will oder ob sie bei Sachverhalten mit mehr oder weniger intensiver Auslandsberührung eine Differenzierung zuläßt oder verlangt 24 . Dieser Blickwinkel ist auf den Abgleich mit anderen Rechtsordnungen gerichtet25. Die territoriale Bestimmtheit und Begrenztheit der Staatsgewalt muß nach alledem auch für den Grundrechtsschutz den Leitgedanken bilden. Sie ist der Ausgangspunkt für die Ausmessung der Tatbestände, die dem „Schutzbereich der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland"26 zuzuordnen sind. Räumlicher Geltungsbereich der Verfassungsnormen und territoriale Reichweite des Grundrechtsschutzes sind jedoch zu unterscheiden. Die Grundrechte binden die deutsche Staatsgewalt auch insoweit, als diese kraft Völkerrechts oder auf Grund besonderer Zulassung durch den Gebietsstaat im Ausland wirksam wird und der Eingriff auf der Gebietshoheit oder der Personalheit Deutschlands beruht. Der Grundrechtsschutz ist ein Element des wechselseitigen Grundverhältnisses von staatlicher Hoheitsgewalt und Pflichtigkeit des einzelnen, von Schutz und Rechtsunterworfenheit. Im Rahmen dieses Grundverhältnisses handelt es sich nicht um die Geltung oder Anwendbarkeit des Grundgesetzes „im Ausland", sondern um den Schutz der Grundrechte gegenüber der verfassungsrechtlich gebundenen deut21

BVerfGE 6, 290/295 - Vertragsgesetz zu dem im Ausland zu vollziehenden Abkommen mit der Schweiz über deutsche Vermögenswerte. 22 BVerfGE 57, 9/23 - Auslieferungsersuchen, völkerrechtliche Willenserklärung auf Grund Beschlusses eines deutschen Gerichts. 2 3 Ph. Kunig aaO., RNr. 52. 24 BVerfGE 31, 58/77 - Art. 13 Abs. i a. F. EGBGB. 25 Dieselbe Perspektive in BVerfGE 92, 26/41 f. - kollisionsrechtliche Sonderregelungen für Arbeitnehmer auf Schiffen, die in das Internationale Seeschiffahrtsregister eingetragen sind. 26 BVerfGE 36, 1/30. - Siehe auch M. Heintzen aaO., S. 142f.

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sehen Staatsgewalt. Auswirkungen der Ausübung deutscher Staatsgewalt im Ausland, die weder auf die Gebietshoheit, noch auf die Personalhoheit zurückgeführt werden können, können nicht unter Berufung auf Grundrechte des Grundgesetzes abgewehrt werden. Während für den Ausländer im Ausland der Inlandsbezug, der für den Grundrechtsschutz zu fordern ist, durch die Gebietsbezogenheit vermittelt wird 2 7 , muß zugunsten des Deutschen im Ausland zusätzlich die an die Staatsgrenze nicht gebundene Personalhoheit berücksichtigt werden. Die Personalhoheit äußert sich unter dem grundrechtlichen Aspekt typischerweise in Schutzansprüchen. Maßnahmen auf Grund der Personalhoheit im Ausland bedürfen der Legitimation auf völkerrechtlicher Grundlage - regelmäßig der Zustimmung des Aufenthaltsstaates - und können insoweit der Grundrechtsbindung unterliegen. Die Personalhoheit erlaubt oder rechtfertigt aber nicht als solche - losgelöst von einer derartigen Legitimation auf völkerrechtlicher Grundlage - Eingriffe in individuelle Rechte, denen gegenüber sich denknotwendig erst grundrechtsrelevante Abwehrrechte ergeben können. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in dem Verfassungsstreit über die Strafbarkeit und Verfolgbarkeit früherer DDR-Spione mit der staats- und völkerrechtlichen Eigenart der Spionage befaßt. Das Völkerrecht verbietet sie nicht. Für sich selbst sähen die Staaten Spionage als ein legitimes Mittel zur Erlangung von Erkenntnissen für die Lagebeurteilung und Entscheidungsfindung im politischen Bereich an. Für den aufklärenden Staat stellten Spionagehandlungen eine erlaubte Tätigkeit dar, „ohne daß er an dieser Bewertung durch allgemeine, international anerkannte Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit oder der Menschenrechte gehindert wird" 2 8 . Die andersartige Fernmeldeaufklärung durch den BND als Auslandsnachrichtendienst ist in vergleichbarer Weise eine staats- und völkerrechtlich erlaubte Tätigkeit mit Auswirkungen auf Vorgänge außerhalb des Staatsgebiets. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die gegen die einschlägigen Vorschriften des G 10 erhobenen Verfassungsbeschwerden wird über die Reichweite des Grundrechtsschutzes in diesem Bereich näheren Aufschluß geben29. Die Aufklärung internationaler Telekommunikationsbeziehungen nach Art. 1 § 3 G 10 ist keine Ausübung deutscher Staatsgewalt auf fremdem Territorium. Soweit die einer Erfassung zugänglichen grenzüberschreitenden Fernmeldeverkehre das Gebiet der Bundesrepublik berühren, stellt ihre Überwachung ohne Rücksicht darauf, ob an ihnen Deutsche oder Ausländer beteiligt sind, eine Beschränkung auf Grund Gesetzes dar (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG). Soweit die einer Erfassung zugänglichen und durch Bestimmung und Anordnung des Bundesministers des 27 BVerfGE 51,1/22 - Auszahlung von im Inland erworbenen Renten aus der Sozialversicherung an im Ausland lebende Ausländer, Bindung an Art. 3 Abs. 1 GG. 28 BVerfGE 92, S. 277 / 328 f. 29 Eine Reihe von hier niedergelegten Erwägungen stimmt mit dem Sachvortrag des Autors für die Bundesregierung in diesem Verfahren überein (1 BvR 2226/94, 1 BvR 2420/ 95, 1 BvR 2437/95).

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Innern der Überwachung unterworfenen internationalen Fernmeldeverkehre nur außerhalb des deutschen Staatsgebietes verlaufen, ist die Überwachung kein grundrechtlich erheblicher Eingriffstatbestand; die dabei etwa erfolgende Erhebung, Verwendung und Ermittlung personenbezogener Daten muß jedoch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung beachten und ist an die Anforderungen des Art. 1 § 3 G 10 gebunden. Auch soweit durch formale Suchbegriffe erlaubterweise eine gezielte Erfassung bestimmter Fernmeldeanschlüsse im Ausland möglich wird, handelt es sich um eine bloße Auswirkung der deutschen Staatsgewalt, die eine Person individualisierbar erst dann betrifft, wenn Daten tatsächlich erfaßt, gespeichert und verwendet werden. Die Möglichkeit der Erfassung steht einer Erhebung im Einzelfall nicht gleich. Die Fernmeldeaufklärung selbst, auch mit formalen Suchbegriffen, ist deshalb kein Grundrechtseingriff, soweit sie reine Auslandsverkehre überwacht. Eine gezielte Erfassung von Fernmeldeverkehren der Anschlüsse von Deutschen im Ausland ist ohnehin de lege lata ausgeschlossen. Die strategische Aufklärung ist sachbezogen und dient der Prävention im Hinblick auf abstrakte Gefahrenlagen. Sie ist keine gezielte Erfassung personenbezogener Daten von Deutschen oder Ausländern. Wird der Fernmeldeverkehr einer Einzelperson dennoch dabei erfaßt, greift der Schutz des Rechts auf informelle Selbstbestimmung ein, d. h. ein derartiges Datum darf nur verwendet werden, wenn die Voraussetzungen des G 10 gegeben sind, andernfalls ist das Datum rückstandslos zu löschen. Die Tätigkeit des Bundesnachrichtendienstes auf deutschem Boden ist ohne Einschränkung oder Modifikation an die Grundrechte gebunden.

Das Recht auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG als Grundlage eines arbeitsrechtlichen Kontrahierungszwangs Gedanken anläßlich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im „Schülerzeitungsfall" Von Claus-Wilhelm Canaris

Die Diskussion um das hochkomplexe Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht, dem der Jubilar vor vier Jahrzehnten seine Habilitationsschrift gewidmet hat1, ist noch immer nicht zur Ruhe gekommen, ja in letzter Zeit sogar mit besonderer Heftigkeit wieder aufgeflammt. Vor allem die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Bürgschaften von einkommens- und vermögensschwachen Verwandten des Hauptschuldners2 hat ein überaus lebhaftes und kontroverses Echo ausgelöst3. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob der Freiheit der Parteien zur inhaltlichen Ausgestaltung von Verträgen von Verfassungs wegen Grenzen gesetzt sind und wo diese gegebenenfalls verlaufen. Noch elementarer als die Inhaltsfreiheit ist die Abschlußfreiheit, und noch heikler als bei jener ist es demgemäß bei dieser, sie unter Rückgriff auf ein Grundrecht einzuschränken. Auch das hat das Bundesverfassungsgericht indessen bereits getan - und zwar im sogenannten Schülerzeitungsfall 4. Da die damit angeschnittene Thematik von Grundrechten und Abschlußfreiheit bisher eher am Rande der wissenschaftlichen Diskussion gestanden hat, soll in diesem Beitrag versucht werden, auch insoweit die Problematik für einen Teilbereich zu vertiefen und insbesondere in dogmatischer Hinsicht die Konturen für ihre Lösung klarer zu zeichnen. Dabei dient die erwähnte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Paradigma.

1 Leisner Grundrechte und Privatrecht, 1960. 2 BVerfGE 89, 214, 232 ff.; vgl. dazu näher unten I I 3.

3 Vgl. zuletzt Isensee Festschr. für Großfeld, 1999, S. 485 ff. BVerfGE 86, 122, 127 ff.

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I. Der Ausgangsfall 1. Grundzüge des Sachverhalts In dem Fall, der dieser Entscheidung zugrunde lag, war der Kläger und Beschwerdeführer bei der Beklagten zum Betriebsschlosser ausgebildet worden. Während dieser Zeit hatte er einen Artikel in der Schülerzeitung seiner damaligen Berufsschule über seine Eindrücke als Teilnehmer einer Demonstration gegen den Bau des Kernkraftwerks Brokdorf veröffentlicht und darin u. a. geschrieben: „Wir haben auch absolut nicht vor, uns von sogenannten militanten Demonstranten zu distanzieren. Die Gewalt, die hier von Staat und Wirtschaft ausgeübt wird, rechtfertigt jede Art von Widerstand. Dies soll kein Aufruf zu Gewalttaten sein, sondern vielmehr klarmachen, daß sich die Atomkraftgegner, genauso wie Hausbesetzer und andere dem Staat unliebsame Leute, nicht in »gewalttätige' und ,gewaltlose4 Lager spalten lassen sollen. Der Kampf gegen den Atomtod sollte so langsam jeden beschäftigen, und auch nach dem 28. Februar wird er weitergehen, nicht nur in Brokdorf, sondern überall auf der Welt!"

Diesen Artikel hatte die Beklagte „zum Anlaß genommen"5, dem Kläger in einem Schreiben mitzuteilen, daß sie nicht in der Lage sei, ihn nach Abschluß seiner Ausbildung in ein ordentliches Arbeitsverhältnis zu übernehmen. Der Kläger hatte daraufhin die Beklagte auf Abschluß eines Arbeitsvertrags verklagt und den Prozeß in allen drei Instanzen verloren.

2. Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesarbeitsgericht ging bei seiner Begründung von § 75 Abs. 1 BetrVG aus, wonach alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit zu behandeln sind, sah in dieser Vorschrift ein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB, folgerte daraus, daß § 75 Abs. 1 BetrVG nicht nur den Arbeitgeber und den Betriebsrat binde, sondern auch dem einzelnen Arbeitnehmer das „individuelle Recht" einräume, nach diesen Grundsätzen behandelt zu werden, und sah Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG als einschlägig an, nach denen der Personalbedarf zunächst durch die bereits im Unternehmen tätigen Mitarbeiter gedeckt werden sollte und die personelle Auswahl bei Einstellungen, Versetzungen usw. sachlich begründet sein mußte. Gleichwohl verneinte das Bundesarbeitsgericht einen Anspruch des Klägers auf Abschluß eines Arbeitsvertrags, weil die Beklagte bei dessen Ablehnung nicht aus sachfremden oder willkürlichen Erwägungen gehandelt habe. Denn diese sei „wegen seines in dem Artikel der Schüler5

So die Formulierung des Bundesarbeitsgerichts, vgl. BAG AP Nr. 2 zu § 17 BBiG Bl. 934; es ist demgemäß davon auszugehen, daß der Zeitungsartikel in der Tat ursächlich für das folgende Schreiben der Beklagten und dessen Inhalt war, obwohl jener schon im Frühjahr veröffentlicht, dieses aber erst am 15.10. verfaßt worden war.

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zeitung dokumentierten Verhältnisses zur Gewalt und Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung von Forderungen erfolgt" und „dieses mittelbare Bekenntnis des Klägers zur Gewalt (habe) bei ihr die nicht unberechtigte Befürchtung ausgelöst, der Kläger könne beim Vorliegen bestimmter Fallkonstellationen auch im Betrieb die Gewaltanwendung rechtfertigen" 6. Auf die Verfassungsbeschwerde des Klägers hat das Bundesverfassungsgericht das Urteil des Bundesarbeitsgerichts wegen Verletzung von Art. 5 Abs. 1 GG aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen. Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner Begründung vor allem darauf ab, es sei „keineswegs eindeutig, daß der Artikel ein Bekenntnis zur Gewalt enthält"; vielmehr seien „andere Auslegungen denkbar, wenn nicht sogar naheliegend"7. Außerdem halte „es einer Überprüfung nicht stand, daß das Bundesarbeitsgericht ohne kritische Würdigung des Artikels über die Beobachtungen und Erlebnisse des Beschwerdeführers auf dessen allgemeine Gewaltbereitschaft geschlossen hat, die auch bei innerbetrieblichen Auseinandersetzungen zum Tragen kommen könne"8. Im übrigen wird auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die im Schrifttum ganz überwiegend auf Kritik gestoßen ist 9 , erst im Rahmen der weiteren Erörterungen näher eingegangen werden 10. Das Bundesarbeitsgericht hatte leider keine Gelegenheit zu einer erneuten Stellungnahme, weil der Rechtsstreit nach der Zurückverweisung durch Anerkenntnisurteil zugunsten des Klägers entschieden worden ist 11 .

3. Der Schülerzeitungsfall als Paradigma für die Schwierigkeiten des Verhältnisses von Grundrechten und Privatrecht Der Schülerzeitungsfall ist in der Tat besonders gut als Paradigma für die Schwierigkeiten geeignet, die das Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht aufwirft. Das gilt zunächst schon in konstruktiv-dogmatischer Hinsicht. Einerseits liegt nämlich in der Ablehnung eines Vertragsschlusses durch die Beklagte rechtlich gesehen grundsätzlich ein bloßes Unterlassen 12, und man fragt sich daher - zumindest auf den ersten Blick - mit einiger Irritation, ob und wie ein solches überhaupt als Verfassungsverstoß qualifiziert werden kann, wenn es wie hier einem Privatrechtssubjekt zur Last fällt. Andererseits ist nicht von der Hand zu weisen, 6 AaO unter I I 3 b. 7 BVerfGE 86, 122, 130 unter 4 a. 8 AaO S. 130 unter 4 b. 9 Vgl. Boemke NJW 1993, 2083 ff.; Hillgruber ZRP 1995, 6ff.; Ossenbühl DVB1. 1995, 911; Herrmann ZfA 1996, 57 f.; zurückhaltender Reuter EzA 1993, Art. 5 GG Nr. 22. 10

Vgl. vor allem unten III 1 und 3.

Urteil vom 11. 11. 1992, 2 AZR 334/92. 12 Vgl. dazu näher unten II 5.

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daß die Meinungsfreiheit des Klägers erheblich beeinträchtigt war, wenn diesem nur wegen seines Artikels in der Schülerzeitung die Übernahme in ein Arbeitsverhältnis verweigert wurde - und von einer solchen Sachverhaltsgestaltung ist das Bundesarbeitsgericht ersichtlich ausgegangen13. Dabei darf man sich in diesem Zusammenhang nicht durch den Umstand beirren lassen, daß in dem Artikel möglicherweise ein Bekenntnis zur Gewaltanwendung lag. Denn wenn man dieses durch eine geringfügige Modifikation des Falles hinwegdenkt, bleiben die konstruktiv-dogmatischen Schwierigkeiten gleichwohl unverändert bestehen. Man stelle sich etwa vor, der Kläger habe sich während seiner Ausbildungszeit unter ausdrücklicher Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung als Gegner einer wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie zu erkennen gegeben und die Beklagte habe deshalb den Vertragsschluß abgelehnt; auch wer im Schülerzeitungsfall im Ergebnis dem Bundesarbeitsgericht zu folgen und also die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts abzulehnen geneigt ist, wird bei einer solchen Modifikation des Falles die Erforderlichkeit eines Schutzes der Meinungsfreiheit des Klägers und eine das Privatrecht übersteigende, also verfassungsrechtliche Dimension der Problematik nicht leichthin von der Hand weisen. Auch unter wertungsmäßig-teleologischen Gesichtspunkten weist die Entscheidung durchaus paradigmatischen Charakter auf. Sie läßt nämlich die oft beschworene Gefahr, daß durch einen allzu forcierten Rückgriff auf die Grundrechte die Privatautonomie schweren Schaden nehmen könne, als höchst real erscheinen. Denn ein Kontrahierungszwang, wie ihn das Bundesverfassungsgericht hier ersichtlich annimmt 14 , stellt einen besonders massiven Eingriff in die Vertragsfreiheit dar, weil er deren elementarste Grundlage - die Abschlußfreiheit - trifft. Das gilt umso mehr, als das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus der Beklagten sogar zu verwehren scheint, sich auf ein Verständnis des Artikels in der Schülerzeitung zu berufen, welches alles andere als willkürlich war, sondern im Gegenteil die ausdrückliche Billigung des Bundesarbeitsgerichts gefunden hatte. Es nimmt daher nicht wunder, daß in einer kritischen Rezension der Entscheidung die Frage nach dem „Abschied von der Privatautonomie" gestellt worden ist 1 5 . Paradigmatisch ist diese schließlich auch insofern, als sie besonders drastisch zeigt, in welchem Maße sich das Bundesverfassungsgericht in die Kompetenz der Fachgerichte einmischt16. Die Auslegung einer individuellen Äußerung gehört nämlich zu deren ureigensten Aufgaben, ja sie ist bekanntlich sogar weitgehend der Revision entzogen, so daß das Bundesverfassungsgericht hier in die Gefahr 13

Vgl. oben bei und mit Fn. 5. Ausdrücklich steht das allerdings nicht in dem Beschluß, doch kann dieser sinnvollerweise nicht anders verstanden werden, vgl. auch Herrmann ZfA 1996, 58; die Beklagte hatte jedenfalls an diesem Verständnis offenbar keine Zweifel, wie ihr Anerkenntnis (vgl. oben Fn. 11) zeigt. 15 So Hillgruber ZRP 1995, 6. 14

16

Vgl. auch die im Ton moderate, in der Sache aber unmißverständliche Kritik, die Ossenbühl DVB1. 1995, 911 unter diesem Gesichtspunkt an der Entscheidung übt.

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gerät, nicht nur die. Rolle eines Superrevisionsgerichts, sondern partiell sogar die eines Superberufungsgerichts in Anspruch zu nehmen. II. Dogmatische Grundlagen 1. Von der Drittwirkung

zur Schutzgebotsfunktion

der Grundrechte

Ausdrücklich geregelt ist die Einwirkung der Verfassung auf das Verhalten von Privatrechtssubjekten nur in Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG. Danach sind Abreden, welche die Koalitionsfreiheit einschränken oder zu behindern suchen, nichtig und hierauf gerichtete Maßnahmen rechtswidrig. Mit Recht wird hieraus für den Fall, daß die Einstellung eines Arbeitnehmers mit Rücksicht auf seine Koalitionszugehörigkeit unterbleibt, die Möglichkeit eines Anspruchs auf Abschluß eines Arbeitsvertrags abgeleitet17, indem Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB qualifiziert und darauf grundsätzlich - d. h. insbesondere vorbehaltlich des häufig scheiternden Kausalitätsbeweises18 - ein Einstellungsanspruch als Naturalrestitution gemäß § 249 Satz 1 BGB gestützt wird. Läßt sich dieses Denk- und Konstruktionsmodell nun ohne weiteres auf die vorliegende Problematik übertragen, so daß man im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 GG ebenso argumentieren kann wie im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG? Darin läge eine unmittelbare Drittwirkung in dem Sinne, daß nicht nur der Staat und seine Organe, sondern auch die Subjekte des Privatrechts Adressaten der Grundrechte sind. Eine solche Konzeption wird heute bekanntlich ganz überwiegend abgelehnt19. Es ist nicht der Sinn des vorliegenden Beitrags, erneut in diese Diskussion einzutreten, zumal die für die h.L. sprechenden Gründe an anderer Stelle ausführlich dargelegt worden sind 20 . Und es erscheint auch nicht angezeigt, die von Leisner in seiner Habilitationsschrift entwickelte Konzeption daraufhin zu untersuchen, ob sie wirklich - wie meist angenommen wird - der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung zuzuordnen ist; denn zum einen ist diese Terminologie nicht eindeutig21, so daß eine solche Zuordnung interpretatorisch schwierig und sachlich wenig ergiebig ist, und zum anderen wird sich zeigen, daß sich die Arbeit 17 Vgl. z. B. Löwisch Arbeitsrecht, 4. Aufl. 1996, Rdn. 147 und 1205; Buchner in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, 1992, § 36 Rdn. 75 f. und § 37 Rdn. 218 f. (mit Einschränkungen). 18 Sehr skeptisch insoweit Buchner aaO § 37 Rdn. 218 („läßt sich kaum jemals dartun"). 19 Vgl. zuletzt Isensee aaO (Fn. 3) S. 491; vgl. im übrigen zum gegenwärtigen Stand der Drittwirkungslehre Rüfner in Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Band V, 1992, § 118 Rdn. 24 ff. 20 Vgl. Canaris AcP 184 (1984) 202 ff. 21 Wenn man überhaupt an der Drittwirkungsterminologie festhalten will, sollte man der Klarheit halber nur solche Positionen als „unmittelbare" Drittwirkung bezeichnen, nach denen auch die Subjekte des Privatrechts Normadressaten der Grundrechte sind und nach denen daher die Regelung von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG in praktischer wie dogmatischer Hinsicht Leitbildfunktion besitzt, vgl. näher Canaris Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 34 f.

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Leisners auch beim heutigen Diskussionsstand und unabhängig von der Kontroverse um die unmittelbare oder mittelbare Drittwirkung ohne weiteres fruchtbar machen läßt 22 . Demgemäß sei im Einklang mit der heute ganz vorherrschenden Ansicht davon ausgegangen, daß Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG kein generalisierungsfähiges Grundmodell darstellt und daß demgemäß nach einer anderen Möglichkeit gesucht werden muß, um einen auf Art. 5 Abs. 1 GG gestützten (etwaigen) Kontrahierungszwang dogmatisch zu fundieren. Eine solche könnte in dem Rückgriff auf die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte liegen. Der Vorschlag, diese für die Umsetzung der Grundrechte im Privatrecht fruchtbar zu machen23, hat im Schrifttum weitgehend Zustimmung gefunden 24 und ersichtlich auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie jüngst auch die des Bundesarbeitsgerichts beeinflußt 25. Der zentrale Gedanke besteht dabei in einer verhältnismäßig einfachen Überlegung: Da die in den Grundrechten (mit)enthaltenen Schutzgebote den Staat zum Schutz des einen Bürgers vor dem anderen verpflichten, können sie auch und nicht zuletzt im Privatrecht von Verfassungs wegen dazu führen, daß das objektive Recht Beeinträchtigungen von grundrechtlich geschützten Gütern durch andere Privatrechtssubjekte zu verhindern hat - sei es im Wege der Gesetzgebung oder sei es durch die diese ergänzende oder ersetzende Rechtsprechung26. Diese Konzeption ermöglicht es, einerseits an der Einsicht festzuhalten, daß Adressat der Grundrechte nach geltendem Verfassungsrecht grundsätzlich nur der Staat und - außer im Falle von Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG - nicht ein Privatrechtssubjekt als solches ist, andererseits aber zugleich dogmatisch zu erklären, daß und warum die Grundrechte gleichwohl auf das Verhältnis zwischen den Privatrechtssubjekten einwirken können. Die Grundrechte richten sich dabei unmittelbar an den Gesetzgeber und den Richter bzw. seinen Spruch 27 und entfalten auf diesem Umweg - also wenn man so will mittelbar 22 Vgl. unten bei Fn. 30 und Fn. 39. 23 Vgl. Canaris AcP 184 (1984) 225 ff. und JuS 1989, 163 f. 24 Vgl. z. B. Stern Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band I I I / 1 , 1988, § 76 III 4 b und 5; Rüfner aaO (Fn. 19) § 117 Rdn. 60 mit Fn. 180; Hermes NJW 1990, 1765; Höfling Vertragsfreiheit, 1991, S. 53; H.H. Klein DVB1. 1994, 492; J. Hager JZ 1994, 378 ff.; Oeter AöR 119 (1994) 536f., 549 f.; Spieß DVB1. 1994, 1225; Jarass AöR 120 (1995) 352 f.; Singer JZ 1995, 1136ff.; Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 299ff.; Isensee Festschr. für Kriele, 1997, S. 32 und Festschr. für Großfeld, 1999, S. 497 f. (mit Einschränkungen S. 501 ff., vgl. dazu unten II 3); Langner Die Problematik der Geltung der Grundrechte zwischen Privaten, 1998, S. 88 ff., 201 ff., 244 f.; weitere Nachweise bei Canaris aaO (Fn. 21) S. 38 Fn. 91; ablehnend vor allem Zöllner AcP 196 (1996) 11 f., 36; Diederichsen AcP 198 (1998) 249 ff. 25 Das gilt vor allem für die Handelsvertreterentscheidung BVerfGE 81, 242, 252 ff. und die Bürgschaftsentscheidung BVerfGE 89, 214, 232 ff.; vgl. ferner BAG NZA 1998, 715; 1998,716. 26 Vgl. näher die ausführliche Zusammenfassung der Argumentation und des Diskussionsstandes bei Canaris aaO (Fn. 21) S. 37 ff. 27 Wie die Bindung des Richters an die Grundrechte im Privatrecht dogmatisch genau zu erklären ist, ist umstritten; richtig dürfte sein, die ratio decidendi als Norm zu formulieren

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Rechtswirkungen gegenüber den Privatrechtssubjekten, die zwar nicht an die Grundrechte als solche, wohl aber mit Selbstverständlichkeit an das - gegebenenfalls von diesen beeinflußte - einfache Recht gebunden sind (welches deshalb aber nicht notwendigerweise verfassungsfest wird, weil es in der Regel einen weiten Spielraum und daher unterschiedliche Möglichkeiten zur Erfüllung der Schutzgebotsfunktion besitzt28). Man kann daher in der Tat sagen, daß „die Schutzpflicht legitime Belange der Drittwirkungslehre verarbeitet und erledigt" 29 . Diesem Lösungsansatz dürfte die Konzeption Leisners durchaus nahestehen. Klarsichtig hat dieser nämlich darauf hingewiesen, daß der „Wertbegriff 4 der Menschenwürde „nur völlig allseitig geschützt (!) werden kann", und daran die kritisch-rhetorische Frage geknüpft, ob „wirklich in den ,Menschenwürdegehalt' aller Grundrechte ... jene eigenartige Doppelgesichtigkeit gelegt werden soll, nach der es ,in einer Hinsicht4 (gegenüber staatlichem Zwang) nötig ist, ihn unverbrüchlich zu schützen (!), er in anderer jedoch (im Privatrecht) vollständig aufhebbar erscheint?"30 Mit Recht hat er dabei außerdem an Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG erinnert, wonach der Staat die Menschenwürde nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen hat - ein Hinweis, der sich im Zusammenhang mit der Drittwirkungslehre bemerkenswerter Weise übrigens auch schon bei seinem Antipoden Dürig findet 31 - , und hervorgehoben, daß „gerade in jenem »Naturzustand4 ... die ,Drittrichtung 4 ja primär ist und sich erst langsam zur Staatsrichtung ,verdichtet 44432 . Hier wird sowohl diejenige Bestimmung des Grundgesetzes, in deren Wortlaut die Schutzgebotsfunktion wohl am deutlichsten anklingt, ins Feld geführt als auch der Grundgedanke thematisiert, der historisch und teleologisch gesehen ihre wichtigste Grundlage bildet: die Aufgabe des Staates, Frieden und Sicherheit zu gewährleisten, also (u. a.) den einen Bürger vor dem anderen effizient zu schützen33. Vor diesem Hintergrund gewinnt zugleich der Befund Leisners besonderes Gewicht, und dann wie eine solche unmittelbar an den Grundrechten zu messen, vgl. eingehend Canaris aaO (Fn.21)S. 23 ff. 28 Vgl. dazu näher Canaris aaO (Fn. 21) S. 81 ff. 29

So Isensee Festschr. für Großfeld, 1999, S. 498; anders noch ders. Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 35: „Das Konzept der grundrechtlichen Schutz- und Eingriffsbeziehungen hat nichts zu tun mit der Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte". Eine Kombination von Schutzpflichtkonzept und Drittwirkungslehre vertritt Langner aaO (Fn. 24) S. 245 f., wonach letztere offenbar im Rahmen bereits vorhandener Normen wie vor allem der Generalklauseln einzelfallbezogen den Rückgriff auf die Grundrechte eröffnet, ersteres dagegen die Grundlage für die Entwicklung der Schutznormen als solcher bildet; diese Trennung erscheint nicht als zweckmäßig, da auch die einzelfallbezogene Konkretisierung und Anwendung von Normen der Verwirklichung von grundrechtlichen Schutzpflichten dienen kann und eine solche oft überhaupt nur auf diese Weise möglich ist. 30

Leisner aaO (Fn. 1) S. 147; vgl. ferner das wörtliche Zitat unten bei Fn. 39. Vgl. Dürig Festschr. für Nawiasky, 1956, S. 176 und in Maunz/Dürig Art. 1 Abs. III Rdn. 102 und 131. 3 2 Leisner aaO (Fn. 1) S. 148. 31

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Vgl. dazu eindringlich Isensee HStR Band V, 1992, § 111 Rdn. 25 ff., 32ff.; im Ansatz ähnlich Canaris AcP 184 (1984) 226 f. 28 FS Leisner

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daß die Grundrechte ursprünglich mit „allseitiger Tendenz" entstanden sind und erst im 19. Jahrhundert eine fast ausschließliche „Staatsrichtung" erlangt haben34. Daher liegt die Schlußfolgerung nicht fern, daß auch Leisner sich die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte zunutze gemacht hätte, wenn sie seinerzeit schon vom Bundesverfassungsgericht wiederentdeckt gewesen wäre und einen anerkannten Platz in der Grundrechtsdogmatik gehabt hätte, doch ist es müßig, hierüber zu spekulieren; alles andere als müßig ist dagegen der Hinweis, wie nahe die Gedanken Leisners immer noch bei den heutigen Schwerpunkten der Diskussion um das Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht liegen 35 .

2. Zwischen Übermaß- und Untermaßverbot Die Schutzgebotsfunktion kommt sozusagen „von unten", indem sie von Verfassungs wegen verhindert, daß Staat und (einfaches) Recht ein gewisses Minimum an Schutz unterschreiten 36. Damit wird indessen nur die eine Seite der Problematik erfaßt. Das zeigt sich schon bei der grundlegenden Lüth-Entscheidung37. Wenn das Bundesverfassungsgericht es hier als Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 GG angesehen hat, daß ein Zivilgericht dem Beschwerdeführer Lüth einen Boykottaufruf gegen einen Film wegen (angeblichen) Verstoßes gegen § 826 BGB untersagt hatte, so ging es dabei nicht darum, Lüth vor dem Verhalten eines anderen Privatrechtssubjekts - d. h. der Klägerinnen - zu schützen, sondern vielmehr darum, daß das Zivilgericht, also ein staatliches Organ seine Meinungsfreiheit durch eine unzutreffende, weil mit Art. 5 Abs. 1 GG unvereinbare Auslegung von § 826 BGB verletzt hatte. Der Sache nach handelte es sich dabei offenkundig um einen Verstoß gegen das Übermaßverbot 38, mag das auch in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts, das in dieser Entscheidung bekanntlich sowohl die Lehre von der „Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte auf das Privatrecht als auch die „Wechselwirkungstheorie" zu Art. 5 Abs. 2 GG kreiert hat, nicht klar zum Ausdruck kommen. Unter dem Gesichtspunkt der Schutzgebotsfunktion könnte man hier allenfalls thematisieren, ob den Klägerinnen - es handelte sich um die Herstellungs- und die Vertriebsgesellschaft des Films, zu dessen Boykott Lüth aufgerufen hatte - durch die Abweisung ihrer Klage der Schutz ihres Eigentums (falls Art. 14 GG tatbestandlich überhaupt einschlägig war) oder ob dem Regisseur - der freilich nicht geklagt hatte - der Schutz seiner Kunstfreiheit (falls Art. 5 Abs. 3 GG tatbestandlich überhaupt einschlägig war) zu Unrecht vorenthalten wurde. 34 Leisner aaO (Fn. 1) S. 3 ff., 332 f. 35

Vgl. dazu alsbald noch einmal bei Fn. 39. 36 Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht daher z. B. in seiner Entscheidung zur Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG die verfassungsrechtliche Prüfung darauf beschränkt, ob der „durch Art. 12 Abs. 1 GG gebotene Mindestschutz der Arbeitnehmer" gewährleistet ist, vgl. BVerfGE 97, 169 Leitsatz 2 und S. 178 (Hervorhebung hinzugefügt). 37 BVerfGE 7, 198. 38 Vgl. genauer Canaris aaO (Fn. 21) S. 31 f.

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Noch deutlicher wird das sich hier abzeichnende Spannungsverhältnis zwischen gegenläufigen Grundrechten etwa bei Unterlassungsklagen analog § 1004 BGB wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder der Ehre durch Äußerungen eines anderen Privatrechtssubjekts: Wird der Klage stattgegeben, so kann darin ein unverhältnismäßiger Eingriff in dessen Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG liegen; wird sie dagegen abgewiesen, so kann die Schutzgebotsfunktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG mißachtet sein. Eine derartige Problematik tritt mehr oder weniger zwangsläufig bei allen Grundrechtskonflikten zwischen Privatrechtssubjekten auf. Auch das hat Leisner bereits mit voller Klarheit gesehen: „Wenn der Richter Verträgen, im Namen der Grundrechte, die Wirksamkeit versagt, wenn er außervertraglichen Ansprüchen, die sich auf Freiheitsrechte stützen, zum Ziel verhilft, so schützt (!) er damit wohl den Freiheitsbereich der einen Partei, beschränkt aber den der anderen und greift insoweit in die Privatautonomie ein (!) .. ." 3 9 . Damit kommt genau die Gegenläufigkeit von Schutzgebotsfunktion einerseits und Eingriffsverbotsfunktion andererseits zum Ausdruck, um die es hier geht. Folgt man dem Vorschlag, ersterer ein Untermaßverbot zuzuordnen 40 - ein Terminus, den inzwischen auch das Bundesverfassungsgericht rezipiert hat 41 - , so kann man auch sagen, daß die Grundrechte im Verhältnis von Privatrechtssubjekten zueinander ihre Wirkung zwischen den Schranken des Übermaßverbots auf der einen und den Anforderungen des Untermaßverbots auf der anderen Seite entfalten 42. Zwischen diesen beiden Grenzmarken steht, wie zur Vermeidung von Mißverständnissen wiederholt sei, dem einfachen Recht - und damit auch der dieses anwendenden und konkretisierenden Rechtsprechung - in der Regel ein verhältnismäßig breiter Spielraum offen, der verfassungsrechtlich nicht determiniert ist 4 3 .

3. Schutzgebotsfiinktion und Privatautonomie vor dem Hintergrund der Kritik an der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts Im Schrifttum wird die These vertreten, daß die grundrechtlichen Schutzpflichten nur im Anwendungsbereich des Neminem-laedere-Prinzips gelten und nicht über das deliktische Handeln hinaus auf das rechtsgeschäftliche bezogen werden 39 Leisner aaO (Fn. 1) S. 319. 40 Vgl. Conans AcP 184 (1984) 228 und 245 sowie JuS 1989, 163. 41 BVerfGE 88, 203, 254 ff. 42 Vgl. Canaris JuS 1989, 163 f.; ähnlich Isensee in HStR Band V § 111 Rdn. 77 ff. und Festschr. für Kriele, 1997, S. 32. 43 Vgl. eingehend Canaris aaO (Fn. 21) S. 44 f. und S. 83 ff. mit Nachw. aus der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts in Fn. 121; vgl. dort S. 86 ff. auch zur Eigenständigkeit des Untermaßverbots gegenüber der Schutzpflicht.

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könnten 44 ; denn „gegen die Ausweitung auf den rechtsgeschäftlichen Bereich erheben sich generelle Bedenken, (weil) die grundrechtstypische Gefahrenlage fehlt, auf welche die reguläre Schutzpflicht antwortet, die Verletzung eines Rechtsguts" 45 . Insbesondere lasse sich auf diese demgemäß entgegen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Bürgschaftsfall nicht die Inhaltskontrolle von Verträgen stützen, weil diese „nicht an den grundrechtlichen Tatbestand anknüpft, welcher der Schutzpflicht vorausliegt: die Verletzung eines von Verfassungs wegen vorgegebenen absoluten Rechts wie Menschenwürde, Leben, Eigentum" 46 . Vielmehr führe „die Inhaltskontrolle zu einer grundrechtlichen Anomalie, (weil) die Garantie der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG sich unter dem Einfluß des Topos der strukturellen Unterlegenheit 47 aus einem Freiheitsrecht in eine Freiheitsschranke verwandelt (und) die Grundrechtsfunktion in ihr Gegenteil umschlägt: die Abwehr des Staates in die Abwehr des überlegenen Vertragspartners, die Gewähr der Vertragsfreiheit in das Verbot, sie auszuüben", was eine „grundrechtsdogmatische Sensation" sei 48 . Hier werden Zentralprobleme sowohl der Schutzgebotsfunktion als auch des Verhältnisses von Grundrechten und Privatrecht angesprochen. Können wirklich nur absolute Rechte eine grundrechtliche Schutzpflicht auslösen, so daß die Privatautonomie - die ja in der Tat zweifelsfrei nicht zu diesen gehört - dazu von vornherein nicht taugt? Läßt sich also eine Inhaltskontrolle nach § 138 BGB entgegen der bisher ganz vorherrschenden Ansicht nicht mit einer Beeinträchtigung von Grundrechten begründen? Und wenn das für die Inhaltskontrolle gilt, scheidet dann nicht erst recht die - in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehende - Möglichkeit eines grundrechtlich fundierten Kontrahierungszwangs von vornherein aus? Indessen dürfte sich die These, daß nur absolute Rechte als Grundlage einer grundrechtlichen Schutzpflicht in Betracht kommen, schwerlich halten lassen. Die Figur des absoluten, d. h. gegen jeden Dritten wirkenden Rechts und dessen Unterscheidung von den nur relativen Rechten dient nämlich in erster Linie spezifisch zivilrechtlichen Zwecken wie vor allem der Abgrenzung von Schuld- und Sachenrecht und der Konkretisierung des Begriffs des „sonstigen Rechts" i.S. von § 823 Abs. 1 BGB, und daher sollte ihre Ergiebigkeit für die Lösung verfassungsrechtlicher Fragen nicht überschätzt werden, auch wenn es gewiß alles andere als ein Zufall ist, daß die elementarsten Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Eigentum zugleich Grundlage absoluter Rechte sind. Daß ein solches in dem vom Bundes44 So Isensee HStR Band V, 1992, § 111 Rdn. 128 f.; ähnlich Hillgruber Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 149 ff.; im Ansatz und in den Folgerungen ähnlich auch Zöllner AcP 196 (1996) 7f., 12f., 36. 45 So Isensee Festschr. für Großfeld, 1999, S. 501. 46 So Isensee aaO S. 502. 47 Dieser Topos spielt in der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine zentrale Rolle, vgl. dazu unten Fn. 57. 48 So Isensee aaO S. 508; ähnlich S. 510, 511, 513.

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Verfassungsgericht entschiedenen Bürgschaftsfall nicht berührt war (wenn man einmal die Sonderproblematik eines Rückgriffs auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht beiseite läßt), zwingt daher nicht von vornherein zu dem Schluß, daß hier eine grundrechtliche Schutzpflicht nicht in Betracht kam. Würdigt man den Bürgschaftsfall unter diesem Aspekt, so muß man sich zunächst dessen spezifisches Charakteristikum vor Augen halten, das in dem Zusammentreffen von zwei gravierenden Nachteilen für die Bürgin besteht: Zum ersten ging es um eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer tatsächlichen Entscheidungsfreiheit, weil sie sich als (21jährige) Tochter des Hauptschuldners dem Wunsch nach Übernahme der Bürgschaft für ihren Vater aus familiären und emotionalen Gründen nur schwer entziehen konnte und der Vertreter der Gläubigerin (einer Sparkasse) außerdem das von ihr übernommene Risiko bagatellisiert hatte 49 ; und zum zweiten lag ein krasses Mißverhältnis zwischen der Höhe der gesicherten Hauptschuld und des von der Bürgin übernommenen Risikos einerseits und ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen andererseits vor, aufgrund dessen nicht damit zu rechnen war, daß sie die Bürgschaftsschuld jemals würde tilgen können50. Wenn das Bundesverfassungsgericht hier eine Pflicht zum Schutz der Privatautonomie der Bürgin angenommen hat, so hat es diese damit nicht in einem formalen, sondern in einem materialen Sinne verstanden 51, d. h. nicht auf die rein rechtliche Möglichkeit ihrer Wahrnehmung, sondern auf die tatsächlichen Voraussetzungen ihrer faktischen Ausübung abgestellt. Ein solches Verständnis von Privatautonomie erscheint sinnvoll - und zwar nicht nur zivilrechtlich, sondern auch verfassungsrechtlich. Denn sie besteht zwar primär in der Kompetenz zur Setzung von Rechtsfolgen, doch stellt diese keinen Selbstzweck dar, sondern soll letztlich in der Tat (u. a.) dem Ziel materialer und tatsächlicher Selbstbestimmung dienen52. Daß (auch) letztere unter Art. 2 Abs. 1 GG fällt, dürfte bei der gängigen weiten Interpretation dieses Grundrechts nicht zu bezweifeln sein. Daß sie dann aber keine Grundlage einer hierauf gestützten verfassungsrechtlichen Schutzpflicht soll bilden können, vermag nicht zu überzeugen, weil die Möglichkeit zur faktischen Selbstbestimmung zu den elementarsten Grundrechten des Menschen gehört und sogar einen verhältnismäßig engen Bezug zu seiner Würde im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG aufweist. Das korrespondiert mit der Einsicht, daß es im Verhältnis zwischen Privatrechtssubjekten das Hauptziel der Schutzgebotsfunktion ist, die grundrechtlichen Güter vor tatsächlichen Beeinträchtigungen durch andere Privatrechtssubjekte zu bewahren und ihre 49 Das ergab sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts, die insoweit (auch) in BVerfGE 89, 214, 219 wiedergegeben sind; vgl. dazu freilich auch unten Fn. 57 a.E. so Vgl. aaO S. 220 f., 230 f. 51 Das wird zwar in der Entscheidung nicht ausdrücklich ausgesprochen, entspricht aber dem Duktus der Gedankenführung und klingt in der Berufung auf Wieackers berühmtes Wort von der „materialen Ethik sozialer Verantwortung" (vgl. aaO S. 233) deutlich an. 52 Zu weiteren Gründen für die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie, die im vorliegenden Zusammenhang indessen keine Rolle spielen, vgl. Canaris JZ 1987, 994 f.

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tatsächliche Funktionsfähigkeit zu gewährleisten, weil spezifisch rechtliche Eingriffe auf dieser Ebene meist ohnehin nicht möglich sind 53 . Die Richtigkeit dieser Ansicht läßt sich unterstützen durch das Gedankenexperiment, ob die Verfassung verletzt wäre, wenn das Privatrecht z. B. jeglichen Schutz vor arglistiger Täuschung, widerrechtlicher Drohung und Wucher verweigern würde. Es kann kaum zweifelhaft sein, daß man darin einen Verstoß gegen die Schutzgebotsfunktion und das Untermaßverbot zu sehen hätte (und daß demgemäß die §§ 123, 138 Abs. 2 BGB als Konkretisierungen derselben anzusehen sind). Auch dabei ginge es aber grundsätzlich „nur" um Art. 2 Abs. 1 GG und „nur" um Beeinträchtigungen der tatsächlichen Voraussetzungen freier Selbstbestimmung, nicht dagegen um die Verletzung eines absoluten Rechts (es sei denn, man würde als solches hier das allgemeine Persönlichkeitsrecht bemühen, was man dann aber im Bürgschaftsfall ebenso tun könnte). Das belegt mittelbar zusätzlich, daß es nicht richtig sein kann, nur absolute Rechte als mögliche Grundlage einer grundrechtlichen Schutzpflicht anzuerkennen. Bei der hier vertretenen Sichtweise verschwindet die „grundrechtsdogmatische Sensation", daß „sich die Garantie der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG ... aus einem Freiheitsrecht in eine Freiheitsschranke wandelt". Es geht vielmehr um eine Variante des zuvor unter 2 behandelten Antagonismus zwischen dem Grundrecht der einen Partei i.V. mit dem Übermaßverbot und dem Grundrecht der anderen Partei i.V. mit dem Untermaßverbot: Es wird in die formale Privatautonomie der Gläubigerin, d. h. in ihre rechtliche Kompetenz eingegriffen, um die materiale Privatautonomie der Bürgin, d. h. ihre tatsächliche Entscheidungsfreiheit zu schützen. Dieser Eingriff unterliegt selbstverständlich der Kontrolle am Übermaßverbot, hält ihr jedoch grundsätzlich stand. Eine gewisse Besonderheit besteht insoweit lediglich darin, daß hier auf beiden Seiten dasselbe Grundrecht einschlägig ist, wenngleich in unterschiedlichen Erscheinungsformen - nämlich einmal als rechtliche Kompetenz und einmal als tatsächliche Möglichkeit - , doch ist nicht ersichtlich, daß sich daraus verfassungsrechtliche Konsequenzen ergeben. Eine weitere Besonderheit liegt darin, daß durch die Inhaltskontrolle zugleich auch die rechtliche Kompetenz der Bürgin selbst eingeschränkt wird und damit das Problem des Schutzes eines Grundrechtsträgers „vor sich selbst" auftritt, weil sie ja immerhin durch den Abschluß des Vertrags an der Beeinträchtigung ihres Grundrechts mitgewirkt hat. In diese Richtung zielt offenbar die Bemerkung, es fehle an der „Verletzung" eines Rechtsguts54. Indessen ist dazu an anderer Stelle bereits das Erforderliche gesagt worden, so daß darauf hier der Kürze halber verwiesen werden darf 55 , zumal dieser Aspekt für die Thematik des Kontrahierungszwangs ohne Belang ist. 53 Vgl. näher Canaris aaO (Fn. 21) S. 74 f. 54 Vgl. das Zitat oben bei Fn. 45. 55 Vgl. Canaris aaO (Fn. 21) S. 48 f.

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Insgesamt ist somit an der Ansicht festzuhalten, daß die Schutzgebotsfunktion der Grundrechte ihre Wirkung auch bei der Inhaltskontrolle von Verträgen entfalten kann, wie das denn auch der h.L. entspricht 56. Ob die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Bürgschaftsfall in anderer Hinsicht zu Kritik Anlaß gibt, bedarf hier keiner Erörterung 57. Zuzustimmen ist ihr jedenfalls hinsichtlich der grundsätzlichen Möglichkeit einer Verknüpfung von Schutzgebotsfunktion und Inhaltskontrolle. Unter diesem Gesichtspunkt besteht somit kein Einwand dagegen, die Schutzgebotsfunktion grundsätzlich auch für die Begründung eines Kontrahierungszwangs fruchtbar zu machen, was von vornherein höchst fragwürdig erscheinen müßte, wenn sich auf sie nicht einmal eine Inhaltskontrolle stützen ließe. 4. Schutzgebotsfunktion

und Gesetzesvorbehalt

In der Auseinandersetzung mit der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist noch ein weiterer Gesichtspunkt vorgebracht worden, der die Relevanz der Schutzgebotsfunktion für das Privatrecht in genereller Weise betrifft und daher auch für die vorliegende Thematik relevant ist. Es ist nämlich kritisiert worden, daß das Bundesverfassungsgericht das Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes mißachtet habe58. Wenn das heißen sollte, daß Generalklauseln wie die §§ 138, 242 BGB diesem Prinzip grundsätzlich nicht genügen, so wäre eine solche Ansicht wahrhaft revolutionär, stellt doch jede Inhaltskontrolle von Verträgen nach diesen Vorschriften - also nicht nur eine auf die Schutzgebotsfunktion von Art. 2 Abs. 1 GG gestützte - einen Eingriff in die Privatautonomie dar, dem dann folgerichtig 56 Vgl. Canaris AcP 184 (1984) 232 ff. und JuS 1989, 164 ff.; Rüfner HStR Band V, 1992, §117 Rdn. 64; J. Hager JZ 1994, 378 ff.; Dieterich RdA 1995, 130 und 134ff.; Singer JZ 1995, 1136ff.; Oldiges Festschr. für Friauf, 1996, S. 304ff.; Enderlein Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, S. 172. 57 Als wenig glücklich erscheint vor allem der Rückgriff auf das - vorher der Privatrechtsdoktrin unbekannte - Kriterium des „strukturellen Ungleichgewichts" zwischen den Vertragsparteien. Die Kritik, die Isensee aaO (Fn. 45) S. 506 f., 509 daran übt, trifft daher im wesentlichen zu. Durchaus vorzugswürdig ist demgemäß insoweit die Position Zöllners, der statt auf ein angebliches „strukturelles Ungleichgewicht" - bewährter privatrechtlicher Tradition folgend - primär auf die Beeinträchtigung der faktischen Entscheidungsfreiheit abstellt, vgl. AcP 196 (1996) 28 ff. und Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, 1996 S. 42 ff. Bezeichnenderweise hat denn auch das Kriterium des „strukturellen Ungleichgewichts" für die seitherige Behandlung der Bürgschaftsfälle durch den BGH keine nennenswerte Rolle gespielt, vgl. z. B. BGHZ 125, 206, 210f.; 128, 230, 232 f.; BGH NJW 1996, 1274, 1277 (gebilligt durch BVerfG NJW 1996, 2021). - Äußerst bedenklich erscheint auch, daß das Bundesverfassungsgericht die Deutung, die der BGH der Äußerung des Sparkassenangestellten über die Geringfügigkeit des mit der Bürgschaft verbundenen Risikos gegeben hatte, nicht hingenommen, sondern im Gegenteil geradezu zum Angelpunkt für die Aufhebung der Entscheidung gemacht hat, vgl. BVerfGE 89, 214, 235; dadurch wird in besonders gravierender Weise in die Kompetenz der Fachgerichte eingegriffen, da die Interpretation und Würdigung individueller Äußerungen zu deren genuinen Aufgaben gehört. 58 Vgl. Isensee aaO (Fn. 45) S. 502, 505, 508.

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die erforderliche gesetzliche Grundlage fehlen würde. So allgemein kann diese Kritik daher wohl nicht gemeint sein 59 . In der Tat ist nicht ersichtlich, warum ein Grundrechtseingriff auf der Grundlage einer zivilrechtlichen Generalklausel mit dem Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes unvereinbar sein sollte; denn zum einen lassen sich die einschlägigen Probleme meist gar nicht anders als mit Hilfe von Generalklauseln in sachgerechter Weise bewältigen, und zum anderen sind sie in aller Regel nicht von solcher Bedeutung, daß sie nach der „Wesentlichkeitstheorie"60 konkreter Lösungsvorgaben durch den Gesetzgeber selbst bedürfen. Der Schwerpunkt der Kritik an dem Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit den §§ 138, 242 BGB dürfte daher wohl eher in dem Unbehagen daran liegen, daß es diese Generalklauseln nur „pro forma" zitiert und als „Blankettnormen" für eine Vertragskontrolle verwendet habe61. Ob man seiner Entscheidung damit wirklich gerecht wird, mag hier dahinstehen; immerhin sei angemerkt, daß das Bundesverfassungsgericht den Fall ja nicht definitiv selbst entschieden, sondern lediglich an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen und seine erneute Prüfung an Hand der im Lichte des Grundgesetzes ausgelegten privatrechtlichen Generalklauseln angeordnet hat, deren Konkretisierung nicht dem Bundesverfassungsgericht, sondern den Fachgerichten obliegt - eine Aufgabe, welcher der BGH inzwischen denn auch in einer reichhaltigen Rechtsprechung zu den Fällen Vermögens- und einkommensschwacher Bürgen nachgekommen ist. Im übrigen erscheint es ohnehin als höchst zweifelhaft, ob dem Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes überhaupt eine wesentliche Bedeutung für die Verwirklichung grundrechtlicher Schutzpflichten zukommt, doch darf auch dafür auf Ausführungen an anderer Stelle verwiesen werden 62 . Hier kann es sein Bewenden bei dem Hinweis haben, daß ein (etwaiger) grundrechtlich indizierter Kontrahierungszwang eine zureichende gesetzliche Grundlage in einer Generalklausel jedenfalls dann findet, wenn er nicht nur „pro forma" an diese angelehnt wird, sondern sich in teleologisch einleuchtender Weise auf sie stützen läßt.

5. Schutzgebotsfunktion

und Unterlassen von Privatrechtssubjekten

Ein weiteres Grundsatzproblem, welches das Verhältnis von Schutzgebotsfunktion und Kontrahierungszwang aufwirft, ergibt sich daraus, daß die Partei, die den Vertragsschluß ablehnt, den anderen Teil nicht durch ein positives Tun, sondern allenfalls durch ein Unterlassen in seinem grundrechtlich gewährleisteten Gut ver59 Manche Formulierungen von Isensee aaO könnten in dieser Hinsicht freilich Mißverständnisse hervorrufen. 60 Grundlegend BVerfGE 49, 89, 124 ff.

61 So Isensee aaO S. 502 bzw. 505. 62 Vgl. Canaris aaO (Fn. 21) S. 88 ff.; die dort vertretene Ansicht dürfte übrigens nicht in einem unüberbrückbaren Widerspruch zu derjenigen Isensees stehen, wie dessen Ausführungen aaO S. 497 bei Fn. 34 zeigen.

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letzt. Zwar wird die Ablehnung in aller Regel irgendwie ausgesprochen, doch wäre es schlechteste Konstruktionsjurisprudenz, in dieser Äußerung im vorliegenden Zusammenhang63 eine Verletzung durch positives Tun zu sehen. Denn der Schwerpunkt des Verhaltens liegt nicht in den Worten, mit denen die Verweigerung des Vertragsschlusses erklärt wird, sondern in dieser selbst und damit in einem Unterlassen. Allerdings können auch die Worte von Bedeutung sein, da sich - wie gerade der Schülerzeitungsfall plastisch belegt - häufig nur aus ihnen der Grund bzw. das Motiv für die Verweigerung ergibt und somit der erforderliche Zusammenhang mit der Beeinträchtigung des Grundrechts erschließen läßt, doch würde man es sich viel zu leicht machen, wenn man mit Hilfe dieses Arguments das Vorliegen eines Unterlassensproblems überspielen würde. Ein Unterlassen ist nun aber bekanntlich grundsätzlich nur rechtswidrig, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln besteht. Man läuft daher Gefahr, hier in einen Zirkel zu geraten, indem man die Pflicht zum Vertragsschluß aus der Beeinträchtigung des betreffenden Grundrechts herleitet, obwohl doch deren Rechtswidrigkeit ihrerseits das Bestehen einer Rechtspflicht zum Handeln voraussetzt. In der Tat ist gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Schülerzeitungsfall eingewandt worden, daß „mangels Pflicht zum Vertragsschluß das Unterlassen der Begründung eines Arbeitsverhältnisses den Bewerber nicht in seinen Rechten verletzen kann, auch wenn die Ablehnung aus sachwidrigen Gründen erfolgt", und daß „also eine (Grund-)Rechtsverletzung eines Bewerbers durch Unterlassen des Arbeitsvertragsschlusses einen Einstellungsanspruch des Bewerbers voraussetzt, diesen aber nicht begründen kann" 64 . Diese Ansicht hebt zwar gewiß ein wichtiges Problem ins Bewußtsein, macht es sich jedoch mit ihrer rein konstruktionsmäßigen Begründung viel zu leicht, ja gerät geradezu ihrerseits in die Gefahr eines Zirkels. Auch sie setzt nämlich etwas voraus, das es erst zu begründen gilt: daß die Handlungspflicht nicht aus der Verfassung selbst folgen kann. Verallgemeinert würde eine solche Position bedeuten, daß grundrechtliche Schutzgebote in den Fällen des Unterlassens von Privatrechtssubjekten von vornherein nicht als Grundlage einer Handlungspflicht in Betracht kommen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Vielmehr wird nicht selten das Gegenteil als selbstverständlich vorausgesetzt. So leitet die h.L. z. B. aus dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung, das als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgt ist, grundsätzlich einen Anspruch des Kindes gegen seine Mutter auf Auskunft über die Person seines biologischen Vaters her 65 , und auch das Bundesverfassungsgericht geht von diesem Ausgangspunkt aus (wenngleich unter Betonung des dem 63 Anders mag es in bezug auf eine etwaige Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und den daraus folgenden Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens liegen, wenn die Verweigerung des Vertragsschlusses gegen ein Diskriminierungsverbot verstößt. 64 So Boemke NJW 1993, 2084. 65 Vgl. nur Palandt/Diederichsen 58. Aufl. 1999, Einf. vor § 1591 Rdn. 6 mit Nachw.

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einfachen Recht dabei zustehenden Spielraums) 66. Das bedeutet nichts anderes als daß die Schutzgebotsfunktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dazu führen kann, der Mutter (auf der Ebene des einfachen Rechts67) eine Pflicht zur Erteilung der Auskunft aufzuerlegen und also die Pflicht zu einer Handlung zu statuieren, deren Vornahme sie verweigert. In der Tat wäre es eine glatte petitio principii zu behaupten, aus der grundrechtlichen Schutzgebotsfunktion ließen sich von vornherein keine Handlungspflichten für Privatrechtssubjekte herleiten. Vielmehr trifft im Grundsatz das Gegenteil zu. Denn es gibt nun einmal Situationen, in welchen ein grundrechtlich geschütztes Gut nur durch die Mitwirkung eines Privatrechtssubjekts verwirklicht werden kann - wie das eben genannte Beispiel anschaulich demonstriert - , und dann stellt der Rückgriff auf die Schutzgebotsfunktion durchaus den adäquaten Ausweg dar. Man steht eben bei deren dogmatischer Konkretisierung noch weitgehend am Anfang, wie sich auch und gerade im vorliegenden Zusammenhang wieder erweist, und muß demgemäß erst ein differenziertes Instrumentarium entwickeln, mit dessen Hilfe sich das Bestehen einer Schutzpflicht bejahen läßt 68 . Hinsichtlich des Auskunftsanspruchs des Kindes gegen seine Mutter geben dabei die Gesichtspunkte den Ausschlag, daß sie dessen Unkenntnis von der Person seines Vaters „veranlaßt" hat und daß dieses auf ihre Mitwirkung „angewiesen" ist, um sein grundrechtlich verbürgtes Recht auf Kenntnis seiner Abstammung verwirklichen zu können 69 . Das sind altbekannte Kriterien, die häufig auftauchen, wo es um die Begründung von Pflichten geht. So muß für die jeweilige Konstellation bereichsspezifisch nach den ihr gemäßen Kriterien gesucht werden. Daß diese zur Bejahung einer Schutzpflicht nur führen können, wenn die Beeinträchtigung des berührten Grundrechts auf einem positiven Tun eines Privatrechtssubjekts beruht, keinesfalls aber auch dann, wenn dieses sich auf ein Unterlassen beschränkt, läßt sich nicht überzeugend begründen. Auch an diesem Hindernis scheitert somit ein grundrechtlich begründeter Kontrahierungszwang nicht von vornherein.

I I I . Meinungsfreiheit und Kontrahierungszwang bei Abschluß eines Arbeitsvertrags Damit sind nunmehr die dogmatischen Grundlagen hinreichend skizziert, um den Ausgangsfall und die ihm zugrunde liegende Problematik wiederaufzugreifen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Schülerzeitungsfall einer kritischen Analyse zu unterziehen. 66 Vgl. BVerfGE 96, 56, 63 f. 67 Meist wird in diesem Zusammenhang § 1618a BGB oder auch einfach § 242 BGB bemüht, vgl. Diederichsen aaO. 68 Vgl. dazu Isensee HStR Band V § 111 Rdn. 97 ff.; Canaris aaO (Fn. 21) S. 74 ff. 69 Vgl. näher Canaris aaO (Fn. 21) S. 64.

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1. Die Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG als Grundlage für die Lösung der Problematik und die Vorzugswürdigkeit dieser Sichtweise gegenüber der Lehre von der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte Das Bundesverfassungsgericht stellt im Ausgangspunkt darauf ab, daß das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG „durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts berührt wird 4'. Das wird damit begründet, daß „das ausbildende Unternehmen allein die Meinungsäußerung des Beschwerdeführers als Grund für seine Nichteinstellung angeführt (und) das Bundesarbeitsgericht dieses Vorgehen als rechtmäßig bestätigt hat" 70 .-Das nächste wesentliche Glied in der Gedankenkette besteht dann in der These, daß „es gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verstößt, wenn ein Gericht... sich unter mehreren objektiv möglichen Deutungen für die zur Verurteilung führende entscheidet, ohne die anderen unter Angabe überzeugender Gründe auszuscheiden"71. Darin liegt offensichtlich die Grundlage für die zur Aufhebung führende Rüge des Bundesverfassungsgerichts, das Bundesarbeitsgericht habe „ohne nähere Prüfung angenommen, der Artikel in der Schülerzeitung enthalte ein mittelbares Bekenntnis zur Gewalt ...", und es habe außerdem „ohne kritische Würdigung des Artikels über die Beobachtungen und Erlebnisse des Beschwerdeführers auf dessen allgemeine Gewaltbereitschaft geschlossen"72. Das Konzept, das diesen Ausführungen zugrunde liegt, entspricht zwar der st. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts, erscheint aber als dogmatisch wenig durchsichtig und kaum konsistent. Zu folgen ist dem Bundesverfassungsgericht allerdings insofern, als es den Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 GG offenkundig nicht in der Verweigerung des Vertragsschlusses durch die beklagte Arbeitgeberin, sondern in der Handhabung dieser Norm durch das Bundesarbeitsgericht sieht; das entspricht der Einsicht, daß Adressat der Grundrechte grundsätzlich - d. h. insbesondere abgesehen vom Ausnahmefall des Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG - nicht die Subjekte des Privatrechts, sondern der Staat und seine Organe sind. Im Dunkeln bleibt jedoch, wie bei dieser Sichtweise das Recht auf Meinungsfreiheit überhaupt auf das Verhältnis zwischen den Privatrechtssubjekten, hier also zwischen dem Kläger und der Beklagten soll einwirken können; wenn es das gar nicht täte, könnte es durch eine falsche Handhabung von Art. 5 Abs. 1 GG durch das Bundesarbeitsgericht auch nicht verletzt sein. Im Hintergrund steht demgemäß ersichtlich die Lehre von der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht, auch wenn diese

70 BVerfGE 86, 122, 128; im vorliegenden Fall ging es allerdings nicht um eine Verurteilung des Beschwerdeführers, sondern um die Abweisung seiner auf eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 GG gestützten Klage, doch stellt das Bundesverfassungsgericht diesen Fall gleich, wie seine Kritik an der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zeigt. 71 AaOS. 129. 72 AaO S. 130.

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nicht ausdrücklich beim Namen genannt wird 7 3 . Indessen macht sich bei der vorliegenden Problematik besonders störend bemerkbar, daß das Wort „Ausstrahlung" keinen juristischen Begriff, sondern lediglich eine bildhafte Wendung aus der Umgangssprache darstellt. Denn warum soll allein daraus, daß man den Artikel in der Schülerzeitung nicht notwendigerweise als mittelbares Bekenntnis zur Gewaltanwendung verstehen muß und daß man aus ihm nicht ohne weiteres auf eine allgemeine Gewaltbereitschaft des Beschwerdeführers schließen kann, die Folgerung zu ziehen sein, daß die beklagte Arbeitgeberin zum Abschluß eines Arbeitsvertrags mit diesem verpflichtet war?! Hier fehlen doch offensichtlich mehrere Glieder in der Gedankenkette (auch wenn man berücksichtigt, daß einige von diesen vielleicht erst durch das Bundesarbeitsgericht hätten hinzugefügt werden sollen, was diesem wegen des Anerkenntnisses der Beklagten74 nicht mehr möglich war). In der Tat belegt diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit besonderer Deutlichkeit, daß „es bis heute eher ein Arkanum des Gerichts geblieben ist, was in der Gemengelage von Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Recht und einfachem Recht selbst das spezifische Verfassungsrecht ausmacht"75. Etwas mehr Licht kommt in dieses Dunkel, wenn man prüft, in welcher Funktion das Recht auf Meinungsfreiheit hier eigentlich berührt war: als Eingriffsverbot oder als Schutzgebot. Ein Eingriff liegt in der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nach richtiger Ansicht nicht 76 . Denn dieses hat nicht etwa durch sein Urteil oder die ihm zugrunde liegende ratio decidendi die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers eingeschränkt oder ihre Ausübung mit einer Sanktion belegt. Letzteres hatte vielmehr die Beklagte getan, und das Bundesarbeitsgericht hat es lediglich abgelehnt, darauf mit der Statuierung eines Kontrahierungszwangs zu reagieren. Verletzt haben kann es das Grundrecht auf Meinungsfreiheit somit allenfalls dadurch, daß es ihm rechtlichen Schutz gegenüber der von der Beklagten verhängten Sanktion verweigert hat. Demgemäß ist Art. 5 Abs. 1 GG hier in seiner Funktion als Schutzgebot zu prüfen 77. Diese Sichtweise ist dogmatisch wesentlich präziser als die diffuse Lehre von der Ausstrahlungswirkung - deren Entwicklung im Lüth-Fall im übrigen auch deshalb überflüssig und irreführend war, weil sich dieser ohne sonderliche Schwierigkeiten mit Hilfe der „klassischen" Funktion von Art. 5 Abs. 1 GG als Eingriffs73 Daß sie gleichwohl gemeint ist, zeigt der Hinweis aaO S. 128 f. auf BVerfGE 7, 198, 206 ff. 74 Vgl. oben bei Fn. 11. 75

So Böckenförde Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989,

S. 33. 76

Vgl. zum folgenden eingehend, wenngleich am Beispiel anderer Fallkonstellationen und ohne Bezug auf die Problematik des Kontrahierungszwangs, Canaris aaO (Fn. 21) S. 37 ff., insbesondere auch S. 41 f. in Auseinandersetzung mit der Gegenposition der „etatistischen Konvergenztheorie". 77 Insoweit übereinstimmend Hillgruber ZRP 1995, 8.

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verbot hätte lösen lassen78. Zugleich kommt diesem Wechsel der Perspektive auch praktische Bedeutung zu. Dadurch tritt nämlich das Erfordernis, daß die Annahme einer grundrechtlichen Schutzpflicht einer besonderen Begründung und eines spezifischen Argumentationsaufwandes bedarf, überhaupt erst klar ins Licht, und zugleich wird die Notwendigkeit einer Respektierung des weiten Spielraums, der dem einfachen Recht und damit auch der dieses anwendenden und fortbildenden Rechtsprechung bei der Verwirklichung der Schutzgebotsfunktion nach der zutreffenden Ansicht des Bundesverfassungsgerichts offen steht79, ins Bewußtsein gehoben. 2. Die Rechtslage bei Fehlen eines Ausbildungsverhältnisses Die Problematik gewinnt schärfere Konturen, wenn man sie zunächst ausweitet und von den Besonderheiten absieht, die sich im Schülerzeitungsfall daraus ergeben könnten, daß der Beschwerdeführer in einem Ausbildungsverhältnis gestanden hatte. Wie wäre also zu entscheiden, wenn das nicht der Fall gewesen wäre und die Beklagte demgemäß irgendeinen beliebigen Bewerber mit der Begründung abgewiesen hätte, wegen eines von ihm verfaßten Zeitungsartikels lehne sie den Abschluß eines Arbeitsvertrags mit ihm ab? Die Antwort kann kaum zweifelhaft sein: Ein Kontrahierungszwang des Arbeitgebers kommt hier von vornherein nicht in Betracht. Denn die Privatautonomie erlaubt diesem nach dem Prinzip „stat pro ratione voluntas" 80 auch ein willkürliches und ein auf offenkundig sachfremden Motiven beruhendes Verhalten. Das gilt folgerichtig grundsätzlich auch dann, wenn die Äußerung inhaltlich nicht zu beanstanden war, also nicht als Bekenntnis zur Gewaltanwendung verstanden werden konnte, und in keiner Weise ein negatives Verhalten im Betrieb befürchten ließ; so steht es einem Arbeitgeber z. B. frei zu sagen, er wolle nicht mit einem Gegner der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie, einem dezidierten Verfechter des Naturschutzes, einem leidenschaftlichen Anhänger der europäischen Integration usw. usf. zusammenarbeiten. Es ist geradezu ein Essentiale der Privatautonomie, daß derartige Äußerungen und Verhaltensweisen von der Rechtsordnung grundsätzlich nicht auf ihre inhaltliche Vertretbarkeit hin kontrolliert werden dürfen und demgemäß keine rechtlichen Sanktionen auslösen. Art. 5 Abs. 1 GG ändert daran grundsätzlich nichts. Das folgt schlicht und einfach daraus, daß sich hier überzeugende Gründe für eine verfassungsrechtliche Pflicht, die Meinungsfreiheit des Stellenbewerbers durch einen Kontrahierungs78 Vgl. eingehend Canaris aaO (Fn. 21) S. 30 ff.; der am gleichen Tag ebenfalls unter dem Stichwort der Ausstrahlungswirkung entschiedene Wahlplakatfall BVerfGE 7, 230 ist aus heutiger Sicht ohne weiteres mit Hilfe der Schutzgebotsfunktion zu lösen, vgl. aaO S. 55 ff. 79 Vgl. im vorliegenden Zusammenhang nur BVerfGE 96, 56, 64. 80 Vgl. dazu nur Flume Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Band II, 3. Aufl. 1979,

§1,5.

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zwang des (potentiellen) Arbeitgebers zu schützen, nicht ins Feld führen lassen. Zwar mag es sein, daß dadurch die Möglichkeit zu unbefangener Meinungsäußerung etwas beeinträchtigt wird, doch wiegt diese Gefahr bei weitem nicht schwer genug, um ein grundrechtliches Gebot zur Statuierung* eines Kontrahierungszwangs zu begründen. Daß eine Meinungsäußerung Nachteile haben kann - und zwar auch ungerechtfertigte - und also u.U. „etwas kostet", gehört geradezu zum Wesen des Meinungskampfes und muß von dessen Teilnehmern grundsätzlich hingenommen werden. Schließlich handelt es sich hier ja nicht um einen so massiven Tatbestand wie den einer Verfälschung des Meinungskampfs durch einen Boykottaufruf unter Ausübung wirtschaftlichen Drucks zu dessen Durchsetzung wie im Fall Blinkfüer 81 oder die Aussperrung eines unliebsamen Kritikers durch ein Theater 82 ; in derartigen Fällen geht es geradezu um die Verhinderung oder inhaltliche Beeinflussung von Meinungsäußerungen mit „ungeistigen" und daher dem Wesen des Meinungskampfs widersprechenden Mitteln - Kriterien, welche in der Tat die Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG auslösen können. Damit ist die vorliegende Problematik nicht vergleichbar, zumal sich das Verhalten des Arbeitgebers in einem bloßen Unterlassen erschöpft, was somit im vorliegenden Zusammenhang durchaus einen relevanten Gesichtspunkt darstellt 83. In dogmatischer Hinsicht ist bemerkenswert, daß die Argumentation hier im wesentlichen negativer Art ist: Es läßt sich einfach nicht überzeugend dartun, daß das von Verfassungs wegen gebotene Schutzminimum unterschritten und also das Untermaßverbot verletzt wird, wenn die Rechtsordnung auf die Ablehnung des Arbeitsplatzbewerbers nicht mit einem Kontrahierungszwang reagiert. Demgemäß bildet diese Art der Begründung einen guten Beleg für die These, daß es bei der Entwicklung einer grundrechtlichen Schutzpflicht grundsätzlich der Überwindung einer besonderen Argumentationshürde bedarf, weil es dabei der Sache nach stets um die Problematik eines Unterlassens geht 84 . Dem entspricht es, daß der Kontrahierungszwang hier von vornherein und generell abzulehnen ist und daß somit nicht etwa eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Privatautonomie vorzunehmen ist; für eine solche besteht hier weder Raum noch Bedürfnis, weil sich für die vorliegende Fallkonstellation schon abstrakt gesehen, also auf der ersten Argumentationsstufe, keine grundrechtliche Schutzpflicht begründen läßt. Auch das ist dogmatisch und methodologisch wichtig, wird dadurch doch der vorschnellen Flucht in die Abwägung und der weitverbreiteten Abwägungshypertrophie entgegengewirkt, deren Gefahren Leisner eindrucksvoll herausgearbeitet und treffend kritisiert hat 85 . 81 Vgl. BVerfGE 25, 256. 82 Vgl. dazu RGZ 133, 388, 392, wo im Grundsatz die Möglichkeit eines Kontrahierungszwangs aus § 826 BGB bejaht, im konkreten Fall aufgrund seiner besonderen Umstände jedoch verneint worden ist; siehe dazu auch Eidenmüller NJW 1991, 1441. 83 Vgl. dazu im übrigen oben II 5. 84 Vgl. näher Canaris aaO (Fn. 21) S. 43 f., 56. 85 Vgl. Leisner NJW 1997, 636 ff.; grundlegend ders. Der Abwägungsstaat, 1997.

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3. Die besondere Gefährdung der Meinungsfreiheit während des Ausbildungsverhältnisses und die darausfolgende mit der Privatautonomie des Arbeitgebers

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Kollision

Geht es wie im Schülerzeitungsfall nicht um irgendeinen außenstehenden Arbeitsplatzbewerber, sondern um einen Auszubildenden, so ergeben sich Besonderheiten. Diese beruhen vor allem darauf, daß letzterer sich während der Ausbildungszeit in einer besonderen Druck- und Abhängigkeitssituation befindet. Einerseits hat er nämlich keinen Rechtsanspruch auf Übernahme in ein Arbeitsverhältnis nach erfolgreichem Abschluß der Ausbildung, andererseits bietet ihm diese doch häufig eine gute faktische Chance, seine Tätigkeit in dem ausbildenden Unternehmen als Arbeitnehmer fortsetzen zu können. Um diese nicht zu gefährden, wird er oft bemüht sein, ein besonderes Wohlverhalten an den Tag zu legen und sich das Wohlwollen des Ausbildenden nicht zu verscherzen. Dagegen ist im allgemeinen wenig einzuwenden, doch wird diese prekäre Situation des Auszubildenden dann bedenklich, wenn sie ihn in einem so fundamentalen Grundrecht wie der Ausübung seiner Meinungsfreiheit beeinträchtigt. Seine Lage unterscheidet sich in dieser Hinsicht sehr wesentlich von der eines außenstehenden Dritten; denn ein solcher muß nicht auf einen bestimmten potentiellen Arbeitgeber Rücksicht nehmen und kann daher insoweit bei seinen Meinungsäußerungen weitgehend unbefangen sein, während der Auszubildende sich geradezu genötigt sehen kann, auf freimütige Äußerungen zu verzichten oder gar dem Ausbilder nach dem Munde zu reden, um seine Chance auf Übernahme in ein Arbeitsverhältnis zu wahren. Bei dieser Konstellation liegt es daher in der Tat nicht fern, die Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG zu mobilisieren. Allerdings geht es auch hier nicht darum, daß der Ausbildende unmittelbar Einfluß auf die Meinungsbildung zu nehmen und den Wettstreit der Meinungen mit inadäquaten Mitteln zu verfälschen sucht wie in den soeben erwähnten Beispielen des Blinkfüerfalles und des ausgesperrten Theaterkritikers, doch handelt es sich immerhin um eine gravierende Gefährdung der Meinungsfreiheit des Auszubildenden. Nicht nur die Verletzung, sondern auch die Gefährdung eines grundrechtlich geschützten Gutes kann eine Schutzpflicht auslösen86, da anderenfalls die Schutzgebotsfunktion praktisch in einem wesentlichen Bereich ineffizient bliebe. Das wird man grundsätzlich vor allem dann anzunehmen haben, wenn es sich um eine „typisierbare Fallgestaltung" handelt87, da dann nicht nur ein punktuelles, sondern ein generelles Problem vorliegt und die Beeinträchtigung des Grundrechts daher nicht nur mehr oder weniger 86 Vgl. dazu Isensee HStR Band V § 111 Rdn. 106; Stern aaO (Fn. 24) S. 740 ff.; Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rdn. 350; Dietlein Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 113 f.; Canaris aaO (Fn. 21) S. 76 f. 87 Dieses Kriterium hält auch das Bundesverfassungsgericht in der Bürgschaftsentscheidung für wesentlich, vgl. BVerfGE 89, 214, 232; das erscheint im Gegensatz zum Kriterium der „strukturellen" Unterlegenheit als durchaus überzeugend.

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zufällig eine Einzelperson, sondern eine bestimmte Gruppe von Personen betrifft und also grundsätzlich von erhöhtem Gewicht ist. Genau diese Voraussetzung ist hier gegeben, da die Gefährdung der Meinungsfreiheit aus den genannten Gründen für alle Auszubildenden in prinzipiell gleicher Weise besteht. Es ist überraschend, daß weder das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Schülerzeitungsfall noch seine Kritiker 88 auf die Besonderheiten des Ausbildungsverhältnisses und die mit diesem verbundenen Gefährdungen der Meinungsfreiheit mit einem einzigen Wort eingegangen sind. Die Begründung des Bundesverfassungsgerichts greift daher schon im Ansatz viel zu weit aus, weil sie sich ohne weiteres auch auf die Ablehnung eines außenstehenden Bewerbers übertragen ließe, was, wie soeben unter 2 dargelegt worden ist, nicht richtig sein kann; umgekehrt gehen auch die Kritiker ihrerseits zu weit, wenn sie auch gegenüber einem Auszubildenden einen Kontrahierungszwang des Arbeitnehmers von vornherein pauschal ablehnen. Ein solcher kommt vielmehr bei der vorliegenden Fallkonstellation, aber eben auch nur bei dieser grundsätzlich durchaus in Betracht. Ist somit das Bestehen einer Schutzpflicht aus Art. 5 Abs. 1 GG im Grundsatz zu bejahen, so kommt man auf einer zweiten Argumentationsstufe zu einer Abwägung mit dem gegenläufigen Grundrecht der Privatautonomie des Arbeitgebers. Diese führt dazu, daß hier eine willkürliche oder offenkundig sachfremde Entscheidung nicht hingenommen werden kann; denn sonst bliebe die Meinungsfreiheit gänzlich schutzlos, was dem Postulat widerspräche, „die kollidierenden Grundrechtspositionen in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst wirksam werden" 89 . Lehnt also ein Arbeitgeber die Übernahme eines Auszubildenden in ein Arbeitsverhältnis z. B. deshalb ab, weil dieser sich während seiner Ausbildung als Gegner einer wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie zu erkennen gegeben hat, so hat die Privatautonomie des Arbeitgebers hinter dem Schutz der Meinungsfreiheit des Auszubildenden zurückzutreten. Weitaus schwieriger als bei diesem Beispiel lag es indessen im Schülerzeitungsfall. Hier hatte der Arbeitgeber nämlich durch das Bundesarbeitsgericht ohne Umschweife bestätigt bekommen, daß sein Verständnis des Zeitungsartikels des Auszubildenden als mittelbares Bekenntnis zur Gewalt berechtigt und seine Befürchtung etwaiger Konsequenzen für dessen Verhalten im Betrieb begründet war. Wenn das zutraf, dann lag ein triftiger Grund für die Ablehnung der Übernahme in ein Arbeitsverhältnis vor, so daß der Schutz der Meinungsfreiheit keinen Vorrang vor der Privatautonomie des Arbeitgebers beanspruchen konnte, wovon ersichtlich auch das Bundesverfassungsgericht ausgeht. Dieses meint jedoch, ein anderes Verständnis des Zeitungsartikels sei „denkbar, wenn nicht sogar naheliegend" und das Bundesarbeitsgericht habe „ohne eine kritische Würdigung des Artikels" auf die ss Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem Boemke NJW 1993, 2084f.; Hillgruber 1995, 8. 89 So BVerfGE 89, 214, 232; 97, 169, 176.

ZRP

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allgemeine Gewaltbereitschaft des Beschwerdeführers geschlossen90. Damit verkennt das Bundesverfassungsgericht indessen seinerseits Bedeutung und Inhalt der Privatautonomie. Für die Frage, ob diese durch einen Kontrahierungszwang einzuschränken ist, kommt es nämlich folgerichtig nicht darauf an, ob das Bundesarbeitsgericht eine andere Deutung des Artikels hätte erwägen oder gar vornehmen müssen, sondern allein darauf, wie dieser aus der Sicht der Beklagten als der potentiellen Arbeitgeberin verstanden werden durfte. Denn schon wenn diese den Artikel als mittelbares Bekenntnis zur Gewalt auffassen und daraus die Gefahr einer Rechtfertigung von Gewaltanwendung im Betrieb durch den Beschwerdeführer herleiten durfte, hatte sie einen sachlichen Grund für die Verweigerung des Vertragsschlusses und unterlag daher keinem Kontrahierungszwang. Das aber war der Fall, wie schon die Tatsache zeigt, daß das Bundesarbeitsgericht (!) sich dieses Verständnis vorbehaltlos zueigen gemacht hat, und wie sich auch aus dem Wortlaut des Artikels ergibt 91 , der entweder wirklich eine mittelbare Billigung von Gewalt enthielt oder doch zumindest leicht in diesem Sinne mißverstanden werden konnte. Daß der potentielle Arbeitgeber über derartigen Äußerungen soll brüten und subtile semantische Erwägungen soll anstellen müssen, ist mit der Funktion der Privatautonomie nicht vereinbar, welche auch und gerade dann, wenn sie wie hier durch die Statuierung eines Kontrahierungszwangs eingeschränkt wird, zumindest noch die Möglichkeit offenhalten muß, Äußerungen eines etwaigen Vertragspartners in vertretbarer Weise zu interpretieren und daraus gegebenenfalls negative Konsequenzen zu ziehen. Die gegenteilige Position des Bundesverfassungsgerichts überfordert den Arbeitgeber kraß und privilegiert überdies Äußerungen des Auszubildenden, die in verantwortungsloser Weise undurchdacht oder gar bewußt unklar gehalten sind. Das Bundesverfassungsgericht ist hier einmal mehr Opfer seiner Überbewertung der Meinungsfreiheit geworden, die es u. a. zu der - auch im Schülerzeitungsfall zugrunde gelegten - These geführt hat, ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 GG liege schon dann vor, wenn ein Gericht sich unter mehreren möglichen Deutungen für die dem Äußernden ungünstigere entscheidet. Ein solcher Auslegungsgrundsatz ist aus hermeneutischen und teleologischen Gründen nicht haltbar 92 und schränkt im vorliegenden Zusammenhang die Privatautonomie in übermäßiger Weise ein. Was schließlich die Umsetzung der Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG ins Privatrecht in denjenigen Fällen, in denen die Privatautonomie zurückzutreten hat, angeht, dürfte der richtige Ansatzpunkt in § 242 BGB liegen. Denn weil das Ausbildungsverhältnis wie dargelegt zu einer besonderen Gefährdung der Meinungsfreiheit führt, läßt sich aus diesem in privatrechtsdogmatisch konsistenter 90 BVerfGE 86, 122, 130. 91

Vgl. dessen wörtliche Wiedergabe oben 11. 2 Vgl. eingehend Larenz/Canaris Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, S. 524f.; kritisch auch Scholz/Konrad AöR 123 (1998) 75; ob in der DGHS-Entscheidung BVerfGE 94, 1, 9f. der Beginn einer Abkehr von diesem Auslegungsgrundsatz zu sehen ist, erscheint als höchst zweifelhaft. 9

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Weise eine nachwirkende Pflicht herleiten, während der Ausbildungszeit gefallene Meinungsäußerungen nicht in einer gegen Treu und Glauben verstoßenden Weise zum Anlaß für eine Ablehnung der Übernahme in ein Arbeitsverhältnis zu nehmen. Demgegenüber überzeugt der Rückgriff auf § 75 BetrVG durch das Bundesarbeitsgericht schon deshalb nicht, weil dieses erst den Charakter dieser Vorschrift als Schutzgesetz i.S. von § 823 Abs. 2 BGB behauptet und dann daraus (!) die individualschützende Zweckrichtung von § 75 BetrVG herleitet 93 , obwohl deren Vorliegen unbestrittenermaßen genau umgekehrt gerade Voraussetzung (!) für eine Anwendung von § 823 Abs. 2 BGB ist 9 4 . Abschließend sei hervorgehoben, daß ein auf Art. 5 Abs. 1 GG gestützter Kontrahierungszwang nur sehr selten praktische Bedeutung erlangen wird, weil der Beweis, daß gerade eine Meinungsäußerung zu der Verweigerung des Vertragsschlusses geführt hat, meist nicht zu führen ist. Daß deshalb Beweiserleichterungen oder gar eine Umkehrung der Beweislast vorzunehmen sind, läßt sich aus der Schutzgebotsfunktion von Art. 5 Abs. 1 GG nicht herleiten, zumal der Auszubildende sonst u.U. durch provozierende Äußerungen einen Kontrahierungszwang .des ausbildenden Unternehmens oder zumindest das Erfordernis einer Begründung für die Ablehnung des Vertragsschlusses herbeiführen könnte. Das führt zwar zu einer Schlechterstellung desjenigen Arbeitgebers, der sein Motiv offenlegt, doch ist das angesichts der darin liegenden Dummdreistigkeit nicht unangemessen und wird im übrigen auch bei anderen verwandten Problemen, wie sie vor allem im Rahmen von § 138 BGB auftreten, grundsätzlich hingenommen.

93 Vgl. BAG AP Nr. 2 zu § 17 BBiG unter I I 3 a. 94 Vgl. statt aller Soergel/Zeuner 12. Aufl. 1998, § 823 Rdn. 289.

Ethik, Recht und Umweltschutz in der Demokratie Von Reiner Schmidt

I. Das „Projekt der Moderne" {Habermas) ist mit schweren negativen Nebenfolgen verbunden. Der Fortschritt geht zu Lasten der Natur. Inzwischen hat das ökologische Schuldenkonto beängstigende Ausmaße angenommen. Im Weltklima zeichnen sich kaum abschätzbare anthropogen bedingte Veränderungen ab. Nach Auffassung des Sachverständigenrats für Umweltfragen 1 stellt sich deshalb die Fortschrittsfrage neu: Als Fortschritt könne nur noch bezeichnet werden, was von den Bedingungen der Natur mitgetragen wird. Oder genauer: „Fortschritt und Kultivierung der menschlichen Lebenswelt stehen unter unabdingbar zu respektierenden Regulativen, die die Natur selbst vorgibt. Gerade in der Erkenntnis dieser Regulative und der hieraus abzuleitenden ethischen Grundlagen für ein dauerhaftumweltgerechtes Handeln liegen offenkundig erhebliche Defizite. Gemessen an dem Gang der Vernunft neuzeitlicher Entwicklung hat die Umweltethik längst nicht ihren sachgerechten Stand erreicht" 2. Ethik fragt nach der Verantwortbarkeit dessen, was der Mensch tut. Die ethische Frage betrifft ihn nicht als Zuschauer, sondern als Akteur. Es geht um das Handeln, zugleich aber auch um die diesem Handeln zugrundeliegende Gesinnung und das daraus zu schließende Verhalten; verkürzt gesagt geht es um Umweltbewußtsein und um Umweltverhalten. Umweltethik als ethosspezifisch-personale Größe steht im Gegensatz, so könnte man meinen, zum Recht. Denn die Subjektseite des Moralischen ist dem Zugriff des Rechts jedenfalls prinzipiell entzogen. Tugenden, Gesinnungen und Überzeugungen lassen sich nicht verordnen 3. Moralische Regelungen sind etwas anderes als rechtsförmige, etwas anderes als sozial verbindliche, einklagbare und erzwingbare Geltungsansprüche. Das Umweltrecht, das den Umgang mit der Natur in verbindliche Regelungen mit Durchsetzungsmacht gießt, setzt Moral voraus. Da Natur aber keine moralische Größe ist, sondern eigenen Gesetzen, das heißt einem evolutiven Impetus folgt, kann Umweltrecht nicht nur Niederschlag natürlicher „Gesetze", also deren „Deskription" 1 Umweltgutachten 1994, BT-Dr 12/6995, Tz. 21. 2 Ebd., Tz. 22. 3 Vgl. W. Korff, Umweltethik, in: Rengeling (Hrsg.), EUDUR, Bd. 1, 1998, § 4 Rdnr. 2. 29*

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sein, sondern es geht allein um vom Menschen für den Umgang mit der Natur festgelegte Regeln. Diese Regeln sind insofern ethisch orientiert, als sie der personalen Würde des Menschen, den Grundrechten und den Strukturprinzipien des demokratischen und sozialen Rechtsstaats zu folgen haben. Diese Aussage impliziert, daß Recht insofern nicht verlängerter Arm der Moral sein kann, als sich diese gruppenspezifisch versteht; es kommt vielmehr auf Konsens- und Verallgemeinerungsfähigkeit an. Das skizzierte Verhältnis von Recht, Moral und Ethik bedarf weiterer Vertiefung. Zunächst ist nach den Inhalten einer speziellen Umweltethik zu fragen.

II. Im umweltethischen Sprachgebrauch fallen Kennzeichnungen auf wie „Partnerschaft", „Geschwisterlichkeit" oder „Solidarität mit der Natur". Eine Schlüsselbedeutung hat auch der Begriff Ehrfurcht, etwa als Ehrfurcht vor der Natur oder als Ehrfurcht vor dem Leben (Albert Schweitzer) verstanden. Ein ethisch gerechtfertigter Umgang mit dem Leben scheint nur dann gewährleistet, wenn der Anspruch des Ethischen und die durch ihn gesetzte Differenz zwischen Gut und Böse nicht allein auf die personale Existenzform des spezifisch menschlichen Lebens bezogen wird. Es soll generell um das Kriterium des Lebendigen gehen. Das anthropozentrische Prinzip der Personalität wird für unzureichend gehalten. Als Beispiel für die Unzulänglichkeit des anthropozentrischen Ansatzes dient Kant. In seiner Metaphysik der Sitten wird die grausame Behandlung von Tieren nur deshalb als sittlich verwerflich angesehen, weil sie das Mitgefühl des Menschen gegenüber den anderen Menschen schwächen könnte. Nennt man die Leitbegriffe einer neuen ökologischen Ethik, dann scheint der Anthropozentrismus keine Chance mehr zu haben. „Naturethik", „Umweltethik", „Environmental Ethics", „ökologische Ethik", „Schöpfungsethik" - nirgendwo kommt der Mensch vor. Die damit verbundenen Assoziationen lassen sich in Fragen kleiden. Was ist „Natur", kommt der Natur eine eigene moralische Dignität zu? Ist Naturschutz um der Natur oder um des Menschen Willen geboten? Sind Tiere in gleicher oder vergleichbarer Weise als moralisches Objekt wie der Mensch anzuerkennen? Friedrich Wilhelm Graf 4 hat in der ökoethischen Debatte in idealtypischer Verkürzung fünf Positionen unterschieden. An erster Stelle ist der rationale Humanismus zu nennen, wonach alle Menschen als autonome Personen gelten, die einander die moralische Anerkennung als freie Vernunftwesen schulden und die allein Menschen als moralische Objekte anerkennen. Moralische Verbindlichkeiten gegenüber anderen Lebewesen können danach 4 Reflektierter Anthropozentrismus, in: Jahrbuch der Universität Augsburg 1996/97, 1998, S. 137 ff.; vgl. auch Th. Hausmanninger, Bedarf die Bewältigung der ökologischen Krise einer neuen Ethik? Manuskript 1998.

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nur sekundär, also um der Pflichten gegenüber dem Menschenwillen begründet werden. Auch der utilitaristische Personalismus läßt nur Personen als moralische Akteure gelten. Zu diesen rechnen aber nicht die nichterinnerungsfähigen Lebewesen wie geistig Schwerbehinderte, Föten oder auch Säuglinge. Nach dem Pathozentrismus, der dritten Gruppe, die auf das 17. Jahrhundert zurückgeht, wollen theologische und philosophische Ethiker Tiere als moralische Objekte anerkennen, weil sie zu Empfindungen von Schmerz und Lust imstande seien und durch elementare Selbstäußerungen, etwa Schreien, Zittern oder Stöhnen, erlittenes Leid artikulieren könnten. Diesen Lebewesen die Anerkennung als eigene Bürger des moralischen Universums zu verweigern, sei Ausdruck eines moralisch illegitimen „Speziezismus" {Peter Singer). Dagegen wollen die Vertreter, die die Heiligkeit alles Lebens anerkennen, die Beschränkung auf die Fähigkeit zu Schmerz und Leid, nicht akzeptieren. Das Leben als solches wird heilig. „Er reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat Acht, daß er kein Insekt zertritt" 5 . Allerdings wird die Beziehung des Menschen zur unbelebten Materie, etwa zu Steinen, für moralisch irrelevant gehalten. Die Vertreter einer „deep ecology" erkennen dagegen selbst der unbelebten Materie einen besonderen Eigenwert zu. Die radikalsten Vertreter der Position „nature-knows-best" weisen dem Menschen die moralische Pflicht zu, sich zur Natur primär ästhetisch oder religiös, in genießender Anschauung oder in heiliger Ehrfurcht zu verhalten. Verkürzt werden die Prinzipien der Leidensfähigkeit (Pathozentrik), des Lebens (Biozentrik) oder der in allem waltenden Natur (Physiozentrik) im Begriff der Ökozentrik zusammengefaßt. Juristisch ist insbesondere der physiozentrische Ansatz diskutiert worden. Die amerikanische Diskussion um die Eigenrechte der Natur {Stone) wurde in der Bundesrepublik von Meyer-Abich aufgegriffen und zur Vorstellung einer universellen Rechtsgemeinschaft der Natur entwickelt. Tiere, Pflanzen, Erdreich, Wasser und Luft kämen gleichermaßen Eigenrechte zu. Das Ziel dieser Theorie ist ehrenwert: Es soll den ökologischen Erfordernissen größere Durchsetzbarkeit verschafft werden. Das Instrument aber ist nicht akzeptabel. Recht bleibt eine genuin humane Kategorie, die Anthropozentrik ist unausweichlich6. Recht zu schaffen ist Erfordernis und Privileg des Menschen7. Letztlich bleibt die Vorstellung, eine Rechtsgemeinschaft schaffen zu wollen mit nicht rechtsfähigen Naturentitäten, ein abwegiger Gedanke. Diese können ihre Bedürfnisse auch nicht über einen Ombudsmann 5 Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, 6. Aufl. (1947), S. 240. 6

Hasso Hofmann, Die Aufgaben des modernen Staates und der Umweltschutz, in: Kloepfer (Hrsg.), Umweltstaat, 1989, S. 35. 7 W. Korff, a. a. O., Rdnr. 24.

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als moralisch begründbares Recht einklagen. Recht setzt Moral voraus und Natur in diesem Sinne ist keine moralische Größe. Das tragfähige Fundament für die Gestaltung der Beziehung Mensch - Natur ist für den anthropozentrischen Ansatz die Vorstellung, daß die Natur nur in dem Maß verfügbar bleibt, wie der Mensch respektiert, daß diese nicht für ihn allein da ist. Deshalb ist es der menschlichen Vernunft grundsätzlich verwehrt, die Möglichkeiten ihres Könnens ohne weiteres zum Richtmaß ihres Dürfens zu machen. Eine aufgeklärte Umweltethik sieht die Interdependenz zwischen Mensch und Natur und sie versucht dieses Verhältnis mit dem Begriff der Gesamtvernetzung (Retinität) zu erfassen. Nur wenn der Mensch die Gesamtvernetzung seiner zivilisatorischen Tätigkeiten und Erzeugnisse verantwortungsvoll in den umfassenden Rahmen zwischen natürlicher und kultureller Welt stelle, genüge er dem Retinitätsprinzip, dem „Schlüsselprinzip der Umweltethik" 8 . Man mag dieses vom Sachverständigenrat für Umweltfragen im Jahr 1994 erstmals herausgearbeitete Prinzip für fragwürdig halten, weil es zu unbestimmt ist und damit zu viele Fragen offen läßt. Dies ist einerseits richtig, andererseits ist der Vernetzungsgedanke geeignet, einer fraktionierten und damit kurzsichtigen Betrachtung vorzubeugen. Dieses gilt auch für den zweiten Leitbegriff der Umweltpolitik, dem ebenfalls eine ethische Komponente eigen ist, gemeint ist der Begriff des „Sustainable Development", der nachhaltigen Entwicklung. Das Leitbild einer dauerhaft-umweltgerechten Entwicklung ist geeignet, einseitige „Lagermentalitäten" zu überwinden. Mit ihm werden komplexe Wirkungsgefüge, wie sie nicht nur ökologische Systeme, sondern ebenso auch moderne ökonomische und soziale Systeme darstellen, miteinander vernetzt und zu einem funktionsfähigen Ganzen gemacht. Die zu erbringende Integrationsleistung kann letztlich nur über Leitbilder sichergestellt werden, die die fundamentalen Überlebens- und Entwicklungsbedingungen der Gesellschaft präsent halten. Das Auseinanderklaffen wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Entwicklungen, zweifellos die wesentliche Ursache der ökologischen Krise, ist nur durch die Überwindung einer isolierten Betrachtungsweise zu verhindern 9. Ein positiver Aspekt der Sustainability- und der Retinitätsdebatte ist schon heute feststellbar: Das zentrale Dilemma der bisherigen Umweltpolitik, nämlich ihr weitgehend defensiver, nachsorgender Charakter, wird langsam überwunden. Hinzu kommt, daß die Leitbilddiskussion einen intensiven juristischen Diskurs über die Instrumentalisierungsmöglichkeiten der Leitbilder bzw. um die richtige Organisation von Zielbildungsprozessen ausgelöst hat.

s Umweltgutachten 1994, a. a. O., Tz. 36. 9 Vgl. Umweltgutachten 1996, BT-Dr 13/4108, Tz. 4.

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III. Nachhaltigkeit und Retinität, sind das zwei Leitbilder, die der moderne Verfassungsstaat nur aufzugreifen, miteinander zu versöhnen hat oder schlägt in dieser Situation die Stunde der Philosophie, wie Jürgen Mittelstraß fragt? 10 Der Philosoph ist nicht klüger als der Biologe und ethische Grundsätze (oder anders: normatives Wissen) lassen sich nicht aus den Mechanismen der Natur entnehmen. Richtig verstandene Philosophie beansprucht keine eigene Leitbildkompetenz. Die Philosophie ist eher ein Ort, an dem begriffliche und konzeptionelle Schwierigkeiten einer methodischen Behandlung zugeführt werden. Bei der Bildung von Umweltzielen, bei der Festlegung von Umweltstandards handelt es sich um keine der Natur selbst entnommenen Ordnungen, sondern um Konventionen, mit denen der Mensch die Frage beantwortet, in welcher Umwelt er leben will und leben soll 11 . Aus der Staatszwecklehre ist für die normative Begründung der Verantwortung des Staates für die Umwelt wenig zu gewinnen. Der Essenz der Lehre von Georg Jellinek, wonach sich die Aufgaben des Staates nur empirisch-historisch feststellen ließen {Jellinek verwendete den Begriff der Staatszwecke), ist wenig hinzuzufügen. Deshalb ist auch die historische Begründung Hasso Hofmanns (von diesem auch nicht anders verstanden) nichts anderes als eine Beschreibung der Versuche zur Systemerhaltung. Wichtiger als die letztlich unergiebigen Lehren von den Staatsaufgaben bzw. den Staatszwecken12 ist die von Ernst Forsthoff in seinem „Staat der Industriegesellschaft" aufgeworfene und immer noch aktuelle Frage, ob eine Instanz denkbar sei, die den technischen Prozeß nicht den immanenten Bedingungen seiner Fortbewegung überläßt, sondern ihm Grenzen setzt. Nach Forsthoff war die einzige in Betracht kommende Instanz der Staat. Er hielt es allerdings für wahrscheinlicher, daß sich dieser mit der Technik identifiziere oder daß er sich als unfähig erweise, den technischen Fortschritt zu bändigen. Es bleibt festzuhalten, daß die demokratische Entgrenzung der Staatsaufgaben sämtliche mit der Umwelt zusammenhängenden Probleme potentiell zu politischen Fragen macht, die dem Staat aufgegeben werden. Dieser entscheidet über den Sprung ins Normative, d. h. darüber, ob er eine bestimmte Aufgabe durch eine entsprechende Fixierung in der Verfassung, dem einfachen Gesetzesrecht oder im sonstigen normativen Bestand lösen will. Die Idee des liberalen demokratischen Rechtsstaats impliziert, daß auch wichtige Fragen normativ unbehandelt bleiben, 10

Ökologie und Ethik - zur philosophischen Verbindung zweier Leitbilder, in: Steinmann/Wagner (Hrsg.), Umwelt und Wirtschaftsethik, 1998, S. 21. n Mittelstraß a. a. O. S. 21. 12 So auch R. Herzog , Ziele, Vorbehalte und Grenzen der Staatstätigkeit, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, 2. Aufl. (1996), § 58, Rdnrn. 1 ff.

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sei es deshalb, weil sie damit bewußt dem gesellschaftlichen Prozeß überlassen werden oder weil sie als nicht regelungsfähig bzw. -bedürftig erscheinen 13.

IV. Das Recht ist kraft der ihm eigenen Durchsetzungsmacht, seiner Anreiz- und Sanktionsmechanismen unverzichtbares Mittel, um der Verantwortung des Menschen bzw. des Staates für die Umwelt Geltung zu verschaffen. Das Regelwerk des modernen demokratischen Verfassungsstaates hat sowohl die Verbindlichkeit der Mehrheitsentscheidung unter der Voraussetzung ihrer Verfassungskonformität und das Recht der Minderheit auf Widerspruch bei gleichzeitiger Loyalität gegenüber den Entscheidungen der jeweiligen Mehrheit zu schaffen und zu ermöglichen. Damit sind Recht und Politik nicht von ethischen Anforderungen befreit. Beide bleiben an die Verfassungsordnung gebunden. Diese ist Ausdruck eines genuin ethischen Grundwertes, der Unverfügbarkeit und Verantwortungsfähigkeit menschlichen Personseins14. Die Verpflichtung des Staates zum Schutze der natürlichen Lebensgrundlagen findet sich in unterschiedlicher Gestalt in einer Reihe von Verfassungen der europäischen Staaten und in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der in den Schutzbereich des Rechts auf Privatheit den Schutz einer gesunden Umwelt mit einbezogen hat. Wichtiger noch als nationale Verfassungsbestimmungen über den Schutz der Umwelt sind aber die Bestimmungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, die sich dort seit der Einheitlichen Europäischen Akte auch im Vertrag selbst finden. Von besonderer Bedeutung hierbei ist die Querschnittsklausel des Art. 130 r II 2 EGV, wonach die Erfordernisse des Umweltschutzes Bestandteil der anderen Politiken der Gemeinschaft sind. Durch diesen ökologischen Transmissionsriemen werden die verschiedenen Einzelpolitiken des Vertrages im Sinne eines ganzheitlichen ökologischen Denkens miteinander vernetzt. Die umweltpolitischen Ziele des Vertrages (Art. 130 r I EGV) gehen über die Konservierung eines ökologischen status quo hinaus. Sie schließen die Verbesserung der Umweltqualität ausdrücklich mit ein. Dadurch erhält die Umweltpolitik eine progressive Komponente. Der Umweltschutz wird zur Gestaltungsdirektive. Der Vertrag sieht zu deren Umsetzung konkrete Prinzipien vor, wie das der Vorsorge, wonach die Umweltpolitik so zu betreiben ist, daß Umweltbeeinträchtigungen erst gar nicht entstehen, wie das Ursprungsprinzip, wonach Umweltbeeinträchtigungen möglichst schon an der Wurzel selbst bekämpft werden sollen und das Verursacherprinzip, das letztlich einen Kostentragungsgrundsatz enthält. Schon in der Vertragsfassung der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) konnte 13 Zu den Grenzen rechtlicher Fixierung ethischer und sozialer Werte vgl. Walter Leisner, in: Staat, Schriften zu Staatslehre und Staatsrecht 1957 bis 1991 (hrsg. von Isensee, 1994), S. 25 ff. (Erstveröffentlichung 1970). 14 Umweltgutachten 1994, a. a. O., Tz. 63.

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davon gesprochen werden, daß das Gemeinschaftsrecht die Rechtsidee eines „bestmöglichen Umweltschutzes"15 enthält. Deutlicher noch ist der Vertragstext des Amsterdamer Vertrages , der vermutlich im Jahr 1999 ratifiziert werden wird. In Art. 2 wird in der Aufgabenbestimmung für die Gemeinschaft „eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens", „ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität" genannt. Nach Art. 6 müssen die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung der einzelnen Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden. Mit dieser Neufassung des Vertrages hat sich die EG endgültig von einer Wirtschafts- und Währungsunion zu einer Umweltunion entwickelt. Die hierzu notwendige Harmonisierung ist voll im Gang. V. Der Staat der Bundesrepublik hat der Staatsaufgabe Umweltschutz auf der Verfassungsebene einmal durch entsprechende Kompetenzartikel (Naturschutz, Wasserhaushalt, Abfallwirtschaft, Luftreinhaltung) Rechnung getragen. Ein eigentliches Grundrecht auf Schutz der Umwelt enthält das Grundgesetz jedoch nicht; zwar werden Rechtsgüter, die Bestandteil der natürlichen Umwelt sind, mit Grundrechtsschutz ausgestattet, wie das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und die Eigentumsgarantie. Die Lehre von den Grundrechten als Abwehrrechten hilft aber kaum weiter. Der Waldbauer, dessen Baumbestand durch die Luftverschmutzung schwindet und der sich mit seinem Eigentumsrecht gegen diese Verschmutzung wendet, nimmt zwar damit auch allgemeine Interessen wahr. An wen aber soll er sich wenden: An den Staat, der die Anlagen genehmigt, deren summierte Emissionen zu den Schäden führen oder muß er gegen die Anlagenbetreiber selbst vorgehen? Er stößt hierbei schnell auf die Grenzen der Grundrechtsdogmatik, denn einmal gelten Grundrechte nur gegenüber dem Staat, zum anderen nimmt der Anlagenbetreiber aus seiner Eigentumsgarantie ein Verschmutzungsrecht in Anspruch. Die Lösungsmöglichkeiten sollen nur angedeutet werden. Vertretbar ist etwa die Ansicht, evident umweltschädliches Verhalten sei vom Schutzbereich der Freiheitsrechte nicht erfaßt. Auch könnten Umweltmedien wie Luft, Wasser und Boden als öffentliche Sachen bzw. Kollektivgüter angesehen werden und einem Bewirtschaftungsregime unterworfen werden, wie dies die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Nutzung des Wassers sanktioniert hat 16 . Derartige Konstruktionen stoßen aber schnell an ihre Grenzen, will sich der liberale Verfassungsstaat nicht selbst aufgeben. Dem Gesetzgeber steht es nicht frei, beliebige Lebensbereiche durch Schaffung öffentlicher Sachen oder öffentlichrechtlicher Bewirtschaftungsregime aus dem Bereich der grundrechtlichen Frei15

Grundlegend W. Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, 1993. Näheres bei Reiner Schmidt, Umweltschutz durch Grundrechtsdogmatik, in: Festschrift für Hans F. Zacher, 1998, S. 947 ff. 16

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heitsausübung herauszunehmen. Keinesfalls wird es angängig sein, die Schrankendogmatik mit ihren formellen Voraussetzungen, inhaltlichen Argumentationslasten und Abwägungsregeln generell durch eine Konstruktion abzulösen, nach der das Verhalten Einzelner, die Rechte anderer verletzen, von vornherein nicht in den Schutzbereich der Grundrechte fallen soll 17 . Die entscheidende verfassungsrechtliche Bestimmung zum Thema Umweltschutz ist daher die Staatszielbestimmung des Art. 20 a GG. Mit ihr wird klargestellt, daß die Verfassung das Thema Umweltschutz nicht nur in einem Programmsatz aufnimmt, sondern daß sie mit rechtlich bindender Wirkung der Staatstätigkeit die Beachtung und Erfüllung der Aufgabe des Umweltschutzes vorschreibt. Es sind die „natürlichen Lebensgrundlagen", auf die das Grundgesetz Bezug nimmt und sie müssen „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen" wahrgenommen werden. Auf diese Weise werden Schutzgüter wie Lebensräume der Tiere, Natur und Landschaft, Luft und Wasser erfaßt, ohne daß sie von einem grundrechtlichen Individualschutz flankiert werden. Die Staatszielbestimmung Umweltschutz richtet sich in erster Linie an den Gesetzgeber. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als um einen selbstverständlichen Ausgestaltungs- oder Konkretisierungsvorbehalt. Zu einer etwaigen Priorität des Umweltschutzes vor anderen Staatsaufgaben sagt die Verfassung nichts. Da der Gesetzgeber wegen der Besonderheit der Materie „Umwelt" mit unbestimmten Rechtsbegriffen, Ermessensvorschriften und der Einräumung planerischer Entscheidungsräume operieren muß, bleibt der Verwaltung zwangsläufig ein breiter Anwendungsspielraum. Entscheidender als die Grenzlinie zwischen Gesetzgeber und Verwaltung ist jedoch diejenige zwischen Staat und Bürger oder anders gewendet: Sollte sich herausstellen, daß die staatlichen Steuerungsmöglichkeiten im Bereich des Umweltschutzes weitgehend versagen, dann ist damit die Frage aufgeworfen, ob entweder die Steuerungsmittel verbessert werden können oder ob der Gesellschaft, d. h. der Eigenregulierung durch den Bürger, mehr zu überlassen ist.

VI. Sehr viel grundsätzlicher jedoch ist die Frage, ob und inwieweit das Repräsentativsystem überhaupt in der Lage ist, die Aufgabe einer nachhaltigen Sicherung der Lebensgrundlagen zu meistern. Die grundlegende Skepsis Walter Leisners gegenüber manchen Erscheinungsformen moderner Demokratie kann hier nicht in voller Breite aufgegriffen werden 18. Teilt man die Analyse, wonach sich im Parlament ein neues Führerprinzip breit macht, wonach sich Parteispitzen formieren 17

Vgl. zum Ganzen R. Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998, S. 118 ff. Vgl. nur Walter Leisner, Die Demokratie, 1998, S. 612 ff.; ders.\ Demokratische Anarchie, 1982, S. 208 ff. 18

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und der Rest der Volksvertreter in Bedeutungslosigkeit versinkt, dann wird es um so dringlicher, einem „Versagen der Repräsentativ Verfassung" (Jürgen Habermas) durch neue, institutionell abgesicherte Verfahren entgegenzuwirken. Im Bereich der Sicherung von Langfristinteressen und der Berücksichtigung der Bedürfnisse nachfolgender Generationen wird es vor allem darauf ankommen, die Wahrnehmbarkeit zukünftiger Entwicklungen zu verbessern und für den Kollektivgutcharakter einer Politik der Nachhaltigkeit eine systemimmanente Verbesserung des politischen Prozesses zu gestalten. Nicht allerdings kann es dabei das Ziel sein, den schwierigen Abwägungsprozeß zwischen Einzel-, Gruppen- und Verbandsinteressen durch eine objektive Gemeinwohlfindung, etwa durch Sachverständige, zu ersetzen19. Allerdings bietet es sich zur Sicherung langfristiger Perspektiven geradezu an, sich der erprobten Tätigkeit unabhängiger Sachverständigengremien zu versichern, wobei die einzelne Ausgestaltung eines Beiratswesens (Beratungsfunktion, mit Vetorecht usw.) nicht entscheidend ist 20 . Inzwischen liegen ausreichende Erkenntnisse dazu vor, wie Sachverstand auf demokratisch einwandfreie Weise institutionell organisiert und abgesichert werden kann. Erfahrungen mit dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und dem Sachverständigenrat für Umweltfragen zeigen, welche Grundvoraussetzungen gegeben sein müssen, um eine weitere Schwächung des Repräsentativsystems durch die Schaffung von Nebenparlamenten zu vermeiden und gleichzeitig eine möglichst qualitätvolle unabhängige Beratung zu sichern, mit der die Hektik einer zu kurzen Legislaturperiode ebenso abgemildert werden kann, wie das nackte Wiederwahlinteresse der Mitglieder des Parlamentskörpers. Zur Grundausstattung sachverständiger Beratungsgremien sollte gehören: eine gesetzliche Grundlage mit einem klaren Handlungsauftrag, eine längere Bestellungsdauer (6 bis 8 Jahre), versetzte Amtszeiten, das Verbot der Wiederwahl, großzügige persönliche Honorierung, die Ausstattung mit wissenschaftlichen Hilfskräften und einer leistungsfähigen Geschäftsstelle und ein hochrangiges Bestellungsverfahren. Angesichts der speziellen Verantwortung für die nachfolgenden Generationen verwundert es nicht, daß für die Wahrnehmung der Interessen zukünftiger Generationen eine Reihe von Institutionen zur Wahrnehmung der Langzeitverantwortung vorgeschlagen werden 21 . In der Schweiz wurde bereits ein Nachhaltigkeitsrat auf Bundes- und auch auf Kantonsebene (Kanton St. Gallen) errichtet. Das generelle Ziel dieser Räte ist es, das ganzheitliche, vernetzte Denken in größeren Zeiträumen konsequent in die 19 So auch R. Steinberg, a. a. O., S. 340 f. 20 Vgl. zum Ganzen W. Brohm, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR II, 1987, § 36. Zum Vorschlag eines Europäischen Umweltrats siehe H. Ch. Binswangen Europäische Umweltunion, GAIA 1994, Heft 3, S. 2ff.; kritisch H. W. Rengeling, Zum Umweltverfassungsrecht der Europäischen Union, in: Verfassungsrecht im Wandel, Festschrift zum 180-jährigen Bestehen der Carl Heymanns Verlag KG, 1994, S. 469 ff. 21 Vgl. nur C. F. Gethmann/M. Kloepfer/H. G. Nutzinger, Langzeitverantwortung im Umweltstaat, 1993. Vgl. auch § 63 des Entwurfs der unabhängigen Sachverständigenkommission zum Umweltgesetzbuch, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.), 1998.

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Politik einbringen zu können. Da die Lösung der Umweltprobleme eine Schicksalsfrage ist, die keineswegs hinter der Bedeutung der Aufgabe der Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums zurücksteht, sollte der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen mindestens ebenso abgesichert werden, wie der zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Das heißt im einzelnen: Die Mitglieder sollten durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung für mindestens 6 Jahre berufen werden; in die gesetzliche Grundlage für die Tätigkeit des Umweltrats sollte eine genaue Aufgabenbestimmung aufgenommen werden; durch versetzte Amtszeiten sollte ein sogenanntes „packing" ausgeschlossen werden. Anders als nach dem Modell der USA, dem Council of Economic Advisers, ist der Sachverständigenrat für Umweltfragen nicht auf eine Hilfsfunktion für die Regierung zu beschränken, sondern sollte als von der Regierung beauftragte Institution zur Versachlichung, Integration und Kontrolle im Interesse einer Langzeitverantwortung für das Parlament die Grundlage zur Schaffung und Handhabung eines umweltrechtlichen Instrumentariums liefern. Die kritische Instanz eines Umweltrats kann dazu beitragen, im pluralistischen Kräftespiel Gemeinwohlinteressen, die sonst zu kurz kämen, zu formulieren und in der Öffentlichkeit darzustellen. Der zu beschreitende Grat ist schmal. Es müssen einerseits auf fundierter Basis ehrgeizige Ziele gesteckt werden, um der Öffentlichkeit und der Politik die Urteilsbildung zu ermöglichen. Andererseits dürfen nicht zu weitgehende Ziele formuliert werden, die in der Öffentlichkeit nur ein Kopfschütteln hervorrufen würden und für das Renommee des Rates schädlich wären.

VII. Es steht außer Frage, daß dem Gesetzgeber bei der Herstellung eines angemessenen Verhältnisses gegenläufiger grundrechtlicher Werte, öffentlicher und privater Rechtsgüter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielräume zukommen, die durch sachverständige Beratung nicht ersetzt werden können. Damit sind prozedurale Anforderungen verbunden, die vielfach als Ersatz für die fehlenden materiellen Maßstäbe gelten. Angesichts der kognitiven Unsicherheiten und der Wertungskonflikte ist es kein Zufall, daß im Umweltrecht eine weltweite Diskussion über die Prozesse zur Festlegung von Umweltzielen und Umweltstandards in Gang gekommen ist. Man ist sich weitgehend einig, daß das Problem nicht darin besteht, das politische Programm der Umweltziele rechtlich zu domestizieren. Vielmehr soll durch die rechtlichen Bindungen die politische Rationalität erhöht werden und sollen Signale für einen langfristigen Prozeß hin zu einer dauerhaft-umweltgerechten Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden 22. Auch die amerikanische Praxis des „rule making" hat am Verfahren der Standardsetzung gezeigt, welche Bedeutung das Verfahren für die Entscheidung hat. Es ist 22 Vgl. E. Rehbinder, Festlegung von Umweltzielen, NuR 1997, S. 313 ff.

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die Verfahrensgestaltung, die die Autorität des Standards, seine Akzeptanz und damit den Grad der Befolgung beeinflußt. Bei aller Unsicherheit der wissenschaftlichen Aussage sollen wenigstens fahrlässige Irrtümer und Fehlgewichtungen vermieden werden. Verkürzt gesagt liegt die Legitimation von Grenzwerten im Verfahren, nicht im Ergebnis 23. Wenn dem so ist, dann kann der Abwägungsprozeß im Diskurs zwischen Naturwissenschaft und Medizin einerseits, Politik und Recht andererseits zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Es gibt eben in der Demokratie nicht nur eine einzige Nachhaltigkeit. Der demokratische Staat ist gehalten, eine Ordnung zu schaffen, die ein gerechtes und gedeihliches Miteinander der Menschen sowie den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlage gewährleistet. Er ist aber auch verpflichtet, die Unverfügbarkeit menschlicher Freiheit zu wahren, das heißt, er muß das Recht des Einzelnen auf Selbstbestimmung und auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit sichern. Hier zeigt sich eine deutliche Grenze des Rechts und die eigentliche ethische Herausforderung 24. Eine durch das Recht geschützte individuelle Freiheit kann nämlich immer mißbraucht werden; das Recht kann dies nicht verhindern, ohne gleichzeitig diese Freiheit zu beseitigen. Gerade deshalb ist neben dem Recht das Ethos, die bewußt gelebte Moral des Individuums unverzichtbar. Wenn Freiheit nicht als individuelle Freiheit in Verantwortung begriffen werden kann, dann läßt sie sich nicht bewahren. Die Verantwortung für die soziale Mitwelt und für die natürliche Umwelt darf nicht auf eine rein juristische Position reduziert werden. Auch das beste Recht wird nur einen Beitrag zur Bewahrung des blauen Planeten leisten können.

23 So v. Lersner, Verfahrensvorschläge für umweltrechtliche Grenzwerte, NuR 1990, S. 193 ff. (197). 24 So zu Recht Sachverständigenrat für Umweltfragen , Umweltgutachten 1994, a. a. O., Tz. 46.

Grundprobleme des parlamentarischen Regierungssystems* Von Herbert Schambeck

Jedes Regierungssystem betrifft die Handlungsfähigkeit des Staates, jedes parlamentarische Regierungssystem die Handlungsfähigkeit eines demokratischen Staates. Wer daher Gedanken über Grundprobleme des parlamentarischen Regierungssystems anstellt, hat sich mit Entwicklungstendenzen der Demokratie auseinanderzusetzen. Die Demokratie gibt nämlich die Legitimation für das Parlament, und das Vertrauen des Parlaments ist in einem parlamentarischen Regierungssystem die Voraussetzung für den Bestand der Regierung. Für beide, nämlich sowohl für das Parlament als auch für die Regierung ist das jeweilige Wahlrechtssystem ausschlaggebend; es bestimmt die Zusammensetzung des Parlaments und damit auch die Repräsentation der politischen Kräfte eines Staates, welche in ihrer Willensbildung durch das Vertrauensprinzip auch für die Zusammensetzung der Regierung ausschlaggebend sind. Grundprobleme langt

des parlamentarischen

Regierungssystems

zu bedenken, ver-

1. den Begriff des Staates und mit diesem die in ihm bestimmenden politischen Kräfte zu erklären; 2. die Regierung als Funktion und Organisation darzustellen; 3. die Bedeutung der Wahlrechtsordnung für Parlament und Regierung hervorzuheben; 4. die Gewaltenteilung in Idee und Wirklichkeit zu verdeutlichen; 5. die Möglichkeiten der Kontrolle im parlamentarischen Regierungssystem erkennen zu lassen, um letztlich abschließend 6. über die Beziehung des Einzelmenschen zum parlamentarischen Regierungssystem zu sprechen.

* Gastvorlesung, gehalten an der Juristischen Fakultät der Universität Wroclaw (Breslau) am 11. Mai 1998.

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I. Begriff und politische Kräfte des Staates Vom Begriff des Staates ist deshalb auszugehen, weil das parlamentarische Regierungssystem seiner Handlungsfähigkeit dient. Der Staat ist der dem Einzelmenschen und der Gesellschaft übergeordnete Herrschaftsverband, der Höchstfunktion erfüllt. Mit dieser Definition sind die dem parlamentarischen Regierungssystem gestellten Aufgaben sowie seine Zielsetzung verdeutlicht. Aufgabe des parlamentarischen Regierungssystems ist es, dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft in Ausübung der Herrschaftsfunktion des Staates als Mittel zu dienen. Dieser Dienst am Menschen und der Gesellschaft ergibt sich vor allem daraus, daß das parlamentarische Regierungssystem im Dienst der Demokratie steht und daher kein Selbstzweck ist. Jede Regierung hat sich daher mit der Pluralität an Einstellungen, Wünschen und Bedürfnissen der Menschen auseinanderzusetzen. Dabei wird eine Regierung mit einer Vielzahl von persönlichen Haltungen, nicht zuletzt auch mit moralischen Auffassungen, beruflichen Interessen, religiösen Überzeugungen sowie philosophischen, ideologischen und weltanschaulichen Ansichten der einzelnen Menschen konfrontiert. Diese beispielsweise genannten pluralen Einstellungen der Menschen finden ihre Repräsentation im sogenannten intermediären Raum, nämlich im Bereich zwischen dem einzelnen Menschen und dem Staat, und dokumentieren sich vor allem in politischen Parteien, beruflichen Interessenverbänden, Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie in den letzten Jahren immer mehr in sich spontan bildenden Vereinigungen, wie Grünparteien oder anderen Aktionsgruppen, die sich z. B. um den Umweltschutz bemühen oder sich als Alternativgruppen auch im Sexualbereich repräsentieren. Sie werden aktiv teils als wahlwerbende Parteien, teils, ohne sich um eine parlamentarische Vertretung zu bemühen, als Aktionsgemeinschaften und suchen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erregen. Briefaktionen, Zettelverteilen, Protestmärsche und verschiedene Formen der Demonstration sind hier zu nennen. Die Repräsentanten derartiger Gruppierungen gehören in Parlamenten meist zur Opposition; wo es aber auf kommunaler, regionaler, föderaler oder gesamtstaatlicher Ebene zu einer Koalition mit derartigen Alternativszeneristen kommt, meist mit sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien als Koalitionspartner, führt dies zu Kompromissen im Regierungsprogramm und später zu Krisen innerhalb dieser Alternativgruppierungen, wie Grünparteien, und oft auch zur Krise in derartigen Koalitionen mit anderen Regierungsparteien. Wie immer sich eine Regierung zusammensetzt, nämlich ob als Allein- oder Mehrparteienregierung, wird sie ihrer Regierungsaufgabe nachkommen müssen

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und steht von der Angelobung der einzelnen Regierungsmitglieder an unter Handlungsbedarf. Die Betroffenen sehen dann gleich, daß Opponieren und Kritisieren leichter ist als Regieren!

II. Regierung als Funktion und Organisation Regieren verlangt in gleicher Weise Sachkenntnis, Grundsatzdenken und Sozialverständnis. Im Regieren verbindet sich gewollt oder ungewollt und bewußt oder unbewußt die Auseinandersetzung mit Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Wer regiert, muß daher konservativ und progressiv zugleich sein - konservativ zum Erhalten des bereits Bewährten und progressiv, um offen für das notwendige Neue zu sein. Nur wer aus der Geschichte gelernt hat, findet den Zugang zur Entwicklung in der Gegenwart und findet den Weg in die Zukunft! Die Funktion der Regierung ist die Staatsleitung. In das Bemühen, zur Staatsleitung beizutragen, sind alle mit einbezogen, welche einer auf die Staatswillensbildung ausgerichteten Tätigkeit nachgehen und dies in ihrem Bereich in Höchstverantwortung tun. Das sind die Führungsgremien aller Verbände mit staatspolitischer Verantwortung, wie z. B. die Vorstände von politischen Parteien, besonders wenn sie im Parlament oder in der Regierung vertreten sind, weiters die Leitungsorgane von beruflichen Interessenvertretungen. In bestimmter Weise können auch derartige leitende Gremien von Kirche und Religionsgemeinschaften, welche aufgrund ihres Apostolats auch politisch aktiv sind, versuchen an der Funktion der Regierung Anteil zu nehmen. Diese Teilnahme an der Funktion der Regierung üben daher nicht nur die Mitglieder einer Staatsregierung, sondern darüber hinaus alle aus, welche zu dieser Staatsleitung beitragen, wie z. B. die staatstragende politische Partei durch die Erstellung von Partei-, Wahl- und Regierungsprogrammen, ein Interessenverband oder eine Kirche durch Abgabe einer Stellungnahme zu einer Regierungsvorlage oder sonst zu einer Gesetzesinitiative. Persönlichkeiten, welche derartigen Führungsgremien angehören oder ihnen zuarbeiten und derartige Beschlüsse möglich machen, sind in die Kollegialverantwortung eingebunden, ohne daß sie oft einzeln bekannt sind und zur Rechenschaft herangezogen werden können. Ihre jeweilige Legitimation erhalten sie nicht nur aus der Ordnung der Verfassung der einzelnen Staaten, sondern vielmehr auch aus der Ordnung der jeweiligen Gemeinschaft bzw. des Verbandes in einem Staat. Anders verhält es sich mit der Regierung als Organ. Die Regierung als Organ wird gebildet von im jeweiligen Verfassungsrecht genau bezeichneten obersten Vollzugsorganen. Zur Regierung als Organ werden das Staatsoberhaupt, der Chef der Regierung und die Minister, streng genommen nicht die Staatssekretäre, gezählt. 30 FS Leisner

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Einer besonderen Legitimation bedarf das Staatsoberhaupt; seine Stellung, und dem entsprechend auch seine Bedeutung, ist je nach der Staatsform, ob Monarchie oder Republik, verschieden. Das Staatsoberhaupt in einer Monarchie - sie ist heute meist eine konstitutionelle Monarchie mit parlamentarischem Regierungssystem - ist durch seine Geburt oder durch Wahl berufen, das der Republik entweder durch Wahl seitens des Volkes, des Parlaments oder einer eigenen Volksvertretung. Wo die Bestimmung des Staatsoberhauptes nicht durch Wahl stattfindet, wie in einer Monarchie, erfolgt die Eidesleistung zumeist ebenso vor dem Parlament wie in einer Republik, und zwar dort auch, wenn die Wahl selbst durch das Volk geschieht. Das Staatsoberhaupt dient vor allem der Repräsentation des Staates und der Integration der politischen Kräfte in diesem Gemeinwesen. In einer Republik ist das gewählte Staatsoberhaupt neben dem gewählten allgemeinen Vertretungskörper, nämlich der Parlamente, eine zweite Säule der Demokratie. In einem parlamentarischen Regierungssystem ist das Vertrauen sowohl des Parlaments als auch des Staatsoberhauptes die Bedingung für das Zustandekommen und für den Bestand der Regierung. Die Bedeutung des Staatsoberhauptes hängt sowohl von seinen Kompetenzen als auch von der Persönlichkeit des jeweiligen Amtsträgers ab. In seinen Zuständigkeiten ist das jeweilige Staatsoberhaupt, ob einer Monarchie oder Republik, von dem verständnisvollen Zusammenwirken mit dem Parlament und der Regierung abhängig. Hier können sich natürlich im Hinblick auf die jeweilige Stärke der politischen Parteien in Parlament und Regierung unterschiedliche Kräfte im öffentlichen Leben verdeutlichen. In einer Parteiendemokratie steht das Staatsoberhaupt über den Parteien als Sinnbild des Staates. Er wird dies in einer demokratischen Republik besonders dann tun können, wenn er von den Parteien nicht abhängig ist, sondern über ihnen zu stehen vermag. Das ist der Fall, wenn er in einer Volkswahl als Direktkandidat ohne Parteiennominierung gewählt wird. Wird er aber auf Vorschlag einer Partei entweder vom Volk oder vom Parlament oder einer anderen Volksvertretung gewählt, so bedarf es einer Persönlichkeit in einer Zeit vieler bestimmender kollektiver Mächte, die sich unabhängig, über den Auseinandersetzungen der Politik stehend, durchzusetzen vermag. Meist gelingt dies am besten in einer Monarchie, in welcher das Staatsoberhaupt auf keine Wiederwahl angewiesen ist, weniger in einem Parteienstaat, vor allem in der ersten Funktionsperiode eines gewählten Staatsoberhauptes. Die Zuständigkeiten eines Staatsoberhauptes zählen zu den konservativen Elementen in einer staatsrechtlichen Ordnung. Dazu gehören besonders seine Repräsentation nach innen und außen, seine Mitverantwortung an der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, seine Mitwirkung an der Bestellung der Regierung, seine Rechte gegenüber dem Parlament, wie z. B. zur Einberufung von Tagungen, ein etwaiges Notverordnungsrecht, die Gegenzeichnung von Gesetzen,

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Ernennung von Richtern und Beamten, die Verleihung von Titeln und Orden sowie die Begnadigung und Amnestie. Die Stellung des Staatsoberhauptes ist auf der Grundlage des Verfassungsrechtes geradezu geprägt durch das Protokoll, das in internationaler Sicht viele Ähnlichkeiten besitzt. Da ich in meiner früheren Parlamentarierfunktion öfters bei freudigen und traurigen Ereignissen unser Staatsoberhaupt im Ausland zu vertreten hatte, konnte ich dies bisweilen miterleben. Unabhängig von der Verfassungsrechtslage und dem Protokoll ist die Stellung des Staatsoberhauptes geprägt von der Persönlichkeit des einzelnen Amtsinhabers. An ihm liegt es, wie er seine Funktion ausübt und seine Kompetenzen wahrnimmt, vor allem aber auch, welche Themen er bei seinen zahlreichen Anlässen wann und wie behandelt. Er kann dabei ignorieren, registrieren, kontrastieren, kritisieren, tolerieren und motivieren. Kein Organ des Staates steht so, und das in seinem privaten und öffentlichen Leben in gleicher Weise, im Blickpunkt der Öffentlichkeit wie das Staatsoberhaupt. Es muß dabei mit den Spitzen der Regierung und des Parlaments und, wenn es sich um einen Bundesstaat handelt, auch mit den Spitzen der einzelnen Bundesländer das erforderliche Einvernehmen pflegen. Gerade das parlamentarische Regierungssystem in einer Demokratie verlangt das geordnete Miteinander, von dem die Autorität auszugehen vermag, die ein Staat für seinen Bestand benötigt. Diese ist Die Regierungsmitglieder trifft die sogenannte Ministerverantwortung. viel älter als das parlamentarische Regierungssystem. Es gab sie bereits in der Zeit der absolutistischen und konstitutionellen Monarchie, und sie war damals die Verantwortung des Regierungsmitglieds nicht nur für sich und die unterstehenden Beamten, sondern auch für das Handeln und Wollen des Monarchen, der es ernennen und wieder abberufen konnte und von dessen Vertrauen es abhängig war. als Verantwortung für eigenes und für fremdes Die Ministerverantwortlichkeit Verschulden ist auch nach der Demokratisierung und Republikanisierung der Staaten gleich geblieben. Auch heute muß ein Regierungsmitglied nicht nur für sein Wollen und Tun, sondern auch für das seiner nachgeordneten Organe einstehen. Deshalb ist er auch ihnen gegenüber weisungsberechtigt und diese sind ihm gehorsamspflichtig. So ist auch nach Art. 20 (1) des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes jeder öffentlich Bedienstete, also auch jeder Beamte, verpflichtet, jede Weisung zu befolgen, wenn diese von dem für ihn zuständigen Organ kommt und nicht gegen das Strafrecht verstößt, d. h. in diesem Falle wäre in Österreich jede von einem zuständigen Organ kommende, auch gesetzwidrige Weisung zu befolgen, vorausgesetzt, sie ist nicht strafrechtswidrig. In einem solchen Fall empfehle ich jedem öffentlich Bediensteten, wenn er eine Weisung bekommt, mit der er nicht einverstanden ist, sich diese schriftlich geben zu lassen oder einen Aktenvermerk zu machen, von dem eine Kopie dem betreffenden weisungsgebenden Organ auszufolgen ist. Vergleicht man Regierung als Funktion und Regierung als Organ, so ist erstere aus der Tätigkeit, letztere hingegen aus der Bezeichnung im Verfassungsrecht des 30*

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jeweiligen Staates zu entnehmen. Regierung als Funktion und als Organ sind identisch bei der Regierung eines Staates. Für sie ist bei einem parlamentarischen Regierungssystem das Wahlrechtssystem ausschlaggebend, und zwar für die Zusammensetzung des jeweiligen Parlaments und damit auch der Regierung, denn vom Vertrauen des Parlaments hängt bei einem parlamentarischen Regierungssystem der Bestand der Regierung ab.

I I I . Wahlrechtsordnung und parlamentarisches Regierungssystem Was das Wahlrechtssystem betrifft, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder das Mehrheits- oder das Verhältniswahlsystem. Während beim Mehrheitswahlsystem, wie z. B. in Großbritannien, ein starker Integrations- und ein geringer Repräsentationseffekt gegeben ist, ist dies beim Verhältniswahlrecht umgekehrt. Die Folge dessen ist, daß sich beim Majorssystem leicht eine absolute Mehrheit bildet, nicht aber beim Proportionalwahlrecht. Die Konsequenz aus der Wahlrechtsordnung für das Regierungssystem ist daher, daß erfahrungsgemäß das Mehrheitswahlrecht mehr zu einer Einparteienregierung, hingegen das Verhältniswahlrecht mehr zu einer Koalitionsregierung führt, weil beim Proportionalwahlrecht eine absolute Mehrheit, die zur Alleinregierung notwendig ist, sich schwer bilden läßt. Beide Wahlrechts- und Regierungssysteme haben ihre Vor- und Nachteile, verlangen ein entsprechendes politisches Klima und eine adäquate Einstellung der Menschen in einem solchen Staat zu Parlament und Regierung. Das Mehrheitswahlrecht vermag durch seinen starken Integrations- und geringen Repräsentationseffekt geradezu seismographisch politische Stimmungen und Meinungsbildungen zum Ausdruck zu bringen. Die Folge ist, daß sich die Mehrheiten im Parlament und damit auch in der Regierung rasch, nämlich von Wahl zu Wahl, ändern können. Die Stimmung innerhalb der Parteien ist demnach beim Majorssystem einmal himmelhoch jauchzend und ein andermal zu Tode betrübt. Anders kann die Situation beim Proportionalwahlsystem sein. Hier kann mehr Ausgewogenheit vorherrschen, und die politische Entwicklung ist mehr vorhersehbar. Der Unterschied in den Wahlrechts- und Regierungssystemen ist nicht allein bei der Zusammensetzung der Regierung, sondern auch in ihrer Arbeit erkennbar. Beim Majorssystem und den damit verbundenen Einparteienregierungen muß eine Partei, die im Besitz der absoluten Mehrheit ist, weder im Parlament noch in der Regierung gegen ihre Überzeugung Kompromisse eingehen; sie kann konsequent vorgehen, handeln, beschließen und regieren; anders beim Proportionalwahlrecht, bei dem wegen der fehlenden absoluten und nur relativen Mehrheit Kompro-

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misse die politische Arbeit in Parlament und Regierung begleiten, was zur Folge hat, daß politische Auseinandersetzungen - einem Wahlkampf gleich - die ganze Legislaturperiode des betreffenden Parlaments und die Funktionsperiode der von ihrem Vertrauen getragenen Regierung prägen. Politische Halbheiten, die nach der nächsten Parlamentswahl bzw. Regierungsbildung geändert werden sollen, sind die Konsequenzen. Folgen ergeben sich für die Regierung und das Parlament, je nach dem Wahlrechtssystem, auch für die Gewaltenteilung.

IV. Die Gewaltenteilung in Idee und Wirklichkeit Die Gewaltenteilung ist ein Ausdruck der Mannigfaltigkeit der Staatsgewalt. Ihre Einteilung mag materiell entweder nach dem Inhalt der Staatstätigkeit in Rechtsetzung, Rechtsprechung öder Verwaltung erfolgen, oder aber formell nach dem tätigwerdenden Staatsorgan in Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit oder Verwaltung. Im Prinzip ist die Gewaltenteilung nach dem tätigwerdenden Organ mit der nach dem Inhalt der Tätigkeit ident, denn grundsätzlich sind gesetzgebende Körperschaften rechtsetzend, Gerichte rechtsprechend und Verwaltungsbehörden verwaltend tätig. Daneben darf aber nicht übersehen werden, daß diese Einteilungen sich überschneiden, denn auch ein Parlament kann neben der Rechtsetzung einen Verwaltungsakt im materiellen Sinn setzen, nämlich z. B. den Abschluß eines Staatsvertrages genehmigen, in England im House of Lords sogar Gerichtsakte setzen. Gerichte üben neben der Rechtsprechung auch Verwaltungsaufgaben, nämlich die Justizverwaltung aus und Verwaltungsorgane verwalten nicht nur im Sinne der Gesetzesvollziehung, sondern üben auch Funktionen der Rechtsetzung aus, wenn sie z. B. Verordnungen auf Grund der Gesetze im Rahmen ihrer Zuständigkeit erlassen, sie sind bekanntlich Gesetze im materiellen Sinn. Verwaltungsorgane entfalten auch eine rechtsprechende Tätigkeit, wenn sie Verwaltungsstrafverfahren durchführen. Betrachtet man diese Gewaltenteilung im parlamentarischen Regierungssystem des demokratischen Verfassungsstaates, so ist bei den drei Staatsfunktionen ein Vorrang der Gesetzgebung gegeben, denn auf Grund der von gesetzgebenden Körperschaften beschlossenen Verfassungsgesetzen und einfachen Gesetzen erfolgt deren Vollziehung in Gerichtsbarkeit und Verwaltung. In dieser Sicht hat jeder zulässige Rechtsakt eines Staates sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Gerichtsbarkeit und Verwaltung im Dienst der Verfassungskonkretisierung zu stehen. Ein Großteil dieser Gesetze, sowohl Verfassungsgesetze als auch einfache Gesetze, gehen auf Regierungsvorlagen zurück. Aber auch dort, wo Gesetze auf parlamentarische Initiativen zurückgehen, arbeiten die Repräsentanten der Regierung mit denen des Parlaments zusammen. Das formell organisatorische Nebeneinander der ausgeübten Staatsfunktionen kann auf diese Weise im parlamentarischen Regierungssystem in Rechtsetzung und Rechtvollziehung zu einem Miteinander führen. Die Gewaltenteilung kann hiezu das Notwendige beitragen.

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Sie wird im Englischen mit den Worten „balance of power" umschrieben, was die gegen- und wechselseitige Kontrolle zum Ausdruck bringen soll; dieser letztgenannte Zweck läßt sich gegenwärtig allgemein nicht leicht erreichen. Im heutigen parlamentarischen Regierungssystem des demokratischen Verfassungsstaates wird die Regierung von der Mehrheitspartei oder - wenn es keine Partei mit absoluter Mehrheit gibt - von den in der Regierung zusammenarbeitenden Koalitionsparteien eines Parlaments gebildet. Die Folge ist, daß die Gewaltenteilung im Sinne von politischem Einfluß und Machtausübung nicht mehr zwischen der Regierung und dem Parlament verläuft, wie dies in der Zeit der Monarchie zwischen dem Monarchen und seiner Regierung einerseits und dem Parlament andererseits der Fall war, sondern zwischen der Koalition in Parlament und Regierung, der die Opposition im Parlament gegenübersteht. Die Folge ist, daß, ausgenommen das Recht zur Mißtrauensvotierung, die parlamentarischen Kontrollmittel im Rahmen des Möglichen Minderheitenrechte werden sollen - ein Erfordernis für die parlamentarische Kontrolle, die beim Proportionalwahlsystem von besonderer Bedeutung ist. Bei der Gewaltenteilung, in ihrer zumeist formell organisatorischen Ausprägung, muß man, wie bereits betont, beachten, daß die meisten Gesetze, welche von den Parlamenten beschlossen werden, auf ein Verlangen der über einen großen Verwaltungsapparat verfügenden Regierung zurückgehen, die aber noch in den Ausschüssen des Parlaments bearbeitet und somit auch verändert werden können. Weiters ist zu beachten, daß bei einer von der Parlamentsmehrheit getragenen Regierung eine gewisse Gewaltenteilung zwischen den Mitgliedern der Regierungsfraktion im Parlament einerseits und den Regierungsmitgliedern andererseits Platz greift, und zwar auch innerhalb ein- und derselben politischen Partei. Auf diese Weise kann es zu Konfrontationen zwischen Parlamentariern und Regierungsmitgliedern nicht in der Parlaments-, sondern in der jeweiligen Kluböffentlichkeit kommen, was oft die Allgemeinheit gar nicht weiß. Was die Beziehung von Verwaltung und Gerichtsbarkeit betrifft, besteht im Hinblick auf die Weisungsgebundenheit und Gehorsamspflicht der Verwaltungsorgane die Notwendigkeit, im demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat die von ihnen erlassenen Bescheide bei Verdacht der Verfassungs- oder Gesetzwidrigkeit von Verfassungs- und Verwaltungsgerichten überprüfen zu lassen. Nicht problemlos ist es im Bereich der Justiz, wenn der Staatsanwalt, der zur Anklageerhebung bei Offizialdelikten zuständig ist, an die Weisungen des Justizministers gebunden ist, der einer politischen Partei angehört und die ihm spezifische Ministerverantwortlichkeit zu parteipolitischen Zwecken nutzt, ob z. B. in Strafsachen Untersuchungen geführt werden, ein Verfahren eröffnet und Anklage erhoben wird. Es kommt dabei auf die jeweilige Persönlichkeit des Justizministers an, was generelle Beurteilungen nicht erlaubt. Da die Durchsetzung des Wollens in der Politik die entsprechende Zuständigkeit bzw. Funktion sowie Macht verlangt, kann Gewaltenteilung im Sinne Von Macht-

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Verteilung auch außerhalb der klassischen Teilung der Staatsfunktionen von Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung erfolgen, so zwischen Staats- und Selbstverwaltung, Politikern und Beamten, repräsentativ und plebiszitär demokratischen Einrichtungen, denn oft kann man in Staaten mit parlamentarischem Regierungssystem neben der parlamentarischen Gesetzgebung mitbestimmende Verfassungseinrichtungen wie Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragungen feststellen. Weiters ist eine Form der Machtverteilung auch im Dienst der Kontrolle zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer Meinungsund Willensbildung gegeben, wie z. B. neben dem Parlament der Einfluß der beund verurteilenden Massenmedien, wie Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen. Oft ergibt sich bei Vorkommnissen das Nebeneinander von Untersuchungen im Parlament, bei Gericht und durch Massenmedien. Gerade die Massenmedien können Themen und Personen auf- und abbauen, loben, be- und verurteilen, Nachrichten konstruieren, kritisieren, ironisieren, polemisieren, aber auch akzeptieren. Die Gunst der Massenmedien bestimmt mit die der Wähler, sie ist daher mit ausschlaggebend für die An- und Aufnahme von Parlament und Regierung sowie der sie tragenden Persönlichkeiten. Die Öffentlichkeit der Medien wird daher nicht zu Unrecht als die vierte Gewalt bezeichnet. Die Beziehung von Staat, Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung ist für die Entwicklung von Staat und Politik in der Demokratie sowie natürlich auch für das parlamentarische Regierungssystem mit ausschlaggebend. Dabei muß man Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Öffentlichkeit erkennen und entsprechend richtig beurteilen. Die meisten Aktivitäten in der Öffentlichkeit, wie die durch Massenmedien und Volksbegehren herbeigeführten, sind nicht solche der gesamten Öffentlichkeit, sondern aus der Öffentlichkeit, sie stellen nur eine Teil- und nicht eine Gesamtrepräsentation der Öffentlichkeit und daher nicht der Gesamtbevölkerung dar. Anders hingegen bei einer Volksbefragung oder bei einer Volksabstimmung. Mit beiden ist die gesamte stimmberechtigte Bevölkerung annehmend oder ablehnend befaßt. Für die Effizienz des parlamentarischen Regierungssystems ist es sehr wichtig, daß die Demokratisierung der Staatsordnung, nämlich der Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung, und die repräsentativ und plebiszitär-demokratischen Einrichtungen aufeinander im Sinne demokratischer Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit abgestimmt sind. Was die Staatsfunktionen anbetrifft, kommt es darauf an, daß das gesamte Staatsleben und damit auch die Ausübung der Staatsfunktionen im Dienste der Konkretisierung des Verfassungsrechtes und damit auch der Ausführung der einzelnen einfachen Gesetze erfolgt; d. h. das, was gesamtstaatlich beschlossen wurde, ist im Wege der Rechtskonkretisierung auf den einzelnen Rechtsfall zur Anwendung zu bringen. Dabei zeigt die Erfahrung, daß die nicht gewählten, sondern von demokratisch legitimierten obersten Vollzugsorganen, wie die vom Staatspräsidenten und von Regierungsmitgliedern ernannten Beamten und Richter dem Verfassungsrecht und

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einfachgesetzlichen Recht den besseren Dienst erweisen, denn sie sind von politischen Vertrauensbeweisen unabhängiger. Wenn es hingegen für alle drei Staatsfunktionen zur demokratischen Wahl und damit in ihren Tätigkeiten neben der Gesetzgebung auch in der Verwaltung und Gerichtsbarkeit zu demokratischer Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung kommt, entsteht keine Demokratisierung, sondern die Gefahr der Jakobinisierung. Dann ist nämlich keine Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Handlungen des Staates möglich, welche die demokratische Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit verlangt, weil anstelle der Berechenbarkeit des Staatshandelns die mehr nach der Situation und Notwendigkeit des Augenblicks als an generell abstrakten Rechtsnormen der Gesetze orientierten Handlungsweisen der auf Plebiszitärzustimmung ausgerichteten Staatsorgane bestimmend wären. In gleicher Weise besteht bei einem parlamentarischen Regierungssystem die Möglichkeit, daß plebiszitäre Einrichtungen für die parlamentarische Staatswillensbildung wertvolle Entscheidungshilfen werden, aber diese nicht ersetzen. Volksbegehren, Volksbefragung und Volksabstimmung können so das freie Mandat der Abgeordneten ergänzen, aber nicht erübrigen! Wenn ein Staat nicht als Einheits- sondern als Bundesstaat aufgebaut ist, dann kann sich die parlamentarische Staatswillensbildung auf mehrfacher Ebene ereignen und die Demokratie in einem Staat auf drei Ebenen erlebbar werden, nämlich auf den Ebenen des Gesamtstaates und zwar des Bundes, weiters der Länder sowie der Gemeinden. Auf diese Weise erweist sich auch der Bundesstaat als eine Form der Gewaltenteilung mit der Möglichkeit der wechselseitigen parlamentarischen Kontrolle: sei es durch die Anfechtung von Gesetzen und Verordnungen des Bundes durch die Länder oder umgekehrt von solchen der Länder durch den Bund beim Verfassungsgerichtshof. Es sei auch an das Begutachtungsrefcht der Länder bezüglich Gesetzesentwürfen der Regierung ebenso erinnert, wie an das Mitwirkungsrecht der Länder in der Gesetzgebung durch eine von ihnen beschickte Ländervertretung. Eine besondere Note erhält nämlich das parlamentarische Regierungssystem dann, wenn das Parlament nicht aus einer, sondern aus zwei Kammern besteht. In einem solchen Fall kontrolliert diese zweite Kammer nicht nur die Regierung, sondern auch die erste Kammer in ihrer Gesetzgebungsfunktion. Eine solche zweite Kammer kann in einer Monarchie, wie in Großbritannien mit dem House of Lords ein konservatives Element, oder in einer Republik, die bundesstaatlich aufgebaut ist, in einer Ländervertretung neben der Volksvertretung ein föderalistisches Element sein, das ist in Rußland der Föderationsrat, in der Schweiz der Ständerat sowie in Deutschland und Österreich der Bundesrat. Jede zweite Kammer hat ihr eigenes Gepräge; das gilt auch für jeden Staat und besonders für einen Bundesstaat; sie haben alle ihre eigene Geschichte und Entwicklung. So haben sich Deutschland und die Schweiz von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat, Österreich hingegen von einem dezentralisierten Einheitsstaat zu einem Bundesstaat entwickelt. Unter der Bezeichnung Senat kann ein Bundesstaat

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wie die USA oder auch ein Einheitsstaat wie Italien und Polen eine zweite Kammer haben. Wo ein solcher Senat keinen föderalen Charakter hat, ist diese parlamentarische Kammer, wie z. B. der Senat Bayerns, eine berufsständische Volksvertretung oder aber eine andere Form der Volksvertretung, wie der Senat Tschechiens oder mit regionaler Prägung der Italiens und Spaniens. Je nach dem einzelnen parlamentarischen System besteht eine Gleichrangigkeit oder Unterschiedlichkeit zwischen beiden Kammern, die zu unterschiedlichen Zeiten und nach verschiedenen Grundsätzen, wie z. B. nach Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht, gewählt werden, gemeinsam oder getrennt an der Gesetzgebung und Kontrolle mitwirken. Da in beiden parlamentarischen Kammern verschiedene politische Stärken zum Tragen kommen, zeigt sich auch die Möglichkeit, daß die zweite Kammer durch ein Einspruchs- oder Zustimmungsrecht die erste Kammer in der Gesetzgebung kontrolliert. Meist drängt die erste Kammer als Volksvertretung nach dem Eindruck, das Parlament überhaupt zu sein. Beginnend mit der Regierungserklärung vor jeder der beiden Kammern bis zur Verabschiedung eines Gesetzes können beide Kammern die Regierung entsprechend kontrollieren. Das Zweikammersystem führt daher zu einer gegenseitigen Kontrolle der beiden Kammern im Parlament und zu einer zweifachen Kontrolle der Regierung. Die Gewaltenteilung im öffentlichen Recht und in der politischen Wirklichkeit ist nur ein Teil, aber auch ein sehr wichtiger Teil des demokratischen Verfassungsstaates. Um das parlamentarische Regierungssystem in seiner Breite und Tiefe zu verstehen, ist es erforderlich zu beachten, daß der demokratische Verfassungsstaat von zwei Begriffspaaren gekennzeichnet ist, nämlich von Zuständigkeit und Verantwortung sowie Verantwortung und Kontrolle. Sie sind auch für das parlamentarische Regierungssystem mitbestimmend.

V. Die Kontrolle im parlamentarischen Regierungssystem Im parlamentarischen Regierungssystem entsteht die Verantwortung in einem Zusammenwirken von drei Faktoren, nämlich vom ernennenden Staatsoberhaupt, von dem die einzelnen Regierungsmitglieder vorschlagenden Regierungschef und dem vertrauengebenden Parlament. In den einzelnen Staaten mögen die Schwerpunkte des parlamentarischen Regierungssystems zwar jeweils verschieden sein; sie sind aber jeweils aufeinander so bezogen, daß letztlich keiner ohne den Anderen auskommt. Nicht zuletzt deshalb sind auch der Präsident des Staates, der Chef der Regierung und die Präsidenten der parlamentarischen Körperschaften die ersten Staatsrepräsentanten. Um die Kontinuität des Staates und seiner Leitung bestehen lassen zu können, werden zumeist die Wahlen des Staatsoberhauptes und des Parlaments jeweils zu verschiedenen Zeiten erfolgen. Es zeigt sich bei solchen Gelegenheiten auch die

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Dynamik des Wählerwillens, denn es kann bei der Wahl des Staatspräsidenten eine andere Mehrheit als bei der des Parlaments zustande und damit auch eine andere bestimmende politische Kraft in der Regierung zur Geltung kommen. Handelt es sich um einen Bundesstaat, so ist es möglich, daß auf der Ebene des Bundes und der der Länder verschiedene Mehrheiten und damit auch unterschiedliche Parteien bestimmend werden. Es kann z. B. eine Partei die Mehrheit in der Volksvertretung haben und damit regierungsbildend sein, während die andere in der Länderkammer die Mehrheit besitzt und entweder Minderheitenpartner in der Regierung und der Volksvertretung ist. Wie bereits betont, bezieht sich die jeweilige Verantwortung auf die betreffende Zuständigkeit Sie ergibt sich allgemein aus dem Verfassungsrecht, aus einem etwaigen eigenen Ministeriengesetz, aber vor allem aus der Vollzugsklausel der einzelnen Gesetze. Die Ministerverantwortung ist bezogen auf das einzelne Ressort. Dabei ist es für die Führung der Regierung nicht unwesentlich, ob ein Staat, wie Deutschland, dem Regierungschef das Recht einräumt, in die einzelne Ressortführung mit Weisung eingreifen zu können, oder, wie in Österreich, wo ihm dies verwehrt wird, dem österreichischen Bundeskanzler zum Unterschied von der deutschen Richtlinienkompetenz nur eine solche zur Koordination zusteht. Die Ministerverantwortung beginnt mit der Angelobung und endet mit der Amtsniederlegung bzw. der Entlassung. Die dazwischenliegende Zeit der Verantwortung für die Regierung als Organ im jeweiligen Ressortbereich ist auch eine Zeit politischer, rechtlicher und finanzieller Kontrolle. Die politische Verantwortung bezieht sich auf die Übereinstimmung des Wollens und Tuns des jeweiligen Regierungsmitglieds mit den politischen Absichten und Einstellungen der Parlamentarier. Sie haben hiezu gegenüber der Regierung die Möglichkeit der politischen Kontrollrechte, die sich, ausgenommen das Recht zur Mißtrauensvotierung, alle auch eignen, nicht bloß als Mehrheits-, sondern auch als Minderheitsrecht genützt zu werden. Solche Rechte zur politischen Kontrolle sind das Interpellations-, Resolutions-, Petitions-, Zitations- und Enqueterecht sowie das Recht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen. Das Interpellationsrecht beinhaltet das Recht zur mündlichen und schriftlichen Anfrage zu Angelegenheiten der Vollziehung. Es wird auch in der Fragestunde am Beginn einer Parlamentssitzung zu schon Tage vorher eingereichten Fragen oder als dringliche Anfrage am Beginn einer Sitzung zu aktuellen Anlässen und gegen Ende der Sitzung zur Beantwortung genützt. Über die Beantwortung einer schriftlichen Anfrage kann auch eine Debatte stattfinden und zu dieser, wie zu jedem Tagesordnungspunkt einer Parlamentssitzung, ein Regierungsmitglied in das Parlament zitiert werden. Oft wird auch das Ergebnis einer dringlichen Anfrage mit einer Resolution verbunden. Eine solche Resolution ist ein in Form einer Entschließung an ein Regierungsmitglied gestelltes Begehren, das dieses beachten und erfüllen kann, es aber nicht muß. Ein Begehren, das ein Einzelner oder mehrere Personen dann unter

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einem Gesamtnamen an das Parlament stellen können, ist die Petition. Ihrer wörtlichen Übersetzung nach handelt es sich dabei um eine Bittschrift - eine Vorstellung, die auf die Zeit der absoluten Monarchie zurückgeht - , die heute eine Anregung an den Gesetzgeber darstellt, dem es ebenfalls freisteht, diese zu beachten oder nicht. Da das Parlament ein Ort der Meinungs-, Urteils- und Willensbildung ist, ist dieses auch auf entsprechende Information angewiesen. Einer Information dient das Recht zur Abhaltung einer Enquete. Sie dient der Information in einer Sache und ist von einem Untersuchungsausschuß zu unterscheiden, welcher Vorkommnisse unter strafrechtlichen Gesichtspunkten untersucht. Themen für Enqueten waren z. B. die Reform der Verfassung oder des Budgets, Anlässe zu Untersuchungsausschüssen z. B. Waffeneinkäufe, Bauaufträge und Korruptionsvorwürfe. Je mehr das Schwergewicht der Initiative zur Gesetzgebung auf Grund des dem Parlament fehlenden Verwaltungsapparates durch die ständige Zahl an Regierungsvorlagen bei der Regierung liegt, desto wichtiger wird die Kontrolle der Regierung durch das Parlament: beginnend mit der Ausschußtätigkeit, in der neben den Gesetzesinitiativen des Parlaments die Gesetzesvorlagen der Regierung akzeptiert, korrigiert oder bearbeitet werden, fortsetzend mit der Behandlung der Berichte zu verschiedenen Bereichen der Politik und speziell mit den Möglichkeiten der politischen, rechtlichen undfinanziellen Kontrolle durch ein eigenes Verfassungsorgan, nämlich den Rechnungshof. Er ist ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde, ist kollegial oder monokratisch organisiert und in gleicher Weise auf die Kontrolle der Staatstätigkeit, auf die Gesetzmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit ihres Handelns gerichtet. Während diese Rechnungs- und Gebarungskontrolle durch ein Organ, meist durch den Rechnungshof, durchgeführt wird, wird der Bericht des Rechnungshofes selbst im Parlament zunächst in einem eigenen Ausschuß und hernach im Plenum öffentlich behandelt, was auch zu Sanktionen führen kann, z. B. einer Votierung des Mißtrauens gegen die ganze Regierung oder einzelner ihrer Mitglieder oder aber auch zu einer Strafanzeige bei Gericht gegen ein einzelnes Staatsorgan. Die dritte Form der Kontrolle im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems ist die rechtliche. Sie erfolgt durch ein Gericht öffentlichen Rechts, zumeist durch einen Verfassungsgerichtshof. Sie dient der Kontrolle der Normen auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Die Verfassungsgerichtsbarkeit setzt die Unterscheidung von Verfassungsrecht und einfachgesetzlichem Recht voraus. Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein bedeutender Teil der Geschichte und damit auch des Werdens des Verfassungsstaates und des Schutzes der Ordnung. In ihren Zusammensetzungen und ihren Kompetenzen sind die einzelnen Verfassungsgerichte Ausdruck der politischen und rechtlichen Ordnung eines Staates. Das zeigt schon die Bestellung der Richter eines Verfassungsgerichtes; sie erfolgt meist im Einvernehmen mit mehreren Organen, wie z. B. Staatsoberhaupt, Parlament und Regierung, sowie in den Vorschriften über deren Unvereinbarkeit mit anderen Berufen und Funktionen.

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Was die Zuständigkeiten der Verfassungsgerichte betrifft, gibt es zwei Typen solcher Höchstgerichte, zunächst die mit umfassender Zuständigkeit, die also in gleicher Weise für Verfassungsrecht wie für Straf- und Zivilrecht zuständig sind, und solche Verfassungsgerichte, die nur für Verfassungsfragen Kompetenz haben. Bereits zu Beginn der französischen Revolution hat Emanuel Joseph Sieyes eine Art Verfassungsgerichtsbarkeit vorgeschlagen, ohne daß diese verwirklicht worden wäre. Von wegweisender Bedeutung wurde die Entscheidung des Supreme Court der USA in der Rechtssache Marbury v. Madison, 1803, in welcher der Supreme Court die Prüfung von Gesetzen für sich in Anspruch nahm, was aber nicht in einem eigenen Verfahren, sondern in einer sogenannten inzidenten Kontrolle mit Wirkung nur für den konkreten Anlaßfall erfolgte. die zu EntscheiDer Durchbruch zu einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit, dungen über spezifische Verfassungsrechtsfragen und damit vor allem auch für die Gesetzesprüfung und den Schutz der Grundrechte zuständig ist, erfolgte als Konsequenz der Lehre von Hans Kelsen über die Normenkontrolle durch den österreichischen Verfassungsgerichtshof im Bundes-Verfassungsgesetz 1920. In diesem Jahr hat es in Europa neben dem österreichischen Verfassungsgerichtshof nur noch den der Tschechoslowakei gegeben, der aber kaum in Funktion getreten ist. 1921 kam es zur Errichtung des Staatsgerichtshofes von Liechtenstein. Nach dem 2. Weltkrieg, der Zeit eines Mißbrauchs des positiven Rechts zu Unmenschlichkeiten, hat die Zahl der Verfassungsgerichtshöfe, die ausschließlich für Verfassungsrecht kompetent sind, zugenommen. Hier gilt es, die Verfassungsgerichte Deutschlands, Italiens, Frankreichs, Spaniens, Portugals, der Türkei und nach der politischen Wende 1989 vor allem auch die Verfassungsgerichte in Mittelund Osteuropa, einschließlich des heutigen Rußlands, zu nennen. Es gibt aber noch andere Gerichte, die zwar nicht ausdrücklich als Verfassungsgerichte bezeichnet sind, aber Verfassungsgerichtsbarkeit ausüben, wie das Bundesgericht in der Schweiz und die Höchstgerichte in Belgien, Griechenland und Zypern. Höchstgerichte mit umfassender Zuständigkeit sind besonders der Supreme Court der USA, jener Indiens und Kanadas. Zu keiner Form der Verfassungsgerichtsbarkeit ist es in Großbritannien gekommen. Eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit parlamentarischer Akte durch ein Gericht ist mit dem Verständnis des britischen Parlamentarismus nicht vereinbar. Auf Grund seiner weiten Kompetenz und seiner Rechtsprechung ist das Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland zum Vorbild der Verfassungsgerichtsbarkeit geworden. Besonders sei auch darauf verwiesen, daß in Deutschland das Bundesverfassungsgericht ermächtigt ist, Gesetze nicht nur an der Verfassung, sondern auch an dem im Grundgesetz (Art. 20) vorausgesetzten überpositiven Recht zu messen. Mit dem Bundesverfassungsgericht wurde auch das Bonner Grundgesetz in den letzten Jahrzehnten für viele Staaten der Welt, welche die

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demokratische Verfassungsstaatlichkeit nach autoritären Regimen anstrebten, zum Vorbild. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, daß ein Verfassungsgericht durch seine Judikatur für einen demokratischen Verfassungsstaat von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der gesamten Staatsrechtsordnung ist; sie hat, was vor allem in der Rechtsprechung über die Grundrechte deutlich wird, eine über den Einzelfall hinausgehende rechtsgestaltende Kraft! Was für die Verfassungsgerichtsbarkeit als Schutz von Höchstwerten und Grundrechten innerhalb eines Staates gilt, ist auch von Bedeutung für die Höchstgerichtsbarkeit auf internationaler Ebene; in diesem Zusammenhang sei auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und auf den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften verwiesen. Diese eigene Verfassungsgerichtsbarkeit dokumentiert mit ihrer Kompetenz für die Normenkontrolle den Verfassungsgerichtshof als den Hüter für die Verfassungskonkretisierung. Jeder Akt der Gesetzgebung und Vollziehung in Gerichtsbarkeit und Verwaltung hat sich in den Dienst der Verfassungskonkretisierung zu stellen. In dieser Sicht ist im parlamentarischen Regierungssystem des demokratischen Verfassungsstaates jeder Rechtsakt überprüfbar. So ist jedes einfache Gesetz am Verfassungsrecht, die Verordnung, das Gerichturteil und der Verwaltungsbescheid am Gesetz und an der Verfassung sowie der Vollstreckungsakt an Bescheid und Urteil zu messen. Das parlamentarische Regierungssystem hat die Verantwortung, daß das Verfassungsrecht in Gleichzeitigkeit von Kontinuitätsbewahrung und Zeitengagement ausgeführt wird. Die Regierung muß gemeinsam mit dem Parlament dazu beitragen, daß die Verfassung - mit Allgemeingültigkeit formuliert - das Grundsätzliche als Weisung der Rechtsordnung zu ihrer orts- und zeitorientierten weiteren Entwicklung auf den Weg gibt. Distanz und Engagement sollen sich beim Verfassungsgesetzgeber erweisen und dem einfachen Gesetzgeber genügend Raum für seine orts- und zeitorientierte Rechtsetzung geben. Das Verfassungsrecht und das einfache Gesetzesrecht bestehen gleich den Verordnungen, welche Verwaltungsbehörden im Bereich ihrer Zuständigkeit auf Grund der Gesetze erlassen können, aus generell abstrakten Normen. Der demokratische Rechts- und Verfassungsstaat ist aber gefährdet, wenn sich ein parlamentarisches Regierungssystem dazu hergibt, nicht eine generell-abstrakte Norm, sondern eine individuell-konkrete Norm zur Regelung eines Einzelfalles als Anlaßoder Maßnahmegesetz durch einen Gesetzesbeschluß des Parlaments zu beschließen. Das Parlament allein oder gemeinsam mit der Regierung würde diese Unterscheidung von generell-abstrakten sowie individuell-konkreten Normen verletzen. Auch im parlamentarischen Regierungssystem gilt es zu beachten, daß der demokratische Rechtsstaat, nämlich der Gesetzesstaat, im Dienste der Verfassungskonkretisierung keine für den einzelnen Rechtsfall in einem Gesetz getroffene Einzelregelung schafft, sondern ein Gesetz, das nicht bloß für den betreffenden Einzelrechtsfall, sondern für alle möglichen Fälle gilt, angewendet wird.

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Das parlamentarische Regierungssystem hat seine Legitimation im Verfassungsrecht, es soll daher seine Gebote einhalten. Ein parlamentarisches Regierungssystem gefährdet hingegen das Verfassungsrecht, wenn es dieses nur auf Zeit beschließt und sich somit das Verfassungsrecht ins Provisorische und Experimentelle verliert, wodurch es an normativer Kraft einbüßt. In gleicher Weise ist es abzulehnen, wenn in einem Staat die einzelne Verfassungsnorm nicht auf ihre Übereinstimmung mit dem geltenden Verfassungsrechtssystem durch den Verfassungsgerichtshof überprüft werden kann, weil diesem die Kompetenz zur Kontrolle von Verfassungsrecht fehlt und die Regierung in ihren Gesetzesvorlagen sowie das Parlament in seinen Beschlüssen bestimmte Vorschriften, welche ihnen verfassungswidrig oder verfassungsrechtlich bedenklich erscheinen, der Verfassungsgerichtskontrolle dadurch entziehen, daß sie diese nicht als einfaches Gesetzesrecht, sondern im Verfassungsrang beschließen. Auf diese Weise gefährden das Parlament und die Regierung die Stabilität seiner Ordnung; es geht nämlich die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des staatlichen Handelns immer mehr verloren. Das gefährdet aber letztlich nicht allein die Stabilität der Staatsordnung, sondern auch die Beziehung des Einzelnen zu seinem Staat.

VI. Der Einzelne und das parlamentarische Regierungssystem Der Staat und seine Ordnung sind nicht Selbstzweck, sondern haben gerade in einer Demokratie, welche die Voraussetzung für das parlamentarische Regierungssystem ist, eine dienende Funktion. Sehr deutlich drückt sich das im Art. 1 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes aus: „Österreich ist eine demokratische Republik, ihr Recht geht vom Volk aus". Damit es nicht erlebt bzw. empfunden wird, daß dieses Recht der demokratischen Republik am Volk ausgegangen ist, benötigt die Demokratie und mit ihr das parlamentarische Regierungssystem letztlich das Mitdenken und Mitbeurteilen durch den Einzelnen im Staat. Bedürften die Rechtsetzung und Rechtsvollziehung im Staat soviel als möglich der direktdemokratischen, also der plebiszitären Mitwirkung, würde dies, wie bereits betont, zu keiner Demokratisierung, sondern zu einer Jakobinisierung führen, welche die Rechtsetzung und damit die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des staatlichen Handelns auf Situationen und Stimmungen des Augenblicks abstellt. Es kommt vielmehr darauf an, daß der Einzelne im Staat das Geschehen im öffentlichen Leben, insbesondere in der Politik mitverfolgen und mitbeurteilen kann. Dazu bedarf es der Transparenz, also eines bestimmten Maßes an Öffentlichkeit des Staatsgeschehens, ohne daß dies zu einer Politik der Medien führt. Schon heute haben die Journalisten, ohne eine andere Legitimation als die ihrer Verkaufszahlen zu haben, ein wichtiges Wort bei allen politischen Entscheidungen mitzureden. Sie können Stimmungen machen, Personen und Nachrichten auf- und abbauen. In gleicher Weise wird die öffentliche Meinungsbildung sehr stark durch Meinungsund Wähleranalysen beeinflußt. Sie kann zyvar niemals den Wahlakt selbst ersetzen, wohl aber vorbereiten.

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Für diejenigen, die in Parlament und Regierung tätig sind, also für Abgeordnete und Minister, ist es wichtig, daß sie nicht nur ihre nach der Verfassung auferlegte Arbeit in Regierung und Parlament leisten, sondern auch ständig Kontakt mit der Bevölkerung halten, und das nicht nur innerhalb der eigenen Partei, sondern auch darüber hinaus. Dabei ist es gerade in einer demokratischen Republik notwendig, daß die Einzelnen im Staat den jeweiligen Politiker auch als Menschen verstehen und achten. Das verlangt vor allem, nichts zu versprechen, was man nicht selbst persönlich zu halten vermag und im öffentlichen Leben jenes Maß an Moral zum Tragen zu bringen, das im privaten Leben erwartet werden kann. Die Politik sollte durch die Politiker, besonders auch, wenn sie am parlamentarischen Regierungssystem teilhaben, als Dienst an der Gemeinschaft gesehen werden. Das Wort Partei leitet sich vom lateinischen Wort pars ab, das heißt Teil. Eine Partei ist daher ein Teil eines Ganzen des Volkes. Eine Partei sollte daher nicht nur bloß an ihre Mitglieder und Anhänger sowie an den Eigennutzen, sondern an die Allgemeinheit und an das Gemeinwohl denken sowie jedes Gesetz daran messen. Das parlamentarische Regierungssystem hat seinen Kontakt mit dem einzelnen Menschen durch das Gesetz und seine Ausfährung. Es legitimiert den Staat zum Handeln. In der heutigen Zeit erwarten die Menschen im und vom Staat in gleicher Weise die Herstellung und Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit sowie kulturellen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit. Alle diese Aufgaben, nämlich Kultur-, Wirtschafts- und Sozialstaat zu sein, kann der Staat nur auf Grund der Gesetze erfüllen, nämlich als demokratischer Rechtsstaat. Auf diese Weise wird der Staat zu einem Mehrzweckestaat mit einer Mehrzweckegesetzgebung. Die Folge ist, daß die Zahl der Gesetze immer mehr zunimmt und der Einzelne diese einerseits auf Grund der Kompliziertheit des Inhalts nicht mehr versteht und andererseits im Hinblick auf ihre Vielzahl nicht laufend verfolgen kann. Der Mehrzweckestaat mit seiner Mehrzweckegesetzgebung führt zur Gesetzesflut und diese zu oft zu keiner Rechtssicherheit, sondern meist zum Gegenteil, nämlich zur Rechtsunsicherheit. Die Vielfalt der Staatsaufgaben und die damit verbundene Vielfalt an Aufgaben der Gesetzgebung und Regierung ermöglichen auf Grund der Problematik der Gesetzesmaterien sowie deren Vielzahl dem Einzelnen im Staat nicht mehr, diese laufend zur Kenntnis zu nehmen und sie zu verstehen. Rechtshilfe- und Rechtsschutzorgane, wie Petitionsausschüsse in Parlamenten oder eine Art Ombudsman nach skandinavischem Vorbild, suchen das auszugleichen. Welche Folgen auch immer mit der wachsenden Zahl der Gesetze verbunden sind, sie sind aus der ständigen Zunahme der Aufgaben erklärlich, welche die einzelnen Menschen und durch sie sowie mit ihnen die organisierten Repräsentanten der Gesellschaft, wie politische Parteien und Interessenverbände, ständig vom Staat als erfüllt erwarten. Der Mensch hat anscheinend seine Zurückhaltung bis zur Angst vor dem Staat abgelegt und fordert nun in einer Mehrzweckeverwendung sein Tatigwerden. Dabei ist es bemerkenswert, daß in dem Maße, in dem die Men-

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sehen den Staat zur Leistung für sie fordern und der Staat demokratisiert wurde, das Ansehen des Staates und der für ihn tätigen Menschen abnimmt. Auch das vom Staat Geforderte und von ihm Geleistete wird nicht entsprechend geachtet und bedankt. An die Stelle der Freiheit vom Staat, wie sie der Liberalismus des 19. Jahrhunderts verlangt hat, tritt nun im sozialen Rechtsstaat mit seiner sogenannten sozialen Sicherheit die Freiheit durch den Staat. Dabei wird der Mensch mit Zunahme der äußeren Sicherheit innerlich immer unsicherer und mit Zunahme seiner Interessen am Materiellen nimmt seine Verbundenheit mit dem Ideellen ab. Diese abschließend skizzierte Entwicklung ist nicht problemlos. Die Menschen erwarten nämlich in dieser Situation von den Politikern und mit Ihnen von den Repräsentanten des parlamentarischen Regierungssystems, daß sie nicht nur mit den Schalthebeln der Macht umzugehen und im demokratischen Rechtsstaat durch Gesetze zu normieren, sondern auch verbunden mit ihrer Person, ihrem Handeln und Wollen zu motivieren verstehen. So führt die Politik in der Demokratie zur Frage der Gestaltung des Seins und das parlamentarische Regierungssystem zum Sinn der Verantwortung, nämlich der Verpflichtung, dem Einzelmenschen im Staat Antwort zu geben. Wie weit dies möglich ist, hängt letztlich von der geistigen Situation einer Zeit ab, in welcher der Mensch in der Demokratie und letztlich auch im parlamentarischen Regierungssystem, das ja von der jeweiligen Wahl bestimmt wird, mit sich selbst konfrontiert wird. Von diesem gegenseitigen Verstehen von Demokratie und ihrem parlamentarischen Regierungssystem einerseits und den Menschen andererseits hängt letztlich der Bestand des Staates und seiner Ordnung ab.

Gestaltungskräfte im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland Von Matthias Schmidt-Preuß

I. Das Parlament als Legitimationsorgan und Entscheidungsinstanz 1. Das parlamentarische Regierungssystem Das Regierungssystem bezeichnet die Koordinaten politischer Gestaltung des Gemeinwesens. Es gibt Auskunft über staatliche Entscheidungsmacht, Institutionen und Funktionen. Zugleich wird die Legitimation ausgeübter Herrschaft bestimmt. Von einem parlamentarischen Regierungssystem ist zu sprechen, wenn die Regierung dem Parlament verantwortlich ist.1 Dies ist das Modell des Grundgesetzes. Dabei kommt dem Parlament in zweifacher Weise eine Schlüsselrolle zu. Zum einen ist es Legitimationsorgan, zum anderen Entscheidungsinstanz.

2. Das Parlament als demokratisches Legitimationsorgan a) Das Grundgesetz hat die Grundentscheidung für den demokratischen Staat getroffen (Art. 20 Abs. 1 und 2, 28 Abs. 1 Satz 1 GG). Damit verbinden sich Staatlichkeit und demokratisches Prinzip. Das Volk ist der Souverän. Von ihm geht alle Staatsgewalt aus (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Sie wird namentlich durch Wahlen ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Die Volksvertreter - auf Bundesebene die Abgeordneten des Deutschen Bundestages - werden in freien Wahlen gewählt (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG). Der Wahlakt verleiht demokratische Legitimation.2 Daß der Bundestag das einzige Verfassungsorgan ist, das unmittelbar gewählt wird, akzentuiert seine Stellung. An der Gleichwertigkeit mittelbarer Legitimation ändert dies freilich nichts. 1 Vgl. Badura, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdbStR I, 1987, § 23 Rdnr. 10; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., 1984, S. 956, 966; Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 (34); HP. Schneider, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., 1994, § 13 Rdnr. 3 ff.; J. J. Hesse/ Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl., 1997, S. 13 f. 2 Vgl. BVerfGE 44, 125 (139). Zur Verbindung von parlamentarischem Regierungssystem und Demokratie s. Oppermann, VVDStRL 33 (1975), S. 7 (18 f.); Meyer, ibid., S. 69 (73 ff.). 31 FS Leisner

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b) Die Staatsgewalt wird - neben Wahlen und Abstimmungen - durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Der Bundestag kann sich hierbei als Gesetzgeber auf sein unmittelbares demokratisches Mandat stützen. Darüber hinaus ist er aber auch das zentrale Legitimationsorgan. Insofern vermittelt er die demokratische Legitimationskette vom Volk zu den Staatsorganen. 3 Der Bundestag wird als Kreationsorgan tätig, indem er den Bundeskanzler wählt. Auf dessen Vorschlag ernennt der Bundespräsident die Ressortminister, die als weisungs- bzw. aufsichtsbefugte Behördenspitze auch für die Verwaltungen und ihre Organwalter verantwortlich sind.4 Exekutive und Verwaltung genießen auf diese mittelbare Weise demokratische Legitimation. Die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament besteht nicht nur im Zeitpunkt des Kreationsakts, sondern auch darüber hinaus.5 Der Fortbestand der Regierung hängt vom unveränderten Vertrauen des Bundestages ab. Er kann die Regierung durch Wahl eines neuen Kanzlers zu Fall bringen oder - freilich nur im eng begrenzten, bislang zweimal praktizierten Ausnahmefall 6 - durch negative Beantwortung einer Vertrauensfrage den Weg zu Neuwahlen eröffnen.

3. Das Parlament als legislative Entscheidungsinstanz a) Primäre Gestaltungsaufgabe des Parlaments ist die Gesetzgebung , die zugleich eine der in Art. 20 Abs. 3 GG genannten Gewalten darstellt. Das Gesetz ist Grundlage und Maß, Ermächtigung und Begrenzung rechtsstaatlichen Handelns. Die wesentlichen Fragen des Gemeinwesens müssen - hierauf ist sogleich noch einzugehen - durch den Gesetzgeber entschieden werden. Auf den Feldern, die ihm die Kompetenztitel zuerkennen, verfügt der Bundestag damit über ein Gestaltungspotential, das ihn als Entscheidungsinstanz ersten Ranges auszeichnet. Die Legislativkompetenz wird ihm im Grundgesetz expressis verbis in Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG zuerkannt. Danach werden „Bundesgesetze ... vom Bundestag beschlossen". Diese Regelung der Organkompetenz ist das eine. Das andere sind die rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen, denen der Bundestag bei der Gesetzgebung unterliegt. So ist seine Gestaltungsautonomie bereits von Verfassungs wegen durch den Bundesrat limitiert. Zwar weist das Grundgesetz ihm nur eine Mitwirkung bei der Gesetzgebung zu (Art. 50 GG). Dies ist aber eher ein understatement. Das zeigt sich insbesondere in Zeiten parteipolitischer Inkongruenz von Bundestags- und Bundesratsmehrheit. In einer solchen Konstellation besteht 3 Dazu BVerfGE 93, 37 (67); 83, 60 (71 ff.); Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR I, 1987, § 22 Rdnr. 16, unter dem Aspekt organisatorisch-personeller Legitimation. ^ Böckenförde, ibid., § 22 Rdnr. 16. 5 S. hierzu Schröder, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR II, 1987, § 51 Rdnr. 33ff. 6

Zur Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten am 6.1.1983 vgl. BVerfGE 62,1 (36 ff.).

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die Gefahr, daß zustimmungsbedürftige Gesetze zum Anlaß für eine Instrumentalisierung des Verfassungsorgans Bundesrat als „Ersatzopposition" genommen werden.7 Daß dies keine bloß theoretische Erwägung ist, zeigen Beispiele aus der Vergangenheit. Die jeweilige Regierung bzw. Bundestagsmehrheit empfindet einen solchen Vorgang als störend, was in der Natur der Sache liegt. An der Elle des Verfassungsrechts ließe er sich aber nur in evidenten Mißbrauchsfällen messen.8 Die aus parteipolitischer Inkongruenz von Bundestags- und Bundesratsmehrheit resultierende Spannungslage findet ihren institutionellen Schlußpunkt im Vermittlungsausschuß (Art. 77 Abs. 2 GG). Ihm kann eine ungemein große Bedeutung zukommen.9 Dem entspricht allerdings nicht die relative Intransparenz seiner Entscheidung. So ist es unter dem Aspekt des legislativen Begründungsgebots 10 problematisch, daß zu Beschlüssen des Vermittlungsausschusses keine Begründung veröffentlicht wird. Der nachfolgende Bundestagsbeschluß über einen (ändernden) Einigungsvorschlag ergeht ohne eine vorherige Befassung des Fachausschusses, also auch ohne entsprechende schriftliche Erläuterungen. 11 Vorgesehen ist lediglich, daß ein Mitglied des Vermittlungsausschusses im Bundestag und im Bundesrat berichtet (§10 Abs. 1 Satz 2 GOVermAussch), worauf in der Praxis vielfach verzichtet wird. 12 Damit fehlt es paradoxerweise gerade dort an Gesetzesmaterialien, wo es um besonders kontroverse und regelmäßig gewichtige Fragen geht. Hier sollte - bei aller Eilbedürftigkeit, die für ein Vermittlungsverfahren typisch ist - Abhilfe geschaffen werden. b) Seine Rolle als zentrale Entscheidungsinstanz muß das Parlament aber auch gegenüber einem anderen Verfassungsorgan behaupten - nämlich der Bundesregierung. Formell räumt das Grundgesetz dieser bei der Gesetzgebung lediglich ein Initiativrecht ein (Art. 76 Abs. 1 GG). In diesem Rahmen verabschiedet die Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates eine sog. Gegenäußerung (§ 45 Abs. 3 GGO II). Eine Vorlage des Bundesrates soll sie mit ihrer Stellungnahme dem Bundestag zuleiten (Art. 76 Abs. 3 Satz 2 GG). Hierin erschöpft sich die grundgesetzliche Regelung des Regierungsbeitrags zur Gesetzgebung.13 In der Praxis sehen die Dinge anders aus. So beruhen gut 75 % der verabschiedeten 7 Vgl. Dolzer, Leitsatz 18 zum ersten Beratungsgegenstand der Staatsrechtslehrertagung 1998, DVB1. 1998, 1263 (1264): „Der Bundesrat ist konzipiert als eigenständiger Teilhaber der Macht, nicht als Teil der Opposition " 8 Vgl. Sachs, Leitsatz 11 zum ersten Beratungsgegenstand der Staatsrechtslehrertagung 1998, DVB1. 1998, 1265 (1266): „Grenze mißbräuchlicher Obstruktion". 9 S. hierzu J. J. Hesse/Ellwein (Fn. 1), S. 319; Opfermann, ZRP 1976, 206 ff. 10 Vgl. unter dem Aspekt der Gesetzesinitiative Lücke, in: Sachs (Hrsg.), GG, 2. Aufl., 1999, Art. 76 Rdnr. 7. Eine dem § 66 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 GOBTentsprechende Regelung fehlt in § 10 Abs. 2 GOVermAussch. 12 Vgl. Dästner, Die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses, 1995, S. 177. 13 Näher Ossenbühl, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, 1988, § 63 Rdnr. 11 ff.

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Gesetze auf Regierungsvorlagen. 14 Weniger greifbar, aber in seiner Wirksamkeit kaum zu überschätzen ist darüber hinaus der Sacheinfluß, den die Bundesregierung in der fachlichen Begleitung der Gesetzgebung im parlamentarischen Prozeß ausübt. Ohne Zugriff des Parlaments auf Know-how und Ressourcen der Fachressorts ist Gesetzgebung gar nicht denkbar. Insofern läßt sich von einer legislativen Servicefunktion der Regierung sprechen. Sie manifestiert sich u. a. in sog. Formulierungshilfen, die nicht selten ein „stockendes" Gesetzgebungsverfahren wieder in Gang setzen können und längst Normalität geworden sind. Unter dem Aspekt der Gewaltenteilung hier von einem Übergriff der Exekutive in den Bereich der Legislative oder im Blick auf das Demokratieprinzip von einer Entmachtung der Volksvertretung zu sprechen, erscheint übertrieben. Vielmehr spiegelt die legislative Servicefunktion der Regierung nur die auch sonst geläufige Verzahnung der Gewalten 15 wider. Zugleich ist das Demokratieprinzip bereits deshalb nicht verletzt, weil die sachliche Letztentscheidungskompetenz des Parlaments unangetastet bleibt. Das Grundgesetz sieht die legislative Servicefunktion der Regierung zwar nicht ausdrücklich vor, impliziert sie aber. will die herausragende Rolle des Parlaments als c) Die Wesentlichkeitstheorie Entscheidungsinstanz wahren. Bezugspunkt ist dabei die Verwirklichung der Grundrechte. 16 Die in diesem Sinne grundlegenden Fragen des Gemeinwesens sind durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber zu treffen. Mit dem grundrechtlichen verbindet sich damit ein legitimatorisches Anliegen. Zugleich will die Wesentlichkeitstheorie - die konzeptionell noch nicht alle Fragen beantwortet 17 politische Gestaltungsmacht funktionsgerecht kanalisieren. Dieser Anspruch wird in praxi freilich noch zu wenig eingelöst. Im Sinne einer wohl verstandenen Wesentlichkeitstheorie sollte der Gesetzgeber die steuernden Handlungsvorgaben der Verwaltung durchaus stärker als bisher normativ ausprägen.18 Jedenfalls wären nach Möglichkeit Verordnungsermächtigungen zu schaffen, die gem. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG in dem Sinne bestimmt sein müssen, daß sich „Tendenz und ... Programm" 19 der Einzelregelungen erkennen lassen. Bisherige Beispiele in diese Richtung belegen, daß dies ein gangbarer Weg ist. Wo auf untergesetzliche Regeln - ggf. auch im selbstregulativ-außerstaatlichen Bereich - nicht verzichtet werden 14

S. im einzelnen Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980 - 1983), 1988, S. 286 ff. 15 S. z. B. BVerfGE 9, 268 (279 f.). 16 Vgl. BVerfGE 49, 89 (120 ff.). 17 S. dazu näher Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR III, 1988, § 62 Rdnr. 41 ff.; ferner ders., DVB1. 1999, 1 (3 ff.), mit Hinweis auf das Umwelt- und Technikrecht, wo nach einem auf Jürgen Salzwedel zurückgehenden Gedanken offenbar eine „umgekehrte Wesentlichkeitstheorie" existiert, vgl. Wahl, VB1BW 1988, 387 (391). 18 Vgl. Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 1992, S. 228 ff. 19 BVerfGE 80, 1 (20); s. zum Bestimmtheitsgebot z. B. Lücke (Fn. 10), Art. 80 Rdnr. 21 ff.

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kann, sollten prozedurale Vorgaben demokratisch-rechtsstaatlicher Standards inhaltliche Richtigkeitgewähr bieten. 20 Auch wenn der Gesetzgeber auf diese Weise Terrain zurückgewinnen kann, so wird der Anwendungsbereich der Wesentlichkeitstheorie nie umfassend sein. So ist die Außenpolitik von Hause aus eine Domäne der Regierung. 21 In den Fällen der Übertragung von Hoheitsrechten - zur Weiterentwicklung der Europäischen Union gem. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG sowie im Anwendungsbereich des Art. 24 Abs. 1 GG - sowie bei der Zustimmung 22 zu völkerrechtlichen Verträgen gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ist freilich der Gesetzgeber gefordert und berufen. Die Vertragsaushandlungskompetenz und damit eine volle Sachmitwirkung steht ihm allerdings nicht zu. 23 Das BVerfG hat im Pershing Ii-Urteil ausdrücklich festgehalten, daß das Grundgesetz „weder einen Totalvorbehalt des Gesetzes noch eine Kompetenzregel" kennt, die den Inhalt hätte, „daß alle »objektiv wesentlichen4 Entscheidungen vom Gesetzgeber zu treffen wären". 24 Umgekehrt kann in exzeptionellen Situationen dem Parlament wegen der Tragweite für das Staatsganze eine ungeschriebene Mitwirkungskompetenz zuwachsen, wie dies hinsichtlich des Eintritts in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion der Fall war. 25 Schließlich bleibt anzumerken, daß die Wesentlichkeitstheorie keineswegs verbietet und offensichlich auch nicht verhindert, daß der Gesetzgeber sich Unwesentlichem widmet. Das führt zu dem hier nicht weiter zu vertiefenden Thema, das unter den Stichworten der Deregulierung bzw. einer Begrenzung der Gesetzesflut angesprochen wird.

4. Duale Parlamentsfunktionen

und Fraktionen

Neben der Gesetzgebung ist es Sache des Parlaments, die Regierung zu kontrollieren. Das Grundgesetz weist diese für eine lebendige Demokratie elementare Aufgabe dem Bundestag als Verfassungsorgan zu. Er verfügt - neben seinen Ausschüssen - z. B. über das Zitierrecht des Art. 43 Abs. 1 GG. Nach Art. 44 GG kann der Bundestag oder ein Viertel seiner Mitglieder einen Untersuchungsausschuß einsetzen. Freilich wird die Kontrollfunktion durch den Bundestag nicht „aus einer Hand" wahrgenommen. Der Antagonismus zwischen der Regierung und den sie tragenden Fraktionen auf der einen Seite und den Oppositionsfraktionen auf der 20

Dazu Schmidt-Preuß, in: Kloepfer (Hrsg.), Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich, 1998, S. 89 (96); ders., VVDStRL 56 (1997), 160 (205 f.). 21 Vgl. aber auch Wolfrum, VVDStRL 56 (1997), 38 (40 ff.). 22 Zur Funktion des Zustimmungsgesetzes Rojahn, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 2, 3. Aufl., 1995, Art. 59 Rdnr. 29 ff.; näher unter dem Aspekt der Wesentlichkeitstheorie Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, 2. Aufl., 1999, Art. 59 Rdnr. 26 f. 2 3 Vgl. BVerfGE 82, 316 (320 ff.). 2 4 BVerfGE 68, 1 (109). 2

5 BVerfGE 89, 155 (202 f.); dazu Kirchhof, Europa, 2. Aufl., 1996, S. 111 (112f.).

in: Waigel (Hrsg.), Unsere Zukunft heißt

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anderen Seite ist ein strukturprägender Faktor moderner Parteienstaatlichkeit. Hieraus ergibt sich innerhalb des Parlaments eine symptomatische funktionelle Dualität. Den Regierungsfraktionen kommt typischerweise eine die Regierung stützende, fördernde und verteidigende, den Oppositionsfraktionen eine sie kritisierende, in Frage stellende und bekämpfende Rolle zu. Dort geht es um Machterhalt, hier um Machterlangung. Kontrolle im unbedingten, streitbaren Sinne wird durch Opposositionsfraktionen ausgeübt, während für die Regierungsfraktionen eine durch Wohlwollen gekennzeichnete begleitende Kontrolle charakteristisch ist. 26 Organisatorisch ist die effektive Wahrnehmung dieser dualen Parlamentsfunktionen auf handlungsfähige Fraktionen angewiesen. Sie sind es, die jede für sich ein eigenes Handlungs- und Gestaltungsmandat ausüben. Dem entspricht es, daß ihnen das BVerfG die Antragsbefugnis im Organstreit nicht nur im Blick auf Rechte des Gesamtparlaments, sondern auch zur Geltendmachung eigener, in der Verfassung verankerter Rechte zuerkannt hat. 27 Insgesamt kommt den Fraktionen damit eine ungleich gewichtigere Rolle zu, als es die beiläufige Erwähnung im Grundgesetz (Art. 53 a Abs. 1 Satz 2 GG) erahnen ließe. Immerhin hat der Gesetzgeber den Fraktionen in den §§ 45 ff. AbgG 28 jedenfalls ein Stück weit Aufmerksamkeit geschenkt. Nach § 47 Abs. 1 AbgG wirken sie „an der Erfüllung der Aufgaben des Deutschen Bundestages" mit. 2 9 Dies stellt im Kern auch eine zutreffende verfassungsrechtliche Standortbestimmung dar. Ihre Tätigkeit üben die Fraktionen innerhalb des Verfassungsorgans „Bundestag" aus. Sie sind daher nicht nur „maßgebliche Faktoren der politischen Willensbildung". 30 Vielmehr können sie durchaus als Teilorgan des Bundestages bezeichnet werden. Die dem Gesamtorgan gestellten Aufgaben werden durch die Fraktionen - in funktioneller Dualität - erfüllt. Damit unterscheidet sich der Status der Fraktionen von dem der politischen Parteien. Aus ihnen rekrutieren sich zwar die Volksvertreter. Doch billigt Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG den Parteien nur eine Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes zu. Staatliches Organhandeln ist damit in keiner Weise verbunden. Das gilt für die Vorbereitung und Durchführung von Wahlkämpfen ebenso wie für die auch dazwischen stattfindende, flächendeckende und dauerhafte Einwirkung auf die Bildung der politischen Meinung. In diesem Sinne nehmen die Parteien eine öffentliche Aufgabe wahr, nicht aber eine staatliche.31 Ihr rechtlicher Status bleibt dem gesellschaftlichen Bereich verhaftet. 32 Die Staatsfreiheit der Parteien ist verfas26 S. hierzu auch J. J. Hesse/Ellwein (Fn. 1), S. 261, die im Hinblick auf „Regierung und Mehrheit" treffend von einer „Erfolgsgemeinschaft" sprechen und insoweit die „interne Kontrolle" hervorheben. 27 S. BVerfGE 70, 324 (351). 28 Vgl. dazu Schmidt-Jortzig/Hansen, NVwZ 1994, 1145 ff.; Morlok, NJW 1995, 29 ff. 29 S. auch §§ 10 -12 GOBT. 30 BVerfGE 80, 188 (219).

31 Zu diesen Kategorien Hans Peters, in: FS f. Nipperdey, Bd. II, 1965, S. 877 (878 f.). 32 BVerfGE 85, 264 (287); s. bereits E 20, 56 (101); vgl. auch Grimm, in: Benda/Maihofer/Vögel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., 1994, § 14 Rdnr. 54 ff.; krit.

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sungsrechtliches Gebot. Dem entspricht es u. a., daß nur eine staatliche Teilfinanzierung der Parteien - mit strikten Limitierungen - in Betracht kommt. 33 Die funktionelle Dualität des Parlaments und die Qualifizierung der Fraktionen als Teilorgane des Bundestages haben Konsequenzen für das Verständnis des Gewaltenteilungsprinzips (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Exekutive, Legislative und Judikative stehen sich prinzipiell - wenn auch im parlamentarischen Regierungssystem keineswegs absolut - getrennt gegenüber, um durch Kontrolle und Balance die Ausübung politischer Macht zu kanalisieren und zu rationalisieren. Dieses Fundamentalpostulat erfährt durch die Dualität der Parlamentsfunktionen eine neue Dimension.34 Die vom Grundgesetz gewollte Schnittlinie zwischen Exekutive und Legislative separiert nicht in erster Linie Regierung und Parlament, sondern Regierung und Regierungsfraktionen auf der einen sowie Oppositionsfraktionen auf der anderen Seite. 5. Opposition Erkennt man die Teilorganqualität der Fraktionen an, rückt auch die Rolle der Opposition stärker als bisher in das Blickfeld. Demokratie bedeutet die Chance der Minderheit, zur Mehrheit zu werden? 5 Kritik, Kontrolle und Kampf um die Macht sind ihre Kennzeichen. Dem politischen Prozeß liegt damit ein Konkurrenzmodell 36 zugrunde. Die Parteien stehen im Wettbewerb um Wählerstimmen und damit um die Macht im Staat. Innerhalb des Verfassungsorgans Bundestag stehen sie sich als Regierungs- und Oppositionsfraktionen gegenüber. Ohne wirksame Opposition37 bliebe Demokratie auf Dauer ohne Vitalität und Wirkkraft. Der WahlOpposition ist damit akt legitimiert nur zur Herrschaft auf Zeit. Eine effektive Grundbedingung für die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems.38 Das setzt voraus, daß die Oppositionsfraktionen nicht nur über das zur Anerkennung der Parteien als andere Beteiligte i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG (z. B. BVerfGE 82, 322 [335 f.]) Maurer, JuS 1991, 881 (888). 33 Vgl. BVerfGE 85, 264 (285 ff.); s. nunmehr §§ 18 ff. PartG. 34 Vgl. Grimm (Fn. 32), § 14 Rdnr. 66; H.-P. Schneider/Zeh, in: Dies. (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 48 Rdnr. 14ff., 22; J.J. Hesse/Ellwein (Fn. 1), S. 261. 35 BVerfGE 44, 125 (142); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rdnr. 156. 36 Vgl. hierzu Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, 1968, insbes. S. 3 ff., 75 ff.; dazu M. G. Schmidt, Demokratietheorien, 1995, S. 138 ff.; vgl. darüber hinaus Tullock, On Voting. A Public Choice Approach, 1998, insbes. S. 55 ff. 37 Zur Definition der Opposition nach Art. 48 Abs. 1 VerfSachsAnh s. VerfG SachsenAnhalt, LKV 1998, 101 (102 ff.) mit Anm. von Canzik S. 95 ff. 38 Vgl. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl., 1996, E 19; Stern (Fn. 1), S. 989; H.-P. Schneider (Fn. 1), § 13 Rdnr. 98 ff. Zur Erörterung der Aufnahme einer „Oppositionsregelung" in das GG s. den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drcks. 12/6000, S. 89 f. Der seinerzeitige Antrag erhielt mit 20 Ja- und 17 Nein-Stimmen bei 3 Enthaltungen nicht die erforderliche 2/3-Mehrheit.

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geeignete rechtliche Instrumentarium für wirksame Kritik und Kontrolle verfügen. Hier bieten Grundgesetz und Geschäftsordnung des Bundestages ein reichhaltiges Angebot. Vielmehr bedarf es auch hinreichender sachlicher und personeller Kapazitäten, um der Regierung mit Alternativen und Aussicht auf Gehör entgegentreten zu können. Dies bedingt nicht zuletzt auch eine adäquate Mittelausstattung. Wenn vielfach von der Überlegenheit der Exekutive gegenüber dem Parlament die Rede ist, 39 dann bedarf dies der Präzisierung. Unterlegen sind namentlich die Oppositionsfraktionen als verfassungsrechtlich ausgewiesene Teilorgane des Bundestages. Den Regierungsfraktionen steht dagegen der Zugang zu den Ressourcen der Exekutive offen. Von daher stellt der in § 50 Abs. 2 Satz 1 und 2 AbgG vorgesehene sog. Oppositionszuschlag nicht nur eine sachlich begründete, sondern auch verfassungsrechtlich gebotene, aufgabenorientierte Kompensation dar. Die Bedeutung der Opposition und der „Grundsatz der gleichen Wettbewerbschancen"40 legen es nahe, die Höhe der Zuwendungen in angemessenen Abständen zu überprüfen. 41

II. Die Bundesregierung als Leitungsorgan 1. Regierung und „ operatives " Handeln Wenn nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG die Staatsgewalt u. a. „durch besondere Organe ... der vollziehenden Gewalt" ausgeübt wird, dann umschließt dies sowohl die Regierung als auch die Verwaltung. Die Abgrenzung beider Bereiche ist Gegenstand vielfältiger Definitionsversuche. 42 Insgesamt dürfte in der Bindung an fremdbestimmte Zwecke das Kriterium liegen, das für die Verwaltung typischerweise kennzeichnend ist, nicht aber für die politisch agierende Regierung. Auch sie ist zwar an „Gesetz und Recht" gebunden und insofern nicht völlig frei. Sie kann aber nach selbstbestimmter politischer Zielsetzung die Änderung der Gesetze (mit)bewirken, an die sodann die Verwaltung gebunden ist. Die Bundesregierung 43 ist das Leitungsorgan. Ihre Tätigkeit ist operativer Natur, d. h. aktionsorientiertes, auf Verwirklichung selbstgesetzter politischer Zwecke gerichtetes Handeln. Regierung bedeutet politische Führung auf höchster Ebene so39 Vgl. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier/Hofmann (Hrsg.), Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, 1986, S. 71 (82). 40 BVerfGE 14, 121 (132).

41 Nach § 50 Abs. 2 Satz 3 AbgG erstattet der Präsident dem Deutschen Bundestag im Benehmen mit dem Ältestenrat jeweils bis zum 30. September einen Bericht über die Angemessenheit u. a. des Oppositionszuschlags und legt zugleich einen Anpassungsvorschlag vor; krit. zu Fraktionsfinanzierung von Arnim, in: FS f. Friauf, 1996, S. 261 (270 f.). Im einzelnen zum Personal der Fraktionen Jekewitz, ZParl 1995, S. 395 (399 ff.); zu den sachlichen Aufwendungen Schmidt-Jortzig/Hansen, NVwZ 1994, 1145 (1148). 42 Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungrecht, 11. Aufl., 1997, § 1 Rdnr. 7 f.; Woljf/ Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Aufl., 1994, § 2 Rdnr. 1 ff. 43 Zur Regierungsfunktion s. BVerfGE 9, 268 (281).

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wie verantwortliche Leitung der Staatsgeschäfte nach innen und nach außen. Das bezieht sich auf vielfältigste Aktionsfelder. Die Realisierung und Konkretisierung des typischerweise in der Regierungserklärung eines Bundeskanzlers umrissenen Aufgabenkatalogs für die bevorstehende Legislaturperiode vollzieht sich weithin - wenn auch keineswegs ausschließlich - in den Formen der Gesetzgebung. Insoweit ist zwar der Bundestag - wie dargelegt - als Verfassungsorgan zuständig. Die Regierung vermag aber den Gesetzgebungsprozeß zu initiieren und zu begleiten, d. h. aktiv auf ihn einzuwirken. Dies geschieht nicht nur im Wege der schon erwähnten legislativen Serviceleistungen. Wenn „die starke Stellung der Regierung" 44 gegenüber dem Parlament in der Verfügbarkeit personeller und sachlicher Ressourcen liegt und die - in der Parlamentsreformdiskussion oft geforderte - verbesserte Ausstattung der Abgeordneten mit Stäben schon auf Grund leerer Kassen Zukunftsmusik bleibt, dann bietet es sich geradezu an, der Regierung auch eine Rolle als „Dienstleister" für das Parlament zuzuweisen. Die Vermittlung ihrer Sachpolitik ist eine legitime Aufgabe der Regierung in der Mediendemokratie. Auf diese Weise wirkt sie auf die Willensbildung des Volkes ein und nimmt Einfluß auf den politischen Prozeß. Als Verfassungsorgan muß sie aber insbesondere das Gebot der Neutralität wahren. Das setzt der Öffentlichkeitsarbeit Grenzen. 45 2. Die Verantwortlichkeit

der Regierung

Die Bundesregierung ist dem Parlament verantwortlich, von dem es ihre - mittelbare - demokratische Legitimation bezieht.46 Das demokratische Kernpostulat, daß die Minderheit die Chance haben muß, zur Mehrheit zu werden, 47 spiegelt sich im Ringen zwischen Regierung und Regierungsfraktionen einerseits sowie Oppositionsfraktionen andererseits wider. Funktionelle Dualität bedeutet hier: Die Bundesregierung ist nicht auf das Parlament als Gesamtorgan, sondern auf die sie tragenden Fraktionen angewiesen. Darin manifestiert sich die für die Parteiendemokratie charakteristische Dualität 4 8 Der durch die Fraktionen vermittelte existentielle VerantwortungsLegitimationsund Machterhaltungszusammenhang tritt in unterschiedlicher Intensität in Erscheinung. Höchste Wirksamkeit entfaltet er, wenn es um akute, womöglich krisenhaft zugespitzte Streitfragen geht und die Sicherung der Regierungsmehrheit in Frage steht. Außerhalb derartiger Konstellationen ist die Abhängigkeit der Regierung von den Koalitionsfraktionen eher latenter Natur. Freilich bedarf es auch dann immer der Überzeugungsarbeit und des politischen Werbens: Es würde einer Regierung nicht gut bekommen, sich der 44 BVerfGE 67, 100 (130). 45 BVerfGE 44, 125 (148 ff.). 46 Vgl. Schröder (Fn. 5), § 51 Rdnr. 49 ff. sowie oben 1.2. 47 S. o. Fn. 35. 48 BVerfGE 44, 125 (154): „der sie tragenden Partei oder Parteien4', „Parteienkoalition".

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Zustimmung ihrer Fraktionen zu sicher zu sein. Diese werden ihrerseits darauf bedacht sein, trotz möglicherweise interner Differenzen die Regierung bei Abstimmungen zu stützen.

3. Die Richtlinienkompetenz

des Bundeskanzlers

Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern (Art. 62 GG). Diese leiten ihre Ressorts in eigener Verantwortung. Dem Bundeskanzler steht die Richtlinienkompetenz 49 zu (Art. 65 Satz 1 GG). Ihr unterliegen alle Fragen, die grundlegende Bedeutung für das Gemeinwesen haben. Die Bestimmung im einzelnen kann schwierig sein. Letztlich ist eine Beurteilungsermächtigung des Bundeskanzlers anzuerkennen. Allerdings darf die Richtlinienkompetenz im politischen Alltag nicht überschätzt werden. Sie ist nur so viel wert, wie der Kanzler stark ist, dem sie zusteht. Dabei können Risiken aus zweierlei Richtung drohen. Zum einen kann die eigene Partei dem Bundeskanzler die Gefolgschaft verweigern, wie dies - aus ganz unterschiedlichen Gründen - in der Vergangenheit die Beispiele Ludwig Erhards einerseits, Helmut Schmidts andererseits zeigen. Um für den existenznotwendigen Rückhalt zu sorgen, ist jeder Bundeskanzler gut beraten, das Verhältnis zur Fraktion und Partei zu pflegen. Daß Wahlerfolge Klima und Akzeptanz befördern und damit die Stellung des Kanzlers stärken, liegt auf der Hand. Ist die Position des Bundeskanzlers in Fraktion und Partei dagegen erst einmal geschwächt oder gar irreparabel in Frage gestellt, kann die Richtlinienkompetenz dieses Defizit nicht ausgleichen. Zum zweiten hängen die Stellung des Bundeskanzlers und die politische Gestaltungsmacht der Bundesregierung insgesamt in entscheidendem Maße vom Einvernehmen der Koalitionsparteien ab. Kommt es hier zu Störungen, wird sich schnell erweisen, daß die Richtlinienkompetenz im echten Konfliktfall politisch nutzlos ist.

I I I . Aspekte der Koalitionsregierung 1. Die Notwendigkeit

von Koalitionen

Die Bundesregierung ist das Verfassungsorgan mit der Kompetenz zur politischen Führung. Das Maß ihrer Handlungsautonomie hängt in praxi freilich entscheidend von der inneren Stabilität der sie tragenden Koalition ab. Eine solche ist - gängigem Sprachgebrauch folgend - ein Zweckbündnis auf Zeit. Damit klingt der instrumentelle, auf Absicherung einer handlungsfähigen Regierung gerichtete Kompromißcharakter einer solchen parteipolitischen Kooperation an. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es - von wenigen kurzfristigen Aus49 S. dazu Maurer, in: FS f. Thieme, 1993, S. 123 (127 ff.); Oldiges, Die Bundesregierung als Kollegium, 1983, S. 452 ff.

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nahmen wie der SPD-Minderheitsregierung im Herbst 1982 - stets Koalitionsregierungen gegeben.50 Dies gilt namentlich auch für die 3. Legislaturperiode, obgleich das damalige Wahlergebnis eine komfortable Alleinregierung zugelassen hätte. Daß sich Koalitionen bislang praktisch als politische Notwendigkeit erwiesen haben und dies wohl auch auf absehbare Zeit so bleiben wird, ist eine Konsequenz des Wahlrechts. Es hat trotz seines personalisierten Einschlags den Charakter eines - durch die 5 %-Klausel gemilderten - Verhältniswahlrechts. Dieses Wahlsystem, das auf politischer Ebene nur zwischen 1966 und 1969 während der damaligen Großen Koalition Gegenstand von Änderungsüberlegungen einer Regierung war, strebt eine den Stimmenanteilen möglichst nahe kommende Repräsentanz im Parlament 51 an und macht Koalitionen praktisch unausweichlich.52

2. Koalitionsvereinbarungen Rechtliche Grundlage einer Koalitionsregierung ist die Koalitionsvereinbarung oder der Koalitionsvertrag. Für die rechtliche Qualifizierung ist die Bezeichnung ohne Belang. In der Sache geht es um das gegenseitige Versprechen, jeweils die vereinbarten politischen Ziele zu realisieren. Die Bindung der Partner ist gewollt. Da eine stabile Grundlage der politischen Zusammenarbeit „strikt" verabredet wird, kann von einem hinreichenden Rechtsbindungswillen ausgegangen werden. Daß die Vereinbarungen zwischen Privatrechtssubjekten - Parteien sind als rechtsfähige oder nicht-rechtsfähige Vereine organisiert - geschlossen werden, steht der Annahme eines öffentlich-rechtlichen Vertrages nicht entgegen. Der verfassungsrechtliche Charakter ergibt sich daraus, daß auf gestalterisches Handeln von Verfassungsorganen abgezielt wird, und aus Art. 21 Abs. 1 GG, da es sich um Vereinbarungen zwischen politischen Parteien handelt.53 Nach allem sind KoalitionsverVerträge zu qualifizieren. 54 Freilich ist der einbarungen als verfassungsrechtliche 50 Vgl. vor allem unter dem Aspekt der „Koalitionsveränderungen" Jesse, ZParl 3/98, S. 460 (461 ff.). 51 Dazu BVerfGE 1, 208 (248). 52 Zum Zusammenhang zwischen Verhältniswahl und Regierungsbildung s. den seinerzeitigen Bericht der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Wahlrechtskommission „Grundlagen eines deutschen Wahlrechts", 1955, S. 97 f. 53 Richtig im Ausgangspunkt BGHZ 29, 187 (190), jedoch nicht konsequent S. 192; dazu von Münch, Rechtliche und politische Probleme von Koalitionsregierungen, 1993, S. 9 f. Der Verwaltungsrechtsweg (§ 40 Abs. 1 VwGO) ist nicht eröffnet, vgl. Kopp /Schenke, VwGO, 11. Aufl., 1998, §40Rdnr.36. 54 So von Münch (Fn. 53), S. 29 f.; Zuck, ZRP 1998, 457 (458); Friauf, AöR 88 (1963), 257 (308); Sasse, JZ 1961, 719 (726); Meyn, in: von Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 3. Aufl., 1995, Art. 65 Rdnr. 6; dagegen für bloße politische Absichtserklärung Schule, Koalitionsvereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts, 1964, S. 52ff.; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 63 Rdnr. 10 ff.; Häberle, ZfP 1963, 293 (296); Schulze-Fielitz, JA 1992, 332 (334f.); Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 63 Rdnr. 21 ff.; Hermes, in: H. Dreier, GG, Bd. II, 1998, Art. 63 Rdnr. 15.

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Matthias Schmidt-Preuß

Koalitionsvertrag rechtlich nicht durchsetzbar. 55 Er ist eine Naturalobligation. Das heißt aber nicht, daß er rechtlich bindungslos wäre. So darf eine Koalitionsvereinbarung nicht gegen Gesetz und Recht - namentlich das Grundgesetz - verstoßen. Dies wäre z. B. dann der Fall, wenn die regelmäßige Teilnahme einzelner, nicht zum Kreis der Minister gehörender Personen an den Kabinettsitzungen vereinbart würde. Eine solche Bestimmung verstieße gegen Art. 62 GG und wäre nichtig. 56 Auch sach-inhaltlich muß sich eine Koalitionsvereinbarung am Recht messen lassen. 3. Koalitionsgespräch

bzw. Koalitionsrunde

Koalitionsregierungen sind dadurch gekennzeichnet, daß wichtige Entscheidungen auf höchster Ebene zwischen den Spitzenvertretern der Koalitionsregierungen, -fraktionen bzw. -parteien abgesprochen werden. 51 Hierfür wird ein unterschiedlich ausgestalteter institutionalisierter Rahmen vorgesehen. Dazu diente unter der Regierung Kohl das sog. Koalitionsgespräch, während seit Ende 1998 - wie zu Zeiten der Großen Koalition - ein sog. Koalitionsausschuß eingerichtet ist. Der Vorwurf, durch Festlegungen in diesen Koalitionsgremien und -runden würden die Entscheidungen in den verfassungsrechtlich berufenen Organen präjudiziert und entwertet, ist vor einiger Zeit erneut erhoben worden. 58 Das damit verfolgte Anliegen, die volle Entscheidungsfreiheit staatlicher Beschlußgremien zu sichern, verdient uneingeschränkte Unterstützung. Freilich muß auch folgender Befund zur Kenntnis genommen werden: Im Grundgesetz findet sich - über die Grundprinzipien hinaus - keine verbindliche Aussage zum Wahlrecht. Damit deckt es auch das jetzige, die Notwendigkeit von Koalitionen bedingende personalisierte Verhältniswahlrecht ab. Dann aber sind auch Koalitionsabsprachen - soweit sie praktisch-organisatorisch für die Bildung der Regierung und die Abklärung der laufenden Regierungsarbeit notwendig sind - verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Unter diesem Vorzeichen kann man von einer impliziten, in der Logik der Parteiendemokratie 59 liegenden 55 s. von Münch (Fn. 53), S. 30; Stern (Fn. 1), S. 986. 56 Zulässig ist dagegen die Regelung über die Teilnahme an Kabinettsitzungen in § 23 GOBReg. 57 Vgl. die empirischen Hinweise bei Schreckenberger, ZParl 3/1994, S. 329 (330 ff.); Manow, ZParl 1 /1996, S. 96 (100 ff.); von Münch (Fn. 53), S. 15 ff.; Fromme, in: FS f. Heimlich, 1994, S. 501 (504 ff.); Schmidt-Preuß, Die Verwaltung 21 (1988), 199 (216). 58 S. äußerst kritisch zur Praxis der Koalitionsgespräche in der Zeit der Regierung Kohl Schreckenberger, ZParl 3/1994, S. 329 (333 ff., 339 ff.), der von einer „Schwächung des Bundeskabinetts" (S. 340) spricht, die Gewaltenteilung gefährdet sieht (S. 341 f.) und betont, daß die „Konzentration von Regierungs-, Fraktions- und Parteimacht faktisch den Prozeß der unabhängigen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung der zuständigen verfassungsmäßigen Organe wie Regierung und Koalitionsfraktionen erheblich behindern oder gar einschränken" könnte (S. 342 f.). 59 Vgl. Grimm (Fn. 32), 2. Aufl., 1994, § 14 Rdnr. 24 ff., mit Kritik an parteienstaatlichen Grundthesen von Leibholz, in: Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1958, S. 78 (102 ff.).

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Billigung der Koalitionsgespräche bzw. -runden durch das Grundgesetz sprechen. Eine Grenze wäre erst dann erreicht, wenn Sach- und Personalentscheidungen praktisch autoritativen Charakter hätten. Dem stünde einerseits die Letztentscheidungskompetenz von Bundestag und Bundesregierung als berufenen Verfassungsorganen, andererseits das freie Mandat der die Regierungsfraktionen bildenden Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) entgegen. Der Bestand der Koalition wird regelmäßig von der Bereitschaft des einzelnen Abgeordneten zur Fraktionsdisziplin abhängen. Ein solcher Binnendruck gehört allerdings prinzipiell zur politischen Normalität. Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist er nicht. 60 Erst der förmlich sanktionierte Fraktionszwang wäre unzulässig.61 Auch von dieser Warte lassen sich also Koalitionsgespräch bzw. Koalitionsrunde mit dem Grundgesetz vereinbaren. 62

IV. Politische Gestaltungsoptionen der Regierung im gesellschaftlichen Raum 1. Substitutive kollektive

Eigenvornahme und Kooperationsarrangements

Im Zuge der Entwicklung in den letzten Jahren hat die Regierungspraxis zunehmend Gestaltungsoptionen im gesellschaftlichen Raum genutzt. Damit sind Abstimmungen mit potentiellen Normadressaten gemeint, die vor Erlaß imperativsteuernder Regelungen die Gelegenheit zu eigenverantwortlich-selbstregulativer Aufgabenerledigung erhalten sollen. Insoweit kann von substitutiver kollektiver Eigenvornahme 63 gesprochen werden. Als Beispiel seien die Selbstbeschränkungsvereinbarungen genannt, in denen die Industrie „zugesagt" hat, die von der Bundesregierung als Klimaschutzziel festgelegte Reduzierung der C02-Emissionen um 25 % bis 2005 bezogen auf 1995 zu erreichen. Hiervon zu unterscheiden ist eine neue Dimension von „synallagmatischen" Kooperationsarrangements, in denen nicht nur Unternehmen gegenüber der Regierung „ Verpflichtungen " eingehen, sondern umgekehrt auch die Regierung den Unternehmen ein Tun oder Unterlassen „zusagtBeispiele hierfür sind das derzeit angestrebte Bündnis für Arbeit 64 und die sog. Energiekonsensgespräche 65. 60 Vgl. BVerfGE 10, 4 (14); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 4. Aufl., 1997, Art. 38 Rdnr. 28; H. H Klein, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HdbStR II, 1987, § 41 Rdnr. 16; Magiern, in: Sachs (Hrsg.), GG, 2. Aufl., 1999, Art. 38 Rdnr. 50; J. J. Hesse/Ellwein (Fn. 1), S. 281 (aus „innerer Notwendigkeit" begründbar); Schütt-Wetschky, APuZ 1991, B 21 - 22, S. 15 (19 ff.); a.A. Achterberg/Schulte, von Mangoldt / Klein, GG, 1991, Art. 38 Rdnr. 41. 61 Vgl. Magiera (Fn. 60), Art. 38 Rdnr. 50; abwägend Kirchhof, (Hrsg.), HdbStR IX, 1997, § 221 Rdnr. 55. 62 Vgl. Schmidt-Preuß, Die Verwaltung 21 (1988), 199 (216 f.).

in: Isensee/Kirchhof

63 Hierzu und zum folgenden Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (217 ff.). 64 Vgl. das Ergebnis der Auftaktrunde vom 7. 12. 1998, abgedruckt in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Sozialpolitische Umschau, Nr. 423 vom 14. 12. 1998, S. 3 ff.

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2. Rechtliche Grenzen kooperativer

Gestaltungsoptionen der Regierung

Die Nutzbarmachung kooperativer Gestaltungsoptionen im gesellschaftlichen Bereich liegt im Interesse einer auf Selbstregulierung und Eigenverantwortung der privaten Akteure setzenden Politik 66 Einer solchen konsensorientierten Bewirkungsstrategie sind rechtliche Grenzen gesetzt. Der Staat muß sich seines demokratisch-rechtsstaatlichen Steuerungs- und Gestaltungsmandats bewußt sein. Er darf sich nicht organisierten Partikularinteressen oder korporatistischer Gruppenteilhabe ausliefern. So kann z. B. die Bundesregierung auf eine Gesetzesinitiative verzichten, um selbstregulative Eigenbeiträge privater Unternehmen im Interesse des Gemeinwohls zu induzieren. Was Regierung und Regierungsfraktionen aber verfassungsrechtlich verschlossen bleibt, ist die rechtlich sanktionierte Überantwortung ihrer Gestaltungsprärogative und Leitungsverantwortung an private Akteure. Die demokratische Legitimation und rechtsstaatliche Verpflichtung dieser Verfassungsorgane weisen ihnen ein unverzichtbares Steuerungs- und Gestaltungsmandat zu, das sie zum Wohl des Ganzen auszuüben haben. Ihrer Letztentscheidungsverantwortung dürfen sie sich nicht begeben. Dies schließt förmliche Normverzichtverträge aus.61 Daher können sich Bundesregierung bzw. Regierungsfraktionen weder direkt noch mittelbar wirksam zum Verzicht auf die Einbringung von Gesetzentwürfen bzw. die Verabschiedung von Gesetzen verpflichten. Dabei fällt zusätzlich unter dem Aspekt der Organkompetenz ins Gewicht, daß der Bundestag als berufener Gesetzgeber gar nicht an Gesprächsrunden etc. beteiligt ist. Soweit es dagegen nicht zu förmlichen Verabredungen mit Rechtsbindungswillen kommt, sondern nur politische Absichtserklärungen getroffen werden, können gegen - nicht einklagbare - „ Z u s a g e n " im Rahmen von Kooperationsarrangements. keine Bedenken erhoben werden. Kooperationsabreden müssen Gesetz und Recht beachten. So ist z. B. die Tarifautonomie von Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos gewährleistet. 68 Die Festlegung verbindlicher Lohnleitlinien ist dem Staat auch im Rahmen eines Kooperationsarrangements nach dem Vorbild des Bündnisses für Arbeit verschlossen. Schon bei der Konzertierten Aktion war dieses Kernstück der Koalitionsfreiheit unantastbar. Selbst ein - kaum zu erwartender - freiwilliger Verzicht auf Lohn65

Die Energiekonsensgespräche von 1993 unterschieden sich von den 1999 begonnenen im Hinblick auf die Zusammensetzung - damals nahmen Vertreter der politischen Parteien, der Energieversorgungswirtschaft, der Industrie und der Gewerkschaften sowie einige Umweltverbände teil - und den inhaltlichen Ansatz, vgl. insoweit Hohlefelder, trend, IV. Quartal '93, S. 26 ff.; Schmidt-Preuß, NJW 1995,985 ff. 66 S. hierzu und zum folgenden Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (217 ff.). 67 Vgl. Oebbecke, DVB1. 1986, 793 (795); Hoppe/Beckmann, Umweltrecht, 1989, § 9 Rdnr. 32, 33; Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 160 (218) mit Fn. 219. 68 Vgl. BVerfGE 84, 212 (229); Bauer, in: H. Dreier (Hrsg.), GG, 1996, Art. 9 Rdnr. 78 und 94; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 Rdnr. 276; Badura, AöR 104 (1979), S. 246 (257 ff.); Schmidt-Preuß, Verfassungsrechtliche Zentralfragen staatlicher Lohn- und Preisdirigismen, 1977, S. 183 ff.

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erhöhungen würde an der verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit einer entsprechenden Vereinbarung nichts ändern, weil die Tarifautonomie unverzichtbar ist. 69 Im übrigen steht auch hier das demokratisch-rechtsstaatliche Steuerungsmandat des Staates der Einführung korporatistischer Entscheidungsstrukturen entgegen.70 Gesprächsrunden und Kontakte zwischen Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften sind dadurch selbstverständlich in keiner Weise ausgeschlossen. Bei Einhaltung dieser Grenzen hat die Regierung in prozeduraler Hinsicht Spielraum, der nur durch den Gleichheitssatz begrenzt ist. So ist die Bestimmung der Teilnehmer an Gesprächszirkeln oder runden Tischen zunächst in das Ermessen der Regierung gestellt. Bei der Auswahlentscheidung muß sie sich von sachgerechten Erwägungen leiten lassen. Ein Anspruch etwa von Naturschutzverbänden auf Beteiligung an den Konsensgesprächen besteht nicht.

V. Restriktionen nationaler Gestaltungspotentiale auf europäischer Ebene 1. Vorgaben des EU-Rechts Die politische Gestaltungsautonomie des Staates sieht sich Restriktionen einer ganz anderen Qualität ausgesetzt, wenn man das EU-rechtliche 71 Umfeld in den Blick nimmt. Schätzungsweise 70 - 80 % aller Bundesgesetze oder -Verordnungen sind inzwischen direkt oder indirekt durch Gemeinschaftsrecht veranlaßt. Die Tätigkeit von Bundesregierung und Bundestag unterliegt damit einer Europäisierung, die tiefgreifender und rasanter kaum sein könnte. 72 Während die unmittelbar in den Mitgliedstaaten geltende Verordnung (Art. 249 Abs. 2 [= ex-Art. 189 Abs. 2] EGV) die nationale Gesetzgebung ganz verdrängt, beschränkt die Richtlinie die Mitgliedstaaten auf den Nachvollzug dessen, was der Rat und - soweit das Mitentscheidungsverfahren des Art. 251 (= ex-Art. 189 b) EGV gilt - das Europäische Parlament vorgegeben haben. Die Richtlinie bedarf der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten. Sie ist für diese „hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich, überläßt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel" (Art. 249 Abs. 3 [= ex-Art. 189 Abs. 3] EGV). Dabei kann die Richtlinie auch einen detaillierten, ggf. keiner Ausgestaltung mehr fähigen Inhalt aufweisen. 73 69 Vgl. Schmidt-Preuß (Fn. 68), S. 222. 70 Ibid. S. 221 f. 71 Zur notwendigen Unterscheidung zwischen der supranationalen Ebene der drei Gemeinschaften einerseits und der rein intergouvernemental-völkerrechtlichen Ebene der zweiten und dritten Säule andererseits s. Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, 2. Aufl., 1998, Rdnr. 93 ff.; Streinz, EuZW 1998, 137 (139f.). 72 Vgl. Gusy, DVB1. 1998, 917 (921); Schmidt-Preuß, Die Verwaltung, 21 (1988), 199 (212ff.); J. J. Hesse/Ellwein (Fn. 1), S. 112ff. 73 Krit. zu dieser Praxis Geiger, EGV, 2. Aufl., 1995, Art. 189 Rdnr. 10.

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Überdies ist auch das „Wie" der Umsetzung nicht in das Belieben der Mitgliedstaaten gestellt. So hat es der EuGH 74 der Bundesrepublik Deutschland verwehrt, sich der Verwaltungsvorschriften zu bedienen, da sie der Richtlinie „nicht mit unbestreitbarer Verbindlichkeit" und der unter dem Aspekt der Rechtssicherheit notwendigen „Konkretheit, Bestimmheit und Klarheit" Geltung verschaffe. Daß Mitgliedstaaten gut daran tun, Richtlinien umzusetzen, wird zum ersten durch sonst drohende Vertragsverletzungsverfahren, zum zweiten durch die Rechtsprechung des EuGH 75 zur unmittelbaren Wirkung nicht, nicht hinreichend oder nicht fristgerecht umgesetzter Richtlinien und zum dritten durch den im FrancovichUrteil 76 des EuGH begründeten kompensatorischen Staatshaftungsanspruch gegen säumige Mitgliedstaaten belegt. Sogar in der dritten Säule der Europäischen Union - die wie die zweiten nicht „vergemeinschaftet" ist, sondern intergouvernementalen Charakter hat - klingt das Anliegen einer Verschiebung der Gestaltungskompetenz weg vom nationalen Gesetzgeber an. So kann der Rat gem. Art. 34 Abs. 2 UAbs. 1 b) EUV (Amsterdam) nunmehr sog. Rahmenbeschlüsse zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten annehmen. Sie sind für diese „verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel". Trotz dieses in „trügerischer Weise" 77 der gemeinschaftsrechtlichen Definition der Richtlinie ähnelnden Wortlauts haben Rahmenbeschlüsse ausschließlich völkerrechtlichen Charakter. Im übrigen hat die Zuerkennung von Gemeinschaftskompetenzen auf einer Reihe zentraler Sektoren zu einer Verlagerung der Gestaltungsprärogative weg von der mitgliedstaatlichen Exekutive und hin zur - insoweit mit administrativ-operativen Zuständigkeiten versehenen - Kommission geführt. Dies betrifft insbesondere die AußenhandelsBeihilfen- sowie Wettbewerbspolitik (Art. 133 [ex-Art. 113], 81 f. [= ex-Art. 85 f.] bzw. Art. 87 f. [= ex-Art. 92 f.] EGV). Noch breitflächiger ist - seit 1958 - der Politiktransfer im Bereich des Agrarmarkts (Art. 32 ff. [= ex-Art. 38 ff.] EGV). Auf dem ganz anderen Gebiet des Währungswesens ist die nationale Zuständigkeit im Zuge der Wirtschafts- und Währungsunion auf die Gemeinschaft übergegangen (Art. 105 ff. EGV). In der Bilanz politischer Gestaltungsmacht führt dies allerdings auf Seiten der deutschen Regierung zu keinem nennenswerten Sollposten, da die Bundesbank immer schon die - jetzt der Europäischen Zentralbank zugute kommende - Unabhängigkeit genoß. Wo im übrigen die Handlungsfelder im nationalen Kompetenzbereich verbleiben, sind die materiellen Restriktionen zu beachten, die aus den Verträgen erwachsen. So hat sich - um nur ein Beispiel zu nennen - Art. 28 (ex-Art. 30) EGV mit 74 75 76 77

EuGH, Slg. 1991,1-2567 Tz. 21. Vgl. z. B. EuGH, Slg. 1982, 53 Tz. 21 ff. EuGH, Slg. 1991,1-5357 Tz. 33 ff. Koenig/Haratsch, Europarecht, 2. Aufl., 1998, Rdnr. 663.

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seiner Garantie des freien Warenverkehrs als eine deutlich spürbare Eingrenzung der Gestaltungsfreiheit des nationalen Gesetzgebers erwiesen. 78

2. Konsequenzen der Europäisierung für die mitgliedstaatliche Politikgestaltung Wenn die Gesetzgebung zu einem so bedeutenden Teil durch Richtlinien des Rates (und ggf. des Europäischen Parlaments) vorgeformt bzw. determiniert wird, dann führt dies konsequenterweise dazu, daß die Mitgliedstaaten auf der höheren „europäischen" Ebene ihre nationalen Interessen durchzusetzen versuchen. Unübersehbar ist, daß politische Gestaltung damit eine andere Qualität erlangt, insbesondere komplexer, mehrdimensionaler und ggf. auch weniger steuerbar geworden ist. Aus der mitgliedstaatlichen Pluraliät erwachsende, den nationalen Rahmen weit hinter sich lassende Entscheidungsparameter, Interessengeflechte und Kompromißlinien werden bedeutsam. Nationale Gestaltungsoptionen finden ihre Grenzen dort, wo es dem Mitgliedstaat an der Stimmenmacht fehlt. Die Möglichkeit, angesichts des Quorums der qualifizierten Mehrheit im Rat überstimmt zu werden, gehört zu den Rahmenbedingungen der Wahrnehmung nationaler Interessen auf Gemeinschaftsebene. Auf der Ebene der administrativ-operativen Zuständigkeit bedarf es in unterschiedlichsten Fallkonstellationen der positiven Entscheidung der Kommission. Ob es um die Zustimmung zur degressiven Förderung deutscher Steinkohle, die Genehmigung einer Fusion oder die Belegung von Billigimporten mit Strafzöllen geht, in allen Fällen ist die Kompetenz der Kommission zu beachten. Vielfach bleibt dem Mitgliedstaat - wenn es sich z. B. um die Ablehnung der Genehmigung einer Beihilfe handelt - die Möglichkeit, in den verfahrensrechtlich vorgesehenen Formen sein Anliegen vorzutragen und zu vertreten. Notfalls kann er in diesem Fall den EuGH anrufen. In der zweiten und dritten Säule der Europäischen Union bleibt dagegen die nationale Kompetenz von den supranationalen Restriktionen frei. Allerdings bestehen völkerrechtliche Bindungen und prozedurale Mechanismen, die ein Ausscheren erschweren können. In diesem Rahmen, der in der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) enger gezogen ist als in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), 79 bietet sich Raum für die Vertretung mitgliedstaatlicher Sachpositionen und Interessen. Sie an den Unionszielen zu orientieren, ist Aufgabe und Verpflichtung. Für die Bundesregierung bringt die föderalistische Struktur des Grundgesetzes weitere Anforderungen an die Politikabstimmung. Dies betrifft namentlich die 78

Vgl. aus der reichhaltigen Rspr. zur Durchsetzung der Warenverkehrsfreiheit hier nur EuGH, Slg. 1979, 649 Tz. 5 ff. 79 S. dazu Regelsherger, in: Jahrbuch der Europäischen Integration 1996/97, S. 215 ff. 32 FS Leisner

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Festlegung der in den Räten zu vertretenden Positionen. Hier stellt Art. 23 Abs. 3 und 5 GG in Verbindung mit den Gesetzen über die Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag einerseits, dem Bundesrat andererseits sicher, daß Interessen und Standpunkte der Länder - abgestuft - zur Geltung kommen können.

Die sozialen Grundrechte in Italien Von Antonio Baldassarre

I. Vorbemerkung Das deutsche Verfassungsrechtssystem und das italienische Verfassungssystem sind hinsichtlich der sozialen Grundrechte weit voneinander entfernt. Unterschiede bestehen vor allem in bezug auf die wichtigsten Aspekte des Aufbaus einer verfassungsrechtlichen Doktrin der sozialen Grundrechte. Sie betreffen sowohl den Umfang des Katalogs dieser Rechte in der Verfassung, die juristische Tragweite, die diesen Rechten zuerkannt wird, die Modalitäten, durch die den Bürgern diese Rechte garantiert werden, als auch ihr konkretes Wirken im täglichen Rechtsleben der Gemeinschaft. Ein vergleichender Überblick des italienischen und des deutschen Verfassungssystems ist daher keinesfalls ein einfaches Unterfangen. Ich darf hier nur ein Beispiel nennen. Wenn ich mich nicht irre, so ist die wichtigste Frage, die zur Zeit in Deutschland diskutiert wird, jene, ob die sozialen Grundrechte weiterhin nur gesetzlich garantiert oder aber ob sie in die Verfassung aufgenommen werden sollen. In Italien hingegen ist das schon seit langem kein Problem mehr genau genommen seitdem die Verfassung des Jahres 1947 verabschiedet worden ist, welche einen umfassenden Katalog sozialer Grundrechte enthält, der so weit gefaßt ist, daß er noch immer als die weltweit am stärksten entwickelte und effektivste Charta der sozialen Grundrechte angesehen werden kann, zumindest was den Umfang der Zahl dieser Rechte und der Modalitäten ihrer Gewährleistung anbelangt. Vergleichbar ist er nur mit der spanischen Verfassung aus dem Jahre 1978 und mit der jüngeren europäischen Charta der sozialen Grundrechte. Dies hat unter anderem dazu geführt, daß sich für die meisten Vertreter der Rechtslehre das Problem einer Übernahme der europäischen Charta in unser Rechtssystem in genau umgekehrter Weise als z. B. in Österreich gestellt hat, nämlich so, daß eine „Nationalisierung" jener Charta eher als ein Risiko angesehen würde, welches geeignet wäre, die italienischen Richter dazu zu bringen, die verfassungsrechtlichen Normen über die sozialen Grundrechte in bestimmten Fällen eher restriktiv zu interpretieren. Trotz dieser Unterschiede glaube ich, daß die Darstellung des Verfassungssystems der sozialen Grundrechte in Italien auch für die Auseinandersetzung, die sich in Deutschland abzeichnet, eine Hilfe sein kann. Ich werde versuchen, so weit wie möglich die objektiven Aspekte meiner persönlichen Meinung herauszuarbei2*

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ten und werde aus diesem Grund zunächst einmal einen Überblick über die sozialen Grundrechte geben, die in der geschriebenen Verfassung vorgesehen sind und dazu die wichtigsten Stellungnahmen des italienischen Verfassungsgerichtshofs zusammenfassen. Sodann werde ich versuchen, eine Theorie der sozialen Grundrechte zu skizzieren, die meiner Ansicht nach eine ideale und juristische Begründung für die Position abgeben kann, die der italienische Verfassungsgerichtshof oder viel allgemeiner die lebende Verfassung selbst im Bereich der sozialen Grundrechte bezogen hat.

II. Die sozialen Grundrechte in der geschriebenen Verfassung Die italienische Verfassung aus dem Jahre 1947 enthält eine umfassende „Bill of Rights", in der sowohl die sogenannten klassischen bürgerlichen und politischen Grundrechte, als auch die neueren kulturellen, ethischen, wirtschaftlichen und auf die soziale Solidarität hin bezogenen Rechte enthalten sind. Nach dem System der Verfassung sollen jedoch nicht die alten Rechte den neuen auf der Grundlage einer historischen Unterscheidung gegenübergestellt, sondern die verschiedenen Rechte nach ihrem Zusammenhange mit den verschiedenen sozialen Verhältnissen zusammengefaßt werden. Die Tatsache, daß die Verfassung das Kriterium des Zusammenhangs in positivrechtlicher Form aufgestellt hat, ist, wie wir dann später sehen werden, sehr wichtig in bezug auf die Interpretation der Rechtsnatur der verschiedenen Grundrechte. Insbesondere erkennt und gewährleistet die italienische Verfassung - nachdem sie in den ersten zwölf Artikeln die Grundsätze des gesamten Verfassungssystems festgelegt hat, Grundsätze, die auch Bestimmungen über Grundrechte enthalten - die sozialen Grundrechte, indem sie entsprechend ihrer Inhärenz folgende soziale Verhältnisse unterscheidet:

1. Die bürgerlichen Beziehungen (Artikel 13-28) Persönliche Freiheit, Freiheit des Wohnsitzes, des Aufenthaltswechsels, der Bewegung, der Versammlung, der Vereinigung, der Religion, der Meinungsäußerung, das Recht auf die Unterscheidungsmerkmale der eigenen Persönlichkeit (Rechtsfähigkeit, Staatsbürgerschaft, Namen), Recht auf Legalität in persönlichen oder Vermögensleistungen, Recht auf Verteidigung und auf einen ordentlichen Prozeß (Recht auf den gesetzlichen Richter, Recht nicht bestraft zu werden, wenn nicht aufgrund einer vorher bestehenden bestimmten Verbotsnorm).

2. Gesellschaftliche

Beziehungen (Artikel 29-34)

Das Recht der Familie und der Ehe, das Recht, die eigenen Kinder aufzuziehen und zu erziehen, Recht auf Schutz der Mutterschaft, auf Schutz der Kindheit und

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der Jugend, Recht auf Gesundheit, Recht auf künstlerische und wissenschaftliche Forschung, Recht auf Unterricht.

3. Wirtschaftliche

Beziehungen (Artikel

35 - 47)

Das Recht auf Schutz der Arbeit, das Recht auf Auswanderung, Recht auf eine angemessene und menschenwürdige Entlohnung, Recht auf Ruhepausen und auf Urlaub, Recht der Arbeitnehmerinnen auf Gleichbehandlung, Recht der Arbeitnehmerinnen auf Schutz ihrer familiären und Mutterrolle, Rechte auf Gleichstellung des minderjährigen Arbeitnehmers, Recht auf soziale Sicherheit und soziale Fürsorge, Recht auf berufliche Bildung und Arbeitsvermittlung, Koalitionsfreiheit und Kollektivvertragsautonomie, Streikrecht, Erwerbsfreiheit, Eigentumsrecht, die Rechte der sozialen Kooperation, Recht auf Förderung und Schutz des Handwerks, Recht auf Mitbestimmung in den Betrieben, Recht auf Zugang zum Eigentum an der eigenen Wohnung, auf Zugang an den landwirtschaftlich genützten Bodenflächen und auf Zugang zu den Aktien der produktiven Gesellschaften.

4. Politische Beziehungen (Artikel 48 - 54) Wahlrecht, das Recht, sich in politischen Parteien zu organisieren, Petitionsrecht, Recht auf Beibehaltung des Arbeitsplatzes für diejenigen, die zu öffentlichen Funktionen bestellt wurden. Die normative Umsetzung muß entsprechend dem Verhältnis der verschiedenen Grundrechte zu den entsprechenden Statussituationen erfolgen. Ohne nun in das Problem der theoretisch-verfassungsrechtlichen Bedeutung der genannten Beziehungen einzusteigen, ist in jedem Falle wichtig, zunächst zu unterstreichen, daß auf der Ebene der Definitionen und der Begriffe, die von der italienischen Verfassung verwendet werden, eine grundlegende Unterscheidung von Bedeutung ist: Während die bürgerlichen und politischen Rechte an den Status generalis anknüpfen, beispielsweise an den des Menschen oder des Bürgers (Status humanitatis ac civitatis), so knüpfen im Gegensatz dazu die sozialen Grundrechte - im weitesten Sinne, d. h. auch unter Einbeziehung der kulturellen, ethisch-sozialen und wirtschaftlichen Rechte - an einen partikulären Status an, so zum Beispiel an den des Lehrers / Studenten, Elternteils / Kindes, Arbeitgebers/Arbeitnehmers. Da der Status generalis den Menschen oder den Bürger an sich betrifft, richten sich die entsprechenden Grundrechte auf die Absicherung der potentiellen Tätigkeit, die die Verfassung jedem Menschen als Menschen oder als Subjekt zuerkennt, der oder das der italienischen Nation angehört. Im Gegensatz dazu ist zum Zwecke des Genußes der sozialen Grundrechte nicht ausreichend, daß man sich in dieser generellen Situation befindet, sondern es ist erforderlich, daß man zusätzlich eine besondere soziale Rolle bekleidet, die jedes Individuum sowohl aufgrund einer freien

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Entscheidung, als auch aufgrund sozialer Pflichten übernehmen kann, etwa infolge seines Eintrittes in bestimmte soziale Lebensbeziehungen sowohl institutioneller als auch eher vorübergehender Natur, die Artikel 2 der italienischen Verfassung unter den sehr allgemeinen Begriff der „gesellschaftlichen Gebilde" subsumiert. Die Lebensbereiche, an denen die von der italienischen Verfassung geschützten sozialen Grundrechte anknüpfen, sind folgende: Die Arbeitswelt, der Bereich des Unternehmens und des Eigentums, die Familie, die Schule, der Bereich persönlichen oder kollektiven Lebens. 5. Arbeit Das wichtigste soziale Grundrecht in dieser Gruppe ist das Recht auf Arbeit (Artikel 4 Verfassung). Es ist unter den sozialen Grundrechten das mit der längsten Tradition, zumal sich alle anderen aus geschichtlicher Sicht im Kampf um die Anerkennung des erstgenannten Rechts entwickelt haben. Die Bedeutung des Rechts auf Arbeit ist aber nicht bloß eine historische, sondern auch eine juristisch normative; ganz einfach deshalb, weil das Recht auf Arbeit das einzige Grundrecht ist, das im Titel über die Grundprinzipien der italienischen Verfassung auftritt. Damit steht es in bedeutungsvoller Harmonie mit Artikel 1 der Verfassung, der unsere Demokratie als gegründet auf die Arbeit definiert (diese Formel enthält eine grundlegende Qualifikation unseres Verfassungssystems als Sozialstaat). Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes umschließt dieses umfassende Recht mehrere Grundrechte, einige davon sind als self-executing anzusehen, andere hingegen erfordern die sogenannte interpositio legislatoris, damit sie wirksam und einklagbar werden. Unter den erstgenannten ist z. B. die Freiheit, eine bestimmte Arbeit zu suchen. Sie ist allen Bürgern gewährleistet in bezug auf jedmögliche materielle oder geistige Tätigkeit, die sie erwerbsmäßig ausüben möchten. Ein Teil dieser Freiheit, und zwar genaugenommen der des Zugangs zu den öffentlichen Ämtern, genießt einen besonderen Schutz. Diese Freiheit ist nämlich ausdrücklich in Artikel 51 der Verfassung anerkannt. Unter den Rechten, die zum Recht auf Arbeit gehören und die der interpositio legislatoris bedürfen, soll insbesondere das Recht der Arbeitnehmer hervorgehoben werden, nicht willkürlich entlassen zu werden (siehe zuletzt Entscheidung Nr. 176/1986 und Nr. 97/1987). In manchen Aspekten ist es durch besondere Gesetze des einfachen Gesetzgebers gewährleistet (siehe Gesetze Nr. 604/1966, 300/1970, 108/1990). Ein Sonderfall hat übrigens eine spezielle Normierung in Artikel 51 Absatz 3 der geschriebenen Verfassung gefunden, welcher es verbietet, den Arbeitnehmern, die Wahlämter angenommen haben, aufgrund der entsprechenden Ämter zu kündigen. Was hingegen die Bedeutung des Rechts auf Arbeit für das Recht auf einen Arbeitsplatz betrifft, so ist das Recht auf Arbeit lediglich ein wirtschaftspolitischer Grundsatz, der bloße Richtlinienwirkung hat. Er verpflichtet den Gesetzgeber darauf, sein Ermessen dahingehend auszuüben, daß soweit wie nur irgend möglich das Ziel der Vollbeschäftigung verfolgt wird.

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Ein spezifisch den abhängig Beschäftigten eingeräumtes Recht ist das Recht auf ein dem Umfang und der Qualität der geleisteten Arbeit angemessenes Entgelt, das in jedem Falle ausreicht, um für sich und die eigene Familie eine würdige Existenz zu sichern (Artikel 36 Verfassung). Es handelt sich um ein Recht, das unmittelbar wirksam ist. Aufgrund ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und der Unterinstanzen sind die einzelnen betroffenen Subjekte (Arbeitgeber, Arbeitnehmer und die Richter im Falle eines Rechtsstreits) verpflichtet, das Mindestentgelt an den Tarifen auszurichten, die in den Branchenkollektivverträgen vorgesehen sind. Über dieses Recht hinaus werden noch das Recht auf Ruhepausen und das Recht auf Urlaub (Artikel 36, 2. und 3. Absatz) als unmittelbar wirkende subjektive Rechte angesehen und - mit Ausnahme einiger Aspekte - auch die Rechte der Frauen und der Minderjährigen auf Gleichbehandlung in bezug auf die Arbeitsbedingungen und das Entgelt (Artikel 36 Abs. 1 und 3). Innerhalb des gegenwärtig untersuchten Bereichs erkennt die italienische Verfassung auch soziale Grundrechte an, die die juristische Struktur der traditionellen Freiheitsrechte haben. So etwa das Recht auf Auswanderung (Artikel 35, 4. Absatz) und die Koalitionsfreiheit (Artikel 39). Auch dem Recht auf Streik (Artikel 40 Verfassung) wird allgemein die Natur eines subjektiven Rechts zuerkannt, auch wenn einige Juristen dieses Recht als Freiheits- und andere als Gestaltungsrecht konstruieren und dritte - wiederum ihm eine zweifache Natur zuweisen. In die Kategorie der klassischen Leistungsrechte fallen hingegen die einzelnen Rechte auf soziale Sicherheit (Artikel 38 Verfassung). Diese Rechte gliedern sich aufgrund der Verfassung in : a) ein Recht auf Unterhalt und Fürsorge für jeden Bürger, der arbeitsunfähig ist und dem die zum Leben erforderlichen Mittel fehlen (1. Absatz); b) ein Recht der Behinderten auf Bildung und Berufsausbildung (3. Absatz); c) ein Recht der Arbeitnehmer, daß ausreichende Mittel für ihre Lebensbedürfnisse im Falle des Unfalles, der Krankheit, des Alters, der Arbeitsunfähigkeit und der Arbeitslosigkeit vorgesehen und gesichert werden (das sogenannte Recht auf Sozialversicherung) (Absatz 2). Schließlich sei darauf hingewiesen, daß der letzte Absatz des Artikels 38 der Verfassung auch die Freiheit der Privaten anerkennt, Leistungen der Fürsorge zu erbringen, die entsprechenden Organisationsstrukturen zu errichten und zu verwalten. Diese Freiheit als unverletzbares Grundrecht ist von einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes ausdrücklich unterstrichen worden (Entscheidung Nr. 75 /1992), die sich mit dem breiteren Bereich des sozialen Volontariats befaßt hat.

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6. Unternehmung, Eigentum Über den Schutz des privaten Eigentums (Artikel 42) und der Erwerbsfreiheit (Artikel 41) hinaus - welche aufgrund ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nicht so sehr als Rechte der Persönlichkeit oder als bürgerliche Rechte anerkannt werden, sondern in der Verfassung eine Art Institutsgarantie genießen sind von besonderer Bedeutung das Recht auf privates Eigentum (Artikel 42 Abs. 2 und Artikel 47 Abs. 2) und das Recht auf Mitwirkung an der Führung der Betriebe (Artikel 46). Das erstgenannte Recht hat in der Verfassung eine besondere Ausprägung in bezug auf das Eigentum an Wohnungen, an Bodenflächen, die der landwirtschaftlichen Nutzung dienen und an Aktien großer Unternehmungen gefunden. Wichtige Maßnahmen zur gesetzlichen Umsetzung wurden getroffen, welche den Zweck haben, in diesem Bereich privates Eigentum für einen so großen Kreis von Bürgern wie irgend möglich zugänglich zu machen, und zwar insbesondere den der weniger wohlhabenden Bürger. Das Recht auf Mitbestimmung hingegen hat eine nur sehr schwache Umsetzung in den Kollektivverträgen erfahren, hauptsächlich in Form von Anerkennung einfacher Informationsrechte. Beide Rechte sind aber in jedem Falle Ausdruck von sogenannten direktiven Verfassungsbestimmungen, deren Umsetzung im Ermessen des Gesetzgebers und seiner politischen Bewertung der Umsetzungsmöglichkeiten steht.

7. Familie Die Familie ist in der italienischen Verfassung jener Ort, in dem die grundlegenden ethischen Werte erst zu einer konkreten Existenz gelangen. Sie ist mit anderen Worten die originäre Form der Sittlichkeit. Dementsprechend eröffnet die italienische Verfassung den Titel der „Gesellschaftlichen Beziehungen" mit der Familie und den entsprechenden Rechten und Pflichten, die die tragende Struktur der entsprechenden juristischen Institution bilden. Die Verfassung anerkennt und gewährleistet die Rechte der Familie, das heißt die essentiellen Rechte der Gestaltung der Familie, welche als natürliche, auf der Ehe basierende Gemeinschaft begriffen wird (Artikel 29 Absatz 1). Mit der Benutzung einer offenen Formel möchte die Verfassung dem einfachen Gesetzgeber die historisch wechselnde Identifizierung der Rechte der Familie überlassen, mit Ausnahme der grundlegenden Rechte, eine Ehe einzugehen, sich fortzupflanzen, die eigenen Kinder zu erziehen, und mit Ausnahme des Rechts der Kinder auf Unterhalt und Bildung sowie des Rechts auf Gleichbehandlung und gleicher juristischer Stellung der Ehepartner (Artikel 29 und 30), die von der Verfassung unmittelbar gewährleistet werden.

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8. Schule Die Schule ist besonders wichtig für die Sozialisierung und Bildung. Dort kommt der junge Mensch mit Gleichaltrigen und mit seinen Lehrern zusammen, um die eigenen intellektuellen, künstlerischen und praktischen Fähigkeiten auszubilden, welche notwendig sind, um in die Gesellschaft als arbeitendes Mitglied Eingang zu finden. Neben der Struktur der Institution Schule zeichnet die italienische Verfassung auch die Rechte und Pflichten der Hauptakteure derselben Institution vor. Unter den ausdrücklich eingeräumten Rechten haben einige die typische Struktur der klassischen Freiheitsrechte. Es handelt sich dabei um die folgenden: a) Um die Freiheit des Unterrichts (Artikel 33 Absatz 1), die eine besondere Form der Freiheit der Meinungsäßerung ist, auch wenn sie dadurch qualifiziert wird, daß sie auf die Institution Schule hin ausgerichtet ist; b) die Freiheit, Schulen zu errichten und zu verwalten (Artikel 33 Absatz 3), die ein besonderer Fall der Erwerbsfreiheit ist (Artikel 41); c) die Freiheit der Wahl der Schule, in der man die eigene Ausbildung weiterverfolgen will (Artikel 34 Absatz 1). Andere Rechte hingegen haben die typische Struktur der Leistungsrechte. Das wichtigste unter diesen Rechten ist das Recht auf Unterricht (Artikel 34), welches sich in der Verfassung als ein Recht darstellt, das gleichzeitig eine Pflicht ist, den Unterricht unentgeltlich durchzuführen. Es manifestiert sich auch im Recht der begabten und leistungsstarken Schüler, selbst bei Mittellosigkeit die höchsten Studiengrade zu erreichen.

9. Privater und kollektiver

Lebensraum

Der Lebensraum, sowohl bezogen auf Einzelpersonen, als auch auf Gemeinschaften, hat keine institutionalisierte Form gefunden, also eine juristische Gestalt mit klaren Strukturen und Abgrenzungen, die vorherbestimmt sind, sondern dieser Begriff umschreibt ähnlich wie andere Begriffe, etwa die Privatsphäre, den Raum des Lebens rund um Einzelpersonen oder Gemeinschaften, deren Charakteristika und deren Grenzen von den Werten und den Interessen abhängen, die durch diesen Raum geschützt werden sollen. In der italienischen Verfassung gibt es verschiedene Normen, die Rechte anerkennen, welche die Gewährleistung einer gesunden Umwelt bzw. einer Umwelt, die der menschlichen Würde entspricht, voraussetzen, das heißt eines Lebensraumes, der die Werte der Gesundheit und der menschlichen Würde zu berücksichtigen hat. Das bedeutet, daß bei den verschiedenen, in der Verfassung vorgesehenen Fallkonstellationen die Bestimmung des Lebensraumes vom Verhältnis abhängt, welches in einem bestimmten Augenblick zwischen dem Schutz der genannten Werte und dem Raum besteht, der um die betroffenen Perso-

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nen herum angelegt ist, und aus dem diesen Personen Bedrohungen oder Gefahren in bezug auf den Schutz gerade dieser Werte erwachsen können. Das wichtigste von der italienischen Verfassung gewährleistete Recht in bezug auf diesen Bereich ist das Recht auf Gesundheit, welches in Artikel 32 als grundlegendes Recht des Individuums definiert wird und im Interesse der Gemeinschaft steht. Nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes (Nr. 455/1990) hat das Recht auf Gesundheit in seiner Ausprägung als Recht des einzelnen Individuums eine doppelte Natur: a) Als Schutz der psychischen und physischen Integrität der menschlichen Person gegenüber von Aggressionen und Gefahren, die aus Handlungen oder Taten, die von Dritten herrühren, weist das Recht auf Gesundheit die klassische Struktur der Abwehrrechte auf, die erga omnes gelten und unmittelbar geschützt sind. Sie sind auch einklagbar gegenüber den Tätern der gesetzeswidrigen Handlungen (Staat, öffentliche Körperschaften oder private Bürger); b) als Recht auf die Erbringung von Dienstleistungen, die auf den Schutz der Gesundheit der einzelnen Personen gerichtet sind, ist dieses Recht hingegen ein Leistungsrecht, dessen Umsetzung hauptsächlich in den Verantwortungsbereich des einfachen Gesetzgebers fällt. In bezug auf den letzten aufgezeigten Aspekt spezifiziert dieselbe Verfassung einige Unterrechte, die mit dem Recht auf Gesundheit verbunden sind, so etwa das Recht auf medizinische Behandlung und das Recht, nicht zwangsweise ohne Einverständnis gesundheitlichen Behandlungen unterworfen zu werden (Artikel 32 Absatz 2), sowie das Recht der Mittellosen auf unentgeltliche Behandlung (Artikel 32 Abs 1). Aus dem Zusammenhalt des Artikels 32 (Recht auf Gesundheit) und des Artikels 9 (Schutz der Umwelt und der Landschaft) hat der Verfassungsgerichtshof in mehreren seiner Entscheidungen (siehe zum Beispiel die Entscheidungen Nr. 151 / 1986, 184/1986, 307/1990 und 37/1994) ein Recht auf eine gesunde Umwelt hergeleitet. Allerdings gibt es bisher noch keine genaue Umschreibung dieses Rechts in den Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes, wohl hauptsächlich deshalb, weil die betroffenen Verfassungsbestimmungen zu lakonisch sind (daher gibt es Vorschläge einer verfassungsrechtlichen Novellierung dieser Bestimmungen). Letztlich hat der Verfassungsgerichtshof aufgrund der Artikel 2, 42 und 47 der Verfassung in Verbindung mit den tragenden Grundsätzen des Sozialstaates und der entsprechenden Verpflichtung des Staates, die Mindestumstände für ein lebenswertes Leben und ein Leben, das die Würde des Menschen schützt (siehe Entscheidung Nr. 217/1988), zu gewährleisten, ein Recht auf Wohnung anerkannt (siehe die Entscheidung Nr. 404/1988, 252/1988,454/1989 und 169/1994).

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I I I . Elemente einer Theorie der sozialen Grundrechte, hergeleitet aus den Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes Aus der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes kann in klarer Weise hergeleitet werden, daß die Kategorie der sozialen Grundrechte, so wie sie aus den einzelnen Vorschriften der Verfassung hervorgeht, aus verschiedenen Typen von Rechten zusammengesetzt scheint, deren juristisch-verfassungsmäßige Struktur komplex ist. Einige dieser Rechte sind - wie schon gesagt worden ist - als vollständig subjektive Rechte ausgestaltet, das heißt als juristische Rechte, die unmittelbar einklagbar sind: andere hingegen - der geringere Teil - werden als Leistungsrechte betrachtet, welche zu ihrer effektiven Garantie und zur vollen Verwirklichung den Eingriff des Gesetzgebers erfordern, der die Voraussetzungen, die Umstände und die konkreten Modalitäten, sowie die Grenzen des Genußes derselben festlegen muß. Von einem mehr verfassungsrechtlichen Standpunkt aus haben sodann einige Grundrechte, die von der Verfassung anerkannt werden, die typische Struktur der klassischen bürgerlichen Freiheitsrechte (oder Abwehrrechte), auch wenn sie nicht nur gegenüber dem Staat und den öffentlich-rechtlichen Körperschaften (wie man es vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 1947 hielt) als einklagbar angesehen werden, sondern auch gegenüber dritten Privatpersonen (sogenannte unmittelbare Drittwirkung). Andere Rechte beinhalten sogenannte Forderungen auf konkrete Verhaltensmaßnahmen, die zum Großteil gegen den Staat oder Körperschaften des öffentlichen Rechts gerichtet sind und seltener (so zum Beispiel Artikel 36) gegen die öffentliche Verwaltung und die Privaten. Eine weitere Verkomplizierung ergibt sich aus dem Phänomen, das schon im Zusammenhang mit dem Recht auf Arbeit und dem Recht auf Gesundheit festgestellt wurde, das mit sich bringt, daß ein und dasselbe soziale Grundrecht einen sehr komplexen Inhalt aufweist. Somit stellt es ein sogenanntes Makro-Recht dar, unter dessen semantische Bedeutung mehrere sogenannte MikroRechte mit unterschiedlicher juristischer Struktur fallen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Definition und die Klassifizierung der sozialen Grundrechte im Zusammenhang mit bestimmten Verhältnissen zu sehen ist (so die gesellschaftlichen Verhältnisse, die kulturellen Verhältnisse, die wirtschaftlichen Verhältnisse), und daß die Definition, die vom italienischen Verfassungsgesetzgeber gewählt wurde, in der Lage ist, in höchstem Maße die Komplexität dieser Rechte aufzuzeigen. Aber im Unterschied zu dem, was die ersten Wissenschaftler, die dieses Phänomen studiert haben, gedacht haben, ist dieser Charakterzug - der im übrigen allen Grundrechten gemeinsam ist (wenn auch in geringerem Umfang in bezug auf jene Bereiche, die nicht mit denen der sozialen Grundrechte zusammenfallen) - wohl dahingehend zu deuten, daß er seine tiefsten Wurzeln in der Veränderung der Natur und der Struktur der Grundrechte - und insbesondere der sozialen Grundrechte - im heutigen Staat hat und zwar im Sozialstaat, der auf der pluralistischen Demokratie beruht. Diese Staatsform ist durch eine doppelte Legalität gekennzeichnet: Die Verfassungslegalität und die Legalität des einfachen Gesetzes. Während die erste den

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logischen Modellen der Rationalität in bezug auf die Werte - oder Wertrationalität - entspricht, so entspricht die andere Legalität hingegen jenen Modellen, die auf die Rationalität in bezug auf den Zweck - oder Zweckrationalität - zurückzuführen sind. Die erste findet ihren höchsten (aber nicht einzigen) Ausdruck im Urteil über die Verfassungsgemäßheit, d. h. in der Kontrolle, die auf dem Vergleich zwischen dem einfachen Gesetz und der verfassungsrechtlichen Norm aufgrund der Logik der Zumutbarkeit beruht (was, wie Georg Henrik von Wright erinnert hat, eben die Logik der Werte ist); die zuletzt genannte Legalität hingegen findet ihren höchsten Ausdruck in der Jurisdiktion (Verwaltungsjurisdiktion, zivile und strafrechtliche Jurisdiktion), wo die Kontrolle auf einem Vergleich zwischen einem Verhalten (der öffentlichen Verwaltung oder der Privaten) und seinem gesetzlichen Parameter beruht, wobei die Logik dieses Vergleichs die Logik der Verfolgung des Ziels oder des Abweichens vom Ziel ist, welches auf gesetzlicher Ebene vorgeschrieben ist (mit der daraus folgenden Bedeutung, die den Begriffen des Machtmißbrauches, des guten Glaubens, der subjektiven Elemente, der Handlung usw. gegeben wird). Die Grundrechte - und mit ihnen die sozialen Grundrechte, welche von der Verfassung anerkannt sind - fügen sich ein in diese besondere Verfassungsstruktur, ja sie drücken sogar in höchstem Grade die Dialektik aus, die zwischen dem hier in Erinnerung gerufenen doppelten Niveau der Legalität besteht: die Logik der Werte (und zwar der verfassungsrechtlichen Werte) und die Logik der Ziele (und zwar der gesetzlichen Ziele), die in den konkreten Lebensbeziehungen verfolgt werden. Die Grundrechte sind als zentraler Kern der demokratisch-pluralistischen Verfassung vor allem verfassungsrechtliche Werte. Insbesondere sind dies auch die sozialen Grundrechte in ihrer Qualität als grundlegende Werte des Sozialstaates. Als verfassungsrechtliche Werte haben die Grundrechte - seien es nun die bürgerlichen, die politischen oder aber auch die sozialen Grundrechte - eine absolut homogene juristische Natur. Auf der Ebene der konkreten Lebensbeziehungen hingegen, d. h. auf der Ebene der Umsetzung der verfassungsrechtlichen Werte im Rahmen der Legalität des einfachen Gesetzes und konsequenterweise auf der Ebene des Verhältnisses zwischen Gesetz und der subjektiven Position (Erwartungshaltungen oder Forderungen in bezug auf Verhaltensweisen anderer), erscheinen die Grundrechte unterschiedlich charakterisiert und zwar in Abhängigkeit ihres Verhältnisses zum Gesetz selbst, und daher entsprechend ihrer eigenen besonderen Struktur. Besteht nämlich ein Grundrecht (ein soziales Grundrecht) in einer Freiheit, so bedarf es nicht eines gesetzgeberischen Dazwischentretens zum Zwecke der Gewährleistung des Genusses seines substantiellen Inhaltes: Jedes Individuum, dem eine Freiheit zuerkannt wird, ist unmittelbar durch die Verfassung selbst autorisiert, jene Freiheit auszuüben. Die Umsetzung eines grundlegenden Freiheitsrechtes hängt mit anderen Worten unmittelbar vom Verhalten der einzelnen Individuen ab, die Träger dieses Rechts sind. Daher sagt man, daß die Freiheitsrechte seif executing sind. Im Falle der Leistungsrechte hingegen besteht eine Trennung zwischen der Zuerkennung des Rechts (die unmittelbar von der Verfassung vorgenom-

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men wird) und der Gewährleistung des tatsächlichen Genusses des (Wesensgehaltes des) Rechtes (welche dem entsprechenden Handeln des einfachen Gesetzgebers zugewiesen ist). In diesem Falle schafft die Zuerkennung eines Rechts von Seiten der Verfassung eine Erwartungshaltung bzw. eine Anwartschaft im (potentiellen) Träger desselben Rechts, welche in konkreter Weise nur aufgrund einer entsprechenden gesetzgeberischen Tätigkeit (welche die institutionellen Voraussetzungen und die notwendigen Verfahren schafft) befriedigt werden kann. Auch wenn der Gesetzgeber die notwendigen Normen zu diesem Zweck geschaffen hat, und der in der Verfassung enthaltene Leitgrundsatz unter dem operativen Gesichtspunkt mit den Umsetzungsmodalitäten, die vom Gesetzgeber vorgesehen werden, in einer juristischen Einheit zusammengefaßt werden, bleibt das betreffende soziale Grundrecht weiterhin als verfassungsrechtlich verbrieftes Recht bestehen und ist als solches einklagbar und geschützt, nicht anders als die klassischen Freiheitsrechte. In jedem Falle ist bei den Grundrechten (sozialen Grundrechten) die auf positive Leistungen gerichtet sind, die Spannung zwischen dem Moment der Zuerkennung und dem Moment der Umsetzung (also der Garantie der Effektivität) eine sehr starke, so daß eine bereits ältere Rechtslehre behaupten konnte, daß man in diesen Fällen wohl eher sogenannten versprochenen Rechten als zuerkannten Rechten gegenüberstehe. In Wahrheit aber scheint diese Rechtslehre die zwei unterschiedlichen Momente, die schon aufgezeigt wurden (und zwar das Moment der Zuerkennung und das Moment der Umsetzung), zu vermengen, indem die komplexe juristische Struktur der sozialen Grundrechte aufgelöst wird, die schon in der Zuerkennung enthalten ist. Der Verfassungsgerichtshof hat aber offensichtlich ein anderes Schema zugrundegelegt, welches die Duplizität und die Unterscheidung zwischen den beiden oben genannten Momenten beachtet. Mit einer Klarheit, die vor allem in den jüngsten Entscheidungen zum Ausdruck kommt (siehe beispielsweise die Entscheidungen Nr. 142/1982, 1011 /1988, 455/1990, 62 und 247/1992, 218 und 304/1994) hat der Verfassungsgerichtshof eindeutig auch in bezug auf soziale Grundrechte das Modell der sogenannten bedingten Rechte angenommen. Nach diesem Modell sind die sozialen Grundrechte Rechte, die verfassungsrechtlich anerkannt sind, deren Ausübung aber von einer Normsetzungsaktivität des Gesetzgebers abhängt, die aus einer zweifachen Abwägung resultiert: a) zum einem einer Abwägung zwischen dem zugrundegelegten Recht und den anderen Interessen, die einen ähnlichen verfassungsrechtlichen Schutz genießen; b) zum anderen einer Abwägung zwischen dem Erfordernis, den Privaten die Gewährung der verfassungsrechtlich vorgesehenen Leistungen zu sichern, und den realen und objektiven Möglichkeiten, die der Staat in bezug auf die Ressourcen hat, welche erforderlich sind, um die vorgenannten Leistungen zu sichern (in der Entscheidung Nr. 260/1990 ist ausdrücklich gesagt worden, daß die Notwendigkeit staatlicher Finanzierung mit den anderen verfassungsrechtlichen

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Werten im Hinblick auf die Umsetzung der zuletzt genannten abgewogen werden muß; siehe auch Entscheidung Nr. 372/1998 ). Die erste Abwägung bezieht sich auf das Ausmaß der Anerkennung (die Individualisierung und die Umschreibung des Rechts sowie dessen Umfang). Diese Abwägung betrifft daher die verfassungsrechtlichen Werte an sich; die zweite Abwägung bezieht sich hingegen auf die Logik der Umsetzung der Werte und betrifft daher die verfassungsrechtlichen Werte in ihrer Relativität in bezug auf die konkreten Lebensbeziehungen, die der Gesetzgeber zu regeln hat, um bestimmte politische Zielsetzungen zu erreichen. In bezug auf die zuletzt genannte Abwägung stellt der Verfassungsgerichtshof schon seit einiger Zeit fest, daß das Prinzip der Gradualität zu berücksichtigen ist (siehe zum Beispiel die Entscheidung Nr. 33/1975, 134/1982, 173/1986, 260/1990, 51/1991, 247/1992, 218 und 304/1994). Es handelt sich um ein Prinzip, das mit der immanenten politischen Bedeutung der Umsetzung der verfassungsrechtlichen Werte zusammenhängt, um ein Prinzip, welches mit einer Klausel eng verwandt ist, die in der Rechtsprechung und in der Rechtslehre Deutschlands zu finden ist: der Vorbehalt des Möglichen oder des Vernünftigen (vgl die bekannte Entscheidung in BVerfGE 3, 330 f.). Natürlich hat der Verfassungsgerichtshof sich immer vorbehalten, Kontrolle über den sinnvollen Gebrauch dieses gesetzgeberischen Entscheidungsspielraumes im Verfahren über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden Gesetze auszuüben (siehe zum Beispiel die Entscheidung Nr. 27/1975, 559/1987, 992/1988, 455/1990, 243/1993 und 225/1995). Er hat damit auch zum Ausdruck gebracht, daß die Umsetzung der verfassungsrechtlichen Werte keine Sache ist, die ausschließlich der Politik angehört, sondern, wie man schon seit langer Zeit annimmt, auch eine Angelegenheit darstellt, die in bestimmtem Ausmaß in die Sphäre der verfassungsrechtlichen Legitimität gehört.

IV. Abschließende Anmerkungen Man kann daher zum Schluß gelangen, daß aufgrund der Entscheidungen des italienischen Verfassungsgerichtshofes die sozialen Rechte, welche als verfassungsrechtliche Werte angesehen werden, den Stellenwert von Grundrechten einnehmen. Als solche befinden sie sich nicht nur in keiner niedrigeren Stellung als die klassischen politischen oder bürgerlichen Freiheitsrechte, sondern umschreiben die Grundlagen des italienischen Staates als Sozialstaat. Der gegenwärtige Staat ist ein Verfassungsstaat und abzugrenzen vom klassischen parlamentarischen Staat, welcher ein Gesetzgebungsstaat war. Der Verfassungsstaat ist ein Staat, der auf verfassungsrechtlichen Weiten aufbaut, und unter diesen höchsten Werten sieht der Verfassungsgerichtshof in seiner Interpretation der Verfassung bisher neben den klassischen bürgerlichen und politischen Rechte

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auch viele soziale Rechte. Insbesondere: Das Recht auf Arbeit (Entscheidungen Nr. 176/1986, 248/1986, 414/1991 und 108/1994), die Rechte der Familie (Entscheidung Nr. 181/1976, 158 und 414/1991 die Ordinanz Nr. 258/1982), das Recht auf kulturelle Bildung (Entscheidung Nr. 383 /1998) besonders der Minderjährigen (Entscheidung Nr. 324/1998), das Recht auf Gesundheit (Entscheidungen Nr. 88/1979, 319/1989, 455/1990, 49/1991), die Freiheit auszuwandern (Entscheidung Nr. 269/1986 und 278/1992), das Recht auf Urlaub und auf Ruhepausen (Entscheidung Nr. 616/1987), das Recht auf Unterstützung und soziale Sicherheit (unter anderem Entscheidungen Nr. 160/1974, 64/1975, 103/1981, 184/ 1986, 497 und 1011/1988), die Koalitionsfreiheit (Entscheidung Nr. 334/1988) und das Recht auf Wohnung (Entscheidungen Nr. 404/1988, 252/1989, 454/ 1989). All diese sozialen Grundrechte genießen, gerade weil sie als unverletzbare Rechte im Sinne des Artikels 2 der Verfassung anerkannt werden, einen Schutz, wie er den verfassungsrechtlichen Grundsätzen höheren Ranges eigen ist (siehe vor allem die Entscheidung Nr. 1146/1988). Ihr wesentlicher Wertinhalt darf durch keinerlei Rechtsnorm geändert werden, auch nicht nach den Vorschriften, über die Verfassungsänderung oder durch die Normen, die im Gründungsvertrag der Europäischen Gemeinschaften (oder in gleichwertigen Rechtsakten) enthalten sind (siehe insbesondere die Entscheidung Nr. 1146/1988). Aufgrund der Vielfältigkeit und der Komplexität der sozialen Grundrechte in der italienischen Verfassung, erscheint es zumindest fragwürdig, wenn die bürgerlichen und politischen Rechte den sozialen Grundrechten gegenübergestellt werden, und zwar als Rechte, die mit einem sogenannten Status negativus zusammenhängen, im Gegensatz zu den Rechten, die auf einem Status positivus beruhen. Wenn dies auch in bestimmten Fällen zutreffen mag, so gilt es nicht in anderen Fällen, sei es, weil auch verschiedene soziale Grundrechte die Struktur von Freiheitsrechten haben, sei es, weil es auch an sozialen Grundrechten nicht fehlt, die aus juristischer Sicht unmittelbar einklagbar sind, oder sei es, weil es auch klassische bürgerliche Rechte gibt (zum Beispiel das habeas corpus, das Recht auf Verteidigung vor Gericht, das Recht auf eine faires Verfahren), die die juristische Struktur von Leistungsrechten haben. Im übrigen stellt man, wenn man die Gegenüberstellung von Status negativus und Status positivus vor Augen hat, fest, daß diese von einem logischen Kriterium abhängt, welches bei der Definition des Status selbst die Tätigkeit des Staates (sei es nun die negative oder die positive) in bezug auf die Person privilegiert. Wenn man also in Betracht zieht, daß diese Gegenüberstellung an ein Bild der verfassungsrechtlichen Ordnung gebunden war, die auf einer zweidimensionalen Natur beruht (Individuum - Staat), welche die italienische Verfassung des Jahres 1947 zugunsten einer dreidimensionalen Sicht (Individuum - soziale Gruppen - Staat) und zugunsten einer personalistischen Konzeption zu überwinden versucht hat, so scheint es in bezug auf unser System angemessener, die Differenzierung zwischen den bürgerlichen und politischen Rechten einerseits und den sozialen Grundrechten andererseits nach der bereits aufgezeigten Gegenüberstellung zwischen Status generalis und Status specialis vorzunehmen.

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Letztlich weisen die sozialen Grundrechte eine juristische Natur auf, die aus qualitativer Sicht nicht von der anderer Grundrechte abweicht. In bezug auf die bürgerlichen Rechte, nicht aber in bezug auf politische Rechte (mit denen sie unter dem hier geprüften Aspekt mehrere Gemeinsamkeiten aufweisen), zeitigen die sozialen Grundrechte eine besondere Spannung zwischen dem Aspekt des verfassungsrechtlichen Gehalts und dem der gesetzgeberischen Umsetzung, eine Spannung, die auch den bürgerlichen Rechten nicht unbekannt ist (man denke zum Beispiel an die Garantie der persönlichen Freiheiten in bezug auf die Gewährleistung eines unabhängigen und unparteiischen Richters). Unter einem streng verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt haben die sozialen Grundrechte denselben juristischen Status wie die sonstigen Grundrechte. Mit diesen teilen sie denselben juristischen Wert, dieselbe Natur und - wenn man sie in ihrer Wesenheit betrachtet - dieselbe Struktur. Der Unterschied zwischen sozialen und bürgerlichen Grundrechten besteht in funktioneller Hinsicht, weil die sozialen Grundrechte stärker mit den Zielsetzungen einer substantiellen Gleichheit, einer politischen Teilhaberschaft und der sozialen Integration zusammenhängen. Das haben diese Grundrechte mit anderen klassischen Grundrechten, nämlich den politischen Grundrechten, gemeinsam. Jenes Element kann daher kein Grund sein, die sozialen Grundrechte aus dem Kreis der Grundrechte auszugrenzen, so wie dies eben auch nicht für die politischen Rechte geschehen ist.

I rapporti tra la maggioranza e le opposizioni in Italia: dair assemblea costituente ail9 entrata in vigore dei regolamenti parlamentan del 1971 Di Armando Mannino

1. Il tema dei rapporti tra la maggioranza e le opposizioni in Italia nell' ordinamento costituzionale repubblicano è certamente uno di quelli che hanno attirato in maggior misura 1' interesse dello studioso. In mancanza di disposizioni costituzionali contenenti un' esplicita regolamentazione dei diversi ruoli attribuiti all' uno o ail' altro degli schieramenti contrapposti, questa materia è stata sottoposta dai regolamenti parlamentari, per quanto in maniera indiretta, ad una disciplina differenziata nei diversi periodi della storia repubblicana. Questa disciplina ha esplicato una rilevante e decisiva influenza non solo sull' assetto concreto dei rapporti tra le di verse forze politiche operanti all' interno degli organi rappresentativi, ma sugli stessi organi costituzionali di direzione politica e quindi sulla stessa forma di governo. Questo aspetto del funzionamento delle istituzioni ancora oggi rimane al centro dell' attenzione degli operatori politici e della dottrina come uno dei problemi fondamentali da risolvere nel nuovo assetto costituzionale che si sta faticosamente delineando a seguito delle vicende politico-istituzionali di carattere internazionale (crollo dei regimi comunisti) ed interno (disfacimento del vecchio sistema partitico, abrogazione referendaria della legge proporzionale del senato e conseguente approvazione di una nuova legge maggioritaria per le camere), che hanno travolto il vecchio sistema politico formatosi alla fine della seconda guerra mondiale. Il momento istituzionale attuale è caratterizzato dal tentativo di costruire un sistema di rapporti tra la maggioranza e le opposizioni fondato su una netta separazione di compiti: alia prima il potere di decidere alio scopo di attuare il programma politico approvato dai cittadini nella competizione elettorale; alie seconde quello di criticare e contrallare il governo e la sua maggioranza parlamentare nella speranza di ampliare il proprio consenso elettorale per sostituirli nella legislatura successiva. Questa fase, tuttavia, comincia ben prima dell' avvento della transizione costituzionale avviatasi in quest' ultimo decennio, rinvenendo le proprie origini nell' inizio degli anni ottanta. A partiré da questo momento, con una serie di progressive revisioni dei più significativi istituti disciplinati dai regolamenti parlamentari o mediante una loro innovativa e radicale reinterpretazione, si tenta di 33 FS Leisner

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porre un freno a quel sistema di cogestione parlamentare tra la maggioranza e le opposizioni e ai rilevanti inconvenienti che da questo erano scaturiti, nel tentativo di riconoscere alia maggioranza governativa un effettivo potere di decisione politica senza subiré condizionamenti eccessivi da parte delle opposizioni. I germi di questo regime consociativo, in parte impliciti nella stessa costituzione repubblicana, si erano copiosamente sviluppati nei vent' anni successivi alla sua entrata in vigore ed erano poi stati compiutamente recepiti negli stessi regolamenti parlamentan del 1971. Ci sembra quindi opportuno, proprio al fine di seguire con maggiore comprensione il complesso dei problemi vecchi e nuovi posti dal profondo mutamento in corso nei rapporti tra le forze politiche operanti air interno del sistema costituzionale, ripercorrere le diverse fasi che hanno caratterizzato il rapporto tra la maggioranza e le opposizioni prendendone in considerazione gli aspetti più interessanti di natura istituzionale e politica. E' evidente al tempo stesso che un' analisi di questi elementi, effettuata in un momento in cui sono radicalmente mutate le condizioni politiche che per alcuni decenni hanno influenzato il dibattito istituzionale e politico sul tema, consente di riprendere in considerazione i dati normativi, reinterpretandoli, con quell' atteggiamento di distacco che appare necessario per compréndeme fino in fondo le intrinseche potenzialità. Un' analisi complessiva dei rapporti tra la maggioranza e le opposizioni che ne prenda in esame gli aspetti essenziali, seguendoli nella loro lunga evoluzione dal 1948 fino ad oggi, non puô ovviamente essere fatta in questa sede per la sua complessità e lunghezza; ci si limiterà perianto ad una riflessione sulle norme costituzionali (a ben guardare suscettibili di legittimare al contempo i diversi modelli di democrazia alternativa e di democrazia consociativa), confrontándole con i dati politici fondamentali inerenti all' argomento in questione, alio scopo di metterne in luce le reciproche connessioni. L' indagine avrà come punto di partenza la situazione costituzionale transitoria antecedente all' entrata in vigore della costituzione (in cui si è formata, con i ben noti condizionamenti di carattere internazionale, la base materiale del sistema politico) e terminerà nella quinta legislatura con 1' entrata in vigore dei regolamenti parlamentar! del 1971, i quali sanciscono il culmine della centralità del parlamento e del regime consociativo. 2. Diverse sono le cause dell' affermarsi e progressivo consolidarsi nella repubblica italiana del regime compromissorio tra la maggioranza e le opposizioni. Esse si ricollegano al contesto politico ed istituzionale nel quale questi soggetti sono stati costretti ad operare, il quale si fonda essenzialmente: 1) sul sistema dei partiti, che appare la risultante di dati politico-sociali (1' aggregazione dei cittadini in una pluralité di associazioni corrispondenti ai diversi interessi politici ed orientamenti culturali presentí nella società) e di un dato fórmale: il sistema elettorale, che nella formazione della rappresentanza parlamentare puô alterare in maniera più o meno incisiva il rapporto esistente tra il consenso ottenuto da ciascun partito e i seggi conquistati; 2) sul tessuto costituzionale, ed in particolare sul complesso di quei

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principi e di quelle rególe che disciplinano 1' organizzazione costituzionale dello Stato, definendo per ció stesso 1' ámbito giuridico entro il quale si dovrà sviluppare I' azione tanto délia maggioranza e del governo che questa esprime, quanto delle opposizioni; 3) sui regolamenti interni di ciascuna camera che, specificando ed attuando le norme costituzionali, determinano in concreto poten e limiti in parlamento di ciascuna forza politica e dello stesso governo; 4) su elementi, infine, di natura prettamente politica, come ad esempio la volontà degli stessi partiti, ai quali in definitiva spetta, neir esercizio dei compiti ad essi affidati dall' ordinamento e nella diversa assunzione dei ruoli di maggioranza di governo e di opposizione, il potere di decidere gli scopi délia propria azione e le connesse modalità délia loro attuazione; ed ancora, il contesto interno e internazionale nel quale il nostro Paese si è trovato ad operare alla fine délia seconda guerra mondiale, con tutte le limitazioni che ne sono scaturite. Il dato essenziale che ha condizionato nelle sue linee fondamentali lo svolgimento délia nostra storia repubblicana, ed in particolar modo il tema che ci riguarda, è a nostro avviso proprio quest' ultimo, ed in particolare i contenuti dell' accordo stipulato a Yalta nel febbraio del 1945 tra Stati Uniti, Unione Soviética e Inghilterra, i quali, nell' imminente prospettiva délia fine délia seconda guerra mondiale, delimitarono per il futuro le rispettive sfere di influenza. L' Italia fu sottoposta ail' influenza occidentale ed americana in particolare. Prima ancora délia fine délia guerra e délia stipula del trattato di pace, essa si colloca quindi nell' ordinamento internazionale in una posizione formalmente di piena sovranità, ma in realtà di sovranità limitata. Non le è infatti consentito di sottrarsi a questa influenza, che si esplica di volta in volta in modo palese od occulto, e che condiziona profondamente le vicende politiche e istituzionali successive. Al partito comunista (PCI), in quanto forza politica ricollegantesi ideológicamente aile esperienze istituzionali di matrice marxista-leninista, è di fatto preclusa ogni possibilité di pervenire al governo. Nei suoi confronti opera sul piano politico quella che con felice espressione sarà poi chiamata conventio ad excludendum : 1' accordo, cioè, tra i partiti di centro dello schieramento parlamentare di non aggregarlo in una coalizione di governo, relegándolo cosí in via permanente ail' opposizione. A taie discriminazione politica nei confronti di questo partito dell' estrema sinistra se ne ricollega un' altra analoga verso il movimento sociale (MSI), cioè quel partito dell' estrema destra che ideológicamente si ispirava ai principi del disciolto partito fascista e più in generale di quel regime autoritario che subito dopo la prima guerra mondiale si era innestato, snaturandolo, ail' interno dello statuto albertino: regime contro il quale nell' ultimo periodo délia guerra si era sviluppata la resistenza interna, politica e militare, dalla quale era scaturito un nuovo ordinamento costituzionale basato su valori del tutto diversi. Lo schieramento partitico italiano si caratterizza quindi, già a partiré dal periodo transitorio, per la presenza aile sue ali estreme di due partiti che per differenti 3*

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motivi ideologici erano considerati incompatibili con il sistema costituzionale e quindi inidonei a fare parte di una coalizione di governo. Partito comunista e movimento sociale erano quindi destinati ad essere relegati permanentemente - o quanto meno fino a quando non avessero dimostrato una piena e sicura accettazione dei principi di democrazia occidentale ai quali si sarebbe ispirata la nuova carta costituzionale - al ruolo di un' opposizione anticostituzionale. La collaborazione tra le forze politiche di centro e di sinistra, fondata sul principio deir unità antifascista, che caratterizza il periodo della resistenza e quello immediatamente successivo alla fine della guerra, s'interrompe bruscamente a livello governativo nel maggio del 1947, quando De Gasperi dà vita al suo quarto ministero dal quale vengono esclusi i socialisti e i comunisti. La radicalizzazione della dialettica politica che cosí si determina non penetra tuttavia all' interno dell' assemblea costituente, in cui la collaborazione tra i vari partiti (imposta dall' incertezza sulle forze politiche che, ottenuta la maggioranza, sarebbero state proiettate al governo a seguito delle elezioni per la prima legislatura repubblicana) prosegue nell' intento di daré vita ad un nuovo sistema costituzionale in cui tutti avessero le più ampie possibilité di essere rappresentati in parlamento e di avere garantiti i necessari spazi di azione politica. Negli anni antecedenti all' entrata in vigore della costituzione repubblicana, in cui opera un ordinamento costituzionale provvisorio sorto sulle ceneri del dissolto regime fascista, si rinvengono in una rapida successione di tempo schemi differenti nella dialettica tra le forze politiche agenti all' interno del sistema. Dalla prima fase di piena collaborazione governativa tra tutti i partiti antifascisti (caratterizzata dall' esperienza dei governi del Comitato di liberazione nazionale [CLN]), si passa a quella della forte contrapposizione politica ed ideológica propria del quarto governo De Gasperi, cui perô si accompagna nell' assemblea costituente la collaborazione tra tutte le forze politiche alio scopo di daré al Paese un nuovo testo costituzionale. Espressione di questa collaborazione, che si realizza non solo nella scelta dei contenuti ma anche sul piano organizzativo, è la persistenza alia presidenza dell' assemblea costituente anche dopo il maggio 1947, e fino alia conclusione dei suoi lavori, di un esponente della sinistra. Le elezioni del 18 aprile 1948 sanciscono il trionfo della democrazia cristiana, che ottiene la maggioranza assoluta dei seggi in entrambe le camere a seguito di una campagna elettorale radicalizzata e durissima, nella quale i problemi di politica internazionale assumono un peso rilevante. La decisione popolare mantiene il Paese all' interno dello schieramento occidentale e sancisce con un responso democrático 1' esclusione del partito comunista dalla coalizione di governo. La conventio ad excludendum nei confronti di questo partito, che si rafforza con il consol i d a i della frantumazione politica e ideológica del continente europeo in due blocchi in latente conflitto, si innesta nel sistema costituzionale e diventa uno dei fattori politici essenziali del suo funzionamento, condizionandolo in profondità al di là degli stessi schemi formali che lo qualificano.

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L' elemento fondamentale del sistema dei rapporti tra la maggioranza e le opposizioni che si desume dall' esperienza britannica: 1' alternanza al potere tra i due schieramenti contrapposti, è possibile sotto il profilo fórmale - salve le reazioni interne e internazionali che da tale fatto sarebbero potute scaturire - , ma non lo è sotto quello sostanziale. Per il PCI, che diventa ben presto il secondo partito dello schieramento parlamentare, si apre la prospettiva di una permanente estraneità ad una qualsiasi coalizione di governo. Esso si trova di conseguenza nella necessità di inventare un ruolo di opposizione che gli consenta di mantenere un continuo contatto con le classi sociali rappresentate, di tutelarne in qualche modo gli interessi, di evitare quel lento degrado, fino alla pratica estinzione, che una esclusione di fatto dal potere di governo per un periodo di tempo non definito, ma comunque molto lungo, non puô non comportare. 3. Il sistema elettorale adottato sia per 1' elezione dell' assemblea costituente, sia per le elezioni politiche del 1948 è, corn' è noto, quello proporzionale. Su di esso si manifestó subito un consenso generale da parte di tutti i partiti del CLN, non tanto per la riaffermazione délia continuité con il vecchio Stato liberale antecedente ail' esperienza fascista, quanto invece per i suoi effetti rigorosamente proporzionali nel trasformare il consenso elettorale in seggi. In tal modo il parlamento sarebbe diventato lo specchio del Paese, e ciascun partito avrebbe avuto in esso una rappresentanza e quindi una forza politica strettamente corrispondenti ail' entità del proprio seguito elettorale. Esso costituiva quindi la garanzia fondamentale per ciascun partito délia intangibilità délia propria sfera di azione sociale e politica, in quanto trasferiva automáticamente in seggi parlamentari 1' ampliamento dei suffragi ottenuti per il successo délia propria azione di formazione e di propaganda politiche. A questa esigenza, già forte ail' epoca dei go verni del CLN, si aggiungeva F altra, non meno rilevante, di pervenire alla formazione di un' assemblea costituente cheriproducesse, senza eccezione alcuna, gli orientamenti culturali e politici presenti nella società, in modo che tutti potessero influiré sulla elaborazione délia nuova carta costituzionale. La rottura dell' unità antifascista verificatasi nella prima metà del 1947 e F allontanamento dei comunisti dal governo, la conseguente radicalizzazione délia dialettica politica, anche alla luce délia contrapposizione internazionale tra i due blocchi, ed ancora l'incertezza propria di tutti i partiti sull' entità del consenso popolare che avrebbero avuto nelle elezioni politiche successive ail' entrata in vigore délia costituzione repubblicana ebbero l'effetto di rafforzare 1' esigenza di mantenere il sistema elettorale rígidamente proporzionale. Di ciô è conferma F accordo tra DC e PCI sulla legge elettorale per il senato, di cui è espressione F emendamento dell' on. Dossetti volto a stabilire, per F assegnazione dei seggi con il sistema maggioritario, un quorum del 65% dei votanti, e in subordine la loro assegnazione con il sistema proporzionale. Taie quorum , ovviamente, è stato raggiunto soltanto in casi del tutto sporadici in tutto 1' arco delle législature repubblicane fino alla modifica del sistema elettorale attuata nel 1993. L'equiparazione cosí determinatasi tra il sistema elettorale délia camera e quello del senato, aggiunta agli scioglimenti

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anticipati del 1953 e del 1958 e alia riforma costituzionale del 1963 volta a parificare la loro durata, conduceva alia omologazione política delle due camere e rappresentava al contempo la garanzia che i due maggiori partiti di massa si offrivano reciprocamente di un sistema elettorale funzionale al loro consolidamento nella société italiana. L' accordo sulla legge elettorale proporzionale non puô tuttavia essere interpretato come un orientamento a favore di una democrazia di tipo consociativo, che sarebbe stato cosí implícitamente espresso dai cattolici e dai comunisti fin dair inizio deir esperienza repubblicana. Innanzi tutto, infatti, questo sistema elettorale non ha impedito la frattura nell' attività di governo e legislativa consumatasi nel 1947 tra la De e gli altri partiti di centro da un lato e lo schieramento delle sinistre dall'altro; né ha impedito che questa rígida contrapposizione frontale si perpetuasse nelle decisioni politiche fondamentali per tutto il corso della prima legislatura. In secondo luogo, una legge elettorale proporzionale ha importanza nello stabilizzare e consolidare la consistenza dei partiti negli organi rappresentativi, mentre appare neutrale nei confronti del contenuto concreto dell' attività parlamentare da questi posta in essere, tanto in qualità di maggioranza quanto di opposizione. Non si puô dimenticare, infatti, che in un sistema pluripartitico - quale deriva di solito dall' adozione di una legge elettorale proporzionale - e privo di opposizioni anticostituzionali, tutte le forze politiche hanno piena capacità di azione, potendo liberamente coalizzarsi senza i condizionamenti interni ed internazionali derivanti dai timoré di un sovvertimento delle istituzioni. Anche con una rappresentanza proporzionale sussiste quindi la concreta possibilité, dipendente dalle posizioni politiche e dalle conseguenti decisioni di reciproca aggregazione assunte dai diversi partiti, di costituire contrapposti schieramenti di maggioranza governativa e di opposizione che possono liberamente confrontarsi per la conquista del potere sul piano elettorale e parlamentare, cosí realizzando un assetto alternativo e non compromissorio nei rapporti tra la maggioranza e le opposizioni. L' affermarsi e lento consolidarsi di uno schéma di natura consociativa tra gli opposti schieramenti non puô certo essere dipeso dalla legge elettorale e dai conseguente pluripartitismo esasperato che ha sempre caratterizzato il funzionamento del sistema politico, quanto invece da un' apposita volontà in tal senso maturata nelle forze politiche e dipendente dalle più varie considerazioni. Tra queste certo grande influenza non poteva non avere la conventio ad excludendum, che da un lato consentiva la costituzione di una maggioranza di governo soltanto attraverso 1' aggregazione dei partiti di centro, e dall' altro di fatto escludeva permanentemente le opposizioni da ogni concreta possibilité di pervenire al potere. La legge elettorale proporzionale assume quindi una valenza neutra nei rapporti tra la maggioranza e le opposizioni. Queste si possono orientare verso uno dei due diversi schemi di democrazia alternativa o consociativa sulla base di ulteriori e ben più rilevanti elementi e decisioni di carattere politico-istituzionale. In realté, 1' accordo tra i partiti sul sistema elettorale proporzionale prefigurava un' intesa

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sul modello di democrazia da realizzare, in cui ai cittadini, al di là di un' astratta titolarità del potere sovrano, era in concreto negato il potere di scelta del governo e del suo indirizzo politico e quello ad esso connesso di farne eventualmente valere la responsabilité politica alie scadenza prestabilite: proprio quei poten che in una democrazia moderna sono attributi essenziali ed indefettibili délia sovranità. Al suo posto si affermava, in modo implicito ma chiaro, la sovranità sostanziale dei partiti, dai cui accordi in parlamento dipendevano tutte le decisioni politiche principali del sistema a cominciare da quella relativa alla formazione del governo. Nelle loro organizzazioni extraparlamentari si concentrava quindi un potere fondamentale privo di efficaci controlli popolari. 4. Un' analoga indeterminatezza in ordine al modello dei rapporti tra la maggioranza e le opposizioni, risultante dalla contestuale presenza di elementi suscettibili di interpretazioni differenti, sembra scaturire anche dalle norme costituzionali, specialmente quelle inerenti alla determinazione delle relazioni esistenti tra il governo ed il parlamento e, in definitiva, dalla forma di governo. A questo proposito non si puô trascurare innanzi tutto un dato di fatto estremamente significativo: il deliberato orientamento dell' assemblea costituente a creare, in palese contraddizione con Y accentramento autoritario realizzatosi sotto il regime fascista, un sistema fondato su diversi centri di potere reciprocamente controllantisi, nel quale nessuno, a cominciare dal governo, potesse assumere un ruolo prevalente. Indicazioni espressive di questa chiara preferenza dell' assemblea costituente per un sistema debole, in cui pertanto fosse possibile agli schieramenti di maggioranza e di opposizione trovare dei punti di convergenza anche non sporadica, appaiono: la scelta di un sistema elettorale proporzionale in una società ideológicamente divisa e frantumata; la costituzione di un parlamento esasperatamente pluripartitico in cui tutte le forze politiche sono permanentemente in conflitto tra loro; T adozione di una forma di governo ispirantesi ai tradizionali schemi del parlamentarismo; la conseguente dipendenza del governo da una coalizione di partiti e gruppi parlamentari instabile e politicamente non omogenea; la moltiplicazione delle sedi parlamentari (dal bicameralismo, originariamente differenziato anche in ordine al momento délia rinnovazione delle due camere, aile commissioni permanenti di ciascuna camera dótate di potestà legislativa), insieme alla esclusione di qualsiasi meccanismo costituzionale (in quanto tale evidentemente non disponibile dalle contingenti maggioranze di volta in volta rintracciabili nel funzionamento del sistema) tendente a rafforzare il ruolo di guida del governo in parlamento (basti pensare alla mancata previsione e disciplina délia questione di fiducia, alla normativa inerente alla determinazione dell' ordine del giorno e délia programmazione dei lavori, alla preferenza del voto palese su quello segreto). Questo orientamento, rilevato fin dall' inizio dalla dottrina unanime ed ormai pacificamente consolidato, non si è tuttavia sostanziato in disposizioni di carattere costituzionale precise e tassative. Le norme che a questo scopo potrebbero assumere un certo rilievo, infatti, appaiono spesso suscettibili di contenuti normativi

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diversi anche sulla base di un' astratta ed isolata analisi testuale, mentre lo sono sempre in una più ampia interpretazione sistemática che si ricolleghi di volta in volta agli stessi principi dell' ordinamento costituzionale o alie altre norme che lo compongono. Espressione tipica di questa situazione è il principio democrático e quello ad esso connesso délia sovranità popolare, sanciti dall' art. 1 cost.. In una democrazia moderna questi principi implicano 1' attribuzione ai cittadini del potere di effettuare direttamente le scelte politiche fondamentali: le decisioni, cioè, inerenti tanto alia scelta della compagine governativa e del programma politico da realizzare, quanto alia verifica periódica della responsabilité dei soggetti - governo e forze politiche di maggioranza - alie quali è stato attribuito il compito di provvedere al soddisfacimento degli interessi generali del corpo sociale. Questo potere appartiene in concreto alia „maggioranza" del corpo elettorale e dovrebbe essere tendenzialmente intangibile. II sistema politico, in definitiva, dovrebbe svilupparsi in maniera rígidamente alternativa, senza consentiré alie opposizioni, se non eccezionalmente, di intervenire, modificándole, sulle scelte dei partiti di maggioranza, perché ció impedirebbe quanto meno la chiara imputazione delle decisioni ai diversi schieramenti, alterando di conseguenza il regolare funzionamento della responsabilité politica. Una siffatta interpretazione, tuttavia, per potersi attuare concretamente avrebbe bisogno del sostegno di una serie di dati materiali e formali. Sarebbe necessario, in particolar modo, un sistema partitico di carattere bipolare - che potrebbe derivare a sua volta da una legge elettorale maggioritaria o proporzionale - , che da un lato spingesse le forze politiche ad allearsi per raggiungere la maggioranza dei seggi in parlamento e, a questo scopo, a qualificarsi politicamente con un proprio programma politico di fronte ail' elettorato; e dall' altro costringesse quest' ultimo ad effettuare una scelta chiara tra i programmi e gli schieramenti alternativi. Dalla consultazione elettorale, inoltre, dovrebbe scaturire una rappresentanza parlamentare tendenzialmente bipartitica, con una chiara indicazione maggioritaria. In mancanza di questi requisiti, ed al contempo degli strumenti formali necessari per consentiré al governo e alia maggioranza parlamentare di perseguire concretamente nelle camere il proprio indirizzo politico, le esigenze sopra prospettate, proprie di una democrazia alternativa, non sarebbero raggiungibili. II sistema politico-costituzionale funzionerebbe in un modo diverso da quello indicato ed astrattamente auspicabile. Non verrebbe tuttavia meno il suo carattere democrático, che risulterebbe pero profondamente attenuato dal fatto che ai cittadini spetterebbe soltanto 1' astratta titolarità del potere sovrano, risolventesi nella scelta dei partiti e nella determinazione della loro consistenza parlamentare, mentre a questi ultimi verrebbe poi affidato il potere sostanziale (cioè la sovranità effettiva) di compiere tutte le scelte successive, a cominciare da quella relativa alia compagine governativa. Sulla base di questi presupposti risulta evidente 1' impossibilité di trasferire all' interno dell' organizzazione delle camere le implicazioni derivanti da un' interpre-

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tazione astratta - in quanto slegata dalle condizioni materiali e formali del sistema - del principio democrático e di farne derivare la necessitá di una netta separazione, nelle singóle delibere parlamentari, tra la maggioranza e le opposizioni. II principio maggioritario, infatti, sta ad indicare essenzialmente 1' esigenza di un numero minimo (e non massimo) perché una delibera possa ritenersi validamente assunta. Quindi nulla eselude, sotto il profilo meramente teorico, che la maggioranza governativa possa allargarsi nelle aule parlamentari sulle singóle decisioni, ricomprendendo in sé anche componenti partitiche ad essa esterne, o dissolversi temporáneamente, dando cosí origine alia formazione di maggioranze fluide e mobili. Nel primo caso, almeno di solito, la maggioranza e il governo acconsentono a cambiare in maniera piu o meno intensa gli atti legislativi, di indirizzo o di controllo posti in votazione; nel secondo sono invece costretti a tollerarlo o comunque a subirlo. D' altronde, nel subordinare la validitá di una qualsiasi delibera parlamentare alia sua adozione da parte di una „maggioranza" numérica di parlamentari, svincolata quindi da ogni considerazione di natura qualitativa in ordine al suo rapporto con 1' esecutivo, 1' art. 64 cost. legittima formalmente 1' esistenza di episodiche maggioranze parlamentari diverse da quella che sostiene il governo, o perché piü ampie o anche perché composte, sia puré parzialmente, da parlamentari o da partiti che ad essa sono estranei. Non vi é inoltre, a nostro avviso, alcuna disposizione costituzionale dalla quale possa desumersi un obbligo giuridico per il governo e la sua maggioranza parlamentare di realizzare 1' indirizzo politico enunciato dal governo ed approvato dalle camere con la concessione della fiducia. I rapporti tra i partiti di maggioranza, all' interno del governo e del parlamento, si sviluppano prevalentemente sul piano della politica e non del diritto. Sono quindi possibili disfunzioni nell' indirizzo politico per la sua frequente indeterminatezza (nel tentativo di offuscare sostanziali differenziazioni di orientamenti politici tra i partiti della coalizione governativa) e per i contrasti esistenti tra questi ultimi e, al loro interno, tra le rispettive correnti. Ció determina non di rado una piü o meno ampia dissociazione tra il governo e la sua maggioranza in parlamento e la conseguente inesistenza in quest' ultimo di rigidi steccati tra la maggioranza governativa e le opposizioni. E' in definitiva possibile la formazione all' interno delle camere di maggioranze che coinvolgano di volta in volta i diversi partiti o le rispettive frazioni indipendentemente dalla loro collocazione negli schieramenti della maggioranza o delle opposizioni. Potrebbe infine accadere, specialmente su temi di vastarisonanzasociale (come in concreto si é verificato per le leggi istitutive del divorzio e dell' aborto), che 1' irriducibilitá dei dissensi all' interno della coalizione di governo spinga quest' ultimo a non assumere alcuna posizione, lasciando i partiti che lo sostengono liberi di pronunciarsi sulla loro disciplina, cosí consentendo la spontanea aggregazione delle forze politiche parlamentari. Se quindi nella votazione sulla fiducia la dissociazione tra la maggioranza e le opposizioni é netta e normalmente senzá equivoci, non é affatto detto che tutte le

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altre delibere debbano essere necessariamente adottate nel rispetto di quella discriminazione iniziale. L' assetto sostanziale del sistema politico, fondato su una democrazia dell' alternanza o un regime di tipo consociativo, dipenderá innanzi tutto dalle sue basi materiali, ed in particolare dalla formazione da parte dello stesso corpo elettorale di una compatta ed efficiente maggioranza di legislatura. A non di verse conclusioni si perviene anche nei confronti dell' art. 49 cost, e dell' ambigua e contestata nozione di „politica nazionale". E' questa una formulazione che il testo costituzionale pone senza specificarne il contenuto, lasciando cosi ampie possibilité agli interpreti di definirlo secondo i propri orientamenti culturali e politici. Senza volere in questa sede intervenire in modo dettagliato sul complesso dei problemi posti dalla disposizione in esame, ci sembra tuttavia opportuno riassumerne gli elementi fondamentali attinenti al tema qui preso in considerazione. Questo articolo, innanzi tutto, è espressione diretta di una volonté chiaramente enunciata dalla prima sottocommissione dell' assemblea costituente, che nella seduta del 20 novembre 1946 ha approvato un ordine del giorno, presentato dall' on. Dossetti, in cui si affermava essere necessario „che la costituzione affermi il principio del riconoscimento giuridico dei partiti politici e dell' attribuzione ad essi di compiti costituzionali. Rinvia ad un esame comune con la seconda sottocommissione la determinazione delle condizioni e delle modalité". Tale ordine del giorno si ricollegava ad un emendamento dell' on. Basso motivato dalla constatazione dell' esistenza di un „evidente processo di trasformazione delle nostre istituzioni democratiche, per cui alia democrazia parlamentare, non piùrispondente alia situazione attuale, si è venuta sostituendo la democrazia dei partiti gié in atto". La norma costituzionale, pertanto, delinea in modo estremamente sintético la funzione complessiva svolta dai partiti politici tanto nell' ámbito délia société quanto in quello delle istituzioni; ne definisce la funzione strumentale rispetto alia volonté dei cittadini, dei quali riconferma la supériorité derivante dall' attribuzione del potere sovrano; affida ai partiti, in quanto elementi di raccordo tra la société e le istituzioni statali, il compito di proiettare all' interno degli organi di direzione politica dello Stato gli orientamenti politici fondamentali presentí nel corpo elettorale, in modo che 1' attivité del primo corrisponda, com' è necessario formalmente e di fatto in un ordinamento democrático, alla volonté dei cittadini. Quest' ultima fase è espressa in modo sintético nell' ultima parte della disposizione in esame. In quel „concorrere a determinare la politica nazionale" si esprime non tanto la funzione di aggregazione del consenso svolta dai partiti all' interno della société, che d' altronde è gié implícitamente ammessa dai secondo comma dell' art. 18 cost., che legittima 1' associazionismo per fini politici; quanto invece quella vera e propria funzione „costituzionale" in base alia quale i partiti sono legittimati ad operare all' interno dell' apparato dello stato e che nasce dalla trasformazione dello stato liberale in uno stato democrático fondato sul suffragio universale e sui partiti di massa. La politica nazionale, che 1' art. 49 pone come

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momento terminale délia complessiva attività compiuta dai partiti politici, deve necessariamente essere rintracciata air interno dello Stato nell' insieme delle attività politiche compiute tanto dal parlamento (in cui i partiti sono presentí attraverso i propri gruppi parlamentan: artt. 72 e 82 cost.), quanto dal governo (espressione dei soli partiti di maggioranza). E' questa, come si puô comprendere, la norma essenziale dalla quale dipende la ricostruzione stessa di tutto il sistema costituzionale. Collocare infatti la politica nazionale - e quindi i partiti - ail' interno dell' apparato dello Stato significa legittimarne la presenza ail' interno del parlamento e del governo e porre le basi per una lettura del testo costituzionale corrispondente in linea di massima alla sua effettività; al contrario, limitare la loro azione soltanto sul piano délia società, perdendone di vista il collegamento con gli organi fondamentali dello Stato, significa porre le premesse per una ricostruzione délia forma di governo nel soleo di un liberalismo ottocentesco ormai travolto e superato dalla storia, e vanificare al tempo stesso, tra 1' altro, proprio quelle esigenze cui faceva esplicito riferimento 1' odg dell' on. Dossetti. Sulla base di analoghe premesse, proprio 1' estensore in assemblea costituente délia norma presa in esame, esponente politico di rilievo dell' opposizione socialista, premesso al contempo che è „attività principale dell' opposizione" tentare di costringere ad un sostanziale compromesso sulle decisioni da prendere lo schieramento délia maggioranza governativa, rileva che tale principio è „in linea di massima accolto dalla nostra costituzione". Dal raffronto tra gli artt. 95 e 49 cost. sembrerebbe infatti ricavarsi 1' idea che „la politica generale del governo, cioè la politica délia maggioranza, momento certamente preminente délia politica nazionale, si traduca tuttavia in politica nazionale solo attraverso il concorso anche degli altri partiti non compresi nella maggioranza, e cioè dell' opposizione". Questa tesi, sostenuta con un complesso di ulteriori giustificazioni ricollegantisi sovente ad altre norme contenute nella costituzione e nei regolamenti parlamentari, è importante perché indicativa di un dato di fatto: cioé di un orientamento, politico prima ancora che istituzionale, dell' opposizione di sinistra a contestare il modello di opposizione alternativa di tipo britannico a favore di un sistema di tipo compromissorio nei rapporti tra la maggioranza governativa e le opposizioni: sistema, quest' ultimo, che avrebbe prodotto in seguito notevoli conseguenze sui contenuti dei regolamenti parlamentari - e di riflesso sull' attività da questi disciplinata e sull' assetto della stessa forma di governo. In presenza di determinate situazioni politiche e istituzionali la ricostruzione sopra prospettata contiene un núcleo di verità, anche se a nostro avviso non appare corretta sotto il profilo fórmale. Innanzi tutto, la trasformazione della „politica generale del governo" in „politica nazionale" non dipende dalla partecipazione alia prima, con effetti più o meno modificativi, delle opposizioni. La politica nazionale è tale perché è 1' insieme dell' attività politica del parlamento e del governo (di essa è infatti parte essenziale 1' attività legislativa delle camere e, tramite il rappor-

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to di fiducia, la „política generale del governo"); e tale qualifica mantiene indipendentemente dal fatto che le decisioni siano prese in modo sistemático dalla maggioranza governativa o da una maggioranza variabile di volta in volta per il diverso apporto ad essa fornito da uno o più gruppi di opposizione (o loro frazioni interne). La política risultante dal concorso dei partiti all' interno dell' apparato dello stato, in definitiva, si puô considerare „nazionale" per il semplice fatto di essere il prodotto di un' attività procedimentale cui partecipa non solo il raccordo maggioranza parlamentare - governo, ma tutti i gruppi presentí ed operanti all' interno delle camere, indipendentemente dal particolare tipo di convergenza che tra gli stessi si possa o no verificare in ordine alie singóle deliberazioni. In secondo luogo, 1' interpretazione sopra prospettata non tiene conto del fatto che il passaggio dalla pluralité di attività politiche confliggenti, proprie del complesso dei partiti presentí in parlamento, alia politica nazionale si realizza attraverso un concorso reciproco, che costituzionalmente si sviluppa con il „método democrático", che non puô non sostanziarsi nella regola della maggioranza, successivamente specificata negli artt. 64 e 94 cost.. La politica nazionale, pertanto, quale insieme dell' attività politica posta in essere dal governo e dalle camere, potrà essere espressione tanto della volontà della sola maggioranza governativa, quanto della differenziata convergenza di tutti i partiti politici rappresentati in parlamento. Sulla base di queste considerazioni, la formulazione normativa contenuta nell' art. 49 cost. è tale da ricomprendere e legittimare in sé una pluralità di contesti politici differenti - come è normale che faccia una norma costituzionale, che deve a questo scopo possedere un adeguato grado di flessibilità - . Le basi materiali sulle quali si è incardinato il sistema politico repubblicano - caratterizzato dalla storica frammentazione del corpo sociale, garantita e potenziata dal sistema elettorale proporzionale ed irrigidita dalla conventio ad excludendum - hanno condotto, specialmente dopo che è maturato tra le forze politiche principali un comune orientamento in tal senso, alia formazione di una democrazia consociativa. Non si puô trascurare, d' altronde, che le implicazioni di carattere maggioritario teóricamente desumibili dall' art. 49 cost. vengono contraddette nel testo costituzionale dall' art. 67 cost. Ricollegare la politica nazionale all' attività dei partiti è possibile infatti soltanto nella misura in cui la disciplina di partito e di gruppo sia effettiva. Ció implica la compressione della sfera di decisione del singolo parlamentare. Ma questa, almeno a prima vista, è incompatibile con il principio della rappresentanza nazionale e del connesso divieto di mandato imperativo (art. 67 cost.). Se quindi, in virtù di questa disposizione, il singolo parlamentare fosse libero di orientarsi senza condizionamenti formali nelle singóle delibere parlamentari, e questa libertà fosse inoltre - come è stato per quarant' anni - concretamente garantita dalla segretezza del voto, la maggioranza governativa sarebbe destinata a dissolversi frequentemente nelle aule parlamentari consentendo la formazione al suo posto di maggioranze numeriche di volta in volta diversifícate.

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E' vero che il principio délia rappresentanza nazionale, in quanto elemento fondamentale dello stato liberale, inconciliabile con uno stato democrático fondato sui partiti, inserito nel testo costituzionale per la sola forza délia tradizione, deve essere interpretato diversamente rispetto al passato in modo da renderlo compatibile con le altre disposizioni costituzionali; ma resta il fatto che la sua presenza nella costituzione non è stata irrilevante, avendo esplicato un' efficacia non indifférente nell' inserimento e nel mantenimento per un lungo periodo di tempo nei regolamenti parlamentari di norme volte ad attenuare la disciplina di partito e a favorire la formazione di maggioranze fluide e composite. 5. L' indeterminatezza del disegno costituzionale in ordine alla distinzione dei compiti tra la maggioranza e le opposizioni risulta confermata anche dall' analisi delle disposizioni che attengono al rapporto fiduciario e aile modalità per 1' adozione delle delibere parlamentari. E' proprio in sede di votazione sulla fiducia che si conferma e si formalizza nelle aule législative quella discriminazione tra i partiti e i gruppi parlamentari che hanno trovato una piattaforma programmatica comune nel c.d. accordo di coalizione e hanno dato vita al governo (la maggioranza), e i partiti e i gruppi che invece a taie confluenza sono rimasti estranei (le opposizioni). La rilevanza costituzionale di questa votazione e la conseguente importanza dello schieramento parlamentare che in questo modo si forma sono innegabili. Di ciô, d' altronde, è conferma la stessa previsione, eccezionale nel testo costituzionale, del voto per appello nominale, che esprime 1' esigenza forte di un contrallo dei partiti sul comportamento dei propri parlamentari alio scopo di evitare le c.d. ,,degenerazioni del parlamentarismo" ed assicurare di conseguenza, insieme agli altri accorgimenti previsti dall' art.94 cost., la „razionalizzazione" del rapporto fiduciario". Il forte rilievo che la costituzione attribuisce a questo primo e fondamentale momento di aggregazione di una maggioranza politica nell' ordinamento, che avrebbe potuto conduire, se adeguatamente sviluppato e precisato, alla delineazione di un sistema di tipo maggioritario ed alternativo, resta tuttavia fine a se stesso e non si sostanzia in sviluppi coerenti. Anzi, le implicazioni che se ne potrebbero trarre vengono immediatamente smentite. E' lo stesso art. 94 cost. ad affermare infatti al quarto comma che il voto contrario di una o di entrambe le camere su una proposta del governo non importa obbligo di dimissioni. In tal modo vengono irrimediabilmente dissociato, sotto il profilo teorico, il programma del governo dal complesso degli atti parlamentari destinati a dare ad esso attuazione, la maggioranza governativa da quella parlamentare che si forma in occasione delle singóle delibere. Il governo, certamente, è senz' altro e sempre libero di dimettersi, ma 1' apertura di una crisi non incide sulla validité del voto espresso in contrasto con le sue indicazioni. II „voto di dissenso" non appare soltanto in contrasto con le implicazioni di tipo alternativo astrattamente desumibili dal rapporto fiduciario, ma al contempo con le più stringenti disposizioni di principio ed applicative (art. 49 cost. da un lato,

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artt. 72 e 82 cost. dall' altro) che implícitamente sanciscono 1' efficacia della disciplina di partito e di gruppo all' interno dell' ordinamento delle camere. Stabilire infatti che su una qualsiasi delibera parlamentare si possa formare una maggioranza diversa da quella che sostiene il governo significa riconoscere che quella disciplina puô attenuarsi fino a scomparire, ed in definitiva che il sistema costituzionale puô essere specificato ed integrato sulla base di principi tra loro contrapposti: quello individualistico proprio dell' età liberale, in cui le maggioranze si formano e si trasformano liberamente, e quello proprio di una democrazia fondata su partiti di massa, in cui le decisioni politiche vengono assunte dai partiti e dai gruppi che, imponendo le proprie direttive, condizionano i comportamenti dei rispettivi parlamentari. II significato implícito del c.d. „voto di dissenso" trova conferma nell' art. 64 cost., che per le delibere parlamentari pone in via generale - come si è già accennato - il principio della maggioranza semplice, intesa come mera maggioranza numérica non necessariamente corrispondente con quella governativa. II raccordo tra il quarto comma dell' art. 94 e il terzo comma dell' art. 64 sembra quasi sfociare nel passaggio dai voto di fiducia sul governo e sul suo programma, caratterizzato dai massimo irrigidimento della disciplina di partito ottenuto attraverso il voto per appello nominale, alla sua attuazione legislativa - nella potenziale dissoluzione, al limite, del programma stesso, determinata dalla non rara frantumazione della maggioranza di governo e dai vario ricomporsi delle sue componenti con gli altri gruppi parlamentari. A l di là del suo implicito riconoscimento nel momento della sua aggregazione e manifestazione fórmale attraverso il voto di fiducia, la costituzione sembra in definitiva disinteressarsi della maggioranza governativa, non precisandone né ruolo né compiti; e non a torto è stato sostenuto che „la costituzione ha semplicemente preso atto che, fra il conferimento e la revoca della fiducia, la maggioranza esiste in quanto e nella misura in cui esista, vale a dire in quanto sia presente, omogenea ed efficiente". Scarso rilievo al fine della ricostruzione del disegno costituzionale in ordine ai rapporti tra la maggioranza e le opposizioni assumono le norme che prevedonodelle maggioranze per 1' adozione di delibere particolarmente importanti (come I' elezione del presidente della repubblica e dei giudici della corte costituzionale; la revisione della costituzione), che buona parte della dottrina considera espressione di un orientamento costituzionale a favore di un sostanziale compromesso tra le varie forze politiche. Queste norme si ricollegano infatti ad esigenze di carattere organizzativo o di garanzia, oppure ail' approvazione di testi normativi di particolare valore nella definizione del sistema politico, che in quanto tali sono sottratti al potere esclusivo della maggioranza governativa. Sembra quindi più corretto considerarle semplici eccezioni alla norma generale che presiede alie delibere di attuazione dell' indirizzo politico, che 1' art. 64 cost. individua nella maggioranza dei presentí.

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Analoghe considerazioni devono poi essere prospettate nei confronti di poteri tradizionali degli organi legislativi, quali quello di iniziativa legislativa e, ad esso connesso, quello di emendamento. Entrambi sono attribuiti a eiaseun parlamentare, indipendentemente dalla sua appartenenza ail' uno o ail' altro degli schieramenti contrapposti, e tendono naturalmente a sollecitare una delibera parlamentare che, se positiva, puô innestarsi nell' indirizzo politico del governo specificandolo ed attuandolo, come puô al contempo alterarlo in modo più o meno intenso. Ció tuttavia non implica necessariamente un orientamento costituzionale a favore di un regime di tipo compromissorio, che invece puô realizzarsi in concreto soltanto nella misura in cui i regolamenti parlamentan pongano un freno più o meno intenso, in modo particolare con lo scrutinio segreto, all'espandersi della disciplina di partito e di gruppo. Risulta comunque evidente come da questo complesso di disposizioni sia possibile rinvenire indicazioni contrastanti, favorevoli di volta in volta all' uno o all' altro dei modelli in comparazione. La prima, inerente al rapporto fiduciario, prefigura un sistema di tipo alternativo tra la maggioranza e le opposizioni, mentre le altre (a cominciare dal voto di dissenso) potrebbero essere correttamente utilizzate per delineare tra gli stessi schieramenti un sistema di rapporti di tipo consociativo. Ad una pura e semplice analisi di natura giuridico - costituzionale entrambe le interpretazioni appaiono formalmente corrette, e proprio per questo non si puô attribuire ad esse un peso eccessivo, in quanto in realtà nascono non tanto da un orientamento ben definito maturato all' interno dell' assemblea costituente, quanto invece dalla deliberata decisione di quest' ultima di lasciare il disegno incompiuto, attribuendo ad altre fonti e ad altri soggetti - e cioè alla potestà regolamentare delle camere, eventualmente alie leggi ordinarie, alie convenzioni/consuetudini e quindi in definitiva alie forze politiche operanti all' interno del sistema - il compito di definirlo nei suoi meccanismi applicativi ed eventualmente di modificarlo, adeguandolo al mutamento delle condizioni socio-politiche dell' ordinamento. E' nelle camere, infatti, che si sviluppa a livello istituzionale il confronto e la dialettica tra il governo, la sua maggioranza parlamentare e le opposizioni. Ad esse pertanto spetta, nell' esercizio della loro potestà regolamentare, il compito di attuare la costituzione, integrando e specificando in maniera razionale e unitaria le differenti e contrastanti potenzialità in essa contenute; di adeguare le proprie norme interne alie particolari esigenze e alla volontà dei suoi operatori; di caratterizzare in definitiva 1' assetto costituzionale, nei diversi momenti storici, rispettivamente in senso alternativo o consociativo. 6. Le elezioni del 1948, com' è noto, attribuirono alia democrazia cristiana la maggioranza assoluta dei seggi in entrambe le camere. Questo fatto, unito alia rígida contrapposizione esistente tra i partiti di centro, alleati in una coalizione di governo, e le opposizioni rispettivamente di sinistra (comunisti e socialisti) e di destra (monarchici e neofascisti), pose le necessarie premesse politiche per una democrazia di tipo alternativo. La profonda divisione ideológica tra i diversi partiti e schieramenti, 1' influenza sulle vicende politiche interne della frattura che si

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andava approfondendo e radicalizzando tra i Paesi di democrazia occidentale e quelli ispirantisi ai principi della democrazia socialista, il deciso intervento della chiesa cattolica contribuirono a creare un clima di contrapposizione che naturalmente tendeva a ripercuotersi e a perpetuarsi all' interno delle camere. In questo clima il governo, forte del suo sostegno parlamentare, e quindi senza curarsi delle reazioni delle opposizioni, opera per il perseguimento del suo indirizzo tra Y altro nella politica delle alleanze internazionali, dello sviluppo economico e sociale, del mantenimento dell' ordine pubblico, pur rallentando 1' attività legislativa di attuazione degli istituti di garanzia previsti dalla costituzione. L' innesto nel sistema di queste tendenze di natura alternativa, tuttavia, non poteva non essere effimero da un lato per 1' eccezionalità delle condizioni che avevano consentito alia democrazia cristiana di ottenere un consenso elettorale molto ampio (e che infatti non si sarebbe più ripetuto), e dalF altro per la presenza di una legge elettorale proporzionale che avrebbe contribuito nelle législature successive alla definitiva e forse irreversibile frammentazione del sistema partitico. A ció si aggiungeva l'impossibilité per le opposizioni, e specialmente per quella di estrema sinistra, di pervenire al governo in tempi prevedibili: ció che non poteva non spingerle all' adozione di una strategia istituzionale di tipo consociativo in irrimediabile contraddizione con le temporanee e contingenti basi politiche del sistema costituzionale. Nonostante i rapporti di forza stabiliti tra i diversi partiti dalla consultazione elettorale, il sistema si sviluppa sotto il profilo istituzionale in modo ambiguo, rinvenendosi in esso elementi propri dei due modelli contrapposti di democrazia consociativa e alternativa. Un esempio emblemático della tendenza consociativa si puó rinvenire nel concreto esercizio da parte di entrambe le camere della potestà regolamentare. La camera dei deputati, perriaffermare la propria continuité con quella prefascista, nella seduta del 15 novembre 1949 adottô, com'è noto, il regolamento di questa ultima. II testo risultante dall' elaborazione del 1900, integrato dalle successive modifiche apportate fino al 1922, ed infine coordinato con la nuova carta costituzionale ad opera della giunta per il regolamento, diventô il regolamento della camera repubblicana fino all' adozione nel 1971 della nuova, generale, più sistemática e completa disciplina. Il senato, invece, non potendo comportarsi in modo analogo per le radicali differenze esistenti con il senato del regno, fu costretto ad adottare un nuovo testo regolamentare, che in linea di massima ricalcava tuttavia, sia pure con alcune significative differenze, quello della camera dei deputati. In entrambe le camere mancó in definitiva una riflessione approfondita - e sarebbe stato invero eccessivo pretenderlo all' indomani dell' entrata in vigore della carta costituzionale - sulle divergenze esistenti tra quest' ultima e lo statuto albertino ed inoltre suir influenza che tali divergenze avrebbero dovuto esercitare sulla disciplina organizzativa e funzionale dei nuovi organi rappresentativi. Probabilmente, 1' affinité esistente tra la forma di governo repubblicana e quegli stessi principi del governo parlamentare che si erano convenzionalmente sviluppati e stabiliti sotto lo statuto albertino spinse la maggior parte a ritenere che fosse sufficiente un sem-

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plice adattamento del testo regolamentare antecedente ail' esperienza autoritaria. Manco quindi la consapevolezza non solo dell' incidenza prodotta sull' organizzazione costituzionale dei poteri, ed in particolar modo sulle camere, dal passaggio dallo Stato liberale ad uno Stato sociale e democrático fondato su stabili organizzazioni partitiche di massa; ma anche délia trasformazione che Y inserimento dei partiti, tramite i rispettivi gruppi parlamentari, avrebbe determinato ail' interno degli organi legislativi sulla posizione del parlamentare, ormai non più notabile indipendente, ma soggetto potenzialmente ad una rígida disciplina. Non si deve comunque trascurare che almeno queste ultime conseguenze, per quanto ben conosciute, erano avversate da un numero non indifférente di parlamentari, specialmente tra le forze politiche délia maggioranza centrista, i quali avevano tutto 1' interesse a mantenere spazi non indifferenti di autonomia nei confronti delle rispettive organizzazioni partitiche e che probabilmente nel principio délia rappresentanza nazionale e nel connesso divieto del mandato imperativo rinvenivano motivi formali sufficienti per relegare quelle implicazioni nell' ámbito di una situazione di fatto non compatibile con 1' ordine costituzionale. Nella maggioranza, chi aveva la consapevolezza dell' importanza della disciplina regolamentare nello specificare e nell' attuare creativamente la stessa costituzione probabilmente non ritenne opportuno affrontare un lungo ed aspro confronto con le opposizioni, specialmente quelle di sinistra, per la convinzione da un lato dell' incertezza sul suo esito finale, e dair altro perché i rapporti di forza esistenti nella prima legislatura tra le di verse componenti partitiche dello schieramento parlamentare avrebbero comunque sempre consentito alia maggioranza di affrontare e risolvere sul piano pratico - cioè quello delle decisioni assunte direttamente dall' assemblea - qualsiasi problema di natura regolamentare si fosse presentato. L' adozione del regolamento prefascista fu comunque per la camera una decisione, se non quasi obbligata, almeno naturale e spontanea. Sulla base di quel testo, infatti, si era sviluppata 1' attività delle prime assemblee direttamente o indirettamente rappresentative che avevano operato nel periodo costituzionale transitorio: la consulta nazionale prima e poi la stessa assemblea costituente. Questa, addirittura, pur avendo il potere di darsi un nuovo regolamento, non lo aveva esercitato, ritenendo sufficiente e valido per 1' esercizio delle sue funzioni il complesso delle norme regolamentari della camera vigente alia fine dell' esperienza liberale. Ma se quel testo poteva andaré bene per lo svolgimento di funzioni in qualche misura eccezionali e temporanee, ed inoltre per la disciplina dei rapporti tra forze politiche che si ispiravano all' esigenza della massima collaborazione nella redazione del nuovo testo costituzionale, era certamente insufficiente a specificare ed integrare un complesso di nuove norme costituzionali che per diversi motivi lasciavano incompiuto il raccordo - fondamentale tanto nella ricostruzione teórica quanto nel concreto funzionamento della forma di governo - tra 1' esecutivo e il parlamento, tra la maggioranza governativa e le opposizioni. In definitiva, la camera e il senato recepirono un complesso di norme regolamentari che si ispiravano come principio fondamentale ad uno spinto individua34 FS Leisner

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lismo, che non poteva non risolversi nel contenimento del ruolo e dei poten dei gruppi parlamentad. Esse stabilivano la prevalenza del voto segreto su quello per appello nomínale; affidavano la determinazione dell' ordine del giorno dei lavori délia seduta alla volontà di un' episódica maggioranza formatasi al termine della seduta precedente su una proposta del presidente dell' assemblea; lasciavano priva di disciplina un* ampia serie di situazioni e di rapporti, favorendo rilevanti comportamenti ostruzionistici; rimettevano in ultima istanza alla volontà della maggioranza semplice dell' assemblea le decisioni sulle questioni di interpretazione del regolamento, ponendo cosí le basi per un possibile scardinamento della funzione garantista che questo deve svolgere nei confronti di ciascun gruppo e di ciascun parlamentare. II regolamento prefascista, ad esempio, con le modificazioni introdotte dopo T entrata in vigore nel 1919 della legge elettorale proporzionale, ave va previsto la costituzione dei gruppi parlamentari (che prendevano allora il nome di „uffici"), nonché quella di commissioni permanenti con competenze législative istruttorie e, per prassi incipiente, di controllo sul governo, costituite su designazione degli stessi gruppi. Se allora questo ridotto núcleo di norme poteva rappresentare la prima e timida risposta a livello parlamentare, susseguente all' introduzione del suffragio universale (1912), all' incipiente trasformazione del regime liberale, che avrebbe dovuto evolversi rápidamente in un sistema democrático fondato su organizzazioni politiche di massa; esso appariva certamente insuficiente quasi trent' anni dopo di fronte all' emergere sulla dissoluzione del regime fascista e della monarchia di nuove istituzioni democratiche pienamente ispirantisi al principio della sovranità popolare. Quest' ultimo presupponeva uno stretto coordinamento tra la manifestazione di volontà del corpo elettorale espressa nella formazione della rappresentanza parlamentare, e la complessiva attività dell' apparato dello Stato; ed implicava di conseguenza 1' adozione di una serie di norme che assicurassero la prevalenza sul principio individualistico di quello opposto fondato sulla supremazia dei gruppi. Le norme regolamentari, in definitiva, non avrebbero dovuto limitarsi a porre i gruppi a fondamento dell' organizzazione delle camere, ma avrebbero anche dovuto trasformarli nel motore essenziale di tutta la loro attività; ed inoltre avrebbero dovuto assicurare la piena espansione nelF organizzazione parlamentare della disciplina di gruppo e di partito, la cui mancanza avrebbe compresso - fin quasi ad annullarlo - il principio stesso su cui si fondava il nuovo ordinamento. II regolamento prefascista era ben lontano dal soddisfare queste esigenze. In modo particolare, in quanto fondato su una concezione degli organi rappresentativi prettamente liberale ed individualistica, derivante dal principio della rappresentanza nazionale e dal connesso divieto di mandato imperativo, esso era del tutto inidoneo ad assicurare il normale svolgimento di una democrazia fondata sull' alternanza, che del riconoscimento della disciplina di gruppo doveva essere lo sbocco naturale. Ma quest' alternanza, d' altro canto, in quel momento e per un periodo di tempo molto lungo sarebbe stata in concreto irrealizzabile, perché ne mancavano le basi materiali. II sistema elettorale rigorosamente proporzionale e la conventio

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ad excludendum nei confronti delle opposizioni di destra e di sinistra costituivano infatti, fondendosi insieme, un meccanismo perverso che ne impediva Y affermazione. Nello stesso tempo, la concezione atomistica délia camera espressa dai regolamenti parlamentan e 1' assenza di un' efficace disciplina che rafforzasse il naturale collegamento tra il governo e la sua maggioranza parlamentare alla luce delle esigenze di attuazione dell' indirizzo politico, delineavano un sistema parlamentare fluido, fondato sul principio délia parità giuridica di tutti i gruppi, senza alcuna distinzione di ruoli tra la maggioranza e le opposizioni, destinate a confrontarsi liberamente nelle aule parlamentari. Nei confronti delle camere il governo era privo di una qualsivoglia capacità direttiva, che non fosse quella scaturente dai vincoli di coalizione e di partito. Ma questi erano entrambi deboli: il primo per la non omogeneità e continua conflittualità tra le diverse componenti della coalizione; il secondo per 1' organizzazione in correnti di quasi tutti i partiti e per la conseguente scarsa disciplina interna, destinata spesso a soccombere di fronte alia richiesta da parte delle opposizioni del voto segreto. Emblemática di questa situazione è la vicenda relativa alie modalità di votazione, la cui importanza nei funzionamento del sistema era già nota nei periodo costituzionale transitorio. Nei confronti della consulta nazionale, infatti, il D. Lgs.Lgt. n. 539 del 1945 stabiliva ail' art. 29 che fino a che questa non avesse approvato il proprio regolamento interno dovessero trovare applicazione, in quanto applicabili, „le disposizioni contenute nei regolamento della camera dei deputati in vigore prima del 28 ottobre 1922". A dire il vero, 1' art. 18 aveva già stabilito che „Per la nomina a cariche ovvero quando un quinto degli intervenuti lo richieda, le votazioni sono fatte a scrutinio segreto"; ma questa disposizione non costituiva un limite ail' esercizio della potestà regolamentare della consulta, tanto è vero che quando venne presentato dall' apposita commissione il relativo progetto, che prevedeva la prevalenza del voto segreto su quello per appello nominale, quest' ultima norma venne contestata da più settori, ed infine, con 1' opposizione di DC e PLI, venne approvato un emendamento che sanciva la prevalenza del voto per appello nominale. L' assemblea costituente, alia quale 1' art. 4 del D. Lgs. Lgt. n. 98 del 1946 aveva esteso la stessa disposizione stabilita per la consulta nazionale, non ritenne opportuno, a differenza di quest' ultima, adottare un nuovo regolamento, e quindi continuó a trovare applicazione quello della camera prefascista. Quando tuttavia, durante i lavori per 1' approvazione della nuova carta costituzionale, venne in discussione in assemblea 1' art. 69 del progetto, che in conformità del vecchio statuto albertino stabiliva 1' obbligatorietà dello scrutinio segreto nella votazione finale sui disegni di legge, quest' ultimo venne seriamente contestato, ed alia fine prevalse la proposta interlocutoria di cancellare dal testo della costituzione ogni riferimento alia questione, affidandone la risoluzione alla potestà regolamentare delle future camere. Questa volta, tuttavia, gli schieramenti si capovolsero rispetto a quanto si era verificato nell' ámbito della consulta nazionale: le sinistre si schiera34*

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roño a favore del voto segreto, mentre la DC assunse una posizione a favore del voto palese. Le giustificazioni di questo capovolgimento sono abbastanza comprensibili. Le forze politiche si sono ormai rese conto che i parlamentan della sinistra votano disciplinatamente in conformité delle direttive dei rispettivi partiti e gruppi parlamentad, mentre quelli della democrazia cristiana, partito più composito e frammentato, una volta che lo scrutinio segreto li affranca dalla disciplina di partito, votano più che secondo coscienza, secondo i propri interessi e i propri fini. Per I' opposizione il voto segreto è strumento di lotta politica utile a fare scoppiare i dissensi tra i partiti che compongono la maggioranza governativa, tra le loro componenti interne e i rispettivi parlamentari. Esso viene perianto valutato dalle diverse forze politiche non sulla base di astratte considerazioni di carattere teorico, ma per quello che effettivamente è: e cioè quale strumento idoneo a frantumare e sconfiggere la maggioranza e il governo nelle singóle votazioni, a porre un freno ail' attuazione dello indirizzo politico, a precostituire le condizioni che di quest' ultimo consentano in concreto la modificazione. Con la scelta regolamentare a favore della prevalenza del voto segreto su quello palese si definisce inoltre un' altra opzione che il testo costituzionale non aveva risolto. E' noto che Y art. 68 cost. stabilisce 1' insindacabilità di ciascun membro del parlamento per i voti dati e le opinioni espresse nell' esercizio delle sue funzioni. Per quanto riguarda i voti, la garanzia costituzionale ha naturalmente un senso soltanto nella misura in cui questi non siano coperti dal segreto. La norma esprime naturalmente una preferenza implicita nei confronti della pubblicità del voto, senza pero che da essa possano desumersi indicazioni tassative in tal senso. Potrebbe soltanto affermarsi, a questo proposito, 1' illegittimità costituzionale di una norma regolamentare che prevedesse Y obbligo di votare soltanto in modo segreto o, alio opposto, soltanto in modo palese. II primo, infatti, vanificherebbe Y esigenza che la norma costituzionale tende a soddisfare, mentre al contempo annullerebbe in maniera definitiva ed irrevocabile la disciplina di partito e di gruppo; il secondo, invece, si scontrerebbe con Y ovvia esigenza della riservatezza, insopprimibile in talune manifestazioni di volonté, come quelle ad esempio inerenti a persone. Esclusi questi estremi, all' esercizio della potesté regolamentare spetta, nella vasta gamma delle soluzioni intermedie possibili, definire in concreto il livello al quale contemperare le diverse esigenze. A seconda che la soluzione in concreto prescelta si avvicini di più all' uno o ail' altro dei due estremi della pubblicité o della segretezza del voto, il sistema costituzionale tenderá nel suo complesso ad orientarsi rispettivamente verso 1' alternanza o il consociativismo. E la scelta effettuata a favore della disciplina tradizionale contenuta nel regolamento della camera dei deputati prefascista ha decisamente orientato il sistema costituzionale verso un assetto di natura consociativa dei rapporti tra la maggioranza e le opposizioni. L' adozione del regolamento della camera prefascista, con le implicazioni di politica costituzionale che ne conseguono, non puô tuttavia essere criticata ecces-

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sivamente, dovendo essere collocata nel contesto complessivo - culturale, politico, istituzionale - del tempo. Quando in assemblea costituente fu approvato 1' ordine del giorno dell' on. Perassi favorevole ail' introduzione di una forma di governo parlamentare, sia pure con meccanismi di razionalizzazione che temperassero l ' i n stabilité ministeriale, le forze politiche avevano quasi certamente in mente un assetto dei rapporti tra il governo e il parlamento analogo a quello albertino, caratterizzato da un grado di fluidità non indifférente tra le diverse forze politiche parlamentad. La stabilità del governo doveva essere assicurata non da una drastica semplificazione délia rappresentanza parlamentare e dal conseguente rafforzamento negli organi legislativi délia struttura dei partiti - che si poneva in palese contraddizione con 1' unanime orientamento verso una legge elettorale proporzionale pura - , ma dalla rigorosa disciplina fórmale delle mozioni di fiducia e di sfiducia e, in particolar modo, dall' esplicita affermazione délia non obbligatorietà delle dimissioni del governo in seguito ad un voto parlamentare ad esso contrario. L' adozione del regolamento délia camera prefascista, nell' ottica délia continuità tra le due esperienze istituzionali ed alla luce délia prova che ne era stata fatta durante tutto lo svolgimento dei lavori dell' assemblea costituente, doveva apparire la soluzione naturale e spontanea, pienamente corrispondente al sistema politico che si aveva in mente. Le modifiche che nel funzionamento concreto delle istituzioni parlamentari si fossero rese necessarie, anche alla luce di una più approfondita valutazione del contenuto normativo proprio delle nuove disposizioni costituzionali, sarebbero state apportate dalle camere stesse nell' esercizio délia potestà regolamentare ad esse riconosciuta dall' art. 64 cost. Le implicazioni derivanti dall' adozione délia disciplina regolamentare prefascista risultano poi rafforzate da una delle prime modifiche apportate dalla camera dei deputati al proprio regolamento interno, consistente nella istituzione (1950) di una conferenza dei presidenti con compiti di programmazione délia propria attività istituzionale (art. 13 bis RC). Quest' organo, desunto dall' esperienza parlamentare délia III Repubblica francese e composto dal presidente délia camera, dall' ufficio di presidenza, dai presidenti delle commissioni permanenti ed infine, ed essenzialmente, dai presidenti dei gruppi parlamentari, si caratterizza innanzi tutto per la palese compressione del ruolo del governo, il quale è informato dal presidente dell' assemblea del giorno e dell' ora délia conferenza „per farvi assistere un suo rappresentante". L' organo di direzione politica del sistema, quello che in una forma di governo parlamentare dovrebbe essere il „comitato direttivo" délia maggioranza parlamentare, è trasformato dalla norma regolamentare in una specie di „convitato di pietra", che „assiste" senza alcuna possibilité di intervento ail' adozione di una delibera di estrema rilevanza nella dinamica istituzionale - quale quella relativa alia determinazione degli argomenti da sottoporre ail' esame dell' organo legislativo in un determinato periodo di tempo - , strettamente attinente all' attuazione del programma politico sul quale si è costituita la stessa maggioranza ed è stata conferita la fiducia. Le delibere della conferenza dei presidenti sono inoltre assunte all' unanimité. Alla programmazione dei lavori, pertanto, si puô pervenire soltanto sul-

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la base di un aecordo generale ed unánime tra le forze politiche, dal quale Y único ad essere escluso é, in maniera palesemente irrazionale, proprio il governo. Questo primo tentativo di programmazione dell' attivitá parlamentare ha esiti modesti, sia perché non é facile raggiungere Y unanimitá dei consensi, sia per la non obbligatorietá delle decisioni in essa eventualmente assunte, che possono essere modifícate dall' assemblea. E' tuttavia importante perché da un lato costituisce la prima esplicitazione da paite delle forze politiche, dopo Y entrata in vigore della costituzione repubblicana e Y adozione dei regolamenti parlamentari, di una tendenza di natura chiaramente consociativa; e dall' altro perché gli elementi su cui la programmazione dei lavori si fonda, ancora insufficienti ed imperfetti, troveranno pieno sviluppo nella successiva revisione generale che della normativa regolamentare verrá fatta nel 1971. Questo orientamento consociativo appare ancor piú rilevante sia perché si manifesta nell' ordinamento immediatamente dopo 1' entrata in vigore della costituzione, sia ancora perché si ricollega ad un periodo nel quale i rapporti di forza tra gli schieramenti parlamentari contrapposti e la tensione del conflitto politico e sociale poteva fare pensare che la maggioranza avesse tutto T interesse a creare meccanismi che rafforzassero, anziché indebolire, la sua capacitá di decisione politica. I regolamenti parlamentari pongono quindi le basi - interpretando le norme costituzionali attinenti alia forma di governo ed ai rapporti tra la maggioranza e le opposizioni, e risolvendone le ambiguitá e le lacune - per lo svolgimento di un' attivitá parlamentare caratterizzata da un ampio margine di fluiditá tra le forze politiche e si ispirano di conseguenza al principio della cogestione in contrapposizione a quello dell' alternanza. Questa situazione istituzionale non appare il prodotto fortuito di casuali evenienze politiche - ché anzi il risultato delle elezioni politiche del 1948 costituiva un dato oggettivo contrario a quella tendenza - , ma é la conseguenza di una scelta istituzionale, e quindi intrínsecamente giuridica, di tutte le forze politiche. A questi dati, derivanti da scelte di tipo istituzionale, si aggiungono poi nella prima legislatura quelli che si desumono dall' insieme dei comportamenti posti in essere dalle varié forze politiche nell'esercizio delle rispettive attivitá parlamentari. Nell' attivitá legislativa, in particolare, la confluenza tra la maggioranza e le opposizioni é molto frequente, specialmente nelle commissioni permanenti. Alia rígida contrapposizione in aula sui problemi di maggiore rilievo politico corrisponde nei confronti degli altri un dialogo intenso, un lento avvicinamento delle posizioni che sfocia spesso in un consenso unánime. Ma é questo un consenso che si realizza prevalentemente sulle leggi di scarso significato politico, che di solito riguardano categorie anche molto limitate di persone e quindi tendono al perseguimento di interessi sezionali o microsezionali. Le commissioni, cui la costituzione attribuisce non solo una competenza referente, ma anche una vera e propria potestá legislativa deliberante, sono la sede ideale - lontana dalla pubblicitá che caratterizza i lavori dell' aula - per quest' attivitá di tipo compromissorio, imposta dalla ñor-

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ma costituzionale (art. 72 cost.) che consente ad un décimo dei membri di ciascuna camera di chiedere con effetti immediati 1' esame del progetto di legge con il procedimento legislativo ordinario, e quindi il suo deferimento dalla commissione all' aula. Se la maggioranza non vuole correre il rischio di una paralisi di tutta 1' attivitá legislativa svolta nelle commissioni, deve necessariamente aprirsi alie esigenze delle opposizioni. La mediazione che ne consegue si svolge attraverso scambi reciproci che consentono 1' approvazione di disegni di legge di iniziativa delle diverse forze politiche, tanto della maggioranza quanto delle opposizioni, o di emendamenti di maggiore o minore rilevanza introdotti nelle iniziative del governo o dei gruppi parlamentari che lo sostengono. Ma buona parte di questa attivitá legislativa ha natura sostanzialmente amministrativa, con la quale le camere, e quindi anche le opposizioni al loro interno, comprimono la sfera di competenza propria del governo, alterano la forma propria degli atti amministrativi e di conseguenza il regime naturale dei controlli. A queste conseguenze negative se ne aggiungono altre di carattere ancor piú generale, perché i crescenti oneri finanziari derivanti da questa miriade di leggi settoriali si scaricano sul bilancio dello stato compromettendo a lungo andaré in modo sempre piü accentuato il naturale equilibrio tra le entrate e le spese. Questo sistema é funzionale alie esigenze di gestione clientelare del potere da parte di tutti i partiti, ed in particolare quello comunista rinviene in esso una forma di compenso sostanziale - che con il trascorreré degli anni diventerá sempre piú importante sotto il profilo dell' aggregazione del consenso - per la sua esclusione da ogni forma di coalizione di governo con gli altri partiti dello schieramento parlamentare. Ci si trova quindi di fronte ad un atteggiamento compromissorio delle forze politiche che rinviene il suo fondamento, per quanto implicito, in una del tutto deprecabile scelta costituzionale: e cioé nella potestá che Y art. 72 cost. riconosce - única per molti anni nel panorama del diritto comparato - alie commissioni permanenti di esercitare in via definitiva la potestá legislativa. Aggiungendo alie commissioni permanenti le due assemblee della camera e del senato, gli organi cui la costituzione attribuisce Y esercizio della potestá legislativa sono quasi una trentina. Fatta eccezione per le leggi di rilievo politico piü o meno generale, naturalmente riservate all' esame in aula con il procedimento ordinario, questa enorme capacitá di proliferazione legislativa non poteva non avere come suo fine intrínseco - al perseguimento del quale evidentemente era stata precostituita - quello di una gestione clientelare del potere, destinata a coinvolgere gli stessi partiti di opposizione. II compromesso nell' attivitá legislativa non si realizza pero soltanto sulla legislazione minuta di spesa, ma anche su progetti di legge di ben maggiore spessore attinenti alia regolamentazione dell' attivitá economica, sui quali il governo ritiene opportuno raggiungere preventivamente un accordo con le organizzazioni sindacali, tra le quali quelle ricollegantisi ideológicamente ai partiti dell' opposizione di

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sinistra. Attraverso questo indiretto collegamento, 1' opposizione desee ad acquisire una capacità di influenza preventiva, sia pure parziale, sull' indirizzo politicoeconomico del governo, cui si aggiungono le ampie possibilité che i regolamenti parlamentan le offrono, nelle varíe fasi dell' iter legislativo, di modificare ulteriormente I' accordo raggiunto tra governo e sindacati in senso migliorativo rispetto alie aspettative di questi ultimi. Infine, a cominciare da questa prima legislatura e per un periodo di tempo non breve, si dischiude ail' attività dell' opposizione il vasto campo dell' attuazione délia costituzione, cioè quello della concreta attivazione degli istituti di garanzia in essa previsti. I partiti al governo non avevano ovviamente alcun interesse ad attuarli, in quanto risolventisi in un limite oggettivo al loro potere (corte costituzionale, referendum) o in un ampliamento di quello delle opposizioni (ordinamento régionale). Queste ultime assumono quindi un' essenziale funzione di stimolo nei confronti della maggioranza. Nel 1953 vedono cosí la luce la legge n.62 sulla costituzione e il funzionamento degli organi regionali, dal contenuto tuttavia nettamente restrittivo dell' autonomia regionale ed in più norme non conforme ai principi costituzionali sulla materia; ed inoltre la legge costituzionale n. 1 del 1953 contenente norme concernenti la corte costituzionale, cui fa subito seguito la legge ordinaria n. 87 dello stesso anno, che ne disciplina la costituzione e il funzionamento, anche se poi la corte comincerà a funzionare concretamente soltanto nel 1956 con 1' investitura dei quindici giudici. 7. Se da queste considerazioni si dovesse trarre la conclusione che dati istituzionali e comportamenti delle forze politiche tendono fin dalla prima legislatura alia formazione di un sistema politico di tipo esclusivamente consociativo, si cadrebbe probabilmente in errore. La forte base parlamentare del governo, nella quale la democrazia cristiana ha da sola alia camera la maggioranza assoluta dei seggi, politicamente rafforzata dal clima internazionale ed interno di forte contrapposizione ideológica, consente ail' esecutivo di attuare con una relativa tranquillità almeno gli elementi essenziali del suo indirizzo politico, pur nell' assenza di strumenti costituzionali o regolamentari che ne facilitino 1' azione. Quando invece il governo si rende conto, come in occasione dei dibattiti parlamentari inerenti alia partecipazione dell' Italia all' Alleanza atlantica (NATO), dell' esistenza di un serio rischio di essere messo in minoranza; quando cioè la norma regolamentare che fa prevalere la richiesta di voto a scrutinio segreto su quella per appello nominale non gli consente di mantenere il contrallo sul comportamento dei parlamentari di maggioranza (e specialmente delle correnti interne ai relativi partiti) e di impedirne la defezione e la confluenza sulle tesi sostenute dalle opposizioni, il governo reagisce forzando il sistema costituzionale con la posizione della questione di fiducia. Questo istituto era ben noto all' esperienza costituzionale italiana, essendosi sviluppato fin dai primi tempi dello statuto albertino e poi consolidato con la progressiva instaurazione della forma di governo parlamentare. Si sarebbe quindi potuto ritenere che fosse implícito in questa forma di governo, se la particolare „raziona-

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lizzazione" del rapporto di fiducia consacrata nell' art. 94 cost., che lega ogni manifestazione di volontà delle camere sulla fiducia o sfiducia al governo ail' enunciazione da parte di queste di una motivazione politica (inesistente e impossibile nella questione di fiducia), espressiva délia formazione di una nuova maggioranza politica, non facesse seriamente dubitare délia sua conformité al testo costituzionale. Nell' esperienza statutaria la posizione délia questione di fiducia da parte del governo si risolveva nell' affermazione délia stretta inerenza dell' oggetto in discussione ail' indirizzo politico, con la conseguenza che un eventuale voto negativo délia camera avrebbe assunto il significato di rottura fórmale del rapporto fiduciario con il conseguente obbligo giuridico per il governo di rassegnare le dimissioni. Qualora, a seguito délia dichiarazione del governo, le camere repubblicane avessero dovuto pronunciarsi nel rispetto delle norme regolamentari vigenti, le opposizioni non avrebbero avuto nessun motivo per contestare l'iniziativa del governo di verificare la persistenza del rapporto fiduciario, che si sarebbe risolta per esse nello indiscutibile vantaggio di costringerlo a rassegnare le dimissioni nell' eventualità in cui la votazione avesse avuto un esito negativo. II governo, tuttavia, non si è limitato a porre la questione di fiducia, ma ha ritenuto che la sua regolamentazione fosse implicita nell' art. 94 cost. e che da essa dovesse scaturire innanzi tutto F obbligo della votazione per appello nominale, previsto dal secondo comma per le mozioni di fiducia e di sfiducia; ed inoltre la precedenza, tra tutti gli atti da mettere in votazione, del testo sul quale era stata posta la questione di fiducia (priorité), l'impossibilité di sottoporre quest' ultimo a votazione per parti separate (indissolubilité) o comunque di apportare ad esso modifiche di qualsiasi tipo (inemendabilité). Naturalmente queste richieste si scontravano tutte con tassative norme regolamentari che disciplinavano in modo esplicito la materia. Malgrado le fortissime contestazioni delle opposizioni (il partito comunista continuera a negare la legittimité costituzionale di questa disciplina fino all' approvazione dei regolamenti parlamentari del 1971, in cui all' istituto viene data - ma solo alia camera - una nuova e più restrittiva regolamentazione), le richieste del governo ottengono F avallo tanto dei presidenti delle assemblee, quanto della maggioranza parlamentare che viene chiamata a pronunciarsi definitivamente sulla loro conformité alla costituzione. Il governo crea cosí F único istituto che gli consente innanzi tutto di prevalere sulle eventuali tendenze centrifughe di parlamentari della sua maggioranza, ricostituendo attraverso il voto per appello nominale la disciplina di partito; e in secondo luogo di reagire, con le altre conseguenze procedurali sopra indicate, all' eventuale ostruzionismo delle opposizioni. La questione di fiducia è quindi uno strumento senza alcun dubbio efficace nell' affermare la funzione direttiva del governo e la sua capacité di incidenza sullo svolgimento dell' atti vité parlamentare; ma presenta tuttavia il limite oggettivo di potere essere utilizzato soltanto sporadicamente, nei casi cioè in cui siano effettivamente in discussione gli elementi essenziali del suo

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indirizzo político. II suo uso frequente, infatti, oltre ad essere segno di indubbia debolezza política, finirebbe con il minare progressivamente le basi del suo consenso parlamentare, fino a determíname le dimissioni. Per la sua stessa natura, quindi, non è idónea a porre un freno - ammesso che qualcuno lo voglia effettivamente - al lento svolgersi nelle diverse sedi parlamentad tra gli operatori politici del sistema di un' attività volta alia ricerca di soluzioni di compromesso su tutte le questioni estranee agli indirizzi fondamentali dell' azione governativa. Ail' approssimarsi del termine della prima legislatura, il governo gioca la carta della modifica della legge elettorale. Forte doveva essere nei partiti della coalizione governativa la consapevolezza dell' eccezionalità della situazione che aveva prodotto nel 1948 il loro successo: situazione che molto probabilmente non si sarebbe ripetuta nelle successive elezioni del 1953. Si ritenne pertanto che fosse possibile mantenere quella forte rappresentanza parlamentare ottenuta nella prima legislatura mediante una riforma della legge elettorale che attribuisse il 65 per cento dei seggi al partito o alia coalizione dei partiti che avesse conquistato almeno la metà più uno dei voti. La reazione delle opposizioni fu naturalmente immediata e dette vita in entrambe le camere alia prima dura ed efficace manifestazione di ostruzionismo. Le opposizioni non ave vano torto, non tanto per 1' alterazione che si voleva arrecare alia legge elettorale proporzionale o per il tentativo di potenziare le esigenze di governabilità di un sistema che senz' altro appariva eccessivamente frammentato e debole; quanto invece per la dimensione del premio di maggioranza, che attribuiva alio schieramento vincente una rappresentanza parlamentare cosí ampia da consentirle addirittura di procedere quasi da sola alia revisione della stessa costituzione. Più in generale, ancora, tale proposta legislativa appariva iniqua nella misura in cui era destinata per un periodo di tempo indeterminato, ma comunque abbastanza lungo, a privilegiare esclusivamente le forze politiche collocate al centro dello schieramento parlamentare, rafforzandole rispetto a quelle di opposizione, delle quali determinava la sottorappresentazione parlamentare rispetto ail' entità del consenso elettorale conseguito. L' esistenza della conventio ad excludendum nei confronti dei partiti di estrema destra ed estrema sinistra, infatti, precludeva praticamente a questi ultimi ogni possibilité di accedere ai vantaggi stabiliti da quel meccanismo, facendo al contempo sorgere seri dubbi sulla legittimità costituzionale di uno strumento che invece, in un regime di effettiva alternanza al potere delle forze politiche, avrebbe potuto assumere degli aspetti benefici in ordine alia stabilité e alia conseguente efficienza della compagine governativa. La dura battaglia delle opposizioni, sconfitte in parlamento, ha invece successo nel Paese. Per poche migliaia di voti la coalizione centrista che si presenta alie elezioni nel 1953 non raggiunge il quorum prescritto, ed il premio di maggioranza non viene attribuito. Si chiude in tal modo 1' ultima tenue prospettiva della creazione di un sistema político fondato su un governo forte e su una maggioranza autosufficiente. II fallimento di questo poco meditato tentativo di modificare la

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legge elettorale proporzionale pone le basi per il definitivo affermarsi tra tutte le forze politiche operanti nel sistema di un regime di tipo consociativo che trovera poi piena espressione nei nuovi regolamenti parlamentan del 1971. 8. Dopo la breve parentesi della prima legislatura, in cui le spinte verso una democrazia di tipo alternativo si confrontano e si bilanciano con quelle opposte orientate alia formazione di un sistema di tipo compromissorio, queste ultime cominciano lentamente a prevalere. La pesante sconfitta elettorale indebolisce la coalizione centrista che sempre piü spesso guarda a destra per ottenere un sostegno alia sua politica. Ma con Y estrema fascista, rappresentante di quell' ideologia in contrapposizione alia quale era stato elaborato il nuovo testo repubblicano, non sono possibili coalizioni di governo, ed il suo consenso puó essere contrattato soltanto su singóle misure e in maniera piü o meno occulta. La destra monarchica per un certo periodo diventa un importante punto di riferimento della maggioranza, ma il suo consenso elettorale, mai elevato, progressivamente si riduce fino ad esaurirsi. Si fa strada la consapevolezza che per rafforzare la coalizione di governo, ed al contempo le stesse basi della democrazia in Italia, occorre spezzare il fronte delle sinistre staccando il partito socialista da quello comunista e chiamando il primo a fare parte del governo. I tempi pero non sono ancora maturi. Occorrerá attendere la terza legislatura per pervenire ad una coalizione di governo con 1' appoggio esterno dei socialisti e soltanto nella quarta si potra daré avvio ad esplicite e piene forme di collaborazione tra i socialisti e gli altri partiti di centro. Le realizzazioni politiche di un qualche spessore in questo non breve periodo sono nel complesso modeste; ma nell' attivitá legislativa il sistema si sblocca tanto verso la destra quanto verso la sinistra. Spesso arrivano al successo finale le iniziative legislative delle contrapposte opposizioni; i disegni di legge del governo subiscono modifiche da entrambi gli schieramenti, mentre molto frequente é il caso di disegni di legge approvati con un consenso unánime. Forte del consenso di larghi strati del mondo operaio, la sinistra continua a pesare sulla legislazione di carattere socio-economico; diventa determinante nella elezione del presidente della repubblica Gronchi; continua a premere con successo per T attuazione della costituzione. Nel 1956 si perviene finalmente all' attivazione della corte costituzionale; nei due anni successivi, utilizzando il lavoro di riflessione e di elaborazione svolto nella legislatura precedente, vengono approvate le leggi inerenti al consiglio nazionale dell' economia e del lavoro e al consiglio superiore della magistratura, che consentono 1' attivazione di entrambi questi organi. E' soltanto con 1' avvento del centrosinistra, tuttavia, che la spinta verso la creazione di una vera e propria democrazia di tipo consociativo diventa massiccia e inarrestabile. Le differenze ideologiche, programmatiche e politiche tra i socialisti e gli altri partiti dello schieramento centrista (ad eccezione dei liberali che passano all' opposizione) sono rilevanti. Le correnti di minoranza all' interno specialmente dei socialisti e dei cattolici spingono verso direzioni opposte e si svincolano dalla

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disciplina di partito, spesso decidendo liberamente quando la votazione non è palese. La richiesta di scrutinio segreto, pero, è ora presentata in maniera pressoché sistemática dal partito comunista su tutti gli argomenti che abbiano un certo rilievo politico. II governo di conseguenza si trova totalmente indifeso di fronte al contestuale convergere da un lato delle pressioni delle opposizioni volte ad una modifica anche intensa degli orientamenti governativi, e dall' altro dello sfaldamento inarrestabile délia sua maggioranza; viene pertanto messo in minoranza sempre più spesso anche sui contenuti dei propri disegni di legge di particolare rilievo politico. II governo, per tutelare la genuinità del suo programma, non puô fare ricorso, se non eccezionalmente, alia questione di fiducia. Sugli emendamenti presentati specialmente dall' opposizione di sinistra, sempre presente e compatta in ogni occasione nelle aule parlamentari, convergono sempre più frequentemente i voti non solo dei c.d. „franchi tiratori", ma specialmente di frange organizzate all' interno dei partiti di maggioranza, che molte volte ne determinano 1' adozione. E gli emendamenti approvati non sono meramente tecnici o soltanto migliorativi dell' originario testo presentato dal governo, ma anche espressione di un orientamento politico diverso e talora non compatibile con quello governativo. Nello stesso tempo nel sistema comincia ad aprirsi un' altra breccia che contribuisce a rafforzare i tentativi volti alia costruzione di una democrazia di natura consociativa. L' art. 77 cost. consente al governo, com' è noto, di adottare provvedimenti normativi con forza di legge, che pero perdono efficacia se non sono convertiti in legge da entrambe le camere entro sessanta giorni. Questo termine è evidentemente troppo breve, specialmente se si tiene presente che i regolamenti parlamentari hanno sempre consentito 1' emendabilità di questi decreti. II loro iter legislativo è pertanto affine a quello ordinario ed ha normalmente bisogno di tempi molto lunghi per concludersi. Proprio per la lunghezza del procedimento legislativo ordinario il governo comincia a fare sempre più spesso ricorso alia decretazione d' urgenza, le cui norme entrano immediatamente in vigore, per daré una risposta in tempi rapidi alie multiformi esigenze e richieste dei vari settori délia società. Il decreto-legge, tuttavia, se da un lato rafforza 1' esecutivo allargando la sua sfera di competenza in materia sostanzialmente legislativa, dall' altro lo rende inerme di fronte alie camere. Nella situazione politica sopra descritta il governo è destinato ad essere sconfitto due volte: la prima, perché la sua maggioranza parlamentare non è cosí compatta da consentirgli di resistere agli emendamenti delle opposizioni (e specialmente di quella di sinistra); la seconda, perché non è facile il rispetto del termine costituzionale per la conversione in legge, e basta un semplice rallentamento dell' iter o anche 1' ostruzionismo di un gruppo parlamentare di dimensioni molto ridotte per impedire la conversione entro la data stabilita. II governo è quindi costretto a contrattare il contenuto della decretazione d' urgenza con 1' opposizione non solo nelle aule parlamentari, ma talora addirittura prima della sua adozione e successiva presentazione alie stesse camere. E' quindi comprensibile che spesso le opposizioni siano le prime a sollecitare il governo a fare ricorso al decreto-legge. Ma in questo modo la capacité di direzione politica del governo si atténua in taluni

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casi fin quasi a scomparire e, privo del sostegno di una maggioranza spesso latitante, rimane in balía delle opposizioni. Nello stesso tempo 1' organizzazione del partito comunista nella società di venta sempre più estesa e capillare. Esso rappresenta e difende in parlamento gli interessi di settori sociali sempre più ampi, alie cui esigenze i partiti di governo non possono non prestare almeno in parte attenzione. Si determina cosí una specie di spirale crescente, in cui il consenso sociale del partito comunista e la sua forza parlamentare si alimentano reciprocamente: il primo consente di operare validamente in parlamento per la difesa degli interessi rappresentati; il successo conseguito in questa attività si riverbera a sua volta sul consenso sociale ed elettorale, consolidándolo ed estendendolo progressivamente. L' assetto politico e istituzionale del sistema - in realtà 1' único possibile alia luce della conventio ad excludendum nei confronti dei partiti collocati alie due estremità dell' arco parlamentare - comincia a corrodere le basi di due convinzioni profondamente radicate negli ambienti politici e dottrinari: da un lato, quella per cui F opposizione, sulle orme del modello britannico, dovrebbe dedicarsi soltanto air esercizio del controllo sulF attività del governo, estraniandosi dallo svolgimento delF attività legislativa, che dovrebbe invece rientrare nel dominio esclusivo del governo e della sua maggioranza parlamentare; dall' altro, la concezione delle camere come organi di mera registrazione della volontà delF esecutivo. La prima opinione trascura il fatto che F attività e la funzione delF opposizione non è la conseguenza di una scelta normativa alla quale le diverse forze politiche si adeguano, ma innanzi tutto il risultato delF attività, e delle decisioni istituzionali in essa implicite, da queste posta in essere: attività la cui libertà, nelF esercizio dei poteri attribuiti a ciascun gruppo parlamentare, è garantita dalla costituzione e dai regolamenti parlamentari. L' ordinamento giuridico, nelle sue diverse fonti normative, interviene soltanto in un secondo tempo a sanzionare, riconoscendolo, F assetto concreto dei rapporti tra la maggioranza e le opposizioni che queste hanno contribuito a definire. E nel nostro ordinamento le forze politiche, con le loro decisioni istituzionali e i loro comportamenti politici, hanno specificato ed attuato un sistema orientato alla cogestione parlamentare, che si adatta perfettamente ad una delle due contrapposte opzioni astrattamente desumibili dal testo costituzionale. La seconda opinione - che ricostruisce le camere come organi appiattiti sulle posizioni del governo e che si riallaccia alla supposta natura normativa delF indirizzo politico - viene progressivamente contraddetta in maniera sempre più intensa dal ripetersi di una serie continua di comportamenti di natura consociativa tra tutte le forze politiche che, consolidandosi nel tempo, diventa una vera e propria forma mentis degli operatori politici presentí nel sistema costituzionale. Il continuum governo - maggioranza parlamentare tende a scomparire e le camere cominciano a diventare centri autonomi ed effettivi di decisione politica, che si differenziano dalF esecutivo talora in maniera anche intensa. Cominciano a porsi le basi politiche di quella che poi sarà con successo chiamata „centralità del parlamento".

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In questo clima si apre la quinta legislatura repubblicana, che vede nelle esigenze della riforma dello stato, ed in particolare in quella della revisione dei regolamenti parlamentan, una delle finalité prioritarie sotto il profilo istituzionale. Nel 1971 vengono cosí approvati i nuovi regolamenti, che costituiscono, dopo quasi un quarto di secolo dall' entrata in vigore della costituzione, la prima vera e completa rielaborazione della disciplina dell' organizzazione e dell' attività delle camere. Questa disciplina viene cosí sganciata definitivamente dal testo del 1900 e ricollegata alia nuova carta costituzionale, di cui costituisce elemento essenziale di interpretazione. Nello stesso tempo è funzionalizzata alie esigenze di una società completamente diversa da quella esistente rispettivamente ail' inizio e alla metà del secolo. Delle due opzioni astrattamente possibili del testo costituzionale, per quanto riguarda ovviamente i rapporti tra la maggioranza e le opposizioni, la scelta è decisa e senza riserve verso un sistema di natura consociativa.

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Die Postprivatisierung im Spiegel des Petitionsgrundrechts Von Markus Heintzen

I. Hätte ein Bürger sich vor zehn Jahren beim Bundestag darüber beschwert, daß die Post die einzige öffentliche Telefonzelle in seinem Wohnort schließt, wäre die Beschwerde unproblematisch als Petition qualifiziert worden, mit den aus Art. 17 GG sich ergebenden Rechtsfolgen. Heute ist eine solche Qualifikation alles andere als unproblematisch, denn inzwischen sind das 41. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes1 und das Gesetz zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation2, die sogenannte 2. Stufe der Postreform 3, in Kraft getreten. Durch sie ist die Post privatisiert worden - in einer Weise, die in das übliche Schema von formell und materiell, von Organisations- und Aufgabenprivatisierung nicht ohne weiteres einzuordnen ist. Die Ambivalenz, die sich zwischen dem Infrastrukturauftrag des Art. 87f Abs. 1 GG und der Privatwirtschaftlichkeit nach Art. 87f Abs. 2 GG auftut, provoziert Fragen. Der Eingangsfall, so banal er klingt, hat es verfassungsrechtlich in sich. Kann der Bürger für seine Beschwerde auch heute den Schutz von Art. 17 GG in Anspruch nehmen oder liegt die Telekom AG jenseits von dessen Schutzbereich? Kann der Bundestag von der Exekutive Aufklärung über den Sachverhalt verlangen? An wen wäre das Aufklärungsverlangen zu richten: an das Bundesministerium für Wirtschaft als Nachfolger des Ende 1997 aufgelösten Bundesministeriums für Post und Telekommunikation, an andere Behörden oder Träger der Postexekutive, die zum Teil ministerialfrei sind, oder unmittelbar an die Deutsche Telekom AG? Dürfen Postexekutive und Postunternehmen4 die Bearbeitung von Informationsersuchen des Bundestages und Petitionen von Postkunden oder -mitarbeiten! verweigern, unter Hinweis darauf, daß sie nach der Post1 Vom 30. August 1994, BGBl. 12245. 2 Vom 14. September 1994, BGBl. 12325. 3 Überblick über die Reformschritte bei Badura in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 87f Rn. 5 und 6 (Stand: September 1997). Dort werden das TKG und das neu gefaßte PostG einer dritten Reformstufe zugerechnet. 4 Mit „Postunternehmen" sind im folgenden die aus dem Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgegangenen Unternehmen Deutsche Post AG, Deutsche Postbank AG und Deutsche Telekom AG gemeint, im Unterschied zu anderen privaten Anbietern.

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Privatisierung nicht mehr petitionspflichtig sind? Diese Fragen, Gegenstand eines Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht 5, sind miteinander verknüpft, weil das Petitionsinformationsrecht des Parlaments gegenüber der Exekutive ein Annex des Petitionsgrundrechts ist, das sich durch sein grundrechtliches Fundament von demokratischen Kontrollrechten des Parlaments im Verhältnis zur Regierung unterscheidet.6 Die petitionsgrundrechtlichen Folgen der Postprivatisierung gehören in das Spektrum des in Organisations- und Handlungsformen des Privatrechts tätigen Staates, der Fiskalgeltung der Grundrechte, von Privatisierungen und Privatisierungsfolgen; das alles sind Themen, die Walter Leisner mehrfach literarisch behandelt hat. Sie sind praktisch relevant, weil ein erheblicher Teil der beim Bundestag eingehenden Petitionen die drei Postunternehmen betrifft. Und sie haben dogmatischen Reiz, weil es in der Tat möglich ist, den juristischen Gehalt der Postprivatisierung, allgemeiner: die Folgen von Privatisierungen für die parlamentarische Kontrolle von Art. 17 GG aus zu erschließen und weil sich umgekehrt aus der Sicht des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages die Frage stellt, ob Verbraucherschutz zu seinen Aufgaben gehört.7

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2 BvE 2/97. Seit der Bundestagswahl vom September 1998 ist unklar, ob in dieser Sache streitig entschieden wird, weil Antragstellerin und Antragsgegner nunmehr, politisch betrachtet, übereinstimmen bzw. koalieren. 6 Zum Annexcharakter des Petitionsinformationsrechts Burmeister, Das Petitionsrecht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1987, § 32 Rn. 49ff.; Schulte in: von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl., Bd. 6, 1991, Art. 45c Rn. 50 ff.; Würtenberger in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 45c Rn. 75 und 126 (Stand: November 1995). Gegenposition bei Pietzner, Petitionsausschuß und Plenum, 1974, S. 39 f. Zum Unterschied von Petitionsinformationsrecht und demokratischen Kontrollrechten: Graf Vitzthum/März, Der Petitionsausschuß, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 45 Rn. 22; vgl. aber auch Art. 25a Abs. 2 der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg (weitere Nachweise bei Friesenhahn, FS H. Huber, 1981, S. 372). Der Unterschied bleibt bestehen, wenn man das Petitionsinformationsrecht des Bundestages (auch) aus Art. 45c GG ableitet; dazu Bauer in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 1998, Art. 45c Rn. 20, der sich auf BVerfGE 67, 100 (129) beruft. 7 Vgl. zu den Auswirkungen der Postprivatisierung auf das Petitionsrecht: Brenner in: von Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, 4. Aufl., Bd. 1, 1999, Art. 17 Rn. 65 ff.; Küppers, ArchPT 1995, S. 109 ff. Allgemein zu den petitionsgrundrechtlichen Konsequenzen der Privatisierung von Staatsunternehmen Röper, Der Staat 1998, S. 249 ff. (zu den Postunternehmen insb. S. 273 ff.). Noch allgemeiner: Privatisierung und parlamentarische Rechte, hrsg. vom Präsidenten des Rheinland-Pfälzischen Landtags, 1998, mit Beiträgen von Puhl (dort auf S. 48 zum Petitionsinformationsrecht) und Gusy (dort auf S. 69 zur Postprivatisierung; = ZRP 1998, S. 265) sowie Glauben, ZParl. 1998, S. 503 ff. (zum Petitionswesen S. 505 f.).

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II. Den dogmatischen Kern der Problematik trifft die Frage, ob Post, Postbank8 und Telekom „zuständige Stellen" im Sinne von Art. 17 GG sind9, wie sie dies als Sondervermögen des Bundes waren. Nur wenn dies der Fall ist, schulden sie Petenten Auskunft. Auch eine petitionsgrundrechtliche Auskunftsverpflichtung der Postunternehmen gegenüber der Postexekutive und mittelbar gegenüber dem Parlament setzt, soweit Petitionsgegenstand ein Verhalten der Postunternehmen ist, deren Grundrechtsverpflichtung voraus. Denn das Petitionsinformationsrecht des Parlaments kann als Annex nur so weit reichen wie das Petitionsgrundrecht des Bürgers. Anders als rein demokratische Kontrollrechte des Parlaments benötigt es ein grundrechtliches Fundament; es dient den Individualinteressen von Petenten, nur mittelbar den vom Parlament verkörperten Allgemeininteressen des Volkes. Dieses Fundament ist brüchig, weil unternehmerisches Staatshandeln nur begrenzt grundrechtsgebunden ist. Der Klarheit halber sei hinzugefügt, daß es deswegen nicht zugleich demokratischer Kontrolle entrückt ist. 10 Daß die Postunternehmen dem Bürger nicht petitionspflichtig und keinem Petitionsinformationsanspruch des Bundestages ausgesetzt sind, heißt darum nicht, daß der Bundestag sich in Angelegenheiten, welche die Postunternehmen betreffen, generell zu bescheiden habe. Grundsätze ihrer Geschäftsführung, ihr ökonomischer Erfolg, ihre Rolle als Arbeitgeber oder die Aktionärsrechte des Bundes hören nicht auf, zulässige Gegenstände parlamentarischen Interesses zu sein, weil sie außerhalb des Horizontes des Petitionsrechts liegen. Die eigenen Mitwirkungsund Kontrollbefugnisse des Parlaments gegenüber der Regierung müssen von dem fremdnützig vom Parlament gegenüber der zuständigen Stelle ausgeübten Petitionsinformationsrecht unterschieden werden. 11 Das Petitionsinformationsrecht des Parlaments mag für die demokratische Kontrolle der Verwaltung nützlich sein. Das Demokratieprinzip kann das vollständige Fehlen seiner grundrechtlichen Grundlage aber nicht kompensieren: Ein Petitionsinformationsrecht besteht nur, wenn der Schutzbereich des Art. 17 GG eröffnet ist. 12 8

Zu ihr Lerche/Graf von Pestalozza, Die Deutsche Bundespost als Wettbewerber, 1985. Entsprechend die Formulierung „sonstige Einrichtungen" in Nr. 5.2 der Verfahrensgrundsätze des Petitionsausschusses, abgedruckt in BT-Drucksache 13/8000, S. 87 ff. 10 Zu der hier anklingenden grundsätzlichen Frage, ob Staatsgewalt in Art. 1 Abs. 3 GG dasselbe meint wie in Art. 20 Abs. 2 GG: Schmidt-Aßmann, AöR 1991, S. 338; Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 233 ff., 238 ff.; Krebs in: SchmidtAßmann / Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S. 348. Die Trennung von petitionsgrundrechtlichen und demokratischen Informationsrechten des Parlaments hat einige Konsequenzen. So ist es nicht möglich, vom Umfang staatlicher Rechnungsprüfung oder parlamentarischer Haushaltsbewilligung Aufschluß über den Umfang des Petitionsinformationsrechts zu erhalten. Aus vergleichbaren Gründen verspricht es wenig Ertrag, in Parallelwertung der Frage nachzugehen, in welchem Umfang und nach Maßgabe welcher Rechtsgrundlagen parlamentarische Untersuchungsausschüsse in die Rechtssphäre Privater eindringen dürfen. 9

Wie hier Brenner (N 7), Rn. 64. 35*

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Das Problem läßt sich nicht mit der unbestreitbar gegebenen Grundrechtsbindung der Postverwaltung (Regulierungsbehörde, Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen in bezug auf die Postbank, Anstalt gemäß Art. 87f Abs. 3 GG, Ministerium) lösen. Denn Petitionsgegenstand ist zumeist angebliches Fehlverhalten der Postunternehmen, nicht aufsichtsbehördliches Versagen. Die Postverwaltung kann ihre Grundrechtsbindung auch nicht auf einfachgesetzlichem Wege an die Postunternehmen weitergeben. Deren post- oder telekommunikationsrechtliche, gesellschaftsrechtliche oder haushaltsrechtliche Verpflichtbarkeit zu Auskünften wäre kein Surrogat für eine Bindung an Art. 17 GG, weil sie nicht dem Zweck diente, Petitionsansprüche13 zu erfüllen, und weil der einfache Gesetzgeber über sie im Rahmen der verfassungsrechtlich gewährleisteten Privatwirtschaftlichkeit der Postunternehmen verfügen könnte. Eine solche Pflichtigkeit läßt sich darum nicht in den Dienst des Petitionsgrundrechts stellen. Die Frage nach einer petitionsgrundrechtlichen Passivlegitimation der Postunternehmen ist ein Aspekt der Frage nach ihrer Grundrechtsbindung gemäß Art. 1 Abs. 3 GG, noch allgemeiner: nach der sogenannten Fiskalgeltung der Grundrechte. Was zunächst als post- und petitionsrechtliche Spezialität erschient, erweist sich, jedenfalls im Ansatz 14 , als nichts anderes als die Frage nach dem verfassungsrechtlichen Standort der privatisierten Postunternehmen. Für sie tut sich die Alternative zwischen nicht grundrechtsgebundener Privatwirtschaft und grundrechtsgebundener öffentlicher Verwaltung auf, mit Abstufungen, die von Postunternehmen zu Postunternehmen unterschiedlich sein können, weil Post und Telekom, im Unterschied zur Postbank15, dem Infrastrukturauftrag des Art. 87f Abs. 1 GG unterfallen und nach Art. 143b Abs. 2 Satz 2 GG Inhaber von Monopolrechten sein dürfen und weil nur bei der Post die Aufgabe der Kapitalmehrheit des Bundes Beschränkungen aus Art. 143b Abs. 2 Satz 3 GG unterliegt.

III. Die Antwort auf die so präzisierte Frage ergibt sich nicht aus einfachem Gesetzesrecht. 16 Eine Besonderheit der Postunternehmen besteht darin, daß ihr Status 12 Ebenso Brenner (N 7), Rn. 62. 13

Zum status-positivus-Gehalt von Art. 17 GG: Brenner (N 7), Rn. 44ff.; Burmeister (N 6), Rn. 30f.; J. Ipsen, Staatsrecht II (Grundrechte), 2. Aufl., 1998, Rn. 515 ff.; Pieroth/ Schlink, Staatsrecht II. Grundrechte, 14. Aufl., 1998, Rn. 995. 14 Insoweit übereinstimmend Röper, Der Staat 1998, S. 278 ff. 15 Zu ihr Lerche in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 87 f Rn. 47 (Stand: Oktober 1996). 16 So aber der Ansatz der Antragsteller in dem erwähnten Organstreitverfahren (N 5), die so weit gehen, u. a. die Haftung des Bundes für die Deckung der gemäß § 1 PostSVOrgG errichteten Unfallkasse als Indiz für die Leistungsstaatlichkeit der Postunternehmen zu werten. Im Ergebnis ebenso Röper, Der Staat 1998, S. 249 ff., der dieses Verfahren aber auch auf die einfachgesetzlich privatisierte öffentliche Verwaltung anwendet, wo ihm der Vorrang der Verfassung nicht entgegensteht.

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Regelungsthema der Verfassung ist. Es macht darum keinen Sinn, einfachgesetzliche Ingerenzrechte des Bundes in bezug auf die Postunternehmen aufzulisten, unter dem Strich einen öffentlich-rechtlichen, daseinsvorsorgenden Gesamtstatus der Postunternehmen zu konstatieren, dies dann petitionsgrundrechtlich zu instrumentalisieren und so durch eine Art Indizienbeweis auf die Petitionspflichtigkeit der Post zu schließen. Dagegen spricht schon, daß so etwas auf andere Grundrechte nicht übertragbar wäre; ihre mangelnde Verallgemeinerungsfähigkeit schwächt die Überzeugungskraft dieser Vorgehensweise. Vor allem würde dabei verkannt, daß einfachgesetzliche Indizien nur bemüht werden müssen, wo eine ausdrückliche Regelung mit Verfassungsrang fehlt. Diese trifft hier Art. 87f GG. Die Norm erhebt den Anspruch, den verfassungsrechtlichen Status der Postunternehmen selbst und dauerhaft zu bestimmen. Überdies ist Art. 143b GG zu berücksichtigen, der aber als Übergangsvorschrift eine geringere Bedeutung hat. Der Vorrang der Verfassung macht es entbehrlich, ja verbietet es, den Status der Postunternehmen von einfachgesetzlichen Indizien abhängig zu machen, etwa von den Eigentümerbefugnissen, die das Aktiengesetz dem Bund einräumt, oder von Auskunfts- und Aufsichtsrechten nach dem Post- und dem Telekommunikationsgesetz. Das Gesetzesrecht kann die Grundentscheidung der Verfassung zur Postprivatisierung nur umsetzen und ausgestalten. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß zwar Art. 87f Abs. 1 und 3 und die drei Absätze von Art. 143b GG dem Gesetzgeber Entscheidungsbefugnisse einräumen, die für die Tätigkeit der Postunternehmen zentrale Vorschrift des Art. 87f Abs. 2 GG aber als einzige nicht unter Gesetzesvorbehalt steht. Daraus, daß z. B. § 8 Abs. 1 Satz 1 PTRegG den Begriff „Daseinsvorsorge" verwendete, folgte darum nichts für die Qualifikation der Postunternehmen. Sie richtet sich nach Art. 87f, der die Vorgaben für die Interpretation des Art. 17 GG liefert. Aus staatlicher Aufsicht darf auch aus einem anderen Grund nicht auf das Vorliegen einer zu beaufsichtigenden staatlichen Aufgabe geschlossen werden 17: die Aufgabennatur ist aus Aufsichtsrechten nicht zuverlässig zu erschließen. Denn selbst materielle Privatisierung und fortbestehende Aufsichts- oder Regulierungsrechte, auch in den Form asymmetrischer Regulierung, welche die Postunternehmen stärker belastet als andere private Anbieter, würden einander nicht ausschließen. Aufsichtsrechte sind keine tragfähige Grundlage für die These, daß eine materielle Privatisierung nicht stattgefunden habe. Aus dem gleichen Grund sind die Monopolrechte und die Indienstnahme der Postunternehmen für Pflichtleistungen keine zuverlässigen Kriterien; beides ist mit privatwirtschaftlicher, sogar grundrechtlich geschützter Tätigkeit vereinbar. 18 17 Vgl. dazu eine ebenfalls das Petitionsgrundrecht betreffende Entscheidung des StGH Bremen in: LVerfGE 4, 211. Dazu Röper, Der Staat 1998, S. 276 f. 18 Zur Indienstnahme Privater für öffentliche Aufgaben, die an deren verfassungsrechtlichem Status nichts ändert: BVerfGE 22, 380 (384); 30, 292 (311); 57, 139 (159); 68, 155 (170); Breuer in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, § 148 Rn. 28. Zu Privatmonopolen: Breuer, ebd., Rn. 67; Bachof,

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Eine Antwort darauf, ob die Postunternehmen petitionspflichtig sind, läßt sich weiters nicht aus den Privatisierungsbegriffen 19 ableiten. Etwa Aufgabenprivatisierung, Organisationsprivatisierung oder Vermögensprivatisierung sind - zudem nicht unproblematische 20 - Kurzformeln, die nur zusammenfassen. Aus ihnen etwas zu deduzieren, wäre ein juristischer Zirkelschluß. Es ist gerade die Frage, wie die Postprivatisierung zu qualifizieren ist, und es überrascht nicht, daß insoweit Unklarheit und Streit herrschen. 21 Gleiches wie für Argumentationsansätze bei den Privatisierungsbegriffen gilt im übrigen für den Begriff der Daseinsvorsorge. 22 Ein untauglicher Lösungsansatz ist drittens der Gedanke des Verbraucherschutzes.23 Verbraucherschutz und Grundrechtsbindung desjenigen, vor dem der Verbraucher geschützt werden soll, passen nicht zueinander. Verbraucherschutz greift ein, wo rechtsstaatliche Mäßigung von Marktmacht durch Grundrechte fehlt; er kompensiert dies. Verbraucherschutz setzt privatwirtschaftliches, nicht gemeinwohlbezogenes, eigennütziges Verhalten geradezu voraus. Als Einschränkung grundrechtlicher Freiheit benötigt der Gedanke des Verbraucherschutzes zudem eine rechtliche Grundlage; er liefert sie nicht. Zwar ist es ein politisch verständliches Anliegen, die marktstarken Unternehmen Post und Telekom zum Schutz ihrer Kunden besonders zu kontrollieren. Doch ist dies Sache der Regulierungsbehörde, deren Befugnisse der Bundestag als Gesetzgeber entsprechend dosieren mag. 24 Die Erfüllung der verbraucherschützenden Aufgabe der Regulierungsbehörde, nicht aber unmittelbar die regulierte Tätigkeit der Postunternehmen, kann Gegenstand parlamentarischer Petitionsbehandlung sein. Im privatwirtschaftlichen Bereich leistet der Petitionsausschuß dann mittelbaren Verbraucherschutz. Er kontrolliert nicht die Dienstleistungserbringer, sondern die behördlichen Verbraucherschützer. Ihn zum Verbraucherschutz an vorderster Front zuzulassen, hätte ein nicht koordiniertes Nebeneinander von teilweise ministerialfreien, nach kartellrechtlichem Vorbild 25 verfaßten Regulierungsbehörden und Parlament zur Folge. Freiheit des Berufs, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. III/ 1, 1958, S. 205; zum Beispiel der energiewirtschaftsrechtlichen Gebietsmonopole: Tettinger, Recht der Energiewirtschaft, in: R. Schmidt (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht, Bd. II/1, 1995, S. 706 f., 712 ff. 19 Statt vieler, die man hier zitieren könnte, Laux in: Biernat/Hendler (Hrsg.), Grundfragen des Verwaltungsrechts und der Privatisierung, 1994, S. 283; Peine, DÖV 1997, S. 354. 20 Vgl. Isensee, VVDStRL 54 (1994), S. 303 ff.; Krebs (N 10), S. 341. 21 Vgl. Battis in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl., 1998, Art. 143b Rn. 6; Badura (N 3), Rn. 22, 24; Lerche (N 15), Art. 87f Rn. 32ff., 54ff., 68; Uerpmann in: von Münch/ Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 3, 3. Aufl., 1996, Art. 143b Rn. 5; Windthorst in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl., 1999, Art. 87f Rn. 24. 22 Zu diesem Begriff Rüfner in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 2. Aufl., 1996, § 80 Rn. 1-50. Ferner Röper, Der Staat 1998, S. 249 ff. 23 Zum Verbraucherschutz in anderem Zusammenhang Leisner in: ders., Eigentum, hrsg. von J. Isensee, 1996, S. 1042 ff. 24 Vgl. etwa § 2 Abs. 2 Nr. 1 TKG und die entsprechende Vorschrift im Postgesetz.

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IV. Das Petitionsgrundrecht ist Ausdruck der besonderen Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlichen Handelns. Hinter ihm steht das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip 2 6 , nach dem der Bereich der Staatstätigkeit prinzipiell begrenzt und die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und der Einsatz staatlicher Befugnisse stets rechtfertigungsbedürftig sind. Diese Zweckbestimmung begrenzt das Petitionsgrundrecht auf hoheitliche und verwaltungsprivatrechtliche Staatstätigkeit.27 Ebenso wie Private sich nicht mit Petitionen auseinandersetzen müssen, ist der Staat nicht petitionspflichtig, wenn er privatrechtlich handelt und dabei keine staatlichen Aufgaben wahrnimmt. Art. 17 GG erstreckt sich nicht auf alles, was der Staat tut, sondern nur auf den besonders rechtfertigungsbedürftigen Teil der Staatstätigkeit: die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und Befugnisse. Art. 17 GG hat einen hoheitlichen Gehalt in dem Sinne, daß nicht jedwede Staatstätigkeit Gegenstand von Petitionen sein kann, sondern nur das, was sich von Aktivitäten im grundrechtlichgesellschaftlichen Bereich unterscheidet. 28 Privatwirtschaftliche unternehmerische Staatstätigkeit durch juristische Personen des Privatrechts liegt dann außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 17 GG. Da Art. 87f Abs. 2 GG die Tätigkeit der drei Postunternehmen des Bundes ausdrücklich als privatwirtschaftlich qualifiziert und mit derjenigen privater Anbieter grundsätzlich 29 auf eine Stufe stellt, gilt dies auch für sie. Für diese These gibt es zwei grundrechtliche Begründungen, von denen die eine bei Art. 17 und die andere bei Art. 1 Abs. 3 GG ansetzt. Art. 17 GG nennt zwei mögliche Adressaten von Petitionen: die Volksvertretungen und, zuvor, die zuständigen Stellen. „Zuständigkeit" setzt kompetenzgebundenes Staatshandeln voraus. 30 Von „Zuständigkeit" kann nur im Hinblick auf die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse die Rede sein. Unternehmerische Betätigung des Staates durch juristische Personen des Privatrechts ist keine Ausübung von „Zuständigkeiten", jedenfalls nicht in administrativer Hinsicht, die durch den Kontrast zur Volksvertretung in erster Linie 25 Zur Ministerialfreiheit des Bundeskartellamtes - statt vieler - Emmerich, Kartellrecht, 7. Aufl., 1994, S. 489 f. Zu den Regulierungsbehörden nach PostG und TKG: Geppert in: Büchner u. a. (Hrsg.), TKG, 1997, § 66 Rn. 3, 3 ff.; Lammich, TKG, § 66 Rn. 3 (Stand: November 1997); ferner Manssen, ArchPT 1998, S. 237. 26

Hierzu trotz der Verstrickung des Autors in das NS-Regime inzwischen klassisch C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 126. 27 Zur Terminologie Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1998, § 3 Rn. 611. 28 Graf Vitzthum, Petitionsrecht und Volksvertretung, 1985, S. 36. 29 Die Frage, ob die ausdrückliche verfassungsrechtliche Anerkennung der Privatwirtschaftlichkeit die Postunternehmen von Beschränkungen freistellt, denen sonst erwerbswirtschaftliches Staatshandeln unterliegt, etwa dem Verbot einer rein gewinnmotivierten Tätigkeit (dazu Ehlers in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1998, § 1 Rn. 31), braucht hier nicht vertieft zu werden. 30 Ebenso Friesenhahn, FS H. Huber, 1981, S. 357.

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gemeint ist. 31 Damit deckt sich, daß der Begriff „zuständige Stelle" auf alle Institutionen der unmittelbaren und mittelbaren Staatsorganisation bezogen wird, bei letzteren unabhängig von der Rechtsform, sofern nur staatliche Funktionen wahrgenommen werden. Dieses Verständnis erfaßt den Begriff des Verwaltungsprivatrechts 32, möglicherweise auch die fiskalischen Hilfsgeschäfte der Verwaltung, nicht aber unternehmerisches Staatshandeln durch juristische Personen des Privatrechts. 33 Für dieses Ergebnis spricht weiter, daß es ein Fall von grundrechtlicher Fiskalgeltung wäre, wenn die privatwirtschaftliche Betätigung der Postunternehmen zulässiger Gegenstand von Petitionen sein könnte. Grund und Umfang der Fiskalgeltung der Grundrechte sind zwar streitig. Im hier allein interessierenden Falle privatwirtschaftlicher Betätigung des Staates durch juristische Personen des Privatrechts wird Fiskalgeltung aber ganz überwiegend verneint, mit Einschränkungen bei Art. 3 Abs. 1 GG. 3 4 Den Postunternehmen wird zum Teil sogar Grundrechtsberechtigung zugesprochen35, was Grundrechtsverpflichtung ausschlösse und was insoweit konsequent ist, als inländische juristische Personen, die weder grundrechtsberechtigt noch grundrechtsverpflichtet sind, eine Anomalie wären, ebenso wie die von Art. 87f Abs. 2 GG scheinbar angeordnete Koinzidenz der Rollen von Staat und Unternehmer mit der grundgesetzlichen Entscheidung für den Steuerstaat 31

Auf die Fragen, ob unternehmerisches Staatshandeln dem bundesstaatlichen Kompetenzregime oder dem Territorialitätsprinzip des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG unterfällt, kommt es hier nicht an. Zu ersterem: Dickersbach, WuV 1983, S. 187 ff.; Ossenbühl, Bestand und Erweiterung des Wirkungskreises der Deutschen Bundespost, 1980, S. 132; Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl., 1985, S. 162ff., 173 f.; Schallemacher, Die industriellen Bundesunternehmen, 1990, S. 117 ff. Zu den Kommunen (vorbehaltlich zulässiger kommunaler Zusammenarbeit): Cronauge, Kommunale Unternehmen, 3. Aufl., 1997, Rn. 769r ff.; Ehlers, DVB1. 1998, S. 503 f.; Erichsen, Kommunalrecht des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl., 1997, S. 279; Otting, Neues Steuerungsmodell und rechtliche Betätigungsspielräume der Kommunen, 1997, S. 198 f.; a.A. Wieland in: SPD-Landtagsfraktion Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Wirtschaftliche Betätigung der Kommunen, 1997, S. 8 f. Wenn Badura (N 3), Rn. 24, eine Parallele zwischen Art. 87 f Abs. 2 und Art. 28 Abs. 2 GG zieht, wird übersehen, daß die Kommunalwirtschaft öffentlichen Zwecken zu dienen hat. 32 Sofern dieser Begriff nicht in einem weiteren, in dogmatischer (Über-)Subtilität klare Konturen verwischenden Sinne gebraucht wird; vgl. Lerche (N 15), Art. 87f Rn. 62. 33 Dazu, teilweise anderer Ansicht als hier: Bauer in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 1996, Art. 17 Rn. 26; Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, 4. Aufl., 1997, S. 1153; Brenner (N 7), Rn. 52 ff., insbesondere Rn. 54; Burmeister (N 6), Rn. 45; Dagtoglou in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 17 Rn. 104 (Stand: Dezember 1967); Dürig in: Maunz/Dürig u. a., Grundgesetz, Art. 17 Rn. 54 (Stand: 1960); Jarass in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 4. Aufl., 1997, Art. 17 Rn. 6; Rauball in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 4. Aufl., 1992, Art. 17 Rn. 12; Graf Vitzthum (N 28), S. 36; Graf Vitzthum/ März(N6), Rn. 11. Dazu Badura, Staatsrecht, 2. Aufl., 1996, S. 93; Rüfner in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 1992, § 117 Rn. 47 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I I I / 1, 1988, S. 1418ff. 3 5 Nachweise bei Badura (N 3), Rn. 25.

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und gegen den Unternehmerstaat 36 kollidiert. Bei Art. 17 GG muß man solch dogmatische Mühen nicht aufwenden, da bei Grundrechten, die sich, wie das Petitionsrecht, nicht im Schutz des status negativus erschöpfen, eine restriktive Position zur Frage der Fiskalgeltung besonders nahe liegt. Gegen die These, das Petitionsgrundrecht erfasse nicht das unternehmerische Staatshandeln durch Aktiengesellschaften, kann nicht der von Art. 17 GG verwendete Begriff „Stelle" angeführt werden. Dieser Begriff ist zwar bewußt weiter gewählt als der Behördenbegriff. 37 Der Kreis der Grundrechtsverpflichteten kann durch ihn aber schwerlich weiter gezogen werden, als Art. 1 Abs. 3 GG dies vorgibt. Gegen die These, das Petitionsgrundrecht erfasse nicht das unternehmerische Staatshandeln, läßt sich weiter nicht einwenden, daß Art. 17 GG neben den zuständigen Stellen die Volksvertretungen als Petitionsadressaten anführt. Jenseits des Kreises seiner eigenen Zuständigkeiten, um die es hier nicht geht, ist das Parlament wegen seiner besonderen Nähe zum Bürger und wegen seines hohen Ansehens kumulativer Petitionsadressat.38 Eine Petition, für welche es keine „zuständige Stelle" gibt, die aber gleichwohl parlamentarischer Befassung unterliegt, ist nicht denkbar. Auch die parlamentarische Petitionsbefassung ist an das Zuständigkeitsregime gebunden. Das folgt bereits aus dem Erfordernis, die Arbeitsteilung zwischen den Völksvertretungen des Bundes, der Länder und der Gemeinden juristisch zu definieren. 39 Eine petitionsgrundrechtliche Uni Versalzuständigkeit des Deutschen Bundestages, etwa als Forum der Nation, die sich in den gesellschaftlichen Bereich hinein erstreckte, ist abzulehnen, wobei die Gründe sich mit denjenigen decken, die gegen eine so weit gefaßte Enquetebefugnis des Parlaments sprechen.40 Gegen die These, das Petitionsgrundrecht erfasse nicht das unternehmerische Staatshandeln, ist schließlich auch aus der Doppelung „Bitten und Beschwerden" nichts herzuleiten. Eine Abgrenzung zwischen beiden wird zum Teil für überflüssig gehalten. Andere meinen, bei Bitten sei, im Unterschied zu Beschwerden, keine personale Betroffenheit erforderlich. 41 Jedenfalls gilt für Bitten in sachlich-thematischer Hinsicht nichts anderes als für Beschwerden. 36 Hierzu Bayer, Steuerlehre, 1998, Rn. 1 und 29; P. Kirchhof in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 1990, § 88 Rn. 304 ff. Grundlegend: Isensee, FS H.P. Ipsen, 1977, S. 409 ff.; Leisner, StuW 1986, S. 305 ff. 37 Vgl. dazu nur Brenner (N 7), Rn. 52; Dagtoglou (N 33), Rn. 104. 38 Dazu Graf Vitzthum (N 28), S. 38 ff.; ferner Brenner (N 7), Rn. 60. 39 Dazu Brenner (N 7), Rn. 56 ff.; Burmeister (N 6), Rn. 47; Dürig (N 33), Rn. 63; Krüger in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl., 1998, Art. 17 Rn. 11; Graf Vitzthum/März (N 6), Rn. 16. 40

Zu dieser Problematik nur von Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte (N 6), Art. 44 Rn. 22 f. Zur vergleichbaren Problematik der Rechnungsprüfung bei Privaten: Leisner, Staatliche Rechnungsprüfung Privater, 1990. 4

1 So Brenner (N 7), Rn. 22; Dagtoglou (N 33), Rn. 16; Jarass (N 33), Rn. 2; Rauball (N 33), Rn. 10.

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V. Wenn und soweit die Tätigkeit der Postunternehmen als unternehmerisches Staatshandeln zu qualifizieren ist, fällt sie aus dem Anwendungsbereich des Petitionsgrundrechts heraus und ist sie dem Zugriff des Petitionsausschusses des Bundestages entzogen.42 Zu begründen bleibt die Prämisse dieser Aussage, daß die Tätigkeit der Postunternehmen unternehmerisch ist und nicht Daseinsvorsorge. Maßstab hierfür ist Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG. 43 Dort werden „Dienstleistungen im Sinne des Abs. 1" als privatwirtschaftliche Tätigkeiten qualifiziert. Gemeint sind betrieblich-unternehmerische Dienste unmittelbar postalischer oder telekommunikativer Art. 4 4 Die Abgrenzung zwischen solchen Dienstleistungen und Hoheitsaufgaben mag in manchen Fällen schwierig sein 45 ; die Mehrzahl der beim Petitionsausschuß des Bundestages eingehenden Kundenbeschwerden läßt sich aber klar dem Dienstleistungsbereich zuordnen: Beschwerden über die Höhe von Telefonrechnungen, über die Dauer von Paketzustellungen, über die Schließung von Telefonzellen, arbeitsrechtliche Streitigkeiten oder die Rüge unzureichenden Umweltschutzes, etwa wegen der Verlegung des Postverkehrs von der Schiene auf die Straße. Privatwirtschaftliche Tätigkeit ist als Gegensatz zu administrativer Daseinsvorsorge zu verstehen. Die frühere Verfassungslage, wonach die betrieblichen Postaufgaben in Verwaltungsformen ausgeführt worden sind, ist heute überholt. 46 Dafür sprechen sämtliche Methoden der Verfassungsinterpretation. In der Begründung des ursprünglichen Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 1. Februar 1994 steht: „Das Angebot der Dienstleistungen ist in Zukunft ausschließlich private Tätigkeit, deren Wahrnehmung als Verwaltungsaufgabe in öffentlich-rechtlicher oder in privatrechtlicher Organisationsform ausgeschlossen wird." 4 7 Weiterhin werden in dieser Begründung die betrieblichen und unternehmerischen Angelegenheiten in den Verantwortungsbereich der Privatwirtschaft gestellt, so daß hoheitliche Aktivität in diesem Bereich einer verfas42 Dies würde damit übereinstimmen, daß nach den §§ 1 f. des Gesetzes über die Befugnisse des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages dem Petitionsausschuß nur verantwortlich sind: die Bundesregierung, die Behörden des Bundes und die bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts. 43 Ebenso Brenner (N 7), Rn. 66. Art. 87f Abs 2 Satz 1 GG wird von Röper, Der Staat 1998, S. 249 ff. nicht hinreichend zur Kenntnis genommen. Dort wird einfach unterstellt, daß - zur Zeit - die Tätigkeit der Postunternehmen Daseins Vorsorge sei. 44 Badura (N 3), Rn. 29; Lerche (N 15), Art. 87f Rn. 74; Uerpmann (N 21), Art. 87f Rn. 6; Windthor st (N 21), Rn. 11 und 26. 45 Scherer, CuR 1994, S. 420. 46 Dazu insgesamt Badura (N 3), Rn. 23 ff.; Lerche (N 15), Art. 87f Rn. 54, 66 f., 97; Stern in: ders. (Hrsg.), Postrecht der Bundesrepublik Deutschland, Loseblatt, Art. 87f Rn. 48; Uerpmann (N 21), Art. 87f Rn. 10 f.; Windthorst (N 21), Rn. 24 und 27. 47 BT-Drucksache 12/6717, S. 3.

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sungsrechtlichen Absicherung bedürfe. 48 Diese Ausführungen decken sich mit den übrigen Materialien. 49 Sie sind in ihrer grundsätzlichen Aussage maßgebend, auch wenn der ursprüngliche Gesetzentwurf in Einzelheiten geändert wurde. Zum selben Ergebnis führen Wortlaut- und systematische Interpretation. „Privatwirtschaftlich" meint wettbewerbsorientiertes, auf Gewinnerzielung gerichtetes unternehmerisches Handeln und kann nicht anders denn als Gegensatz zur gemeinwohlorientierten, daseinsvorsorgenden Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben verstanden werden. Dies findet Bestätigung in der Formulierung „und andere private Anbieter" (Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG). Das Wort „andere" signalisiert, daß zwischen den Postunternehmen einerseits und Konkurrenzunternehmen, die unstreitig wirtschaftsgrundrechtliche Freiheit ausüben, andererseits kein verfassungsrechtlicher Statusunterschied gemacht wird. 50 Dazu paßt, daß in den beiden Sätzen des Art. 87f Abs. 2 GG Dienstleistungen und Hoheitsaufgaben getrennt geregelt werden und daß Art. 87f Abs. 1 GG den Infrastrukturauftrag dem Bund, nicht den vormals bundeseigenen Postunternehmen zuweist.51 Deren Monopolrechte 52 und Dienstherrneigenschaft werden in Art. 143b Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG ausdrücklich sanktioniert, was diese Rechtspositionen als Abweichung unter anderem von privatwirtschaftlichen Grundsätzen ausweist53 und die Maßgeblichkeit dieser Grundsätze für die Postunternehmen indirekt bestätigt. Die genannten Vorschriften haben eine konservierende und klarstellende Bedeutung; sie setzen keinen eigenen Akzent im Regelungskonzept der Postreform. Für die damit klarere Konturen annehmende Deutung des Wortes „privatwirtschaftlich" spricht vor allem die übereinstimmende Zielsetzung der Grundgesetzänderungen und des Postneuordnungsgesetzes. Die Postunternehmen sollen mit privaten Wettbewerbern gleichgestellt werden, um sie zu befähigen, in einem weltweit zunehmend liberalisierten Markt für Post- und Kommunikationstechnologien bestehen zu können.54 Das setzt voraus, daß sie von öffentlich-rechtlichen Sonder48 Ebd. 49 Nachw. bei Badura (N 3), Rn. 6; Lerche (N 15), Art. 87 f Rn. 27 f.; Stern (N 46), Art. 87f Rn. 1 ff. Zu den Reformschritten aus der Sicht eines der betroffenen Unternehmen Hefekäuser, ZGR 1996, S. 385 ff. 50 Ebenso Rottmann, ArchPT 1994, S. 194. 51 Zu letzterem vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU /CSU, SPD und F.D.P., BT-Drucks. 12/6717, S. 4 sowie zur Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 12/8108, S. 6. Ferner Fehling, AöR 1996, S. 78; Müller-Using, ArchPT 1995, S. 46; Rottmann, ArchPT 1994, S. 194; Scholz, ArchPT 1996, S. 101; Wieland, Die Verwaltung 1995, S. 322. 52

Zunächst das Monopol für die Briefbeförderung (§ 2 Abs. 1 PostG), das Netzmonopol (§ 1 Abs. 2 FAG) und das Sprachtelefondienstmonopol (§ 1 Abs. 4 FAG). 53 Wobei die Abweichung nicht den verfassungsrechtlichen Status der Postunternehmen, sondern die Betätigungsfreiheit anderer privater Anbieter betrifft; dazu Lerche (N 15), Art. 143b Rn. 16; Stern (N 46), Art. 143b Rn. 59. 54 BT-Drucks. 12/6718, S. 1; 12/8108, S. 6.

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bindungen mit nur nationalem Geltungskreis freigestellt werden und wie andere Unternehmen ihrer Branche nach Marktgesetzen handeln können. Das Ziel der Liberalisierung erschöpft sich nicht in Änderungen der Handlungs- und Organisationsform, sondern erfaßt Auftrag und Zielsetzung der Postunternehmen. An die Stelle einer Binnensteuerung durch öffentlichen Auftrag und Gemeinwohlbindung tritt eine Außensteuerung durch gesetzgeberische und behördliche Regulierung, die ihrerseits zu einem Gutteil aufgrund des Infrastrukturauftrags der Verfassung erfolgt. 55 VI. Die Postprivatisierung läßt sich - das Bisherige zusammenfassend - als eine materielle Privatisierung im weiteren Sinne qualifizieren. Trotz fortbestehender Unternehmensträgerschaft des Bundes schließt Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG es für alle Postunternehmen aus, von einer nur formellen Privatisierung zu sprechen. Darunter versteht man die Überführung einer Verwaltungsaufgabe von einer öffentlich-rechtlichen in eine privatrechtliche Organisationsform ihrer Wahrnehmung unter Beibehaltung der Rechtsnatur der Aufgabe. Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG bewirkt dagegen eine rechtliche Umwertung der Tätigkeit der Postunternehmen und setzt dazu deren Umwandlung in privatrechtliche Unternehmen voraus. Diese Umwandlung ist durch das Postumwandlungsgesetz vom 14. September 1994 auf der Grundlage des Art. 143b Abs. 1 GG erfolgt. Hätte der verfassungsändernde Gesetzgeber bloß eine formelle Privatisierung gewollt, so hätte die Regelung in Art. 143b Abs. 1 ausgereicht und wäre deren Plazierung unter den Übergangs- und Schlußvorschriften des Grundgesetzes unverständlich. Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG paßt nicht zu einem solchen Ziel: Im Hinblick auf eine formelle Privatisierung wäre die Vorschrift nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich, weil sie Privatwirtschaftlichkeit anordnet und damit öffentliche Aufgabenwahrnehmung ausschließt. Man kann dies auch so formulieren: Die selbständige Bedeutung von Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG liegt darin, deutlich zu machen, daß die Postreform I I in der Hauptsache etwas anderes ist als eine formelle Privatisierung. Auf der anderen Seite paßt der Begriff der materiellen Privatisierung nicht, weil der Bund sich aus dem Post- und Telekommunikationswesen nicht zurückzieht 56, sondern Allein- bzw. Mehrheitsaktionär der Postunternehmen bleibt, bei der Deut55 Zu den unterschiedlichen Zielen hoheitlicher Regulierung, insb. Infrastrukturgewährleistung und Wettbewerbssicherung, Badura (N 3), Rn. 24 und 31. 56 Es mag sein, daß ein solcher Rückzug die Ausnahme ist (so Gusy (N 7), S. 74), vergleichbar einer Säkularisation. Wenn das zutrifft, ist die juristische Privatisierungsdiskussion eine Scheindiskussion und erfolgt die polemische Bezeichnung „Scheinprivatisierung" zurecht, mit der Organisationsprivatisierungen bezeichnet werden, mit denen der Staat sich nicht zugunsten Privater zurückzieht, sondern im Gegenteil seinen Handlungsspielraum erweitern will. Mit dem Wort „Privatisierung" werden Erwartungen geweckt, die nur die seltene Aufgabenprivatisierung einlöst.

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sehen Post AG nach Maßgabe von Art. 143b Abs. 2 Sätze 2 und 3 vorübergehend bleiben muß, und er sich im übrigen zahlreiche Befugnisse, Ein- und Mitwirkungsrechte vorbehalten hat. Das Begriffspaar der formellen und der materiellen Privatisierung reicht, auch unter Einbeziehung sogenannter funktioneller oder Teilprivatisierungen und unter Weglassung von Vermögensprivatisierungen, bei denen es nicht auf die wahrgenommene Tätigkeit ankommt, nicht aus, um die Alternativen zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben in Rechtsformen des öffentlichen Rechts zu bezeichnen. Deren gibt es nämlich nicht zwei, sondern drei: die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben in Rechtsformen des Privatrechts (= formelle Privatisierung), den Rückzug des Staates aus einem Tätigkeitsbereich und dessen Überlassung an Private (= materielle Privatisierung) und schließlich die rechtliche Transformation einer öffentlichen Aufgabe in privatwirtschaftliche Tätigkeit bei fortbestehendem staatlichem Kapitalbesitz. Drittes ist bei der Postreform I I der Fall: Die postalischen und telekommunikativen Dienstleistungen werden zu privatwirtschaftlicher Tätigkeit (Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG), die in Handlungs- und Organisationsformen des Privatrechts stattfindet (Art. 143b Abs. 1 GG); Alleinaktionär der drei Postunternehmen ist, jedenfalls zunächst, der Bund (§ 3 Abs. 1 PostUmwG). Die dritte Alternative soll hier materielle Privatisierung im weiteren Sinne genannt werden, ohne daß aus dieser Nomenklatur selbständige Schlüsse zu ziehen wären. Sie wird mit dieser Bezeichnung sprachlich der materiellen Privatisierung stärker angenähert als der formellen. Das ist gerechtfertigt, weil es entscheidend auf die Rechtsnatur der ausgeübten Tätigkeit ankommt 57 und insoweit die Alternativen zwei und drei im Abschied von der Wahrnehmung der Dienstleistungen als öffentliche Daseinsvorsorgeaufgabe übereinstimmen. Die Postreform II bedeutet einen solchen Abschied. Soweit sie die Rechtsnatur der Dienstleistungen betrifft, handelt es sich um unmittelbar geltendes Recht, nicht etwa um einen erst in Zukunft, nach dem Eintritt weiterer Bedingungen wirksam werdenden Verfassungsauftrag. Zwar wird Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG von Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur die Eigenschaft zugeschrieben, ein Privatisierungsauftrag zu sein.58 Damit ist aber nicht gemeint, daß ohne weitere Rechtsakte die Tätigkeit der Postunternehmen nicht privatwirtschaftlich wäre. Das ist sie unmittelbar von Verfassungs wegen. Auftragscharakter wird Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG zugeschrieben, soweit es um das Eigentum an den Postunternehmen geht. Die Vorschrift verpflichtet den Bund bei einem solchen Verständnis, seine Rolle als Alleinaktionär aufzugeben. Die Eigentumsverhältnisse an den Postunternehmen müssen aber von der Rechtsnatur ihrer Tätigkeit unterschieden werden. Diese ist mit erfolgter Umwandlung in Aktiengesellschaften privatwirtschaftlich. Eine solche Konstruktion mag zwar vor dem Hintergrund traditioneller Vorstellungen über leistungsstaatliche Daseinsvorsorge und verfassungsrechtliche Beschränkungen des Staatsunterneh57 Dazu auch BVerfGE 45, 63 (78 f.); 68, 193 (207 f.). 58 Z. B. von Lerche (N 15), Art. 143b Rn. 21; Stern (N 46), Art. 87f Rn. 15; Windthorst (N 21), Überschrift vor Rn. 22. Neutraler Badura (N 3), Rn. 22.

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mertums Anlaß zu einigen Fragen geben. Da sie aber ausdrücklicher Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers ist, muß sie respektiert werden.

VII. Fraglich bleibt, ob der Staat mit einer materiellen Privatisierung im weiteren Sinne sämtliche öffentlich-rechtlichen Sonderbindungen abschütteln kann und sein Unternehmen einer Privatunternehmung substantiell gleichsteht oder ob allein die Beteiligung des Staates trotz grundsätzlicher Privatwirtschaftlichkeit gewisse, dann in einer praktikablen Weise zu bestimmende Bindungen übrig läßt. Zu denken ist vor allem an die Grundrechtsbindung. 59 An ihr zeigt sich das Problem am deutlichsten und am dogmatisch aufbereitetsten. Die Frage nach einer Grundrechtsbindung der Postunternehmen, zu unterscheiden von der unstreitigen Grundrechtsbindung des Bundes als Adressat des Infrastrukturauftrages, ist der Lackmustest für das verfassungsrechtliche Ausmaß der Privatisierung. Dieser Test kann anknüpfen an das, was oben zur Fiskalgeltung der Grundrechte allgemein ausgeführt worden ist. Zwei Positionen werden zur Grundrechtsbindung der Postunternehmen vertreten. Die einen lehnen eine Grundrechtsbindung in toto ab 60 , die anderen bejahen sie, aber in abgeschwächter Form. 61 Die erste Meinung führt zu dem Ergebnis, daß die Postunternehmen seit der Privatisierung keinen Pflichten aus Art. 17 GG mehr unterliegen - ein Ergebnis, das sich auch nicht dadurch umkehren läßt, daß man den Bund für verpflichtet erklärt, den Postunternehmen solche Pflichten aufzuerlegen. Gleiches gilt aber auch nach der zweiten Meinung, so daß der Streit hier nicht ä fonds entschieden werden muß. Die zweite Meinung will nämlich bei der Bemessung der Grundrechtsbindung den Besonderheiten privatwirtschaftlicher Staatstätigkeit Rechnung tragen. Deren Grundrechtsbindung solle sich in Weitungen aktualisieren, die, wie insbesondere das Willkürverbot und das Verbot des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht, in der Privatrechtsordnung selbst lebten und ihr nicht von außen eingepflanzt werden müßten. Das Petitionsgrundrecht nun findet im Privatrecht keine Entsprechung. Sein Grund ist die Rechtfertigungsbedürftigkeit hoheitlichen Handelns. Die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, nicht privatwirtschaftliche Tätigkeit löst solchen Rechtfertigungszwang aus. Der Dualismus kann nicht überwunden werden, indem man annimmt, die Petitionspflichtigkeit dünne sich mit der Privatisierung allmählich in einem quantitativen Sinne aus, etwa proportional zur Veräußerung des Aktienbesitzes des Bundes 59 Aber auch an einfachgesetzliche Regelungen wie § 394 AktG. Hierzu Glauben, ZParl. 1998, S. 503 f. 60

So Stern (N 46), Art. 87f Rn. 52. Ohne Bezug zur Postprivatisierung Bullinger, Die funktionelle Unterscheidung von öffentlichem Recht und Privatrecht . . . , in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann (Hg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, S. 257. 61 So z. B. Lerche (N 15), Art. 87f Rn. 64.

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oder zum Erstarken privatwirtschaftlicher Konkurrenten der Postunternehmen. Ein solches Kontinuum wäre rechtlich weder zu fassen noch zu begründen. 62 Es geht um ein Alles oder Nichts. Für das Petitionsgrundrecht bleibt es beim Nichts, weil in privatwirtschaftlichen Verhältnissen dafür kein Platz ist. Die Flut von Kundenund Mitarbeiterbeschwerden, mit welcher der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages konfrontiert wäre, wäre er zuständig, würde zu einer Detailkontrolle der Postunternehmen führen, wohingegen das Aktienrecht auch den Staat als Inhaber der Kapitalmehrheit oder als Alleinaktionär darauf beschränkt, die Unternehmensziele vorzugeben und Einfluß auf die grundsätzlichen Entscheidungen der Unternehmensführung zu nehmen.63 Aus der Sicht der Kunden und Mitarbeiter würde die Zuständigkeit des Petitionsausschusses einen zusätzlichen Beschwerdeweg eröffnen, welcher der Privatwirtschaft sonst fremd ist. Kein privatwirtschaftliches Unternehmen hat, wie eine nachgeordnete Behörde, Einzelheiten seines Geschäftsbetriebs in einem bürokratischen Berichtswesen darzulegen und zu rechtfertigen. Dies Ergebnis beansprucht Geltung schon für den Fall, daß der Bund Alleinaktionär der Postunternehmen ist. Erst recht fehlt die Grundlage für eine Petitionspflichtigkeit, wenn der Bund nur Haupt- oder Mitaktionär der Postunternehmen ist oder werden sollte und auf nicht-staatliche Anteilseigner Rücksicht zu nehmen ist. 64 Auf die Verteilung des Aktienbesitzes kann es nicht ankommen. Maßgebend ist, daß Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG die Geschäftstätigkeit der Postunternehmen unabhängig von der Verteilung der Kapitalanteile als privatwirtschaftlich qualifiziert. Eine Veräußerung von Aktienbesitz des Bundes an der Börse bewirkt keine materielle Änderung des Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG. Art. 143b Abs. 2 Sätze 2 und 3 haben keine Bedeutung für die Auslegung von Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG, weil ihr Regelungsgegenstand nicht die Aufgabennatur, sondern die Eigentumsverhältnisse sind. Die Eigentumsverhältnisse für maßgebend zu halten, bedeutete, den Bund als 62

Vgl. aber Röper, Der Staat 1998, S. 285, der eine „Aufhebung des Petitionsrechts" für vertretbar hält, wenn auf den Märkten für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen echte Konkurrenz eingetreten ist, dabei aber nicht angeben kann, was dem Bundestag die Kompetenz für eine Maßnahme („Aufhebung") gibt, die eine Verfassungsänderung, zusätzlich zur Postreform, darstellt. 63 Diese Beschränkung gilt sowohl für die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft als auch für den Aufsichtsrat. Das Auskunftsrecht des Aktionärs ist nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG auf dasjenige begrenzt, was zur sachgemäßen Beurteilung eines Tagesordnungspunktes der Hauptversammlung erforderlich ist, und Tagesordnungspunkt können nach § 119 Abs. 2 AktG grundsätzlich keine Fragen der Geschäftsführung sein (dazu Hüffler, Aktiengesetz, 3. Aufl., 1997, § 131 Rn. 12, § 119 Rn. 11). Auch die Befugnis des Aufsichtsrats gemäß § 111 Abs. 1 AktG, die Geschäftsführung zu überwachen, ist nicht dazu da, eine Detailkontrolle zu exekutieren (vgl. D. Hoffmann, Der Aufsichtsrat, 3. Aufl., 1994, Rn. 101 f.). Besonders deutlich kommt dies darin zum Ausdruck, daß § 90 AktG die Berichtspflicht des Vorstands gegenüber dem Aufsichtsrat mit mehreren Formulierungen auf wichtige Anlässe beschränkt. 64 Zu gemischtwirtschaftlichen Unternehmen BVerfG NJW 1990, S. 1783. In dieser Entscheidung geht es aber um die Grundrechtsberechtigung, nicht um die Grundrechtsverpflichtung.

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Aktionär zu einer Verfassungsänderung durch Aktien Veräußerung zu ermächtigen. Das kann nicht richtig sein. Damit steht folgendes vorläufig fest: Die Postunternehmen sind im Bereich ihrer privatwirtschaftlichen Tätigkeit an Art. 17 GG nicht gebunden. Deshalb kann von ihnen keine Auskunft zu Petitionen verlangt werden, die diesen Tätigkeitsbereich thematisieren. Dem Bundestag steht insoweit ein Petitionsinformationsanspruch nicht zu, so daß die Frage nach der Passivlegitimation sich nicht stellt. Schließlich sind die Postunternehmen nicht zur Weiterleitung gleichwohl an sie gerichteter Petitionen und zur negativen Bescheidung von Anfragen staatlicher Stellen verpflichtet, welche von diesen in Ausübung eines Petitionsinformationsrechts gestellt worden sind. Diese Pflichten würden voraussetzen, daß die Postunternehmen zuständige Stellen im Sinne von Art. 17 GG sein können und nur im konkreten Fall unzuständig sind. 65 Da diese Zwischenergebnisse aus der Verfassung abgeleitet sind, müßte auch Kritik sich auf die Verfassung stützen. In Betracht kommt hierfür vor allem der Infrastrukturauftrag (Art. 87f Abs. 1 GG), in welchem die ursprüngliche Ausrichtung der Post an den Zielen der Daseinsvorsorge fortwirkt, sodann Art. 87f Abs. 3 GG. Zu den Regelungen über Monopolrechte (Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG) und Dienstheimfähigkeit der Postunternehmen (Art. 143b Abs. 3 GG) wurde bereits das Erforderliche gesagt. VIII. Art. 87f Abs. 1 GG enthält ein Staatsziel, das durch den Bundesgesetzgeber sowie, nach Maßgabe der Gesetze, durch bundeseigene Verwaltung und die in Art. 87f Abs. 3 GG vorgesehene Anstalt zu erfüllen ist. 66 Der Bund muß für flächendeckend angemessene und ausreichende Post- und Telekommunikationsdienstleistungen sorgen. Er hat eine Grundversorgung zu gewährleisten, keine Optimalversorgung; hinsichtlich der Einzelheiten hat der Bund eine Einschätzungsprärogative. Mittel zur Auftragserfüllung sind marktregulierende Gesetze, die z. B. Pflichtleistungen vorsehen können, weiter die Subventionierung unrentabler, aber gemeinnütziger Dienstleistungen und die Stellung des Bundes als Aktionär der Postunternehmen.67 Letzterem setzt Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG indes Schranken. Der Bund darf seine Hoheitsaufgaben aus Art. 87f Abs. 1 GG nicht verwaltungsgesellschaftsrechtlich an die Postunternehmen weitergeben. Täte er dies, so gerieten die Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost unter ein anderes Rechtsregime als andere Anbieter und würde der Bund eine Sonderrolle gegenüber anderen Anteilseignern der drei Postunternehmen beanspruchen. Beides stünde im Wider65 Dazu Dagtoglou (N 33), Rn. 106. 66 Hierzu unlängst Hermes , Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998. Dazu allerdings Lecheler, NVwZ 1998, S. 1167 f. 67 Überblick bei Windthorst (N 21), Rn. 14 ff.

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spruch zu deren Privatwirtschaftlichkeit. Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG versperrt nicht nur den Rückweg zu Organisationsformen des öffentlichen Rechts, sondern auch eine verwaltungsgesellschaftsrechtliche Überformung der Postunternehmen. Als deren Gesellschafter steht auch der Bund unter dem Gesetz der Privatwirtschaftlichkeit. Der Infrastrukturauftrag bezieht sich auf ein Feld, auf dem die Postunternehmen und in zunehmendem Umfang andere private Anbieter tätig sind. Man kann gleichwohl nicht sagen, dieser Auftrag werde durch postalische und telekommunikative Dienstleistungen erfüllt. Für private Anbieter im Sinne von Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG versteht sich das ohne weiteres; ihre Tätigkeit kann nicht Erfüllung eines Staatszieles sein. Bei den Postunternehmen stellt die Lage sich nicht anders dar, weil sie aus der Gemeinwohlbindung, damit auch aus der Bindung an konkretisierende Staatsziele herausgelöst sind. Adressat des Infrastrukturauftrags ist der Bund. Er wird berechtigt und verpflichtet, durch Einwirkung auf die Erbringer von Dienstleistungen, Postunternehmen wie andere private Anbieter, eine Grundversorgung sicherzustellen. Es ist zu unterscheiden zwischen den Diensten und ihrer Sicherstellung. Die Sicherstellung ist nicht nur nicht Sache der Postunternehmen, sondern ändert auch an der Rechtsnatur ihrer Dienste nichts, zumal das zur Grundversorgung Gebotene nur einen Teil ihres Angebots ausmacht. Trotz der Übereinstimmung in dem Wort „Grundversorgung" unterscheidet sich die Arbeitsteilung zwischen Bund und Privatwirtschaft in den Bereichen Post und Telekommunikation von derjenigen im dualen Rundfunksystem. Dort ist die Grundversorgung eine Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und handeln nur die privaten Programmanbieter privatwirtschaftlich; die unmittelbare Staatsverwaltung ist wegen des Gebots der Staatsfreiheit des Rundfunks nicht beteiligt. Hier dagegen ist der Infrastrukturauftrag dem Bund zugeordnet und agieren sowohl die früher bundeseigenen Postunternehmen wie auch deren private Konkurrenz privatwirtschaftlich. Der leistungsstaatliche Auftrag des Art. 87 Abs. 1 GG a.F. wird zurückgenommen auf einen Infrastrukturauftrag, der beim Bund verbleibt. Die Post- und Telekommunikationsdienstleistungen werden aus dem leistungsstaatlichen Kontext aufgabenrechtlich herausgenommen und organisationsrechtlich durch Privatisierung der Postunternehmen und Zulassung anderer privater Anbieter verselbständigt. Die Innovation der Grundgesetzänderung vom 30. August 1994 liegt beim zweiten, nicht beim ersten Absatz von Art. 87f. Er öffnet Post und Telekommunikation den Marktgesetzen und zeichnet die drei Postunternehmen von öffentlich-rechtlichen Bindungen frei, damit sie für den internationalen Wettbewerb besser gerüstet sind.

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IX. Die Unterscheidung zwischen dem hoheitlichen und dem privatrechtlichen Bereich wird möglicherweise durch Art. 87f Abs. 3 GG relativiert 68 , indem der Bund privatwirtschaftliche Eigentümerbefugnisse in die Hände einer Anstalt des öffentlichen Rechts legt. Dies dient jedoch nicht dem Ziel einer leistungsstaatlichen Einbindung der Postunternehmen, sondern der Wahrung ihrer historisch gewachsenen Einheit. Die der Anstalt nach § 3 BAPostG obliegenden Aufgaben 69 stehen nur teilweise in einem Zusammenhang mit dem Infrastrukturauftrag des Art. 87f Abs. 1 GG. Es träfe schon deshalb nicht zu, die Anstalt zum Hüter des Infrastrukturauftrags zu erklären. Dieser ist nach Art. 87f Abs. 2 Satz 2 GG im Gegenteil von bundeseigener Verwaltung wahrzunehmen. 70 § 3 Abs. 4 BAPostG hebt weiter hervor, daß die Bundesanstalt über die im Gesetz genannten Befugnisse hinaus weder Rechte noch Einfluß in bezug auf die Postunternehmen ausüben dürfe. So sind der Abschluß von Beherrschungsverträgen im Sinne von § 291 Abs. 1 Satz 1 AktG zwischen Bundesanstalt und Postunternehmen und die Teilnahme der Anstalt am operativen Geschäft der Aktiengesellschaften unzulässig.71

X. Umfang und petitionsrechtliche Einbindung der privatrechtlichen Befugnisse des Bundes als Aktionär der Postunternehmen hängen an der Alternative zwischen Verwaltungsgesellschaftsrecht und Gesellschaftsrecht. Die Besonderheit des Verwaltungsgesellschaftsrechts liegt in Ingerenzrechten der öffentlichen Hand, die ihr die Möglichkeit geben sollen, die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Kapitalgesellschaften des privaten Rechts zu steuern. 72 Darum geht es bei den Postunternehmen aber nicht. Dem Bund obliegen zwar öffentliche Aufgaben im Bereich von Post und Telekommunikation. Die Postunternehmen sind aber kein Instrument des Bundes zu deren Erfüllung. Verwaltungsgesellschaftsrecht kommt mithin nicht zur Anwendung. § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BAPostG verweist die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation auf die Rechte, die dem Bund nach dem Aktiengesetz zustehen. Zusätzliche öffentlich-rechtliche Ingerenzrechte, wie sie bei einer Petitionspflichtigkeit der Postunternehmen konstruierbar wären, sind dort nicht 68 So Grämlich, NJW 1994, S. 2787 f. 69 Kritik an deren Vielgestaltigkeit und Uneinheitlichkeit bei Scherer, CR 1994, 421. 70

Zu der organisationsrechtlichen Diskrepanz zwischen Art. 87f Abs. 2 Satz 2 und Art. 87f Abs. 3 GG: Badura (N 3), Rn. 16; Lerche (N 15), Art. 87f Rn. 117; Stern (N 46), Art. 87f Rn. 88; Uerpmann (N 21), Art. 87f Rn. 14; Windthorst (N 21), Rn. 37 f. 71 Vgl. § 2 Abs. 3 der Anstaltssatzung (Anlage zu § 8 BAPostG). Diese Regelung hat auch Auswirkungen für die Frage, ob ein faktischer Konzern vorliegt. 72 Dazu von Danwitz, AöR 1995, S. 595 ff.; Röper, Der Staat 1998, S. 273; R. Schmidt, ZGR 1996, S. 345 ff.; Schön, ZGR 1996, S. 429 ff.; Spannowsky, ZGR 1996, S. 400 ff.

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vorgesehen. Ihnen steht vielmehr § 3 Abs. 4 BAPostG, mittelbar Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG, ausdrücklich entgegen. Denkbar wäre noch, die Ausübung der vorhandenen Eigentümerbefugnisse des Bundes öffentlich-rechtlich zu programmieren. Das scheitert jedoch, wie ausgeführt 73 , an der Trennung zwischen Privatwirtschaftlichkeit und Infrastrukturauftrag, die durch den Bund hindurchläuft: Der Bund ist sowohl staatszielverpflichteter Staat mit Regulierungsbehörden, die, neben anderen, insbesondere wettbewerblichen Aufgaben, auf die Erfüllung des Infrastrukturauftrags zu achten haben, als auch privatwirtschaftlicher Anteilseigner. Es scheitert weiter daran, daß zwischen dem Infrastrukturauftrag und einer Indienstnahme von gesellschaftsrechtlichen Befugnissen für das Petitionsgrundrecht kein hinreichender Zusammenhang besteht. Zwar sind Informationen, die der Bund anläßlich von Petitionen über die Postunternehmen erhält, aufs Ganze gesehen geeignet, sich ein Bild von deren Lage zu verschaffen. Wie groß der Anteil der Petitionen ist, bei denen ein solcher Nebeneffekt entsteht, ist damit nicht gesagt. Die Berührung von aktienrechtlichen Informationsrechten, zu deren Ausübung der Aktionär Bund hier petitionsgrundrechtlich verpflichtet werden soll, mit Art. 17 GG ist eine eher zufällige. Beide dienen unterschiedlichen Interessen und Zwecken und können darum rechtlich nicht verknüpft werden. Der Umstand allein, daß die Ausübung von Eigentümerbefugnissen irgendeinen Beitrag zu einer Hoheitsaufgabe leisten kann, verwandelt die Befugnisse nicht in Pflichten. Darauf kann nicht entgegnet werden, daß in der Organisation privatwirtschaftlicher Unternehmen dem Management von Kunden- und Mitarbeiterbeschwerden eine wachsende Bedeutung zukommt. 74 Ein solcher Einwand übersieht mehreres: Beschwerdemanagement ist unternehmensintern, während es hier um eine externe Kontrolle zu unternehmensfremden Zwecken ginge. Dem Beschwerdemanagement geht es zweitens um eine Feinsteuerung der Unternehmensleistungen. Nach einem Grundgedanken der Postreform I I soll der Staat sich aber aus den Einzelheiten der Dienstleistungserbringung gerade heraushalten und auf die Grundlinien - die Gewährleistung einer postalischen und telekommunikativen Infrastruktur - zurückziehen. In diese Konzeption fügt sich ein Petitionsinformationsrecht des Parlaments hinsichtlich von Kunden- und Mitarbeiterbeschwerden nicht mehr ein. Drittens beschäftigen sich schon die Regulierungsbehörden mit Kundenbeschwerden. Wenn, als Relikt aus hoheitlichen Tagen der Post, der Petitionsausschuß dasselbe täte, wäre ein schwer aufzulösendes Nebeneinander von Kontrollmechanismen die Folge.

XL Soweit die Postunternehmen weiterhin Hoheitsrechte ausüben, unterliegen sie Art. 17 GG und der Kontrolle des Petitionsausschusses des Deutschen Bundes73 Siehe unter VIII. 74 Zu diesem Punkt Röper, Der Staat 1998, S. 258. 36*

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tages. Das wichtigste Beispiel ist die beamtenrechtliche Dienstherrnstellung der Postunternehmen, die in Art. 143b Abs. 3 GG eine verfassungsrechtliche Grundlage findet. Weitere Beispiele sind die Planfeststellung für Fernmeldelinien nach § 7 TWG und die förmliche Zustellung von Postsendungen. Hier gilt folgendes: Die Postunternehmen sind zuständige Stellen im Sinne von Art. 17 GG. Sie sind deshalb dem Parlament im Rahmen des verfassungsrechtlichen Petitionsinformationsrechts und nach dem Gesetz über die Befugnisse des Petitionsausschusses zu Auskünften verpflichtet. Die zuständigen Stellen der Ministerialverwaltung des Bundes sind verpflichtet, die Informationskontakte zwischen Parlament und Postunternehmen zu vermitteln. Damit stellt sich die Frage, wie zwischen dem nicht mehr petitionsbetroffenen und dem immer noch petitionsbetroffenen Teil von Post und Telekommunikation zu trennen ist. Zu diesem Zweck hat der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages im Juni 1996 eine Auslegungsentscheidung erlassen 75, die als Hilfsmittel für die Abgrenzung zulässiger und unzulässiger parlamentarischer Anfragen an die Bundesregierung in den Bereichen Bahn, Post und Telekommunikation dienen soll. Diese Entscheidung hat gemäß § 127 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz und Abs. 2 GOBT die Qualität von Geschäftsordnungsrecht. 76 Unmittelbar bezieht die Auslegungsentscheidung sich auf die §§105 und 108 GOBT. Nach dem Selbstverständnis des Ausschusses erstreckt seine Auslegungskompetenz sich über das Geschäftsordnungsrecht hinaus auf die Artikel des Grundgesetzes mit parlamentsrechtlichem Inhalt, welche dem Geschäftsordnungsrecht zugrunde liegen, dies aber nur im Innenrechtskreis des Parlaments. 77 Die Auslegungsentscheidung erhebt mithin den Anspruch, deklaratorische Aussagen zu den Rechten zu treffen, die aus Art. 17 GG für den Deutschen Bundestag abzuleiten sind. Zwischen diesen Rechten und parlamentarischen Kontrollrechten des Parlaments wird dabei nicht differenziert; das ist nicht unproblematisch, weil Petitionsinformationsrechte der Volksvertretung im Unterschied zu anderen Rechten des Parlaments gegenüber der Regierung 78 kein demokratisches, sondern ein grundrechtliches Fundament haben. Die Auslegungsentscheidung enthält einen Kriterienkatalog, der das privatwirtschaftliche Geschäft von Post und Telekom von - nach wie vor - petitionspflichti75 BT-Drucks. 13/8000. 76 Vgl. die Nachweise bei Burhenne (Hrsg.), Recht und Organisation der Parlamente, Losebl., Bd. 1, S. 0906.911, Nr. 10/18. Restriktiver Trossmann /Roll, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1981, § 127 Rn. 11, die eine solche Rechtswirkung nur annehmen, wenn die vom Ausschuß vorgenommene Auslegung vom Parlamentsplenum durch Beschluß bestätigt wird. 77 Nachweise bei Burhenne, wie zuvor, S. 0906.920, Nr. 11/12; a.A. Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977, § 128 Rn. 6, zur GOBT von 1970. 78 Überblick in „Rechte der Parlamente bei der Organisations- und Aufgabenprivatisierung". Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Landtags von Rheinland-Pfalz vom 16. April 1997, Az.: 11/52-1215.

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ger Staatsaufsicht und verbliebenen Hoheitsrechten der Postunternehmen trennt. Kundenbeschwerden unterliegen danach nur insoweit einer petitionsgrundrechtlichen Kontrolle, als das Verhalten der Regulierungsbehörden in bezug auf Kundenschutzverordnungen in Rede steht.79 Auch das Post- und Fernmeldegeheimnis kann nicht mehr unmittelbar gegenüber den Postunternehmen geltend gemacht werden. Weil Art. 10 GG ihnen gegenüber keine unmittelbare Drittwirkung entfaltet 80 , sondern das Grundrecht sich mit der Postprivatisierung von einem Eingriffsabwehrrecht in eine Schutzpflicht verwandelt hat, kann nur die Nichterfüllung der Schutzpflicht durch staatliche Aufsicht, nicht der Bruch eines dieser Geheimnisse durch ein Postunternehmen Gegenstand einer Petition sein. Art. 10 und Art. 17 GG stimmen insoweit hinsichtlich des Grundrechtsverpflichteten überein. Ähnlich ist die Rechtslage bei der neben den Kundenbeschwerden zweiten zahlenmäßig starken Gruppe von Petitionen, bei den Mitarbeiterbeschwerden. Hier unterscheidet der Kriterienkatalog des Bundestages zwischen „Personalfragen im Arbeits- und Tarifbereich einschließlich Berufsausbildung nach BBiG" und „beamtenrechtlichen Angelegenheiten der bei den Aktiengesellschaften beschäftigten Beamten". Erstere können nicht Gegenstand von Petitionsinformationsansprüchen des Parlaments sein, letztere wohl, weil die Postunternehmen nach dem Beleihungsmodell des Art. 143b Abs. 3 GG insoweit hoheitlich tätig sind.

XII. Die Postprivatisierung vom Spätsommer 1994 hat petitionsgrundrechtliche Nebenwirkungen, an die zunächst wohl die wenigsten gedacht haben. Die Postunternehmen fallen seither grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich von Art. 17 GG heraus, ebenso wie sie nicht mehr Adressaten von Art. 10 GG sind. Dies ergibt sich aus den Grundsätzen über die Fiskalgeltung der Grundrechte, nach denen Staatstätigkeit, die kraft ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Qualifikation privatwirtschaftlich ist, nicht oder nur so eingeschränkt grundrechtsgebunden ist, daß für eine Petitionsinformationspflicht gegenüber dem Bundestag oder eine Bescheidungspflicht unmittelbar gegenüber Petenten kein Raum ist. An die Stelle einer Petitionskontrolle sind Regelungen und Verfahren der Wirtschaftsaufsicht getreten.

79 Der Punkt „Kundenbeschwerden" ist nachträglich in den Kriterienkatalog aufgenommen worden; es handelt sich um einen politischen Kompromiß, der eine verfassungsgerichtliche Auseinandersetzung nicht verhindert hat. Vgl. BT-Drucks. 13/6149, S. 7. so Dazu Stern (N 46), Art. 10 Rn. 44ff.; ferner Ipsen (N 13), Rn. 288; Pieroth/Schlink (N 13), Rn. 772. Zur Ausgestaltung der Telefonüberwachung Waechter, VerwArch 1996, S. 68 ff.

Zur demokratischen Legitimation der rechtsprechenden Gewalt Von Gerd Roellecke

Walter Leisner hat die Demokratie mit Recht eine gefährdete, weil spannungsreiche Staatsform genannt.1 Ordnung und Anarchie, Freiheit und Gleichheit, Mitwirkung und Repräsentation, Masse und Führung kennzeichnen die Pole, zwischen denen Demokratie knistert. Die Spannungen gehören jedoch zum Wesen der Demokratie. Sie sind nicht auszuschalten, sondern auszuhalten. Das verlangt geistige Kraft von jedem Bürger, und die muß durch eine „Staatslehre der Demokratie" gestärkt werden. Eine solche Staatslehre darf die Antithesen der Demokratie jedoch nicht in Synthesen auflösen, sie muß sie aufrechterhalten, aber systematisieren, bündeln und auf allgemeine Prinzipien bringen. 2 Dazu wollen die folgenden Zeilen zu Ehren Walter Leisners einen Beitrag leisten. Walter Leisner betrachtet sein großes Werk „Demokratie" 3 als einen Versuch, „Material für eine solche Antithesen-Theorie der Volksherrschaft bereit zu stellen", von dem er freilich selbst schreibt, der Versuch „mußte meist stehen bleiben bei einer Analyse immanenter Spannungen".4 Liest man „Demokratie" als das Bemühen, diese Gestalt der Politik aus sich heraus als eigenständige Ordnung ohne ihre Formung durch Traditionen und Institutionen zu denken, wird verständlich, daß das Buch die Rechtsprechung weitgehend ausblendet. Die Rechtsprechung erscheint als verschleierte Vollstreckerin demokratischer Gleichheit und deshalb ganz im Sinne Montesquieus als „gewichtslos"5 oder als „anarchisierender Störfaktor", weil sie „eine eigenartige Gegengewalt", das heißt, nicht demokratisch gerechtfertigt ist, 6 oder als anachronistisches „Richterkönigtum", das, statt Recht zu sprechen, die Aufgabe ursurpiert, die Schwächeren zu schützen.7 1 Walter Leisner, Demokratie. Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, Berlin 1998. 2 Walter Leisner, Antithesen-Theorie für eine Staatslehre der Demokratie, JZ 1998 S. 861 866. 3 Wie Fußnote 1. 4 JZ 1998 S. 865. 5 Demokratie, S. 255, 283 ff. 6 Demokratie, S. 628 ff. 7 Demokratie, S. 986 ff.

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Leisners Rechtsprechungskritik ist auch in ihrer Schärfe prinzipiell berechtigt. Das Verhältnis zwischen Demokratie und Rechtsprechung ist eine - wenn auch durch Tradition und Gewohnheit gut versorgte - Wunde der Staatstheorie. Leisner will zeigen, daß sie schwärt, und benutzt deshalb schartige Argumente. Aber seine Kritik hat auch eine praktisch-politische Dimension. Forderungen nach einer basisdemokratischen Erweiterung der Gesetzgebung, schreibt Ingeborg Maus 8, „sind angesichts der faktischen Kompetenzerweiterungen des Bundesverfassungsgerichts leerlaufend: Plebiszite oder Formen dezentraler demokratischer Gesetzgebung wären bloße Vorspiele der Entscheidungen in Karlsruhe wie die parlamentarischen Gesetzgebungsprozesse auch. Mit anderen Worten: Eine Änderung des Grundgesetzes, erst recht eine Demokratisierung unserer real existierenden Demokratie ist ohne Diskussion über die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts nicht möglich". Das bedeutet, Rechtsprechung begrenzt von vornherein Mitwirkungsmöglichkeiten. Das Verhältnis von Demokratie und Rechtsprechung ist daher neu zu bedenken. Eine Klärung ist freilich nur möglich, wenn man das Problem schärfer faßt. Dazu gehört zunächst, die Verfassungsgerichtsbarkeit als Institution auszuklammern, natürlich nicht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Zwar macht die Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichtes, Gesetze des durch demokratische Wahlen legitimierten Parlaments förmlich aufzuheben, die Spannung zwischen Demokratie und Rechtsprechung besonders deutlich.9 Aber diese Möglichkeit ist nicht typisch für die Rechtsprechung im allgemeinen (vgl. Art. 100 Abs. 1 GG). Unter dem Aspekt der Gewaltenteilung ist Verfassungsgerichtsbarkeit ein Sonderfall. Man kann sie mit guten Gründen nicht für echte Rechtsprechung halten 10 , sondern als Stabilisator des demokratischen Prozesses verstehen. Ulrich R. Haltern 11 hat dem Problem jüngst eine gedankenreiche und tiefgründige Arbeit gewidmet, auf die pauschal verwiesen werden kann. I. Widersprüchliches im Grundgesetz Daß das Verhältnis von Demokratie und Rechtsprechung überhaupt problematisch ist, kann man bereits am Grundgesetz erkennen. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen [ . . . ] ausgeübt", heißt es in Art. 20 Abs. 2 GG. Das Volk wählt den Gesetzgeber. Art. 20 Abs. 3 GG 8 Die aktuelle Verfassungsdiskussion und der Verfassungstypus der Volkssouveränität, in: Jürgen Gebhardt /Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Demokratie, Verfassung, Nation, 1994, S. 139,142. 9

Zur Verfassungsgerichtsbarkeit Leisner, Demokratie, S. 634 - 636. Vgl. Gerd Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, in: Friedrich Schäfer/Gerd Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung. Ein Cappenberger Gespräch, 1980, S. S. 24-42, 32. 11 Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen. Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus, 1998. 10

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zieht daraus die Konsequenz: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden". Das wäre Demokratie pur, weil alle Staatsgewalt vom Volk ausginge, wenn das Wörtchen „Recht" nicht wäre. Was das Gesetz mit Demokratie zu tun hat, ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen Wahlen und Gesetzgebungsverfahren. Aber was hat „Recht" mit Demokratie zu tun? Das Bundesverfassungsgericht betrachtet „Gesetz und Recht" als Kontingenzformel: „Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken".12 Das ist historisch plausibel, befriedigt demokratietheoretisch aber nicht. Die Unterscheidung zwischen Gesetz und Recht ist keine demokratische Antithese. Sie paßt nicht in die Demokratie, sondern übersteigt sie, weil „Recht" auf eine Legitimation außerhalb von „Wahlen und Abstimmungen" verweist. In Art. 97 Abs. 1 GG leuchtet das Problem noch kräftiger auf: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen". Die richterliche Unabhängigkeit wirkt wie wie eine Abwandlung von „Recht" im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG. Sie wird zwar durch die Gesetzunterworfenheit eingeschränkt, aber auf eine Weise, die Unabhängigkeit wie Gesetz desavouiert. Unabhängig und doch nicht unabhängig?, müßte man fragen, wenn man nicht wüßte, daß Art. 97 Abs. 1 GG die Gewaltenteilung meint und die rechtsprechende gegen die gesetzgebende und vollziehende Gewalt abgrenzen will. 1 3 Art. 86 Abs. 1 preußVerf. von 1850 drückt das deutlicher aus: „Die richterliche Gewalt wird im Namen des Koenigs durch unabhaengige, keiner anderen Autoritaet als der des Gesetzes unterworfene Gerichte ausgeuebt". An dieser Fassung spürt man noch, daß die richterliche Unabhängigkeit politisch ein Kompromiß zwischen der vollziehenden Gewalt des Monarchen und der gesetzgebenden Gewalt des im Parlament repräsentierten „Volkes" war. Wo das „Volk" selbst bestimmte, wie in § 175 Abs. 1 der Paulskirchen Verfassung: „Die richterliche Gewalt wird selbständig von den Gerichten ausgeübt. Cabinets- und Ministerialjustiz ist unstatthaft", dort hielt es die Bindung des Richters an das Gesetz für selbstverständlich und nur den Ausschluß der Kabinettsjustiz für geboten. Das bedeutet, nicht nur das Verhältnis zwischen Demokratie und Rechtsprechung, auch das zwischen Demokratie und Gewaltenteilung ist unklar. Rousseau14 hatte so Unrecht nicht, als er den Theoretikern der Gewaltenteilung vorwarf, sie könnten die Einheit des Staates nicht denken und glichen jenen japanischen Gauklern, die ein Kind zerstückelten, die Glieder in die Luft würfen und das Kind dann wieder ganz und lebendig herabfallen ließen. Freilich muß man zwischen der bloßen Beschreibung politischer Ordnungen, die man Demokratie nennt, und der Legitimationsfunktion von Demokratie unterscheiden. Rousseau kam es auf die Legitimationsfunktion an. 12 BVerfGE 34 S. 269, 286 f. - Soraya. 13 Roman Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog, GG (Stand Mai 1977), Art. 97 Rdnr. 2. 14 Der Gesellschaftsvertrag, 2. Buch 2. Kapitel.

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II. Realität Versucht man, als außenstehender Beobachter Demokratie wie von einem anderen Stern aus lediglich zu beschreiben und davon abzusehen, daß man als Person und Bürger eine kulturelle und nationale Identität hat, an der politischen Willensbildung mitwirkt und von politischen Entscheidungen betroffen ist, dann gibt es keine andere Erkenntnismöglichkeit, als die verschiedenen Ordnungen von Politik miteinander zu vergleichen. Vergleichsbasis ist die Macht und Differenzierungskriterium ist ihre Verteilung. Prüft man aber die politischen Ordnungen unter dem Aspekt der Machtverteilung, gerät man schnell in Unterscheidungsschwierigkeiten. „Mancher hält sich für den Herrn seiner Mitmenschen", hat schon Rousseau 15 beobachtet, „und ist trotzdem mehr Sklave als sie". Grund: Macht ist Kommunikation, und zur Kommunikation gehören immer mindestens zwei. Ohne Mitwirkung der Machtunterworfenen kann kein Machthaber Macht ausüben. Insofern gibt es keine Macht ohne „Partizipation". 16 Deshalb ist es leicht, alle Machtverhältnisse demokratisch zu nennen, die nicht ausdrücklich anders firmieren. Auch im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation wurde bekanntlich viel gewählt, und der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat mit Sicherheit größeren politischen Einfluß als ihn der römisch-deutsche Kaiser hatte. Man verfehlt daher die Wirklichkeit, wenn man Demokratie als ein Prinzip beschreibt, nach dem alle jederzeit alles mitentscheiden. Wie bei allen relativ verselbständigten politischen Ordnungen entscheiden auch in einer Demokratie wenige für viele. Sonst wäre die Verselbständigung sinnlos. Politik ist eben ein Spezialsystem für Macht und insofern auch für „Partizipation". Wenn das die Realität ist, darf man die Machtverteilung in einer Demokratie nicht als politische Willensbildung von unten nach oben verstehen (so aber Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG), man muß auf die Spitzen achten und sie vergleichen. Dann wird auch Niklas Luhmanns17 Vorschlag verständlich, unter Demokratie die Spaltung der politischen Spitze in Regierung und Opposition zu verstehen: „Wenn es innerhalb eines Systems [ . . . ] überlegene und unterlegene Macht gibt, findet man auch eine eigentümliche Ohnmacht der Mächtigen und auf der anderen Seite Macht der Ohnmächtigen. Bereits die Theorie des absoluten Staates hatte sich mit diesem Problem befaßt und darin eine Art Ausgleich gesehen. Die Differenzierung von Regierung und Opposition hat dafür eine Form gefunden, hat das Problem, wenn man so sagen darf, entparadoxiert. Die Opposition hat keine Regierungsmacht, sie kann eben deshalb die Macht der Ohnmacht zur Geltung bringen". In diesem Verständnis von Demokratie läßt sich die rechtsprechende Gewalt leicht unterbringen. Die Spaltung der Spitze ist auf positives, das heißt, jederzeit änderbares Recht angewiesen. Sie bedarf der gesetzten Regeln, der Verfahrensord15

Der Gesellschaftsvertrag, 1. Buch 1. Kapitel. 16 Vgl. Niklas Luhmann, Macht, 1975, bes. S. 21. 17

Die Zukunft der Demokratie, in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 4, 1987, S. 126-132, 127.

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nungen, der Fristen, der fixierten Mitspracherechte und der öffentlich anerkannten Darstellungsmöglichkeiten. Demokratie setzt den Rechtsstaat voraus und ist ihm auch historisch gefolgt. 18 Außerdem benötigt die Spaltung der Spitze gesetztes Recht als Instrument und als Symbol für Änderungen, an dem sich Regierung und Opposition abarbeiten und darstellen können. Die Rechtsprechung ist nun das Zentrum des Rechtes, weil sie letztverbindlich zwischen Recht und Unrecht unterscheidet. Insofern balanciert sie das labile Verhältnis von Regierung und Opposition und ermöglicht erst Demokratie. Sie ist gleichsam uninteressierte Schiedsrichterin im Kampf um politische Macht und gleichzeitig Vollstreckerin von Mehrheitsentscheidungen. Deshalb ist sie an „Gesetz und Recht" gebunden. Diese Doppelrolle ist notwendig, um das System zu erhalten. Sie gewährleistet, daß nur rechtmäßige politische Entscheidungen für jedermann verbindlich werden und daß die Regierung die Opposition nicht einfach ausschaltet. In diesem Sinne,/echtfertigt" Demokratie Rechtsprechung.

I I I . Normativität Diese Art von Rechtfertigung ist indessen nicht gemeint, wenn man von demokratischer Legitimation spricht. Dann denkt man an Demokratie als Norm und die Norm soll sein: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Auch in einem normativen Verständnis von Demokratie muß man freilich zwei grundverschiedene Interpretationen unterscheiden, die positivistische und die normati vistische. 1. Das positivistische

Konzept

Die positivistische Interpretation knüpft an den Wortlaut des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG an, der das „ausgehen von" präzisiert: Die Staatsgewalt „wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt". Das Bundesverfassungsgericht folgert daraus: „Die Organe der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt beziehen ihre institutionelle und funktionelle demokratische Legitimation aus der in Art. 20 Abs. 2 getroffenen Entscheidung des Verfassungsgebers".19 Demokratisch legitimiert sind die Organe der drei Gewalten also nicht, weil sie „vom Volke ausgehen", sondern nur, weil Art. 20 Abs. 2 GG es so entschieden hat. Hätte der Verfassungsgeber anders entschieden, wären die Organe nicht demokratisch legitimiert, gleichgültig, wie sie verfassungsdogmatisch zu18 So bereits Martin Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, VVDStRL 29 (1971) S. 46 - 84,49 ff.; vgl. auch Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 471; Gerd Roellecke, Rechtsstaat - Nichtrechtsstaat - Unrechtsstaat, Rechtstheorie 28 (1997) S. 299-314, bes. 307. 19 BVerfGE 49 S. 89, 125 - Kalkar; 68 S. 1, 88 - Pershing-Raketen.

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Stande kommen. In der Tat könnte man aus dem Satz des Bundesverfassungsgerichtes „demokratische" streichen, ohne seinen Sinn zu ändern. Die Staatsorgane und ihre Entscheidungen werden durch das positiv gesetzte Verfassungsrecht legitimiert und durch sonst nichts, auch nicht durch die Zustimmung der jeweils Betroffenen. 20 Deshalb: positivistische Interpretation. Natürlich hat das Bundesverfassungsgericht nicht übersehen, daß Art. 20 Abs. 2 GG zwischen Wahlen und Abstimmungen auf der einen und den besonderen Entscheidungsorganen auf der anderen Seite unterscheidet. Daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, versteht es als „Grundsatz der Volkssouveränität", 21 der verlange, „daß das Volk einen effektiven Einfluß auf die Ausübung der Staatsgewalt durch diese Organe [der drei Gewalten, d. Verf.] hat. Deren Akte müssen sich daher auf den Willen des Volkes zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden. Dieser Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft wird vor allem durch die Wahl des Parlaments, durch die von ihm beschlossenen Gesetze als Maßstab der vollziehenden Gewalt, durch den parlamentarischen Einfluß auf die Politik der Regierung sowie durch die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung gegenüber der Regierung hergestellt". 22 Damit ist der Differenz zwischen Wahlen und Abstimmungen und den besonderen Entscheidungsorganen aber noch nicht genügt. Das Gericht versucht, ihr mit dem Bild einer Kette zu entsprechen: „Die verfassungsrechtlich notwendige demokratische Legitimation erfordert eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern". 23 Die Kette verwandelt sich jedoch in eine Art Meßbecher, wenn es um die inhaltliche Richtigkeit von Entscheidungen geht: „Aus verfassungsrechtlicher Sicht entscheidend ist nicht die Form demokratischer Legitimation staatlichen Handelns, sondern dessen Effektivität; notwendig ist ein bestimmtes Legitimationsniveau",24 das bei einem Amtsboten naturgemäß niedriger sein kann als beim Bundeskanzler. „Aus dem Umstand, daß allein die Mitglieder des Parlaments unmittelbar vom Volk gewählt werden, folgt [indessen, d. Verf.] nicht, daß andere Institutionen und Funktionen der Staatsgewalt der demokratischen Legitimation entbehrten". 25 20 BVerfGE 83 S. 37, 51 - Ausländerwahlrecht Schleswig-Holstein. 21 BVerfGE 83 S. 37, 50; ähnlich Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 289378, 292. 22 BVerfGE 83 S. 60, 72 - Ausländerwahlrecht Hamburg. 23 BVerfGE 77 S. 1,40 - Untersuchungsausschuß „Neue Heimat". 24 BVerfGE 93 S. 37, 67 - Mitbestimmung der Personalräte in Schleswig-Holstein; dazu Albert von Mutius, Personalvertretungsrecht und Demokratieprinzip des Grundgesetzes, in: Ziemske/Langheid/Wilms/Haverkate (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik, Festschrift für Martin Kriele zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1119-1139; in funtioneller Sicht grundlegend Kay Waechter, Geminderte demokratische Legitimation staatlicher Institutionen im parlamentarischen Regierungssystem, 1994; siehe aber auch die kritische Rezension von Matthias Jestaedt, Der Staat 35 (1996) S. 633 - 637. 25 BVerfGE 49 S. 89, 125 - Kalkar; 68 S. 1, 88 - Pershing-Raketen.

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Nach dieser Argumentation ist auch die Rechtsprechung demokratisch legitimiert, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, wenn man auch nicht erfährt, auf welchem Legitimationsniveau. Allerdings fällt auf, daß das Gericht die Rechtsprechung nirgendwo thematisiert. Das ist verständlich, weil es dann auch seine eigene demokratische Legitimation hätte erörtern müssen, und das wäre seiner Autorität nicht gut bekommen. Die „strikt parlamentarische Wahl der Richter" 26 (Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG) ist eben einerseits keine Wahl durch das Volk und ermöglicht andererseits Spekulationen über die parteipolitische Bindung der Richter. Sie ist ein Tribut an die politische Relevanz der Verfassungsgerichtsbarkeit und sollte angesichts der Erfahrungen mit gewählten Richtern eher mißtrauisch stimmen. 27 Ginge es wirklich um Objektivität und Neutralität des Bundesverfassungsgerichtes, wäre die Auslosung der Richter aus einem Reservoir sorgältig geprüfter Kandidaten zweckmäßiger. Die Auslosung symbolisierte sogar größere Chancengleichheit. Aber der tiefere Grund für das Ausklammern der Rechtsprechung liegt im Verhältnis von Demokratie und Recht. In einer seiner frühen Entscheidungen zur „Wesentlichkeitstheorie" hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, Demokratie gebiete, „daß jede Ordnung eines Lebensbereiches durch Sätze objektiven Rechts (Hervorhebung nicht im Orginal) auf eine Willensentschließung der vom Volk bestellten Gesetzgebungsorgane muß zurückgeführt werden können". 28 Das ist richtig. Nimmt man hinzu, daß das Staatsvolk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG nicht das Wahlvolk ist und daß das Wahlvolk durch das aktive Wahlrecht (Art. 38 Abs. 2 GG) einerseits und durch die Staatsangehörigkeit (Art. 116 GG) andererseits rechtlich begrenzt ist, 29 dann ist zu fragen, ob „demokratische Legitimation" mehr ist als eine rechtlich gesetzte Zuständigkeitsregelung und ob nicht in Wirklichkeit allein das positive Recht die Legitimation schafft. 30 Natürlich steht auch nach positivem Recht das Parlament im Zentrum der Politik. Aber entscheiden kann das Parlament nicht, weil es gewählt ist, sondern weil ihm das Verfassungsgesetz bestimmte Kompetenzen zuweist. In diesem Punkt ist es nicht besser dran als es die konstitutionellen Monarchen nach 1848 waren, wie überhaupt „Volkssouveränität" fatal an „Fürstensouveränität" erinnert. 31 Auch in einer Demokratie kann niemand, kein Organ und kein Amtswalter, seine Entscheidungen schlicht mit seiner Wahl begründen. Selbst das Volk kann nicht einfach rufen „Wir sind das Volk". Im öffentlichen Meinungswirrwarr wird der Ruf nur unter besonderen Umständen überhaupt zur Kenntnis 26 H.-E. Böttcher, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 1 Rdnr. 12, der das „im demokratietheoretischen Sinn" für modern und vorbildlich hält. 27 Vgl. Hans Hattenhauer, Über Revolutionstribunale, JuS 1995 S. 765-771. 2 8 BVerfGE 33 S. 125, 158 - Facharztordnungen. 29 BVerfGE 83 S. 37, 51. 30

Ähnlich wie hier Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie, Der Staat 20 (1991) S. 161-176. 31 Dazu Kriele, VVDStRL 29 (1971) S. 46 - 84, 54 f.

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genommen. Erschallt er in rechtsstaatlich geregelten Verfahren, muß er sich an die verfassungsrechtlich geregelte Kompetenzverteilung halten. 32 Wo man auch stochert, überall stößt man auf positives Recht, nie auf „natürliches" Volk. Aber Politik und Recht haben gleichen Rang. Das muß das Recht respektieren, wenn es die Politik überprüft und weiterhin Recht bleiben will. Das Recht in Gestalt der Rechtsprechung muß daher die Selbstrechtfertigung der Politik nachvollziehen und Politik als etwas darstellen, aus dem die göttliche Stimme des Volkes spricht. Deshalb: demokratische Legitimation der Politik. Die eigene Legitimation läßt das Recht besser offen. Einem Gericht kann es ja auch nicht um Regierung oder Opposition, sondern nur um Recht oder Unrecht gehen. Strukturell ist Rechtsprechung nicht auf demokratische Legitimation angewiesen. Sonst könnte sich die europäische Rechtsprechung nicht kräftig entwickeln,33 obwohl die Europäische Union kein demokratischer Staat sein soll. 34 Zwischen Macht und Recht kann nur tiefes Schweigen vermitteln. In dieser Sicht wirkt die realistische Rechtfertigung von Rechtsprechung (oben II) kommunikativer.

2. Das normativistische

Konzept

Die normativistische Interpretation der Demokratie knüpft an Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung an. In einer Demokratie sollen die Staatsbürger ihre Freiheit verwirklichen, indem sie sie gemeinsam wahrnehmen. Dem Ergebnis kann dann niemand widersprechen, weil alle es gewollt haben. Dadurch wird das Ergebnis allgemein verbindlich. So jedenfalls hat Kant 35 die Demokratie gesehen: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn, da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein".

Das „volenti non fit iniuria" ist gleichsam die andere Seite der freien Selbstbestimmung und besagt nur, daß sich der Entscheider an seiner eigenen Entscheidung festhalten lassen muß, wenn er sich nicht willkürlich verhalten will. Dieses Demokratie-Verständnis ist nicht das des Grundgesetzes, wie die Möglichkeit der Nor32 BVerfGE 8S. 104,115 f. - Volksbefragung über Atomwaffen in Hamburg und Bremen. 33 Volker Lipp, Entwicklung und Zukunft der europäischen Gerichtsbarkeit, JZ 1997 S. 326 332. 34 BVerfGE 89 S. 155, 184 ff. - Maastricht; gleichsinnig Peter M. Huber, Die parlamentarische Demokratie unter den Bedingungen der europäischen Integration, in: Huber/Mößle/ Stock, Zur Lage der parlamentarischen Demokratie. Symposium zum 60. Geburtstag von Peter Badura, 1995, S. 105-133, 119 ff. 35 Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Rechtslehre § 46, zitiert nach: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hrsgg. von Wilhelm Weischedel, Band IV, 1963, S. 432.

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menkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 100 Abs. 1 GG) belegt. 36 Gleichwohl liegt es den meisten „Demokratietheorien" zugrunde 37, allerdings in zwei verschiedenen Versionen, die hier die aufklärerische und die erzieherische genannt werden sollen. a) Die aufklärerische Version Die von Kant vorausgesetzte Identität von Gesetzgeber und Gesetzesadressaten widerspricht so offensichtlich den gesellschaftlichen Differenzierungen, besonders der Funktionenteilung, daß das „volenti non fit iniuria" der Modifikation bedarf. Modifiziert wird der Satz • zeitlich durch Verfahren, in denen alle mitreden können, • sachlich durch eine Betroffenheit, die die Gegenstände politischer Entscheidungen auf bestimmte Personen bezieht, und • sozial durch Repräsentation, Stellvertretung, Treuhandschaft und dergleichen, die erreichen sollen, daß einige Personen für andere handeln können.38 Die Intention ist immer gleich. Die Machtunterworfenen sollen Entscheidungen der Machthaber als eigene gegen sich gelten lassen müssen. Die Frage, warum die Machtunterworfenen das sollen, auch wenn sie sich nicht auf langes Gerede einlassen, die Unterscheidung zwischen Betroffenen und Nichtbetroffenen nicht mitmachen und niemanden für sich sprechen lassen möchten, diese Frage wird mal mit der Behauptung beantwortet, die Machtunterworfenen hätten darüber einen Vertrag geschlossen oder sich sonstwie damit einverstanden erklärt, 39 mal mit dem Hinweis, Not oder die Natur der Sache schlössen Alternativen aus, mal mit der These, das Subjekt, also der freiheitsdurstige Machtunterworfene, habe sich bereits aufgelöst.40 Die Antworten wenden Zeit, Sache und Person gegen die Machtunterworfenen. Sie 36

Bemerkenswert dazu BVerfGE 83 S. 37, 52: „Es trifft nicht zu, daß wegen der erheblichen Zunahme des Anteils der Ausländer an der Gesamtbevölkerung des Bundesgebietes der verfassungsrechtliche Begriff des Volkes einen Bedeutungswandel erfahren habe. Hinter dieser Auffassung steht ersichtlich die Vorstellung, es entspreche der demokratischen Idee, insbesondere dem in ihr enthaltenen Freiheitsgedanken, eine Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzustellen. Das ist im Ausgangspunkt zutreffend, kann jedoch nicht zu einer Auflösung des Junktims zwischen der Eigenschaft als Deutscher und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk als dem Inhaber der Staatsgewalt führen". 37 Vgl. etwa Böckenförde, Demokratie, S. 321 ff.; zu den Gründen siehe Gerd Roellecke, Kants Rechtsphilosophie und die Modernisierung der Gesellschaft, ARSP 82 (1996) S. 187195. 38 So vor allem Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992; zur Betroffenheit S. 138, zur „moralischen Arbeitsteilung" S. 149, zum Verfahren S. 367, zu Assoziationen S. 443 ff. 39 Habermas, Faktizität, S. 362, nennt das „höherstufige Intersubjektivität". 40 Vgl. Karl-Heinz Ladeur, Auflösung des Subjekts in der differentiellen Bewegung der Funktionssysteme? - Zum Konzept einer „relationalen" Persönlichkeit in einer heterarchischen Gesellschaft - ARSP 80 (1994) S. 407 - 424.

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• halten die Zeit an, weil die Berufung auf einen Vertrag oder eine Einverständniserklärung auf früheres Verhalten verweist, • frieren die Sache ein, weil sie deren „Natur" in die Zeit erstrecken, und sie • lösen das Subjekt auf, weil sie die Person nicht als Individuum, sondern „allgemeiner und neutraler" begreifen. 41 Warum diese Herleitung von Demokratie aus der vernünftigen Freiheit des Menschen normativ genannt werden muß, bedarf der Erläuterung. Nichtnormativ, also soziologisch als außenstehender Beobachter, kann man Demokratie nicht nur mit Luhmann als Ordnung mit doppelter Spitze (oben II), sondern weiter und ungefährer als eine politische Ordnung beschreiben, in der durch die historische Entwicklung der Gesellschaft alle „unpolitischen" Rechtfertigungen politischer Entscheidungen wie Religion, Familienzugehörigkeit, Wahrheit, Reichtum, körperliche Stärke oder einfach Tradition unglaubwürdig geworden sind und deshalb der Politik nicht mehr zur Verfügung stehen. Mangels anderer Gründe muß sich die Politik unmittelbar auf das Volk berufen. Sie muß „das Volk" zum Souverän, die Öeherrschten zu Herrschern, Meinungsäußerungen in der Öffentlichkeit zu politischen Stichworten erklären und dabei die Realität weitgehend ausblenden, bis hin zu der Tatsache, daß sich die Politik selbst vom Volk unterscheidet und darauf angewiesen ist, daß das Volk die Politik ernährt 42 und die Mittel erwirtschaftet, die die Politik dann umverteilt. Die Notwendigkeit, politische Entscheidungen demokratisch zu legitimieren, rechtfertigt indessen noch nicht die Möglichkeit, sie notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Die wichtigste Aufgabe von Recht und Politik ist, den Frieden zu erhalten und zu sichern. Gegen Friedensbrecher müssen sie allerdings Gewalt anwenden. Diese Gewaltanwendung darf aber die Aufrechterhaltung des Friedens im allgemeinen nicht desavouieren und bedarf deshalb der Rechtsgründe. Die Rechtsgründe können nun nie so sicher sein wie die Tatsachen, die die Gewaltanwendung schafft. Das gilt für alle inhaltlichen Entscheidungen. Der Wegfall der traditionellen Rechtfertigungsgründe bedeutet daher zugleich, daß inhaltliche Rechtfertigungen nicht mehr so verallgemeinert werden können, wie politische Entscheidungen weithin sichtbare Fakten schaffen. Deshalb muß - natürlich innerhalb des Stufenbaus der Rechtsordnung - die Unterscheidung zwischen Mehrheit und Minderheit über „verbindlich oder nicht verbindlich?" entscheiden. Von dem, der in der Minderheit geblieben - oder in einem Gerichtsverfahren unterlegen - ist, zu erwarten, er werde die Mehrheitsentscheidung inhaltlich für richtig halten, widerspricht der Annahme, der Unterlegene habe vor der Abstimmung oder sonstigen Entscheidung sachlich-vernünftig argumentiert. Die Kluft zwischen der Allgemeingültigkeit der Mehrheitsentscheidung und der Unbegründbarkeit ihrer Richtigkeit muß nun in Vgl. Habermas, Faktizität, S. 154. Vgl. Otto Depenheuer, Setzt Demokratie Wohlstand voraus?, Der Staat 33 (1994) S. 329-350. 42

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dem Sinne überbrückt werden, daß der Einzelne „psychologisch" unter Druck gesetzt wird, an die inhaltliche Richtigkeit von Mehrheitsentscheidungen zu glauben. Genau das versucht das normativistische Konzept der Demokratie. Mit der Anknüpfung an die vernünftige Freiheit oder an „kommunikative Rationalität" 43 erklärt es den für unvernünftig, der andere politische Ordnungen vorzieht. Wer keine Vernunft hat, mit dem redet man nicht. Dadurch schließt man ihn aus der gesellschaftlichen Kommunikation aus und mit ihm gleichzeitig die mögliche andere politische Ordnung. Diesen praktischen Ausschluß von Alternativen für den Einzelnen nennt man allgemeine Verbindlichkeit: Normativität. 44 Gilt eine politische Ordnung einmal als allgemein verbindlich, lassen sich auch ihre Entscheidungen für allgemein verbindlich erklären, indem man sie auf die politische Ordnung bezieht. Auf diese Weise können die Entscheidungen als erwartbar dargestellt, das heißt, begründet werden. Erwartbar ist eine Entscheidung besonders dann, wenn sie in einem jedermann zugänglichen Text angelegt ist. Texte können Urhebern - etwa dem Gesetzgeber - zugerechnet werden und symbolisieren Allgemeinheit. Ob sie wirklich die Erwartungen der Rechtsgenossen prägen, kann offen bleiben. Wer gegen einen öffentlich anerkannten Text erwartet, erscheint jedenfalls grundsätzlich als unvernünftig und findet für einen Protest gegen eine Entscheidung, die sich auf den Text beruft, kaum öffentliche Unterstützung. Die „Betroffenen" müssen dieses Konzept freilich für Ideologie im Sinne von „falschem Bewußtsein" halten. Damit ist das Konzept jedoch nicht erledigt. Die Demokratie selbst hat sich die letztverbindliche Begründung ihrer Ordnung verbaut und ist doch darauf angewiesen, daß die Bürger sie trotzdem anerkennen, und sei es im „falschen Bewußtsein". Insofern gehören ideologische Begründungen möglicherweise zum Wesen der Demokratie. Das entspräche Leisners 45 Antithesen-Theorie, ist aber schwer zu ertragen. Deshalb wird vom demokratischen Bürger Toleranz gefordert. 46 Toleranz ist gleichsam die universalisierte Einsicht in die Notwendigkeit, demokratische Legitimation ideologisch zu begründen. Die Rechtsprechung kann das nicht leisten. „Die Staaten aller Zeiten haben sich auch der Justiz zur Stabilisierung ihrer Macht bedient. Sie haben aber immer wieder lernen müssen, daß die Justiz nicht unbegrenzt politisch belastbar ist und darüber leicht ihren Charakter verliert". 47 Die demokratische Legitimation der recht43

Habermas, Faktizität, S. 24. Vgl. Gerd Roellecke, Verfassungsauslegung als Darstellung von Normativität, in: Stefan Smid/Norbert Fehl, Recht und Pluralismus. Hans-Martin Pawlowski zum 65. Geburtstag, 1997, S. 137-158, 147. 4 5 JZ 1998 S. 861-866. 46 Vg. Werner Becker, Toleranz: Grundwert der Demokratie?, Ethik und Sozialwissenschaften 8 (1997) Heft 4 S. 1-11; Peter Graf Kielmansegg, Friedenssicherung durch Demokratie?, in: Manfred Spieker (Hrsg.), Friedenssicherung Band 2, 1988, S. 29-45. 44

47

Hattenhauer, JuS 1995 S. 765.

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sprechenden Gewalt bestünde in der Sicht der aufklärerischen Version paradoxerweise darin, daß sie nicht demokratisch, sondern durch Recht legitimiert ist. Denn nicht Mehrheitsentscheidungen schaffen Kontinuität, Sicherheit und die Anschlüsse an die jeweils geltende Erwartensordnung, sondern das Recht. Demokratisch wäre an der Legitimation der Rechtsprechung nur, daß die Rechtsprechung jederzeit mit einer Änderung der Gesetze rechnen und sich darauf einlassen muß. Das liefe auf das realistische Konzept von Demokratie (oben II) hinaus. Auf „das Volk" könnte die rechtsprechende Gewalt jedenfalls nicht zurückgeführt werden.

b) Die erzieherische Version Man kann den Umstand, daß sich Politik heute nur noch mit dem Volkswillen rechtfertigen kann, aber nicht nur als Bezugnahme auf das reale, sondern auch als Berufung auf ein ideales Volk verstehen. Dann wird die Demokratie nicht mehr aus der realen Freiheit der realen Individuen abgeleitet, sondern selbst als ideale Ordnung zur Norm erhoben. Das erleichtert den Rechtfertigungsdiskurs beträchtlich. Er braucht nicht völlig auf das klassische Rechtfertigungsmodell zu verzichten und muß sich trotzdem nicht an der rauhen Wirklichkeit stoßen. Die Idealisierung zwingt freilich dazu, das Ideal an die Wirklichkeit zurückzukoppeln. Da das Ideal feststeht und die Wirklichkeit rauh ist, muß die Wirklichkeit geändert werden, soweit sie für die politische Ordnung relevant ist. Relevant ist vor allem der Mensch. Geändert wird der Mensch durch Erziehung, jedenfalls nach Ansicht der Erzieher. Deshalb werden Verfassungsprinzipien zu Erziehungszielen. 48 Repräsentativ ist § 7 HRG: Lehre und Studium sollen den Studenten „zu verantwortlichem Handeln in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat" befähigen. Erwachsene Personen werden zwar auch geändert. Da sie aber in ihrer Individualität anerkannt werden müssen, nennt man die Änderung bei Erwachsenen nicht mehr Erziehung, sondern Weiterbildung. 49 In der politischen Praxis ist jedoch selbst Weiterbildung unangemessen. Der Bürger wählt und stimmt ja tatsächlich ab. Deshalb muß seine Mündigkeit vorausgesetzt und seine Realität ausgeblendet werden. Andererseits verlangt das Ideal der Demokratie, daß die Bürger wirklich in ihrem Sinne denken und handeln. Die Auswege aus diesem Dilemma nennt man Bürgerverantwortung und Demokratisierung. 48 Peter Häberle, Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: Recht als Prozeß und Gefüge. Festschrift für Hans Huber, 1981, S. 211 ff.; dagegen Gerd Roellecke, Erziehungsziele und der Auftrag der Staatsschule, in: Zeidler/Maunz/Roellecke (Hrsg.), Festschrift Hans Joachim Faller, 1984, S. 187-189, 189 f.; den Stand der Diskussion geben immer noch wieder Michael Bothe/Armin Dittmann/Wolf gang Mantl/Yvo Hangartner, Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, VVDStRL 54 (1995) S. 7 ff., 47 ff., 75 ff. und 95 ff. 49 Vgl. Gerd Roellecke, Umlernen? Probleme der institutionalisierten Weiterbildung, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 22 (1996) S. 265 - 275.

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aa) Bürgerverantwortung 50 ist ein moralischer Appell an die Staatsangehörigen, dem demokratischen Rechtsstaat innerlich zuzustimmen, damit die Demokratie erhalten bleibt. 51 Die Rede von der Bürgerverantwortung zäumt das volenti non fit iniuria gleichsam beim Schwänze auf. Der Bürger soll die Demokratie wollen, damit er frei ist und bleibt. Will er die Demokratie, kann er politischen Entscheidungen nicht widersprechen, ohne sich selbst zu widersprechen. So kann der Staat von einem Plebiszit leben, das sich jeden Tag wiederholt. 52 Wie alle Konzepte politischer Erziehung zwingt allerdings auch dieses zur Frage nach dem Erzieher, nach dem, der dem Bürger beibringt, was er wollen soll. Diese Frage läßt das Konzept der Bürgerverantwortung jedoch entweder offen oder es beantwortet sie zirkulär: „Die Staatsbürgerrechte, in erster Linie die politischen Teilnahme- und Kommunikationsrechte, sind vielmehr positive Freiheiten. Sie garantieren nicht die Freiheit von äußerem Zwang, sondern die Möglichkeit der Teilnahme an einer gemeinsamen Praxis, durch deren Ausübung die Bürger sich erst zu dem machen können, was sie sein wollen - zu politisch autonomen Urhebern einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen". 53

Das heißt, nicht die Freien und Gleichen machen das Recht, sondern das Recht macht die Freien und Gleichen. Soweit die Rechtsprechung in einem demokratischen Verfassungsstaat Recht spricht, ist sie demnach demokratisch im Sinne von: durch die Idee der Demokratie legitimiert. Aber spätestens an diesem Punkt holt die logisch-sprachliche Realität die Idee der Bürgerverantwortung ein. Die Rechtsprechung kann Freiheit und Gleichheit nicht im Interesse größerer Verbindlichkeit und Akzeptanz politischer Entscheidungen vermehren, weil ihr beide Begriffe ausschließlich als Rechtsbegriffe und nicht als emphatische moralische Forderungen zur Verfügung stehen. Im juristischen Kontext werden Freiheit und Gleichheit gänzlich nichtdemokratische Begründungen für Recht/Unrecht-Unterscheidungen im Streitfall, auch und gerade wenn es um kleine Münzen geht. Der Richter kann gar nicht anders. Er darf die Staatsbürgerrechte nicht politisch, sondern nur in der Perspektive des Streites sehen. Und der Streitfall wird nicht von „deliberativer Politik", sondern von zu Ansprüchen verdichteten normativen Erwartungen der Beteiligten geprägt. Sich darauf einzulassen, ist die Aufgabe des Richters. Otto Depenheuer 54 hat bereits dargelegt, daß das Konzept der Bürgerverantwortung mit der rechtsstaatlichen Demokratie des Grundgesetzes nicht vereinbar ist. 50 Dazu Detlef Merten /Walter Berka/Otto Depenheuer, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, VVDStRL 55 (1996) S. 7 ff., 48 ff. und 90 ff. 51 Vgl. die Skizze von Depenheuer, VVDStRL 55 (1996) S. 92 f. 52

So Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 119-276, 136. 53 Habermas, Faktizität, S. 328 f. 54 VVDStRL 55 (1996) S. 99 ff. 37*

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Nachzutragen ist ein Hinweis auf die politische Gefährlichkeit. Wenn Freiheit und Gleichheit politische Entscheidungen legitimieren, aber das Recht erst Freiheit und Gleichheit schafft, dann kann Politik sich selbst legitimieren, soweit sie Recht setzen kann, und jede Verbindung mit der sozialen Realität kappen. „Demokratische" Politik wird dann willkürlicher als fürstliche Politik im 18. Jahrhundert. Die weiland „Volksdemokratien" sind Beispiele. bb) Demokratisierung ist politisch inszenierte Bürgerverantwortung. Gemeint ist „die legal vermittelte, also letztlich repräsentativ-demokratisch parlamentarisch legitimierte Übertragung von Hoheitsbefugnissen im Bereich der Verwaltung, von Mitwirkungs- oder Alleinentscheidungsbefugnissen auf beispielsweise als Verbandsmitglieder besonders interessierte oder betroffene Bürger... Hauptzweck der Demokratisierung im strengen Sinne soll... ein Plus an demokratischer Legitimation, an Bürgerselbstbestimmung, ein Minus an Entfremdung und heteronomer Herrschaft sein". 55 Das bedeutet, Demokratisierung ersetzt den moralischen Appell, der in Bürgerverantwortung steckt, durch die politische Aktion. Sie propagiert learning by doing und ist deshalb im Bildungsbereich besonders beliebt. Demokratisierung soll das Individuum verleiten, Demokratie zu wollen, indem sie es zum Mitmachen zwingt. Macht das Individuum mit - so das Konzept - , muß es sich Entscheidungen, die in demokratischen Verfahren ergangen sind, als eigene zurechnen lassen und kann ihnen nicht widersprechen, wenn es sich nicht selbst widersprechen will. Die Identität der Person, in deren Biographie das Mitmachen eingeht, erzwingt dann die Akzeptanz politischer Entscheidungen, stabilisiert sie und festigt so den politischen Apparat. Insofern bringt Demokratisierung in der Tat den Staat hervor und vermittelt demokratische Legitimität, 56 freilich nur so, wie das Sammeln für das Winterhilfswerk während des Krieges deutsche Legitimität vermittelte, um ein harmloses Beispiel zu wählen. Was das Demokratisierungskonzept mit der Realität zu tun hat, mag offen bleiben. Politisch wird es kaum noch propagiert, wenngleich der Grundgedanke die Politik immer noch fasziniert, wie die Einführung des Minderjährigen Wahlrechtes in Schleswig-Holstein und Niedersachsen zeigt. 57 Aber die Demokratisierungspolitik scheint nicht viel gebracht zu haben. Die „Krisensymptome parlamentarischer Repräsentation", die Dieter Grimm 58 1994 beobachtet hat, konnte man schon vor der Demokratisierungsdebatte feststellen. 55 Erhard Denninger, Demokratisierung - Möglichkeiten und Grenzen, in: Helmut Quaritsch/Erhard Denninger, Demokratisierung - Möglichkeiten und Grenzen. Ein Cappenberger Gespräch, 1976, S. 45 - 68, 48. 56 Denninger, Demokratisierung, S. 49, 51. 57 Vgl. Reinhard Mußgnug, Das Wahlrecht für Minderjährige auf dem Prüfstand des Verfassungsrechts, in: Rolf Stober (Hrsg.), Recht und Recht, 1997, S. 165 -189. 58 Krisensymptome parlamentarischer Repräsentation, in: Huber/Mößle/Stock (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie. Symposium zum 60. Geburtstag von Peter Badura, 1995, S. 3-16.

Legitimation der rechtsprechenden Gewalt

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An der älteren Debatte fällt auf, daß eine Demokratisierung der Rechtsprechung nicht ernsthaft in Betracht gezogen wird. Lediglich Helmut Quaritsch 59 erwägt in einem sorgfältigen Überblick über die Möglichkeiten der Demokratisierung die Bürgerbeteiligung an der Rechtsprechung (Schöffen, Geschworene, Laienrichter), sieht aber sofort, daß Bürgerbeteiligung keine größere demokratische Legitimation der Rechtsprechung begründet. In der Tat läßt sich die Rechtsprechung nicht im Sinne von Betroffenheitsdemokratie legitimieren. Die Hauptbetroffenen, die Verfahrensbeteiligten, wirken ohnehin bei der Entscheidungsfindung mit, und eine Vergrößerung des Entscheidungsgremiums gewährleistete nicht, daß sich die Gerichtsentscheidungen besser in die Rechtsordnung einfügten, das heißt, besser den Erwartungen des Volkes entsprächen. Die Erwartungen des Volkes sind auch nicht Ausübung von Staatsgewalt, sondern Rechtsvorstellungen, die durch das positive Recht gebrochen und verdichtet werden. Mit der Gesetzgebung hat das Volk seine Staatsgewalt gleichsam verbraucht. Es kann nur noch zuschauen, was die Justiz daraus macht. IV. Ergebnis Läßt man die realistische Beschreibung von Demokratie außer Betracht, weil sie die Legitimationsfrage nicht stellt, sind mit dem positivistischen, aufklärerischen und erzieherischen Demokratiekonzept die Möglichkeiten ausgeschritten, Entscheidungen von Staatsorganen mit „Demokratie" zu rechtfertigen. Auf der theoretischen Ebene, auf der die Legitimationsfrage angesiedelt ist, sind weitere Möglichkeiten nicht denkbar, nur Abwandlungen der drei Grundmuster: Dezision, Natur und Vernunft. Zwar kann man diese drei Muster noch einmal unter dem Aspekt der „Prozeduralisierung" aufeinander beziehen. Aber von demokratischer Legitimation im Sinne der Beurteilung von Entscheidungen kann man dann nicht mehr sprechen. Man landet bei einer realistischen Beschreibung des Rechtssystems.60 Im Sinne der Beurteilung bedeutet demokratische Legitimation, politische Entscheidungen mit der Begründung als unwidersprechlich darzustellen, die Betroffenen müßten sie sich letztlich als eigene zurechnen lassen und verhielten sich daher widersprüchlich, wenn sie widersprächen. In dieser Art kann man - wenn auch mit kräftigen Modifikationen - für die Gerichtsverfassung und für die Rechtsstellung der Richter argumentieren, weil beides durch Gesetz geregelt ist und der Gesetzgeber vom Volk gewählt wird. Für die rechtsprechende Gewalt, also für die Rechtsprechung im materiellen Sinn, versagt die Argumentation jedoch. Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt ist die Recht/Unrecht-Unterscheidung, und die kann nicht demokratisch, sondern nur rechtlich gerechtfertigt werden. 59 Demokratisierung - Möglichkeiten und Grenzen, in: Quaritsch/Denninger, Demokratisierung, S. 11-44. 16. 60 Vgl. Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie. Selbstreferenz - Selbstorganisation - Prozeduralisierung, 1992, bes. S. 212 f.

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Daß die rechtsprechende Gewalt demokratisch legitimiert ist, läßt sich daher allein positivistisch mit der Berufung auf Art. 20 Abs. 2 GG begründen. Eine positivistische Begründung verfehlt jedoch die spezifische Unwidersprechlichkeit, die mit demokratischer Legitimation gemeint ist. Normativistisch kann die rechtsprechende Gewalt indessen nicht demokratisch legitimiert werden. Art. 20 Abs. 2 GG drückt das dadurch aus, daß er sie an Gesetz und Recht bindet. Die Differenz zwischen Politik und Recht darf auch nicht aufgehoben werden, weil das Recht sonst Demokratie weder ermöglichen noch begrenzen könnte.

Zum Entscheidungsausspruch und seinen Folgen bei der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle Von Udo Steiner

I. Bemerkungen zu den Gestaltungsvarianten des Entscheidungsausspruchs bei der verfassungsgerichtlichen Normprüfung 7. Die Notwendigkeit

einer systematischen und strukturellen

Justierung

Die Bestimmung der Folgen der verfassungsgerichtlichen Beanstandung eines Gesetzes und die Gestaltung des Entscheidungsausspruchs in solchen Fällen nehmen in den Beratungen der Senate des Bundesverfassungsgerichts erfahrungsgemäß großen Raum ein. Hier stellt sich nach der Entscheidung in der Sache selbst noch einmal das Verhältnis von demokratischer Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit in besonderer Weise, weil kognitive und dezisive Elemente des Judikats ineinander übergehen. Dabei stehen naturgemäß die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Vordergrund, in denen die verfassungsrechtliche Beanstandung von Sozial- und Steuergesetzen weitreichende Folgen für die Haushalte von Bund, Ländern, Gemeinden und anderen Trägern öffentlicher Aufgaben haben. Praktische Anschauung bieten in diesen Tagen die Beschlüsse des Zweiten Senats vom 10. November 1998 zur steuerlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten und zur Gewährung eines Haushaltsfreibetrags sowie zur Ermittlung des einkommensteuerlichen Existenzminimums von Familienmitgliedern. 1 Aber auch außerhalb der finanzwirtschaftlich bedeutsamen Rechtsprechung des Gerichts gehört in zahlreichen Entscheidungen die nähere Bestimmung des Entscheidungsausspruchs zu den Fragen, die für die innere Akzeptanz der Entscheidung ebenso Gewicht haben wie für die Umsetzung in der staatlichen Praxis. 2 Man kann es daher aus der Sicht des Gerichts nur begrüßen, daß die deutsche Staatsrechtswissenschaft das Interesse an der verfassungsprozeßrechtlichen Thematik der teils gesetzlich, teils richterrechtlich ausgeformten Varianten des verfassungsgerichtlichen Entscheidungsausspruchs - Nichtigkeitsfeststellung, Unvereinbar1 Siehe BVerfG, Beschl. v. 10. 11. 1998, NJW 1999, S. 557 ff., 561 ff., 564 ff.; siehe auch schon die Urteile des Zweiten Senats vom 7. 5. 1998, BVerfGE 98, 83, 106 = NJW 1998, S. 2341, 2346 ff. (zur Sondermüllabgabe und kommunalen Verpackungssteuer). 2 Siehe z. B. zur Nötigung durch Sitzblockaden BVerfGE 92, 1 ff. und zur Frage der Wiederaufnahme abgeschlossener Strafverfahren statt vieler Graßhof, NJW 1995, S. 3085 ff. und Angerer/Stumpf, NJW 1996, S. 2216.

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Udo Steiner

keitserklärung, Appellentscheidung und verfassungskonforme Auslegung - zu keinem Zeitpunkt verloren hat und immer wieder dazu beiträgt, diese Varianten unter systematischen und strukturellen Gesichtspunkten zu justieren. 3

2. Besondere Probleme der Unvereinbarkeitserklärung einer Norm mit dem Grundgesetz a) Verstößt eine Vorschrift gegen das Grundgesetz, so wird deren Nichtigerklärung die Regelfolge sein.4 Freilich könnte man hier eher von einem „gebrechlichen" Grundsatz sprechen; in der Praxis des Gerichts steht die Beschränkung des Entscheidungsausspruchs auf die Unvereinbarerklärung mit dem Grundgesetz der Zahl der Aussprüche mit Nichtigkeitsfeststellung keineswegs nach. Dabei kommen für die Unvereinbarerklärung nicht nur die Fälle in Betracht, in denen der Gesetzgeber einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG auf verschiedene Weise beseitigen kann.5 Auch bei der Verletzung von Freiheitsrechten wird sich das Gericht regelmäßig mit einer Unvereinbarerklärung begnügen, wenn der Gesetzgeber verschiedene Optionen für die Herstellung des verfassungsgemäßen Zustandes hat.6 Darüber hinaus beschränkt sich das Gericht, wenn der Gesetzgeber einer sich aus einem Freiheitsrecht, wie beispielsweise Art. 12 Abs. 1 GG, abgeleiteten Regelungspflicht nicht ausreichend nachgekommen ist, auf eine Unvereinbarerklärung. Denn gerade bei der Erfüllung derartiger Pflichten verfügt der Gesetzgeber über einen weiten Gestaltungsraum.7 b) Eine Unvereinbarerklärung, die den Gesetzgeber nur mit Wirkung für die Zukunft, also insbesondere für den Zeitraum nach der Bekanntgabe der Entscheidung des Gerichts, zur Herstellung einer verfassungskonformen Rechtslage verpflichtet, 3 Dies gilt ganz besonders für grundlegende monographische Arbeiten zu diesem Komplex. Siehe beispielsweise in den 90er Jahren Kleuker, Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichts, 1993; Christian Mayer, Die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, 1996. Informativ auch Cremer, Die Wirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: Frowein/Marauhn (Hrsg.), Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, 1998, S. 237 ff.: Burghart, NVwZ 1998, S. 1262 ff. und Hartmann, DVB1. 1997, S. 1264 ff. Siehe allgemein Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, 4. Aufl. 1997, Rdnrn. 335ff.; E. Klein, in: Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, 1991, S. 481 ff.; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 20 V und VI. 4 So z. B. Schiaich (Fn. 3), Rdnrn. 343 ff.

5 Siehe aus jüngerer Zeit z. B. Beschl. des Ersten Senats vom 10. 11. 1998 (1 BvL 50/92), Umdruck S. 29 (zu §§ 11,36 BAföG). 6 Siehe z. B. (zu Art. 12 Abs. 1 GG) Beschl. des Ersten Senats vom 10. 11. 1998, 1 BvR 2296/96 u. a., Umdruck S. 21 (zu § 128 a AFG). Es trifft also nicht zu, wenn Schiaich (Fn. 3) meint, diese Rechtsprechung sei aufgegeben; die Abweichung von der verfassungsrechtlich gebotenen Nichtigerklärung werde, jedenfalls im wesentlichen, durch die Besonderheit des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG gerechtfertigt (Rdnr. 369). 7 BVerfG, Beschl. des Ersten Senats vom 15. 7. 1998, 1 BvR 1554/89 u. a., Umdruck S. 54 - Versorgungszusagen öffentlicher Arbeitgeber.

Zum Entscheidungsausspruch bei der Normenkontrolle

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wird gelegentlich als Entscheidungsvariante bezeichnet, die der Gesetzgeber bei ausgabewirksamen Gesetzen in sein finanzpolitisches Kalkül aufnehmen könnte. Es läge - so wird argumentiert - die Annahme nahe, daß dieser eine Regelung mit verfassungsrechtlichem Risiko bei Gesetzen mit Leistungscharakter umso eher erlasse, als er damit rechnen dürfe, die verfassungsrechtliche Beanstandung werde Rechtswirkungen nur für die Zukunft haben. Es wird weiter auch darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber zur Wiederholung einer vom Gericht verfassungsrechtlich beanstandete Regelung neigen könnte, weil sich eine erneute, vielleicht erst spät anstehende Beanstandung durch das Bundesverfassungsgericht mit Wirkung für die Zukunft finanzwirtschaftlich lohnt; man dürfe damit rechnen, das Bundesverfassungsgericht werde sich scheuen, die Verantwortung dafür zu übernehmen, daß eine über einen längeren Zeitraum sich erstreckende verfassungswidrige Leistungsverweigerung oder Leistungskürzung Nachzahlungsansprüche größten Umfangs verursachen würde 8, die die öffentlichen Haushalte überfordere. 9 Solche Überlegungen werden gegenwärtig im Zusammenhang mit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 1995 10 zur sog. Einmalzahlung 11 und dessen „Umsetzung" durch das Gesetz zur sozialrechtlichen Behandlung von einmalig gezahlten Arbeitsentgelt vom 12. Dezember 1996 geäußert. 12 Daran wird die allgemeine Frage geknüpft, inwieweit die Tenorierungsform „Unvereinbarkeitserklärung" mit einer in die Zukunft gerichteten Verpflichtung des Gesetzgebers zur Herstellung einer verfassungskonformen Rechtslage noch der Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts gerecht wird, eine strikte Verfassungsbindung auch des Gesetzgebers sicherzustellen.13 Auch für das Steuerrecht, in dem sich die Bedeutung der verfassungsgerichtlichen Beanstandung von Gesetzen in vergleichbaren oder noch größeren finanziellen Dimensionen wie im Sozialrecht bewegt, wird in ähnlicher Weise gegen die Ausspruchsvariante „Unvereinbarkeits8

Der Umfang des Beitragsaufkommens für die Sozialversicherungsträger im Zusammenhang mit der Einmalzahlung wird auf jährlich über 20 Milliarden DM geschätzt. 9 In dieser Richtung dezidiert Ebsen, NZS 1997, S. 441 (448 f.). Vgl. in diesem Zusammenhang grundlegend Anna Leisner, Die Leistungsfähigkeit des Staates. Verfassungsrechtliche Grenze der Staatsleistungen?, 1998. 10 BVerfGE 92, 53. n Das Gericht hatte entschieden, es sei mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, daß einmal gezahltes Arbeitsentgelt (Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld usw.) zu Sozial Versicherungsbeiträgen herangezogen werde, ohne daß es bei der Berechnung von kurzfristigen Lohnersatzleistungen (beispielsweise Arbeitslosengeld, Krankengeld und Übergangsgeld) berücksichtigt werde. 12 BGBl. I S. 1859. - Die Kritiker des Gesetzes machen geltend, es habe den Gleichheitsverstoß nicht beseitigt. Nach wie vor würden einmalige Arbeitsentgelte zur Sozialversicherung herangezogen, ohne daß die Beiträge bei kurzfristigen Lohnersatzleistungen berücksichtigt würden. Siehe dazu näher Ebsen (Fn. 9), S. 454 ff.; Schlegel, NZS 1997, S. 201 ff. Inzwischen haben mehrere Sozialgerichte, die traditionell bei der Durchsetzung der Verfassungsbindung des sozialrechtlichen Gesetzgebers eine hervorgehobene „Wächterrolle" spielen, die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes dem BVerfG vorgelegt (siehe z. B. SG Kassel, Beschl. v. 29. 4. 1998, Sgb 1999, S. 91 ff. m. Anm. Löwisch).

13 Siehe Ebsen (Fn. 9), S. 449.

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erklärung" eingewandt, die Gewährung verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte werde teilweise aufgegeben 14, wenn deren Durchsetzung mit Wirkung für den Zeitpunkt ab dem Inkrafttreten der verfassungswidrigen Regelung unter dem Vorbehalt stehe, die Erfordernisse verläßlicher Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung rechtfertigten es, bestimmte verfassungswidrige Regelungen für die zurückliegenden Kalenderjahre wie bisher weiter anzuwenden.15 Diese Kritik bringt zu Recht in Erinnerung, daß die Unvereinbarkeitserklärung eines Gesetzes mit den Grundrechten des Grundgesetzes grundsätzlich den gesamten von der Unvereinbarerklärung betroffenen Zeitraum erfaßt und zumindest alle noch nicht rechts- oder bestandskräftigen Entscheidungen, die auf den für verfassungswidrig erklärten Regelungen beruhen, einbezieht.16 Andererseits ist eine sich bei der Bestimmung des Entscheidungsausspruchs pragmatisch orientierende, auf Abwägung der Folgen ihrer Entscheidungen bedachte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Preis dafür, daß das „Entdeckungsrisiko" von Verfassungswidrigkeiten regelmäßig hoch ist, weil viele Wege in Deutschland zum Bundesverfassungsgericht führen. Auch vermag der Gesetzgeber die Verfassungmäßigkeit der von ihm getroffenen Regelungen angesichts einer eingeschränkt berechenbaren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung und einer zu Verfassungsfragen naturgemäß unterschiedliche Auskünfte gebenden Staatsrechtswissenschaft nicht selten schwer einzuschätzen. Deshalb kann jedenfalls das finanzielle Risiko einer verfassungswidrigen Regelung nicht ausschließlich und uneingeschränkt von den budgetverantwortlichen Verfassungsorganen getragen werden.

3. Im Schnittfeld von Verfassungswidrigerklärung, und Interpretation: die verfassungskonforme

Ersatzgesetzgebung Auslegung

a) Die verfassungskonforme Auslegung einfachen Rechts durch das Bundesverfassungsgericht gilt als ein Entscheidungsausspruch, der eine verfassungsgemäße Regelung unmittelbar herbeiführt und den Gesetzgeber davor bewahrt, daß die von ihm getroffene Regelung verfassungsgerichtlich beanstandet und für nichtig oder als mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt wird. Sie ist ein Weg der Sicherung der Beachtung und Durchsetzung des Grundgesetzes, der in der Praxis des Gerichts seit den ersten Rechtsprechungstagen17 in langer Kontinuität zur Anwendung kommt 18 , sich aber - keineswegs schuldlos - der Kritik und dem Verdacht des 14 15 16 17

In dieser Richtung z. B. Seen NJW 1996, S. 285 (289 ff.). Vgl. z. B. BVerfGE 93, 121 (148). Siehe Schiaich (Fn. 3), Rdnr. 392 unter Verweisung auf BVerfGE 87, 153 (178). BVerfGE 2, 266 (282) gilt als der Anfang.

18 Siehe z. B. aus jüngerer Zeit Beschl. des Ersten Senats vom 28. 10. 1998 (1 BvR 2349/ 96), Umdruck S. 21 ff. (zu § 6 Abs. 6 a Satz 1 VermG) oder Beschl. der 2. Kammer des Ersten

Zum Entscheidungsausspruch bei der Normenkontrolle

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Schrifttums 19 nicht zu entziehen vermag, daß der Richter mit dieser Methode häufig den Gesetzgeber berichtige und korrigiere und nicht immer nur dessen als verfassungskonform unterstellten Willen zur Geltung bringe. 20 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Möglichkeiten und Grenzen der verfassungskonformen Auslegung durch feste Kriterien bestimmt. Diese ist danach zulässig, wenn Wortlaut, Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen sowie deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen erlauben, von denen eine mit der Verfassung übereinstimme. Dabei sei eine bestimmte Auslegungsmethode oder gar eine reine Wortinterpretation verfassungsrechtlich nicht vorgeschrieben. Eine teleologische Interpretation von Vorschriften auch gegen den Wortlaut gehöre ebenfalls zu den anerkannten und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Auslegungsgrundsätzen.21 In der Praxis des Gerichts ist freilich gut zu erkennen, daß der Akzent bei der Betonung der Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung einerseits und deren Grenzen andererseits unterschiedlich gesetzt wird je nachdem, ob man im Einzelfall eine verfassungskonforme Auslegung begründen oder deren Möglichkeit verwerfen will. 2 2 Je nachdem wird insbesondere der Wortlaut als „hart" oder „weniger hart" eingestuft. 23 Ganz allgemein wird man formulieren können, daß die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung jedenfalls dann überschritten sind, wenn der Gesetzgeber die von ihm getroffene Regelung nach der Interpretation inhaltlich nicht wiedererkennt. b) Auch in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich Fälle, in denen das Gericht die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung ausschöpft und sich dabei im Grenzbereich der Noch-Auslegung bewegt.24 Dem Gesetzgeber, der zumindest theoretisch mehrere Optionen der Beseitigung einer Grundrechtsverletzung hat, wird beispielsweise eine Nachbesserung durch Gesetz nicht zugemutet, wenn die zur Prüfung gestellte Vorschrift allenfalls nur noch einen kleinen Kreis von Personen über den Vorlagefall hinaus erfaßt. 25 Eine Senats vom 12. Februar 1998 (1 BvR 272/97) zur Überlassung von Gerichtsakten an einen verkammerten Rechtsbeistand in dessen Geschäftsräumen. Siehe z. B. die Nachweise bei Schiaich (Fn. 3), Rdnrn. 405 und 406 i.V.m. Fn. 129 und 131. 20 Pointiert z. B. Stern (in: Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 33): im Einzelfall „allzu viel Konformitätsakrobatik"; vgl. auch Hans H. Klein, Gedanken zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 1135 (1137 ff.): „mitunter kühn gehandhabte Praxis" der verfassungskonformen Auslegung. Siehe z. B. BVerfGE 88, 145 (166 f.); 90, 263 (274 f.); 94, 64 (93). Vgl. z. B. für diese Variante BVerfGE 90, 263 (274 f.). 2 3 Vgl. z. B. BVerfGE 97, 169 (184). 24 Siehe z. B. BVerfGE 97, 169 (184 f.): Kündigungsschutz bei Kleinbetrieben. 2 5 Siehe z. B. BVerfG, Beschl. des Ersten Senats vom 8. 4. 1998 (1 BvL 16/90), zur Nachversicherung früherer Beamtinnen, die wegen ihrer Eheschließung aus dem Beamtenverhält22

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vergleichbare Rechtfertigung für eine großzügige Inanspruchnahme der verfassungskonformen Auslegung könnte sich weiter dann ergeben, wenn die zur Prüfung gestellte Vorschrift (inhaltlich oder sogar konzeptionell) überholtes („abgestorbenes") Recht betrifft. Auch hier nimmt das Gericht durch eine Entscheidung gegen die Verfassungswidrigerklärung und für eine verfassungskonforme Auslegung dem Gesetzgeber nichts von seiner Gestaltungsfreiheit wirklich weg; die Vorschrift liegt längst außerhalb seines politischen Interesses. Dies kann vor allem dann gelten, wenn das Gericht die verfassungskonforme Auslegung alten Rechts an einer Regelung ausrichtet, die der Gesetzgeber inzwischen für die Zukunft getroffen hat. Im Sozialrecht mag noch hinzukommen, daß die Rechtsschutzsuchenden oft einer Generation angehören, die nicht mehr ausreichend Lebenszeit hat, um noch in den Genuß einer verfassungsgerechten Regelung zu kommen, die der Gesetzgeber erst vorzunehmen hat. 26 In der Regel wird es sich insgesamt um Fallgestaltungen handeln, bei denen bei wirklichkeitsnaher Betrachtung der demokratisch legitimierte Gesetzgeber auch nicht von sich aus den Respekt gegenüber seiner Gestaltungsfreiheit einfordert. c) Die verfassungskonforme Auslegung eines Gesetzes steht jedem Richter in Deutschland innerhalb der aufgezeigten Grenzen als Mittel der Rechtsfindung zur Verfügung. 27 Sie ist nicht beim Bundesverfassungsgericht monopolisiert. Sie wird, sofern sie im Einzelfall möglich ist, zur „Pflicht", wenn der Richter eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG erwägt. Nach dessen ständiger Rechtsprechung muß das vorlegende Gericht seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm begründen. Dabei ist insbesondere darzulegen, weshalb es von der Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung überzeugt ist. 28 Auf diese Weise setzt das Bundesverfassungsgericht zu seiner eigenen Arbeitsentlastung auch bei der konkreten Normenkontrolle den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsgerichtsbarkeit ein. Dem unabhängigen Richter des Ausgangsverfahrens wird dabei eine nicht ungefährliche Gradwanderung zugemutet. Er muß die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung beachten, weil eine Korrektur des Gesetzes, die im Wege der Auslegung einem nach Wortnis unter Gewährung einer Abfindung ausgeschieden sind: „Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles ist die entsprechende Anwendung der zur Prüfung vorgelegten Vorschrift eher geeignet, den gleichheitswidrigen Zustand zu beseitigen als die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Schließung der Regelungslücke durch eine noch zu schaffende Bestimmung. Die Personengruppe, zu der die Klägerin des Ausgangsverfahrens gehört, ist - soweit ersichtlich - sehr klein. Es erscheint daher nicht angemessen, zur Beseitigung ihrer rechtlichen Benachteiligung ein eigenes Gesetzgebungsverfahren zu veranlassen, zumal dessen Zeitbedarf dazu führen könnte, daß die betroffene Gruppe keinen Nutzen mehr aus einer Neuregelung ziehen kann." 26 Siehe Fn. 25. 27 Zur Frage der Korrektur einer auf fehlerhafter verfassungsrechtlicher Auffassung beruhenden verfassungskonformen Auslegung durch die Fachgerichte siehe Roth, NVwZ 1998, S. 563 ff. (Korrektur im Wege der abstrakten Normenkontrolle). l. B r 9, 5 .

Zum Entscheidungsausspruch bei der Normenkontrolle

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laut und Sinn eindeutigen Gesetz einen entgegengesetzten Sinn verleiht oder den normativen Gehalt einer Vorschrift grundlegend neu bestimmt 29 , dem Zweck des Art. 100 Abs. 1 GG zuwiderlaufen würde, der für nachkonstitutionelle Gesetze die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers im Verhältnis zur Rechtsprechung durch das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts wahren soll. 30 Andererseits riskiert er, wenn er die Möglichkeiten einer verfassungskonformen Auslegung nicht ausschöpft, die für ihn unbefriedigende Zurückweisung seiner Vorlage durch die Kammer nach § 81 a BVerfGG als unzulässig. Dies ist immer wieder der Fall. 31 Aber auch das Bundesverfassungsgericht bewegt sich hier in einer gerichtsverfassungsrechtlichen Problemzone. Ist die Kammer der Auffassung, die Vorlage sei unzulässig, weil das vorlegende Gericht die in Frage stehende Vorschrift hätte verfassungskonform auslegen können und müssen, so ist ihre Zuständigkeit begründet; der Senat kann von der Entscheidung über die Vorlage ausgeschlossen werden. Andererseits vermag allein der Senat eine verfassungskonforme Auslegung des einfachen Rechts vornehmen, die Gesetzeswirkungen nach § 31 Abs. 2 BVerfGG entfaltet. 32

4. Zur Sicherung der Beachtung verfassungsgerichtlicher

Entscheidungen

Die Schwäche der (bloßen) Unvereinbarerklärung liegt darin, daß durch sie - anders als bei der Feststellung der Nichtigkeit einer Norm - ein normativer Schwebezustand bis zur Herstellung des verfassungsgemäßen Zustandes durch den Gesetzgeber entsteht. Auch wenn das Gericht nach seiner bisherigen Praxis über Möglichkeiten verfügt, diesen Schwebezustand praktisch zu bewältigen33, so setzt es mit der Unvereinbarerklärung zunächst einmal auf die vertrauensvolle Erwartung, daß der Gesetzgeber binnen angemessener Zeit der Verfassungswidrigkeit abhilft. Vergleicht man die deutsche Situation mit dem Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung in anderen Ländern, so erscheint dieses Vertrauen auch gerechtfertigt. Gleichwohl trifft das Gericht in neuerer Zeit, vielleicht aus negativer Erfahrung 34, offenbar vermehrt Vorkehrungen dagegen, daß der durch 29 So BVerfGE 90, 263 (275). 30 BVerfGE 90, 263 (275). 31 Siehe z. B. Beschl. der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. 5. 1998, 1 BvL 34/94, u. a. zur Bemessung des Schlechtwettergeldes; zu einem Fall der (unterbliebenen) bundesrechtskonformen Auslegung siehe Beschl. der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. 1. 1999, 2 BvL 8/98, Umdruck S. 12ff. (zum Hessischen Rettungsdienstgesetz). Kritisch Heun, AöR Bd. 122 (1997), S. 610 (618 f.): Das BVerfG stellt an die Ermittlung der Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung gelegentlich übertriebene Anforderungen; ebenso E. Klein, in: Benda/ Klein (Fn. 3), Rdnr. 755. 32 Siehe BVerfGE 40, 88 (94). 33 Siehe unten u. II. 34 In diesem Zusammenhang werden immer wieder die Entscheidungen des BVerfG zur Besteuerung der Renten (BVerfGE 54, 11; 86, 369) erwähnt, die bisher noch nicht um-

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die Vorschrift bewirkte Zustand der Verfassungswidrigkeit vom Gesetzgeber nicht in angemessener Zeit beseitigt wird. In der Regel wird diesem eine bestimmte Frist für die Neuregelung vorgegeben. Darüber hinaus trifft das Gericht aber auch Anordnungen nach § 35 BVerfGG in bezug auf den Zeitraum nach Ablauf der Frist für den Fall, daß der Gesetzgeber in der Zwischenzeit keine verfassungsgemäße Rechtslage geschaffen hat. Dafür stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung. So kann es für „die Zeit danach" eine Regelung in Kraft setzen, die aus der Sicht des Gesetzgebers unerwünscht ist und die ihn veranlaßt, fristgemäß eine verfassungsgemäße Neuregelung nach seiner Vorstellung zu treffen. 35 Das Bundesverfassungsgericht kann aber auch die Fachgerichte in geeigneten Fällen ermächtigen, nach erfolglosem Ablauf der für die Vornahme einer Neuregelung vorgesehenen Frist Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlich beanstandeten Vorschrift nach Grundsätzen zu entscheiden, die dem Verfassungsrecht entsprechen. Dies ist in jüngerer Zeit mehrfach geschehen.36

II. Die „Steuerung" der verfassungsgerichtlichen Entscheidungsfolgen für den Einzelfall 1. Der Bedarf an Feinsteuerung der Entscheidungswirkungen Erklärt das Bundesverfassungsgericht Vorschriften im Rahmen der (mittelbaren oder unmittelbaren) Normenkontrolle für nichtig, so stellt sich regelmäßig ein Bedarf an differenzierter Steuerung der Entscheidungswirkungen nicht ein. 37 Durch die Bestimmung des § 79 BVerfGG werden meist die Folgen der Nichtigerklärung hinreichend klar bestimmt. Im Mittelpunkt steht die Regelung des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Danach bleiben vorbehaltlich der Vorschrift des § 95 gesetzt worden seien. Siehe dazu jüngst Ruland, Die Besteuerung der Renten, in: Festschrift für Krasney zum 65. Geburtstag, hrsg. von W. Gitter u. a., 1997, S. 411 ff., der einen verfassungsrechtlichen Handlungsbedarf nicht sieht, die Renten über den Ertragsanteil hinaus zu besteuern. 35

So hat das Gericht entschieden, wenn bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eine verfassungskonforme Neugestaltung des § 28 Abs. 1 Satz 1 BAföG zur Wertbestimmung bei Grundvermögen im Zusammenhang mit der Anrechnung von Vermögen des Auszubildenden nicht vorliege, so könne dessen Vermögen überhaupt nicht mehr angerechnet werden. Siehe Beschl. des Ersten Senats vom 2. 2. 1999 (1 BvL 8/97), Umdruck S. 19f. 36 Siehe z. B. BVerfGE 97, 228 (270). Sehr deutlich auch BVerfG, Beschl. des Zweiten Senats vom 24. 11. 1998 (2 BvL 26/91 u. a., Umdruck S. 39): Wenn der Gesetzgeber nicht bis Ende 1999 seiner Verpflichtung zu einer realitätsgerechten Berücksichtigung der Unterhaltspflichten im Rahmen der Besoldung nachkomme, könnten die Fachgerichte auf der Grundlage einer Anordnung des BVerfG (§ 35 BVerfGG) den Klägern familienbezogene Gehaltsbestandteile nach dem Maßstab des durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs eines Kindes zusprechen. 37 Zum sog. Nichtigkeitsdogma der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit siehe zusammenfassend Schiaich (Fn. 3), Rdnrn. 345 ff.

Zum Entscheidungsausspruch bei der Normenkontrolle

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Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt. Alle anderen Bestimmungen in § 79 BVerfGG sind um diesen Grundsatz herum angelegt. Sie durchbrechen ihn, insbesondere in Absatz 1, oder schwächen ihn ab, insbesondere in Absatz 2 Satz 2 und 4. Anders stellt sich die Situation dar, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Vorschrift als unvereinbar mit dem Grundgesetz festgestellt und den Gesetzgeber zum Erlaß einer Neuregelung innerhalb eines bestimmten Zeitraums verpflichtet. Hier ist das Gericht veranlaßt, sachgerechtes Übergangsrecht zu schaffen, wenn es nicht ausnahmsweise die Fortgeltung der verfassungswidrigen Vorschrift bis zu deren Neuregelung anordnet. 38 Diese nicht selten komplizierte Übergangsgestaltung 39 muß selbst wieder verfassungsgemäß sein und insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG genügen. Dabei geht es nicht ohne eine Art „Handsteuerung", auch wenn die Verfassungsprozeßrechtslehre zu Recht Transparenz und Konsequenz auch für die Praxis der näheren Bestimmung des Entscheidungsausspruchs fordert. 40 § 79 BVerfGG deckt dabei einen Teil des Bedarfs an Folgenbewältigung ab, sofern - was die Regel sein muß - der Gesetzgeber zur Beseitigung der verfassungswidrigen Regelung für den gesamten Zeitraum ihres Geltungsanspruchs verpflichtet wird. In der Regel wird das Gericht eine „Anwendungssperre" für die verfassungsrechtlich beanstandete Vorschrift anordnen und zusätzlich verfügen, daß die Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, deren Gegenstand Entscheidungen auf der Grundlage der beanstandeten Norm sind, auszusetzen sind oder ausgesetzt bleiben, um den Betroffenen die Chance zu erhalten, aus einer für sie möglicherweise vorteilhaften Neuregelung Nutzen zu ziehen. Dies gilt auch für Beteiligte des Ausgangsverfahrens, das zu einer Erhebung der Verfassungsbeschwerde oder zu einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG geführt hat (sog. Anlaßfall). 41 Erklärt das Gericht dagegen ausnahmsweise eine verfassungswidrige Regelung bis zur Neuregelung für (weiter) anwendbar, kann es wohl nicht durch besondere Anordnung sicherstellen, daß der Beschwerdeführer oder sonstige 38 Siehe z. B. Beschl. des Ersten Senats vom 2. 2. 1999 (1 BvL 8/97), Umdruck S. 19 f.: Bestimmung des Wertes von Grundbesitz bei der Anrechnung von Vermögen des Auszubildenden nach § 11 Abs. 2, §§ 27 ff. BAföG. 39 Beispiel: Auswirkung des Gleichheitssatzes auf die Bewertung von Kindererziehungszeiten beim Zusammentreffen mit beitragsbelegten Zeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung (BVerfGE 94, 241 [265 ff.]). Komplizierte Übergangsregelungen beispielsweise auch im Beschl. des Ersten Senats vom 14. 11. 1998 (1 BvR 2161/94) zur Testierfähigkeit schreibunfähiger Stummer. 40 Siehe z. B. Schiaich (Fn. 3), Rdnrn. 345 ff. 41 Eine besondere Situation liegt vor, wenn das BVerfG seine Rechtsauffassung geändert und die Betroffenen mit dieser Änderung nicht rechnen mußten. Siehe dazu den Plenarbeschluß zur Frage des gesetzlichen Richters bei überbesetzten Richterbänken BVerfGE 95, 322 und dazu Sangmeister, NJW 1998, S. 721 ff. sowie Steiner, Vertrauensschutz als Verfassungsgrundsatz, in: Vertrauensschutz in der Europäischen Union, hrsg. v. R. Henke, 1998, S. 31 ff.

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„Anlaßgeber" die Früchte der in der Sache erfolgreichen, aber doch zurückzuweisenden Verfassungsbeschwerde - abgesehen von der Kostenerstattung (vgl. § 34 a Abs. 3 BVerfGG) 42 - erntet. 43

2. Offene Fragen im Zusammenhang mit der Reichweite des § 79 Abs. 2 BVerfGG a) Trotz eines differenzierten Bedarfs nach Steuerung der Rechtswirkungen von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für den Einzelfall leistet die Vorschrift des § 79 BVerfGG mit dem ihr zugrundeliegenden Kompromiß zwischen „materieller Gerechtigkeit im Einzelfall" einerseits und der Rechtssicherheit andererseits 44 wichtige Dienste für das oben angesprochene „Folgenmanagement". Sie nimmt dem Gericht die Verantwortung für die Folgen seiner Entscheidung teilweise ab. Diese Folgen bleiben auf Grund dieser Vorschrift zumindest für die im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Gerichtsentscheidung abgeschlossenen Rechtsverhältnisse beherrschbar. In dieser Entlastungsfunktion des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG mag es begründet sein, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den letzten Jahren aus ihm immer wieder Nutzen und Folgerungen gezogen und mit seiner Hilfe insbesondere für die Vergangenheit privatrechtliche Rechtsbeziehungen gegenüber den Folgen der verfassungsrechtlichen Beanstandung einer diesen Rechtsbeziehungen zugrundeliegenden verfassungswidrigen Vorschrift stabilisiert hat. Auf diese Weise würden beispielsweise hohe Nachzahlungsansprüche im Bereich eines privatrechtlich geordneten (Alters-)Versorgungswerks ausgeschlossen, auf die sich kein System dieser Art vernünftigerweise einstellen kann. 45 Diese weite Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist aber nach wie vor beachtlichen Einwänden ausgesetzt.46 Immerhin stellt das Gericht in Kenntnis der grundsätzlichen Problematik 47 der Vorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG und vor allem deren Härte häufig im Zusammenhang mit deren Anwendung fest, es sei dem Gesetzgeber unbenommen, im Zusammenhang mit dem Gegenstand der vorliegenden Entscheidung eine andere Regelung zu treffen. Er könne insbesondere die gesetzliche Neuregelung auch auf bereits bestandskräftige Entscheidungen und zurück42

Zur sog. Ergreiferprämie oder Fangprämie im österreichischen Verfassungsgerichtsverfahren siehe Machacek, in: Machacek (Hrsg.), Verfahren vor dem VfGH und dem VwVGH, 3. Aufl. 1997, S. 78 ff. und Schwenke, DStR 1999, S. 404 (406 ff.). 43 Siehe z. B. BVerfGE 92, 53 (74) zur sog. Einmalzahlung im Sozialversicherungsrecht. 44 Allgemein dazu Steiner, Wirkungen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf rechtskräftige und unanfechtbare Entscheidungen (§ 79 BVerfGG), in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 1, 1976, S. 628 ff. 4 5 Siehe z. B. Beschl. des Ersten Senats vom 15. 7. 1998 (1 BvR 1554/89 u. a.) zu § 18 Betriebsrentengesetz und BVerfGE 97, 35 (48) zum Hamburger Ruhegeldgesetz. 46

Siehe z. B. E. Klein (Fn. 3), Rdnr. 1174; Stuth, in: Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 79 Rdnr. 41. 47 Eindrucksvoll aus steuerrechtlicher Sicht z. B. Trzaskalik, DB 1991, S. 225 ff.

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liegende Sachverhalte erstrecken, sei dazu von Verfassungs wegen freilich nicht verpflichtet. 48 b) In der Praxis hat die Vorschrift des § 79 Abs. 2 BVerfGG Bedeutung vor allem für die massenförmige Steuer- und Sozialverwaltung, ohne daß man feststellen kann, daß ihr Verhältnis zu den Bestimmungen der verwaltungsverfahrensrechtlichen Sonderwelten der AO und des SGB X über die Bestandskraft von Verwaltungsakten ganz außer Zweifel steht. Diesen Fragen kann hier nicht vertieft nachgegangen werden. 49 Ausgangspunkt muß in grundsätzlicher Hinsicht die Vorschrift des § 79 Abs. 2 BVerfGG sein, deren letztverbindliche Auslegung eine Art „Hausgut" des Bundesverfassungsgerichts ist, auch wenn die Vorschrift nur den Rang eines einfachen Gesetzes aufweist. Das in dieser Bestimmung verwirklichte Konzept (in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht) steht nur zur Disposition des Gesetzgebers selbst und nicht zugunsten der fachgerichtlichen Rechtsprechung. § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG räumt einem besonderen Gesetz die Präferenz ein, das entweder aus Anlaß einer bestimmten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine spezielle Regelung trifft oder für ein bestimmtes Rechtsgebiet oder für eine bestimmte Gattung von Urteilen bzw. Verwaltungsakten eine Sonderregelung zur Bewältigung der Folgen einer bundesverfassungsgerichtlichen Verfassungswidrigerklärung vorsieht. Der Gesetzgeber kann also die in § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erfolgte Entscheidung zugunsten der Rechtssicherheit und zu Lasten der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall 50 anders treffen oder zumindest abschwächen. Allerdings muß dies in bewußter Abweichung von der Grundsatzvorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG geschehen. Eine besondere Vorschrift, die den Geltungsanspruch des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG aufhebt oder einschränkt, liegt somit nur vor, wenn der Gesetzgeber bei ihrem Erlaß die - unter Umständen massenhaften - Auswirkungen von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf Verwaltungsakte im Auge hatte, die auf einer vom Gericht für nichtig oder für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten gesetzlichen Bestimmung beruhen. c) Daraus ergeben sich beispielsweise Folgerungen für die Auslegung der Sondervorschriften der §§44-49 SGB X über die Bestandskraft sozialrechtlicher Verwaltungsakte. Im Vordergrund steht dabei die Bestimmung des § 44 SGB X, die auf Besonderheiten des Sozialrechts Rücksicht nimmt. Danach ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit unter anderem zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß eines Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt worden ist und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht erhoben worden sind (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB 48 Siehe z. B. aus der neueren Rechtsprechung BVerfGE 94, 241 (267); Beschl. des Ersten Senats vom 10. 11. 1998 (1 BvL 50/92), Umdruck S. 29 zu §§ 11, 36 BAföG. 49 Speziell zur AO siehe statt vieler Rüsken, in: Klein, Abgabenordnung, 6. Aufl. 1998, § 172 Anm. 1; § 176 Anm. 3. 50 Vgl. BVerfGE 2, 380 (404); 7, 194 (196).

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X). Ist eine solche Zurücknahme im Einzelfall erfolgt, so werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des Sozialgesetzbuchs immerhin für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Damit wird eine andere Grundsatzentscheidung für rechtsfehlerhafte, aber bestandskräftige Sozialverwaltungsakte getroffen als in § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG für den Fall, daß die unanfechtbaren Entscheidungen auf Vorschriften beruhen, die das Bundesverfassungsgericht für nichtig oder als mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt hat. Allerdings vermag sich die Vorschrift des § 44 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 SGB X nicht gegenüber § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG durchzusetzen. Denn sie ist weder nach ihrer Entstehungsgeschichte51 noch nach ihrem Wortlaut noch nach sonstigen für die Interpretation von Vorschriften maßgeblichen Gesichtspunkten eine solche spezielle Vorschrift. 52 Es genügt nicht, daß der Gesetzgeber mit ihr, wenn auch speziell für das Sozialrecht, eine allgemeine Regelung über die Aufhebung oder Abänderung rechtswidriger Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit getroffen hat. Er mußte erkennbar eine Verdrängung des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG beabsichtigt haben, um diese Vorschrift für das Sozialrecht außer Kraft zu setzen. Die Rechtsprechung der Fachgerichte kann diese Verdrängung nicht durch bloße Interpretation bewirken. Nur ein strenger „Gesetzgeber"-Vorbehalt - und dies ist der grundsätzliche Aspekt der hier angesprochenen Frage - ermöglicht dem Bundesverfassungsgericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung, deren Folgen für den Einzelfall zuverlässig einzuschätzen und die Fassung seines Entscheidungsausspruchs verantwortlich einzustellen. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X schließt deshalb die Anwendung des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG auf bereits bestandskräftige sozialrechtliche Bescheide nicht aus;53 es fehlt ein hinreichend klarer Verdrängungswille des Gesetzgebers selbst. III. Verfassungsgerichtliche Normprüfung als Norm-„Gegengewalt" Mit jeder Normprüfung durch das Bundesverfassungsgericht steht auch dessen Fähigkeit auf dem Prüfstand, Möglichkeiten und Grenzen seiner Jurisdiktionsgewalt im Verhältnis zum parlamentarischen Gesetzgeber zutreffend zu bestimmen. Indem das Gericht den Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gesetzgeber im Einzelfall durchsetzt, stellt es dessen Autorität in Frage. Über den Autoritätsverlust des Gegenwartsgesetzgebers ist viel nachgedacht und geschrieben worden; 54 daß 51 Vgl. BT-Drucks. 8/2034, S. 34, 50, 62. 52 So überzeugend Rudlof, in: Kompaß 1987, S. 165; 1988, S. 206; a.A. Heußner, NJW 1982, 257 (258); Tannen, in: Kompaß 1987, S. 458 f.; Pestalozza (Fn. 3), § 20 Rdnr. 77 Fn. 224. 53 a.A. BSGE 64, 62 (64 ff.): § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist spätere und spezielle Bestimmung. Vgl. auch Diller/Danecker, NJW 1999, S. 897 (898), 54 Siehe dazu z. B. B. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates. Symposion anläßlich des 60. Geburtstags von Christian Starck, 1998.

Zum Entscheidungsausspruch bei der Normenkontrolle

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dessen Regelungen grundsätzlich unter dem Vorbehalt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle in Geltung gesetzt werden, gehört durchaus auch in diesen Zusammenhang. Walter Leisner hat in seinem (viele große Schriften zusammenführenden) opus magnum „Demokratie" 55 die normprüfende Verfassungsgerichtsbarkeit unter der pointierten Perspektive „Die Demokratische Anarchie - Verlust der Ordnung als Staatsprinzip" analysiert. Zu Recht ist die Verfassungsgerichtsbarkeit für ihn (bloße) schrankenbestimmende „Norm-Gegengewalt", lediglich „negative Herrschaftsinstanz", mögen ihre Entscheidungen auch in bestimmten Situationen über diese negative Funktion hinaus politischem Stillstand bei der Lösung wichtiger Gemeinwohlfragen abhelfen. Walter Leisner meint, höher könne „der Anspruch der juristischen Wahrheit gegen den politischen Willen nicht gesteigert werden, mit all jenen archaischen Folgerungen, welche die praktische Politik nach jeder großen Verfassungsentscheidung zu fühlen bekommt". 56 Er schließt in seinem Buch den Abschnitt über die Verfassungsgerichtsbarkeit mit Fragen: 57 „Und doch funktioniert heute kaum etwas unumstrittener als Gerichtsbarkeit, sogar noch Verfassungsgerichte. Sollte dies ein Zeichen der Gesundung sein - oder umgekehrt ein Beweis dafür, daß die Volksherrschaft nur mehr in institutionalisierter Anarchie unumstritten ist? Und wäre der Richter als Organ einer solchen nicht bei weitem der Beste? In ihm hat doch die Anarchie juristisches Niveau erreicht."

Solche Formulierungen mögen (vordergründig) den Verfassungsrichtern in unserem Land schmeicheln, können diese aber keinesfalls über den kritischen Zustand unserer Demokratie beruhigen, wenn man dessen Einschätzung durch Walter Leisner folgt. Die Verfassungsgerichtsbarkeit kann ihre legitime Funktion nicht als Insel der Stabilität erfüllen.

55 Walter Leisner, Demokratie. Betrachtungen zu Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, 1998, S. 634 ff. 56 A.a.O., S. 635; vgl. zum Richter als Wahrheitsorgan auch Leisner, Die Staats-Wahrheit. Macht zwischen Willen und Erkenntnis, 1999, S. 122 ff. 57 A.a.O., S. 636.

38*

Das verordnungsvertretende Gesetz Von Hartmut Maurer

I. Einleitung Die Verfassungsreform von 1994 hat mit dem sog. verordnungsvertretenden Gesetz eine neue, bislang im deutschen Staatsrechts unbekannte Rechtsfigur eingeführt. 1 Nach Art. 80 Abs. 4 GG sind die Länder für den Fall, daß die Landesregierungen durch Bundesgesetz oder auf Grund von Bundesgesetzen zum Erlaß von Rechtsverordnungen ermächtigt werden, „zu einer Regelung auch durch Gesetz befugt." Die bundesgesetzliche Ermächtigung verdoppelt sich also hinsichtlich der Adressaten im Landesbereich. Von ihr kann nicht nur - wie nach bisherigem Recht - die Landesregierung gem. Art. 80 Abs. 1 GG, sondern auch das Landesparlament durch Erlaß eines Gesetzes gem. Art. 80 Abs. 4 GG Gebrauch machen. In der Literatur und Praxis wird demgemäß vom verordnungsvertretenden Gesetz gesprochen. Diese Wortbildung erinnert an die gesetzesvertretende Rechtsverordnung, die früher immer wieder vorkam, nach geltendem Verfassungsrecht aber unzulässig ist. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, wie noch darzulegen ist, daß sie sich nur bedingt entsprechen. Die neue Rechtsfigur des verordnungsvertretenden Gesetzes wirft eine Reihe verfassungsrechtlicher, verfassungsdogmatischer und verfassungspolitischer Probleme auf. Sie hat gleichwohl in der Literatur nur wenig Beachtung gefunden. Die meisten Kommentare zum Grundgesetz begnügen sich (noch) mit einigen wenigen Hinweisen.2 Auch sonst gibt es nur wenige Stellungnahmen.3 In der Praxis ist die 1 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. 10. 1994 (BGBl. IS. 3146). Eine Ausnahme bilden allerdings die Kommentierungen des Art. 80 GG von J. Lücke, in: M. Sachs (Hg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, und von M. Nierhaus, in: Bonner Kommentar (1998). 3 Vgl. P. Schütz, Der neue Art. 80 IV GG - Gesetzgebung an Verordnungs Statt, NVwZ 1996, 37 ff.; E. Wagner/L. Brocker, Das „verordnungsvertretende Gesetz" nach Art. 80 IV GG, NVwZ 1997, 759 ff.; M. Nierhaus/N. Janz, Aktuelle Probleme der Rechtsetzung des Bundes und der Länder - eine normenhierarchische Gemengelage? ZG 1997, 320 ff.; M. Nierhaus, Rechtsverordnungsvertretende Landesgesetze nach Art. 80 Abs. 4 GG und ihre gerichtliche Überprüfbarkeit, in: Macke (Hg.), Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit auf Landesebene, 1998, S. 221, 331 ff.; S. Dette/Th. Burfeind, Verordnungsvertretende Gesetze nach Art. 80 Abs. 4 GG - ein größerer Gestaltungsspielraum für die Landesparlamente? ZG 1998, 257 ff. 2

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Neuregelung bislang nicht aktuell geworden.4 Immerhin gibt es bereits Empfehlungen der Konferenz der Landtagspräsidenten und Absprachen zwischen den Landtagen und den Landesregierungen zur Handhabung dieser Neuregelung.5 Die Zurückhaltung in der Literatur überrascht etwas, da die Kompetenz der Landesparlamente zur Rechtsetzung im Bereich der Verordnungsgebung durchaus Anlaß zu konstruktiven Überlegungen gibt. Im folgenden soll die Regelung des Art. 80 Abs. 4 GG interpretatorisch erschlossen (dazu III), der Rechtscharakter des verordnungsvertretenden Gesetzes im Zusammenhang mit der gerichtlichen Kontrolle erörtert (dazu IV) und schließlich eine Bewertung in grundsätzlicher Hinsicht unternommen werden (dazu V). Vorweg sind aber einige Bemerkungen zur „normalen Rechtsverordnung" angebracht (dazu II). II. Die Rechtsverordnungen im allgemeinen Rechtsverordnungen sind Rechtssätze, die von Exekutivorganen (Regierungsinstanzen und Verwaltungsbehörden) erlassen werden. Das maßgebliche Abgrenzungskriterium ist das rechtsetzende Organ; dadurch unterscheiden sich die Rechtsverordnungen von den Gesetzen, die vom Parlament beschlossen werden, und von den Satzungen, die von den Gemeinden oder sonstigen rechtlich selbständigen Verwaltungsträgern erlassen werden. Wie die Gesetze und die Satzungen können die Rechtsverordnungen unterschiedliche Inhalte aufnehmen. In Betracht kommen allgemein-verbindliche Regelungen, Organisationsakte, Planungsentscheidungen und Einzelfallregelungen. Im Vordergrund stehen nach Zahl und Bedeutung die allgemein-verbindlichen Regelungen. Daher wird die Rechtsverordnung auch überwiegend vom Inhalt her bestimmt und als materiell-rechtliche Rechtsnorm (Gesetz im materiellen Sinne) bezeichnet.6 Rechtsverordnungen können grundsätzlich von allen staatlichen oder dem staatlichen Bereich eingeordneten Exekutivorganen erlassen werden. Da es in der hierarchisch strukturierten Verwaltung sehr unterschiedliche Exekutivorgane gibt, gibt es auch - nach Rang, Reichweite und Bedeutung - sehr unterschiedliche Rechtsverordnungen. Es sei nur auf die Straßenverkehrsordnung des Bundesverkehrsministers einerseits und die Polizeiverordnung eines Ortsbürgermeisters andererseits hingewiesen. Sie gehören zwar alle derselben Rechtsquellengruppe an, bilden aber unter sich wiederum eine Rangordnung, da die Rechtsverordnung der höheren Instanz der der unteren Instanz vorgeht. Die Rechtsverordnungen stehen im 4 Vgl. Dette /Burfeind, ZG 1998, die allerdings auf erste konkrete Vorhaben im Saarland hinweisen können. 5 Vgl. den Beschluß der Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen Landesparlamente vom 2. 6. 1997, abgedruckt u. a. in Landtag Rheinland-Pfalz, Drs. 13/1761, S. 3, 5 f.; Absprache zwischen dem Präsidenten des Landtags und dem Ministerpräsidenten von Thüringen, Landtagsdrucksachen 2/2961. 6 Vgl. dazu Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 137 ff. mit weiteren Nachw.

Das verordnungsvertretende Gesetz

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Schnittpunkt von Gesetzgebung und Verwaltung. Die Rechtsverordnungen, die von der Regierung oder von einzelnen Ministern erlassen werden, dienen der Ausführung und Ergänzung der Gesetze und sind damit mehr dem Legislativbereich zuzuordnen. Die von den (unteren) Verwaltungsbehörden erlassenen Rechtsverordnungen dienen dagegen der gleichmäßigen Erledigung einer Mehrzahl von Fällen in Vollzug gesetzlicher Regelungen und gehören somit dem Verwaltungsbereich an. Wenn auch eine strikte Trennung nicht möglich ist, so kann doch typologisch zwischen den Regierungsrechtsverordnungen (legislative Rechtsverordnungen) und den Verwaltungsrechtsverordnungen (administrative Rechtsverordnungen) unterschieden werden. In beiden Fällen hat die Rechtsverordnung Entlastungsfunktion, allerdings in unterschiedlicher Hinsicht. Die legislativen Rechtsverordnungen zielen auf Entlastung des Parlaments, indem sie die gesetzgeberische Tätigkeit ergänzen. Durch die administrativen Rechtsverordnungen wird die Verwaltung dagegen selbst entlastet, da sie gleichgelagerte Fälle nicht einzeln zu entscheiden braucht, sondern eine generelle, alle Fälle erfassende Regelung treffen kann. Im Bezugsfeld des Art. 80 Abs. 4 GG geht es ausschließlich um die Rechtsverordnungen der ersten Gruppe. Darauf beschränken sich auch die folgenden Ausführungen. Während im letzten Jahrhundert die monarchische Exekutive eine originäre Rechtsetzungskompetenz besaß, sei es extrakonstitutionell, sei es verfassungsrechtlich anerkannt oder sogar begründet, liegt diese nunmehr - zumindest für die Regelungen im Staat-Bürger-Verhältnis - ausschließlich beim unmittelbar demokratisch legitimierten Parlament. Die Exekutive darf nur noch rechtsetzend tätig werden, wenn und soweit eine gesetzliche Delegation vorliegt. Die ermächtigende Vorschrift muß nach Art. 80 Abs. 1 GG Inhalt, Zweck und Ausmaß der zu erlassenden Rechtsverordnung hinreichend bestimmen. Über die Regelungsdichte der Ermächtigung kann man sicherlich diskutieren. Sie hängt auch von den jeweiligen Regelungsbereichen ab. Darauf ist hier nicht weiter einzugehen. Es ist nur noch darauf hinzuweisen, daß die Rechtsverordnung eine konkretisierende und ergänzende Annexregelung zu einem formellen Gesetz darstellt. Es genügt daher nicht, daß überhaupt eine gesetzliche Ermächtigung vorliegt; erforderlich ist vielmehr eine gesetzliche Regelung, die durch die Rechtsverordnung zu komplettieren ist. Rechtsetzung ist somit eine gemeinsame Aufgabe von Parlament und Regierung.7 Das Parlament hat die Konzeption zu entwickeln und festzulegen und die für die Bürger maßgeblichen Regelungen zu treffen, die Exekutive hat sie erforderlichenfalls näher auszugestalten. Die Exekutive steht aber nicht nur mit der Verordnunggebung am Ende eines gestreckten Gesetzgebungsverfahren, sondern mit der Gesetzesinitiative, die überwiegend von der Regierung ausgeht, bereits an dessen Anfang. Es mag daher nahe liegen, die technischen Details erst gar nicht in den Gesetzentwurf aufzunehmen und durch das gesamte Gesetzgebungsverfahren zu schleppen, sondern auszuklammern und erst nach Abschluß des Verfahrens hinzuzufügen. 7

P. Kirchhof, Rechtsquellen und Grundgesetz, in: Ch. Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 2. Bd., 1976, S. 50, 83.

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Den Parlamentariern wird dadurch nichts genommen, da sie sich insoweit ohnehin auf die spezifische Sachkunde der Experten in der Regierung verlassen müssen. Art. 80 Abs. 1 GG, der die Zulässigkeit und die Grenzen der Verordnunggebung regelt, hat eine demokratische, eine rechtsstaatliche und eine bundesstaatliche Funktion. In demokratischer Hinsicht wird die verordnunggebende Regierung an den parlamentarisch-demokratischen Gesetzgeber gebunden. In rechtsstaatlicher Hinsicht wird die Verordnunggebung durch die gesetzlichen Vorgaben begrenzt, berechenbar und voraussehbar. Die bundesstaatliche Komponente, die oft übersehen wird, kommt darin zum Ausdruck, daß neben der Bundesregierung und den Bundesministern auch die Landesregierungen ermächtigt werden können.8 Die Verlagerung der Rechtsetzungskompetenzen auf die Landesregierungen nutzt nicht nur den landesspezifischen Sachverstand, sondern ermöglicht auch die Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse der Länder beim Vollzug von Bundesgesetzen. Zudem lassen sich auch hier Zusammenhänge mit dem Gesetzgebungsverfahren feststellen. Wenn eine Landesregierung, die über den Bundesrat am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist, mit bestimmten Vorstellungen oder Wünschen nicht durchzudringen vermag, kann sie ggf. diese doch noch über eine Verordnungsermächtigung realisieren, wenngleich insoweit Zurückhaltung geboten ist. Die Zulässigkeit der Subdelegation (Art. 80 Abs. 1 S. 4 GG), die sich vor allem im Landesbereich mit seinem mehrstufigen Verwaltungsaufbau auswirkt, stärkt die bundesstaatliche Komponente. Sie zeigt sich wiederum in der Neuregelung des Art. 80 Abs. 4 GG.

I I I . Die Regelung des Art. 80 Abs. 4 GG 7. Entstehung Eine dem Art. 80 Abs. 4 GG entsprechende Vorschrift ist bereits von der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages 1976 erörtert und vorgeschlagen, aber vom Bundestag, wie die meisten Vorschläge jener Kommission, seinerzeit nicht aufgegriffen worden. 9 Die Konferenz der Landtagspräsidenten hat jedoch im Laufe der Zeit verschiedentlich Empfehlungen in dieser Richtung ausgesprochen.10 Sie führten schließlich bei der Verfassungsreform 1994 zum Erfolg. In der Begründung des Gesetzentwurfes wird lapidar darauf hingewiesen, die Neuregelung solle „dazu beitragen, die Handlungsmöglichkeiten der Länderparlamente zu stärken." 11 8

Vgl. generell zu diesem Aspekt D. Brodersen, Bundesstaatliche Probleme des Art. 80 I GG, Gedächtnisschrift für W. Martens, 1987, S. 57 ff.; ferner F. Ossenbühl, Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, ZG 1997, S. 305, 309, der jedoch - zu eng - lediglich auf die durch die Verfassungsreform gelockerte Sperrwirkung des Art. 72 I GG hinweist; ebenso Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 88. 9 BT-Drs. 7/5924 S. 90 = Zur Sache 2/77 S. 31. 10 Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 818 mit weiteren Nachw.

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2. Die mittelbare Ermächtigung des Landesgesetzgebers Die Regelung des Art. 80 Abs. 4 GG ist knapp und zurückhaltend. Das ist wohl mit der Absicht zu erklären, die Verfassungsautonomie der Länder zu achten und die nähere Abstimmung zwischen dem Landesparlament und der Landesregierung den Ländern zu überlassen. Die Grundkonzeption des Art. 80 Abs. 1 GG bleibt unverändert. Als Adressaten einer bundesgesetzlichen Ermächtigung kommen - wie bisher - nur die Bundesregierung, die Bundesminister und die Landesregierungen in Betracht. Der Kreis der Erstdelegataren wird nicht erweitert. Art. 80 Abs. 4 GG bestimmt vielmehr, daß der Landesgesetzgeber (nur) dann, wenn die Landesregierung zum Erlaß einer Rechtsverordnung ermächtigt wird, an deren Stelle treten und von der bundesgesetzlichen Ermächtigung Gebrauch machen kann. Er begründet somit nur eine mittelbare Ermächtigung. Neben die Landesregierungen als Erstdelegataren treten die Landesgesetzgeber als Aiternativdelegatare. 12 Beide Organe - das Landesparlament und die Landesregierung - sind zunächst einmal nebeneinander zuständig, wie sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 80 Abs. 4 GG („auch") ergibt. Die Doppelzuständigkeit kann zu Konkurrenz- und Kollisionsproblemen führen, die sich aber über den Begriff des Gesetzes klären lassen.13 Der durch die bundesgesetzliche Ermächtigung festgelegte Regelungsbereich wird auch für den Fall, daß das Landesparlament tätig wird, nicht erweitert. Der Gedanke, daß der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG gelockert werden könnte, wenn das unmittelbar demokratisch legitimierte Landesparlament entscheidet, greift schon deshalb nicht, weil der ermächtigende Bundesgesetzgeber zur Zeit der Ermächtigung nicht wissen kann, ob der Landesgesetzgeber oder die Landesregierung von der Ermächtigung Gebrauch macht. Obwohl die Neuregelung mit der „Stärkung der Landesparlamente" begründet wurde, begnügt sie sich nicht damit, die Zuständigkeit der Landesparlamente zu begründen, sondern legt mit dem Tatbestandsmerkmal „durch Gesetz" zugleich die Form und das Verfahren fest. Die Annahme einer Parlamentsverordnung ist damit ausgeschlossen. Es wäre zwar denkbar gewesen, im Blick auf diese Fälle eine Parlamentsverordnung einzuführen und näher auszugestalten.14 Dieser Weg wurde jedoch nicht eingeschlagen. Daher wäre es auch unzulässig, das verordnungsvertretende Gesetz in dieser oder jener Hinsicht doch noch in formaler Hinsicht wie eine Verordnung zu behandeln. Die bundesverfassungsrechtliche Festlegung der Gesetzesform verweist auf das jeweilige Landesverfassungsrecht, geht aber doch vom gemeindeutschen Standard aus. Die Gesetzgebungskompetenz liegt ausschließlich bei den Landtagen; ein 11 Vgl. BT-Drs. 12/6633 S. 11; ferner bereits den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission BT-Drs. 12/6000 S. 38 = Zur Sache 5/93 S. 74. 12 Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 833. 13

Vgl. dazu unten III. 3. 14 Vgl. zur Parlamentsverordnung in der Schweiz U. Häfelin/W. Bundesstaatsrecht, 3. Aufl. 1998, Rn. 1023 ff.

Haller, Schweizerisches

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dem Bundesrat entsprechendes weiteres Gesetzgebungsorgan gibt es nicht. 15 Die Landesregierungen besitzen jedoch beachtliche Einwirkungsrechte: Sie haben - neben den Mitgliedern der Landtage - das Recht zur Gesetzesinitiative; sie können über die (dem Art. 43 Abs. 2 GG entsprechenden) Zitier- und Anhörungsrechte auf die parlamentarischen Verhandlungen Einfluß nehmen; sie bzw. die Ministerpräsidenten haben in den meisten Bundesländern das Recht zur Ausfertigung und Verkündung der Landesgesetze, was ein (beschränktes) Prüfungs- und Verwerfungsrecht in verfassungsrechtlicher Hinsicht einschließt;16 sie können sogar in einigen Bundesländern ein suspensives Veto einlegen.17

3. Zuständigkeits-

und Kollisionsprobleme

Obwohl die Landesregierungen Erstdelegatare und die Landtage Alternativdelegatare sind, so sind doch beide Verfassungsorgane gleichermaßen zuständig. Art. 80 Abs. 4 GG begründet keine gestufte Zuständigkeit, sondern eine Doppelzuständigkeit. Die sich dabei ergebenden Zuständigkeitskonkurrenzen lassen sich durch die jeweiligen Regelungsformen, die den Landesregierungen bzw. den Landtagen zur Verfügung stehen, lösen. Das verordnungsvertretende Gesetz nimmt den Rang eines Gesetzes ein und hat als solches Vorrang gegenüber der Rechtsverordnung. Wenn aufgrund einer bundesgesetzlichen Ermächtigung sowohl die Landesregierung eine Rechtsverordnung als auch der Landtag ein Gesetz erlassen hat, dann geht das Gesetz mit der Folge vor, daß die widersprechende Rechtsverordnung ungültig ist. Im Kollisionsfall hat also nicht der Erstdelegatar (die Landesregierung) sondern der Alternativdelegatar (der Landtag) Vorrang, aber nicht weil er Alternativdelegatar ist, sondern weil das von ihm erlassene Gesetz die stärkere rechtliche Kraft hat. Das gilt unabhängig davon, wann und auf welche Weise der Kollisionsfall eingetreten ist, ob also zunächst die Rechtsverordnung und dann das Gesetz erlassen wurde oder umgekehrt. Aus diesen Gründen ergibt sich auch, daß der spiegelbildliche Vergleich mit der gesetzesvertretenden Verordnung irreführend ist. Während die gesetzesvertretende Verordnung eine von der Exekutive erlassene Rechtsverordnung ist, die den Rang und die Geltungskraft eines Gesetzes einnimmt, fällt das verordnungsvertretende Gesetz nicht etwa auf die Ebene der Rechtsverordnung, sondern ist und bleibt ein Gesetz ohne Rücksicht darauf, daß ihr Inhalt auch durch eine Rechtsverordnung geregelt werden könnte. Der Vorrang des verordnungsvertretenden Gesetzes und damit auch der Vorrang des dieses Gesetz erlassenden Landtags schließt nicht aus, daß die Landesregie15 Das gilt auch für den Senat in Bayern, da er nur beratende und hemmende Funktionen hatte; abgesehen davon ist er durch Volksentscheid beseitigt worden. 16 Vgl. dazu H. Maurer, Bonner Kommentar, Art. 82 (1988) S. 64 f. mit weiteren Nachw. 17 So in unterschiedlicher Weise die Verfassungen von Hamburg (Art. 50), von Hessen (Art. 119), von Niedersachsen (Art. 42 II) und von Nordrhein-Westfalen (Art. 67). Dieses „Vetorecht" hat, soweit ersichtlich, in der Praxis keine Bedeutung; immerhin mag schon der dezente Hinweis auf dieses Recht gewisse Vörwirkungen haben.

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rung ohne Rücksicht darauf, ob und welche Absichten der Landtag hat, eine Rechtsverordnung vorbereitet und erläßt. In der Praxis müßte jedoch ein beziehungsloses Nebeneinander von Landtag und Landesregierung zu erheblichen Reibungsverlusten und unnötigem Aufwand führen. Schon der Grundsatz der Verfassungsorgantreue und die sich aus ihm ergebende Verpflichtung zur gegenseitigen Rücksichtnahme18 gebieten, daß der Zugriff auf die Verordnungsermächtigung und das Verfahren aufeinander abgestimmt werden. Es erscheint selbstverständlich, daß sich die beiden Verfassungsorgane, die Landesregierung und der Landtag, gegenseitig informieren und ihre Regelungsabsichten kundtun. Die viel diskutierte Frage, ob die Landesregierung verpflichtet ist, den Landtag über neue Ermächtigungsgrundlagen zu unterrichten, 19 ist dagegen zweitrangig, da schon ein Blick in das jedermann zugängliche Bundesgesetzblatt die erforderlichen Kenntnisse verschafft. Wichtiger ist, daß die Landesregierung, die über den Bundesrat am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist, über das jeweilige Umfeld der Ermächtigung informiert und diese Information im Regelfall weitergeben muß. In der Literatur werden unterschiedliche Vorschläge über das Zusammenwirken von Landesregierung und Landtag diskutiert und empfohlen. 20 Auch die Konferenz der Landtagspräsidenten hat sich damit befaßt. 21 Inzwischen ist es auch bereits zu Absprachen zwischen den Landtagen und den Landesregierungen gekommen.22 Möglich ist zudem, daß beide Zuständigkeiten miteinander verknüpft werden, indem die Landesregierung eine Verordnung ausarbeitet, aber nicht selbst in Kraft setzt, sondern dem Landtag als Gesetzentwurf vorlegt, der dann die Regelung als Gesetz übernehmen, ablehnen oder ändern kann. Überprüft man daraufhin noch einmal Art. 80 GG, dann ergeben sich auch deutliche Hinweise für den Ablauf. Die Landesregierung ist und bleibt Erstdelegatar. Sie ist daher verpflichtet, die bundesgesetzliche Ermächtigung zur Kenntnis zu nehmen und ihr entsprechend zu reagieren. Wenn eine Verpflichtung zum Erlaß der Rechtsverordnung besteht,23 dann muß sie tätig werden. Das gilt allerdings vorbehaltlich einer landesgesetzlichen Regelung. Der Landesgesetzgeber kann, muß aber nicht tätig werden. Art. 80 Abs. 4 GG gibt ihm das Recht, eine Regelung an sich zu ziehen, verpflichtet ihn aber dazu nicht. 24 18 Vgl. zu diesem inzwischen allgemein anerkannten Grundsatz etwa BVerfGE 35, 257, 261 f.; 36, 1, 15; 45, 1, 39; W. R. Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977; A. Voßkuhle, Der Grundsatz der Verfassungsorgantreue und die Kritik am BVerfG, NJW 1997, 2216 ff. mit weiteren Nachw. 19

Vgl. dazu vor allem Lücke (Fn. 2), Art. 80 Rn. 50 ff., der sich eingehend mit den Rechtsgrundlagen einer Unterrichtungspflicht befaßt. 20 Vgl. Lücke (Fn. 2), Art. 80 Rn. 50ff.; Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 846ff.; Wagner/ Brocker, NVwZ 1997,760; Dette/Burfeind, ZG 1998, 264 ff. 21 Vgl. dazu die Nachweise oben Fn. 5. 22 Vgl. dazu ebenfalls die Nachweise oben Fn. 5. 23 Das ist dann der Fall, wenn sich dies aus dem Wortlaut des ermächtigenden Gesetzes ergibt, wenn das Gesetz ohne konkretisierende Rechtsverordnung nicht oder nicht sinnvoll anwendbar ist oder wenn dies der Gleichheitssatz gebietet, vgl. Lücke (Fn. 2), Art. 80 Rn. 4.

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Damit erhellt sich auch der eigentlich Sinn des Art. 80 Abs. 4 GG. Bislang konnte die Landesregierung auf Grund einer bundesgesetzlichen Ermächtigung im Landesbereich rechtsetzend tätig werden, ohne daß das Landesparlament wirksam darauf Einfluß nehmen konnte. Auch wenn man mit der h. L . 2 5 - entgegen einer beachtlichen Mindermeinung 26 - annimmt, daß die aufgrund einer bundesgesetzlichen Ermächtigung ergangene Landesrechtsverordnung Landesrecht ist, ist sie dem Zugriff des Landesparlaments entzogen. Denn wenn der Bundesgesetzgeber im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenzen ein Gesetz erläßt, dann ist dieser Bereich für den Landesgesetzgeber gesperrt. Das gilt nicht nur für das Gesetz selbst, sondern auch für die zur Konkretisierung und Ergänzung dieses Gesetzes erlassene Rechtsverordnung. 27 Gerade das wird nunmehr durch die Neuregelung des Art. 80 Abs. 4 GG geändert. Sie begründet die Befugnis des Landesgesetzgebers, auf die in den bundesgesetzlichen Ermächtigungsnormen ausgewiesenen Materien zuzugreifen und sie regelnd an sich zu ziehen. Der Landesgesetzgeber kann somit bestimmte Regelungen durch die Landesregierung verhindern oder bereits getroffene Regelungen ganz oder teilweise aufheben oder abändern. Allerdings darf er dies nur im Rahmen der bundesgesetzlichen Ermächtigung unter Beachtung ihrer Direktiven. Er darf über die Ermächtigung nicht hinaus gehen, kann aber die Ermächtigung innerhalb der bundesgesetzlichen Vorgaben anders konkretisieren und gestalten, als dies die Landesregierung beabsichtigt oder getan hat.

4. Einzelfragen a) Die Neuregelung des Art. 80 Abs. 4 GG führt zu einer Reihe von Fragen, die hier wenigstens teilweise angedeutet werden sollen. Fraglich ist, ob das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG auch für das verordnungsvertretende Landesgesetz gilt. Das ist zu bejahen.28 Das verordnungs vertretende Landesgesetz ist wie die Rechtsverordnung eine ergänzende Regelung. Es wird daher meistens nur dann recht verständlich, wenn es in seinem Zusammenhang, d. h. zusammen mit seinem Bezugsgesetz, gesehen wird. Dies wird durch das Zitiergebot gewährleistet. b) Ferner ist fraglich, ob das Landesparlament unter den Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 S. 4 GG zur Weiterermächtigung befugt ist. Dagegen spricht zu24 Einschränkend Schmidt-Bleibtreu/Klein, Grundgesetz, 9. Aufl. 1999, Art. 80 Rn. 113, die im Blick auf das Demokratieprinzip der Meinung sind, daß in bestimmten Ausnahmefällen die Befugnis des Landesparlaments zu einer Pflicht zur Inanspruchnahme der Verordnungsermächtigung erstarken könne. 25 Vgl. BVerfGE 18, 407 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 723; Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 252. 26 Vgl. D. Wilke, in: von Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Bd. III, 1974, Art. 80 Anm. V 4 c (S. 1929 f.). 27 So zutreffend H. Schneider, Gesetzgebung, 2. Aufl. 1991, Rn. 651 (S. 352). 28 Ebenso Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 842; Lücke (Fn. 2), Art. 80 Rn. 62; Schütz, NVwZ 1996, 38; Wagner/Brocker, NVwZ 1997, 760 f.

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nächst, daß Art. 80 Abs. 4 GG die Landesparlamente zur Eigenregelung ermächtigen will. Wenn ein Landesparlament von einer solchen Regelung - aus welchen Gründen auch immer - absieht, bleibt es ohnehin bei der Regelungskompetenz der Exekutive. Immerhin ist denkbar, daß das Landesparlament nur die Grundsatzfragen regeln (sofern dies im Rahmen des Art. 80 GG überhaupt möglich ist) und die nähere Ausgestaltung bestimmten Organen der Exekutive übertragen will. Insofern erscheint eine Weiterermächtigung gem. Art. 80 Abs. 1 S. 4 GG - durch verordnungsvertretendes Gesetz - zulässig.29 Darüber hinaus kann das Landesparlament, wenn es von seinem Zugriffsrecht Gebrauch macht, die Landesregierung - gleichsam im Wege der Rückverweisung - ermächtigen, die erforderlichen Detailregelungen durch Verordnung zu erlassen. Fraglich ist, ob daneben auch eine Ermächtigung nach den landesverfassungsrechtlichen Vorschriften über die Verordnunggebung (etwa Art. 61 Bad.-Württ. Landesverfassung) in Betracht kommt. Das hängt davon ab, ob Art. 80 GG insoweit eine abschließende Regelung darstellt oder noch für landesverfassungsrechtliche Regelungen offen ist. c) Schließlich fragt sich noch, ob unter die Gesetzgebung i.S. des Art. 80 Abs. 4 GG auch die Volksgesetzgebung fällt, sofern sie nach dem Landesverfassungsrecht neben der Parlamentsgesetzgebung zulässig ist. Nierhaus verneint dies, da der Volksentscheid nur im Bereich der originären, nicht auch der abgeleiteten Rechtsetzung zulässig sein könne. 30 Diese Auffassung kann nicht überzeugen. Es ist zwar richtig, daß der Spielraum durch die Vorgaben und die Bindungen der Ermächtigungsnorm beengt ist. Aber weshalb sollte innerhalb dieses Spielraums nicht auch ein Volksentscheid zulässig sein, etwa wenn es um die viel diskutierten Ladenschlußzeiten geht? Die rechtlichen Grenzen können bereits bei dem auf den Volksentscheid zielenden Volksbegehren geprüft werden.

IV. Rechtsnatur des verordnungsvertretenden Gesetzes und Rechtsschutz Die Rechtsnatur der verordnungsvertretenden Gesetze ergibt sich bereits aus Art. 80 Abs. 4 GG, der bestimmt, daß diese Regelungen „durch Gesetz" erlassen werden. Damit sind eindeutig formelle, von den Landesparlamenten erlassene Gesetze gemeint. Denn der Zweck des Art. 80 Abs. 4 GG ist es ja gerade, dem Landesgesetzgeber eine Rechtsetzungskompetenz anstelle der Exekutive einzuräumen. Der Inhalt der Regelung ist für die Bestimmung der formellen Gesetze unerheblich. Abgesehen davon sind die verordnungsvertretenden Gesetze als allgemein-verbindliche Regelungen materielle Gesetze im Sinne der traditionellen Gesetzgebungslehre, so daß sie nicht nur Gesetz im formellen, sondern auch im materiellen Sinne sind. Aus dieser begrifflichen Qualifizierung und Einordnung 29 Ebenso Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 843 ff.; Schütz, NVwZ 1996, 38 Fn. 12. 30 Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 863 f.

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folgt, daß die verordnungsvertretenden Gesetze rechtlich grundsätzlich nach den Regeln über die formellen Gesetze zu behandeln sind, so vor allem im Blick auf die Rangordnung, die Aufhebung und Abänderung, die Fehlerfolgen und den Rechtsschutz. Der Wechsel von der Rechtsverordnung zum Gesetz gem. Art. 80 Abs. 4 GG hat erhebliche prozessuale Konsequenzen. Die Rechtsverordnung der Landesregierung unterliegt der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle gem. § 47 VwGO 3 1 und kann in jedem gerichtlichen Verfahren vom erkennenden Gericht inzidenter überprüft und im Falle der Verfassungs- und Rechtswidrigkeit verworfen werden. Beides trifft auf formelle Gesetze nicht zu. Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle beschränkt sich auf „Rechtsvorschriften im Rang unter dem Landesgesetz" und erfaßt damit formelle Gesetze gerade nicht. Ferner muß das Prozeßgericht, wenn es ein formelles Gesetz für verfassungswidrig oder bundesrechtswidrig hält, gem. Art. 100 Abs. 1 GG die Entscheidung des BVerfG einholen. Obwohl sich damit prozessuale Verschiebungen ergeben, dürfte der Rechtsschutz des Bürgers dadurch nicht unzumutbar eingeschränkt werden. 32 Das Verwerfungsmonopol des BVerfG führt zu keiner Beschränkung (von der Zeitdauer abgesehen), sondern sogar eher noch zur Verbesserung des Rechtsschutzes, da die oberste Instanz entscheidet. Statt der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle bietet sich die Verfassungsbeschwerde zum BVerfG und zu den Landesverfassungsgerichten an. Soweit diese nicht greifen - sei es, weil nur die Verletzung von Grundrechten gerügt werden kann, sei es, weil keine landesverfassungsrechtliche Verfassungsbeschwerde vorgesehen ist - , müßte im Wege der Feststellungsklage oder einer sonstigen Klage eine inzidente Kontrolle erreicht werden können.33 Eine echte Beschränkung des Rechtsschutzes würde gegen die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen. Die Frage, ob und inwieweit diese Garantie eingeschränkt werden kann, braucht hier nicht weiter diskutiert zu werden. Denn eine solche Einschränkung ist durch Art. 80 Abs. 4 GG nicht beabsichtigt und auch nicht erfolgt. Im Zweifel müßte über eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen prozessualen Vorschriften ein ausreichender Rechtsschutz hergestellt werden. In der Literatur wird gleichwohl im Blick auf den Rechtsschutz die Auffassung vertreten, daß die verordnungsvertretenden Gesetze prozessual wie Rechtsverordnungen zu behandeln seien.34 So betont Nierhaus, diese Regelungen seien zwar formelle Gesetze, aber formelle Gesetze sui generis, „Rechtsverordnungen im Kleide des Gesetzes".35 Schütz legt dar, daß das Landesparlament in diesen Fällen 31 Voraussetzung ist allerdings, daß sie landesrechtlich eingeführt worden ist; das ist in allen Bundesländern mit Ausnahme von Hamburg und Nordrhein-Westfalen der Fall. 32 Anders Schütz, NVwZ 1996, 35 ff.; Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 870ff.; Lücke (Fn. 2), Art. 80 Rn. 60 f. 33

Vgl. zum Rechtsschutz gegen Rechtsnormen W.-R. Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, 6. Aufl. 1998, Rn. 1059 mit weit. Nachw. 34 Vgl. Schütz und Nierhaus, jeweils aaO (Fn. 32). 3 5 Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 841, 880.

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„nicht als Gesetzgeber, sondern gleichsam als Verordnungsgeber eigener Art tätig" werde, und spricht von „Gesetzgebung an Verordnungs Statt". 36 Entgegen der sonst maßgeblichen Orientierung an der Form wird also doch wieder auf den Inhalt abgestellt. Das wäre dann vertretbar, wenn die Verwendung der Gesetzesform einen Formenmißbrauch darstellen würde. Dies trifft jedoch für die Gesetze gem. Art. 80 Abs. 4 GG sicherlich nicht zu und wird auch von den Autoren, die auf den Regelungsinhalt abstellen, nicht vertreten. Zur dogmatischen Begründung wird vielmehr der Begriff des Gesetzes im funktionellen Sinne eingeführt und die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle auf diese Gesetzesart beschränkt. Gesetzgebung im funktionellen Sinne liege nur vor, wenn eine originäre Rechtsetzungskompetenz bestehe, wenn also die Länder aufgrund ihrer Gesetzgebungskompetenz gem. Art. 70 ff. GG gesetzgebend tätig würden. Dagegen soll die abgeleitete Rechtsetzung keine Gesetzgebung im funktionellen Sinne sein, auch wenn sie - wie die verordnungsvertretenden Gesetze gem. Art. 80 Abs. 4 GG - als formelle Gesetze erlassen werden. Eine maßgebliche Rolle spielt dabei die Vorstellung vom Gesetz als politischer Leitlinie, der das verordnungsvertretende Gesetz als bloße Ausführungsregelung gegenübersteht.37 Diese Differenzierung ist sicher in sachlich-politischer Hinsicht bemerkenswert; sie weist auch auf die unterschiedlichen Erscheinungen hin, die unter den Gesetzesbegriff fallen und dort noch weiter aufgegliedert werden könnten. In rechtsdogmatischer Hinsicht trägt sie jedoch nicht zur Klärung, sondern eher zur Verwirrung bei. Das gilt vor allem für das Prozeßrecht, das auf klare Begriffe und Distinktionen angewiesen ist. Schon die Annahme, daß die Gesetze, die aufgrund einer originären Rechtsetzungskompetenz ergehen, politische Leitentscheidungen bilden, läßt sich so allgemein schwerlich halten. Andererseits gibt es Rechtsverordnungsermächtigungen, die dem Verordnunggeber einen weiten Spielraum gewähren. Es sei nur auf die zahlreichen Zustimmungsvorbehalte und sonstigen Mitwirkungsvorbehalte des Bundestages beim Erlaß von Rechtsverordnungen hingewiesen,38 die nicht erforderlich wären, wenn die Rechtsverordnungen reine Vollzugsakte wären. 39 Unbestritten ist auch, daß die Landesgesetze, die aufgrund einer bundesgesetzlichen Ermächtigung gem. Art. 71 GG erlassen werden, in jeder Hinsicht als vollwertige Gesetze zu bewerten und zu behandeln sind. Wenn in diesem Zusammenhang auf die Dignität des Gesetzes hingewiesen wird, die dem verordnungsvertretenden Gesetz fehle, 40 so ist dem die Dignität des parlamentarischen Gesetzgebers gegen36 Schütz, NVwZ 1996, 37 ff., insbes. S. 39. 37 Vgl. Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 840, 879 f. 38 Vgl. dazu H. Maurer, Staatsrecht, 1999, § 17 Rn. 155 ff. 39 Zu bemerken ist noch, daß diese Vorbehalte des Bundestages, die im einzelnen noch fraglich und strittig sind, nur gegenüber der Bundesregierung und den Bundesministern, nicht aber gegenüber den Landesregierungen möglich und zulässig sind. Das ergibt sich bereits aus bundesstaatlichen Gründen. Damit erledigt sich auch die Frage, ob solche Vorbehalte gegenüber dem verordnungsermächtigenden Gesetz gem. Art. 80 Abs. 4 GG in Betracht kommen.

40 So Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 840, 881; vgl. ferner Schütz, NVwZ 1996, 38.

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überzustellen. Das Verwerfungsmonopol des Art. 100 Abs. 1 GG dient dem Schutz des Parlaments, nicht dem Schutz bestimmter Gesetze. Daher greift es bei allen formellen Gesetzen ohne Rücksicht auf den Gesetzesinhalt ein. Die durch die Neuregelung des Art. 80 Abs. 4 GG bezweckte Stärkung des Landesgesetzgebers würde konterkariert, wenn sie auf diese Weise wieder relativiert würde. Die Anwendung der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle auf verordnungsvertretende Gesetze müßte ferner in Konflikt mit der Verfassungsgerichtsbarkeit geraten, die den Verwaltungsgerichten aus verfassungsdogmatischen und verfassungspolitischen Gesichtspunkten bewußt entzogen ist. 41 Eine gewisse Stütze findet die Gegenmeinung in der Entscheidung des BVerfG vom 14. Mai 1985, in der die Hamburger Bebauungsplangesetze mit dem Hinweis, es handle sich um „satzungsvertretende Gesetze", den für die Satzungen maßgebenden Regelungen über den Rechtsschutz zugeordnet worden sind (keine Richtervorlage gem. Art. 100 Abs. 1 GG, Überprüfung durch die Oberverwaltungsgerichte gem. § 47 VwGO). 42 Die Entscheidung ist nicht nur im Gericht selbst,43 sondern auch in der ganz überwiegenden Literatur auf Kritik und Ablehnung gestoßen.44 Auf die grundsätzlichen Einwendungen kann hier nicht weiter eingegangen werden. Selbst wenn man der Entscheidung des BVerfG zustimmt, läßt sie sich doch nicht verallgemeinern oder wenigstens auf die verordnungsvertretenden Gesetze gem. Art. 80 Abs. 4 GG übertragen. Sie betrifft einen ausgesprochenen Sonderfall. 45 Da Hamburg Stadt und Land zugleich ist, fallen die Gemeindeebene und die Landesebene zusammen und hat die Bürgerschaft sowohl die Aufgaben der Gemeindevertretung als auch des Landesparlamentes wahrzunehmen. Damit stellt sich aber die Frage, in welcher Form die Bebauungspläne, die nach § 10 BauGB als Satzungen zu erlassen sind, ergehen sollen. Hamburg hatte sich auf Grund des § 118 Abs. 2 BBauG (jetzt § 246 Abs. 2 BauGB) teilweise für die Form der Rechtsverordnung und teilweise für die Form des Gesetzes entschieden. Es handelte sich also um eine, sich aus der besonderen Situation eines Stadt-Staates ergebende Ausnahmeregelung, die sich zudem räumlich auf ein relativ kleines Gebiet und sachlich auf die Regelung der Bebaubarkeit dieses Gebietes beschränkte. Damit scheidet auch ein Vergleich mit den verordnungsvertretenden Gesetzen des Art. 80 Abs. 4 GG aus, die bereits bundesverfassungsrechtlich als formelle Gesetze ausgewiesen werden, die Landesparlamente hervorheben und stärken sollen, räumlich weiter ausgreifen und sich generell auf alle Sachbereiche erstrecken können.

Vgl. dazu bereits § 40 Abs. 1 VwGO, § 47 Abs. 3 VwGO. 42 BVerfGE 70, 35, 53 ff. 43 Vgl. das Sondervotum des Richters Steinberger, BVerfGE 70, 59 ff. 44 Vgl. dazu die Nachweise bei Schütz, NVwZ 1996, 39 Fn. 31. 45 So das BVerfG selbst: „Spezieller Fall der hamburgischen Bebauungsplangesetze" (S. 58), was das Gericht allerdings nicht hinderte, eine generelle Aussage für satzungsvertretende Gesetze zu machen (S. 58).

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Im Ergebnis ist sonach festzuhalten, daß die verordnungsvertretenden Gesetze prozessual wie formelle Landesgesetze zu behandeln sind. Sollte der Rechtsschutz gegen Gesetze auf Lücken und Mängel stoßen, so sind sie - nicht nur im Blick auf das verordnungsvertretende Gesetz, sondern generell - prozessual und nicht durch Manipulationen am materiellen Recht zu beseitigen. Das Prozeßrecht steht im Dienste des materiellen Rechts - nicht umgekehrt.

V. Allgemeine Bewertung 7. Grundsätzliche Aspekte a) Der Grundsatz der Gewaltenteilung wird durch die Regelung des Art. 80 Abs. 4 GG zwar tangiert, aber nicht verletzt. Die Verordnunggebung ist Teil der Exekutive. Da sie jedoch nur abgeleitete Rechtsetzung ist, hängt ihr Umfang von der Delegation ab. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung liegt nur vor, wenn der Exekutive typische Materien der Verordnunggebung ganz oder in erheblichem Maße vorenthalten werden. Diese Grenze wäre bei den verordnungsvertretenden Gesetzen erst erreicht, wenn die Länderparlamente unter Einsatz ihres Zugriffsrechts den Verordnungsbereich der Landesregierung so gut wie ganz überlagern und besetzen würden. Das ist indessen schon aus sachlichen Gründen nicht anzunehmen. Zudem ist zu beachten, daß die durch Art. 80 Abs. 4 GG ermöglichte Verlagerung der Verordnunggebung nicht an ein rechtsetzungsfremdes Organ, sondern an das eigentliche gesetzgebende Organ des Landes geht. Da die Gewaltenteilung nur grundsätzliche Direktiven bringt, im übrigen aber durch den Verfassunggeber ausgestaltet werden kann, bestehen unter diesem Aspekt keine Bedenken. b) Das Bundesstaatsprinzip ist ebenfalls nicht verletzt. Art. 80 Abs. 4 GG ermächtigt zu landesinternen Verschiebungen, zwingt dazu aber nicht. Es liegt bei den Ländern, ob und wie weit sie von den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten des Art. 80 Abs. 4 GG Gebrauch machen. c) Das Rechtsstaatsprinzip wirft dagegen eher Probleme auf. Es würde unter dem Aspekt der Rechtssicherheit beeinträchtigt, wenn das verordnungsvertretende Landesgesetz und die Landesrechtsverordnung ineinander übergingen und dadurch ein Formen-Mischmasch entstünde. Der Landesgesetzgeber muß daher, wenn er von seinem Zugriffsrecht Gebrauch macht, die durch die bundesgesetzliche Ermächtigung ausgewiesene Materie ganz oder in klar abgrenzbaren Teilen regeln. Er kann auch eine bereits bestehende Rechtsverordnung der Landesregierung ändern, muß dies aber durch Übernahme der ganzen Rechtsverordnung oder klar abgrenzbarer Teile der Rechtsverordnung in Gesetzesform tun. Das schließt nicht aus, daß die Landesregierung durch das verordnungsvertretende Gesetz zum Erlaß von Detailregelungen ermächtigt wird. 46 46

Vgl. zur Ermächtigung durch das verordnungsvertretende Landesgesetz bereits oben III.4.b. Der Grundsatz der Rechtssicherheit ist gewahrt, wenn die jeweiligen Regelungsfor39 FS Leisner

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2. Praktische Bedeutung Die Gesetzgebungskompetenz der Länder gem. Art. 80 Abs. 4 GG wird wahrscheinlich in der Praxis keine große Bedeutung erlangen. 47 Die meisten bundesgesetzlichen Ermächtigungen richten sich an die Bundesregierung oder an die Bundesminister. Immerhin bestanden nach Angaben in der Literatur 1996 insgesamt 148 verschiedene bundesrechtliche Ermächtigungen. 48 Fraglich ist, ob unter dieser Zahl nur die unmittelbaren bundesgesetzlichen Ermächtigungen oder auch die Ermächtigungen durch die Bundesregierung oder einen Bundesminister im Wege der Subdelegation gem. Art. 80 Abs. 1 S. 4 GG fallen. Jedenfalls wird von Art. 80 Abs. 4 GG auch die zweite Gruppe erfaßt, wie sich bereits aus dem Wortlaut ergibt („auf Grund von Bundesgesetzen"). Bei näherem Zusehen geben diese Ermächtigungsgrundlagen allerdings nicht viel her. Wenn sich die Landesparlamente nicht selbst zum Verwaltungsorgan degradieren wollen, werden sie sich auf grundsätzliche Fragen beschränken und die technischen und administrativen Detailfragen der Landesregierung überlassen. Für die Regelung von Grundsatzfragen bleibt indessen schon deshalb wenig Spielraum, weil nach der Lehre vom Gesetzesvorbehalt und der vom BVerfG entwickelten Wesentlichkeitstheorie der Gesetzgeber, d. h. hier der Bundesgesetzgeber, alle „wesentlichen" Angelegenheiten selbst regeln muß und lediglich die Regelung der „unwesentlichen" Fragen delegieren darf. Durch diese beiderseitigen Einschränkungen wird das Betätigungsfeld des verordnungsvertretenden Landesgesetzgebers eng. Von der Konferenz der Landtagsdirektoren wurde (1997) auf folgende Fälle hingewiesen:49 Verlängerung der Kündigungsfristen wegen Eigenbedarfs in bestimmten Gebieten auf Grund des § 564 b Abs. 2 Nr. 2 BGB; Verlängerung der Ladenöffnungszeiten gem. § 8 Abs. 2 a des Ladenschlußgesetzes an Verkehrsknotenpunkten in Städten einer bestimmten Größe; bestimmte Regelungen nach dem Weingesetz, wie z. B. die Abgrenzung der Gebiete für den Anbau von Qualitätsweinen bestimmter Anbaugebiete (Qualitätswein b. A.); Regelungen auf dem Gebiet des privaten Bewachungsgewerbes (§ 34 a Abs. 3 GewO) und der Auskunftdateien und Detekteien (§ 38 S. 1 Nr. 4 GewO). Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich eine bestimmte Angelegenheit in der Sicht des Bundes als „unwesentlich", in der Sicht des Landes aber als „wesentlich" darstellt. Im Blick auf die Unschärfe der Wesentlichkeitstheorie sollte freilich im vorliegenden Zusammenhang mit diesen Begriffen nicht jongliert werden. Daher bestehen auch durchgreifende Bedenken, unter Hinweis auf die landesbezogene Wesentlichkeit eine Pflicht zum Erlaß eines verordnungsvertretenden men beachtet werden und die Ermächtigungen hinreichend bestimmt sind. Dadurch entsteht gleichsam ein dreistufiges Normengebäude: Bundesgesetz, verordnungsvertretendes Landesgesetz und ausführende Landesrechts Verordnung. 47 Das wird auch von den Konferenzen der Landtagspräsidenten und der Landtagsdirektoren so gesehen. Vgl. Landtag Rheinland-Pfalz, Drs. 13/1761, S. 3, 5. 48 Vgl. Wagner /Brocker, NVwZ 1997,759; Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 821. 49 Landtag Rheinland-Pfalz, Drs. 13/1761 S. 5. In der Literatur finden sich weitere Vorschläge.

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Gesetzes anzunehmen, zumal dann, wenn eine statt dessen ergangene Landesrechtsverordnung auch noch als verfassungswidrig gerügt werden kann.

3. Alternativen Die verfassungspolitische Beurteilung der Neuregelung des Art. 80 Abs. 4 GG ist in der Literatur, die sich näher mit ihr beschäftigt hat, zurückhaltend bis ablehnend. 50 Positiv zu werten ist, was in der Literatur nicht hinreichend beachtet wird, daß die Landesparlamente nunmehr auf den ihnen bislang verschlossenen Bereich des bundesgesetzlich begründeten Landesverordnungsrechts Einfluß nehmen können. 51 Insofern werden die Landesparlamente in der Tat gegenüber den Landesregierungen und mittelbar auch gegenüber dem Bund gestärkt. Im übrigen bringt aber Art. 80 Abs. 4 GG nicht viel. Dafür ist die Basis der Verordnungsermächtigung zu dürftig. Die durch sie begründeten Zuständigkeiten sind nicht nur sachlich beschränkt, sondern auch dem Einwand ausgesetzt, daß die Landesparlamente in diesen Fällen nur eine abgeleitete Rechtsetzung wahrnehmen, zum Ausführungsorgan des Bundestages werden und auf der Ebene der Landesexekutive stehen. Die ohnehin zunehmende Auffassung, die Landesparlamente rückten immer mehr in den Bereich der Verwaltung und seien kaum noch mit Gesetzgebungsaufgaben befaßt, wird durch die Konstruktion dieser Neuregelung bestärkt. 52 Art. 80 Abs. 4 GG darf jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Er ergänzt die bereits bestehenden und noch ausbaufähigen Möglichkeiten, den Landesgesetzgeber in den Bereich der Bundesgesetzgebung einzubeziehen. Die grundgesetzlich festgelegten Kompetenzregelungen sind nicht disponibel. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, daß die dem Bundesgesetzgeber eingeräumten Kompetenzen gegenüber dem Landesgesetzgeber offen sind. Im Bereich der ausschließlichen Bundeskompetenz können die Länder nach der ausdrücklichen Regelung des Art. 71 GG zur Gesetzgebung ermächtigt werden. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung kann der Bund schon dadurch, daß er bestimmte Regelungskompetenzen nicht voll ausnutzt oder sogar ausklammert, den Ländern gewisse Freiräume gewähren. 53 Dafür gibt es auch zahlreiche Beispiele; es sei nur auf die landesrechtlichen Ausführungsgesetze zum Bürgerlichen Gesetzbuch und zur Verwaltungsgerichtsordnung hingewiesen. Die Rahmengesetzgebung des Bundes ist ohnehin auf eine Ausfüllung durch den Landesgesetzgeber angelegt und angewiesen. In allen diesen Fällen nimmt das Landesparlament keine abgeleiteten, sondern 50 Vgl. Nierhaus (Fn. 2), Art. 80 Rn. 837 f.; ders. (Fn. 3 ), 221; Lücke (Fn. 2), Art. 80 Rn. 56, 59; Dette/Burfeind, ZG 1998, 267 ff. 51 Vgl. dazu oben III.3. 52 Das gilt vor allem dann, wenn man - wie dies entgegen der hier vertretenen Auffassung zum Teil in der Literatur geschieht - das verordnungsvertretende Gesetz nicht nur materiell sondern auch formell wie eine Rechtsverordnung behandelt.

53 Vgl. dazu H. Schneider (Fn. 27), Rn. 241 (S. 159). 39*

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Hartmut Maurer

originäre Rechtsetzungskompetenzen wahr. Das geltende Verfassungsrecht bildet also ein breiteres Spektrum. Es entspricht der Bedeutung und dem Rang der Landesparlamente, vor allem die (originäre) Ausführungsgesetzgebung zu verstärken, allerdings ohne auf ihre derivative Rechtsetzung im Bereich bundesgesetzlicher Verordnungsermächtigungen zu verzichten. Sie hat auch den positiven Nebeneffekt, daß sich die Frage nach dem Gesetzesvorbehalt und der Anwendung der Wesentlichkeitstheorie nicht stellt. Denn der im Rahmen des Art. 70 ff. GG agierende Landesgesetzgeber ist als parlamentarisch-demokratischer Gesetzgeber auch zur Regelung wesentlicher Angelegenheiten befugt.

Zum Schutz der Persönlichkeit vor unbefugter Vermarktung durch die Medien Von Max Vollkommer

Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht muß auch in seinen wirtschaftlichen Grundlagen und Ausstrahlungen voll geschützt werden. Walter Leisner

I. Das Problem: Geldentschädigung bei „Zwangskommerzialisierung" der Persönlichkeit durch die Medien Der BGH hat in seinen vielbeachteten Urteilen vom 15. 11. 19941, 5. 12. 19952, 12. 12. 19953 und 19. 12. 19954, den sogenannten Caroline-von-Monaco-Entscheidungen I - IV, den deliktischen Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in bemerkenswerter Weise weiter ausgebaut. Insbesondere das Caroline /-Urteil enthält grundlegende Ausführungen zu Anspruchsvoraussetzungen und Bemessungskriterien des Entschädigungsanspruchs für eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die Presse. In dem zugrundeliegenden Fall hatte eine Illustrierte, der die Prinzessin von Monaco ein Gespräch verwehrt hatte, kurzerhand ein Exclusiv-Interview mit ihr erfunden. Der VI. Zivilsenat des BGH stellt nunmehr klar, daß der „Geldentschädigungsanspruch" für Persönlichkeitsverletzungen kein Schmerzensgeldanspruch ist, ja nicht einmal auf einer Analogie zu § 847 BGB beruht, sondern einen Schadensersatzanspruch eigener Art darstellt, der aus dem verfassungsrechtlichen Auftrag zum Schutz der Persönlichkeit, aus den Art. 1 und 2 Abs. 1 GG resultiert. Ohne einen solchen Anspruch würden Verletzungen der Würde und Ehre des Menschen häufig ohne Sanktion bleiben und der Rechts1 BGHZ 128,1 = NJW 1995,861 = JZ 1995,360 = AfP 1995,411 (Caroline von Monaco I: erfundenes Interview). 2 BGH NJW 1996, 984 (Caroline von Monaco II: Kampf gegen Brustkrebs). 3 BGH NJW 1996, 985 (Caroline von Monaco III: Abbildung ihres 8-jährigen Sohnes). 4 BGHZ 131, 332 = NJW 1996, 1128 (Caroline von Monaco IV: Paparazzifotos im Gartenlokal).

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schütz der Persönlichkeit verkümmern. Anders als beim Schmerzensgeldanspruch stehe bei diesem „Rechtsbehelf 4 der Gesichtspunkt der Genugtuung des Opfers im Vordergrund; außerdem solle er der Prävention dienen. „Kernstück" der Entscheidung sind freilich die Ausführungen zur Bemessung des Geldentschädigungsanspruchs. Das OLG Hamburg5 als Vörinstanz hatte sich bei der Berechnung des Anspruchs an die Kriterien, die zum Schmerzensgeld entwickelt worden sind, angelehnt, also an den Ausgleichs- und Genugtuungsgedanken. Demgegenüber stellt der BGH nunmehr für den Entschädigungsanspruch bei Vermarktung der Persönlichkeit durch die Presse neue Grundsätze auf, die er im Leitsatz wie folgt zusammenfaßt: „Erfolgt der Einbruch in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen vorsätzlich mit dem Ziel der Auflagensteigerung und Gewinnerzielung, dann gebietet der Gedanke der Prävention, die Gewinnerzielung als Bemessungsfaktor in die Entscheidung über die Höhe der Geldentschädigung einzubeziehen."6 Der BGH führt dazu aus, der effektive Schutz der Persönlichkeit verlange, daß von der „Geldentschädigung" ein echter Hemmungseffekt auszugehen habe. Die Sanktion müsse fühlbar sein und dürfe sich nicht in einer symbolischen Genugtuung erschöpfen. Deshalb sei auch zu berücksichtigen, daß der Schädiger vorsätzlich und zur Gewinnerzielung gehandelt habe. Nur auf diese Weise werde gewährleistet, daß Presse- und Medienunternehmen vor einer „Zwangskommerzialisierung" der Persönlichkeit zurückschreckten. Schon terminologisch rückt der BGH in den Mittelpunkt, daß einer rücksichtslosen Vermarktung fremder Persönlichkeitsrechte entgegenzuwirken sei. Bemerkenswert ist auch der Versuch des damaligen Vorsitzenden des VI. Zivilsenats, Erich Steffen, der Neuorientierung des BGH im Schrifttum zum Durchbruch zu verhelfen. 7 Der von der Rechtsprechung eingeschlagene neue Weg ist im Schrifttum jedoch auf harsche Kritik bis hin zu schroffer Ablehnung gestoßen, selbst von denen, die die Entscheidungen im Ergebnis, soweit also ein wirkungsvollerer Persönlichkeitsschutz angestrebt wird, begrüßen.8 Ganz allgemein wird bemängelt, daß sich der BGH leichtfertig über die Zivilrechtsdogmatik hinweggesetzt habe und mögliche Friktionen mit anderen Rechts5 OLG Hamburg NJW-RR 1994, 990. 6 BGHZ 128, 1 Leitsatz b = a. a. O. (Fn. 1). 7 Steffen, Die Aushilfeaufgaben des Schmerzensgeldes, in: Festschrift für Odersky, 1996, S. 723 ff.; Steffen, Schmerzensgeld bei Persönlichkeits Verletzung durch Medien, NJW 1997, 10ff.; dazu die aufschlußreiche Stellungnahme von Steffen in: Schutz der Persönlichkeit (Karlsruher Forum 1996), S. 52ff. und seine Interviews (!) in „Die Zeit" vom 25. 11. 1994 und ZRP 1996, 366. 8 Seitz, NJW 1996, 2848; Weyers, in: Schutz der Persönlichkeit a.a.O (Fn. 7) S. 87: „Es ist natürlich immer mißlich, wenn man mit dem Prügel der Systematik gegen ein Ergebnis andrischt, das man eigentlich für gut hält, das auch allgemein für gut gehalten wird. Ich meine den Fall der Caroline von Monaco"; Heldrich, in: Festschrift für Heinrichs, 1998, S. 324: „im Ergebnis verständlich". Zum Ergebnis und zur Tendenz positiv dagegen Schlechtriem, JZ 1995, 363: Weiterentwicklung des „Regelwerks zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht".

Schutz der Persönlichkeit vor Vermarktung durch die Medien

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behelfen und Anspruchsgrundlagen nicht bedacht habe9; eine umfassende Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und Pressefreiheit habe nicht stattgefunden. 10 Die Frage wird gestellt, ob der BGH den Boden zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung verlassen11 und sich zum Gesetzgeber aufgeschwungen hat, gar um Strafrecht zu schaffen. 12 Die Kritik gipfelt in dem Vorwurf, der BGH habe den noch wenige Jahre zuvor in anderem Zusammenhang als ordre-public-widrig eingestuften Strafschadensersatz (punitive damages) ins deutsche Recht eingeführt 13; ein weiterer Kritikpunkt geht dahin, die lex Caroline sei „Klassenjustiz" und eröffne eine Einkommensquelle für eine ohnehin schon „superreiche Schickeria" 14 ; die zugesprochenen Beträge stünden in keinem Verhältnis zum „gewöhnlichen" Schmerzensgeld, das oftmals nicht mehr als einen Franc symbolique darstelle 15. Bemängelt wird zudem, daß der BGH seine Entscheidung mit hohem Aufwand an pathetischen Beschwörungen 16, gefühlsmäßigen Wertungen 17, Empörung und unartikuliertem Rechtsgefühl 18 getroffen habe, wo die Betrachtung des Persönlichkeitsschutzes unter einem nüchternen, wirtschaftlichen Aspekt not getan hätte.19 In der Bewertung der Caroline-von-Monaco-Entscheidungen des BGH herrscht im Schrifttum damit weitgehend Uneinigkeit. Das Anliegen der folgenden Untersuchung ist es, die Rechtsprechung des BGH zum Schutz der Persönlichkeit vor unbefugter Vermarktung durch die Medien in die Weitungen und das System des geltenden Rechts einzufügen. Nach einem Blick auf die bisher hauptsächlich diskutierten Schadensersatz- und bereicherungsrechtlichen Lösungswege soll als neu9 Heldrich a. a. O. (Fn. 8) S. 324; Seitz, NJW 1996, S. 2849; Siemes, AfP 1997, 542; Westermann, Geldentschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen - Aufweichung der Dogmatik des Schadensrechts?, in: Koller, Hager u. a. (Hsg.), Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken (1998), S. 145,147. 10 Heldrich, a. a. O. (Fn. 8), S. 327 ff. 11 Canaris, Festschrift für Deutsch, 1999, S. 85, 108: „Keine geglückte Rechtsfortbildung". 12 Seitz, NJW 1996, 2848: „Ein Zivilsenat des BGH schöpft Strafrecht"; Canaris, a. a. O. (Fn. 11) S. 107: „Funktion eines Ersatzesfiir Strafe" . 13 Canaris, a. a. O. (Fn. 11), S. 105 ff.; Seitz, NJW 1996, 2849; Westermann, a. a. O. (Fußn. 9), S. 125, 137 ff., 140 ff. 14 Ehmann, L M § 823 (Ah) BGB Nr. 119, Bl. 866; dersjuS 1997, 203: „Es ist nicht ganz unbedenklich, den prominenten Angehörigen des Jet-Sets solche Summen für solche Art von Verletzungen zuzubilligen und einem armen Kerl, der durch eine schuldhafte Verletzung einen Arm oder einen Fuß verloren hat, nur einen Bruchteil davon zuzubilligen; Gounalakis, AfP 1998, 18; zu „Soraya und die Schmerzensgeldrechtsprechung des BVerfG" bereits ähnlich Knieper, ZRP 1974,137. 15 Vgl. dazu etwa Stürner, AfP 1998, 3 f.; ähnlich Westermann a. a. O. (Fn. 9) S. 137; vgl. auch BGH JZ 1976, 559 (560), wo von Sühnung „in symbolhafter Weise" die Rede ist. 16 Helle, RabelsZ 60 (1996), 449, 450. 17 Heldrich a. a. O. (Fn. 8) S. 324 Fn. 22. 18 Gounalakis, AfP 1998, S. 10. ee a ( ) 4 .

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er Ansatz an die bei Eingriffen in gewerbliche Schutzrechte entwickelten Grundsätze angeknüpft werden. Walter Leisner hat in seinem Beitrag in der Festschrift für seinen Erlanger Fakultätskollegen Heinrich Hubmann das Persönlichkeitsrecht in das Zentrum der persönlichen Freiheit gestellt20. Er hat dabei Gedanken entwickelt, auf die bei der hier vorgeschlagenen Lösung der aktuellen Problematik zurückgegriffen werden kann. Der nachfolgende Beitrag darf daher auf das Interesse des Jubilars hoffen.

II. Kritik am schadensersatzrechtlichen Lösungsweg des BGH Der „Geldentschädigungsanspruch" bei „Zwangskommerzialisierung" der Persönlichkeit durch die Medien ist nach dem Verständnis des BGH deliktsrechtlicher Natur, der Lösungsweg des BGH daher als schadensersatzrechtlich einzuordnen (§§ 823 Abs. 1 in Verb, mit §§ 249 ff., 251 Abs. 1 BGB). Dabei soll es sich bei dem Anspruch nicht „im eigentlichen Sinn um ein Schmerzensgeld nach § 847 BGB" handeln21, sondern um einen eigenständigen Entschädigungsanspruch22. Auch an der Interessenabwägung und dem Vorliegen eines schwerwiegenden Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht hält der BGH fest. 23 Wirklich neu 24 ist nur, daß eine andere Gewichtung bei der Entschädigungsbemessung zu treffen ist. Ausgehend vom Ausgleichs- und Genugtuungsgedanken des Schmerzensgeldes hatte die Rechtsprechung schon frühzeitig betont, daß für Persönlichkeitsrechtsverletzungen die Herstellung des Rechtsfriedens und die Sühne des schweren Rechtsbruchs im Vordergrund stehen. Nunmehr soll der Geldentschädigungsanspruch zum wirksamen Schutz der Persönlichkeit mit „echter Hemmungswirkung" ausgestattet werden. Daher ist in die Geldbemessung auch das Gewinnstreben des unerlaubt Eingreifenden miteinzubeziehen. Das bedeutet der Sache nach eine Anreicherung dieses Anspruchs mit generalpräventiven Erwägungen. Die Höhe der Geldentschädigung soll andere Presse- und Medienunternehmen davor abschrecken, die fremde Persönlichkeit unbefugt zu vermarkten, die Diktion des BGH aufgreifend, „zwangsweise zu kommerzialisieren". 20 Leisner, Von der persönlichen Freiheit zum Persönlichkeitsrecht, in: Festschrift für Hubmann, 1985, S. 295. 21 So aber Deutsch, Unerlaubte Handlungen, Schadensersatz und Schmerzensgeld, 3. Aufl. 1995, Rn. 205, 488; ferner auch BGHZ 26, 349 [358] (Herrenreiter). Auch das BAG spricht bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch die Presse „Schmerzensgeld" zu; vgl. BAG BB 1999, 1119 - „Die faulste Mitarbeiterin Deutschlands". 22 Vgl. BGHZ 128, 1 [15], dort findet sich auch das Zitat zu oben Fn. 21; ferner Steffen, NJW 1997, 10; Soehring, NJW 1997, 372, Fn. 244; Prinz, NJW 1995, 820: „das bisher sogenannte »Schmerzensgeld4 (!)". 2 3 BGHZ 128, 1 (12) = NJW 1995, 861 (864) (Caroline von Monaco I). 24

Bestr; vgl. Rosengarten, NJW 1996, 1935 ff.; Prinz, NJW 1996, 954; vorsichtiger: Gounalakis, AfP 1998, 14 f.

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Gerade an dem schadensersatzrechtlichen Lösungsweg wird in der Literatur heftige Kritik geübt. „Wer sich um die Zivilrechtsdogmatik kümmert, ist schockiert", stellt Seitz 25 bezüglich der Präventionsaufgabe des Entschädigungsanspruchs fest. Daß originär der Kriminalstrafe vorbehaltene Zwecke in die Bemessung eines zivilrechtlichen Anspruchs einfließen sollen, wird als Rückschritt zur gemeinrechtlichen Privatstrafe empfunden 26, der dogmatisch kaum zu begründen sei. 27 Selbst wenn sich aus der Soraya-Entscheidung des BVerfG 28 oder dem § 611a BGB etwas anderes folgern ließe 29 , sind sich die Gerichte doch sonst einig, daß Strafvorschriften dem Zivilrecht nicht eignen.30 Die Berücksichtigung der Gewinnerzielungsabsicht des Verletzers bei der Bemessung der Geldentschädigung verwische die Grenze zwischen Delikts- und Kondiktionsrecht 31, führe insbesondere aber zu einem eklatanten Wertungswiderspruch mit dem „herkömmlichen" Schmerzensgeld: bei dessen Berechnung spielt ein pönales Element keine Rolle; für eine schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzung wird der Höhe nach dasselbe oder gar mehr zugesprochen als für eine Vergewaltigung 32, obwohl damit doch eine besonders krasse Mißachtung der fremden Persönlichkeit verbunden ist. 33 Kritisiert wird auch, daß sich ein auf generalpräventive Wirkung abzielender Entschädigungsanspruch den amerikanischen punitive damages annähere.34 In

25

Seitz , NJW 1996, 2850; grundsätzlich zu den Grenzen der Präventionsfunktion in Auseinandersetzung mit BGHZ 128, 1 Canaris, a. a. O. (Fn. 11), S. 105 ff. 26 Seitz, NJW 1996, 2850; Westermann a. a. O. (Fn. 9) S. 137: „ [ . . . ] die Unterscheidung zwischen privatem Geldersatzanspruch und Strafe [ist] manchmal nur mehr ein Lippenbekenntnis."; anders Steffen, NJW 1997, 13: „ [ . . . ] Sanktion, die trotz ihrer Nähe zur Privatstrafe (!) keine Strafe ist (?)."; Kern, AcP 91 (1991), 261, 268, 272 vertritt die Ansicht, daß der Genugtuungsgedanke des Schmerzensgeldes identisch sei mit Privatstrafe: „Genugtuung als Synonym für Privatstrafe" (S. 268). 27 Soehring, NJW 1997, 372. 28 BVerfGE 34, 269 (293) = NJW 1973, 1221 (Soraya): „mögen ihm [dem Schmerzensgeld] auch »pönale Elemente* nicht fremd sein". 29 Rosengarten, NJW 1996, 1935 ff.; Prinz, NJW 1996, 954; Kern, AcP 91 (1991), 261 vertritt sogar die These, § 847 BGB stelle eine Ausnahme der Regel dar, das Zivilrecht solle keine Strafzwecke verfolgen. 30 BGHZ 118, 338ff.; 128, 117ff.; vgl. auch Motive, Bd. 2 (1888), S. 17f.: „Die Hereinziehung moralisierender oder strafrechtlicher Gesichtspunkte [ . . . ] , muß bei der Bestimmung der civilrechtlichen Folgen unerlaubten, widerrechtlichen Verhaltens durchaus fern gehalten werden." 31 Heldrich a. a. O. (Fn. 8) S. 324; Seitz, NJW 1996,2849; Siemes, AfP 1997, 542. 32 Gounalakis, AfP 1998, 16f.; Seitz, NJW 1996, 2849; Westermann a. a. O. (Fn. 9) S. 148; alle mit Hinweis auf die stark kritisierte Entscheidung des AG Radolfzell NJW 1996, 2874 f. 33 Der BGH setzt sich dem Verdacht aus, die Integrität von Leib und Leben zu sichern, sei kein verfassungsrechtlicher Schutzauftrag; das Gegenteil trifft zu, vgl. Canaris, a. a. O. (Fn. 11), S. 100 f. Aus § 847 BGB folgt jedenfalls nicht, daß das Schmerzensgeld nicht mit „echter Hemmungswirkung" ausgestattet sein dürfe. Ebenso Kern, AcP 91 (1991), 261.

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seinem Urteil vom 4. 6. 199235 aber hatte der IX. Zivilsenat die Vollstreckung aus einem US-amerikanischen Urteil, das auf punitive damages gerichtet war, wegen Verstoßes gegen den deutschen ordre public für unzulässig erklärt. Dabei irritiert nicht so sehr der offene Widerspruch zwischen den beiden Entscheidungen des BGH, sondern vielmehr die Beliebigkeit, mit der das Argument der „Abschrekkung" bzw. „Bestrafung" des Schädigers einmal für, einmal gegen einen Anspruch ins Feld geführt wird. 36 Die an der Rechtsprechung des BGH geübte Kritik erscheint berechtigt. Soll die Geldentschädigung des Verletzten nicht so sehr seine erlittene Einbuße ausgleichen, vielmehr den Verletzer abschrecken und „fühlbar" treffen und sich dabei auch am Verletzergewinn orientieren, ist ein „schadensersatzrechtliche" Lösung schwerlich der richtige Weg.

I I I . Bereicherungsrechtlicher Lösungsweg Das Schrifttum begnügt sich nicht damit, den vom VI. Senat gewiesenen Weg zu kritisieren, sondern deutet andere, systemkonforme Lösungswege an. Viele Autoren halten die Eingriffskondiktion für den besseren37 bzw. ehrlicheren 38 Rechtsbehelf. Nach inzwischen überwiegender Ansicht sind die Voraussetzungen für eine Eingriffskondiktion der Sache nach gegeben, sofern man dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (endlich) auch einen vermögensrechtlichen Zuweisungsgehalt beimißt 39 , 34 Gounalakis, AfP 1998, S. 17 f.; Seitz, NJW 1996, 2849; Heldrich a. a. O. (Fn. 8) S. 324, Fn. 23; Canaris, a. a. O. (Fn. 11), S. 106 ff. 35 BGHZ 118, 312 (334) = NJW 1992, 3096 {punitive damages). Durch Art. 40 III Nr. 2 EGBGB i.d.F. des IPR-Gesetzes vom 21. 5. 1999 (BGBl. I, S. 1026) wird nunmehr die Geltendmachung von punitive damages im Inland grundsätzlich ausgeschlossen; vgl. die Begründung in BT-Drucks. 14/343, S. 12 zu Abs. 3. 36 Der IX. Senat zählt vier Hauptzwecke der punitive damages auf: (1) Bestrafung des Täters, (2) Generalprävention, (3) Belohnung des Geschädigten und (4) Ergänzung einer unzureichend empfundenen Schadensbeseitigung. In der Caroline /-Entscheidung greift der VI. Senat mindestens auf die Zwecke (1), (2) und (4) zurück: zu (1) Geldentschädigung als „Sanktion" und „Gegenstück" (ius talionis!) dazu, „daß hier Persönlichkeitsrechte zur Gewinnerzielung verletzt worden sind" (BGHZ 128, 15, 16); zu (2) „Außerdem soll der Rechtsbehelf der Prävention dienen" (a. a. O., S. 15); zu (4) Widerruf und Richtigstellung (= Schadensbeseitigung) gleichen die Beeinträchtigung nicht „befriedigend" (a. a. O., S. 12) aus. Kern, AcP 91 (1991) 252 weist nach, daß der Genugtuungsbegriff des BGH schon immer die Zwecke (l)-(3) mitumfaßte. 37 Grundlegend nunmehr Canaris, a. a. O. (Fn. 11) S. 87 ff. 38 Seitz, NJW 1996, 2850; ferner für eine Eingriffskondiktion: Ehmann, AfP 1995, 654; JuS 1997, 203; Gotting, Persönlichkeitsrechte als Vermögensrechte, 1995, S. 54 ff., 137 ff.; Taupitz, in: Schutz der Persönlichkeit a. a. O. (Fn. 7) S. 75 ff.; Weyers dort S. 87 f.; K. Schmidt dort S. 79 f.; zurückhaltender: Stoll dort S. 82. 39 Canaris, a. a. O. (Fn. 11), S. 87 ff.; Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1983, S. 266; Koppensteiner/Kramer, Ungerechtfertigte Bereicherung, 2. Auflage 1988, S. 70ff.; Helle, RabelsZ 60 (1996), 464 f.; Westermann a. a. O. (Fn. 8) S. 144.

Schutz der Persönlichkeit vor Vermarktung durch die Medien

was eine Aufgabe der überkommenen Herrenreiter-Rechtsprechung würde. 40

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bedeuten

1. Vermögensrechtlicher Zuweisungsgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Die Frage, ob das allgemeine Persönlichkeitsrecht und seine speziellen Ausprägungen einen solchen Zuweisungsgehalt aufweisen, wird gegenwärtig leidenschaftlich diskutiert und wohl mehrheitlich bejaht. Gotting 41 und Helle 42 haben nachdrücklich darauf hingewiesen, daß es längst geübter Praxis entspricht, Persönlichkeitsrechte jeder Art wirtschaftlich zu nutzen bzw. anderen zur Nutzung zu überlassen. Der Einwand, daß der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht etwas qualitativ anderes als die Verletzung eines Immaterialgüterrechts sei 43 , ist Ausdruck einer idealisierenden Betrachtung des Persönlichkeitsrechts als eines rein immateriellen Guts.Tatsächlich aber steht etwa das Recht am Bild als spezielle Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts seit jeher den Immaterialgüterrechten gleich. 44 Für die übrigen persönlichkeitsspezifischen Entfaltungen darf aber dann nichts anderes gelten, wenn sie am Markt gehandelt werden, geldwerte Vorteile einbringen können und die Rechtsordnung dies billigt. Gerade daß die Medien bereit sind, für ein „Exclusivinterview" hohe Summen zu entrichten, macht deutlich, daß auch das Recht am eigenen (gesprochenen) Wort mehr darstellt als „nur" eine grundrechtlich verbürgte Äußerung der Persönlichkeit, sondern eben auch eine wirtschaftlich bedeutende „ Veräußerung" der Persönlichkeit. 45 Der Jubilar hat diese Erkenntnis schon frühzeitig geäußert: „Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht muß auch in seinen wirtschaftlichen Grundlagen und Ausstrahlungen voll geschützt werden und es muß als solches ein zugleich wirtschaftlich bedeutsamer Wert bleiben, soweit dies irgendwie vertretbar ist. Allgemeines Persönlichkeitsrecht als außerökonomisches Grundrecht - das ist ein Programm eines Idealismus, der alles Materielle verachtet." 46 Es ist widersprüchlich, einerseits entgeltliche Verträge über das Recht am (gesprochenen) Wort (nichts anderes ist ein „Exclusivinterview") als wirksam zu behandeln, gegenüber einer eigenmächtigen 40 Seitz, NJW 1996, 2850; Helle, RabelsZ 60 (1996), 465. Gotting a. a. O. (Fn. 38) S. 49 ff., S. 134 ff. 42 Helle, RabelsZ 60 (1996), 448 ff., 459ff.: „Personen-Merchandising' als Alltagserfahrung"; vgl. auch Mangold, Personenmerchandising, Der Schutz der Person im Recht der USA und Deutschlands, 1994. 43 Steffen, NJW 1997, 13. 44 Vgl. nur BGHZ 20, 345 = NJW 1956, 1554 (Paul Dahlke ); Staudinger/Wittmann (1994) § 687 Rn. 21. 45 „Das Bedenken der Reduzierung von Persönlichkeitsrechten auf eine Handelsware', das hinter der Ablehnung eines Zuweisungsgehalts bei Eingriffen der Presse steht, kann nicht mehr gelten": Siemes, AfP 1997, 542. 46 Leisner a. a. O. (Fn. 20) S. 304 f. (Hervorhebung im Original).

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Verschaffung eben dieser (angeblichen) „Leistung" jedoch den vermögensrechtlichen Schutz zu versagen. Damit wird nicht der Schutz der Persönlichkeit vor Kommerzialisierung gefördert, er wird insofern vielmehr lückenhaft und unzureichend.47

2. Die Herrenreiter-Doktrin

(BGHZ26, 349 = NJW1958, 827)

verneint der BGH bereicherungsSeit der berühmten Herrenreiter-Entscheidung rechtliche Ansprüche aus Eingriffen in die Persönlichkeitssphäre dann, wenn der Rechtsinhaber seine Person unter keinen Umständen einer Vermarktung aussetzen will, weil der Rechtsinhaber dann keine „vermögensrechtliche Benachteiligung (!)" erfahren könne. 48 Hatte der BGH in der zwei Jahre zuvor ergangenen PaulDö/i/fce-Entscheidung 49 das Berufungsgericht noch darauf hingewiesen, daß „der Bereicherungsanspruch [ . . . ] nicht eine Vermögensminderung im Vermögen des Benachteiligten (!), sondern einen grundlosen Vermögenszuwachs im Vermögen des Bereicherten ausgleichen" solle, wird im „Herrenreiter" die Eingriffskondiktion lapidar wegen Fehlens einer „vermögensrechtlichen Benachteiligung (!)" des Berechtigten versagt. Diese völlig verfehlte Auffassung des Bereicherungsrechts wird der BGH wohl kaum erneuern wollen 50 . Auch unter dem Gesichtspunkt des Verbots widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium) kann die Herrenreiter-Entscheidung des BGH nicht überzeugen. Wer ein fremdes Persönlichkeitsrecht im eigenen Interesse zwangskommerzialisiert, kann sich nicht darauf berufen, der Verletzte wäre zu einer freiwilligen Kommerzialisierung nicht bereit oder in der Lage gewesen.51

3. Problem: Anspruchsinhalt Die Eingriffskondiktiön ist - mit Ausnahme des umstrittenen Sonderfalls des §816 BGB - auf Wertersatz gerichtet (§§812 Abs. 1 Satz 1,818 Abs. 2 BGB), nicht aber auf Gewinnherausgabe.52 Herauszugeben ist somit das, was der Berei47

Auch Gotting a. a. O. (Fn. 38) S. 82 bemängelt, daß die Rechtsprechung „lediglich (!) einen Anspruch auf Schmerzensgeld [sie!]" zuspricht. 48 BGHZ 26, 349 [353 f]; diese Entscheidung ist insoweit keineswegs überholt; vgl. Steffen, NJW 1997, 10, 13. 4 9 BGHZ 20, 345 [355] = NJW 1956, 1554 (Paul Dahlke). 50 Ebenso Canaris, a. a. O. (Fn. 11), S. 90: „unzutreffend", „längst überwundene Sichtweise". 51 Gotting a. a. O. (Fn. 36) S. 53 ff. m.w.N; im Erg. auch Canaris, a. a. O. (Fn. 11), S. 90. 52 Canaris glaubt über die Kette der §§ 819 I, 818 IV, 281 BGB zu einer bereicherungsrechtlichen Gewinnabschöpfung gelangen zu können; die Schwierigkeiten bei der Anwendung des § 281 BGB auf die Eingriffskondiktion sind unverkennbar; vgl. Canaris, a. a. O. (Fn. 11), S. 91 ff. Eine nähere Auseinandersetzung erübrigt sich im Hinblick auf den hier ver-

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cherte durch seinen Eingriff erspart hat und das dürfte allenfalls das übliche Veröffentlichungshonorar, eben die nach der Lizenzanalogie ermittelte fiktive Lizenzgebühr darstellen. 53 Damit wäre der Verletzer aber so gestellt, als ob ihm die Veröffentlichung gestattet worden wäre. Das würde zu dem mißlichen Ergebnis führen, daß Medienunternehmen zunächst „auf gut Glück" Interviews erfinden und nicht autorisierte Bilder veröffentlichen würden, weil sie bestenfalls umsonst, im schlimmsten Fall aber mit der ohnehin aufzuwendenden Lizenzgebühr davonkommen würden. Auch gegen den Willen des Rechtsinhabers könnte man sich auf diesem Weg ohne Mehrkosten eine eigene Lizenz schaffen. Auch der bereicherungsrechtliche Lösungsweg vermag daher auch bei einer höher als die Geldentschädigung zu veranschlagenden Lizenzgebühr einen lückenlosen Rechtsschutz der Persönlichkeit nicht zu gewährleisten.

IV. „Eingriffsrechtlicher" Lösungsweg (§ 687 Abs. 2 BGB) Als wirksames Instrument zur Schließung von Lücken im Persönlichkeitsrechtsschutz vor unbefugter Zwangskommerzialisierung kommt freilich ein ergänzender Gewinnherausgabeanspruch gem. § 687 Abs. 2 BGB in Frage. Auch der BGH hat in der /^«/-Da/i/fo-Entscheidung die Rechtsprechung über den Eingriff in Immaterialgüterrechte auf die Verletzung persönlichkeitsrechtlicher Befugnisse ausgedehnt, soweit deren Nutzung üblicherweise gegen Entgelt gestattet werde 54. In der Literatur 55 wird dafür plädiert, diese Überlegungen aufzugreifen und den Persönlichkeitsschutz über die Vorschriften der angemaßten Eigengeschäftsführung auch unter Einbeziehung der dreifachen Schadensberechnung zu erweitern.

tretenen „eingriffsrechtlichen" Lösungsweg (unten IV), zumal Canaris genötigt ist, laufend Anleihen bei der Lösung über § 687 II BGB usw. zu machen; vgl. a. a. O. S. 92, 95, 97, 98, 109. 53 Siemes , AfP 1997, 543; K. Schmidt, in: Schutz der Persönlichkeit a. a. O. (Fn. 6) S. 80: „das schlimmste, was für den Schädiger dabei herauskommen kann, ist in der Tat die Lizenzgebühr"; Westermann a. a. O. (Fn. 8) S. 145 f.: „Am Ende könnte die Schadensberechnung auf der Grundlage der Lizenzanalogie den Verletzer, der bei dieser Lösung praktisch besser steht als deijenige, der sich nach Vertragsverhandlungen mit dem Rechtsinhaber auf einen Lizenzvertrag geeinigt hat, keineswegs davon abhalten, zunächst den unerlaubten Eingriff zu riskieren." Ebenso Assmann, BB 1985, 15, 17 f., der die fiktive Lizenzgebühr allgemein als „Selbstbedienungsverfahren" bezeichnet. 54 BGHZ 20, 345 [353,355]. 55 von Caemmerer, Der privatrechtliche Persönlichkeitsschutz nach Deutschem Recht, in: Festschrift für Fritz von Hippel, 1967, S. 27, 40; Schlechtriem JZ 1995, 364; zumindest angedeutet bei Schwerdtner, in: Schutz der Persönlichkeit a. a. O. (Fn. 7) S. 105 f.; Taupitz dort S. 75; Seitz, NJW 1996, 2849; Siemes, AfP 1997, 542f.; ablehnend dagegen: Canaris, a. a. O. (Fn. 11), S. 86, 95; Westermann a. a. O. (Fn. 9) S. 144; Gounalakis, AfP 1998, 18 f.; Prinz, NJW 1996, 955 Fn. 59.

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1. Führen eines fremden Geschäfts - Eingriff in den vermögensrechtlichen Zuweisungsgehalt des Persönlichkeitsrechts Es ist bezweifelt worden, daß etwa die Veröffentlichung eines erfundenen Interviews als ein angemaßtes Geschäft der angeblich interviewten Person betrachtet werden kann. 56 Diese Ansicht kann nicht überzeugen, sie ist auch keineswegs zwingend. Denn selbstverständlich gehört die Entscheidung, ein Interview zu geben und dieses entgeltlich veröffentlichen zu lassen, allein in den Geschäftsführungsbereich der (angeblich) interviewten Person. 57 Es kann doch für den Persönlichkeitsschutz keinen Unterschied machen, ob ein Medienunternehmen ein tatsächlich mit einem Prominenten geführtes Gespräch zur Auflagensteigerung abredewidrig publiziert oder kurzerhand zum selben Zweck erfindet und veröffentlicht. Daß der Tatbestand des § 687 Abs. 2 BGB erfüllt ist, entscheidet sich allein danach, ob widerrechtlich in ein fremdes Vermögensrecht oder in den etwaigen Zuweisungsgehalt des Persönlichkeitsrechts eines andern eingegriffen wurde. 58 Gesteht man dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aber im Rahmen des Bereicherungsrechts einen marktfähigen Zuweisungsgehalt zu (vgl. oben III), so kann für die angemaßte Geschäftsführung nichts anderes gelten. 59 Das im Rahmen eines Interviews gesprochene Wort stellt eine Vermögenswerte Abspaltung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar. Die Medienkonzerne würden sich in Widerspruch zu ihrem eigenen Verhalten setzen, wenn sie sich einerseits ein Exclusivinterview viel Geld kosten lassen60, andererseits aber den wirtschaftlichen Zuweisungsgehalt dieser Persönlichkeitsäußerung bestreiten wollten. Wird das gesprochene Wort ohne Einverständnis des Äußernden veröffentlicht oder gar erfunden, um den Absatz der Publikation und damit den Unternehmensgewinn zu erhöhen, so wird widerrechtlich und schuldhaft ein fremdes Geschäft besorgt.

2. Nutzungswille des Rechtsinhabers (Herrenreiter-Doktrin) Auch im Rahmen „eingriffsrechtlicher" Ansprüche soll nach der HerrenreiterRechtsprechung dann ein Anspruch ausscheiden, wenn der Verletzte niemals in die Vermarktung seines Persönlichkeitsrechts eingewilligt hätte. Die Berücksichtigung 56 Canaris, a. a. O. (Fn. 11), S. 86, 95; Westermann a. a. O. (Fn. 12) S. 144. 57 So bereits der BGH in BGHZ 81, 75 (79) (Rennsportgemeinschaft)\ 98, 94 (98) (BMW), wo er bezüglich des Namensgebrauchs ein Recht auf „geistige und wirtschaftliche Selbstbestimmung" im allgemeinen Persönlichkeitsrecht verankert; dazu Helle, RabelsZ 60 (1996), 463; ebenso OLG Hamburg AfP 1997, 538 (541). 58 Staudinger/Wittmann, 12. Auflage (1994), § 687 Rn. 5. 59 Anders anscheinend Münchener Kommentar/Seiler, 3. Auflage (1997), § 687 Rn. 16, wo es heißt: „Beeinträchtigungen fremder Persönlichkeitsrechte sind vorwiegend (!) allein (?) durch Kondiktions- und Deliktsrecht auszugleichen." 60 Vgl. nur Prinz, NJW 1996, 956: angeblich 250.000,- DM für ein Exclusivinterview mit Dr. Jürgen Schneider.

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eines derartigen Willens des Verletzten stellt einen Fremdkörper in der Systematik der unbefugten Geschäftsführung ohne Auftrag und der Rechtsprechung zur schuldhaften Verletzung gewerblicher Schutzrechte dar. 61 Ein Anspruch aus § 687 Abs. 2 BGB scheitelt auch sonst nicht daran, daß etwa der Eigentümer einer Sache niemals vorhatte, diese zu verkaufen, wenn diese unbefugt vom Eingreifenden veräußert wird. Auch daß der Urheber eines künstlerischen Werks eine Veröffentlichung desselben (aus bestimmten Gründen) kategorisch abgelehnt hat 62 , hindert ihn nicht, Gewinnherausgabe oder Schadensersatz zu verlangen, wenn das Werk unter Verletzung seines Urheberrechts dennoch publiziert wurde. 63 Der BGH meinte einen vermögensrechtlichen Anspruch deshalb ausschließen zu müssen, weil man ansonsten dem Geschädigten unterstellen müßte, daß er sich für viel Geld doch freiwillig in die unwürdige Lage der Kommerzialisierung seiner Person gebracht hätte. Diese Unterstellung müßte der Verletzte als kränkend und als erneute Persönlichkeitsrechtsverletzung empfinden. Es ist schon fragwürdig, ob diese „Unterstellung" überhaupt stattfindet und dann, ob sie tatsächlich eine erneute Persönlichkeitsverletzung darstellen würde. Diese Überlegung resultiert offensichtlich aus der vom BGH entwickelten Fiktion eines Lizenzvertrages. 64 Tatsächlich aber willigt der Geschädigte nicht in seine Vermarktung ein, wenn er die übliche Lizenzgebühr verlangt; mit der geänderten Anspruchsgrundlage gem. § 687 Abs. 2 BGB ist dies vollends gegenstandslos. Hat der Verletzte bei Zwangskommerzialisierung seiner Persönlichkeit einen Anspruch auf Herausgabe des Verletzergewinns, stellt sich die Frage, ob es (unter - keinen - Umständen) zu einer freiwilligen Kommerzialisierung gekommen wäre, überhaupt nicht mehr.

3. Gewinnherausgabe mit Auskunftsansprüchen und Möglichkeit der dreifachen Schadensberechnung Sieht man in der unbefugten Vermarktung einer andern Persönlichkeit richtigerweise eine angemaßte Eigengeschäftsführung, so steht dem „Geschäftsherrn" die gewohnheitsrechtlich anerkannte65 dreifache Berechnungsmethode zur Seite.66 Der Verletzte kann Gewinnherausgabe gemäß §§ 687 Abs. 2 Satz 1, 681 Satz 2, 61

Ebenso Canaris a. a. O. (Fn. 11) zur Bereicherungshaftung. Man stelle sich nur vor, Max Brod hätte den „Nachlaß" Franz Kafkas abredewidrig bereits zu dessen Lebzeiten veröffentlicht, anstatt ihn zu vernichten. Auch ohne konkreten Nutzungswillen hätten die Tantiemen allein dem Autor gebührt. 63 Auch in BGHZ 20, 345 = NJW 1956, 1554 (Paul Dahlke) stellt der BGH allein darauf ab, ob die Veröffentlichung üblicherweise nur gegen Entgelt gestattet wird. Erst in BGHZ 26, 349 = NJW 1958, 827 (Herrenreiter) wird daraus das Erfordernis, nur derjenige, der solche Veröffentlichungen üblicherweise gestatte, könne ein Entgelt verlangen (!?). 64 Dazu kritisch Gotting a. a. O. (Fn. 38) S. 55; Canaris, a. a. O. (Fn. 11), S. 89 f. 65 BGHZ 20, 345 = NJW 1956, 1554 (Paul Dahlke). 66 Staudinger/Wittmann, 12. Auflage 1994, § 687 Rn. 21 ff.; Münchener Kommentar / Seiler, 3. Auflage 1997, § 687 Rn. 22 ff. 62

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667 BGB verlangen oder aber im Wege der Lizenzanalogie die übliche und angemessene Veröffentlichungsgebühr verlangen. Er kann seinen Schaden aber auch konkret als entgangenen Gewinn gemäß § 252 BGB berechnen. Zur Durchsetzung der Gewinnherausgabe kann der Verletzte Auskunft und Rechenschaftslegung gemäß §§ 687 Abs. 2 Satz 1, 681 Satz 2, 666, 259 BGB begehren. In diesem Fall kann der Forderungsinhalt wertmäßig über der üblichen Lizenzvergütung liegen, die ihm - wie oben gezeigt - auch nach Bereicherungsrecht zusteht. 4. Problem: Beziffer-

und Beweisbarkeit der Ansprüche

Einer Gewinnabschöpfung wird entgegengehalten, daß es unmöglich sei, die wirtschaftliche Auswirkung eines Interviews, Bildes o.ä. auf den Absatz des gesamten Heftes oder gar des Jahresumsatzes des Medienkonzerns zu berechnen.67 Der Verletzte steht bereits bei der Bezifferung seines Klageantrags vor Schwierigkeiten und trägt grundsätzlich auch die Beweislast für die Höhe des konkret erzielten bzw. ihm entgangenen Gewinns. Allerdings hat der „Geschäftsherr" gemäß §§ 687 Abs. 2 Satz 1, 681 Satz 2, 666, 259 BGB einen Auskunftsanspruch gegen das Presseunternehmen (vgl. oben 3.). Er kann also zunächst im Wege der Stufenklage 68 Auskunft und Rechenschaftslegung verlangen, um danach seinen Antrag beziffern zu können. Natürlich wirft das die weitere Frage auf, wie zu verfahren ist, wenn der „Geschäftsführer" die Auskunft nicht erteilt, weil er keinen Einblick in seine Unternehmensbilanz gestatten will oder meint, die Auskunft sei nicht „unschwer" zu erteilen. 69 Diese tatsächlichen aus der Sphäre des Verletzers stammenden Schwierigkeiten der Berechen- und Beweisbarkeit des Herausgabeanspruchs dürfen jedenfalls nicht zu Lasten des Verletzten gehen. Hierbei können die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Beweisvereitelung herangezogen werden. 70 In analoger Anwendung der §§ 427, 444 ZPO gilt eine Beweiserleichterung derart, daß das auf Verschulden einer Partei beruhende Fehlen eines Beweismittels als Indiz für die zu beweisende Tatsache oder die Wahrscheinlichkeit ihres Vorhandenseins als Beweis genügt.71 Kommt der Eingreifende seiner Auskunftspflicht nicht nach, ist dem Verletzten zu raten, seinen Anspruch deutlich über der marktüblichen Lizenzgebühr zu beziffern; die Schadensermittlung durch das 67 Vgl. Westermann a. a. O. (Fn. 9), S. 145, 165; gegen ihn überzeugend Canaris a. a. O. (Fn. 11), S. 96 f. 68 Palandt/Heinrichs, 58. Auflage 1999, § 261 Rn. 28; Zöller/Greger, 21. Auflage 1999, § 254 Rn. 6. 69 Dazu Palandt/Heinrichs, 58. Auflage 1999, § 261 Rn. 13.

™ Thomas/Putzo, 21. Auflage 1998, § 286 Rn. 17 ff.; Zöller/Greger, § 286 Rn. 14, jeweils mit weiteren Nachweisen

21. Auflage 1999,

7 i Thomas/Putzo, 21. Auflage 1998, § 286 Rn. 18; Zöller/Greger, 21. Auflage 1999, § 286 Rn. 14; im Einzelfall für Beweislastumkehr: OLG Naumburg OLG-Report Brandenburg usw. 1999,179 m.w.N.

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Gericht folgt dann aus § 287 Abs. 1 ZPO. Es ist nun Sache des Gegners darzulegen und zu beweisen, daß tatsächlich ein niedrigerer Gewinn oder gar ein Verlust eingetreten ist. 5. Erhöhung der fiktiven Lizenzgebühr Alle diese Überlegungen versagen aber dann, wenn es dem Medienunternehmen tatsächlich gelingt, nachzuweisen, daß durch die unbefugte Vermarktung kein Gewinn erzielt wurde, etwa weil die betreffende Publikation schlecht ankam, bzw. durch den Rechtsbruch „kein Heft mehr verkauft" wurde. In diesem Fall bietet es sich an, im Rahmen der abstrakten Schadensberechnung die übliche (fiktive) Lizenzgebühr maßvoll zu erhöhen, wobei über die genaue Bemessung noch zu diskutieren wäre. 72 Als Grundlage für diese erhöhte Lizenzgebühr kann zum einen die anderweitig aufgestellte „Rentabilitätsvermutung" der Rechtsprechung73 nutzbar gemacht werden. Es handelt sich dabei zwar um eine Beweiserleichterung für die Frage der Ersatzfähigkeit nutzlos gewordener Aufwendungen, aber gerade im Rahmen einer abstrakten Schadensberechnung würde diese (widerlegbare) Vermutung Sinn ergeben. Zwar besteht keine allgemeine Vermutung, eine Beteiligung am Wirtschaftsverkehr werde sich rentieren 74; zu überlegen ist aber, ob die unbefugte Kommerzialisierung fremder Persönlichkeitsrechte die Präsumtion der Einträglichkeit für sich hat. Massenhaft verbreitete Publikationsmedien, die sogenannten „Bunten Blätter", bauen ihre Berichterstattung auf dem Lebenswandel und den Abbildungen der Prominenten und Stars auf. Durch die Vermarktung einer zugkräftigen Persönlichkeit auf dem Titelblatt erhofft man sich Marktvorteile und höhere Gewinnchancen.75 Es spricht also zumindest ein erster Anschein dafür, daß die Verletzung des fremden Persönlichkeitsrechts nicht um der Verletzung selbst willen, sondern allein deswegen begangen wurde, weil dieser Eingriff profitabel sein würde. Das Presseunternehmen verhielte sich widersprüchlich, würde es das Gegenteil behaupten. Nur der nicht eben leicht zu führende Nachweis, der Eingriff habe allein aus anderen Gründen 76 als denen der Ge72 Für eine Verdoppelung der üblichen Lizenzgebühr Assmann, BB 1985, 15 ff. sowie die Rechtsprechung im Fall der GEMA (BGH GRUR 1988, 296 (299) (GEMA-Vermutung IV); BGHZ 97, 37 (50 f.) {Filmmusik); 77, 16 (26 f.) (Tolbutamid )) und des unterlassenen Bildquellennachweises (OLG Düsseldorf, OLG-Report 1998, 389). Unpraktikabel und wohl auch ohne Bezug zu einer abstrakten Schadensberechnung ist die „Tagessatz"- Methode, die Prinz, NJW 1996, 956 f. vorgeschlagen hat. 73 BGHZ 136, 102 (104 f.) (Mietvertrag); BGHZ 114, 193 (Diskothek); zuletzt hierzu Messer/Schmitt, Zum Umfang der „Rentabilitätsvermutung" und zu vorvertraglichen und vordeliktischen Aufwendungen, in: Festschrift für Hagen (1999), S. 425 ff. 74 Messer/Schmitt a. a. O. (Fn. 73) S. 428. 75 Anschaulich BGHZ 128, 1 (9) = NJW 1995, 861 (863) (Caroline I): „Aushängeschild des Blattes, das die Aufmerksamkeit der Leser wecken [ . . . ] soll". 76 Hierbei ist natürlich vornehmlich an § 23 Abs. 1 KunstUrhG zu denken.

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winnmaximierung stattgefunden, vermag diese Vermutung zu widerlegen. Der BGH scheint selbst davon auszugehen, daß eine „Zwangskommerzialisierung" der Persönlichkeit durch die Publikationsmedien stets gewinnbringend sei, stellt er doch die Gewinnerwartung des Presseunternehmens in die Bemessung des Geldentschädigungsanspruchs mit ein, ohne das Vorliegen eines tatsächlichen Gewinns zu überprüfen. 77 Assmann78 hat vorgeschlagen, die fiktive Lizenzgebühr bei Eingriffen in Immaterialgüterrechte durch eine abstrakte, pauschalierende Schadensberechnung zu verdoppeln. Diese Überlegung ist ebenfalls geeignet auf die Vermarktung fremder Persönlichkeitsrechte erstreckt zu werden. Da es sich eben nicht um die Ermittlung eines konkret entstandenen Schadens handelt, sondern um dessen abstrakte Festsetzung, wobei dem Verletzten die Nachteile des Eingriffs abzunehmen sind, der Verletzer aber nicht besser zu stellen ist als ein rechtstreuer „Lizenznehmer". Im Rahmen einer solchen pauschalierenden Betrachtungsweise kann die Erwartung des Eingreifenden, die Vermarktung werde sich finanziell rechnen, als erhöhendes Kriterium berücksichtigt werden, unabhängig davon, ob ein konkreter Gewinn erzielt wurde oder nicht. Westermann 79 hält es zwar für unwahrscheinlich, Fälle wie den Caroline- case derart bewältigen zu können: seiner Ansicht nach gibt es keine übliche und zu vervielfältigende Lizenzgebühr für erfundene Interviews und Paparazzo-Fotos. Allerdings gibt es ein Veröffentlichungshonorar für nicht erfundene, tatsächlich gegebene Interviews und autorisierte Fotoaufnahmen. Die Ermittlung dieser Lizenzgebühr und einer abstrakten Gewinnmarge kann durchaus durch Einholung eines Sachverständigengutachtens im Rahmen des § 287 Abs. 1 ZPO ermöglicht werden, wie es im Bereich der gewerblichen Immaterialgüterrechte schon immer gehandhabt wurde. 80 Gegen die Zusprechung einer fiktiven Lizenzgebühr bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen wird nun allgemein ins Feld geführt, daß eine solche doch nur Prominente verlangen könnten, da allein diese einen sogenannten publicity value besäßen.81 Diese Argumentation ist in mehrfacher Hinsicht unzutreffend. Dadurch 77 BGHZ 128, 1 (16) = NJW 1995, 861 (865) (Caroline /); ebenso Canaris a. a. O. (Fn. 11) S. 107 f: „Denn eigentlich dürfte es gar nicht darauf ankommen, ob es (dem Verletzer) gelingt, einen solchen (Gewinn) zu erzielen ... Folgerichtig müßte vielmehr die bloße Absicht der Gewinnerzielung genügen" (Hervorhebung im Original). 78 Assmann, BB 1985, 15 ff. 79 Westermann a. a. O. (Fn. 9) S. 146. so Der restriktive Anwendungsbereich der GEMA-Rechtsprechung zur doppelten Lizenzgebühr (vgl. BGHZ 97, 37 (50 f.) (.Filmmusik); 77, 16 (26 f.) (Tolbutamid); OLG Düsseldorf OLG-Report 1998, 389, 388 f) steht dem nicht entgegen; anders als in den GEMA-Fällen dient die Lizenz-Erhöhung bei der Persönlichkeitsvermarktung nicht der Schaffung eines sonst nicht ersatzfähigen Schadens, sondern lediglich der erleichterten abstrakten Ermittlung der Höhe des - ohnehin der Herausgabepflicht unterliegenden - Verletzergewinns. 8i Steffen, NJW 1997, 14; Gounalakis, AfP 1998, 18 f.; Stoll, in: Schutz der Persönlichkeit a. a. O. (Fn. 7) S. 82; Schwerdtner, dort S. 106; Canaris, a. a. O. (Fn. 11) S. 108 spricht anschaulich von der Innehabung „einer gewinnträchtigen und daher ausbeutungsfähigen Position".

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daß ein Medienunternehmen die Persönlichkeit eines andern dazu nutzt, seinen Gewinn zu erhöhen, bringt es auch zum Ausdruck, daß es diesem einen vermögensrechtlichen Wert beimißt. Es wäre aber dann ein widersprüchliches Verhalten den Regreßforderungen des Verletzten entgegenzuhalten, er besäße ja gar keinen Marktwert („venire contra factum proprium"). Man hat sich aber auch damit abzufinden, daß der Name, das Wort und das Bild bestimmter Menschen mehr „wert" sind, als das anderer, seien diese auch genauso wert- und verdienstvolle Mitbürger. Mag man es auch als Ungerechtigkeit empfinden, daß Mitglieder des Hochadels, der Showbranche und des Leistungssports für jede noch so einfallslose Platitüde ein horrendes Veröffentlichungshonorar verlangen könnten, so ist dies doch nur Ausdruck einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaftsordnung, die jedem seine Persönlichkeitsentfaltung im Rahmen der Gesetze gestattet.82 Es spricht doch auch nicht gegen das System des Schadensersatzrechtes, daß für die Zerstörung eines Automobils der Luxusklasse ein höherer Geldersatz zu leisten ist, als für die Beschädigung eines wertlosen Gebrauchtwagens. Es handelt sich eben um den Ausgleich eines Vermögensschadens und nicht um den einer immateriellen Beeinträchtigung. Genausowenig wie ein Affektionsinteresse des Geschädigten zu berücksichtigen ist 8 3 , hat man sich beim vermögensrechtlichen Ausgleich von Persönlichkeitsrechtsverletzungen davor zu hüten, Überlegungen darüber anzustellen, wer die moralisch, ethisch oder sonstwie verdientere Person ist. Es geht allein darum festzustellen, daß der gute Namen etc. eines anderen zur Gewinnerzielung verwertet wurde. Diesen Gewinn durfte aber allein die berechtigte Person erzielen, denn es ist ihre Sache zu bestimmen, wann, wie und ob sie sich selbst vermarktet oder vermarkten läßt. 84 Weiterhin ist anzumerken, daß der jeweilige „Marktwert" einer Person von den stets wandelbaren und unvorhersehbaren Umständen des Publikumsgeschmacks, der Mode und des Zeitgeistes abhängt. Die unscheinbare „Praktikantin" von nebenan, deren Interview niemand entlohnen, geschweige denn veröffentlichen wollte, kann als „Geliebte" schlagartig zum umworbenen Medienstar werden, deren „Rechte" sich die Presse, koste es was, es wolle, sichern will.

V. Schlußbemerkung Wer die Persönlichkeit eines anderen unbefugt vermarktet, zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil kommerzialisiert, hat den tatsächlich erzielten Gewinn herauszugeben oder aber eine um die Rentabilitätsvermutung erhöhte Lizenzgebühr zu entrichten. Die hier entwickelte „eingriffsrechtliche" Lösung bietet gegenüber der 82

Ähnlich Westermann a. a. O. (Fn. 9) S. 148 mit der Warnung vor „Sozialneid". 83 Palandt/Heinrichs, 58. Auflage 1999, § 251 Rn. 11. 84 BGHZ 81, 75 (79) (Rennsportgemeinschaft) ; 98, 94 (98) (BMW); OLG Hamburg AfP 1997, 538 (541); Helle, RabelsZ 60 (1996), 463; Siemes, AfP 1997, 542. 40*

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deliktisch-schadensersatzrechtlichen des BGH erhebliche Vorteile: Das Ärgernis des Mißverhältnisses von hoher Geldentschädigung für Prominente bei Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts und kargen Schmerzensgeldern für Normalbürger bei Körper- und Gesundheitsverletzungen ist beseitigt, der Vorwurf der „Klassenjustiz" zumindest entschärft. Zu einem Vergleich unterschiedlicher „immaterieller Schäden" von verschiedenen Geschädigtengruppen kommt es in den Fällen der „Zwangskommerzialisierung" nicht (mehr): Die Ansprüche auf Gewinnabschöpfung und Zahlung einer erhöhten Lizenzgebühr sind rein vermögensrechtlicher Natur. Sie basieren darauf, dass sich der Verletzer mit der „Vermarktung" der Persönlichkeit die unterschiedliche Wertschätzung der verschiedenen Persönlichkeiten „auf dem Markt" eigenmächtig in seinem eigenen wirtschaftlichen Interesse zunutze macht. Die Ansprüche auf Abschöpfung des Verletzergewinns, auf Erteilung von vorbereitenden Auskünften und auf Zahlung einer erhöhten Lizenzgebühr sichern einen effektiven Schutz der Persönlichkeit gegenüber der Zwangskommerzialisierung durch die Presse. Ist der Verletztergewinn nicht „herausgabefest", entfällt der Anreiz zur unbefugten Persönlichkeitsvermarktung. Der Präventionsgedanke kehrt auf seinen angestammten Platz im Delikts- und Ausgleichsrecht zurück, das Gespenst der punitive damages im deutschen Recht ist gebannt. Voraussetzung der hier entwickelten Lösung ist die vom Jubilar seit langem angemahnte wirtschaftliche Betrachtungsweise des Persönlichkeitsrechts. Es bestätigt sich: Durch den „vollen Schutz des Allgemeinen Pesönlichkeitsrechts auch in seinen wirtschaftlichen Grundlagen und Ausstrahlungen" nimmt die Entfaltung der Persönlichkeit keinen ideellen Schaden.

Eheliche und nichteheliche Lebensgemeinschaften unter dem Grundgesetz Von Detlef Merten

I. Einleitung Die Bedeutung von Ehe und Familie für Staat und Gesellschaft kommt in den Verfassungen von Bayern und Rheinland-Pfalz axiomatisch darin zum Ausdruck, daß sie sie als die natürliche bzw. naturgegebene Grundlage der menschlichen Gemeinschaft bezeichnen.1 Auch für das Bundesverfassungsgericht sind Ehe und Familie „Keimzelle jeder menschlichen Gemeinschaft, deren Bedeutung mit keiner anderen menschlichen Verbindung verglichen werden kann" 2 . Die Weimarer Reichsverfassung - wie heute die bayerische Verfassung - hatte Ehe und Familie den ersten Artikel im Abschnitt über „Das Gemeinschaftsleben" gewidmet, und im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 fanden sich Ehe, Kinder und Familie als kleinste Einheiten im ständischen Aufbau der Gesellschaft am Anfang des Zweiten Teils des Gesetzbuchs. Hatte Samuel von Pufendorf vor knapp dreihundert Jahren den Ehestand anschaulich als „des Menschlichen Geschlechtes Pflantz-Garten" 3 bezeichnet und hatte die Weimarer Reichsverfassung die Ehe noch unbefangen als Grundlage „der Erhaltung und Vermehrung der Nation" umschrieben (Art. 119 Abs. I) 4 , so blendet das Grundgesetz diese Funktion geflissentlich aus. Das Schweigen der Verfassung war wohl auch einer der Gründe dafür, daß die durch den Nationalsozialismus diskreditiert erscheinende Bevölkerungspolitik 5 in der Bonner Republik tabuisiert wurde. Und so 1 Art. 124 Abs. 1 bayVerf.; Art. 23 Abs. 1 rheinl.-pfVerf.; ähnlich Art. 21 bremVerf., Art 4 hessVerf., Art. 5 nordrh.-westfVerf., Art. 22 Abs. 1 saarlVerf. 2 BVerfGE 6, 55 (71); 24, 119 (149). 3 Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht, Frankfurt am Main 1711, Nachdruck 1998, Band II, VI, 1, S. 253; nach § 1 II 1 ALR war „die Erzeugung und Erziehung der Kinder" Hauptzweck der Ehe. 4 Die griechische Verfassung von 1975 sieht die Familie „als Grundlage der Aufrechterhaltung und Förderung der Nation" (Art. 21 Abs. 1); nach der irischen Verfassung von 1937 ist die Familie „unentbehrlich für das Wohl von Volk und Staat" (Art. 41 Abs. 1 Nr. 2); Art. 16 Nr. 3 der UN-Menschenrechtserklärung vom 10. 12. 1948 bezeichnet die Familie als „die natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft"; vgl. auch Art. 67 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung von 1976 und Art. 41 der türkischen Verfassung von 1982. 5 Vgl. in diesem Zusammenhang Irmgard Weyrather, Muttertag und Mutterkreuz. Der Kult um die „deutsche Mutter" im Nationalsozialismus, 1993; Rita Thalmann , Zwischen Mutter-

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weist Deutschland von allen westlichen Industriestaaten die geringste Geburtenziffer mit der Folge auf, daß der daraus resultierende ungünstige Bevölkerungsaufbau den Staat in der Zukunft vor ernsthafte Probleme stellen wird. Aber für manchen sind ohnehin nicht Kinder, sondern Zuwanderer „das köstlichste Gut eines Volkes".6

II. Die vier Dimensionen des Art. 6 Abs. 1 GG Auf dem kargen Boden des Verfassungswortlauts „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" hat die Dogmatik ein ausladendes Gebäude errichtet, das auf vier Pfeilern gründet.7 l.a) Der erste Pfeiler ist die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit. Ungeachtet der scheinbar institutionellen Formulierung gewährleistet Art. 6 Abs. 1 GG ein Freiheitsrecht, das nicht nur negatorisch vor Eingriffen des Staates bewahrt, sondern zugleich zum Handeln befugt. Es muß nicht erst 8 und auch nicht zusätzlich9 aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) abgeleitet werden. Jeder hat das Recht, eine Ehe zu schließen und sie aufrechtzuerhalten, eine Familie zu gründen und in ihr zu leben. 10 In dem grundrechtlichen Freiraum dürfen die Bürger ihr Ehe- und Familienleben frei gestalten11 und die jeweilige Aufgabenwahrnehmung grundsätzlich eigenverantwortlich regeln 12 . Diese Freiheit besteht nicht nur im immateriell-persönlichen, sondern auch im materiell-wirtschaftlichen Bereich, so daß die Ehegatten darüber zu entscheiden haben, wer von ihnen das Einkommen erwirtschaften, den Haushalt führen und gegebenenfalls Kinder betreuen soll. 13 b) Als Verhaltensfreiheit garantiert Art. 6 Abs. 1 GG nicht nur das positive Recht, eine Ehe mit einem bestimmten Partner zu schließen und eine Familie zu gründen, sondern auch die negative Befugnis, eine Ehe mit einem anderen nicht eingehen zu müssen oder überhaupt keine Ehe zu schließen sowie eine Familie nicht zu gründen. Die verfassungsrechtliche Eheschließungsfreiheit ist das Recht, kreuz und Rüstungsbetrieb: Zur Rolle der Frau im Dritten Reich, in: Karl Dietrich Bracher/ Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Deutschland 1933 - 1945, 1992, S. 198 ff. 6 Vgl. Art. 125 Abs. 1 Satz 1 bayVerf. 7 Demgegenüber spricht BVerfGE 24, 119 (135) nur von einer „dreifachen verfassungsrechtlichen Bedeutung" der Vorschrift. 8 Verfehlt Gamillscheg, JZ 1963, S. 24 1. Sp., der die Freiheit der Eheschließung „aus Art. 2 GG" gewinnt. 9 So BAGE 4, 274 (282); hiergegen Merten, JuS 1976, S. 348 sub IV 3 b. 10 Vgl. BVerfGE 31, 58 (67); auch E 29, 166 (175); 76, 1 (42).

11 Vgl. BVerfGE 10, 59 (84 f.). 12 BVerfGE 39, 169 (183); 48, 327 (338); 66, 84 (94); vgl. auch E 10, 59 (83 ff.,); 24, 119 (135); 33, 236 (238); 51, 386 (398); 53, 257 (296 f.). 13 BVerfGE 39, 169 (183); 48, 327 (338); 66, 84 (94).

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die Ehe „mit einem selbst gewählten Partner einzugehen"14. Dieser grundgesetzlich gewährleisteten Konsensehe15 widersprechen sowohl Eheverbote als auch Ehegebote. Unabdingbarer Bestandteil der freien Gattenwahl ist das Recht, eine andere Person nicht heiraten zu müssen. Wegen dieser negativen Auswahlfreiheit darf beispielsweise weder der Vater eines unehelichen Kindes gezwungen werden, dessen Mutter zu heiraten, noch kann eine strafrichterliche Auflage dem Verurteilten aufgeben, eine von ihm entführte, mißbrauchte oder geschwängerte Frau zu ehelichen16. Zutreffend hat der Bundesdisziplinarhof 17 „eine Dienstpflicht zur Heirat mit der Mutter eines von dem Soldaten erzeugten Kindes" als mit dem Grundgesetz unvereinbar bezeichnet. Die negative Auswahlfreiheit des Art. 6 Abs. 1 GG wird im bürgerlichen Recht so weitgehend geschützt, daß selbst im Falle vertraglicher Bindung durch ein Verlöbnis nicht auf Eingehung der Ehe geklagt werden kann (§ 1297 Abs. 1 BGB) 1 8 . Diese Regelung ist allerdings verfassungsrechtlich nicht geboten, weil Grundrechte lediglich die freie Entschließung in dem jeweils geschützten Bereich sicherstellen sollen. Geht der Grundrechtsträger freiwillig zulässige Verpflichtungen ein, so verletzt deren Durchsetzung nicht die Grundfreiheiten. Umfassende Freiheit muß das Unterlassen umgreifen. Denn,freiheitsrechte enthalten Angebote, die auch abgelehnt werden dürfen, etwa durch Verzicht auf Ehe und Familie". 19 Zu der durch Art. 6 Abs. 1 geschützten selbstverantwortlichen Lebensführung zählt das Bundesverfassungsgericht auch den „Entschluß der Ehegatten, Kinder zu haben" 20 und damit eine Familie zu gründen. Berechtigt Art. 6 Abs. 1 GG jedoch dazu, eine Familie nicht zu gründen, so sprechen systematische Gründe dafür, auch für die Eheschließung eine Unterlassensfreiheit zu bejahen. Der Zusammenhang mit der negativen Aus wahlfreiheit bekräftigt das Ergebnis. Ein Gebot zur Eheschließung bedeutet für denjenigen Grundrechtsträger, der (noch) keinen Partner gefunden hat, die Pflicht zur Eheschließung mit einer letztlich nicht in freier Entscheidung gewählten Person. Auch die Entscheidung eines Partners, nach dem Tode des Ehegatten keine neue Ehe zu schließen, muß von dem Bekenntnis des Art. 6 Abs. 1 GG zur grundsätzlich unauflöslichen und auf Lebenszeit angeleg14 BVerfGE 31, 58 (67 sub CI); 36, 146 (162); BGH JZ 1999, S. 514 (516). 15

Nach Art. 16 Nr. 2 der UN-Menschenrechtserklärung darf die Ehe „nur auf Grund der freien und vollen Willenseinigung der zukünftigen Ehegatten geschlossen werden"; vgl. ferner die Präambel des UN-Übereinkommens über die Erklärung des Ehewillens, das Heiratsmindestalter und die Registrierung von Eheschließungen v. 10. 12. 1962 (BGBl. 1969 II S. 161), wonach die Staaten „die völlige Freiheit bei der Wahl des Ehegatten" zu gewährleisten haben. Siehe auch Art. 23 Abs. 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 10. 12. 1966 (BGBl. 1973 II S. 1531), wonach eine Ehe nur „im freien und vollständigen Einverständnis der zukünftigen Ehegatten" geschlossen werden darf. 16 Vgl. hierzu Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, 1960, S. 155, 165. 17 DVB1. 1965, S. 332. 18 Vgl. auch § 888 Abs. 3 ZPO. 19 So R Kirchhof, DVB1. 1999, S. 637 (641). 20 BVerfGE 66, 84 (94).'

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ten Ehe umfaßt sein. Teleologisch soll Art. 6 Abs. 1 staatlichen Zwang im Bereich von Ehe und Familie ausschließen, so daß auch Untätigkeit Ausdruck freier Entscheidung ist. Demgegenüber vermag ein obiter dictum des Bundesverfassungsgerichts 21 nicht zu überzeugen, wonach der Staat gemäß „Art. 2 Abs. 1 GG" zu akzeptieren habe, daß Eltern keine Ehe miteinander eingehen wollen. c) Die bipolare Garantie positiver wie negativer Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit kann den Staat weder an einer Förderung von Ehe und Familie hindern noch ihn davon entbinden. Inwieweit eine staatliche Bevorzugung der Ehe gegenüber anderen Lebensgemeinschaften einen Verstoß gegen die negative Eheschließungsfreiheit darstellen soll, bleibt unerfindlich. 22 Denn das Negativrecht hindert nur Ehegebote, wie sie im römischen Reich 23 und im 17. Jahrhundert in Kanada24 bestanden, und nur solche faktischen oder rechtlichen Maßnahmen, die wegen ihres Zwecks oder Erfolgs wie ein Ehegebot und damit grundrechtsbehindernd wirken. Dem Gesetzgeber sind daher lediglich Maßnahmen verwehrt, die einem rechtlichen oder faktischen Zwang zur Eheschließung gleichkommen, weil der Ledigen-Status etwa aus wirtschaftlichen Gründen nicht aufrechtzuerhalten ist. 2. Als zweiter Pfeiler des verfassungsdogmatischen Ehe- und Familiengebäudes ist die Institutsgarantie von Ehe und Familie anzusehen. Sie bewirkt die Unantastbarkeit von Ehe und Familie. Der Gesetzgeber ist gehindert, diese überkommenen und historisch geprägten Einrichtungen zu beseitigen oder durch andere Arten von Gemeinschaften (Partnerschaften, nichteheliche Legensgemeinschaften) zu ersetzen. Art. 6 Abs. 1 GG sichert „als Institutsgarantie den Kern der das Familienrecht bildenden Vorschriften insbesondere des bürgerlichen Rechts gegen eine Aufhebung oder wesentliche Umgestaltung" und schützt gegen staatliche Maßnahmen, die das Verfassungsbild von Ehe und Familie beeinträchtigen. 25 Ob die Institutsgarantie so weit reicht, daß der Staat im Falle allgemeiner Ehemüdigkeit durch finanzielle Föderungen oder sonstige Anreize die Ehe attraktiv machen muß, ist fraglich. Grundsätzlich verpflichten grundrechtliche Freiheitsver21 E 56, 363 (384); ebenso Gröschner, in: Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 1996, Art. 6 RN 34 a.E.; J. Ipsen, Staatsrecht II, 1997, RN 315 hält die Gegenauffassung für „abwegig". 22 So jedoch J. Ipsen aaO. (FN 21). 2 3 Vgl. Käser, Das Römische Privatrecht, 2. Aufl., 1971, § 75, S. 318 ff.; Sohm/Mitteis/ Wenger, Institutionen, Geschichte und System des römischen Privatrechts, 17. Aufl., 1949, § 88, S. 526 f.; ferner Dieter Nörr, Planung in der Antike, Über die Ehegesetze des Augustus, in: Freiheit und Sachzwang - Beiträge zu Ehren Helmut Schelskys, 1977, S. 309 ff. 24 Hierüber berichtet Parkmann, Frankreich und England in Nordamerika, 1. Bd.: Die Pioniere Frankreichs in der neuen Welt (Stuttgart 1875), 13. Kap., S. 157 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Colbert, Lettres, Instructions et Mémoires (hg. von Pierre Clément), Tome III, II e Partie (Paris 1865), insbesondere die Instruction vom 16. 9. 1668 (aaO., S. 409), die Briefe an Talon und Comte de Frontenac vom 11. 2. 1671 und 13. 6. 1673 (aaO., S. 513 und 557 f.) und die Ordonnance du Roi vom 5. 4. 1669 (aaO. S. 657). 2 5 BVerfGE 80, 81 (92); vgl. ferner E 6, 55 (72); 31, 58 (69); 62, 323 (329); 76, 1 (41, 49).

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bürgungen den Staat nicht, dem Grundrechtsträger durch Leistungen, insbesondere finanzieller Art, die Ausübung eines Grundrechts zu ermöglichen. 26 Zwar haben die obersten Gerichtshöfe aus der Institutsgarantie der Privatschule (Art. 7 Abs. 4 GG) eine staatliche Förderungspflicht abgeleitet.27 Zur Begründung wurde jedoch auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gründung von Privatschulen verwiesen, die es diesen in aller Regel unmöglich machen, aus eigener Kraft gleichzeitig und auf Dauer sämtliche Voraussetzungen zu erfüllen. 28 Ist aber die staatliche Förderungspflicht nur Ausgleich für Verfassungsvorgaben, so lassen sich die Grundsätze der Privatschulfinanzierung nicht auf die Institutsgarantie der Ehe übertragen, da die Rechtsordnung mit Ausnahme der Standesamtsgebühr29 für die Eheschließung keine wirtschaftlichen Hürden errichtet. Der Staat ist daher verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, im Falle eines nachhaltigen Rückgangs der Eheschließungen finanzielle Anreize für einen Grundrechtsgebrauch zu schaffen. 3. Einen dritten Pfeiler hat die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung gegründet. Sie sieht in Art. 6 Abs. 1 GG zugleich eine Grundsatznorm, worunter sie eine „verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts" versteht. 30 Deshalb ist bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, insbesondere auch bei der Interpretation von Generalklauseln, die ehe- und familienfreundliche Grundhaltung des Grundgesetzes zu respektieren, so daß beispielsweise der Bestand von Ehe und Familie nicht beeinträchtigt und Auflösungstendenzen nicht verstärkt werden dürfen. 31 4. Der vierte Pfeiler gründet wieder in sicherem Verfassungsboden. Das Grundgesetz stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung und räumt in Art. 6 Abs. 4 der Mutter einen zusätzlichen Anspruch auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft ein. Die Besonderheit dieser Schutzgewähr ändert sich nicht dadurch, daß Rechtsprechung und Schrifttum, beginnend mit dem Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 GG), auch aus anderen Grundrechten ungeschriebene grundrechtliche Schutzpflichten entwickelt haben, die den Staat zu einem effektiven Schutz verpflichten, wenn er nicht das Untermaßverbot verletzen will. Verfassungsdogmatisch ist die Schutzpflicht zweistufig aufgebaut. Auf der ersten Stufe enthält Art. 6 Abs. 1 GG ein Diskriminierungsverbot, auf der zweiten ein Privilierungsgebot. 32 26 BVerfGE 90, 107(115). 27 Vgl. BVerwGE 23, 347 (349); 27, 360 (362 f.); 79, 154 (156); BVerfGE 75, 40 (62, 67); 90, 107(114, 117, 120). 28 BVerfGE 90, 107 (114 f.). 29 Vgl. § 70 b PersonenstandsG 30 Vgl. BVerfGE 6, 55 L. 5 (72); 6, 386 (388); 9, 237 (248); 22, 93 (98); 24, 119 (135); 28, 194 (112); 31, 58 (67); 53, 224 (248); 55, 114 (126); 61, 18 (25); 62, 323 (329); 76, 1 (41, 49); 80, 81 (92 f.). 31 Vgl. BVerfGE 22, 93 (98); auch E 6, 55 (71 f.); 24, 119 (135); 80, 81 (92 f.). 32 Vgl. BVerfGE 6, 55 (76); 55, 114 (126).

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a) Das Diskriminierungsverbot hindert den Gesetzgeber, die ungleichen und daher der gesetzgeberischen Differenzierung an sich zugänglichen Sachverhalte des ehelichen und nichtehelichen, des familiären oder nichtfamiliären Zusammenlebens zum Anlaß einer Benachteiligung von Ehe oder Familie zu nehmen. Ehe und Familie müssen geachtet und dürfen nicht geächtet werden. Art. 6 Abs. 1 GG enthält gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG einen besonderen Gleichheitssatz, der es dem Staat verbietet, „Ehe und Familie gegenüber anderen Lebens- und Erziehungsgemeinschaften schlechter zu stellen." 33 Die Schutzpflicht des Art. 6 Abs. 1 GG meint nicht nur Schutz vor dem Staat, sondern auch Schutz vor Dritten (Drittschutz). Das Bundesverfassungsgericht formuliert etwas ungenau, wenn es dem Staat aufgibt, Ehe und Familie auch „vor Beeinträchtigungen durch andere Kräfte zu bewahren". 34 Der Staat dürfte daher beispielsweise tarifvertragliche Regelungen, nach denen Unverheiratete bei der Einstellung zu bevorzugen oder Doppelverdiener-Ehen zu benachteiligen wären, nicht hinnehmen. Die staatliche Schutzpflicht bezieht sich nicht nur auf bestehende Ehen, sondern insbesondere auch auf die Bereitschaft zur Eheschließung.35 Diese darf der Gesetzgeber beispielsweise nicht „durch die Ehe benachteiligende rentenversicherungsrechtliche Vorschriften beeinträchtigen". 36 Gestaltet der Gesetzgeber das Steuerrecht oder das Sozialrecht ehe- oder familienunfreundlich aus, so verstößt er nicht nur gegen die Schutzpflicht, sondern kann auch das subjektive Grundrecht der Eheschließung und Familiengründung behindern. Denn mittelbare Beeinträchtigungen von erheblichem Gewicht sind einem unmittelbaren Grundrechtseingriff gleichzustellen. b) Aus der Schutzpflicht folgt auf der zweiten Stufe eine Förderungspflicht, deren Inhalt und Ausmaß sich jedoch mangels hinreichend bestimmten Wortlauts nicht unmittelbar aus der Verfassung ableiten lassen,37 so daß der Gesetzgeber über eine Gestaltungsfreiheit verfügt. 38 Allerdings darf sich die staatliche Hilfe nicht auf die immateriell-persönliche Sphäre beschränken, sondern muß sich auch auf den materiell-wirtschaftlichen Bereich, etwa auf das Sozialversicherungsrecht 39, erstrecken. 40 Die Förderungspflicht reicht nicht so weit, daß der Staat jede aus 33 BVerfG vom 10. 11. 1998, NJW 1999, S. 557. 34 BVerfGE 28, 324 (347); 55, 114 (126 unten). 35 BVerfGE aaO. S. 126f.; siehe auch E 28, 324 (347); 12, 151 (167). 36 BVerfGE 55, 114(127). 37 Vgl. BVerfGE 6, 55 (76); Helmut Lecheler, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 133 RN 50 f. 38 BVerfGE 21, 1 (6); 23, 258 (264); 39, 316 (326); 43, 108 (123 f.); 48, 346 (366); 55, 114 (127); 62, 323 (333). 39 So BVerfGE 28, 104 (112); 48, 346 (366); 60, 68 (74); 62, 323 (332). 40 Vgl. BVerfGE 28, 104 (112); 33, 236 (238); 48, 346 (366); 53, 257 (296); 55, 114 (127); 61, 18 (25); 61, 319 (347); siehe auch E 13, 331 (347).

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der Gründung einer Ehe oder Familie resultierende finanzielle Belastung ausgleichen müßte.41 Ein „heirate und liquidiere" widerspräche den Prinzipien des Grundgesetzes, das ein freiheitliches Gemeinwesen und keinen Versorgungsstaat konstituiert. Eheschließung und Familiengründung sind Ausdruck der Eigenständigkeit und Selbstverantwortung des Bürgers, der ungeachtet der Bedeutung dieser Institutionen für Staat und Gesellschaft die wirtschaftlichen Folgen in erster Linie selbst zu tragen hat. Die familienpolitische These, das staatliche Kindergeld decke nicht die tatsächlichen Kosten der Kindererziehung, verwechselt staatliche Förderung mit Kostenüberwälzung und sieht im Staat zu Unrecht eine VöllkaskoEinrichtung.

I I I . Die Doppelgarantie von Ehe und Familie 1. Art. 6 Abs. 1 GG nennt Ehe und Familie nebeneinander und gleichberechtigt, so daß das verfassungsrechtliche Bekenntnis zu Ehe und Familie „die Gewährleistung beider Lebensordnungen" umschließt.42 Das auf den skizzierten vier Pfeilern ruhende Verfassungsgebäude ist gleichsam in zwei Hälften aufgeteilt, von denen die eine der Ehe und die andere der Familie zugewiesen ist. Wegen des klaren Verfassungswortlauts darf sich der Gesetzgeber, insbesondere im Steuerrecht und im Sozialrecht, auch nicht unter Berufung auf das vage Sozialstaatsprinzip vom Eheschutz lösen 43 und allein die Familie fördern. Auf diese Weise geriete das verfassungsrechtlich vorgegebene „Nebeneinander" und „ M i t e i n a n d e r " von Ehe und Familie zu einem „Gegeneinander", bei dem die Stärkung der Familie zu einer Schwächung der Ehe führte. 44 Daher stoßen Bestrebungen, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern zu Lasten der Ehe zu bevorzugen, auf verfassungsrechtliche Bedenken. Bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern stellt zwar die Gesamtheit der Personen keine Familie dar, doch bildet das uneheliche Kind sowohl mit seiner Mutter als auch mit seinem Vater eine (Torso-)Familie, was zu dem merkwürdigen Ergebnis führt, daß statt einer (Normal-)Familie zwei (Torso-)Familien vorhanden sind. 45 Würde die Steuer- und sozialrechtliche Förderung dieser Torso-Familien so günstig ausgestaltet werden, daß den Eltern nicht nur ein Anreiz zur Eheschließung fehlte, sondern diese sogar behindert würde, so verletzte der Gesetzgeber den staatlichen Schutzauftrag für die Ehe. 2. Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG ist die Vereinigung eines Mannes und einer Frau zu einer umfassenden, grundsätzlich unauflösbaren Lebensgemein41 Vgl. BVerfGE 23, 258 (264); 28, 104 (113); 40, 121 (132); 55, 114 (127); 60, 68 (74). 42 BVerfGE 6, 55 (72). 43 Wie hier im Ergebnis auch Franz Klein, Ehe und Familie im Steuerrecht, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1988, S. 54 unten. 44 Das verkennt Berkemann, JR 1999, S. 177 (181). 45 Vgl. hierzu Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6 RN 16 a.

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schaft. 46 Damit sind drei Prinzipien für die grundgesetzliche Ehe essentiell: Es muß sich um eine heterogene, monogame und auf Lebenszeit angelegte Gemeinschaft handeln. Gleichgeschlechtliche oder polygame Verbindungen entsprechen nicht dem Bild des Grundgesetzes. Die Mehrehe widerspricht deutscher Rechtstradition, so daß der deutsche Gesetzgeber vom Prinzip der Einehe nicht abgehen darf. 47 Deshalb verbietet es der ordre public (Art. 6 EGBGB), daß eine Mehrehe vor einem deutschen Standesbeamten geschlossen wird, selbst wenn sie, wie z. B. bei der Eheschließung von Ausländern, nach ausländischem Recht zulässig ist, oder daß ein deutsches Gericht zur Herstellung einer polygamen ehelichen Lebensgemeinschaft verurteilt. 48 Dagegen ist eine im Ausland rechtmäßig geschlossene Mehrehe in Deutschland als Ehe einschließlich ihrer Vermögens- und kindschaftsrechtlichen Wirkungen anzuerkennen, so daß beispielsweise allen Ehefrauen Unterhaltsansprüche zustehen und alle Kinder als eheliche Kinder zu gelten haben. Das Lebenszeitprinzip bedeutet, daß beide Partner die Gemeinschaft als eine dauernde und grundsätzlich unauflösbare beabsichtigen und versprechen. 49 Lebensabschnitts-Gemeinschaften können daher von vornherein keine Ehen im Sinne des Grundgesetzes sein. Allerdings steht dem Lebenszeitprinzip nicht entgegen, daß das Eherecht zwar keine beliebige, wohl aber eine von bestimmten Voraussetzungen abhängige Auflösung der Ehe vorsieht. 50 Die hier aufgeführten Essentialia prägen das Institut der überkommenen und im Kern unverändert gebliebenen Ehe. 51 Die Ehe des Grundgesetzes ist nicht irgendeine Lebensgemeinschaft, sondern eine an die christlich-abendländische Tradition anknüpfende 52, tradierte und vom Verfassunggeber vorgefundene Lebensform. 53 Infolgedessen sind deren Strukturprinzipien nach zutreffender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Verfügungsgewalt des Gesetzgebers entzogen.54 Nicht zu den unerläßlichen Strukturprinzipien gehört die Kinderzeugung in der Ehe. Sie ist zwar charakteristisches, aber nicht essentielles Merkmal der Ehe. 55 46 Vgl. BVerfGE 10, 59 (66); 49, 286 (300); 53, 224 (245); 62, 323 (330); BGHZ 30, 1 (4); Maunz aaO. RN 17; Gernhuber/Coester-Waltjen, Lehrbuch des Familienrechts, 4. Aufl., 1994, §5, S. 37 ff. 47 Zutreffend BVerwGE 71, 228 (230). 48 BVerwGE aaO. 49 Vgl. BVerfGE 53, 224 (245). so Hierzu auch BVerfGE 53, 224 (245 ff.). 51 BVerfGE 10, 59 (66). 52 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Stellungnahme des Abg. Dr. Süsterhenn (CDU) in der 21. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates vom 7. 12. 1948 (Sten. Ber. S. 243). 53 Vgl. BVerfGE 31, 58 (69); 62, 323 (330). 54 BVerfGE 62, 323 (330); vgl. auch E 31, 58 (69). 55 Vgl. BVerfGE 49, 286 (300); auch Erna Scheffler, Ehe und Familie, in: Die Grundrechte, Bd. IV, 1, 1960, S. 251.

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Andernfalls wäre die Eheschließung im Falle der Zeugungs- oder Gebärunfähigkeit sowie im höheren Alter nicht möglich. Schon das Allgemeine Landrecht von 1794 hat zwar „die Erzeugung und Erziehung der Kinder" als Hauptzweck der Ehe angesehen, eine Eheschließung aber auch allein „zur wechselseitigen Unterstützung" zugelassen (§§ 1, 2 II 1). Kinderlose Ehen sind folglich keine Ehen minderen Rechts.56 Selbst wenn die Kinderlosigkeit hedonistische Gründe hat, sind „Doppelverdiener"-Ehen 57 nicht verfassungsillegitim, sondern genießen den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG. Deshalb dürfen Steuer- und Sozialrecht sich nicht einseitig auf die Familie fixieren und die Grundentscheidung der Verfassung für die Ehe negieren. 3. In der Familie erweitert sich die eheliche Gemeinschaft zu einer aus Eltern und Kindern bestehenden Familiengemeinschaft. Regelfall ist das Zusammenleben des Kindes oder der Kinder mit den durch die Ehe verbundenen Eltern in einer Gemeinschaft. 58 Wegen der in der Schutzpflicht des Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Förderungspflicht ist der Staat zu einem Familienlastenausgleich gehalten.59 Dabei obliegt es grundsätzlich der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, in welchem Umfang und in welcher Weise er einen derartigen Ausgleich vornimmt. 60 Allerdings verbietet es der besondere Gleichheitssatz des Art. 6 Abs. 1 GG, Ehe und Familie gegenüber anderen Lebens- und Erziehungsgemeinschaften schlechter zu stellen, so daß der Gesetzgeber an die Existenz einer Ehe oder die Wahrnehmung des Elternrechts in ehelicher Erziehungsgemeinschaft keine belastenden Differenzierungen knüpfen darf. Für das Steuerrecht folgt aus dem Benachteiligungsverbot, daß bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muß, so daß das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum bei der Einkommenbesteuerung zwar über-, aber nicht unterschritten werden darf. 61 Im einzelnen hat der Gesetzgeber die Pflicht zum Familienlastenausgleich insbesondere durch Kindergeld, Erziehungsgeld, Unterhaltssicherung und Erziehungszeiten konkretisiert, wobei es immer nur um eine Belastungsminderung, nicht um einen vollen Belastungsausgleich gehen kann. In der gesetzlichen Krankenversicherung werden die Familienangehörigen über die „Familienversicherung" (§10 SGB V) in den materiellen Versicherungsschutz einbezogen. In der Unfallversicherung und der Rentenversicherung stellen die Witwen- und Witwerrenten sowie die Waisenrenten ein überkommenes Prinzip sozialer Sicherung dar. 56 In diesem Sinne schon der Abg. Dr. Heuß (FDP) in der 29. Sitzung des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates vom 4. 12. 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948 1949, Bd. 5/II, 1993, S. 828. 57 In amerikanischer Terminologie: dinks = double income, no kids. 58 Vgl. BVerfGE 56, 363 (382); siehe auch BVerfGE 31, 194 (205). 59

Zur Verfassungswidrigkeit eines geplanten „Kindergrundfreibetrages" Arndt/Schumacher, NJW 1999, S. 1689 ff. 60 Vgl. BVerfGE 11, 105 (126); 39, 316 (326); 23, 258 (264); 28, 104, (113 f); 21, 1 (6). 61 BVerfG vom 10. 11. 1998 (2 BvL42/93) NJW 1999, S. 561 ff.

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IV. Die Gestaltungsfreiheit der Eheleute als Richtschnur für den Gesetzgeber Art. 6 Abs. 1 GG garantiert einen Freiheitsraum, der staatlicher Einwirkung entzogen ist. Die autonomen Entscheidungen in Ehe und Familie heischen staatliche Zurückhaltung. 62 In die Sphäre der vom Staate zu respektierenden privaten Lebensgestaltung der Eheleute fällt insbesondere die Aufgabenverteilung in der Ehe, bei der zusätzlich zu berücksichtigen ist, daß die Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG) auch in der Ehe gilt. 6 3 Danach obliegt es allein der Entscheidung der Eheleute, ob ein Ehegatte allein für den Unterhalt aufkommen soll (Alleinverdiener-Ehe) oder ob beide berufstätig sein sollen („Doppelverdiener"-Ehe), gegebenenfalls auch in der Form zweier Halbtags-Beschäftigungen. Insbesondere wegen des Gleichberechtigungssatzes steht ihnen auch die Entscheidung frei, wer von ihnen den Haushalt führen und für die Kindererziehung verantwortlich sein soll. Dieser verfassungsrechtlich garantierten Selbstverantwortlichkeit der Eheleute droht weniger Gefahr durch staatliche Gebote oder Verbote, als vielmehr durch mittelbare Eingriffe, die infolge steuerlicher oder sozialrechtlicher Nachteile zu einer Lenkung führen können. So hat das Bundesverfassungsgericht für die beamtenrechtliche Witwenversorgung zu Recht festgestellt, daß eine Einwirkung des Gesetzgebers mit dem Ziel, die Ehefrau „ins Haus zurückzuführen", verfassungswidrig ist. 64 Dasselbe Lenkungsverbot gilt für den umgekehrten Fall einer Hinführung der Frau in das Erwerbsleben, weil auch die manchem altmodisch erscheinende Selbstverwirklichung der Frau als Hausfrau und Mutter verfassungsrechtlichen Schutz genießt. Hinsichtlich der freien Aufgabenverteilung in Ehe und Familie muß der Gesetzgeber daher seine Rechtsordnung, insbesondere das maßgebliche Steuer- und Sozialrecht, möglichst neutral ausgestalten und hat auf Grund bundesverfassungsgerichtlicher Weisung „Regelungen zu vermeiden, die geeignet wären, in die freie Entscheidung der Ehegatten über die Aufgabenverteilung in der Ehe einzugreifen." 65 Die Freiheit der ehelichen Aufgabenverteilung und das Selbstbestimmungsrecht der Ehegatten in ihren finanziellen Beziehungen bedingen auch eine freie Entscheidung, ob einer der Eheleute allein ein möglichst hohes Familieneinkommen erwirtschaften soll, während der andere Partner den Haushalt führt, oder ob beide Partner sowohl im Haushalt als auch im Beruf tätig sein wollen, so daß beide ihre Berufstätigkeit entsprechend beschränken. Da beide Arten von Ehen gleich behandelt werden müssen und eine Hausfrauen- oder Hausmannehe nicht benachteiligt 62 Vgl. hierzu BVerfGE 10, 59 (83, 84 f.); 21, 329 (353); 39, 169 (183); 48, 327 (338); 61, 319 (347); 66, 84 (94); 68, 256 (268); 87, 234 (258 f.). 63 Vgl. BVerfGE 10, 59 (67). 64 BVerfGE 21, 329 (353); vgl. auch E 87, 234 (258). 65 BVerfGE 66, 84 (94); 68, 256 (268); 87, 234 (258 f.).

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werden darf, entspricht allein das „Splittingverfahren" dem Grundsatz der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit in einer Ehe, die zugleich eheliche Wirtschaftsgemeinschaft ist. 66 Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht das Ehegattensplitting nicht als eine „beliebig veränderbare Steuer-'Vergünstigung'", sondern als „eine an dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Ehepaare orientierte sachgerechte Besteuerung" bezeichnet.67 Pläne, das Ehegattensplitting zu kappen, erscheinen daher verfassungswidrig, und die These, die Ehe sei eine „weithin private Angelegenheit der Eheleute, die als solche keine steuerliche Privilegierung" verdiene 68, zeugt von merkwürdigem Verfassungsverständnis. Die verfassungsgebotene Respektierung der Aufgabenverteilung in der Ehe trifft auch den Sozialgesetzgeber. Insbesondere das Rentenversicherungsrecht muß eine soziale Sicherung auch der nicht erwerbstätigen Ehefrau als Nachwirkung der Aufgabenteilung in der Ehe 69 vorsehen, weil andernfalls eine Hausfrauen-Ehe wegen fehlender Alterssicherung nicht möglich wäre und die Ehefrau sozialversicherungsrechtlich in die Arbeit gelenkt würde. Ehe und Eheschließung dürfen jedoch durch benachteiligende rentenversicherungsrechtliche Vorschriften nicht beeinträchtigt werden 70. Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht den abgeleiteten Anspruch der Ehefrau auf Hinterbliebenenrente als dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG entsprechend sowie als Konkretisierung des Sozialstaatsgebots angesehen und darauf hingewiesen, daß das Sozialrecht wegen der Verfassungsentscheidung für Ehe und Familie bestimmte Ehen, die dem verfassungsrechtlichen Schutzbereich unterfallen, nicht mißbilligen und durch Verweigerung sozialer Leistungen benachteiligen darf, die für andere Ehen selbstverständlich sind. 71 Gerade in der Hinterbliebenenrente manifestiert sich der soziale und solidarische Charakter der Sozialversicherung, für die auch fürsorgerisch motivierte Leistungen charakteristisch sind. 72 Würde man Renten ohne eigene Beitragsleistung jedes Rentenempfängers oder ohne erhöhte Beitragsleistung für mitversicherte Familienangehörige als „Fremdlasten" aus dem Sozialversicherungsrecht tilgen, so würde dieses sein überkommenes Bild einbüßen und der Bundesgesetzgeber auch seine Kompetenz für diesen Bereich verlieren. Mag eine Reform der Witwenrenten auch die eigenständigen Anrechte der Frauen ausbauen, so kann die ergänzende Hinterbliebenensicherung eines Ehepartners aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht beseitigt werden. 66

Siehe rechtsvergleichend Montoro Chiner/Merten, Zur Ehegattenbesteuerung nach spanischem und deutschem Verfassungsrecht, EuGRZ 1985, S. 425 ff., insbes. S. 428 ff. 67 BVerfGE 61, 319 (347); vgl. auch E 75, 361 (366 f.). 68 So die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Limbach, in einem Vortrag. Quelle: NJW 1995, Heft 17, S. XXXIV. 69 Vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerfGE 22, 91 (98). 70 Vgl. BVerfGE 55, 114(127). 71 BVerfGE 62, 323 (333); siehe auch E 48, 346 (354f.). 72 BVerfGE 97, 271 (285).

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Im Beamtenverfassungsrecht ist anerkannt, daß die vom Dienstherrn geschuldete Alimentation des Beamten und seiner Familie eine amtsangemessene Versorgung umfaßt, 73 die in ihrem Kern wie das Eigentum gesichert ist. 74 Da diese Alimentationspflicht als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums vom Gesetzgeber nicht nur zu berücksichtigen, sondern sogar zu beachten ist, 75 sind die Witwen- und Waisenpensionen im Beamtenrecht als solche für den Gesetzgeber unantastbar.

V. Nichteheliche Lebensgemeinschaften im Verfassungsrecht 1. Mit der Auflösung der Formen am Ende dieses Jahrhunderts hat auch die Ehe als rechtlich vorgesehene und gesellschaftlich bis dahin allein akzeptierte Form eines dauerhaften Zusammenlebens von Mann und Frau Konkurrenz in Form von Partnerschaften erhalten, die „eheähnliche Lebensgemeinschaften" oder „nichteheliche Lebensgemeinschaften" 76 genannt werden. Dabei muß zwischen eheneutralen und ehestörenden Gemeinschaften, bei denen der eine oder sogar beide Partner - allerdings nicht miteinander - verheiratet sind, sowie zwischen heterogenen und homogenen (gleichgeschlechtlichen) Partnerschaften unterschieden werden. Terminologisch verdient der Begriff der „nichtehelichen Lebensgemeinschaften" den Vorzug. Denn das Adjektiv „eheähnlich" geht von einer Vergleichbarkeit im Tatsächlichen aus und suggeriert eine Gleichheit in der Rechtsfolge. Dagegen stellt das Adjektiv „nichtehelich" auf das entscheidende Kriterium ab. Allen derartigen Gemeinschaften fehlt eine gültige Form und eine rechtliche Verbindlichkeit, wie sie bisher nur durch eine Eheschließung erreichbar ist. Alle nichtehelichen Partnerschaften sind lediglich faktische Gemeinschaften, die formlos und ohne rechtliche Verpflichtung eingegangen werden und bei denen im Einzelfall nicht zu ermitteln ist, ob eine lebenslängliche oder zumindest für eine relevante Dauer („Lebensabschnittsgemeinschaft") erstrebte Bindung beabsichtigt ist. Da die Partner gerade keine Verbindlichkeit anstreben, wird in der Regel aus den wenig aussagekräftigen äußeren Anhaltspunkten einer gemeinsamen Wohnung und gemeinsamer Haushaltsführung auf eine dauerhaft geplante Gemeinschaft geschlossen, auch wenn die Beziehungen darüber hinausgehen müssen.77 Häufig bewahrheitet 73 Vgl. BVerfGE 3, 58 (160); 4, 115 (135); 8, 1 (16f.); 9, 268 (286); 11, 203 (210); 21, 239 (344 f.); 39, 196 (201); 43, 154 (167); 44, 249 (265 f.); 64, 323 (351 sub C I 1); 70, 251 (266); 71, 255 (268); 76, 256 (298); 81, 363 (375); 83, 89 (98); BVerfG NJW 1999, S. 1013 (1014 sub C I la). 74 BVerfGE 61, 43 (63). 75 E 8, 1 L. 2 (18 sub B II 4); 11, 203 (210 sub B II 1); 16, 94 (115); 17, 337 (350 sub B 2 b); 44, 249 (265 sub C II 3); 56, 146 (164 f.); 58, 68 (77); 61, 43 (58); 64, 323 (351 sub C I 1); 70, 69 (79); 71, 255 (268); 76, 256 (298 sub C II 3); 81, 363 (375 sub C I); BVerfG NJW 1999, S. 1013 (1014 sub C 11 a). 76 Vgl. hierzu Wilfried Schlüter, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1981; Christiane Schreiber, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1995.

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sich jedoch auch in diesem Bereich die aus dem Strafvollzug geläufige Formel: Lebenslänglich ist auch vergänglich. 2. Taucht in gesetzlichen Bestimmungen gelegentlich der Begriff „eheähnliche Gemeinschaft" 78 auf, so ist er dem Verfassungsrecht weitgehend fremd. Regelungen finden sich lediglich in zwei der jüngeren Landesverfassungen. Nach Art. 26 Abs. 2 der brandenburgischen Verfassung wird „die Schutzbedürftigkeit anderer auf Dauer angelegter Lebensgemeinschaften" anerkannt, und die Berliner Verfassung bestimmt in Art. 12 Abs. 2: „Andere auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften haben Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung." Dem Grundgesetz sind derartige Begriffe unbekannt, zumal der Versuch einer Verfassungsergänzung gescheitert ist. Bei den Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission des Bundestages und des Bundesrates sollte Art. 6 Abs. 1 GG um einen Satz ergänzt werden, wonach der Schutz für Ehe und Familie „auch andere auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften" umfassen sollte. Die Abstimmung ergab jedoch eine Pattsituation, so daß die erforderliche Zweidrittelmehrheit bei weitem verfehlt wurde. 79 Was nun im Wege der Verfassungsergänzung fehlschlug, kann keinesfalls im Wege der Verfassungsinterpretation erreicht werden. Es ist zu einer Unart der Auslegung geworden, politisch gewünschte Ergebnisse, die auf dem verfassungsrechtlich vorgegebenen parlamentarischen Weg nicht erreicht werden können, mit Auslegungsfinessen in der Hoffnung realisieren zu wollen, daß engagiert vorgetragene und ständig wiederholte Minderheitsansichten in Verbindung mit einer Politisierung von Richterwahlen und Richterernennungen eines Tages zur Mehrheitsmeinung werden. Der Interpretationsmagie dient dabei die Beschwörung eines „Verfassungswandels", mit dessen Hilfe beispielsweise wenige Jahre vor dem Fall der Mauer das Wiedervereinigungsgebot aus der Verfassung herausargumentiert werden sollte. 80 3. Kann bei der aus unvordenklichen Zeiten überkommenen Institution Ehe ein verändertes Verhalten in einer Zeitspanne von einigen Jahren ohnehin nicht ins Gewicht fallen, so ist eine nachhaltige Veränderung in der Rechtswirklichkeit auch nicht zu verzeichnen. Zwar wird für Westdeutschland in dem Zeitraum von 1978 bis 1992 eine Verdreifachung der nichtehelichen Gemeinschaften angenommen; sie haben mit zwei Millionen im Jahre 1998 einen neuen Höchststand erreicht. 81 Diese Vermehrung als solche besagt jedoch wenig, zumal die Erfassung weit77 Vgl. BVerfGE 87, 234 (264); BVerfG (Kammer) NJW 1999, S. 1622 Nr. 2; BVerwGE 52, 11 (15); v. Mangoldt/Klein/Staick, GG, 4. Aufl., 1999, Art. 3 Abs. 1 RN 178. 78 § 122 BSHG; § 194 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 10 SGB III. 79 Vgl. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Zur Sache 5/93 S. 107 ff. 80 Protagonist: Joachim Rottmann, Über das Obsolet-Werden von Verfassungsnormen, in: Zeidler-Festschrift, Bd. 2, 1987, S. 1097 (1106 f.). 81 Quelle: Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung vom 30. 3. 1999, MDR 9/1999, S. R 13. 41 FS Leisner

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gehend auf Schätzungen beruht und daher statistisch wesentlich ungenauer ist als die Angabe der Zahl der Eheschließungen. Insbesondere ist zu berücksichtigen, daß es voreheliche oder außereheliche Beziehungen schon immer gegeben hat, die man unter die Begriffe wie „Konkubinat", „wilde Ehe", „Onkelehe", „Verlöbnis", umgangssprachlich auch „Verhältnis" gefaßt hat. Ein vielzitierter Wertewandel, die Änderung der Moralvorstellungen, aber auch eine Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse einschließlich der Verfügbarkeit von Wohnraum haben es möglich gemacht, daß insbesondere junge Menschen ohne Eheschließung in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zusammenleben, die oftmals allerdings nur eine „Lebensabschnittsgemeinschaft" ist. Soziologische Forschungen belegen ein neues Partnerschaftsmuster, bei dem der später geschlossenen Ehe eine längere nichteheliche Lebensgemeinschaft vorausgeht. 82 Damit ist diese vielfach kein Äquivalent, sondern eine Antizipierung der Ehe. Zwar ist die Zahl der Eheschließungen in den letzten Jahrzehnten von über 500.000 im Jahre 1950 auf knapp 400.000 im Jahre 1995 (im alten Bundesgebiet) zurückgegangen, allerdings ist die Zahl der Ehepaare mit 19,5 Millionen seit 1991 annähernd gleich geblieben.83 Dennoch beträgt der Anteil der Verheirateten (einschließlich der Verwitweten) bei den 40- bis 50jährigen Männern 77,8 v.H., in der Gruppe der 50- bis 55jährigen 82,2 v.H., in der Gruppe der 55- bis 60jährigen 85,4 v.H.; bei der weiblichen Bevölkerung in der Gruppe der 40- bis 50jährigen 81,5 v.H., bei den 50- bis 55jährigen 84,2 und bei den 55- bis 60jährigen 85,4 v.H. 84 Daß auch für die Familie der Normalfall des Zusammenlebens verheirateter Eltern mit ihren Kindern die unangefochtene Regel ist, macht die Statistik deutlich. Danach leben 87,5 v.H. aller Kinder zusammen mit ihren verheirateten Eltern in einer Familie. Demgegenüber sind Familien, in denen Kinder mit ihren in nichtehelicher Lebensgemeinschaft verbundenen Eltern leben oder Torso-Familien, d. h. Gemeinschaften von ledigen, getrennt lebenden, geschiedenen oder verwitweten Müttern mit ihrem Kind oder auch Vätern mit ihrem Kind die deutliche Ausnahme. Damit belegen die statistischen Erhebungen, daß sich die Vorstellungen über Ehe und Familie in der Gesellschaft keinesfalls so radikal gewandelt haben, wie eine veröffentlichte Meinung es mitunter glauben machen will. Bei den nichtehelichen Lebensgemeinschaften handelt es sich weder um ein neuartiges Phänomen noch wird das Zusammenleben von Mann und Frau in einer vom Verfassungsinhalt abweichenden Übung so nachhaltig geprägt, daß sich ein Verfassungswandel anbahnt.85 82 Laszlo Vaskovics, Die Rolle der Familie in einer Gesellschaft im Wandel, in: Politische Studien, Sonderheft 4/94, S. 17 (21). 83 Wie FN 81. 84 Quelle: Alterssicherungsbericht 1997, BT-Drucks. 13/9750, S. 71 Übersicht 111/26. 85 Hierzu auch BVerfG (Kammer) NJW 1993, S. 3058 f.; BayObLG NJW 1993, S. 1996f.; LG Gießen FamRZ 1993, S. 558; allgemein Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30. Aufl. 1998, § 7 III, insbes. S. 50; ferner BVerfGE 2,380 (401); 3,407 (422 f.); auch E 83,37 (52).

Eheliche und nichteheliche Lebensgemeinschaften

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4. Mit der Garantie der Ehe knüpft Art. 6 Abs. 1 GG an ein überkommenes Institut an und will nur dieses privilegieren. Angesichts des eindeutigen Wortlauts enthält die Verfassungsbestimmung weder eine Lücke noch lassen sich teleologisch die unterschiedlichen Institute „Ehe" und „nichteheliche Lebensgemeinschaft" gleich behandeln. Da Art. 6 GG den ehe- und familienrechtlichen Verfassungskomplex abschließend regelt und in seinem Absatz 1 einen besonderen Gleichheitssatz enthält, können sich andere Lebensgemeinschaften weder auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG noch auf den Gleichberechtigungssatz des Art. 3 Abs. 2 GG berufen. Im übrigen steht es den Partnern heterogener nichtehelicher Lebensgemeinschaften frei, eine Ehe miteinander einzugehen, um den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG zu genießen. Da der grundgesetzliche Schutz von Ehe und Familie die eheliche und familiäre Lebensgemeinschaft privilegieren, nicht aber andere Formen des Zusammenlebens diskriminieren will, unterfallen die nichtehelichen heterogenen Lebensgemeinschaften dem Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG. Dessen Schrankentrias steht dem nicht entgegen. Angesichts gewandelter moralischer Anschauungen und eines liberalisierten Strafrechts verstößt das außereheliche Zusammenleben von Mann und Frau als solches nicht gegen das Sittengesetz. Etwas anderes gilt für ehewidrige nichteheliche Lebensgemeinschaften. Ist einer der Partner dieser Gemeinschaft oder sind sogar beide verheiratet, so verstößt das Getrenntleben des Verheirateten von seinem Ehegatten gegen eheliche Pflichten und kann Scheidungsgrund sein. 86 Da der Art. 6 Abs. 1 GG den Schutz der Ehe einschließlich ihres Bestandes proklamiert, vermag die Verfassung nicht gleichzeitig ein Verhalten grundrechtlich zu sichern, das sich gegen die Ehe richtet und zu deren Auflösung führen kann. Die Auffangfunktion der allgemeinen Handlungsfreiheit als lex generalis beschränkt sich auf Verhaltensweisen, deren Schutz spezialgrundrechtlich nicht vorgesehen ist, wie z. B. Ausreise oder Auswanderung. Sie erfaßt jedoch keine Betätigung, die spezialgrundrechtlich ausgeschlossen ist und über die der Verfassunggeber gleichsam ein UnWerturteil gesprochen hat. 87 In diesem Fall liegt nicht nur hinsichtlich des spezialgrundrechtlich ausdrücklich gewährleisteten Schutzbereichs, sondern auch hinsichtlich des inzident von ihm ausgenommenen Sachverhalts ein Fall konsumierender Gesetzeskonkurrenz 88 (lex specialis derogat legi generali) vor. Wenn das Grundgesetz in Art. 8 Abs. 1 nur friedliche Versammlungen und Versammlungen unbewaffneter Teilnehmer schützt, so läßt es unfriedliche Versammlungen oder Veranstaltungen bewaffneter Personen nicht ungeregelt, sondern mißbilligt sie mit der Folge, daß Grundrechtsschutz nicht über Art. 2 Abs. 1 86 Vgl. §§ 1565 ff. BGB. 87 So Herzog in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 8 RN 77. 88 Hierzu Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Halbband I, 15. Aufl. 1959, §601 3, S. 351. 41'

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GG zu erlangen ist. 89 In gleicher Weise bedeutet Schutz der Ehe die Ablehnung ehewidrigen Verhaltens, das damit vom Grundrechtsschutz schlechthin ausgenommen ist. 90 Homogene (gleichgeschlechtliche) nichteheliche Lebensgemeinschaften unterfallen nicht dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG. 91 Wenn vielfach auch als Selbstverständlichkeit nicht ausdrücklich hervorgehoben 92, ist Ehe ausschließlich die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts.93 Als abschließende lex specialis im Ehe- und Familienbereich und wegen seines Charakters als besonderen Gleichheitssatzes schließt Art. 6 Abs. 1 GG zum einen einen Rückgriff auf Art. 3 Absatz 1 wie Absatz 2 GG, zum anderen für eine Eheschließung gleichgeschlechtlicher Partner auch eine Berufung auf Art. 2 Abs. 1 GG 9 4 aus. Wegen der Eindeutigkeit der Verfassungsvorschrift und ihres Vorrangs verfügt der Gesetzgeber in dieser Hinsicht über keinerlei Regelungs- und Gestaltungsspielraum, und sind engagiert-naive Hinweise auf außerdeutschen Zeitgeist-Fortschritt 95 müßig. Auch Art. 10 Abs. 2 der Berliner Verfassung, wonach niemand wegen seiner sexuellen Identität benachteiligt werden darf, kann sich nur im Rahmen des geltenden Bundes-Familienrechts entfalten. Eine Eheschließung zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern ist nach allem sowohl nach geltendem Verfassungsrecht als auch nach geltendem Familienrecht ausgeschlossen und kann daher auch landesrechtlich nicht eingeführt werden. Dagegen können sich die Partner gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften für ihr Zusammenleben auf die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG berufen. Hatte das Bundesverfassungsgericht noch im Jahre 1957 entschieden, daß homosexuelle Betätigung gegen das Sittengesetz verstößt 96, so haben sich inzwischen die Anschauungen gewandelt, was auch die Änderung einschlägiger Strafvorschriften dokumentiert.

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Wie hier Herzog aaO.; unrichtig Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 14. Aufl. 1998, RN 342, die einen Grundrechtsschutz für unfriedliche Versammlungen tatsächlich aus Art. 2 Abs. 1 GG herleiten wollen. 90 BVerfG (Kammer) NJW 1999, S. 1622 Nr. 2. 91 BVerfG (Kammer) NJW 1993, S. 3058 f.; BayObLG NJW 1993, S. 1996f.; OLG Köln ebenda S. 1997 f.; OLG Celle, FamRZ 1993, S. 1082f. Gernhuber/Coester-Waltjen (FN 46) S. 38; siehe auch Roland Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare?, 1996. 92 Vgl. § 1310 Abs. 1 BGB. 93 Vgl. BVerfGE 49, 286 (300); BVerfG (Kammer) NJW 1993, S. 3058 f. 94 BVerfG (Kammer) NJW 1993, 3058 f. 95 In Dänemark können auf Grund des Gesetzes Nr. 372 vom 7. 6. 1989 zwei Personen gleichen Geschlechts ihre Partnerschaft eintragen lassen. Diese Eintragung hat grundsätzlich dieselben Rechtswirkungen wie eine Eheschließung. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Andreas Wacke, Die Registrierung homosexueller Partnerschaften in Dänemark, FamRZ 1990, S. 347 ff.; Susanne Grib, Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft im nordischen und deutschen Recht, Diss. Kiel 1995. 96 BVerfGE 6, 389 L. 2.

Eheliche und nichteheliche Lebensgemeinschaften

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VI. Zur Gleichstellungsproblematik Fehlender oder minderer Grundrechtsschutz beantwortet als solcher noch nicht die Frage, ob rechtliche Vorteile für Ehepaare, insbesondere im Steuer- und im Sozialrecht, auf nichteheliche Lebensgemeinschaften übertragbar sind. Hierbei muß die verfassungsrechtliche von der rechtspolitischen Dimension getrennt werden. 1. Allzu vordergründig wird in der aktuellen Diskussion vielfach nur das Verbot einer Benachteiligung von Ehe und Familie erörtert. Dabei ist evident, daß eine „Witwenrente 97 für die Partnerin einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft ceteris paribus nicht höher sein darf als die einer verwitweten Ehefrau, daß nichteheliche Lebensgemeinschaften nicht unter leichteren Voraussetzungen im sozialen Wohnungsbau gefördert werden dürfen als Eheleute. Verfassungsrechtlich bedeutsamer ist das Behinderungsverbot, das der Gesetzgeber genau zu beachten hat, will er nicht aus blindem Reformeifer die Verfassung verletzen. Art. 6 Abs. 1 GG verbietet dem Staat auch, die Bereitschaft zur Eheschließung zu gefährden. Die Bereitschaft, eine Ehe einzugehen und damit Verantwortung und wirtschaftliche Nachteile auf sich zu nehmen, wird in Frage gestellt, wenn die Rechtsordnung in einem größeren Umfange nichteheliche Lebensgemeinschaften mit den Ehen gleichstellt. Wenn Partnerschaften unter denselben Voraussetzungen wie Eheleute Wohnraum erhalten 98, im Steuerrecht als Ehegemeinschaft behandelt werden und in der Sozialversicherung die Leistungen für Familienangehörige beanspruchen können, wird vielfach kein Grund mehr bestehen, von den Grundrechten des Art. 6 Abs. 1 GG Gebrauch zu machen. Damit verfehlt der Staat aber seinen von Verfassungs wegen vorgegebenen Schutzauftrag, weil er die Ehe nicht mehr fördert, sondern die Eheschließung behindert. 2.a) Rechtspolitisch hat der Gesetzgeber zunächst den fundamentalen Unterschied zu bedenken, der zwischen ehelichen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften besteht. Hauptgrund für die herausgehobene Stellung von Ehe und Familie sind die gegenseitigen Unterhaltspflichten innerhalb der ehelichen und familiären Gemeinschaft. Mit dieser nicht nur sittlichen, sondern familienrechtlichen Verantwortung wird zugleich der Staat entlastet. Dessen aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete Pflicht, dem einzelnen im Falle der Not ein menschenwürdiges Auskommen zu sichern, wird zu einer subsidiären Einstandspflicht abgeschwächt. Diese Subsidiarität ist jahrhundertealtes Charakteristikum staatlicher Fürsorge und findet sich schon im Allgemeinen Landrecht von 1794. Konsequenterweise statuiert auch das geltende Recht einen Nachrang der Sozial97 Hierzu Franz Ruland, Rente für die „nichteheliche Witwe"?, NJW 1995, S. 3234 f. 98 Vgl. hierzu den vom Bundesrat beschlossenen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes und anderer wohnungsrechtlicher Gesetze vom 5. 2. 1999 (BR-Drucks. 58/99 [Beschluß]). Danach sollen auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften künftig wie Ehen beim Bezug von Sozialwohnungen berücksichtigt werden; siehe auch BRDrucks. 58/99 v. 28. 1. 1999; 254/97 v. 14. 4. 1997; 254/97 (Beschluß) v. 25. 4. 1997.

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hilfe", so daß diese nicht erhält, wer sich entweder selbst helfen kann oder wer die erforderliche Hilfe von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Die gegenseitige Unterhaltspflicht als Rechtspflicht unterscheidet Ehe und Familie von allen anderen Gemeinschaften oder Partnerschaften, insbesondere auch von den nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Sie birgt für die Eheleute ein erhebliches wirtschaftliches Risiko, weil sie im Falle der Scheidung nicht nur zum Zugewinn- und Versorgungsausgleich führt, sondern auch eine nacheheliche Verantwortung für den bedürftigen Partner begründet (§§ 1570 BGB), die den wirtschaftlich stärkeren Ehegatten bis zur „Grenze des Zumutbaren" 100 belastet. Sie ist ein gewichtiges Argument gegen eine Gleichstellung. b) Darüber hinaus sind zum einen die immensen Kosten zu bedenken, die eine Gleichstellung, z. B. als Steuer-Splitting oder bei Hinterbliebenenrenten für nichteheliche Lebenspartner mit sich brächte. Zum anderen ist zu berücksichtigen, daß die Finanz- und die Sozialversicherungsverwaltung Massenverwaltungen sind, die im Einzelfall oft mühevoll ermitteln müßten, ob es sich wirklich um eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft oder nur eine vorübergehende Gemeinschaft handelte, wobei gleichzeitig erhebliche Mißbrauchsgefahren entstünden. Schließlich ist zu erwägen, ob der Staat Ehevergünstigungen für Personen einräumen soll, die sich selbst nicht zu einem Einstehen füreinander rechtlich verpflichten wollen. Deshalb besteht keine Notwendigkeit für eine Gleichstellung, da jedenfalls die Partner heterogener Lebensgemeinschaften die Gleichstellung jederzeit durch eine Eheschließung erreichen können. Politiker sehen jedoch offenbar eine Nische, um brachliegendes Wählerpotential zu mobilisieren. Sie bemühen sich um Reformen, die im wesentlichen aber in politischem Aktionismus oder in symbolischer Gesetzgebung steckenbleiben. Das gilt insbesondere für die Registrierung gleichgeschlechtlicher Paare bei Standesämtern („Hamburger Ehe"), weil hieraus keine Rechte und Pflichten folgen. Ob die Verweigerung einer Fahrtvergünstigung für eine Lebensgefährtin gleichen Geschlechts durch den Arbeitgeber so essentiell ist, daß hierfür der Europäische Gerichtshof 101 bemüht werden muß, erscheint fraglich. Hinter den Bestrebungen, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Ehen gleichzustellen, steht vielfach als Motiv, die Vorteile einer Ehe mitzunehmen, die wirtschaftlichen Nachteile aber zu meiden. Das alte deutsche Recht hatte hierfür das treffende Sprichwort: Nur „wer den bösen Tropfen hat, genießt auch den 102

guten .

99 § 2 Abs. 1 BSHG. 100 BVerfGE 57, 361 (381); BGH NJW 1999, S. 1630 (1631). 101 Vgl. EuGH I Rs. C-249 / 96 - Grant - 1 - 621. 102 Vgl. Graf/Dietherr, Deutsche Rechtssprichwörter, 2. Ausgabe, Nördlingen 1869, Nachdruck 1975, S. 85 Nr. 122.

IV. Eigentum und Steuer

Das Geldeigentum Von Paul Kirchhof

I. Eigenes als Grundlage individueller Freiheit Eine freiheitliche Demokratie baut auf das Recht zum Eigenen. Der eigene Wille, der eigene Körper, die eigene Meinung, die eigene Familie, die eigene Vereinigung und das Eigentum sind Bedingungen der Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, die das Recht als Inhalt und Grundlage individueller Freiheit schützt. Das Recht an der eigenen Person macht den Einzelnen zum Rechtssubjekt und gibt ihm die Freiheit zur Bestimmung über rechtlich gestaltbare Lebensbedingungen. Das Recht an der eigenen Persönlichkeit schützt die Entfaltung der Person und die Entwicklung ihrer Fähigkeiten. Das Recht an und in der eigenen Gemeinschaft wahrt die Freiheit zu mitmenschlicher Begegnung, langfristiger Bindung und Zusammengehörigkeit. Das Eigentum ist die ökonomische Grundlage individueller Freiheit. Es vermittelt Bestimmungsmacht über Wirtschaftsgüter und damit über tatsächliche Voraussetzungen nahezu jeder Freiheitswahrnehmung und insbesondere der Freiheit vom Staat. Walter Leisner hat immer wieder mit Nachdruck die herausragende Bedeutung der Eigentumsgarantie für unsere Verfassungsordnung betont und in fordernder Akzentuierung die Eigentümerfreiheit als Basisfreiheit jeder bürgerlich-liberalen Rechtsordnung entfaltet 1. Eigentum sei ein eigentümliches Recht: die meisten hätten es, alle strebten danach - und doch stehe es überall im Streit 2. Der Kampf um das Privateigentum sei die eigentliche Wurzel der amerikanischen Freiheitsrechte, Eigentum sei im französischen Aufbruch zur Demokratie als die beste Freiheit verstanden worden, der unbedingte Schutz des Eigentums sei der Vorbehalt gegenüber einer unbedingten Staatsgewalt, in der die Mehrheit alles vermöge. Der liberale Kompromiß von Macht und Besitz deute das Eigentum zunächst als das Gut der freien, leistungsstarken Bürger, auf das sich Bürgerstolz gründe, habe aber mit der Kritik an der Gleichheit der Eigentumschancen und dem Verlust des virtuellen 1 Vgl. Sozialbindung des Eigentums, 1972; Kleineres Eigentum, Grundlage unserer Staatsund Wirtschaftsordnung (zusammen mit Otmar Issing), 1976; Eigentum, in: HStR VI, 1989, § 149 und jüngst: Demokratie, Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährlichen Staatsform, 1998, S. 35 ff. 2 HStR VI, § 149 Rn. 1.

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Eigentümers, des Hoffnungsbürgers, Gestaltungsmacht an ein sich ständig verstärkendes schlechtes Eigentumsgewissen verloren, das Besitz verschleiere und verstecke3. Das Eigentum sei ein Menschenrecht, stehe daher nie vollständig zur Disposition des Staates und könne insbesondere nicht unter Berufung auf eine angeblich höherrangige menschenrechtliche Freiheit relativiert werden4. In diesem menschenrechtlichen Kern gewährleiste die Eigentumsgarantie in ihrer geschichtlichen Kontinuität kein Eigentum nach Geschichte5 und ebenso kein Eigentum nach Gesetz6, sondern ein für den Gesetzgeber unverletzliches, aber von diesem zu entfaltendes Grundrecht. Ein breit gestreutes Bürgereigentum, insbesondere das Arbeitseinkommen und das die Sozialversicherung ergänzende Haus- und Wohnungseigentum lasse den Bürger Freiheit erfahren - mehr als im Großbesitz, der oft den Menschen beherrsche. Eigentum sei Voraussetzung der Demokratie, weil es Freiheit und Selbstbewußtsein des Wahlbürgers steigere7. Die Eigentumsgarantie anerkenne im Kern den wirtschaftlichen Erfolg individueller Leistung, gebe jedermann die Chance und Hoffnung auf Eigentumserwerb, sichere deshalb ein einheitliches - von Funktionsunterschieden grundsätzlich unabhängiges - Eigentum als Recht auf stetigen Hinzuerwerb, auf ein Mehr an Eigentum und Freiheit 8. Im Rahmen dieser verfassungsrechtlichen Gewährleistungen verlangt das Geldeigentum besondere Sicherungen, weil dieses Wirtschaftsgut noch nicht gegenständlich konkret ist, sondern in dem Anspruch besteht, für einen von der Rechtsgemeinschaft gewährleisteten wirtschaftlichen Wert konkrete Güter und Dienstleistungen eintauschen zu dürfen. Die Abstraktheit dieses individualnützigen Wirtschaftsgutes enthält eine Blankettbefähigung zu zukünftigem wirtschaftlichem Handeln, bietet dem Eigentümer insoweit eine besondere Weite der Handlungsmöglichkeiten, ist andererseits in seiner Abhängigkeit von dem Gewährträger des Geldwertes in seiner Substanz besonders gefährdet. Die Geldentwertung durch Inflation, die wachsende steuerliche Teilhabe des Staates am Erzielen und Umsetzen von Geldeigentum, der Einfluß nationaler und internationaler Märkte, privater Geldinstitute und hoheitlicher Währungsinstitute, das Zusammenwirken verschiedener Währungen und die Durchlässigkeit von Währungsräumen bringen die Unverbrüchlichkeit des Rechts am Geldeigentum in eine gesteigerte Abhängigkeit von der Rechtsgemeinschaft, den in ihr handelnden Menschen und Institutionen.

3 Demokratie, a. a. O., S. 36 ff. HStR V I § 149 Rn. 18 f. 5 HStR V I § 149 Rn. 36. 6 Daselbst, Rn. 54 ff.

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Kleineres Eigentum, a. a. O., S. 87 und passim. 8 Vgl. Demokratie, a. a. O.; HStR V I § 149 Rn. 85 ff.

Das Geldeigentum

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II. Die Eigentumsgarantie 1. Gegenstände des Eigentumsschutzes Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet das „Eigentum", die privat verfügbare ökonomische Grundlage individueller Freiheit, die „vergegenständlichte Freiheit". Die Garantie des Eigentums dient der individuellen Freiheit. Im Gesamtgefüge der Grundrechte kommt ihr die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen Freiraum für wirtschaftliches Handeln zu sichern, seine Handlungsfreiheit vermögensrechtlich zu stützen und ihm dadurch eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens zu ermöglichen 9. Während im vergangenen Jahrhundert noch Sachgüter, insbesondere der gewerbliche und landwirtschaftliche Betrieb, die wirtschaftliche Grundlage für Existenzsicherung, Lebensgestaltung und ökonomischen Einfluß gewesen sind, sichert in der heutigen Gesellschaft die große Mehrzahl der Menschen ihre wirtschaftliche Existenz und ihre Gestaltungsfreiheit „weniger durch privates Sachvermögen als durch den Arbeitsertrag und die daran anknüpfende solidarisch getragene Daseinsvorsorge, die historisch von jeher eng mit dem Eigentumsgedanken verknüpft war" 1 0 . Dementsprechend schützt die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG nicht nur körperlich greifbare Sachen, sondern auch alle Vermögenswerten Güter, die einem Rechtsträger zugeordnet sind und in dessen Hand als Grundlage privater Initiative und im eigenverantwortlichen privaten Interesse von Nutzen sein sollen 11 . Das Bundesverfassungsgericht sieht die wesentlichen Merkmale des verfassungsrechtlich geschützten Eigentums darin, „daß ein vermögenswertes Recht dem Berechtigten ebenso ausschließlich wie Eigentum an einer Sache zur privaten Nutzung und zur eigenen Verfügung zugeordnet" ist 1 2 . Auf dieser Grundlage hat es den Schutz der Eigentumsgarantie nicht nur für dingliche Rechtspositionen bejaht - wie das Warenzeichen 13, den Ausstattungsschutz14 und das Erbbaurecht 15 sondern auch für geldwerte Forderungen wie den Kaufpreisanspruch 16 und den steuerlichen Erstattungsanspruch 17. Auch Vermögenswerte Rechte öffentlich-rechtlicher Natur können durch Art. 14 GG geschütztes Eigentum sein, wenn diese Rechtspositionen durch Leistung - den Einsatz von Arbeitskraft oder Kapital 9 BVerfGE 53, 257 - Versorgungsausgleich - ; BVerfGE 50, 290 - Mitbestimmung - ; 24, 367 - Hamburger Deichordnung - . 10 BVerfGE 53, 257 ; 40, BVerfGE 65 - Krankenversicherungsschutz - . BVerfGE 53, 257 ; BVerfGE 50, 290 ; BVerfGE 42, 263 - Contergan - ; BVerfGE 31, 229 - Urheberrecht - ; BVerfGE 24, 367 . 12 BVerfGE 83, 183 ; vgl. auch BVerfGE 89, 1 < 6 > - Besitzrecht des Mieters - . 13 BVerfGE51, 193 . 14 BVerfGE 78, 58 . 15 BVerfGE 79, 174 . 16 BVerfGE 45, 142 . 17 BVerfGE 70, 248 .

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erworben sind und das von der Eigentumsgarantie verfolgte Schutzziel der Sicherung von persönlicher Freiheit und materiellen Vertrauenstatbeständen eine Gleichbehandlung mit den privaten Vermögensrechten verlangt 18. Zu diesen eigentumsgeschützten öffentlich-rechtlichen Rechtsstellungen gehören insbesondere die sozialversicherungsrechtlichen Individualrechte, die auf nicht unerheblichen Eigenleistungen beruhen 19. Für vermögensrechtliche Ansprüche der Beamten und Versorgungsempfänger übernimmt nach ständiger Rechtsprechung20 Art. 33 Abs. 5 GG die gleiche Funktion, die außerhalb von Beamten Verhältnissen Art. 14 GG zukommt 21 . Soweit das Eigentum die persönliche Freiheit des Einzelnen sichert, genießt es einen besonders ausgeprägten Schutz22. Ebenso ist die eigene Leistung, dank derer Eigentum erworben worden ist, ein besonderer Schutzgrund für die Eigentümerposition 23 . Wird ein Eigentum in den elementaren Befugnissen des Besitzens, Verwaltens, Nutzens oder Verfügens eingeschränkt, so gelten besonders strenge Maßstäbe24. a) Geldforderungen als Eigentum Nach dieser gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind auch Geldforderungen Eigentum im Sinne des Art. 14 GG, wenn sie eine ökonomische Freiheitsgrundlage bieten und durch Leistung erworben worden sind. Das Bundesverfassungsgericht knüpft insoweit an die klassische Rechtfertigung des Eigentums an: Eigentum anerkennt den Erfolg individueller Arbeit, die Wahrnehmung der Eigentümerrechte stützt individuelle Freiheit. Würde man hingegen zwischen Sach- und Geldgütern differenzieren, so würde die Funktion des privatnützigen, freiheitsdienlichen Eigentums sachwidrig verfremdet: Das in Münzen und Banknoten verkörperte Geld wird von dem Zivilrecht dem Recht der beweglichen Sachen zugeordnet 25. Dieses Geldeigentum wäre von Art. 14 GG geschützt26, während der - nach unserem Banken- und Währungsrecht 18 Vgl. BVerfGE 40, 65 ; 45, 142 ; 48, 403 ; 53, 257 ; 89, 272 . 19 BVerfGE 48, 403 ; 53, 257 ; 72, 9 ; 72, 175 ; 74, 203 ; 76, 220 . 20 BVerfGE 67, 1 ; 71, 255 ; 76, 258 . 21 Bei Ansprüchen von Soldaten soll dagegen Art. 14 GG anwendbar sein, BVerfGE 16, 94 ; 83, 182 ; gleiches gilt bei besonderen Hochschullehrerbezügen BVerfGE 35, 23 . 22 BVerfGE 14, 288 ; 42, 64 ; 50, 290 . 23 BVerfGE 1, 264 ; 24, 220 ; 50, 290 . 24 Vgl. BVerfGE 21, 87 ; 26, 215 ; 50, 290 ; aber auch BVerfGE 70, 191 - Fischereirechte - . 25 K. Schmidt, in: Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 12. Aufl., 1983, Vorbem. zu§244RnB 11.

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jederzeit mögliche - Umtausch des Münz- und Notengeldes in Forderungsgeld den Schutz des Eigentums beendete. Umgekehrt würde die - schutzlose - Geldforderung gegen die Bank in ein eigentumsrechtlich geschütztes Geld vermögen umgewandelt, wenn der Bankkunde am Bankautomaten seine Geldforderung in Geldscheine umtauscht. In der modernen Geldwirtschaft liegt ein wesentlicher Teil der Freiheitsgarantien gerade in dem Recht, Geld- und Sachvermögen jederzeit gegeneinander austauschen zu können. Wer über Geld verfügt, hat die Freiheit, diese seine Kaufkraft gegen beliebige, am Markt angebotene Güter einzutauschen; er behält sich die Entscheidung über die Verwendung seiner Kaufkraft im Geld vor und bewahrt sich dadurch reale, freiheitswirksame Alternativen. Umgekehrt gewinnt derjenige, der sein Geld zum Erwerb eines freiheitdienlichen Wirtschaftsgutes - seiner Kleidung, seiner Wohnung, seiner Nahrungsmittel, seines Buches - eingesetzt hat, individualisierte ökonomische Grundlagen seiner Freiheit. Das abstrakte Recht auf Güter und Dienstleistungen wird zum konkreten Gut und zur konkreten Dienstleistung; aus der - marktabhängigen - Nachfragekraft wird ein - marktunabhängiger - Bestand. Das Geldeigentum sichert individuelle Existenz und stützt persönliche Freiheit, weil es dem Eigentümer die Fähigkeit zum Tausch seines Geldes gegen die von ihm ausgewählten Güter vermittelt: Das Sozialhilferecht gibt den Bedürftigen deshalb Geldeigentum und nicht nur Sachgüter. Es befriedigt einen existentiellen Bedarf durch Waren nur, wenn der Bedürftige zur sachgerechten Kaufentscheidung nicht in der Lage ist. Das Zuteilen von Waren nach Entscheidung der Behörde bevormundet den Konsum des Empfängers; Geld hingegen überläßt ihm die Kaufentscheidung und vermittelt damit Freiheit. Der zentrale Inhalt der Eigentümerfreiheit, die Verfügungsfreiheit, enthält umgekehrt auch das Recht, gegenständliche Freiheit gegen Nachfragekraft einzutauschen: Ob das Baugesetzbuch die Verfügungsfreiheit über Grundstücke, d.i. das Eintauschen des Grundeigentums gegen Geldeigentum beschränkt, das Außenwirtschaftsrecht den grenzüberschreitenden Tausch von Geld gegen Waren an rechtliche Bedingungen knüpft oder staatliche Bewirtschaftungsvorschriften den Tausch bestimmter Güter gegen Geld der Verfügungsgewalt des Berechtigten entziehen, stets ist der Eigentümer in seiner Verfügungsfreiheit betroffen. Die Beschränkung bedarf deshalb einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Die Ähnlichkeit von Sach- und Geldeigentum als Schutzgüter der Eigentumsgarantie ist in Art. 14 GG ausdrücklich anerkannt. Muß der Eigentümer nach den Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 3 GG eine Enteignung hinnehmen, so „tritt an die Stelle der Bestandsgarantie eine Wertgarantie, die sich auf Gewährung einer vom Gesetzgeber dem Grunde nach zu bestimmenden Entschädigung richtet"27. 26 Jedenfalls in seinem Gegenstandswert, der bei Münzen teilweise höher als der Nominalwert ist. 27 BVerfGE 58, 300 - Naßauskiesung - ; vgl. auch BVerfGE 24, 367 ; 46, 268 .

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Die Junktimklausel des Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG wahrt, soweit die Erfordernisse zum Wohle der Allgemeinheit (Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG) eine Enteignung zulassen, die Eigentümerposition des Enteigneten und erhält grundsätzlich die eigentumsrechtliche Gleichheit zwischen Enteigneten und Nichtenteigneten; dementsprechend ist die Entschädigung zu bemessen28. Der freiwillige Tausch eines Sachgutes in Geldeigentum oder die Nutzung des Sachgutes zum Erwerb eines Geldertrages ist Inhalt der Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1: Das Eigentum an einer Sache garantiert dessen Privatnützigkeit und Verfügbarkeit 29. Das Privateigentum gibt dem Eigentümer die Freiheit zum Erwerben, Besitzen, Nutzen, Verwalten, Verbrauchen und Veräußern 30. „Die Nutzung soll es dem Eigentümer ermöglichen, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Insofern enthält die grundrechtliche Eigentumsgewährleistung Elemente der allgemeinen Handlungsfreiheit. Sie schützt grundsätzlich auch die Entscheidung des Eigentümers darüber, wie er das Eigentumsobjekt verwenden will" 3 1 . Ebenso ist das Recht, Geldeigentum gegen Sacheigentum einzutauschen und jede dieser Eigentumsformen zu erwerben 32, grundrechtlich geschützt.

b) Das Geld als Recheneinheit, Wertaufbewahrungsmittel, Blankettbefahigung zu wirtschaftlichem Handeln Der rechtliche Schutz des Geldes als Sache (Münzen und Banknoten) und als Forderung erfaßt die Funktion des Geldes nur, wenn die dem Geld von ihrem Emittenten (Bundesbank, Europäische Zentralbank) zugewiesene währungsrechtliche Aufgabe, Wertträger und Zahlungsmittel zu sein, in den Schutz einbezogen wird. Geld dient als Recheneinheit, als allgemeines Tauschmittel (Wertübertragungsmittel) und als Wertaufbewahrungsmittel 33. Die freiheitsstützende Funktion des Geldes besteht regelmäßig nicht in einem Gebrauchswert oder einem Materialwert; dieser wird dem Geld in der modernen Geldwirtschaft in der Regel fehlen. Das 28 BGHZ, 6, 270 ; Rüfner, FS Scheuner, 1973, S. 514f., 527; Friauf, FS Jahrreiß, 1974, S. 57 f.; Badura, Handbuch des Verfassungsrechts, § 10 Rn 59; Wendt, in: Sachs (Hrsg.) Grundgesetz, Kommentar, 1996, Art. 14 Rn 82. 29 BVerfGE 52, 1 ; 79, 292 ; 83, 201 ; 88, 366 . 30 Vgl. Paul Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39, S. 213 . 31 BVerfGE 88, 366 - Eintragung eines gekörten Hengstes in die Zuchtbücher - ; zur Durchsetzung des Entgeltanspruchs bei einem Verfügungsvorgang im gerichtlichen Verfahren vgl. BVerfGE 51, 150 m.N. - Zwangsversteigerung - . 32 Vgl. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rn. 221 ff. (1994); Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Kommentar, 4. Aufl., 1997, Art. 14 Rn 13; Wendt, a. a. O., Art. 14 Rn 43 - dort jeweils für die Institutsgarantie des Eigentums bejaht, im übrigen auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützt. 33 Vgl. W Ehrlicher, Geldtheorie und Geldpolitik in: HdWW, Bd. 3, 1981, S. 374 ; O. Issing, Einführung in die Geldtheorie, 6. Aufl., 1987, S. 1 ff.; Reiner Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Allgemeiner Teil, 1990, S. 347; Hugo J. Hahn, Währungsrecht, 1990, S. 220 ff.

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Geld dient der Freiheit des Eigentümers im wesentlichen dadurch, daß der Empfänger einer Geldsumme darauf vertrauen kann, das empfangene Geld wieder gegen Waren oder Dienstleistungen gleichen Wertes einlösen zu können. Dieses Einlösungsvertrauen erlaubt dem Geldeigentümer, Geld und damit Geldwert zu horten oder es gegen das bindende Versprechen späterer Rückgabe zu verleihen, in beiden Formen also Geld aufzubewahren. Auf dieser Grundlage ist das Geld auch die Bewertungseinheit, um Güter und Dienstleistungen vergleichbar in einem Wert auszudrücken und damit ihre Relation zu anderen Gütern und Dienstleistungen - insbesondere im Wirtschaftsverkehr - zu definieren 34. In diesen Funktionen wird das Geld zu einem der „großartigsten Werkzeuge zur Freiheit, die der Mensch je erfunden hat" 35 . Die Verfügungsmacht über Geldmittel befähigt zum Erwerb aller am Markt verfügbaren Güter und Dienstleistungen, zum freiheitlichen gegenwärtigen Verzicht auf Nachfrage in der Sicherheit, diese Nachfragekraft für die Zukunft bewahren zu können, sowie zur freiheitlichen Einschätzung der für die jeweils verfügbare Geldsumme eintauschbaren Güter und Dienstleistungen. Geld ist „geprägte Freiheit" 36 . Das Geld bietet die Freiheiten des „Habens" und „Verfügens". Die Funktion des Habens von Geld allerdings beschränkt sich, da das Geld als solches keinen Gebrauchswert hat und sein Ertragswert schon die Eigentumsnutzung betrifft, auf das Horten zukünftiger Nachfragekraft. Der materielle Gehalt des Geldeigentums ist weniger das Recht zum Besitz als die im Geld vermittelte Verfügungsmacht. Geld ist das der wirtschaftlichen Nutzung, Verwaltung und Verfügung dienende Eigentum, ist Blankettinstrument zu ökonomischem Handeln, ist vergegenständlichte Freiheit zum Wirtschaften. Das Geldeigentum ist demnach durch die Besonderheit gekennzeichnet, daß es stets auf Begegnung, Austausch, gemeinschaftliche Einschätzung und Bewertung angewiesen ist. Während der Eigentümer sein Sacheigentum - sein Grundstück, sein Musikinstrument, sein Buch - als Einzelperson, als einsamer Eigentümer, nutzen kann, ist das Geldeigentum nur in der Begegnung mit anderen nutzbar. Die Eigentümerfreiheit des Geldeigentümers ist auf eine ihr entgegenkommende korrespondierende Freiheit eines anderen angelegt, ist die Freiheit zum Tausch.

c) Die Gemeinschaftsbezogenheit des Geldeigentums Damit ist das Geldeigentum in seinem freiheitsvermittelnden Gehalt auf die mit dem jeweiligen Geld wirtschaftende Rechtsgemeinschaft, auf die Währungsgemeinschaft, auf die das Einlösungsvertrauen des Geldeigentümers erfüllende Ge34 Vgl. Klaus Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, HStR Bd. I, 1997, § 27 Rn. 5 f.; Reiner Schmidt, Geld und Währung, HStR Bd. III, 1988, § 82 Rn. 4 ff. 35 Friedrich August von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, o.J., S. 120 ff. 36 F. M. Dostojewski, Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, Teil I, 1921, S. 32.

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meinschaft von Wirtschaftssubjekten angewiesen. Diese Gemeinschaft wird bisher in der Tradition einer Vielfalt von Staaten (Nationen) als „Nationale-Ökonomie verstanden, in der Tradition der Demokratie als „Volkse-Wirtschaft. Gegenwärtig tritt an die Stelle dieses Garanten des Geldeinlösungsvertrauens - des deutschen Volkes und Staates - eine europäische (Teil-)Gemeinschaft. Diese Gemeinschaftsabhängigkeit „modaler" subjektiver Rechte ist dem Verfassungsrecht geläufig. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG sichert dem Einzelnen als subjektives öffentliches Recht einen Anspruch auf Gerichtsschutz gegen die öffentliche Gewalt, setzt damit von Rechts wegen eine Gerichtsorganisation, ein Gerichtsverfahren und einen Rechtsprechungsmaßstab, damit letztlich alle wesentlichen Institutionen des demokratischen Rechtsstaates voraus. In ähnlicher Weise baut das Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 GG) auf die Institutionen und Verfahren eines demokratischen Staates und insbesondere auf die Verfassungsvoraussetzung eines Staatsvolkes. Die ebenfalls verfassungsbeschwerdefähigen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) subjektiven Rechtspositionen des öffentlichen Dienstes (Art. 33 GG) lehnen sich an eine spezielle Organisationsform des Staates an, gewinnen also ihren individualrechtlichen Gehalt aus den Vorgaben der staatlichen Organisation. Das Recht auf Zuflucht (Art. 16a Abs. 1 GG) und Zugehörigkeit (Art. 16 Abs. 2 GG) zur deutschen Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft ist im Kern ein Grundrecht auf Teilhabe an der von den Rechtsbeteiligten gestalteten staatlichen Wirklichkeit. Ähnliches gilt für den aus Art. 1 und 2 GG abgeleiteten Anspruch auf ein ökonomisches und kulturelles Existenzminimum37 und für die Freiheitsrechte, die nur in einem staatlich monopolisierten Lebensbereich ausgeübt werden können 38 . Während diese Grundrechte und grundrechtsgleichen Gewährleistungen im Kern - „staatsgerichtet" - die staatliche Rechtsgemeinschaft voraussetzen und in Anspruch nehmen, zielen andere Freiheitsrechte auf die Begegnung und die Gemeinschaft mit gleichgeordneten Freiheitsberechtigten. Dies gilt vor allem für die Meinungs-, Presse- und alle sonstigen Kommunikationsfreiheiten, für die Berufsfreiheit - deutlich bei der Arbeitsplatzsuche des Arbeitnehmers außerhalb des öffentlichen Dienstes, bei der auf das Gewinnen von Kunden angelegten Aufnahme gewerblicher oder freiberuflicher Tätigkeit - , bei der Freiheit zu Ehe und Familie, bei der Begegnungsfreiheit der Art. 8, 9 und 21 GG sowie bei dem Recht auf die unverletzliche Wohnung, das im Besitzrecht des Mieters gegenüber dem Eigentümer fundiert ist 39 . Die Gemeinschaftsbezogenheit der Grundrechte ist demnach Normalität insbesondere der Freiheitsrechte, begrenzt aber zugleich den Inhalt der verfassungsrechtlichen Gewährleistung. Der Grundrechtsschutz wehrt staatliche Eingriffe in die vorgefundene, freiheitsermöglichende gesellschaftliche Wirklichkeit ab, fordert aber grundsätzlich nicht eine staatliche Bestandsgarantie. 37 38 39

Zum verfassungsrechtlichen Anspruch auf Sozialhilfe BVerfGE 82, 60 . Vgl. etwa BVerfGE 33, 303 - Numerus Clausus - . Vgl. BVerfGE 89, 1 .

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Dieser Gewährleistungsinhalt richtet sich für das Verfügungseigentum des Geldes allerdings an den Staat und die Gemeinschaft der Freiheitsberechtigten. Das Geld wird hoheitlich garantiert, der Geldwert jedoch weitgehend von der Gemeinschaft der Erwerbstätigen und Konsumenten bestimmt. aa) Währungshoheit und Währungsraum Das Geldeigentum ist insoweit staatsabhängig, als das Geld der Währungshoheit des Bundes unterliegt 40. Diese Hoheit findet ihre Grundlage in der Gesetzgebungsbefugnis nach Art. 73 Nr. 4 GG (Währungs-, Geld- und Münzwesen) und nach Art. 73 Nr. 5 GG (Waren- und Zahlungsverkehr), in der Institution der Bundesbank (Art. 88 GG), in ihrer Funktion als Währungsbank mit ihrem Notenausgabemonopol sowie in dem Stabilitätsauftrag des Art. 109 Abs. 2 GG, der die staatliche Haushaltspolitik u. a. auf die Stabilität des Preisniveaus verpflichtet 41. Diese Verantwortlichkeit des deutschen Staates macht das deutsche Staatsgebiet zu dem Währungsraum, dessen Rechtsordnung und Wirtschaftskraft das Geldeigentum und seinen Wert garantiert. Diese Bezogenheit auf eine staatliche Rechtsordnung und auf ein Staatsgebiet ist für die Eigentumsgarantie die Regel. Der Eigentumsschutz folgt diesem Territorialitätsprinzip 42. Vor allem aber bedarf das Eigentum als rechtliche Zuordnung eines Wirtschaftsgutes zu einer Person der rechtlichen Ausformung. Demgemäß überträgt das Grundgesetz in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 dem Gesetzgeber die Aufgabe, den Inhalt und die Schranken des Eigentums zu bestimmen. Der - deutsche - Gesetzgeber schafft damit diejenigen Rechtssätze, die das Eigentum und die Rechtsstellung des Eigentümers begründen und ausformen und deshalb am Schutze des Art. 14 Abs. 1 GG teilhaben43. Das Eigentum ist nicht eine vorgefundene Rechtsposition - wie Leben, Würde, körperliche Unversehrtheit - , sondern ein rechtlich geschaffenes, d. h. vom Staat und seiner Rechtsordnung abhängiges Recht. Eigentum wird durch staatliches Recht begründet, vom Staat verfassungsrechtlich gewährleistet und existiert in der Gebundenheit an Staat, Staatsverfassung und staatliche Rechtsordnung. Insoweit unterscheidet sich das Geldeigentum nicht vom übrigen Typus des Eigentums.

40 Reiner Schmidt, Geld und Währung, a. a. O., § 82 Rn. 7; Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 73 Rn. 63. 41 Vgl. BVerfGE 79, 311 - Staatsverschuldung - , vgl. auch Art. 104a Abs. 4, 109 Abs. 4, 115 Abs. 1 Satz 2 GG. 42 Vgl. BVerfGE 84, 90 - Bodenreform 1945 bis 1949 - .

43 Vgl. BVerfGE 58, 300 - Naßauskiesung - ; BVerfGE 52, 1 - Kleingartenrecht - . 42 FS Leisner

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bb) Abhängigkeit des Geldwertes von Staat und Gesellschaft Etwas anderes gilt für den Geldwert, der sich aus dem Verhältnis einer bestimmten Summe Geldes zu einer bestimmten Gütermenge über einen längeren Zeitraum ergibt. Der Geldwert ist die Kaufkraft des Geldes, die Entsprechung von Geld- und Preisniveau 44. Diese Bezogenheit des Geldes auf die für dieses Geld verfügbaren Waren und Dienstleistungen unterwirft den Geldwert wesentlichen Veränderungen. Für die Geldmenge trägt insbesondere die Bundesbank eine Verantwortung; für das Gesamtangebot von Gütern und Dienstleistungen, das Marktgeschehen, setzt die Privatwirtschaft die Ursachen. Diese Einflußmöglichkeiten haben für die Deutsche Mark zur Folge gehabt, daß diese besonders stabile Währung in den ersten 40 Jahren, seit dem 20. Juni 1948, 2/3 ihrer ursprünglichen Kaufkraft eingebüßt, das Preisniveau sich also - gemessen am Preisindex für die Lebenshaltung - um jährlich durchschnittlich 2,7 % erhöht hat 45 . Nachdem das Verfassungsrecht keine bestimmte Geldmenge vorschreibt, deren (Teil)Steuerung vielmehr in die Hand der Bundesbank gibt und dort nur mit allgemeinen Stabilisierungsaufträgen rechtlich skizziert, das Grundgesetz im übrigen aber das Güter- und Dienstleistungsangebot in die freie Entscheidung der Freiheitsberechtigten stellt, kann die grundrechtliche Garantie eines Eigentumsbestandes nicht den Wert eines Geldbestandes umfassen. Deshalb ist anerkannt, daß die Grundrechte keine Kaufkraftgarantie enthalten46. Anfänglich wurde eine solche Gewährleistung kategorisch abgelehnt47, sodann eine objektiv-rechtliche Pflicht zur Währungsstabilität erwogen 48, danach über die Ableitung einer Staatspflicht zur Geldwertstabilität aus dem Eigentumsgrundrecht gestritten 49 und schließlich die Lösung in der haushaltsrechtlichen Verpflichtung des Staates auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht (Art. 109 Abs. 2 GG) gesucht50. Diese Überlegungen bedürfen jeweils für die unterschiedlichen Funktionen des Geldwertes - des Binnenwertes, des Außenwertes, der Bestands- und Tauschwertgarantie - der Präzisierung.

44 Vgl. Hahn, Währungsrecht, a. a. O., § 16 Rn. 4 ff. 45 Vgl. Deutsche Bundesbank, 40 Jahre Deutsche Mark, Monatsbericht Mai 1988, 13 ff. 46 BVerfGE 53, 257 ; BVerfGE 50, 290 ; BVerfGE 42, 263 - Contergan - ; BVerfGE 31, 229 - Urheberrecht - ; BVerfGE 24, 367 . 47 Vgl. Scheuner, VVDStRL 11, 40 (69); Hettlage, VVDStRL 14, 2 ff. 48 Benda, NJW 1967, 852; Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft, 61; Schüßler, NJW 1964, 951 ff. 49 Vgl. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rn. 29; ders. AöR 98, 528 ff. m.w.N. 50 Vgl. dazu Klaus Vogel, in: Bonner Kommentar, Vorbem. zu Art. 104a bis Art. 115 Rn. 4; Selmer, AöR 101, 432 ff.

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(1) Der Binnen wert Ein Geldwert bleibt stabil, wenn sich das Verhältnis einer bestimmten Geldsumme zu einer bestimmten Warenmenge in einer beachtlichen Zeiteinheit nicht ändert, wenn also der Geldeigentümer für einen bestimmten Geldbetrag am Jahresende genausoviel Güter wie zu Jahresanfang erwerben kann. Geldwertstabilität heißt also „gleiche Kaufkraft" des Geldes oder „unveränderter Preisspiegel im Zeitablauf' 51 , bezeichnet im Rahmen des § 1 StWG die in der danach zulässigen Schwankungsbreite noch vertretbare Kaufkraft. Die Relativität dieser Geldwertstabilität hängt also von der Geldsumme ab, die nicht nur von der Bundesbank, sondern auch von privater Geldschöpfung beeinflußt wird, sowie von der Gütermenge und deren Preis, die im wesentlichen dem Verhalten privater Anbieter folgen. Der Geldwert wird bestimmt durch die von den Vertragsparteien vereinbarten Preise, die von den Tarifvertragsparteien abhängigen Löhne, die gesetzlich geregelten Steuern und Gebühren sowie die Vielfalt von Einschätzungen und Bewertungen von Gütern und Dienstleistungen durch die freiheitliche Gemeinschaft des Marktes. Wenn der Gesetzgeber das gesamte Geldvermögen dem Nominalwertprinzip unterwirft 52 , so formt er die Währungsbeteiligten zu einer Gemeinschaft freiheitlichen Austausches. Diese Relation von Kaufkraft und Preis kann und soll der grundrechtsverpflichtete Staat nicht garantieren. Sie ist in die Hand der Freiheitsberechtigten gegeben, die in ihrer Freiheit Angebot und Nachfrage bestimmen. Die Nutzung des Verfügungseigentums Geld beruht auf korrespondierender Freiheitsausübung; deren Ergebnis kann um der Freiheitlichkeit willen nicht staatlich gewährleistet, sondern nur stabilitätspolitisch beeinflußt werden. (2) Der Außenweit Der Außenwert des Geldes folgt aus der Beziehung des nationalen Geldes zu anderen Währungseinheiten. Dabei bemißt sich die Höhe des Außenwertes nach dem Wechselkurs für den Umtausch des Geldes in andere Währungen 53. In diesem Verhältnis der Währungen untereinander besteht Geldwertstabilität, wenn das Austauschverhältnis von Geldeinheiten verschiedener Währungsgebiete gleichbleibt, also der „intervalutarische Kurs" stabil ist 54 . Dieser Außenwert des Geldes bestimmt sich als Relation zwischen der Deutschen Mark und ihrem Garanten und einer ausländischen Währung und deren Garanten wesentlich nach der Haushaltspolitik des Vergleichslandes und vor allem 51 Hahn, a. a. O., § 16 Rn. 6. 52 Vgl. dazu BVerfGE 50, 57 - Zinsbesteuerung 53 Vgl. Deutsche Bundesbank, Aktualisierung der Außenwertberechnungen für die DM und fremde Währungen, Monatsbericht April 1989,44 ff. 54 Hahn, a. a. O., § 16 Rn. 5. 42*

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nach dessen Wirtschaftskraft. Der Außenwert der Deutschen Mark entzieht sich deshalb von vornherein einer Bestandsgarantie durch das deutsche Recht. Zudem hängt der reale Außenwert davon ab, inwieweit ein System relativer oder völlig freier Wechselkurse gilt. Deswegen handelt die staatsrechtliche Diskussion über eine grundgesetzliche Geldwertgarantie vom Binnenwert des Geldes, der von der deutschen Staatsgewalt stark beeinflußbar ist. Dieser Binnenwert wird bei der Feststellung des Außenwertes zu einer Ausgangsgröße des Vergleichs; das Ergebnis des Vergleichs aber hängt von der anderen Vergleichsgröße, den ausländischen Währungen und dem Vergleichsmaßstab - insbesondere der Freiheit oder Gebundenheit der Wechselkurse - ab. (3) Die Bestands- und Tauschwertgarantie Das Ergebnis, daß Art. 14 Abs. 1 GG den Wert des Geldeigentums nicht garantiert, gilt ebenfalls für alle Eigentumsrechte. Auch für ein Grundstück, eine bewegliche Sache oder das geistige Eigentum kann Art. 14 Abs. 1 GG nur die Verfügungsfreiheit des anbietenden Eigentümers gewährleisten, nicht aber die Bereitschaft des Nachfragers, für dieses Eigentum einen bestimmten - bisher marktüblichen oder durchschnittlichen - Preis zu bezahlen. Verfügungsfreiheit meint gegenseitige vertragliche Vereinbarung des Preises, zu dem der bisherige Eigentümer das Wirtschaftsgut dem neuen Eigentümer überträgt. Eine andere Frage stellt sich, wenn der Garant des Einlösungsvertrauens wechselt, wie es bei der Ersetzung der Deutschen Mark durch den Euro geschieht. In diesem Fall geht es nicht um den von den Marktbeteiligten bestimmten Tauschwert des Geldes und nicht um die von ihnen abhängende Geldwertstabilität. Das Problem einer Währungsumstellung bei einem den bisherigen Geldwert wahrenden Umrechnungkurs liegt in der Bestandsgarantie, also der Frage, ob das Geldeigentum seine Funktion als Recheneinheit, als Wertaufbewahrungsmittel und als ökonomische Blankettbefähigung bewahrt, wenn der Garant des Geldeigentums wechselt: Nicht mehr der deutsche Staat, sondern ein Staatenverbund innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ist die Organisation, die das Verfügungseigentum garantiert. 2. Die Bestimmung von Inhalt und Schranken durch Gesetz Der Bestand eines Geldeigentums hängt allerdings als Rechtsposition wie als Wirtschaftsgut von den gesetzlichen Vorgaben ab, die Inhalt und Schranken des Geldeigentums bestimmen (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Zu dieser gesetzlichen Bestimmung des Geldeigentums in Deutschland gehört zumindest mit dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union am 1. November 199355 ein durch das Zustimmungsgesetz zum Unionsvertrag in Deutschland wirksam gewordener 55 ABl (EG) 1993, Nr. L 293, S. 61.

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Euro-Vorbehalt (zu a) sowie eine für diese Währungsunion durch den EG-Vertrag und das Zustimmungsgesetz zugesicherte Stabilitätsgarantie (zu b). a) Der Euro-Vorbehalt Der deutsche Gesetzgeber, der die Rechtsposition des Geldeigentums inhaltlich bestimmt, regelt die Geldordnung in der Weise, daß die Deutsche Mark zumindest seit 1993 unter Euro-Vorbehalt steht. Das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag über die Europäische Union bestimmt nach dem Titel VI, 2. Kapitel des EG-Vertrages, daß Deutschland unter bestimmten Rechtsvoraussetzungen in eine Währungsunion einbezogen werden kann (Art. 109 j EGV), die Deutsche Mark deshalb nach Einführung einer einheitlichen Währung in den Euro umgerechnet und sie in dieser eigenständigen Währung aufgehen wird. Seitdem hat jeder Inhaber von DM-Eigentum von vornherein eine Rechtsposition erworben, die darauf angelegt ist, in eine Europäische Währungsunion eingebracht zu werden. Diese gesetzliche Vorgabe hat von Rechts wegen zur Folge, daß Garant dieses Geldes als Verfügungseigentum nicht mehr der deutsche Staat und die von der Wirtschaft in Deutschland begründete Kaufkraft ist, dieser nationale Garant vielmehr durch die Teilnehmerländer an der Währungsunion und die ihnen zugehörenden Volkswirtschaften ersetzt wird. Der Rechtsakt, der diesem „ Z w a n g s u m t a u s c h " die gesetzliche Grundlage gibt, ist das Zustimmungsgesetz zum Maastricht-Vertrag, nicht erst der Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion. Dieser Rechtsakt hat mit der 38. Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1992 56 eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Grundlage gefunden: Die Neuformulierung des Art. 23 GG als eine Ermächtigungsgrundlage für die Mitwirkung Deutschlands bei der Entwicklung der Europäischen Union und die Einfügung des Art. 88 Satz 2 GG mit der Ermächtigung, die Aufgaben und Befugnisse der Bundesbank im Rahmen der Europäischen Union auf die Europäische Zentralbank zu übertragen, stellen die Verfassungsmäßigkeit einer auch auf eine Währungsunion angelegten Europäischen Union für Deutschland außer Frage. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb im Maastricht-Urteil festgestellt, daß die Gewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG eine Ersetzung der Deutschen Mark durch den Euro (damals: die Ecu) nicht ausschließt, weil Art. 88 Satz 2 GG die Entwicklung zu einer Europäischen Währungsunion verfassungsrechtlich ausdrücklich anerkennt 57. Die Entwicklung zur Europäischen Währungsunion in den im Unionsvertrag angelegten Vollzugsschritten und deren Bestand wird vom Deutschen Bundestag und Bundesrat mit dem Zustimmungsgesetz in hinreichender Bestimmtheit verantwortet und kann insoweit demokratisch legitimiert werden 58. 56 BGBl. I, S. 2086. 57 BVerfGE 89, 155 . 58 BVerfGE 89, 155 < 199 ff.> - Maastricht - ; BVerfG, EuGRZ 1998, S. 164 .

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b) Die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft Der EG-Vertrag regelt in seinem VI. Abschnitt, 2. Kapitel die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft. Diese Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft ist vom Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil im einzelnen geprüft und hervorgehoben worden 59 . Das Gericht kommt im Ergebnis zu folgender Beurteilung: „Diese Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft ist Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes. Sollte die Währungsunion die bei Eintritt in die dritte Stufe vorhandene Stabilität nicht kontinuierlich im Sinne des vereinbarten Stabilisierungsauftrags fortentwickeln können, so würde sie die vertragliche Konzeption verlassen" 60. Grundlage der Vertragsgeltung in Deutschland ist also die Stabilität vor und nach Eintritt in die Währungsunion. aa) Die Stabilität der Teilnehmerstaaten

als Eintrittsbedingung

Die Währungsunion ist nach Art. VI, Kapitel 2 des EG-Vertrages als Stabilitätsgemeinschaft konzipiert, die vorrangig die Preisstabilität zu gewährleisten hat. Art. 2 EGV macht es der Gemeinschaft zur Aufgabe, ein beständiges nichtinflationäres Wachstum, einen hohen Grad an Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 EGV verpflichtet sodann die Festlegung und Durchführung einer einheitlichen Geld- sowie Wechselkurspolitik vorrangig auf das Ziel der Preisstabilität 61. Das Kapitel über die Währungspolitik (Titel VI, 2. Kapitel) trifft im einzelnen Vorkehrungen, daß mit Eintritt in die Währungsunion die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen einer stabilen Währung nachweisbar gesichert sind. Gemäß Art. 88 Satz 2 GG dürfen die Aufgaben und Befugnisse der Bundesbank nur auf eine Europäische Zentralbank übertragen werden, die unabhängig und dem vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet ist. Der Regierungsentwurf zur Änderung des Grundgesetzes62 enthielt lediglich die Ermächtigung, daß die Aufgaben und Befugnisse der Bundesbank einer europäischen Zentralbank übertragen werden können. Diese Formulierung genügte dem Sonderausschuß „Europäische Union" des Bundestages nicht, weil sie nicht den als notwendig vorausgesetzten Kontext zu den strengen Kriterien des EUV hinlänglich zum Ausdruck bringe und über die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und deren vorrangige Verpflichtung auf die Sicherung der Preisstabilität nichts aussage63. Die in Art. 88 Satz 2 GG begründete „gesonderte Verfassungspflicht" der 59 BVerfGE 89, 155 . 60 A. a. O., S. 205. 61 Vgl. aber nunmehr Art. 2 im Entwurf des Amsterdamer Vertrages. 62 BTDrucks 12/3338, S. 3.

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Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft knüpft damit die Ermächtigung zur Übertragung der Funktionen der Bundesbank an drei Voraussetzungen: den Zusammenhang mit der Europäischen Union, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und den materiellen Vorrang der Preisstabilität. Diese grundgesetzlichen Vorbedingungen haben die Gemeinschaftsorgane gemäß Art. 5 EGV zu berücksichtigen 64. Die Unabhängigkeit der EZB ist vom Bundesverfassungsgericht als eine vertretbare Modifikation des Prinzips der parlamentarischen Demokratie im Dienste der Sicherung des in eine Währung gesetzten Einlösungsvertrauens gerechtfertigt worden, weil es der in der deutschen Rechtsordnung erprobten und auch aus wissenschaftlicher Sicht bewährten Besonderheit Rechnung trage, daß eine unabhängige Zentralbank den Geldwert eher sichere als Hoheitsorgane, die ihrerseits in ihren Handlungsmöglichkeiten und Handlungsmitteln wesentlich von Geldmenge und Geldwert abhingen und auf kurzfristige Zustimmung politischer Kräfte angewiesen seien65. Die Verpflichtung auf die Stabilität des Geldwertes ist notwendige Grundlage „für die staatliche Haushaltspolitik und für private Planungen und Dispositionen bei der Wahrnehmung wirtschaftlicher Freiheitsrechte", Grundlage zur „Sicherung des in eine Währung gesetzten Einlösungsvertrauens" 66. Eigentumsgarantie und Sozialstaatlichkeit „geraten ohne gesicherte Währung zur leeren Hülse" 67 . Eine Inflation wirkt wie eine Steuer auf Geldvermögen 68, die kleinere Konsumvermögen vollständig belastet, größere Sachvermögen hingegen verschont. Der „Verfassungsauftrag zur währungsrechtlichen Kontinuität" 69 gehört deshalb zum - dank der Regelung des Verfassungsgesetzes (Art. 88 Satz 2) und des Zustimmungsgesetzes zum EG-Vertrag 1993 ausdrücklichen - Teil der gesetzlichen Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums. bb) Die Währungsunion als dauernde Stabilitätsgemeinschaft Der Unionsvertrag regelt die Währungsgemeinschaft als eine auf Dauer der Stabilität verpflichtete und insbesondere Geldwertstabilität gewährleistende Gemeinschaft. Dieses führt das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil 70 im einzelnen aus. 63 BTDrucks 12/3896, S. 21 f.; zur Entwicklung der Verfassungsordnung vgl. näher Scholz, NJW 1993, S. 1691 f.; Weikart, NVwZ 1993, S. 834ff. 64 BVerfGE 89, 155 . 65 BVerfGE 89, 155 . 66 BVerfGE 89, 155 , dort für die Modifikation des Demokratieprinzips. 67 Tettinger, in: Sachs (Hrsg.), GG, a. a. O., Art. 88 Rn. 20.

68 Läufer, Europäische Währungsunion - Pro und Contra, Internet, S. 2. 69 Vgl. Gaddum, FS Franz Klein, 1994, S. 223 ff.; Tietmeyer, in: Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und rechtliche Form, 2. Aufl., 1994, S. 44 ff. 70 BVerfGE 89, 155 .

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Auch diese Gewähr einer auf Dauer der Stabilität verpflichteten und insbesondere Geldwertstabilität gewährleistenden Währungsunion ist durch das deutsche Zustimmungsgesetz zum Unionsvertrag zum Bestandteil der das Geldeigentum stützenden und bestimmenden Gesetzesordnung geworden.

c) Eigentumsbezogene und sonstige Regelungen Art. 14 Abs. 1 Satz 2 enthält einen Gesetzesvorbehalt für die Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums. Die Unterscheidung von Inhalt und Schranken ist - so sagt Walter Leisner - „Grundlage der verfassungsrechtlichen Eigentumssystematik"7 1 . Inhaltsnormen legen die Eigentumsrechte und die mit ihnen verbundenen Befugnisse generell und pflichtneutral fest, Schrankennormen regeln die bei Innehabung und Ausübung der Eigentümerrechte sich ergebenden Konflikte zwischen Bürger und Staat und unter den Bürgern, begründen also vor allem Handlungs-, Unterlassungs- und Duldungspflichten 72. Der Inhalt muß bestimmt sein, bevor es Schranken geben kann 73 . Der Gesetzesvorbehalt zur Eigentumskonstituierung und Eigentumsbeschränkung 74 betrifft lediglich die das Eigentum definierende Rechtsposition und alle Regelungen, die den damit begründeten Schutzbereich des Art. 14 GG berühren. Gesetzliche Regelungen, die Rahmenbedingungen des Eigentumsschutzes verändern und damit nur mittelbar auf die Eigentumsfunktion einwirken, finden hingegen in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG keine Rechtsgrundlage und keinen Rahmen. Die grundrechtsgleiche Gewährleistung eines Gerichtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG wäre z. B. verletzt, wenn eine gesetzliche Änderung der grundrechtsgleichen Gewährleistung ihren materiellen Gehalt nähme, der Gesetzgeber etwa den deutschen Gerichten ihre Unabhängigkeit nähme oder er das Gerichtsverfahren seiner individualrechtlichen Schutzfunktion (rechtliches Gehör, Öffentlichkeit) beraubte. Würde hingegen ein einzelnes - dem Berechtigten vertrautes - Gericht aufgehoben, die Gerichtsorganisation von der Dreistufigkeit in die Zweitstufigkeit verändert oder das Gerichtsverfahren grundlegend vereinfacht, so wäre zwar die tatsächliche Gewährleistungsfolge des Art. 19 Abs. 4 GG berührt, nicht aber der verfassungsrechtliche Gewährleistungsinhalt. In ähnlicher Weise stellt sich für das Geldeigentum die Frage, welche Regelungen Inhalt und Schranken des Eigentums betreffen und welche Aussagen ohne Auswirkungen auf den Schutzbereich und Gewährleistungsinhalt des Eigentums 71 Leisner, Eigentum, in: HStR VI, 1989, § 149 Rn. 136. 72 Leisner, a. a. O., § 149 Rn. 133 ff.; vgl. auch Badura, HdbVerfR § 10 Rn. 55; Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rn. 300; Wendt, in: Sachs (Hrsg.), GG, a. a. O., Art. 14 Rn. 55 ff. 73 Vgl. Leisner, a. a. O., Rn. 134. 74 Vgl. BVerfGE 53, 257 ; 58, 81 ; 72, 9 .

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bleiben. Die Stabilitätskriterien des Maastricht-Vertrages und die verfassungsrechtlichen Stabilitätsgarantien (Art. 88 Satz 2 GG) sichern den individualnützigen Gehalt des Geldes und gehören deshalb zum objektiven Gewährleistungsinhalt der verfassungsrechtlichen Bestandsgarantie des Geldeigentums. Andererseits dürfte etwa die Vorverlegung des vertraglich strikt vereinbarten Termins des Art. 1091 Abs. 4 (Festlegung der Umrechnungskurse am ersten Tag der dritten Stufe) möglicherweise dem Vertrag widersprechen, jedenfalls aber die subjektive Rechtsposition des Art. 14 Abs. 1 GG nicht berühren. Deshalb ist stets näher zu prüfen, welche Gewährleistungen des Grundgesetzes zwar verfassungssystematisch Organisationsrecht sind, funktional aber als Sicherung ökonomischer Existenz- und Freiheitsvoraussetzung zum Gewährleistungsinhalt der Eigentumsgarantie gehören.

I I I . Eigentumsbestand und Eigentumsanpassung Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet einen eigenständigen Verfassungstatbestand des Eigentums, der zwar nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG inhaltlich durch Gesetz geprägt wird 75 , der aber seine rechtliche Substanz bereits in der Verfassung gewinnt. Art. 14 GG nennt also kein „Grundrecht aus der Hand des Gesetzgebers" 76, sondern erteilt den „Regelungsauftrag" 77, dem verfassungsrechtlichen Gedanken durch Gesetz einen konkreten, für die alltägliche rechtliche Handhabung hinreichend bestimmten Inhalt zu geben. Diese Konkretisierung definiert den näheren Schutzbereich des Grundrechts, bevor der Gesetzesvorbehalt für den Grundrechtseingriff wirkt 7 8 . Deshalb muß der Begriff des von Verfassungs wegen gewährleisteten Eigentums „aus der Verfassung selbst gewonnen werden. Aus Normen des einfachen Rechts, die im Range unter der Verfassung stehen, kann weder der Begriff des Eigentums im verfassungsrechtlichen Sinn abgeleitet noch kann aus der positiv-rechtlichen Rechtsstellung der Umfang der Gewährleistung des konkreten Eigentums bestimmt werden" 79 . Es bleibt also bei dem von Walter Leisner schon früh hervorgehobenen 80 Grundsatz: Gesetz bestimmt sich nach Verfassung, nicht Verfassung nach Gesetz. Der konkrete, gesetzlich geprägte Inhalt des Eigentums ergibt sich aus der Gesamtheit der verfassungsmäßigen Gesetze, die den Inhalt des Eigentums betreffen. Diese Gesamtheit genießt den durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten 75 Lerche, Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, HStR V 1992, § 121 Rn. 39. 76 Vgl. Herzog, Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, in: FS Wolfgang Zeidler, Bd. II, 1987, S. 1415 ff.; Lerche a. a. O. 77 BVerfGE 50, 290 . 78 Leisner, a. a. O.; Bethge, Aktuelle Probleme der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 24 (1985), S. 351 ; Lerche, a. a. O., § 121 Rn. 40. 79 BVerfGE 58, 300 - Naßauskiesung - . 80

Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964.

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Bestandsschutz grundsätzlich in dem Zeitpunkt, für den der Schutz geltend gemacht wird. 1. Bestandsschutz für das Gegenwärtige, Änderungsbefugnis für die Zukunft Eine gesetzliche Regelung von Inhalt und Schranken des Eigentums, die für die Zukunft allen rechtlichen Anforderungen des Art. 14 GG entspricht, kann die Eigentumsgarantie verletzen, soweit sie in Rechtspositionen eingreift, die in der Vergangenheit entstanden sind 81 . Derartige Neuregelungen sind Eingriffe in die durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten subjektiven Rechte und bedürfen als solche der Rechtfertigung 82. Die vom Gesetzgeber erlassenen Vorschriften sind nicht schon deshalb verfassungsmäßig, weil das künftig anzuwendende Recht dem Grundgesetz entspricht. Es kommt vielmehr zusätzlich darauf an, daß auch der Eingriff in die nach altem Recht begründete Rechtsposition mit dem Grundgesetz in Einklang steht83. Insoweit geht die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG über den rechtsstaatlichen Vertrauensschutz hinaus84. Eigentumssschutz ist also Bestandsschutz nicht unter dem Vorbehalt gesetzlicher Neudefinition des Eigentums in Grenzen der Kernbereichsgarantie, sondern unter dem Vorbehalt verfassungsrechtlich legitimierter Änderung. Die gesetzliche Änderung eines gegenwärtigen Eigentumsbestandes ist ein Eingriff, der einer Rechtfertigung nach den Maßstäben der Eigentumsgarantie bedarf. Bestandsgarantien wie das Eigentum fordern mehr als andere Freiheitsrechte Kontinuität. 2. Geldeigentum in der Zeit und trotz der Zeit Der Gesetzgeber hat bei der Erfüllung des in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG erteilten Auftrags, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen, einerseits die grundgesetzliche Anerkennung des Privateigentums - die Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand - zu achten, andererseits die Sozialbindung des Eigentumsgebrauchs nach Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG zu konkretisieren 85. 81

BVerfGE 72, 9 - Anwartschaftszeiten bei der Arbeitslosenversicherung - . 82 Vgl. BVerfGE 31, 275 - Verkürzung der urheberrechtlichen Schutzpflicht von 50 auf 25 Jahre nach dem Tode des Künstlers - ; 58, 81 - Begrenzung der Bewertung der Ausbildungs-Ausfallzeiten bei Renten und Rentenanwartschaften - ; 72, 9 - verkürzte Anwartschaftszeiten bei der Arbeitslosenversicherung - . 83 BVerfGE 36, 281 ; 58, 81 ; 72, 9 . 84 BVerfGE 58, 81 unter Hinweis auf BVerfGE 31, 275 . 85 Vgl. BVerfGE 71, 230 - Begrenzung der Mietzinssteigerung 74, 203 - unzulässige Beschränkung des Arbeitslosengeldes; 75, 78 - Anwartschaften auf Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrenten nur bei erneuter Zahlung - ; 76, 220 - Leistungskürzungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz - .

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In diesem Spannungsverhältnis zwischen einem Bestand trotz der Zeit und einer Sozialbindung in der Zeit steht das Geldeigentum in seinem besonderen Gemeinschaftsbezug. Bereits der Eigentumsbestand am Geld ist entwicklungsoffen, weil die freiheitsstützende Funktion des Geldwertes von der Einlösungsbereitschaft durch Privatwirtschaft, Staat und Gesellschaft abhängt86. Hinzu tritt eine allgemein bewußte, aber rechtlich schwer greifbare Sozialbindung des Geldeigentums, die nicht nur den Eigentumsgebrauch, sondern auch die Verteilung dieses Eigentums betrifft: Da die Freiheitsrechte jedermann zustehen und die Wahrnehmung der Freiheit fast immer Geldmittel voraussetzt, muß dem Staat daran gelegen sein, das Geldeigentum für jedermann zugänglich zu machen und in seinem Wert zu sichern. Geldeigentum stützt die individuelle Freiheit, ist Freiheitsvoraussetzung für jeden Freiheitsberechtigten, insbesondere für die Lohnempfänger, Rentner oder Sozialhilfeempfänger. Die Eigentumsverfassung bewährt sich deshalb gerade dann, wenn es ihr gelingt, das „kleinere Eigentum" 87 breit zu streuen und in seiner Funktion als Grundlage eines allgemeinen Freiheitsrechts zu sichern. Daraus erwächst zwar kein verfassungsrechtlicher Gesetzgebungsauftrag, wohl aber eine objektiv-rechtliche Stabilisierungsverpflichtung des Gesetzgebers88. Ungeachtet dieser Grenzziehung im einzelnen garantiert das Geldeigentum jedenfalls einen verfassungsrechtlich gesicherten Rechtsbestand an nominal definierter Kaufkraft, deren realer Wert ein Bestand in der Zeit ist, der jedoch die Zuordnung des Geldeigentums zu einem Eigentümer und den das Einlösungsvertrauen garantierenden Hoheitsträger als Bestand trotz der Zeit gewährleistet. Dementsprechend enthält Art. 14 GG keine Geldwertgarantie, nimmt aber die Rechtsbeziehung zwischen dem Grundrechtsberechtigten (Eigentümer) und dem Grundrechtsverpflichteten (hoheitlicher Garant des Einlösungsvertrauens) in die Bestandsgarantie auf.

3. Die Ausprägung des Geldeigentums durch Grundgesetz und Maastricht-Vertrag Das Grundgesetz hat mit der Ermächtigung zur Teilnahme an der Europäischen Union (Art. 23 Abs. 1 GG) und der Übertragung von Bundesbankaufgaben und -befugnissen auf eine Europäische Zentralbank (Art. 88 Satz 2 GG) das deutsche Verfassungsrecht für die Europäische Währungsunion geöffnet. Das Zustimmungsgesetz zum Maastricht-Vertrag hat von diesem Regelungsauftrag (Art. 23) und der Regelungsermächtigung (Art. 88 Satz 2) Gebrauch gemacht und die Teilnahme Deutschlands an der Stabilitätsgemeinschaft einer Europäischen Währungsunion zum Inhalt der geltenden Eigentumsordnung werden lassen. Das DM-Eigentum ist damit zum Eigentum unter Umtauschvorbehalt geworden. 86 Vgl. Oben II. l.c). 87 Vgl. Leisner, „Kleineres Eigentum", a. a. O., S. 51 ff. 88 BVerfG, EuGRZ 1998, S. 164.

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a) Die Rechtfertigung des „Zwangsumtausches" Kerninhalt dieser gesetzlichen Regelung des Inhalts von Geldeigentum ist der Austausch des DM-Eigentums in ein Euro-Eigentum. Dieses ist ein gewichtiger Eingriff in den bisherigen Eigentumsbestand jedes einzelnen Eigentümers. Die Befugnis zur privatnützigen Verfügung über Geldeigentum hat zum Inhalt, dieses Geld nach Belieben des Eigentümers in eine andere Währung umzutauschen; derartige Währungsgeschäfte sind alltäglicher Gegenstand von Verfügungen des Geldeigentümers. Ein Zwangsumtausch ist deshalb - auch als Inhaltsbestimmung - nur zulässig, wenn er im Rahmen der Eigentumsbindung gerechtfertigt werden kann und keiner Entschädigung bedarf - sei es als ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung89, sei es als Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG. Dieser Umtausch des DM-Eigentums in Euro-Eigentum ist aber verfassungsgesetzlich vorgesehen, erfährt also eine spezielle Rechtfertigung durch das Grundgesetz. Wenn das Zustimmungsgesetz zum Maastricht-Vertrag diesen Umtausch vorsieht, macht es lediglich von einer Ermächtigung des Art. 88 Satz 2 GG Gebrauch, regelt also eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Geldeigentums, die bereits in der Verfassung angelegt ist 90 . Zum Inhalt dieser verfassungsrechtlichen Ausprägung des Geldeigentums gehört auch der Eintritt in die Währungsunion, die Umwandlung der Deutschen Mark in den Euro und der damit verbundene Kontinuitätsbruch, der den Gewährleistungsträger für das Einlösungsvertrauen auswechselt und dem Geldeigentümer im Inhaber der Währungshoheit und in der den Geldwert tragenden Wirtschaft eine andere Vertrauensgrundlage gibt.

b) Die Stabilitätsgemeinschaft Allerdings gehört zum Inhalt der so geregelten Eigentumsordnung, daß der Übergang von der Deutschen Mark zum Euro sich bei vorher nachgewiesener91 und nachfolgend hinreichend verläßlicher Stabilität 92 vollzieht. Da jede Stabilitätsgarantie sich nur auf die tatsächlichen Voraussetzungen einer Prognose beziehen kann, betraf die vor Eintritt in die Währungsunion zu gewährleistende Stabilität die rechtliche Struktur und Organisation der Währungsunion, insbesondere der Europäischen Zentralbank in ihrer Unabhängigkeit und einer gleichen Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Zentralbanken (Art. 109j Abs. 1 Satz 1 EGV) sowie die Konvergenz der Mitgliedstaaten in fünf Konvergenzkriterien (Art. 109j Abs. 1 Satz 89 BVerfGE 57, 107 - Entschädigungsregelung des Bundesseuchengesetzes - ; 58, 137 - Pflichtexemplar - . 90 Vgl. BVerfG, EuGRZ 1998, S. 164 . 91 BVerfGE 89, 155 . 92 BVerfGE 89, 155 .

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2 GG). Die Stabilität der Währungsunion auf Dauer ist zwar von möglichen Vertragsänderungen und weiteren Rechtsetzungsakten abhängig93, jedoch als Grundkonzept im Vertrag gesichert 94. Die Verpflichtung auf das „vorrangige Ziel der Sicherung der Preisstabilität" durch Art. 88 Satz 2 GG und durch den Maastricht-Vertrag ist nicht nur eine organisationsrechtliche Regelung der Währungsverfassung und des Währungsrechts, sondern eine verfassungsrechtliche Bedingung des Zwangsumtausches als Eigentumseingriff 95. Die Stabilitätsgewähr als Bedingung der Währungsunion wird allerdings eigentumsrechtlich als Teil der objektiven Rechtsordnung geregelt, nicht an den einzelnen Eigentümer als Gesetzesadressaten gerichtet 96: Die deutschen Staatsorgane tragen bei Erfüllung ihres Auftrags, die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft mitzugestalten und damit den Anforderungen des Art. 88 Satz 2 GG zu genügen, auch zur objektiv-rechtlichen Sicherung des Geldeigentums und damit zur Gewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG bei. Insoweit sind die Ermächtigung zur Teilnahme an der Währungsunion und der Stabilitätsvorbehalt für diese Währungsunion inhaltlich strikt miteinander verbunden. Das Grundgesetz und der Maastricht-Vertrag ermächtigen nicht zur Teilnahme an einer beliebigen Währungsunion, sondern nur an einer Stabilitätsgemeinschaft der Europäischen Währungsunion. Der Umtauschvorbehalt steht unter der Bedingung eines Stabilitätsrahmens als bleibendem Bestand. Nur dieses Verständnis der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft wird der Eigentumsgarantie gerecht, die bei ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmungen97 und Enteignungen Entschädigung gewährt und damit selbst bei weichendem Eigentumsbestand ein Verbleiben von dessen Kaufkraft sichert. Kerninhalt des Geldeigentums ist die Gewährleistung zukünftiger Kaufkraft im Einlösungsvertrauen gegenüber einer diese Kaufkraft abstützenden Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft. Wird dem Geld die rechtliche Grundlage seiner Stabilität genommen, so wird das Geldeigentum in seiner Substanz ausgehöhlt. Das Geld ist nur noch eine leere Hülse ohne materiellen - existenzsichernden und freiheitstützenden - Gehalt. Art. 88 Satz 2 GG und die Stabilitätsgarantien des EG-Vertrages prägen demnach das Geldeigentum in der Weise, daß der Garant des Einlösungsvertrauens zwar ausgewechselt werden darf, die an die Stelle des deutschen Staates tretende Gemeinschaft der Teilnehmerstaaten an der Währungsunion aber bestimmten Stabilitätskriterien genügen muß. Im Ergebnis hat der Berechtigte eines gegenwärtigen DM-Eigentums den Umtausch in Euro-Eigentum hinzunehmen. Der Garantenwechsel ist jedoch nur 93 Vgl. BVerfGE 89, 155 . 94 BVerfGE 89, 155 . 95 Vgl. oben II.2.b)aa). 96 BVerfG, EuGRZ 1998, S. 164 . 97 Vgl. BVerfGE 57, 107 ;58, 137 .

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verfassungsgemäß, weil und soweit die den Euro garantierende Währungsunion durch hinreichende Vorkehrungen für eine dauernde Stabilität der Währungsgemeinschaft das Einlösungsvertrauen der Geldeigentümer auch in Zukunft rechtfertigt.

Grundrechtsschutz des Eigentums außerhalb der Eigentumsgarantie Vorüberlegungen zu einer dogmatischen Neustrukturierung der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie Von Joachim Burmeister

I. Bestandsaufnahme: Die Diagnose fortschreitender Entwertung und „inhaltlicher Relativierung" des Eigentums Die interpretatorische Erfassung und Bestimmung des Rechts- und Schutzgehaltes keiner anderen Gewährleistung des Grundrechtskataloges bereitet ähnliche Schwierigkeiten wie die der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG: sie ist Gegenstand eines seit Jahrzehnten fortwährend und unvermindert sprudelnden Quells wissenschaftlichen Schrifttums, 1 das mit immer neuen begrifflichen und dogmatischen Veränderungen um eine konsistente Lösung des allen grundrechtlichen Freiheitsverbürgungen gemeinsamen Grundproblems bemüht ist, anhand objektiver Sachkriterien die Grenzlinie zu bestimmen, an der der gesetzgeberische Auftrag zur Durchsetzung von Allgemeinwohlbelangen auf die Barriere der rechtlich geschützten Substanz der jeweils in den Einzelgrundrechten umschriebenen individuellen Befugnisse stößt. Daß die alle Freiheitsrechte - gleichgültig, ob sie unter einfachem, qualifziertem oder gar keinem Gesetzesvorbehalt stehen - überwölbende Problematik, Gegenstand und Reichweite der gewährleisteten Rechtsmacht des einzelnen gegen substanzmindernde Konkretisierungen des übergeordneten Gemeinwohls zu bestimmen, speziell in bezug auf die Eigentumsgarantie so erhebliche Schwierigkeiten bereitet, hat einen einfachen Erklärungsgrund: im Gegensatz zu den meisten anderen Freiheitsrechten des Grundrechtskataloges, deren Gewährleistungsgehalte aufgrund präziser ausgeformter Eingriffsvorbehalte und -grenzen verhältnismäßig resistent sind gegenüber den realpolitischen Veränderungen des Gegenstandes und Gewichts von Gemeinwohlbelangen (der Staatszwecke), unterliegt die Eigentumsgarantie in Hinsicht auf die dem Individuum als Inhalt des Freiheitsrechtes vermittelten Befugnisse einer stetigen Veränderung dergestalt, daß mit der politischen Höherbewertung bestimmter Schutzgüter des Allgemeinwohls eine substantielle 1 Dies zu belegen erübrigt sich; verwiesen sei auf die Literaturübersicht in: F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 144.

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Minderung des Gewährleistungsgehaltes der Grundrechtsverbürgung einhergeht. Tatsächlich ist die Eigentumsgarantie in ihrem doppelten Gewährleistungsgehalt als Institutsgarantie und individuelles Abwehrrecht aus Gründen, die sogleich näher zu beleuchten sind, durch eine eigentümliche Schwäche gegenüber dem realpolitischen Bedeutungswandel der „Gegenstände", die im weitesten Sinne als Staatszwecke das Gemeinwohl ausmachen, gekennzeichnet. Die weithin der politischen Einschätzung des Gesetzgebers überantwortete Qualifizierung von Angelegenheiten als solchen von allgemeinem-öffentlichem Interesse sowie ihres Ranges und Gewichts unter den Staatsaufgaben, deren Umsetzung durch den Erlaß einer Vielzahl das spezifische öffentliche Schutzgut konkretisierender gesetzlicher Regelungen erfolgt, hat vor allem aufgrund der Herausbildung des Natur- und Umweltschutzes zur vordringlichen Staatsaufgabe in den zurückliegenden Jahrzehnten zu einer substantiellen Schwächung der Eigentumsgarantie geführt. 2 Vor allem in der „Anwendung" von Art. 14 GG durch die Gerichte3 hat eine fortschreitende „Ausdünnung" der im grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt aufgefangenen Nutzungsbefugnisse stattgefunden, gegen die die abwehrrechtlich konzipierten Schutzmechanismen gegen gesetzgeberische Konkretisierungen des Gemeinwohls keine wirksamen Barrieren zu errichten vermochten. Es sei hier zunächst dahingestellt, ob dieser Befund beklagenswert und als besonders augenfälliger oder schwerwiegender Einbruch einer auf breiter Front stattfindenden Aushöhlung des grundrechtsgeschützten Freiheitsbereichs durch den sozialgestaltenden Gesetzgeber einzustufen ist, wie dies vielfach diagnostiziert wird. Tatsache ist, daß sich die Entwicklung der Eigentumsdogmatik, wie sie sich in der (Zivil-)Rechtsprechung widerspiegelt, aufs Ganze gesehen als fortschreitende Relativierung des Eigentumsinhaltes darstellt und die im Zentrum der abwehrrechtlichen Freiheitssicherung stehende Dogmatik von Inhalt und Schranken des Eigentums weniger auf die Leitidee der Sicherung und der Anerkennung des 2 Kritisch dazu insbes. L. Osterloh, Eigentumsschutz, Sozialbindung und Enteignung bei Nutzung von Boden und Umwelt, DVB1.1991, S. 906; dies., Anmerkung zur Entscheidung des BVerwG v. 24. 6. 1993, JuS 1994, S. 532; dies., Anmerkungen zu Entscheidungen des BGH v., 7. 7. 94, JuS 1995, S. 545 und v. 15. 12. 94, JuS 1996, S. 466; J. Lege, Wohin mit den Schwellentheorien? - Die neue Rechtsprechung des BGH und BVerwG zur Entschädigung bei Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums, JZ 1994, S. 431; J. Burmeister/R. Roger, Die „unbegrenzte Naturschutzpflichtigkeit" des Eigentums, JuS 1994, S. 840 ff.; O. Kimminich, Die Eigentumsgarantie im Natur- und Denkmalschutz, NuR 1994, S. 261 ff.; K. Rennert, Eigentumsbindung und Enteignung nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung, VB1BW 1995, S. 41 \ J. Schwabe, Entschädigung für Naturschutzmaßnahmen, Jura 1994, S. 521; R. S. Krause, Die Grenzen der Sozialpflichtigkeit des Grundeigentums im Naturschutzrecht, 1996.

3 Beispielhaft insbes. BGHZ 121, 73 (78); 121 328 (321); 123, 242 = DVB1. 1993, S. 1092; 1226, 379 (381 ff.); BGH, DVB1. 1995, S. 964, DVB1. 1996, S. 671; BVerwGE 84, 361 (369) (Seiriesteich) = JZ 1991, S. 86, m. Anm. v. F. Ossenbühl; BVerwG, DVB1. 1993, S. 1141, m Anm. v. V. Götz; BVErwGE 94, 1 (Herrschinger Moos); BVerwG, NVwZ 1993, S. 772 (Eichen am Deich); BVerwG, NuR 1994, S. 225 (Pflanzverbot zur Deichsicherheit); VGH Ba-Wü, NVwZ 1994, S. 1024.

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Eigentums als die seiner Beschränkung und prinzipiellen Relativierung ausgerichtet ist. In dieser Gesamteinschätzung ist sich das wissenschaftliche Schrifttum im wesentlichen einig; insoweit mag auf die akribisch fundierte und präzise analysierte Entwicklung der grundgesetzlichen Eigentumsdogmatik vor und nach dem „konzeptionellen Wendepunkt" der Naßauskiesungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts4 verwiesen werden, die jüngst von Jochen Rozek 5 vorgelegt wurde.

1. Der Beitrag W. Leisners im Kampf gegen Tendenzen sozialer Inpflichtnahme des Eigentums In den Reihen derer, die sich am „Kampf gegen die fortschreitende Entwertung der Eigentumsgarantie durch die traditionell auf die Entgegensetzung von Tatbeständen entschädigungsloser Sozialbindung und entschädigungspflichtiger Eingriffe fixierte Rechtsprechung beteiligt haben, hat Walter Leisner wohl mit „schärfster Klinge" gefochten. 6 Er hat große Anstrengungen unternommen, im Kampf gegen die Expansion von Sozialbindungen Rückzugspositionen zu errichten, die sich als bestandsfeste Verteidigungslinie gegen den unter dem Banner des Umweltschutzes vordringenden Gesetzgeber erweisen sollten. Es ist Leisners unbestreitbares und bleibendes Verdienst, mit herausragendem analytischem Scharfsinn und umwerfender „Sprachkraft" auf die fundamentale gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Entwicklung - auf die von der Schwäche der Eigentumsgarantie für die Freiheitlichkeit des sozialen Ganzen ausgehenden Gefährdungen - hingewiesen zu haben. Leisners Beiträge zur Verteidigung der Eigentumsgarantie gegen Tendenzen „inhaltlicher Relativierung", „prinzipieller sozialer Determination" bzw. „sozialer Funktionalisierung", gegen ideologisch gefärbte „Wandlungen des Eigentumsbegriffs", gegen „Indienstnahme des Eigentums für Gemeinschaftszwecke", „unterschwellige Umformung in prekäre Staatskonzessionen" oder „treuhänderschaftlich übertragene, gemeinschaftsgebundene Befugnisse", gegen - vermeintliche - „Verstärkung durch kollektive Komponenten", gegen Abschwächung in „Bindungseigentum" oder in „ein Grundrecht unter Gemeinwohlvorbehalt mit floatendem

4 BVerfGE 58, 300 (330 ff.). 5 J. Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung. Eine Bestandsaufnahme zur dogmatischen Struktur des Art. 14 GG nach 15 Jahren „Naßauskiesung", 1998. 6 Grundlegend W. Leisner, Sozialbindung des Eigentums, 1972; ferner: „Entschädigung falls Enteignung". Beachtung der Junktim-Klausel bei enteignenden Eingriffen? DVB1. 1981, S. 76; Eigentumswende? Liegt der Grundwasserentscheidung des BVerfG ein neues Eigentumsverständnis zugrunde?, DVB1. 1983, S. 61; Situationsgebundenheit des Grundeigentums - eine überholte Rechtssituation?, 1990; Eigentumsschutz - im Naturschutz eine Ausnahme?, DÖV 1991, S. 781; Eigentumsschutz von Nutzungsmöglichkeiten. Aufopferungsentschädigung für nicht realisierte Nutzungen in der Marktwirtschaft, BB 1992, S. 73. Zum umfangreichen eigentumsrechtlichen Schrifttum von W. Leisner siehe im übrigen die von J. Isensee herausgegebene Sammlung von Beiträgen „Eigentum - Schriften zu Eigentumsgrundrecht und Wirtschaftsverfassung 1970- 1996", 1998.

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Inhalt" und dergleichen Formulierungen mehr 7 stellen die entschiedenste Verfechtung einer liberal-individualistischen Eigentumsphilosophie dar; sie sind ein zentraler Bestandteil seines Gesamtwerkes, in sich geschlossen und beeindruckend nicht nur wegen der überragenden Formulierungskraft, sondern wegen ihres bekenntnisartigen Charakters für Idee und Ideal des Verständnisses des Eigentumsgrundrechtes als dem Staate vorgegebenes Menschenrecht. Leisners Abhandlung des Eigentums im Handbuch des Staatsrechts nimmt sich vor diesem Hintergrund wie eine „abschließende Grundsatzerklärung" aus, die die im Verständnis als klassisches Freiheitsrecht angelegten dogmatischen Strukturen der Eigentumsgarantie in äußerster Schärfe hervortreten läßt. Diese Abhandlung unterscheidet sich nicht im Wesensverständnis des Eigentums und den Grundstrukturen der Inhalts- und Schrankendogmatik von anderen geschlossenen Darstellungen des Eigentumsgrundrechtes, etwa denen von P. Badura, 8 H. J. Papier, 9 R. Wendt 10 oder J. Wieland, 11 und sie steht auch nicht im Kontrast mit der konzeptionellen Positionsbestimmung des Bundesverfassungsgerichts nach der Wende der Naßauskiesungsentscheidung mitsamt ihren weitreichenden dogmatischen Konsequenzen. Was die Abhandlung Leisners ab- oder heraushebt, ist vielmehr die Kompromißlosigkeit, mit der er den individualistisch-freiheitlichen Rechts- und Schutzgehalt des Eigentumsgrundrechtes in der Grenzziehung gegenüber Ingerenzen des Gemeinwohls hervorhebt und mit letzter Konsequenz „durchhält". Aus der Sicht W. Leisners - so würde er sich vermutlich äußern - stellen sich die soeben beispielhaft genannten Abhandlungen anderer Autoren als zu „weichherzig", „kompromißbereit" oder „wenig entschieden" in der Bestimmung der gesetzgeberisch unverfügbaren individuellen Rechtsmacht, die in der Eigentumsgarantie aufgefangen ist, dar, und gleiches dürfte im Prinzip für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gelten, an der bei Zustimmung im Grundsätzlichen Leisner „nur" tendenziell kritisiert, allzu großzügig bei der Durchdringung des Inhalts von Eigentum mit Gemeinwohlbelangen verfahren zu sein. Es ist gerade diese kompromißlose und konsequente Verfechtung des Wesensverständnisses des Eigentums als vorgegebenes klassisches Freiheitsrecht, weshalb sich aus dem ins Unüberschaubare ausgeuferten Schrifttum keine andere geschlossene Darstellung der Eigentumsgarantie in gleicher Weise als Grundlage für eine am Wesens- und Grundverständnis des Eigentums als klassisches Freiheitsrecht 7 Allesamt Zitate aus W. Leisner, Eigentum, in: Isensee /Kirchhof (Hrsg.), HdBdStR, Bd. IV, 1989, § 149, S. 1023. 8 P Badura, Eigentum, in: Benda/Maihofer/Vogel/Jochen (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 327. 9 H. J. Papier, Kommentierung von Art. 14 GG, in: Maunz/Dürig, u. a., GrundgesetzKommentar, Loseblatt (Stand Oktober 1996). 10 R. Wendt, Kommentierung von Art. 14 GG, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl. 1998. 11 J. Wielandt, Kommentierung von Art. 14 GG, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996.

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ansetzende „kritische Reflexion" der Eigentumsdogmatik eignet. Dazu besteht dringender Anlaß wegen der einhellig diagnostizierten „Schwäche" der Eigentumsgarantie gegen gesetzliche Konkretisierung des Gemeinwohls und die fortschreitende Entwertung des Eigentums zu einem weithin seiner privatnützigen Verwendbarkeit entblößten nudum ius - einer Entwicklung, die keine noch so prononciert-entschiedene Beschwörung der Abwehrkraft der grundrechtlichen Freiheitsverbürgung zu verhindern vermochte und auch in ihren noch weiter ausgreifenden Tendenzen nicht wird abwenden können. Der Prozeß der Entwertung des Eigentums, der Relativierung von Eigentumsinhalten, ist keineswegs abgeschlossen; es läßt sich im Gegenteil mit der Sicherheit eines mathematischen Additionsvorganges der Eintritt von realen Bedingungen oder Faktoren prognostizieren, die weitere Zugriffe auf die freiheitsrechtlich geschützte Substanz des Eigentums unausweislich machen.12 In der Auslegung von Art. 14 GG als klassisches, sich auf einen einheitlichen Eigentumsbegriff 13 gründendes Freiheitsrecht entfaltet die Eigentumsgarantie effektive Abwehrkraft gegenüber dem sozialgestaltenden Gesetzgeber nur in retroaktiver Weise, d. h. in Hinsicht auf in der Vergangenheit ins Werk gesetzten Nutzungen; der institutionelle und abwehrrechtliche Gewährleistungsbestandsschützender Natur. 14 Gegenüber Maßnahgehalt ist rückwärtsgerichteter men zukünftiger Um- und Neugestaltung der Eigentumsordnung stellt sich die Eigentumsgarantie als nahezu beliebig disponibel dar, weil in ihrem Gewährleistungsgehalt nichts festgemacht ist, was sich als essentielles Attribut oder begriffsprägendes Element von Eigentum bezeichnen ließe und als solches von vornherein dem gesetzgeberischen Zugriff entzogen wäre. Vor allem wäre es illusorisch anzunehmen, daß mit der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Figur der „ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung"15 eine gegen zukünftige „Sozialinpflichtnahme" des Eigentums wirksame Barriere errichtet wäre. Die Ausgleichspflichtigkeit von Inhaltsbestimmungen bestimmter Intensität unterwirft den Gesetzgeber nicht einer generellen Beschränkung; sie grenzt nicht Gestaltungseingriffe in den 12

Zu den freiheitsgefährdenden und -reduzierenden Tendenzen des technischen „Fortschritts" vgl. J. Burmeister, Marktpreis und Menschenwürde, in: Festschrift für M. Kriele, 1997, S. 85 ff. (101 ff.). 13 Vgl. dazu E Ossenbühl (Anm. 1), S. 151 f.; ferner dazu unten Nachw. in Anm. 18. 14 Zutreffend die resümierende Feststellung v. F. Ossenbühl (Anm. 1), S. 173; „Versucht man, den einschlägigen Entscheidungen einen Orientierungspunkt objektiv zu entnehmen, so wird offenbar, daß die Enteignungsrechtsprechung sich im wesentlichen am status quo der Grundstücksnutzung orientiert und damit am Bestandsschutz ausgerichtet ist." - Vgl. aus der Rechtspr. insbes. BGH, MDR 1959, S. 558 (Gipsabbau); BGHZ 105, 15 (18); BVerwGE 25, 161 (162); 42, 8 (13); 49, 365 (370); NJW 1980, S. 252. 15 Grundlegend BVerfGE 58, 137 (Pflichtexemplar-Ablieferung); aus der Fülle d. neueren Schrifttums vgl. insbes. F. Ossenbühl, Inhaltsbestimmung des Eigentums und Enteignung, JuS 1993, S. 200 ff.; ders., Ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmungen des Eigentums, in: Festschrift für K.-H. Friauf, 1997, S. 391 ff.; G. Krohn, Enteignung und Inhaltsbestimmung des Eigentums in der neueren Rechtsprechung, in BGH, ZfBR 1994, S. 5 ff.; V. Schlette, Aktuelle Probleme der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung, BGHZ 126 379, JuS 1996, S. 204; J. Rozek (Anm. 5), insbes. S. 76 ff.; R. S. Krause (Anm. 2), S. 154ff. 43*

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freiheitlichen Schutzbereich der Eigentumsgarantie ein, im Gegenteil unterwirft sie zulässige Gestaltungseingriffe nur einer Kompensationspflicht. Auf den ersten Blick mag es in höchstem Maße verwunderlich und - dessen ist sich der Verfasser sehr wohl bewußt - „gefährlich" erscheinen, wenn der Verdacht geäußert oder gar die Behauptung aufgestellt wird, daß diese Schwäche der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie nicht trotz, sondern wegen ihres traditionellen Verständnisses als vorgegebenes individuelles Freiheitsrecht besteht. Die Vorstellung, Eigentum sei die Konstituierung eines - mit den Worten Leisners 16 - „überstaatlichen, mit der Menschennatur verbundenen und dem Staate vorgegebenen Rechts, das als Menschenrecht nie vollständig zur Disposition des Staates steht, ebensowenig wie ,die Freiheit', wie eine von deren grundrechtlichen Ausprägungen", scheint - dem Ideal traditionellen liberalen Gedankenguts entsprechend Voraussetzung und zugleich Garantie strenger und erzwingbarer Beschränkung des gesetzgeberischen Zugriffs auf die als Eigentum umschriebene vermögensweite Inhaberschaft von Sachen (im weitesten Sinne) zu sein. Das jedoch ist ein Irrtum, den aufzuklären und dogmatisch umzusetzen geboten ist, damit das Institut des Eigentums und die darin angelegten individuellen Befugnisse nicht vollends einer dem Gegenstand nach „flächendeckenden" und dem Inhalte nach „vollständigen" Entwertung anheimfallen.

2. Einheitlicher Eigentumsbegriff und Ausrichtung der Eigentumsdogmatik auf das Bodeneigentum als Ursachen ausgreifender Sozialbindungen des Eigentums Die Interpretation der Eigentumsgarantie in Lehre und Rechtsprechung gründet sich - insoweit unverändert auch nach der Naßauskiesungsentscheidung - auf die Existenz eines einheitlichen Eigentumsbegriffs, 17 der nicht durch das Grundgesetz geschaffen, sondern als geprägtes Rechtsinstitut von diesem aufgenommen worden ist. Dem einheitlichen Eigentumsbegriff wird „konstituierende Bedeutung für die gesamte Eigentumsdogmatik" beigemessen: Die Einheitlichkeit des Eigentumsbegriffs wird als Bedingung der „Einheit der Eigentumsordnung" gesehen, die wiederum Voraussetzung und zugleich Gewährleistung ist, daß das Institut des Eigentums nicht in „einzelne mehr oder weniger schutzwürdige Eigentumsrechte aufgesplittert" und dadurch Schneisen für sachbereichsspezifische Abschwächungen oder gegenstandsbezogene Überlagerungen mit Gemeinwohlbelangen geschlagen werden. Dies erklärt die geradezu leidenschaftlich-beschwörenden Warnungen 16 (Anm. 7), S. 1032. 17 Zum einheitlichen Eigentumsbegriff und seiner Bedeutung vgl. P. Badura, Eigentum im Verfassungsrecht der Gegenwart, Sitzungsbericht T zum 49. DJT, Schlußvortrag, 1972, S. 12 f.; W. Weber, Das Eigentum und seine Garantie in der Krise, in: Festschr. für Michaelis, 1972, S. 316ff.; H. Rittstieg, Grundgesetz und Eigentum, NJW 1982, S. 721 ff.; B.O. Bryde, in: Münch/Kunz (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 1, 4. Aufl. 1992, Art. 14, Rn. 12.

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vor jeder Art von klassifizierenden Schutzabstufungen oder Kategorisierungen von Eigentumsgütern, die sich in Leisners 18 Formulierungsschärfe wie Verdächtigungen ausnehmen, mit begrifflichen Differenzierungen die Aufspaltung des einheitlichen Eigentumsrechtes zu betreiben und damit Tendenzen zur Etablierung eines abgeschwächten, mehr oder weniger der Rechtsattribute des Vollrechts beraubten „Minimaleigentums" Vorschub zu leisten. Es ist eine Frage von sekundärer Bedeutung, ob dem einheitlichen Eigentumsbegriff angesichts der erheblich unterschiedlichen Einschränkungsmöglichkeiten der Gebrauchs- und Nutzungsrechte an verschiedenen Gegenständen wirklich die essentielle Bedeutung zukommt, die ihm beigemessen wird. Wichtig ist allein die Erkenntnis, daß im einheitlichen Eigentumsbegriff als Fundament der gesamten Eigentumsdogmatik - ganz entgegen der ihm zugedachten Sicherungsfunktion eine der Hauptursachen der beschriebenen Schwäche der Eigentumsgarantie gegenüber gesetzgeberischen Konkretisierungen vorrangig erachteter Staatsziele und -aufgaben, insbesondere des Natur- und Umweltschutzes, liegt. Der Grund dafür ist in der Tatsache zu suchen, daß die wissenschaftliche Diskussion und gerichtliche Interpretation der Eigentumsgarantie nahezu vollständig von einer spezifischen Sachproblematik beherrscht wurde und wird, der als Konfliktstoff die praktisch weitaus größte Bedeutung zukommt und die daher - von den Anfängen bis zur Gegenwart - die zentrale Problematik der eigentumsrechtlichen Rechtsprechung darstellt: die auf Grund und Boden bezogene Problematik der Abgrenzung von Beeinträchtigungen, die entschädigungslos hinzunehmende Emanationen der Sozialbindung des Eigentums sind, von den Eingriffen, die die „Schwelle" der Entschädigungspflicht 19 überschreiten und daher Kompensationspflichten auslösen. Es läßt sich mit Blick auf Gegenstand, Entwicklung und Verlauf der zivil- und auch verwaltungsgerichtlichen Eigentumsrechtsprechung die Feststellung treffen, daß sie sich im Kern um nichts anderes dreht als die Problematik der Konkretisierung der für Grund und Boden bestehenden „Sozialpflichtigkeit", und die dazu ergangene Einzelfall-Kasuistik, der oft dogmatische Inkonsistenz, Systemlosigkeit und ergebnisorientierte Zufälligkeit bescheinigt worden ist, den hauptsächlichen Gegenstand der begleitenden wissenschaftlichen Diskussion bildet. Die gesamte dogmatische Theorie- und Systembildung der Eigentumsgarantie bezieht sich auf das Bodeneigentum 20 und betrifft in der Sache die zentrale Problematik, anhand 18 (Anm. 7), S. 1042 ff. 19 Die Bemühungen, anhand - wie auch immer bezeichneter - „Schwellentheorien" objektive und juristische Kriterien zur Bestimmung der „Sozialpflichtigkeitsgrenze" zu entwikkeln, füllen Bände und sind doch aufs Ganze gesehen an der Unmöglichkeit gescheitert, eine Wertung(sfrage) in einen streng rechtsgeleiteteten Subsumtionsvorgang zu „verwandeln"; statt unvollständiger Nachweise sei dazu verwiesen auf J. Rozek (Anm. 5), insbes. S. 161 ff.; F. Ossenbühl (Anm. 1), S. 178, Fn. 65. 20 Dies betont auch F. Schmidt-Aßmann, Der öffentlich-rechtliche Schutz des Grundeigentums in der neueren Rechtsentwicklung, DVB1. 1987, S. 216; ders., Studien zum Recht der städtebaulichen Umlegung, 1996, S. 41 ff.

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plausibler Kriterien Grenzlinien zu entwickeln, an der die Aktualisierung der Sozialbindung die Schwelle der Entschädigungspflicht überschreitet. Nun ist es gerade das Bodeneigentum, das seiner Natur nach unter allen Eigentumsgegenständen am weitaus stärksten von Natur- und Umweltschutz betroffen ist. Der „Kampf 4 um die Durchsetzung spezifischer Belange des Umweltschutzes findet im wahren Wortsinne auf der Scholle statt, und es geht dabei in allererster Linie um die Festsetzung vielfältiger, tendenziell immer weiter ausgreifender Beschränkungen, die in ihrer Summe und Wirkung heute nicht selten zu einem Totalentzug von Nutzungs- und Gebrauchsrechten an der Liegenschaft führen und dem Eigentümer nur noch die Grundbuchposition (und die Steuerpflicht) belassen. Daß dies so ist, läßt sich nicht als beklagenswerter Verfall individueller Rechtsmacht, als bedenkliche Inpflichtnahme für das Gemeinwohl oder „Entrechtung" bezeichnen; es ist dies viel mehr eine zwangsläufige Konsequenz der Inanspruchnahme der Umwelt in der hochtechnisierten, industriellen Massengesellschaft, deren freiheitseinschränkende Rückwirkungen in vielen Lebensbereichen noch nicht an ihrem Endpunkt angelangt sind. Beklagenswert ist jedoch, daß die totale Ausrichtung der Eigentumsdogmatik auf das Bodeneigentum, dessen individuelle Nutzung in einem natürlichen Spannungsverhältnis mit Gemeinwohlbelangen steht, sozusagen die Schleusen geöffnet und alles andere, was Gegenstand von Eigentum ist, in .die Fluten der schier unbegrenzten Befugnis zum Erlaß nutzungsbeschränkender Regelungen mitgerissen hat. In der Ausrichtung der gesamten Eigentumsdogmatik an den für Grund und Boden naturgemäß besonders ausgeprägt bestehenden Gemeinwohlbindungen und der Übertragung der für Grund und Boden geltenden Befugnis des Gesetzgebers zur Normierung entsprechender Nutzungsbeschränkungen liegt die Hauptursache für die generelle Entwertung und inhaltliche Relativierung des Eigentumsrechts.

II. Perspektive: Die Sichtweise des Indianers als Leitidee einer auf Moral und Vernunft gegründeten Bodenordnung Es entspricht einer mit zunehmender Komplexität der Grundrechtsdogmatik häufiger werdenden Erfahrung, daß banale Einsichten, die bekanntlich die einzigen wandlungsresistenten Wahrheiten sind, weit mehr zur Verdeutlichung des Drehund Angelpunktes einer sachgerechten Erfassung von Inhalt und Schranken einzelner Grundrechtsverbürgungen beitragen als die Erkenntnisse methodisch akkurater juristischer Interpretationstechnik. Zu diesen banalen Richtigkeiten gehört der Ausdruck totalen Unverständnisses, das der alte Indianer - den Untergang seiner Kultur vor Augen - dem Selbstverständnis individueller Rechtsmacht des weißen Mannes entgegenhält, sinngemäß mit den Worten: „Wie kann es ein Mensch, der sich als Mitglied einer Kulturgemeinschaft versteht, als ,sein Recht' betrachten, vier Pflöcke in beliebiger Entfernung in das Erdreich zu stoßen und zu beanspruchen, daß alles, was innerhalb des so umgrenzten Raumes liegt, ,das Seine4 ist: die

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Bäume, die darauf stehen, das Wild, das dort weidet, das Wasser, das darüber fließt und die Fische, die darin schwimmen? Wie kann sich jemand als Machthaber eines Stückes des Lebensraumes aller begreifen und es als sein von Gott verliehenes Recht bezeichnen, sich dieses Stück völlig einzuverleiben und seiner Bestimmung als Bestandteil des Lebensraumes aller zu berauben?" 21 Kein vernunftbegabter Mensch wird diesen Worten des Indianers zustimmendes Kopfnicken verweigern, es sei denn, es handelte sich um ein Subjekt mit dem moralischen Gesinnungsstandard eines Räubers. Wenn Praktizierung von Eigennutz nicht völlig die moralische Dimension ausblendet, so gibt es an der Richtigkeit dieser „Sicht der Dinge" nichts zu rütteln. Dies wird noch deutlicher, wenn man den auf den umgrenzten Raum bezogenen Ausschließlichkeitsanspruch des Inhabers gar noch, wie dies in der Tat traditioneller Eigentumsdoktrin entspricht, 22 nach oben erstreckt auf die endlose Luftsäule darüber und nach unten verlängert bis an den Erdmittelpunkt mitsamt aller darin lagernder flüssiger oder fester „Schätze". Es ist gewiß kein der menschlichen Freiheit inhärenter Bestandteil individueller Rechtsmacht, daß die Befugnis, ein Stück Land sein eigen zu nennen, auch das ausschließliche Zugriffs- und Verwertungsrecht aller darunter im Schoß der Erde liegender Vorkommen einschließen soll, gleichgültig, wie weit sie sich im Erdinnern ausdehnen oder sich aus weitverzweigten geologischen Wirkungszusammenhängen speisen.23 Der zum Traum oder Märchen vom Lande der unbegrenzten Möglichkeiten gehörende Milliardär, unter dessen „Claim" sich die im Erdinnern unermeßlich ausdehnende Erdölblase auf hundert Meter der Erdoberfläche nähert und daher von dort angezapft werden konnte, ist das Produkt dieses Verständnisses eigentumsinhärenter Rechtsmacht - eine wahrlich abstruse Erscheinung der Realität, sozusagen die Legitimation praktizierter Räubergesinnung durch das Eigentumsrecht.

I I I . Lösungsansatz: Reflexion der Frage, ob Eigentum Produkt menschlicher Freiheitsausübung oder rechtlicher Zuordnung ist Entkleidet man die Worte des Indianers ihres mitschwingenden Pathos und fragt ganz nüchtern, warum diese „Sicht der Dinge" richtig und von der Rechtsordnung als zutreffende Sichtweise anerkannt und zur Geltung gebracht werden muß, so hilft abermals die Verdeutlichung einer banalen Einsicht weiter, die nicht Resultat anzweiflungsfähiger interpretatorischer Begriffsdeutung ist, sondern in der Natur 21 Frei nach dem Gedächtnis zitiert aus: Deebrown, ,3egrabt mein Herz an der Biegung des Flusses". 22 In diesem Sinne etwa F. Baur, Die „Naßauskiesung" - oder wohin treibt der Eigentumsschutz?, 1992, S. 1734. 23 Dieser überkommenen Vorstellung von eigentumsumfaßtem Aneignungsrecht alles Unterirdischen mit Ausklammerung des Grundwassers aus dem Bodeneigentum entgegengetreten zu sein, ist die eigentliche Großtat des BVerfG durch die Naßauskiesungsentscheidung (BVerfGE 58, 300); so danach auch BGHZ 84, 230.

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der Sache liegt, um die es geht. Es geht um das, was „Freiheit" im Rechtssinne ist, was sich demzufolge als „Freiheitsrecht" bezeichnen, als Ausfluß von Freiheit begreifen und als Substanz individuell autonomer Entfaltungsmöglichkeit dem Gewährleistungsgehalt einer Freiheitsverbürgung - konkret: des Eigentumsgrundrechts - zuordnen läßt. 24 Im ursprünglichen und allgemeinsten Sinne bedeutet Freiheit Abwesenheit von Zwang, einen Zustand also, der besteht, wenn der Einzelne ganz sich selbst leben, allein nach Maßgabe selbstgesetzter Motive, Zwecke und Maßstäbe entscheiden und handeln kann. Ein Mensch ist frei, wenn er sich ungehindert selbst entfalten und selbst verwirklichen kann. In der Sache geht es bei Freiheit, die die Grundrechte vor staatlichem Eingriff schützen wollen, um eigene Lebensgestaltung, um Selbstbestimmung des Individuums und bestimmte Eigenschaften des Menschen, die seine menschliche Personalität konstituieren. Freiheitsrechte sind daher am sinnfälligsten gekennzeichnet als durch die Rechtsordnung gegen staatlichen Eingriff geschützte Befugnisse, die dem Einzelnen um seiner selbst willen zustehen und Ausübung eigener, ihm innewohnender Fähigkeit rationalen Handelns darstellen. Wenn von menschlicher Freiheit im Rechtssinne, d. h. von der durch die Rechtsordnung geschützten Substanz individueller Autonomie und damit dem Freiheitsbegriff der Grundrechte die Rede ist, so ist damit gemeint, was der Einzelne aus sich selbst heraus will und kann. Aus dieser Besinnung auf die Bedeutung des Freiheitsbegriffs ergibt sich als weitere Einsicht und Konsequenz, daß eine individuelle Befugnis, die erst durch die Setzung von Recht zur Entstehung gelangt, mithin eine Schöpfung der Rechtsordnung ist und daher dem Einzelnen nur durch das Recht zugeordnet werden kann, nicht Gegenstand von Freiheit und nicht Inhalt eines Freiheitsrechtes sein kann. Ein rechtliches, d. h. durch Rechtsnormen zur Entstehung gelangendes Zuordnungsverhältnis von Befugnissen auf ein Rechtssubjekt kann nicht als Freiheitsrecht im Sinne des grundrechtlichen Freiheitsbegriffes verstanden werden; die dem Einzelnen als Bestandteil oder Ausfluß rechtlicher Zuordnung „zuwachsenden" Befugnisse sind nicht Gegenstand grundrechtlicher Freiheit und können nicht als Inhalt grundrechtlicher Freiheitsverbürgung verstanden werden. Dies verbietet sich nicht nur aus logischen Gründen, sondern ist normativer Gehalt des Freiheitsbegriffs. Bei Lichte gesehen ist es daher sachlich und terminologisch falsch, von freiheitsbegründenden Grundrechten zu sprechen: Grundrechte setzen die Existenz von Freiheit voraus und bringen diese nicht erst zur Entstehung. Wenn Gesetze Befugnisse begründen, so sind diese keine Freiheiten im Rechtssinne, wie umgekehrt individuelle Freiheiten, die als Grundrechte anerkannt und geschützt sind, nicht Ausfluß rechtlicher Ausstattung des Einzelnen mit Befugnissen bilden können.25 24 Zum Nachfolgenden J. Burmeister, „Dienende" Freiheitsgewährleistungen - Struktur und Gehalt eines besonderen Grundrechtstypus, in: Festschrift für Stern, 1997, S. 835 (839 ff.). 25 Eingehend zur wesensmäßigen Unvereinbarkeit von grundrechtsverbürgter Freiheit und rechtlichem Ausgestaltungsvorbehalt des Inhalts von Freiheitsrechten J. Burmeister (Anm. 24), S. 847 ff. m.weiteren Nachw.

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Durch das Recht geschaffene Freiheit ist ein Widerspruch in sich, worin sich andeutet, daß die häufige Bezeichnung und Qualifizierung von Eigentum als rechtsgestaltetes Zuordnungsverhältnis nicht zutreffend, jedenfalls zu undifferenziert ist. 26 Dies wiederum deckt sich mit der Einsicht, daß ein Grundrecht, welches hinsichtlich seines Gegenstandes und Inhaltes einem rechtlichen Ausgestaltungsvorbehalt unterliegt, 27 zwar rechtliche Befugnisse des Einzelnen zu begründen und mit dem Rang verfassungsrechtlicher Positionen auszustatten vermag, jedoch kein klassisches Freiheitsrecht darstellt.

1. Die zwei vorgegebenen Erscheinungsformen des unabgeleiteten „ Schöpfungseigentums " an von Menschenhand hervorgebrachten Produkten und des rechtsvermittelten „Aneignungseigentums " an Gegenständen des Naturhaushaltes Legt man diese im Begriff von Freiheit im Rechtssinne angelegten Einsichten der Bestimmung von Gegenstand und Inhalt der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie des Art. 14 zugrunde, so leitet sich daraus eine präzise Anschauung ab, welches „Produkt" individueller Freiheitsausübung Eigentum ist bzw. als Eigentum bezeichnet wird und welche individuellen Befugnisse als Inhalt von Eigentum gegen staatlichen Eingriff abgeschirmt sind. Die Erfassung der Eigentumsgarantie als Verbürgung eines Freiheitsrechts gewinnt so einen hinsichtlich ihres Gewährleistungsgegenstandes und -inhaltes genau definierten Umriß individueller Sachinhaberschaft und darin enthaltener Gebrauchs-, Nutzungs- oder Verwendungsbefugnisse, der sich vom traditionellen Verständnis des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs, wie er der Schutzbereichsbestimmung von Art. 14 GG zugrundeliegt, in ganz entscheidender Weise unterscheidet. Stellt man darauf ab, daß von der Rechtsordnung (grundrechtlich) geschützte Freiheit sich in der Ausübung individueller Entscheidungs- und Handlungsauto26 Verfehlt ist die generalisierend-undifferenzierte Betonung des „Angewiesenseins" von Eigentum auf rechtliche Ausgestaltung, vgl. BVerfGE 24, 367 (388 ff.): „Das Eigentum ist das wichtigste Rechtsinstitut zur Abgrenzung privater Vermögensbereiche. Es bedarf deshalb besonders der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung". Beispielhaft für die Folgerung, daß „der Inhalt des Eigentums durch Gesetz bestimmt wird" bzw. „Eigentum nur nach Maßgabe des Gesetzes besteht", G. Schwerdtfeger, Die dogmatische Struktur der Eigentumsgarantie, 1983, S. 16, der daraus die naheliegende, aber unzutreffende Folgerung zieht, es ergäbe sich ausschließlich aus den Gestzen, was der Inhalt des konkreten Eigentums ist. - Dagegen besonders eindringlich W. Leisner, (Anm. 7), S. 1044 ff. (1047 f.); ferner M. Nierhaus, Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers?, AöR Bd. 116 (1991), S. 73 ff. (95 ff.); H. J. Papier, Die Eigentumsgarantie des Gesetzgebers im Wandel, 1984, S. 17 ff. 27 Zuletzt zur Differenzierung zwischen Eingriffs- und Ausgestaltungsvorbehalt H. Bethge, Der Grundrechtseingriff, VDStRL H. 57 (1998), S. 10 f.; ferner J. Isensee, Das Gruridrecht als Abwehr und staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) HdBdStR, Bd. V, 1992, § 111 Rn. 51; Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, 1981, S. 26 ff.

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nomie verwirklicht und Gestalt annimmt, so liegt es auf der Hand, daß sich die aus menschlicher Freiheit abgeleitete Inhaberschaft einer (ausschließlich) eigenen Gebrauchs-, Nutzungs- und Bestandsherrschaft nur auf einen Gegenstand (im untechnischen Sinne) beziehen kann, der seine Entstehung selbst der Ausübung individueller Entscheidungs- und Handlungsautonomie verdankt und deshalb dem Individuum als Produkt des Gebrauchs seiner Freiheit und nicht erst kraft rechtlicher Zuordnung „gehört". Die Inhaberschaft einer körperlichen oder unkörperlichen Sache kann als Ausfluß vorgegebener Freiheit eines Menschen nur in der Person „ihres Schöpfers " entstehen; rechtlich nicht verschafftes, sondern aus subjektiver Handlungsautonomie hervorgehendes Eigentum ist nur denkmöglich an etwas, was der Mensch selbst aus dem Gebrauch seiner Freiheit „erwirbt". Eigentum, das Schutzgut einer grundrechtlichen Freiheitsverbürgung ist, entsteht und besteht nur aufgrund eigener Sachurheberschaft, und nur die Erschaffung einer Sache bringt die als Eigentum bezeichnete Sachinhaberschaft als totale und ausschließliche Zuordnung von Befugnissen zur Entstehung. Die Vergegenwärtigung einfachster Beispiele verdeutlicht die rechtsdogmatische Konsequenz des Verständnisses von Eigentum als verkörpertes Produkt menschlicher Freiheitsausübung: Das Bild, das der Maler hervorbringt, ist selbstverständlich Objekt seiner ausschließlichen Herrschaft, ohne daß es einer durch das Recht vermittelten Erzeugung des Eigentums bedarf. Gleiches gilt für das Möbel, das aus der Hand des Schreiners oder aus maschineller Fertigung in seiner Werkstatt hervorgeht: es gehört ihm, weil er es geschaffen hat. Bei Gegenständen des sog. geistigen Eigentums ist die in der Person des „Schöpfers" zur Entstehung und zur Geltung gelangende Inhaberschaft des Werks noch selbstverständlicher; sie ist eine Denknotwendigkeit, die als Gegebenheit dem Recht vorausliegt: kein vernünftiger Mensch käme auf die Idee, dem Komponisten, der seine Komposition auf Notenblättern niederschreibt, die ausschließliche Inhaberschaft am Werk deshalb zuzuschreiben, weil er Eigentümer der Notenblätter ist oder zu versagen, weil diese im Eigentum eines Dritten stehen. Nichts anderes gilt - wie sich gleichfalls von selbst versteht - für jeden in technischen Produktionsvorgängen fabrizierten Gegenstand, genauso, wie die Erbringung einer entgeltlichen Dienstleistung durch jemanden in dessen Person die Forderung zur Entstehung bringt. Stets ist die mit dem Begriff des Eigentums bezeichnete Inhaberschaft ein denknotwendiges Attribut der Hervorbringung eines Gegenstandes und nicht Rechtswirkung gesetzlicher Zuordnungsregeln; und ebenso evident ist, daß die in der Person des Sachurhebers existente Herrschaftsmacht nicht eine rechtlich begrenzte ist, sondern totale subjektive Beliebigkeit beinhaltet. Möglich ist nur, daß der Gesetzgeber die totale Beliebigkeit beschränkt, also etwa - um beim Beispiel zu bleiben - dem Schöpfer des Bildes verbietet, wegen der Anstößigkeit des Dargestellten dieses öffentlich auszustellen. Die gedankliche Umsetzung dieses „Sachverhaltes" vermittelt in Hinsicht auf die Schutzbereichsbestimmung der Eigentumsgarantie eine zentrale Erkenntnis, der strukturbestimmende bzw. -prägende Bedeutung für die gesamte Eigentums-

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dogmatik, insbesondere die Inhalts- und Schrankendogmatik zukommt. Diese Erkenntnis lautet: Wenn von Eigentum die Rede ist, das Bestandteil grundrechtlich verbürgter Freiheit ist und sich in Herrschaft über einen Gegenstand manifestiert, so kann das Bezugsobjekt dieser Herrschaft nur ein von Menschen selbst geschaffener Gegenstand sein. Genereller ausgedrückt: Nur an von Menschenhand geschaffenen, ausfinalem Gebrauch autonomer Willens- und Handlungsmacht hervorgegangenen „Produkten" kann unabgeleitete, mit ihrer Hervorbringung automatisch von der Person des Urhebers innegehabte - als Eigentum bezeichnete Sachherrschaft bestehen. Demgegenüber können Gegenstände, die in ihrer Existenz anderen Ursprungs sind als durch menschliche Hervorbringung, nur durch das Recht der Sachherrschaft eines Individuums unterstellt und damit in dessen Eigentum überführt werden. Jedoch ist die so zur Entstehung gebrachte Rechtsinhaberschaft nicht Ausfluß, Ertrag oder Produkt grundrechtlich verbürgter Freiheit und kann dies auch gar nicht sein, weil eine Inhaberschaft, die durch das Recht geschaffen ist, denkunmöglich Gegenstand oder Inhalt des Garantiegehaltes einer dem Recht vorausliegenden Freiheitsverbürgung sein kann. Es erscheint verwunderlich, ist aber so: Die Trennlinie zwischen Gegenständen, die als subjektive Vermögenswerte private Rechte aus dem Gebrauch der dem Individuum durch die grundrechtlichen Freiheitsverbürgungen zuerkannten Handlungsbefugnisse hervorgehen und deshalb jemandes Eigentum sind, und solchen, an denen keine aus autonomer Willens- und Handlungsmacht hervorgegangene Sachherrschaft besteht, also nur eine rechtsvermittelte Inhaberschaft bestehen kann, verläuft zwischen den von Menschen hervorgebrachten „künstlichen " Produkten und vorgefundenem Material, den „natürlichen " Gegenständen, d. h. von der Natur geschaffenen Gegenständen oder - anders ausgedrückt - den Gegenständen des Naturhaushalts.

2. Die Beschränkung der gesetzgeberischen Ausgestaltung von Inhalt und Schranken des Eigentums auf das „Aneignungseigentum" Indem dieser Gedanke formuliert wird, hört man bereits im Geiste lebhaften Widerspruch: daß es doch - als Konsequenz der Trennung zwischen „künstlichen" und „natürlichen" Gegenständen - verfehlt und unsinnig sei, in Hinsicht auf die Einbeziehung eines Gegenstandes in den Schutzbereich von Art. 14 GG das Bild des Malers anders zu behandeln als beispielsweise die am Strande aufgelesene und der eigenen Sammlung einverleibte Muschel oder das am Geröllhang aufgelesene Mineral oder die im Wald gesammelten Pilze oder - hier beginnt man bei der Aufzählung beliebiger Beispiele bereits zu zögern - den im Fluß geangelten Fisch, das gejagte Wild usw. Dieser Einwand, so plausibel er auf den ersten Blick auch erscheint, greift jedoch nicht: Selbstverständlich ist es Ausübung individueller Freiheit, sich herrenlose Gegenstände des Naturhaushaltes anzueignen, das mit Aneignung daran ent-

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stehende Eigentum ist jedoch nicht inhalts- und wesensgleich mit dem Eigentum, das der Künstler als Schöpfer seines Bildes, der Schriftsteller als Verfasser seines Buches, der Gewerbetreibende als Hersteller seines Produkts, erwirbt. Es besteht ein gravierender Unterschied: Der die Eigentumsordnung gestaltende Gesetzgeber ist grundsätzlich befugt, die Möglichkeit der Aneignung herrenloser Gegenstände des Naturhaushalts zu unterbinden, und er tut dies auch durch ein immer dichter werdendes Netz gesetzlicher Unterschutzstellungen aller möglicher Gegenstände des Naturhaushaltes, ohne sich dabei im grundrechtsrelevanten Bereich zu bewegen. Der Erlaß einer entsprechenden Regelung zur Verhinderung des Eigentumserwerbs an selbstgeschaffenen Gegenständen wäre hingegen der denkbar massivste Eingriff in die Freiheitssphäre des Einzelnen, für die sich wohl überhaupt kein rechtfertigender Grund überwiegender Interessen des Gemeinwohls finden ließe. Die im Einzugsbereich christlichen Gedankenguts tradierte Vorstellung, daß die Gegenstände der Natur freier und beliebiger Aneignung des Menschen unterlägen und es ein „Urg rundrecht u menschlicher Existenzsicherung gäbe, sich das, was die Natur „für den Menschen" bereit hält und hervorbringt, zunutze zu machen, ist zweifellos im Denken der Menschen unseres Kulturkreises tief verwurzelt, woraus sich die historische Bedenkenlosigkeit des Christentums zur Inbesitznahme von Land und Ausbeutung aller beweglichen oder festen Bestandteile des Naturhaushalts erklärt. Sittlich und moralisch gerechtfertigt war diese Vorstellung nie; es gab nie ein der konstituierten Rechtsordnung vorausliegendes Menschenrecht an der Natur oder - was dasselbe besagt - eine zum Grundbestand moralischer Prinzipien gehörende Befugnis des Menschen, sich beliebig die Bestandteile der Natur einverleiben zu dürfen; diese Vorstellung war im Gegenteil stets eine Anmaßung an Rechtsmacht. 2S Erst die jüngere Entwicklung, die Sensibilisierung der Menschheit für die Begrenztheit der nichtregenerationsfähigen Naturschätze, hat diese besitzindividualistische Definition von privatnütziger Rechtsmacht als Exzeß und Anmaßung „entlarvt". Unter allen aus Freiheit abgeleiteten Rechten des Menschen zur Einverleibung von Bestandteilen der Natur ist als erstes ins Bewußtsein getreten und zum Inhalt von Rechtsüberzeugung geworden, daß das Recht der freien Landnahme eine Anmaßung, eine unmöglich tolerierbare Übersteigerung privatnütziger Handlungs28 Treffend J. v. Gierke, Soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889, S. 21; „Daß ein Stück unseres Planeten einem einzelnen Menschen in derselben Weise eigen sein soll, wie ein Regenschirm oder ein Guldenzettel, ist ein kulturfeindlicher Widersinn. In unserem Volksbewußtsein lebt unaustilgbar die ... Anschauung, daß die Erde trotz aller Bodenauftheilung bis zu einem gewissen Grade stets Gemeingut geblieben ist, daß alles Sonderrecht am Boden nur mit einem starken Vorbehalt zu Gunsten der Allgemeinheit besteht. Und je nach der Beschafenheit des Grundstückes scheint uns das Grundeigenthum selbst wieder von ungleichartigem Inhalte zu sein, so daß es an Landgütern und städtischen Bauplätzen und gewerblichen Anlagen besondere Herrschaftsbefugnisse gewährt, an Wald und Wasser in sehr gesteigertem Maße durch Gemeinschaftsrecht gebunden wird, an den dem Gemeingebrauch gewidmeten öffentlichen Stätten sich nahezu verflüchtigt", zitiert aus M. Thormann, Abstufungen in der Sozialbindung des Eigentums, 1996, S. 52.

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vollmachten des Einzelnen ist und deswegen die Inbesitznahme von Land durch die Rechtsordnung in der Weise gestaltet werden muß, daß die Herstellung einer ausschließlichen Sachinhaberschaft und darin angelegter Gebrauchs-, Nutzungs- und Verwendungsrechte (nur) durch das Recht, durch das Rechtsinstitut des Eigentums, vermittelt werden kann. Grund und Boden bildet - im Gegensatz zu den aus eigener Freiheit und autonomer Willensmacht hervorgebrachten „Dingen" - idealtypisch den Gegenstand, an dem individuelle Befugnisse nur nach Maßgabe der Inhaltsund Schrankenbestimmung durch das staatliche Gesetz bestehen können. Die Vermittlung der Sachherrschaft durch das Recht und gerade nicht ihre Ableitung aus vorgegebener Freiheit ist das Merkmal, das Eigentum an Grund und Boden von Eigentum an den von Menschenhand vorgebrachten Gegenständen unterscheidet. Betrachtet man Verlauf und derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung nicht nur auf nationaler, sondern globaler Ebene, so läßt sich die Feststellung treffen, daß vom „Urgrundrecht" des Menschen, sich in Ausübung seiner apriorischen Freiheit Bestandteile des Naturhaushaltes anzueignen, so gut wie nichts geblieben ist. Noch darf zwar jedermann Tannenzapfen auflesen, Pilze sammeln, sich vielleicht auch noch, aber keineswegs selbstverständlich als Sammler von Muscheln, Mineralien oder Versteinerungen betätigen, aber schon beim Fang des Schmetterlings hört die allgemeine Handlungsfreiheit auf. Nach der Unterstellung der Sachherrschaft an einem Stück Grund und Boden unter den Vorbehalt rechtlicher Gestattung und rechtlicher Bestimmung von Inhalt und Schranken der durch das Eigentum begründeten Befugnisse ist so ziemlich alles, was auszubeuten ökonomisch interessant ist, aus dem Gegenstandsbereich freier Aneignungsbefugnis ausgeklammert und rechtlicher „Konzessionierung", d. h. rechtsabgeleitetem individuellem Zugriffsund Nutzungsrecht unterstellt worden, beginnend beim Aneignungsrecht des jagdbaren Wildes und der Fische in Flüssen und Seen, über das Schlagrecht von Nutzhölzern bis hin zum Abbaurecht der wichtigsten Bodenschätze. Der Beendigung des Verteilungskampfes an den ökonomisch nutzbaren Gegenständen des Naturhaushaltes folgte die Aufwertung des Schutzgedankens zum P f l i c h t i g e n Auftrag von Staat und Recht als Antrieb nahezu vollständiger Eliminierung der Gegenstände des Naturhaushalts aus dem Bereich der individuellen Aneignungsbefugnis kraft menschlicher Freiheit und deren Unterstellung unter ein spezifisches, hochdifferenziertes Rechtsregime, das nicht nur die Aneignung von Gegenständen des Naturhaushalts auf die Grundlage rechtlich vermittelter Befugnis (als Rechtsverleihung) stellt, sondern - darüber hinaus für bestimmte Gemeingüter - sogar die Möglichkeit zur Begründung rechtsvermittelten Eigentums ausschließt: dem Vorbehalt rechtsvermittelter Aneignungsbefugnis von Gegenständen des Naturhaushaltes folgt die Unterschutzstellung, durch das bestimmte Naturvorkommen teilweise oder völlig einem Aneignungsverbot unterstellt werden (beispielhaft dafür sind das Jagdverbot von besonders gefährdeten Tierarten und Aneignungsverbot von gefährdeten Pflanzenarten, das Fangverbot von Walen, die Festlegung von Fangquoten für Meeresfische, das generelle Entnahmeverbot von Wasser an Oberflächengewässern etc.), oder - noch weitergehend - überhaupt von der „Eigen-

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tumsfähigkeit" ausgenommen werden und ihnen damit durch das Recht der Status der Eigentumslosigkeit, sozusagen rechtlich abgeschirmter Herrenlosigkeit, verliehen wird. 29 Der Generalisierung des Aneignungsverbots folgt wiederum ein rechtliches „Sanktionssystem", das die unter Mißachtung des Aneignungsverbots entnommenen Naturgegenstände oder -produkte individueller Nutzung entzieht und in letzter Konsequenz der staatlichen Einziehung unterwirft: die differenziert-abgestuften Regelungsanordnungen des Washingtoner Artenschutzabkommens, das Handels- und Veräußerungsverbot für „Produkte" geschützter Tierarten (z. B. Felle, Elfenbein), das Einziehungsrecht von unzulässig angeeigneten Schutzobjekten sind dafür beispielhaft. Mit Blick auf die vorgefundenen Gegenstände des Naturhaushalts ist also festzustellen, daß von einem aus menschlicher Freiheit fließenden individuellen Recht zur Aneignung praktisch nichts übriggeblieben ist. Die Vorstellung von der Existenz und Qualität eines Menschenrechts zur Errichtung einer eigentumsrechtlichen Sachherrschaft und -inhaberschaft ist nicht nur in Bezug auf Grund und Boden, sondern - von marginalen „Restpöstchen" abgesehen - in Bezug auf den Naturhaushalt insgesamt überlebt, und dieser Einsicht hat die Rechtsordnung - vielfach nur zögernd und aus globaler Sicht vielerorts noch insuffizient - Rechnung getragen. Die Trennung zwischen „künstlichen Gegenständen", die der Herrschaftsmacht des Einzelnen kraft Schöpfungsmacht unterliegen, und „natürlichen", die allenfalls aneignungsfähig sein können, ist also richtig. Erstere sind dadurch gekennzeichnet, daß die Sachherrschaft und -inhaberschaft aus individueller Willens- und Handlungsautonomie, aus dem Gebrauch menschlicher Freiheit hervorgeht, daher als Eigentum nicht rechtsvermittelt und rechtsgeformt ist, während letztere in der Person eines Menschen nur als aus dem Recht abgeleitetes, inhaltlich geprägtes Eigentumsrecht, d. h. als rechtliches Zuordnungsverhältnis von Befugnissen, entund bestehen kann. Die gesetzgeberische Befugnis zur Regelung von Inhalt und Schranken ist dem Aneignungseigentum „kraft Natur der Sache" wesenseigentümlich, aber auch nur dieser Erscheinungsform von Eigentum. Dies ist der rechtliche Ausgangsbefund, aus dem sich die Richtigkeit der Sichtweise des Indianers erklärt und der das Fundament der verfassungsrechtlichen Eigentumsordnung und damit der Eigentumsdogmatik des Art. 14 GG bildet. In dieser artbestimmten Zweiteilung der Eigentumsordnung sind eine Vielzahl system- und strukturbildender Konstruktionsvorgaben des dogmatischen Überbaus der Eigentumsgarantie angelegt, die sich zu einem differenzierten, jedoch in sich geschlossenen System eigentumsrechtlicher Gewährleistungen zusammenfügen, das als Ganzes die verfassungsrechtliche Eigentumsordnung des Grund29 So beispielsweise das Grundwasser gemäß der Naßauskiesungsentscheidung des BVerfG. Dies gilt aber nicht nur für Grundwasser, für die Frage, ob das Bodeneigentum den Rechtstitel dafür gibt, das in der Tiefe vorhandene Thermalwasservorkommen durch Bohrung zu erschließen und als Eigentum zu nutzen, kann nichts anderes gelten.

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gesetzes bildet. Gegenüber der bestehenden, auf dem einheitlichen Eigentumsbegriff basierenden Eigentumsdogmatik führt diese Abschichtung zweier Schutzbereichszonen für wesentliche Sachbereiche zu einer erheblichen Stärkung des Gewährleistungsgehaltes der Eigentumsgarantie, weil sie gesetzgeberischen Inhaltsund Schrankenregelungen deutlich engere Grenzen zieht und strengeren Anforderungen unterwirft: Die für die gesamte eigentumsdogmatische Systembildung entscheidende Bedeutung der Unterscheidung von „Schöpfungseigentum" und „Aneignungseigentum" liegt in der Erkenntnis, daß nicht - wie dies einhelliger Auffassung entspricht und der Rechtsprechung des BVerfG auch nach der Naßauskiesungsentscheidung zugrundeliegt - das Rechtsinstitut „Eigentum" rechtlicher Ausgestaltung, d. h. gesetzgeberischer Inhalts- und Schrankenbestimmung unterliegt, sondern nur Eigentum in seiner Erscheinungsform als Aneignungseigentum.

IV. Das Dilemma: Die Schwierigkeiten dogmatischer Herleitung der dem Indianer selbstverständlichen Regeln der Güterzuordnung aus dem positiven Recht In der Gegenüberstellung von künstlich hergestellten und natürlich vorgefundenen Gegenständen ist alles in der Realität körperlich existente, sieht- und greifbare „Material" erfaßt, das Gegenstand von Eigentum sein kann. Soweit unkörperliche Sachen, wie z. B. Forderungen, dem verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff unterfallen, handelt es sich stets um Rechtsprodukte, die sich auf eine aus menschlichem Handeln hervorgegangene Vermögenswerte Rechtsposition beziehen und daher zwanglos der Kategorie des Schöpfungseigentums zuzuordnen sind. Mit der Unterscheidung von hergestelltem „Schöpfungseigentum" und einverleibtem „ Aneignungseigentum " ist mithin die Eigentumsordnung gegenständlich vollständig umfaßt. 1. Die Aufteilung der Eigentumsordnung in zwei gegenständliche überschneidungslose Schutzbereichszonen Mit der Unterscheidung von Schöpfungseigentum an durch den Menschen hervorgebrachten Gegenständen und Aneignungseigentum an vorgefundenen Gegenständen des Naturhaushalts wird der verfassungsrechtlichen Eigentumsordnung eine tatsächlich bestehende Verschiedenartigkeit des Gegenständlichen zugrunde gelegt, die sich nicht aus dem Recht ergibt, sondern Realität ist. Sie ist eine durch die „unterschiedliche Art", die anhaftende „Andersartigkeit" der Gegenstände vorgegebene Aufteilung der Eigentumsordnung in zwei überschneidungslos nebeneinander stehende Schutzbereichszonen. 30 Deren Abgrenzung stößt allenfalls in der 30 Es sei, um Mißverständnissen vorzubeugen, darauf hingeweisen, daß nicht die Rede ist von einer Aufteilung des Schutzbereichs von Art. 14 Abs. 1 GG in zwei getrennte „Schutzbereichszonen"; dazu nachfolgend sub 2.

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Grauzone von Gebrauch und Verbrauch von Naturgegenständen auf Schwierigkeiten, die sich jedoch bei natürlicher Betrachtungsweise zwanglos auflösen: aus landwirtschaftlicher Tierhaltung und Ackerbau, Tier- oder Pflanzenzucht jedweder Art und jedweden Zwecks hervorgehende „Produkte" sind Schöpfungseigentum. Demgegenüber stellt jeder „Zugriff ' auf Tier- oder Pflanzenbestände oder sonstige sachliche Vorkommen der Natur einen Aneignungsvorgang dar, der grundsätzlich der Möglichkeit gesetzlicher Unterbindung unterliegt. So hätte man auch dem alten Indianer nicht mit komplizierten Rechtsausführungen klar machen müssen, daß es unter dem Blickwinkel des Dürfens, des Gestattetseins, der Befugnis zweierlei ist, ob jemand (auch er selbst) einen Büffel erlegt oder seinen Fleischbedarf durch „Erlegung" eines auf dem Land eines Farmers weidenden Ochsen deckt; er selbst hätte gewußt, daß er sich im letzteren Falle als Räuber betätigt. Ihm wäre auch klar gewesen, daß selbst die Ausrottung des Büffels ihn nicht dazu berechtigt, sich des Ochsen eines Farmers zu bemächtigen, und es keinen - irgendwoher ableitbaren - Rechtstitel geben kann, zur Linderung des Hungers seiner indianischen Stammesbrüder den Farmer zu verpflichten, die Wegnahme eines Ochsens im Monat zu dulden oder diesen sogar als „Sozialtribut" unentgeltlich abzuliefern. Dies alles hätte keiner abstrakt-theorischen Erklärungen über Inhalt und Schranken, über die Sozialpflichtigkeit von Eigentum bedurft, weil es sich von selbst - als Inhalt von Vernunft und Anstand - versteht. Man möchte meinen, daß es sich juristisch geschultem Denken erst recht als banale Selbstverständlichkeit darstellt, daß keine rechtliche Definition oder Konstruktion von Eigentum die „Geltung" dieser jedermann einsichtigen Verschiedenartigkeit der Güterzuordnung „relativieren" kann. Es gehört indessen zu der mit der Dauer juristischer Befassung häufiger werdenden Erfahrung, daß es ungewöhnliche Schwierigkeiten bereiten kann, aus dem positiven Recht unter Verweis auf gesetzliche Bestimmungen herzuleiten, daß das, was selbstverständlich ist, auch Inhalt des geltenden Rechts ist. Die Begründung durch Deduktion aus dem Gesetz und Interpretation abstrakt gefaßter gesetzlicher Bestimmungen verliert die Bodenhaftung gedanklicher Nachvollziehbarkeit als Gebote der Vernunft, ja es ist nicht selten so, daß das von einem Gestrüpp juristisch-dogmatischer Konstruktions- und Argumentationsfiguren überwucherte gesetzliche Regelungswerk den Blick für das Selbstverständliche versperrt und dazu führt, daß mittels komplizierter juristischer Erkenntnisarbeit ein Ergebnis aus dem Recht abgeleitet wird, das sich der Einsicht der Vernunft verschließt. So käme man auch in große Verlegenheit bei dem Versuch, das, was dem Indianer selbstverständlich ist und auch von Rechts wegen gelten muß, auf der Grundlage der dogmatischen Erfassung der Eigentumsgarantie, wie sie insbesondere der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegt, zu erklären.

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2. Verortung des Schöpfungseigentums als Produkt Freiheitsausübung im jeweils sacheinschlägigen Freiheitsrecht

Was dem Indianer klar ist, jedoch als geltendes Recht durch den einheitlichen Eigentumsbegriff verschleiert und deshalb in der Eigentumsdogmatik auch nicht zur Geltung gebracht wird, ist der Nachvollzug des Faktums, daß die inhaberschaftliche Zuordnung von Ertrag und Produkt aktiv-schöpferischen Handelns des Menschen anderen Ursprungs und anderer Wesensart ist als die Befugnis der Inbesitznahme eines vorhandenen Gegenstandes (des Naturhaushalts). Der einheitliche Eigentumsbegriff, der allein auf das Recht an einer (beliebigen) Sache abstellt, blendet den Entstehenstatbestand, d. h. den Vorgang der Hervorbringung einer Sache, aus der Betrachtung aus.31 Die sich auf den einheitlichen Eigentumsbegriff gründende Eigentumsdogmatik nimmt daher nicht wahr, daß durch die Hervorbringung nicht nur die personale Zuordnung, sondern vor allem auch Inhalt und Schranken des in der Person des Hervorbringers zur Entstehung gelangenden Eigentums bestimmt werden. Da der „dingliche" Eigentumsbegriff nur die Sache selbst im Auge hat und als „einheitlicher" die Rechte aus Eigentum für alle Sachen inhaltsgleich umschreibt, bleibt der Eigentumsdogmatik verborgen, daß z. B. das vom Maler hervorgebrachte Bild diesem als Ausfluß der Grundrechtsgewährleistung der Kunstfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG, das Druckwerk dem Verleger als Ausfluß der Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG, der Tisch dem Schreiner als Ausfluß der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG gehört; es bleibt verschlossen, daß sich der verfassungsrechtliche Standort des Schöpfungseigentums sowie von Inhalt und Umfang der am konkreten Objekt von Schöpfungseigentum bestehenden Inhaberschaft aus der jeweiligen Grundrechtsgewährleistung ergeben. Nicht die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie des Art. 14 GG definiert Inhalt und Umfang des Eigentums des Malers an seinem Bild oder des Schreiners an seinem Tisch, nicht die im Zentrum der Eigentumsdogmatik stehenden rechtlichen Kriterien zur Bestimmung des „Ausmaßes" der Sozialbindung und der daraus fließenden, vom Eigentümer kompensationslos zu duldenden Einschränkungen gelten für den Maler oder den Tischler. Das Eigentum des Malers an seinem Bild ist in Art. 5 Abs. 3 GG grundrechtlich aufgefangen; die Vorstellung einer dem Produkt der Kunstfreiheitsgarantie innewohnenden „Sozialbindung", zu deren Konkretisierung der Gesetzgeber kraft seiner Kompetenz zur Inhalts- und Schrankenbestimmung von Eigentum berechtigt wäre, ist so absurd wie abwegig. Und was für das Bild des Malers gilt, gilt in der grundrechtlichen Zuordnung für jedes andere Produkt des Schöpfungseigentums. An der dogmatischen Bewältigung des „Selbstverständlichen" ist auch das Bundesverfassungsgericht in der Pflichtexemplar-Entscheidung 32 gescheitert. Im 31 Dies deckt sich mit der einhelligen Auffassung, daß Art. 14 GG nur Recht am Eigentum, kein Recht auf Eigentum garantiert; vgl. statt vieler W. Leisner (Anm. 7), S. 1027, Rn. 7. 32 BVerfGE 58, 137 (147 ff.).

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Ergebnis ist die Entscheidung zwar richtig, die dogmatische Begründung ist jedoch nicht haltbar: Die Zulässigkeit der generellen Pflicht zur Ablieferung einer bestimmten Anzahl von Druckerzeugnissen ergibt sich nicht aus der Befugnis des Gesetzgebers zur Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, sondern daraus, daß es sich beim Verlegergrundrecht der Pressefreiheit um eine „dienende " Freiheitsgewährleistung handelt, der eine Gemeinwohlbindung innewohnt und die insoweit einem rechtlichen Ausgestaltungsvorbehalt unterliegt. 33 Unter dem Titel des Presserechts ist der Gesetzgeber berufen, die der Presse als öffentliche Aufgabe innewohnende Gemeinwohlpflichtigkeit zu konkretisieren, und bei der Ablieferungspflicht handelt es sich um eine solche Ausformung der Gemeinwohlbindung. Dogmatisch unzutreffend ist also die Eingangsfeststellung des Bundesverfassungsgerichts, daß „Prüfungsmaßstab für die vorgelegte Bestimmung das Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG ist"; Prüfungsmaßstab der Bestimmung über die Ablieferungspflicht von Druckerzeugnissen ist vielmehr das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG, weil in diesem Grundrecht das Schöpfungseigentum des Verlegers an Druckerzeugnissen aufgefangen ist und durch die diesem Grundrecht innewohnende kulturstaatliche Gemeinwohlpflichtigkeit „begrenzt" wird. Richtig ist wiederum die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, daß die kostenlose Ablieferungspflicht hochwertiger Druckerzeugnisse in kleiner Auflage eine „unverhältnismäßige Belastung" des Verlegers beinhaltet, mithin die ausnahmslose Ablieferungspflicht „die Grenzen verhältnismäßiger und noch zumutbarer inhaltlicher Festlegung des Verlegereigentums überschreitet". Die Verfassungswidrigkeit der Vorschrift insoweit ergibt sich jedoch nicht daraus, daß der Gesetzgeber die Grenzen seiner generellen Befugnis zur Inhaltsbestimmung von Eigentum überschritten hat, die Regelung also eine „ausgleichungspflichtige Inhaltsbestimmung" darstellt. Vielmehr muß der Gesetzgeber auch bei Auferlegung spezifischer „drittnütziger" Verlegerpflichten die Grenzen zumutbarer wirtschaftlicher Belastung berücksichtigen; die Inpflichtnahme erfüllt vielmehr geradezu idealtypisch den Tatbestand, der nach allgemeinen Aufopferungsgrundsätzen die Entschädigungspflicht auslöst. So bleibt mit Blick auf die Schwierigkeiten dogmatischer Bewältigung von Selbstverständlichem die Frage, ob wohl das Bundesverfassungsgericht eine Regelung, die dem Hersteller von Schulmöbeln die Pflicht zur Ablieferung eines zehnprozentigen Anteils seiner Produktion zwecks kostenloser Ausstattung öffentlicher Schulräume mit Möbeln auferlegt, auch als eine ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung von Eigentum oder - wie es der Fall ist - als einen unzulässigen 33

In diesem Lichte wird die Bedeutung der typusmäßigen Unterscheidung zwischen den individualistisch-eigennützigen (klassischen) Freiheitsrechten und gemeinwohlpflichtigen „dienenden" Freiheitsgewährleistungen sichtbar, dazu eingehend J. Burmeister (Anm. 24), S. 835 ff.

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Eingriff in das Grundrecht der beruflich-wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG angesehen hätte: ein evident verfassungswidriger Eingriff, weil Art. 12 Abs. 1 GG als klassisches Freiheitsrecht keinem rechtlichen Ausgestaltungsvorbehalt i.S. einer konkretisierbaren „Sozialpflichtigkeitsbindung" unterliegt.

Zur Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums durch Gesetzgeber und Gerichte Von Ulrich Battis

„Eigentum ist ein eigentümliches Recht",1 mit diesen Worten eröffnete der verehrte Jubilar vor 10 Jahren die Summe seiner jahrzehntelangen, in vielen Veröffentlichungen sich niederschlagenden Beschäftigung mit Art. 14 GG. Mit der ihm eigenen Bestimmtheit greift Leisner eine Eigentümlichkeit der verfassungsrechtlichen Eigentumsdiskussion auf, die These vom „Eigentum nach Gesetz", hinter der er eine Grundforderung des demokratischen Sozialismus sieht: „Mehrheit als Herr über das Eigentum".2 Mit beschwörendem Rückgriff auf das Pathos der Französischen Revolution hält Leisner dagegen: „Eigentum - eine Schöpfung des Gesetzgebers? Diese Worte sollten nicht mehr gebraucht werden." 3 Angeregt durch den Wortlaut von Art. 14 I 2 GG, „Inhalt und Schranken (des Eigentums) werden durch die Gesetze bestimmt," stellt Leisner unmittelbar anschließend allerdings selbst leicht variiert die Frage nach dem „Gesetzgeber als Herr der Eigentumsinhalte?".4 Die „keinem anderen Grundrecht vergleichbar(e) Verfassungsaussage" des Art. 14 I 2 GG bildete schon vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die den Befürwortern des Konzepts „Eigentum nach Gesetz"5 neuen Auftrieb gab, dem vieldiskutierten Naßauskiesungsbeschluß6 die Basis für die zusammenfassende Feststellung: Art. 14 GG „sei längst zum schwächsten aller Grundrechte avanciert". 7 Dieses Verdikt kontrastiert deutlich zum Postulat der grundsätzlichen Festigkeit des Eigentumsbegriffs gegenüber aller Evolution8 oder der Feststellung einer Untersuchung zu „Eigentum und Gesetzgebung",9 die danach trachtet, genau dieses Verdikt u. a. durch Auseinandersetzung mit „neuer1 Leisner, HStR, VI, 1989, § 149 Rn. 1. 2 Ders., HStR, § 149 Rn. 54 f. 3 Ders., HStR, § 149 Rn. 59. 4 Ders., HStR, § 149 Rn. 60. 5

Zum Beispiel Rittstieg, NJW 1982, 721; von Brünneck, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, 1984, S. 424. 6 BVerfGE 58, 300; dazu mit Vorbehalten Leisner, DVB1. 1993, 61; HStR, § 149 Rn. 63, 71,80, 82, 148,169 und 175. 7 Schwerdtner, Jura 1979, 216. 8

Leisner, Sozialbindung und Eigentum, 1972, S. 58. 9 Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, 1985, S. 2,406.

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dings verstärkt akzentuierten falschen Weichenstellungen" des Bundesverfassungsgerichts zu widerlegen. 10 Die Kritik offenbart Distanz zu der hinsichtlich ihrer Problemlösungskapazität11 und begrifflichen Stringenz zunächst unter- und dann überschätzten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Enteignung und zur Inhalts- und Schrankenbestimmung durch den Gesetzgeber. Zugleich läßt die Kritik eine deutliche Affinität zu der vom Bundesgerichtshof vertretenen Konzeption des Eigentumsschutzes erkennen. Zugespitzt läßt sich sagen, daß der Bundesgerichtshof „aufgeschreckt" 12 durch den Naßauskiesungsbeschluß und die scharfen Vorwürfe des damaligen Berichterstatters 13 die tragenden Säulen seines Konzepts - entgegen anderslautenden Beteuerungen - 1 4 durchaus nicht geändert, sondern - abgesehen von kleineren Korrekturen, z. B. Vorrang des Primärrechtsschutzes - im wesentlichen nur die Fassade übermalt hat. Ihrer Basis in Art. 14 III GG beraubt, wurden der enteignungsgleiche Eingriff und der enteignende Eingriff entgegen ihrer sprechenden Bezeichnung von Art. 14 III nach Art. 14 I GG „verschoben" und durch den Rückgriff auf die vom Reichsgericht gelegte Basis der Aufopferung zugeordnet, obwohl seinerzeit bei der Begründung dieser Rechtsinstitute der Bundesgerichtshof - wie sich nun zeigt - zu Unrecht die Nomenklatur des Reichsgerichts verabschiedet hatte.15 Der Grund für diese sehr pragmatische Vorgehens weise dürfte sein, daß nach dem kläglichen Scheitern ernsthafter Kodifikationsbestrebungen im Bereich des Staatshaftungsrechts das „richterrechtliche Haftungsrecht so unentbehrlich wie ehedem"16 ist, zumal das Bundesverfassungsgericht selbst kraft Richterrechts keinen gleichwertigen Ersatz bereitgestellt hat. Ein weiteres Beispiel für den geschmeidigen Umgang des Bundesgerichtshofs mit den verfassungsgerichtlichen Vorgaben ist die entschieden betriebene Karriere der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung. Vom Bundesverfassungsgericht 17 einen Tag vor dem Naßauskiesungsbeschluß anläßlich eines eher randständigen Problems - Ablieferungspflicht für Pflichtexemplare - eher beiläufig erfunden, schenkte der Bundesgerichtshof diesem neuen Rechtsinstitut alsbald seine ganze Aufmerksamkeit, um

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So Wendt in Auseinandersetzung mit dem Naßauskiesungsbeschluß, S. 397; kritisch ders. auch in: Sachs, Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 14 Rn. 61, 83; vgl. auch Baur, NJW 1982, 1734. n Dazu kritisch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 194; Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 192; weiterer Nachw. bei Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 6. Auflage 1998, Vorb. §§39-44 Rn. 5. 12 So Kreft, Öffentliche rechtliche Ersatzleistungen, 2. Aufl. 1998, Rn. 60. 13 Böhmer, Der Staat, 1985, S. 157; ders., DÖV 1982, 87; ders., NJW 1988, 2561; dazu kritisch Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S. 398 „leichtfertig". 14 Krohn, Enteignungen, Entschädigungen, Staatshaftung, 1993, Rn. 2; Engelhardt, NVwZ 1994, 337; vgl. auch Krohn, DVB1. 1986, 145; dazu-Böhmer, NJW 1988,2561/2566. 15 BGHZ 6, 270/285; RGZ 140, 276. 16 Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rn. 728; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 226. 17 BVerfGE 58, 137/147.

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ungeachtet nicht verstummender Grundsatzkritik 18 das von ihm und dem Reichsgericht geschaffene Konzept des Eigentumsschutzes zu bewahren, bis hin zum offenen Konflikt 19 mit dem Bundesverwaltungsgericht, 20 das mit Unterstützung gewichtiger Stimmen21 seine Alleinzuständigkeit für dieses durchaus nicht auf Art. 14 III 4 GG gestützte Rechtsinstitut einfordert. Im Kern geht es darum, welche Gerichtsbarkeit anhand welcher eigentumsrechtlichen „Subformel", 22 gestützt auf die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie, den kontrollierenden Dialog mit dem Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmenden Gesetzgeber führt. Bis zur Neukonzeption des Eigentumsschutzes durch das Bundesverfassungsgericht spielte eindeutig der Bundesgerichtshof die „erste Geige". Wahrend das Bundesverfassungsgericht lange überwiegend anhand „peripherer Fragen" 23 Art. 14 GG auslegte, oblag dem Bundesgerichtshof der Eigentumsschutz an zentraler Stelle, nämlich der Schutz des Bodeneigentums gegenüber dem zu Planung und Enteignung berechtigten Staat. Das wichtigste Gesetz zur Behandlung der Bodenfrage in Ballungsgebieten, das Bundesbaugesetz, ist seinerzeit zum Ärger der Kommunen und Stadtplaner in seinen §§ 40-44, 85-122 und 142 nichts anderes gewesen als eine Kodifikation der zivilgerichtlichen Rechtsprechung. Dabei ist es mit leichten Modifikationen im Baugesetzbuch bis heute geblieben. Die dominierende Position des Bundesgerichtshofs ist kein Zufall. Mit fränkischer Offenheit hat das Mitglied des Parlamentarischen Rates, der spätere Bundesjustizminister Thomas Dehler, in einer Parlamentsdebatte dargelegt, warum man trotz des umfassenden Gerichtsschutzes, den das Grundgesetz einschließlich der Garantie einer Verwaltungsgerichtsbarkeit (Art. 95 I GG) zur Verfügung stellt, bewußt den eigentlich entbehrlichen Art. 14 III 4 GG eingeführt hat. Die Zuweisung zu den Zivilgerichten sollte eine eigentümerfreundliche Rechtsprechung durch die Zivilgerichte sicherstellen. Diese scheine dort eher gewährleistet als bei den traditionell etatistisch geprägten Verwaltungsgerichten. 24 Diese Erwartung hat der Bundesgerichtshof nicht enttäuscht. Deutlich belegt dies nicht zuletzt die Kontroverse zwischen Bundesverfassungsgericht 25 und dem Bundesgerichtshof zur Höhe der Enteignungsentschädigung. Man kann die gegenüber dem Eigentumsschutz des Bundesverfassungsgerichts hinhaltenden Aus18 Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rn. 338; Breuer, NuR 1996, 537/545; Wieland, in: Dreier, Grundgesetz, 1996, Art. 14 Rn. 117; Hösch, JA 1998, 727/730; w.N. bei Battis/ Krautzberger/Löhr, Vorb., §§ 85 -122 Rn. 4. 19 BGHZ 122, 76. 20 BVerwGE 81, 329/342. 21 Z. B. Schock, JZ 1995, 768; Gegenposition Schenke, NJW 1985, 3145. 22 Leisner, HStR, § 149 Rn. 80. 23 So Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S. 2. 24 BT-Drs. III, Bd. 46, S. 6859. 25 BVerfGE 24, 367/421; 52, 32; ablehnend Leisner, NJW 1992, 1409; weiterer Nachw. bei Opfermann, Die Enteignungsentschädigung nach dem Grundgesetz, 1973, S. 71; Wieland, in: Dreier, a. a. O., Art. 14 Rn. 11, 105.

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weichmanöver des Bundesgerichtshofs als dogmatisch unzulänglich geißeln.26 Im Kern geht es darum, bei der Neubestimmung von Eigentumsbindung und Enteignung den vom Bundesverfassungsgericht in seiner Dispositionsbefugnis gestärkten Gesetzgeber27 nicht zum „Herrn des Eigentums" werden zu lassen, dem die Verfassung nur „alleräußerste, wenn nicht nurmehr ,theoretische4 Schranken" zieht. 28 Die Formulierung erinnert an Martin Wolffs, aus Sorge um den „konfiskationslüsternden Gesetzgeber" entwickelte, vom Reichsgericht aufgegriffene und vom Bundesgerichtshof fortgeführte Konzeption des Eigentumsschutzes.29 Einer der schärfsten Kritiker des Bundesgerichtshofs hat diesem denn auch vorgeworfen, er verfechte ein vorverfassungsrechtlich geprägtes Bild der bürgerlichen Eigentumsordnung. 30 Nun wäre es unzutreffend zu behaupten, das Bundesverfassungsgericht habe dem Gesetzgeber nur theoretische Schranken gezogen. Vielmehr heißt es im Naßauskiesungsbeschluß: „Der Gesetzgeber muß bei der Wahrnehmung des ihm in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG erteilten Auftrags, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen, sowohl die grundgesetzliche Anerkennung des Privateigentums durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG als auch das Sozialgebot des Art. 14 Abs. 2 GG beachten (BVerwGE 37, 132/140; 52, 1/29). Bei der Begrenzung von Eigentümerbefugnissen sind dem Gesetzgeber - wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach ausgesprochen hat - Schranken gezogen."31 Als solche hat das Gericht die Instituts- und Bestandsgarantie des Art. 14 I 1 GG, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 I GG) und die Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 I I GG) genannt. Die von Böhmer 32 gerade als Unterschied zu Art. 153 WRVaus Art. 14 I 1 GG abgeleitete Bestandsgarantie - Innehabung des konkreten Eigentums - 3 3 schützt primär gegen den Zugriff der Exekutive. Mit aller Deutlichkeit weist der verehrte Jubilar aber darauf hin, daß das Gericht dem Gesetzgeber zu weit entgegenkomme, „wenn es die Vorstellung, Eigentumsverbürgung als Eigentumswertgarantie als eine Verkennung der grundlegenden Gehalte der Eigentumsgarantie bezeichnet."34 Der lange Zeit dogmatisch wohl wichtigste Beitrag 26 So Schmidt-Kammler, JuS 1995,473/480. 27 So zutreffend resümierend Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung, 1998, S. 64. 28 So die Formulierung Leisners, HStR, § 149 Rn. 55; vgl. auch Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rn. 38. 29 Sonderdruck aus FG für Kahl IV, S. 1, 1923, „Reichsverfassung und Eigentum"; vgl. auch Scheuner, in: Reinhardt/ Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums, 1954, S. 91. 30 Rittstieg, NJW 1982, 721; ders., Eigentum als Verfassungsproblem, 1975, S. 205; dazu Leisner, a. a. O., Rn. 74; zur Politisierung der Eigentumsgarantie von Brünneck, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, S. 374. 31 32 33 34

BVerfGE 58, 300/338. NJW 1988,2561/2563. BVerfGE 26, 267 u. 400; 58, 300/323; 74, 264. A.a.O, Rn. 82 unter Hinweis auf BVerfGE 24, 367/405; 38, 175 /184; 43, 63/76.

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des Bundesverfassungsgerichts, die Unterstellung öffentlich-rechtlicher Rechtspositionen, insbesondere der Rentenversicherungsansprüche unter die Eigentumsgarantie, 35 gewährt dem Gesetzgeber durch den indirekten Haushaltsvorbehalt einen solchen Gestaltungsspielraum, daß Anna Leisner zu Recht fragt, wo noch „der Unterschied zu einer allgemeinen exceptio pecuniam non habendi" liege. 36 Bezeichnenderweise hat denn auch das Bundesverfassungsgericht nunmehr, nach 12jährigem Liegenlassen, zuzeiten besonders knapper Kassen die Hinterbliebenenrenten aus dem Eigentumsschutz eleminiert. 37 Vom Inbegriff des Eigentums38 ist diese Vorstellung fast ebenso weit entfernt wie die Erstreckung des Eigentumsschutzes aus Art. 14 I GG auf Mieter. 39 Diese Skurilität dürfte als ausgleichendes Pendant zu erklären sein zur Rechtsprechung zum Eigentumsschutz durch effektive Gerichts- und Verwaltungsverfahren. 40 Die in ihrer Intention durchaus verdienstvolle Judikatur kommt folgerichtig eher sozial schwächeren Eigentümern zugute, deren Kenntnisse und Mittel zum effektiven Rechtsschutz beschränkt sind. Aber die Ausgestaltung dieser Judikatur durch das Bundesverfassungsgericht selbst hat das Spottwort vom „Oberamtsgericht Karlsruhe" hervorgebracht. Nachdem man Eigentum von Vermietern den Verfahrensschutz gewährt hatte, sollte offenbar dieselbe Wohltat Mietern nicht vorenthalten werden - eine Rechtsschöpfung, die einem Amtsgericht nicht verziehen worden wäre. Die Motive dafür, daß der Bundesgerichtshof seine Linie des Eigentumsschutzes gegenüber dem Gesetzgeber fortführt, liegen angesichts des Erscheinungsbildes des Eigentumsschutzes des Bundesverfassungsgerichts zutage. Die naheliegende Frage, ob ein solches Verhalten des Bundesgerichtshofs mit der Bindungswirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 31 BVerfGG vereinbar ist, stellt sich in dieser Schärfe jedoch nicht. Die Bindung an die gemäß § 31 I I BVerfGG ergangene Entscheidung, daß entgegen dem Vorlagebeschluß des Bundesgerichtshofs 41 geäußerten Rechtsansicht es mit dem Grundgesetz in Einklang steht, daß das Wasserhaushaltsgesetz, das unterirdische Wasser zur Sicherung einer funktionsfähigen Wasserbewirtschaftung einer vom Grundstückseigentum getrennten öffentlich-rechtlichen Benutzungsordnung unterstellt hat - kurz - , daß die §§ la III, 2, 6 WHG verfassungsgemäß sind, ist nicht im geringsten zweifelhaft. Problematisch kann nur sein die Bindung an die in den Entscheidungsgründen immer wieder zur Abgrenzung zur Inhaltsbestimmung verwendete Formulierung 35 BVerfGE 4, 219/241; 53, 257/278; BVerfGE 72, 9 - Arbeitslosengeld; kritisch Depenheuer, AöR 1995, 417; Bieback, KJ 1998, 162; weiterer Nachw. bei Ossenbühl , Staatshaftungsrecht, S. 155. 36 Die Leistungsfähigkeit des Staates, 1998, S. 150. 37 So kritisch Ossenbühl, JZ 1998, 678/679 zu BVerfGE 97, 271. 38 BVerfGE 21, 73/79. 39 BVerfGE 89, 1; ablehnend Depenheuer, NJW 1993, 2561; Roellecke, JZ 1995, 74; Schmidt-Preuß, AG 1996, 1. 40 BVerfGE 35, 348/361; 45, 297/322; 51, 150/156. 41 NJW 1978, 2290.

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„teilweise Entziehung konkreter subjektiver Rechtspositionen". Breuer hat erst jüngst festgestellt, daß bis heute unklar geblieben ist, was darunter im Sinne des formalisierten und verengten Enteignungsbefriffs zu verstehen sei. 42 Dabei geht es nicht um Randfragen, sondern um so zentrale, ob es die Rechtsfigur der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmungen geben kann, 43 ob Art. 14 III GG nach wie vor die Aufopferungsenteignung umfaßt, also das Kernstück des zivilgerichtlichen Eigentumsschutzes.44 Letztlich geht es um die Frage, ob die von den Zivilgerichten entwickelte Abgrenzung von Eigentumsbindung und Enteignung infolge der verfassungsrechtlich anerkannten Eigenständigkeit der gesetztlichen Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums sowie aufgrund des Vorrangs der Bestandsgarantie (Art. 1411 GG) vor der Wertgarantie (Art. 14 III GG) überwunden ist. 45 Solange diese Kernfragen weder vom Bundesverfassungsgericht klar beantwortet noch durch klärende Abhandlungen überzeugend beantwortet worden sind, solange und soweit also innerhalb der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Unklarheiten und Widersprüche 46 bestehen, fehlt es an den Voraussetzungen für eine Bindung i.S.v. § 31 BVerfGG. Auch ohne Bindungswirkung i.S.v. § 31 BVerfGG zeitigt die vom Eigentumsschutz des Bundesverfassungsgerichts intendierte Stärkung des Gesetzgebers in der Rechtsprechung Folgen, allerdings nicht in der des Bundesgerichtshofs sondern in der des Bundesverwaltungsgerichts, und dies mit vielfacher Billigung in der Literatur. Gemeint ist die neue Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Bestandsschutz und zum Nachbarschutz. Ehe darauf eingegangen wird, sei noch angemerkt, daß Bundesverwaltungsgericht und Bundesgerichtshof mit der Übernahme der Figur der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung beide dem Gesetzgeber ein Stück Gestaltungsfreiheit bewahrt haben, nämlich durch die Akzeptanz der lange umstrittenen 47 salvatorischen Klauseln. Eine Ausweitung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers könnte nur der bejahen, der - anders als die Rechtsprechung - schon zuvor salvatorische Klauseln als unzulässig erachtet hat. Würde sich das Bundesverwaltungsgericht im Streit um den richtigen Rechtsweg zu Lasten des Bundesgerichtshofs durchsetzen, so könnte allenfalls darin eine Schwächung der Rechtsposition Privater gesehen werden, wenn man immer noch 42 Breuer, in: Schrödter, BauGB, 6. Aufl. 1998, § 39 Rn. 7. 43

Ablehnend Breuer, a. a. O., Rn. 17 mit weiterem Nachw.; zurückhaltend Ossenbühl, in: FS für Friauf, 1997, S. 391; anders Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. V, 181; Osterloh, JuS 1998, 852/853 sieht die ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung durch BVerfG, NJW 1998, 367 bestätigt. 44 Bejahend Breuer, a. a. O., Rn. 12 mit weiterm Nachw.; ablehnend Wieland, in: Dreier, Art. 14 Rn. 76. 4 5 So dezidiert Böhmer, Der Staat, 1985, S. 157/192; NJW 1988, 2561/2563/2569 („Gretchenfrage")/2572; dagegen Breuer, a. a. O., Rn. 10. 4 6 Z B. BVerfGE 79, 174/199; kritisch Rennert, VB1BW 1995, 41/48. 47

Vgl. Leisner, HStR, § 49 Rn. 174; Schmidt, Zur Verfassungsmäßigkeit salvatorischer Entschädigungsklauseln, 1994.

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- wie Thomas Dehler - den Schutz des Eigentümerinteresses bei der Zivilgerichtsbarkeit besser aufgehoben sieht. In der Vergangenheit hat die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung baurechtlichen Bestandsschutz unmittelbar aus Art. 141GG abgeleitet,48 einschließlich des Erneuerungen und unwesentliche Erweiterungen umfassenden überwirkenden Bestandsschutzes49 bis hin zur erweiterten Form des Bestandsschutzes der eigentumskräftig verfestigten Anspruchsposition. 50 Das Bundesverwaltungsgericht sieht dafür keinen Bedarf mehr, da der Gesetzgeber die Fallgruppen, für die dieser Anspruch ursprünglich gedacht war, inzwischen normiert habe, z. B. § 35 IV 1 Nr. 3 - Wiederaufbau nach Brandzerstörung. 51 Auf derselben Linie liegt die einen Schwarzbau betreffende Feststellung, Art. 14 I GG sei „für sich betrachtet - nicht zu entnehmen, unter welchen Voraussetzungen eine Änderung der vorhandenen Bausubstanz von der früheren Baugenehmigung als nicht mehr gedeckt anzusehen ist. Dies hat vielmehr der Gesetzgeber zu entscheiden." 52 Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Auch im Baurecht gilt Art. 14 I 2 GG: „Inhalt und Schranken des Eigentums werden durch die Gesetze bestimmt", soweit solche vorhanden sind. Das entsprechende Problem zeigt sich auch beim Streit um den Nachbarschutz unter direktem Rückgriff auf Art. 141 GG. In der älteren Rechtsprechung wurde die Klagebefugnis eines Nachbarn aus Art. 141 GG bejaht, wenn die einem Dritten gewährte Baugenehmigung die vorgegebene Grundstückssituation nachhaltig veränderte und dadurch den Nachbarn schwer und unerträglich traf. 53 Davon hat sich das BVerwG inzwischen distanziert. 54 Nachbarschutz besteht grundsätzlich nur, „soweit ihn der Gesetzgeber auch normiert hat". 55 Noch deutlicher und allgemeiner heißt es in einer weiteren Entscheidung:56 „Das Berufungsgericht hat Art. 14 I 1 GG zu Unrecht unmittelbar angewandt. Das Gericht hat die Regelungsermächtigung des Art. 1412 GG außer Betracht gelassen ... die Begrenzung der in § 6 nwBauO eingeräumten nachbarrechtlichen Position ist dem Landesrecht vorbehalten. Es handelt sich um eine Inhaltsbestimmung des Eigentums. Ebenso gehört im Rahmen des Art. 14 I 2 GG bei Änderungen des 48 BVerwGE 47, 126. 49 BVerwGE 50,49. 50 BVerwGE 26, 111/117. 51 BVerwGE 84, 322, 85, 289; NVwZ-RR 1995, 68 u. 312; NVwZ 1998, 357; vgl. auch Schmaltz, in: Schrödter, § 35, Rn. 116. 52 BVerwG, DÖV 1998, 78; BauR 1998, 533. 53 BVerwGE 32, 173; 50, 286; ablehnend Wahl, in: FS für Redeker, S. 205. 54 BVerwGE 89, 69; vgl. auch VGH München, BayVBl 1997, 665. 55 BVerwG, DVB1. 1997, 61; Pecher, JuS 1996, 887/889; Kraft, VerwArch 1998, 264/ 279; Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 193, 185, Fn. 695; differenziert Mampel, Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht, Rn. 189; anders ders., BauR 1998, 697. 56 BVerwG, NVwZ 1998, 737/738.

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Rechts zu den Aufgaben des Bundes- oder des Landesgesetzgebers die Bestimmung, ob und in welchem Umfang das neue Recht auf in der Vergangenheit begründete oder abgeschlossene Sachverhalte anwendbar ist. Ist eine gesetzliche Regelung i. S. d. Art. 14 I 2 GG vorhanden, so ist daneben für einen „Bestandsschutz", für den Art. 14 I 1 GG eine eigenständige Anspruchsgrundlage bilden könnte, kein Raum." Allerdings enthält die Entscheidung zwei Einschränkungen. Einmal heißt es: „Dem unmittelbaren Rückgriff auf Art. 14 I GG sind enge Grenzen gesetzt." Mit anderen Worten: Der unmittelbare Rückgriff des Gerichts auf Art. 1411 GG wird - anders als in der Literatur 57 - nicht gänzlich ausgeschlossen. Außerdem wird ausdrücklich anerkannt, daß das Grundrecht aus Art. 14 I GG wie andere Grundrechte auch „gegenüber dem »einfachen4 Recht als verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab fungiert, das schließt eine verfassungskonforme Auslegung und Handhabung ein.44 Der Verweis auf die verfassungskonforme Auslegung nimmt dem Streit für die Praxis in den meisten Fällen die Spitze, da der Rückgriff auf eine mehr oder weniger einschlägige gesetzliche Regelung, die dann im Lichte von Art. 14 I GG ausgelegt wird, regelmäßig möglich sein wird. Dogmatisch interessanter aber ist die Einschränkung, derzufolge dem unmittelbaren Rückgriff auf Art. 14 I 1 GG enge Grenzen gesetzt sind. Darüber, daß gesetzliche Regelungen nicht leichthändig durch Berufung auf Art. 14 I GG überspielt werden dürfen, ist nicht zu streiten. Als Ausnahmefall i.S. der genannten Entscheidung kann aber ein richterrechtlich begründetes Eigentumsrecht in Betracht kommen. 58 Zumal öffentliches Nachbarrecht in Deutschland von Anbeginn an Richterrecht gewesen ist; ein Umstand, der den Gesetzgeber letztlich davon abgehalten hat, im Zuge des Erlasses des Baugesetzbuchs (1985) eine eigene Lösung zu versuchen. Bis zum Jahr 1995 hätte die vorliegende Skizze an dieser Stelle abbrechen können. Seit den „geradezu sensationellen ... von keiner Seite erwarteten 4459 vom verehrten Jubilar als „Eigentumswende4460 gefeierten Ausführungen des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts 61 zu den Grenzen, die der Art. 1411 GG entnommene Halbteilungsgrundsatz dem Steuergesetzgeber zieht, besteht eine neue Lage. Es kann an dieser Stelle nicht erörtert werden, ob „es sich um die wohl wichtigste Eigentumsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 4462 handelt, die - wie Martin Wolff und die Zivilgerichtsbarkeit - den Eigentumswert schützt. Ebensowenig kann auf die Grundsatzkritik eingegangen werden, wie sie das Sondervotum Böckenfördes in aller Deutlichkeit formuliert. 63 „Die Vorgaben des Senats sind der 57 Wahl, in: FS für Redeker, 1993, S. 245; vgl. auch Schmaltz, in: Schrödter, § 35 Rn. 116. 58 So zu Recht Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 193, 185 Fn. 695; enger Lutz, Eigentumsschutz bei „störender" Nutzung gewerblicher Anlagen, 1983. 59 Arndt, NJW 1995, 2603. 60 NJW 1995, 2591. 61 BVerfGE 93, 121. 62 So Leisner, NJW 1995, 2591/2596; vgl. auch Vogel, NJW 1996, 1257. 63 BVerfGE 93, 121/149; ablehnend auch Bull, NJW 1996, 281; Wieland, Art. 14 Rn. 46; Ipsen, Staatsrecht, II, 2. Aufl. 1998, S. 212.

in: Dreier,

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Einstieg in eine Verfassungsdogmatik der Besteuerung, die den Gesetzgeber bis hin zu Details wie Bewertungsmethoden anleitet", was mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (insbesondere seines 1. Senats) nicht in Einklang stehe64 und hinter die Erkenntnisse über den Ausgleich der verschiedenen Interessen der sozialen Demokratie zurückbleibe 65. Es soll auch nicht kommentiert werden, daß der Bundesfinanzhof in einem Leitsatz von der „Verletzung eines, seine verfassungsrechtliche Existenz unterstellten sogenannten ,Halbteilungsgrundsatzes' spricht, 66 diesen als obiter dictum behandelt und auf eine Vorlage beim Bundesverfassungsgericht verzichtet. Letzteres entspricht spiegelbildlich dem Verhalten des Bundesgerichtshofs gegenüber der Eigentumsrechtsprechung des 1. Senats. Anders als der Bundesfinanzhof anscheinend annimmt, handelt es sich bei den beiden Steuerbeschlüssen nicht um Ausreißer. Im EuroBeschluß67 des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts wird erstmals eine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage dafür bejaht, hoheitlich angeordnete Währungsumstellungen dem Schutzbereich des Art. 14 I GG zuzuordnen. Das von Art. 14 I GG geschützte „Einlösungsversprechen des Geldeigentümers" 68 macht den Eigentumsschutz des Geldvermögens zu einer dem Gesetzgeber bisher unbekannten Schranke. Einmal mehr 69 tun sich zwischen den beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts Welten auf. Gerade auch im Hinblick auf einen „europäischen Eigentumsschutz" 70 ist zu hoffen, daß die beiden Senate trotz unterschiedlicher Konzeptionen des Eigentumsschutzes im offenen und einvernehmlichen Dialog zum verfassungsgemäßen Verhältnis von Eigentumsgarantie und gesetzlicher Inhalts- und Schrankenbestimmung finden.

64 BVerfGE 93, 121/158. 65 BVerfGE 93, 121/162 f. 66 NJW 1998, 3223; dazu Thomas , DStR 1998, 1493. 67 BVerfGE 97, 350/372. 68 So Kirchhof in einem Vortrag am 25. 5. 1998 an der HU Berlin; dazu Pähl , NJW 1998, 3180; vgl. dens. schon VVDStRL 39 (1981), 270. 69 Vgl. Benda, NJW 1998, 330. 70 Vgl. dazu Leisner, in: Ipsen u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 395; Wieland, in: Dreier, Art. 14 Rn. 16; Schilling, EuGRZ 1998, 177.

Eigentumsschutz gegen Nutzungsbeschränkungen Von Fritz Ossenbühl

„In Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, denen das Eigentum heute ausgesetzt ist, entwickelt Leisner eine Staats- und Verfassungstheorie des Eigentums, die, als menschenrechtliche Grundlegung, in der Staatslehre der Gegenwart nicht ihresgleichen hat." - Mit diesem Resümee charakterisiert Josef Isensee eine der großartigen Lebensleistungen des Jubilars, die in seinen „Schriften zu Eigentumsgrundrecht und Wirtschaftsverfassung 1970 - 1996"1 zum Ausdruck kommt. Aber man muß noch ein weiteres hinzufügen, um der Persönlichkeit des Jubilars voll gerecht zu werden: Walter Leisner entwickelt nicht nur eine Staats- und Verfassungslehre aus dem Eigentum, sondern er ist ein Kämpfer für die Bewahrung des Eigentums, eben weil er sieht, daß eine freiheitliche Verfassung ohne Eigentum nicht Bestand haben kann. In seiner Studie im Handbuch des Staatsrechts konstatierte Walter Leisner vor zehn Jahren, daß das Eigentum „noch immer eine der historisch festesten Freiheitsgrundlagen" sei.2 Ob man diese Feststellung auch heute noch mit derselben Überzeugung und Sicherheit wiederholen kann, erscheint zumindest des Nachdenkens'wert. Erst im letzten Jahrzehnt haben sich in der Praxis, vor allem der Fachgerichte3, jene Auswirkungen gezeigt, die sich als Folgen einer - zum Teil allerdings mißverstandenen - (neuen) Dogmatik der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG darstellen, die seit dem Naßauskiesungsbeschluß des Bundesverfassungsgerichts das Profil des Eigentumsschutzes zunehmend verändert haben. Diesen Tendenzen soll am Beispiel des Eigentumsschutzes gegen Nutzungsentzug nachgegangen' werden. Damit wird ein Thema aufgegriffen und fortgesponnen, das Walter Leisner immer wieder erörtert und als zentral für den Eigentumsschutz bezeichnet hat.4 Die Tendenz der neueren Diskussion um den Eigentumsschutz geht dahin, den neo-klassischen Begriff der Enteignung, wie er in der Rechtsprechung des Bundes1 Vgl. den von Josef Isensee herausgegebenen Sammelband: Walter Leisner, Eigentum, Schriften zu Eigentumsgrundrecht und Wirtschaftsverfassung 1970 - 1996, 1996, Vorwort

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2 Walter Leisner, Eigentum, in: Isensee / Kirchhof, HStRVI, 1989, § 149 Rd. 35. 3 Vgl. dazu Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Auflage, 1998, S. 181 ff. Vgl. insbes. Leisner, Eigentumsschutz von Nutzungsmöglichkeiten, BB 1992, 73 ff.; ferner die Nachweise im Sammelband (Fn. 1). 4

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Verfassungsgerichts verwendet wird, weiter zu formalisieren. 5 Dabei steht offenkundig das Interesse an einer glatten Dogmatik mehr im Vordergrund als das Bestreben nach Effektivität des Eigentumsschutzes. Differenzierungen und Kategorisierungen, insbesondere die Unterscheidung von Inhaltsbestimmungen und Enteignungen, werden dabei zwar mit logischer Konsequenz weitergetrieben, aber die Plausibilität der Ergebnisse und die Wirksamkeit des Eigentumsschutzes bleiben auf der Strecke. I. Die Nutzungsbefugnis als „Eigentumskern44 Üblicherweise wird die Eigentumsgarantie als Bestands- und Wertgarantie verstanden.6 In erster Linie schützt Art. 14 GG den Bestand des Eigentums, bedeutet also Enteignungsschutz. Ist der Zugriff des Staates auf das Eigentum unvermeidbar, wandelt sich der Bestandsschutz in Vermögensschutz um. Mit dem Begriff des Bestandsschutzes wird dabei die (sachen-)rechtliche Zuordnung eines von der Verfassung als Eigentum geschützten Gegenstandes verstanden. Diese (sachen-)rechtliche Zuordnung darf nicht aufgelöst werden. Sie muß in ihrem Bestand erhalten bleiben. Entfällt sie, so bedeutet das „Entzug" des Eigentums. Mit dieser Vorstellung wird vom freiheitlichen Wert des Eigentums allenfalls ein Ausschnitt erfaßt, allerdings ein Ausschnitt, der sich im klassischen Feld juristischer Kategorien befindet und deshalb andere Aspekte leicht aus dem Blickfeld entgleiten läßt. Zu diesen anderen Aspekten gehört die Nutzung des Eigentums. Der rechtliche Fortbestand des Eigentums, die Bewahrung des (sachen-)rechtlichen Zuordnungsverhältnisses, garantiert keineswegs auch die Nutzung des eigentumsgeschützten Gegenstandes. Die Nutzungsmöglichkeit aber gehört zum „Eigentumskern". Ein Anzug, den der Eigentümer nur im Glaskasten bewundern, aber nicht anziehen kann, ist für ihn wirtschaftlich wertlos. Der Schutz eines bloßen „Glaskasten-Eigentums" wäre ein grundrechtlicher Betrug. Er hätte keine Realität und deshalb auch keine Berechtigung. Wer die Nutzung des Eigentums auf Null reduziert und immer noch von einer „Inhaltsbestimmung" des Eigentums redet, hat im Elfenbeinturm der Dogmatik den Bezug zum Leben verloren und schützt allenfalls noch juristische Kategorien, nicht aber mehr reale Freiheit. Gehört die Nutzung zum „Eigentumskern", so ist es auf den ersten Blick verwunderlich, daß die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes das Wort „Nutzung" überhaupt nicht verwendet - im Gegensatz etwa zu Art. 1 Abs. 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK. 7 Sieht man genauer zu, so zeigt Art. 14 GG deutlich, daß die Verfassung die Eigentumsnutzung als Kern der Eigentumsgarantie keines5 Vgl. zuletzt Jochen Rozek, Die Unterscheidung von Eigentumsbindung und Enteignung, 1998. 6 Vgl. Ossenbühl (Fn. 3), S. 152 mit Nachweisen. 7 Vgl. Katja Gelinsky, Der Schutz des Eigentums gemäß Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 1996, S. 52 ff.

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wegs übersehen oder vergessen hat, sondern vielmehr als selbstverständlich voraussetzt. Zur Nutzung des Eigentums bestimmt Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG: „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Daß das Eigentum dem Wohle des Eigentümers dient, hält das Grundgesetz nicht für erwähnenswert. Daß es „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" soll, setzt die selbstverständliche „Eigennutzung" voraus und legt dem Eigentümer bei der Nutzung Verpflichtungen auf. Aber die Nutzung durch den Eigentümer bleibt der eigentliche Schutzinhalt. Deshalb verbürgt Art. 14 GG nicht nur eine Bestands- sondern auch eine Nutzungsgarantie.8 Dies angesichts neuerer Tendenzen festzuhalten und zu betonen, besteht aller Anlaß. Die Nutzungsgarantie scheint in Vergessenheit zu geraten oder zumindest in Gefahr, in eine mindere Grundrechtsqualität abgedrängt zu werden. Damit werden die Garantiegehalte des Art. 14 GG grundlegend verkannt. Die Nutzungsgarantie hat neben der Bestandsgarantie denselben Rang und dieselbe Schutzbedeutung. Art. 14 GG schützt nicht nur vor dem Entzug, sondern auch vor der Entwertung des Eigentums.9 Mehr noch: Art. 14 GG schützt vor dem Entzug, um dem Eigentümer die Nutzung zu erhalten. Das Bundesverfassungsgericht hat die Nutzungsgarantie des Eigentums in dem von ihm verwendeten Kriterium der „Privatnützigkeit" aufgenommen. 10 Das Eigentum ist in seinem rechtlichen Gehalt durch Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand gekennzeichnet. Die Bestandsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG fordert „in jedem Fall die Erhaltung des ZuordnungsVerhältnisses und der Substanz des Eigentums". n „Zur Substanz des Eigentums gehört auch die Freiheit, den Eigentumsgegenstand selbst zu nutzen". 12 Vergegenwärtigt man sich diese ständig wiederholten Bekräftigungen der Eigentumsgarantie, so scheint der Eigentumsschutz auch gegen Nutzungsentzug - wenigstens - in den „Obersätzen" voll erfaßt, berücksichtigt und gesichert zu sein. Ob sich das Gewicht dieser „Obersätze" dann auch in der konkreten Rechtsanwendung wiederfindet und durchsetzt, ist freilich eine andere Frage.

II. Nutzungsbeschränkungen - Spektrum und Anwendungsfelder Die Anwendungsfelder von Nutzungsbeschränkungen umfassen den gesamten Bereich des verfassungsrechtlich geschützten Eigentums. Zum verfassungsrechtlich geschützten Eigentum zählt die gesamte Vermögenssphäre des Bürgers. Dazu gehören namentlich das Grundeigentum, der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb, bewegliche Sachen, das sog. geistige Eigentum (Patentrechte, Warenzei8

Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14 Rn. 366 (Stand: Mai 1994). 9 Leisner (Fn. 4), Rn. 168. 10 BVerfGE 24, 367 (390); 31, 229 (240); 37, 132 (140); 50, 290 (339); 52, 1 (30); 79, 292 (303); 83, 201 (209); 84, 201 (209); 84, 384; 88, 377; 89, 6. 11 BVerfGE 50, 290 (341) (Hervorhebung von mir). 12 BVerfGE 79, 292 (304). 45 FS Leisner

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chenrechte, Urheberrechte), Forderungen und sonstige Vermögenswerte Rechte, auch solche obligatorischer Art. Sich dieser allgemein bekannten Tatsache zu erinnern, ist in unserem Zusammenhang wichtig, weil die nach dem Naßauskiesungsbeschluß angelaufene Diskussion um die Neuorientierung der Eigentumsgarantie, namentlich die Abgrenzung zwischen Inhaltsbestimmung und Enteignung, sowie die mit ihr zusammenhängende Frage der kategorialen Einordnung von Nutzungsbeschränkungen lediglich am Anwendungsbeispiel des Grundeigentums geführt wird. Allgemeine Aussagen über Nutzungsbeschränkungen des Eigentums müssen aber für das gesamte Spektrum verfassungsgeschützten Eigentums gelten. Deshalb ist eine gedankliche Einbeziehung auch des neben dem Grund und Boden verfassungsrechtlich geschützten Eigentums vonnöten, mögen sich insoweit auch die Probleme anders stellen und in der Praxis weniger Fragen aufwerfen. Sozusagen der Prototyp des Verfassungseigentums ist im Naßauskiesungsbeschluß das Grundeigentum; und das Grundeigentum ist auch in der Folgezeit der Test- und Anwendungsfall für die neue Dogmatik der Eigentumsgarantie geblieben. Die inzwischen stark angewachsene fachgerichtliche Rechtsprechung, die den neo-klassischen Enteignungsbegriff des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt hat, bezieht sich ausschließlich auf Nutzungsbeschränkungen des Grundeigentums. Nutzungsbeschränkungen des Grundeigentums werden zunehmend und ausnahmslos als Inhaltsbestimmungen des Eigentums qualifiziert, die unter Umständen allerdings, um dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zu entsprechen und damit der Verfassungswidrigkeit zu entgehen, mit einer Ausgleichsregelung versehen sein müssen. Entsprechende fachgerichtliche Entscheidungen sind inzwischen namentlich für den Bereich des Natur- und Denkmalschutzes, des Deich- und Gewässerschutzes sowie der Landschaftspflege und des Planungsrechts ergangen.13 Ziemlich aus dem Blickfeld geraten ist dabei jene Entscheidung, die den Modellfall für die sog. ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung des Eigentums gebildet hat, nämlich der Pflichtexemplarbeschluß des Bundesverfassungsgerichts, 14 der eine bewegliche Sache, nämlich Schriftwerke, betrifft und der in seiner Besonderheit schon wieder 13 BGHZ 121, 73 (78) (§ 31 DSchG NW); BGHZ 121, 328 (331) = DVB1. 1993, 1085 (§ 37 SaarNatSchG); BGHZ 123, 242 = DVB1. 1993, 1092 = NJW 1993, 2605 (Flugsanddünen); BGHZ 126, 379 (381 ff.) = NJW 1994, 3283 (§ 7 Abs. 1 SchG NW); BGH DVB1. 1995, 234 = NJW 1995, 964 (Art. 36 Abs. 1 BayNatSchG); BGH DVB1. 1996, 671 = NVwZ 1996, 930 (§ 31 Abs. 1 DSchPflG RP); BVerwGE 84, 361 (368 ff.) (Serriesteich) = JZ 1991, 86 m. Anm. Ossenbühl; BVerwG DVB1. 1993, 1141 m. Anm. Götz, ebd., 1356; BVerwGE 94, 1 = NJW 1993, 2949 (Herrschinger Moos); NVwZ, 1993, 772 (Eichen am Deich); NuR 1994, 225 (Pflanzenverbot zur Deichsicherheit); vgl. auch BVerwG DVB1. 1993, 1099 (Erschwernis der Ausfuhr „national wertvollen Kulturguts"); ferner VGH Baden-Württemberg, NVwZ 1994, 1024; kritisch zu dieser Rspr.: Leisner, BB 1992, 73 ff.; Lege, JZ 1994, 431 ff.; Schwabe, Jura 1994, 529 ff.; Burmeister/Roger, Die „unbegrenzte Naturschutzpflichtigkeit" des Eigentums, JuS 1994, 840ff.; Osterloh. JuS 1994, 532; Rennen, VB1BW 1995, 41 ff. (45 ff.); Meie hinger, Die Eigentumsdogmatik des Grundgesetzes und das Recht des Denkmalschutzes, 1994, S. 138 ff.; Kimminich, Die Eigentumsgarantie im Natur- und Denkmalschutz, NuR 1994, 261 ff.; Kröninger, NVwZ 1996, 433 ff. 14 BVerfGE 58, 137.

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gegenüber den gegenwärtigen Tendenzen, die ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmungen nahezu als Normalität erscheinen lassen, exotische Züge trägt. Erinnert werden muß auch daran, daß Schrift- und Kunstwerke als Substrate des „geistigen Eigentums" ebenfalls Nutzungsbeschränkungen im öffentlichen Interesse unterworfen werden und weiterhin werden können,15 so daß sich auch für sie die Frage stellt, ob hier in gleicher Weise wie beim Grundeigentum solche Nutzungsbeschränkungen ausnahmslos und pauschal als Inhaltsbestimmungen qualifiziert werden oder ob sie sich nicht unter bestimmten Umständen als Enteignungen darstellen können. Ein wieder anderes Problemfeld eröffnet sich, wenn es um Eingriffe in betriebliche und gewerbliche Anlagen geht. Diese sind zwar regelmäßig mit dem Grundeigentum verbunden, können aber als Ausdruck selbständiger investiver Maßnahmen eigentumsrechtlich einer anderen Beurteilung unterliegen als die Nutzung von Grundeigentum. Als Ergebnis einer „investiv ausgeübten Nutzung" stellen sie etwas „ins Werk Gesetztes" dar, das „für sich" einen originären Eigentumsschutz beanspruchen kann. 16 Beispielhaft sei hingewiesen auf die beabsichtigte gesetzliche Stillegung von Kernkraftwerken, die aufgrund unbefristeter Genehmigungen betrieben werden und mit Stillegung nicht nur ihren wirtschaftlichen Wert völlig einbüßen, sondern überdies aufgrund der Stillegungskosten für die Betreiber zu einer erheblichen Last werden. 17 Das Spektrum unterschiedlicher Konstellationen und Wirkungen von Nutzungsbeschränkungen ist also breit, und man muß sich deshalb zurückhalten mit der These, Nutzungsbeschränkungen seien fortan durchweg als Inhaltsbestimmungen des Eigentums einzuordnen. Eine solche umfassende These wäre nach dem derzeitigen Stand der auf das Grundeigentum focussierten Diskussion zumindest verfrüht. Insbesondere kann auch jene Diskussion noch nicht als ausgetragen bezeichnet werden, nach welcher im Anschluß an die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts davon auszugehen ist, daß Eigentumsreformgesetze ausschließlich Inhaltsbestimmungen enthalten, und zwar auch soweit das Eigentum von Alt-Eigentümern betroffen ist. 18 Ausschließlich an der Nutzung von Grund und Boden orientiert ist die Unterscheidung zwischen ausgeübter Nutzung und (bloßer) Nutzungsmöglichkeit und die sich an diese Unterscheidung anschließende Kategorie der „investiv ausgeübten Nutzung". 19 Sie beruht auf der im Naßauskiesungsbeschluß getroffenen Feststellung, daß (jedenfalls) die bereits ausgeübten Grundstücksnutzungen, „zu deren Vgl. Paul Kirchhof, Der Gesetzgebungsauftrag zum Schutz des geistigen Eigentums gegenüber modernen Vervielfältigungstechniken, 1988. 16 Vgl. Leisner, BB 1992, 73 (75); BVerwGE 94, 1 (13). 17 Vgl. Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Fragen des Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie, AöR 124 (1999), 1 ff. 18 BVerfGE 83, 201; dazu Ossenbühl, Inhaltsbestimmung des Eigentums und Enteignung, JuS 1993, 200. 19 BVerfGE 58, 300 (338, 349); Leisner, BB 1992, 73 (75).

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Aufnahme umfangreiche Investitionen erforderlich waren", dem Eigentumsschutz unterstehen.20 Insoweit zeigen sich Differenzen zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der auch die noch nicht ausgeübten, aber „sich objektiv anbietenden Grundstücksnutzungen" dem Eigentumsschutz unterstellt. 21 I I I . Eigentumsschutz nach Verfassung und Gesetz „Doppelter Eigentumsschutz44 Zur Vorbereitung auf die vorrangig interessierende Frage, wie der Eigentumsschutz von Nutzungen konkret aussieht, ist es vonnöten sich zu vergegenwärtigen, auf welcher Stufe Eigentumsschutz gewährt wird. Denn davon hängt die nicht unwesentliche Frage ab, welches Gericht das letzte Wort zum Umfang des jeweils zu gewährenden Eigentumsschutzes spricht. Zugleich wird damit die Antwort auf die Frage vorbereitet, wie differierende Auffassungen über den Umfang des Eigentumsschutzes in den verschiedenen Gerichtsbarkeiten zu beurteilen sind. Daß es überhaupt verschiedene Stufen des Eigentumsschutzes gibt, die jeweils verschiedenen Gerichtsbarkeiten zugeordnet sind, hängt mit der Organisation des Rechtsquellensystems zusammen. Nutzungsbeschränkungen können selbstredend in einem förmlichen Gesetz abschließend geregelt sein. Bedürfen sie in diesem Falle keines konkreten Umsetzungsaktes mehr, so sind entsprechende gesetzliche Nutzungsbeschränkungen mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar. Letztverbindlich entscheidet dann das Bundesverfassungsgericht, ob die angegriffene Nutzungsbeschränkung als Inhaltsbestimmung des Eigentums einzuordnen und als solche verfassungsmäßig oder verfassungswidrig und deshalb nichtig ist. Die abschließende Regelung einer Nutzungsbeschränkung durch förmliches Gesetz ist im Natur- und Denkmalschutzrecht jedoch die Ausnahme.22 Die Konkretisierung von Nutzungsbeschränkungen erfolgt in diesen Bereichen vielmehr aufgrund gesetzlicher Ermächtigungen durch Verordnungen, Satzungen, Allgemeinverfügungen oder sonstige Exekutivakte. Solche Exekutivbeschränkungen sind die Regel, (abschließende) Legalbeschränkungen hingegen die Ausnahme. Die zu Exekutivbeschränkungen ermächtigenden Gesetze enthalten regelmäßig entsprechende Entschädigungsgrundlagen, welche bei unzumutbaren Inhaltsbestimmungen einen Ausgleich vorsehen. Die Nutzungsbeschränkungen sind also im Regelfall auf der untergesetzlichen Stufe der Normsetzung angesiedelt. Dies hat für den Eigentumsschutz wichtige Konsequenzen. Denn sowohl die Auslegung der einfachgesetzlichen Entschädigungsgrundlage wie auch die verfassungsrechtliche Beurteilung und Auslegung der untergesetzlichen Normen gehören zur Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte und der Zivilgerichte. Die Verwaltungs20

Siehe vorige Fußnote. 21 BGHZ 90, 17 (25); BVerwGE 94, 1 (14). 22 Vgl. Hansjörg MeIchinger, Die Eigentumsdogmatik des Grundgesetzes und das Recht des Denkmalschutzes, 1994, S. 274.

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gerichte urteilen über die Rechtmäßigkeit von unmittelbar angegriffenen Administrativakten, die Zivilgerichte über geltend gemachte Ansprüche auf Entschädigung. In letzter Instanz judizieren also sowohl das Bundesverwaltungsgericht wie auch der Bundesgerichtshof über die Frage sowohl nach dem Rechtscharakter der jeweiligen Nutzungsbeschränkungen wie auch über die durch sie ausgelöste Ausgleichs- resp. Entschädigungspflicht. Durch diese Stufungen in der Normenhierarchie und dem ihnen zugeordneten Gerichtsschutz sind für die Gewährung des Eigentumsschutzes unterschiedliche Beurteilungen in den einzelnen Gerichtszweigen sozusagen vorprogrammiert. Dies sei an einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes aus jüngerer Zeit kurz demonstriert. 23 § 7 des Thüringischen Tierkörperbeseitigungsgesetzes vom 3. 12. 1992 (GVB1. S. 566) enthält eine Entschädigungsregelung, nach welcher eine „angemessene Entschädigung in Geld" zu leisten ist, wenn Rechtsverordnungen aufgrund dieses Gesetzes „eine wirtschaftliche Belastung für den Eigentümer darstellen, die die Grenzen zumutbarer inhaltlicher Festlegungen des Eigentums überschreitet". Durch Verordnung über die Einzugsbereiche der Tierkörperbeseitigungsanstalten vom 15. 03. 1993 (GVB1. S. 234) wurde das gesamte Gebiet des Landes Thüringen auf zwei Tierkörperbeseitigungsanstalten aufgeteilt. Dadurch verloren einige Unternehmen ihre Eigenschaft als Tierkörperbeseitigungsanstalten und stellten deshalb den Betrieb ein. Der Bundesgerichtshof führt aus, die Stillegung der Tierkörperbeseitigungsanstalten überschreite den Rahmen einer noch zulässigen Inhaltsbestimmung auch dann, wenn ein Ausgleich zuerkannt werden könnte. Denn die Kompensationsmöglichkeit gestatte es nämlich nicht, auch besonders schwer wiegende, in die Substanz eingreifende Belastungen noch als verfassungsrechtlich unbedenkliche Inhaltsbestimmungen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG anzusehen. Eine zulässige Inhaltsbestimmung könne daher bei besonders einschneidenden, etwa existenzbedrohenden oder gar existenzvernichtenden Eingriffen in einen bestandsgeschützten Gewerbebetrieb zu verneinen sein. Bei Lichte betrachtet prüft der Bundesgerichtshof im Rahmen des Eigentumsschutzes also zweierlei: zum einen die (grundsätzliche) Frage, ob die untergesetzliche Norm (hier: Verordnung), die eine Nutzungsregelung enthält, als Inhaltsbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG zulässig ist; zum andern: falls die erste Frage zu bejahen ist, ob sich die Nutzungsbeschränkung im Rahmen des Zumutbaren hält. Zu unterscheiden sind danach unzulässige und unzumutbare Inhaltsbestimmungen. Enthält eine untergesetzliche Norm eine unzulässige Inhaltsbestimmung, weil sie beispielsweise die Privatnützigkeit als essentiale des Eigentums völlig beseitigt, so ist die Norm verfassungswidrig und deshalb nichtig. Dies kann das Zivilgericht in eigener Zuständigkeit feststellen. Enthält die Norm hingegen eine zulässige Inhaltsbestimmung, so entscheidet das für die Entschädigung zuständige Zivilgericht, ob die konkret angeordnete Nutzungsbeschränkung sich im Rahmen des Zumutbaren hält. Sowohl im Hinblick auf die Zulässigkeit wie auch auf die Zumutbarkeit der jeweiligen Nutzungsbeschränkung hat das Zivilgericht eine eigene Beurteilungskompetenz. Seine Auslegung ist allen23 BGHDVB1. 1997, 123.

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falls im Wege der Urteilsverfassungsbeschwerde vom Bundesverfassungsgericht korrigierbar. Eine solche Korrektur scheidet im Regelfalle aus, wenn das Zivilgericht hinsichtlich der Zulässigkeit resp. Zumutbarkeit der Nutzungsbeschränkung einen Standpunkt einnimmt, der für den Betroffenen einen intensiveren Eigentumsschutz bedeutet als der, der sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt. Eine vergleichbare Konstellation ergibt sich für das Verhältnis zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit. Auch hier wird es prozessual nicht zu Korrekturen durch das Bundesverfassungsgericht kommen, sofern die Verwaltungsgerichte den Eigentumsschutz extensiver deuten und praktizieren als das Bundesverfassungsgericht. Aus dem Vorgesagten ergibt sich eine Reihe wichtiger Erkenntnisse. Zunächst ist offenkundig, daß die mehrfach für obsolet erklärten sog. Schwellentheorien, die die Grenze zwischen Enteignung und Inhaltsbestimmung markieren sollen, nach wie vor unentbehrlich sind. 24 Kein Gericht, welches über die Zulässigkeit von Inhaltsbestimmungen zu befinden hat, kommt ohne sie aus. Kriterien, wie beispielsweise die „Privatnützigkeit" oder die „Substanz des Eigentums", die das Bundesverfassungsgericht zu den maßgeblichen Prüfmaßstäben entwickelt hat, münden letztlich in Fragen nach dem Maß und Umfang von Verminderungen eigentumsgeschützter Rechtspositionen ein und landen damit unausweichlich bei „Schwellen-Problemen". Der Bundesgerichtshof greift mit dem Kriterium der „besonders schwerwiegenden, in die Substanz des Eigentums eingreifenden Belastung" auf altbekannte Formeln zurück. 25 Das Bundesverwaltungsgericht verwendet zur Ermittlung zulässiger Inhaltsbestimmungen ebenfalls die bisherigen „Großformeln" wie „Situationsgebundenheit", „Schwere" 26 usw. Der neo-klassische Enteignungsbegriff des Bundesverfassungsgerichts hat also im untergesetzlichen Recht keine Wirkung gezeigt. Dadurch, daß auf unterschiedlichen Ebenen der Rechtsordnung und durch verschiedene Gerichte Eigentumsschutz judiziert wird, ergeben sich zwangsläufig Differenzen, die nach den prozessualen Mechanismen nicht stets korrigiert oder abgeglichen werden können. Solche Differenzen sind jedoch keine Widersprüche, die der Auflösung bedürfen; vielmehr erklären sie sich aus der Stufung der Rechtsordnung. Art. 14 GG gewährt Eigentumsschutz (in erster Linie) gegen den Gesetzgeber; über diesen Schutz wacht das Bundesverfassungsgericht. Hat der Gesetzgeber eine eigentumsrechtliche Regelung getroffen, die verfassungsmäßig ist, so 24 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: FS der jur. Fakultät Heidelberg, 1986, S. 107 (118, 121); Maurer, in: FS für Dürig, S. 293 (307); Bryde, in: von Münch /Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Art. 14 Rn. 56; Schock, Jura 1989, 113 (121); Pietzcker, JuS 1991, 369 (371); Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rn. 376; Breuer, in: Schrödter, BauGB, Kommentar, 5. Auflage, 1992, § 39 Rn. 10ff.; Wendt, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 1999, Art. 14 Rn. 150. 25 BGHDVB1. 1997, 123. 26 BVerwGE 94, 1 (11), BVerwG BayVBl. 1997, 249 (250).

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entscheiden über Inhalt und Tragweite dieser Regelung und der auf ihr beruhenden Exekutivakte die judizierenden Fachgerichte. Und deren Auslegungsergebnis kann ohne weiteres über den engeren von Art. 14 GG geforderten verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz hinausgehen.

IV. Nutzungsbeschränkungen zwischen Inhaltsbestimmung und Enteignung 1. Unterschiede im Schutzumfang Nutzungsbeschränkungen werden nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung im Anschluß an die Neuorientierung der Eigentumsdogmatik grundsätzlich als Inhaltsbestimmungen des Eigentums eingestuft. 27 Dies gilt jedenfalls für Nutzungsbeschränkungen, die das Grundeigentum betreffen. Die Einordnung als Inhaltsbestimmungen geschieht jedoch mit gewissen Vorbehalten (z. B. „grundsätzlich") 2 8 , die nicht unbeträchtliche Rest-Fälle übriglassen, deren Qualifizierung in der Dichotomie von Inhaltsbestimmungen und Enteignungen jedenfalls nicht zweifelsfrei ist und die näherer Betrachtung bedürfen. Zuvor erscheint es aber angebracht, sich nochmals der tragenden Unterschiede zwischen Inhaltsbestimmungen und Enteignungen zu vergewissern. Diese Unterschiede kulminieren vor allem in zwei Punkten: erstens in den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen; Enteignungen sind nur aus dringenden Gründen des Gemeinwohls zulässig. Zweitens ist, falls Enteignungen zulässig sind, der volle Wert des Genommenen zu ersetzen. Inhaltsbestimmungen hingegen unterliegen von vornherein der politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Ob er von ihr Gebrauch macht, unterliegt seinem politischen Ermessen. Bei Ausübung der Gestaltungsfreiheit ist der Gesetzgeber (nur) an die verfassungsrechtlichen Grenzen des Eigentumsschutzes gebunden. Inhaltsbestimmungen können ausgleichspflichtig sein. Diese Ausgleichspflicht ist von der Entschädigungspflicht im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG wesensverschieden und im allgemeinen auch wertmäßig niedriger anzusetzen.29 Bei der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung wird nur eine UnVerhältnismäßigkeit ausgeglichen. Was aber „unverhältnismäßig" ist, entscheidet in erster Linie der Gesetzgeber. Der Ausgleich kann auch auf andere Weise als durch Geldleistungen geschehen, z. B. durch Übergangsregelungen, durch (teilweisen) Fortbestand von Alt-Rechten, durch sonstige Abfederungen. Wann solche Entschädigungs-Surrogate das notwendige „Ausgleichsniveau" erreichen, bleibt zweifelhaft. Die Ausgleichspflicht ist also nach Voraussetzungen und Umfang unsicher. Der Eigentumsschutz nach Art. 14 Abs. 1 GG ist also erheblich geringer als bei Enteignungen im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG. 27 Vgl. Fußnote 13. 28 Vgl. etwa BVerwG BayVBl. 1997, 249 (250). 29 Vgl. auch Leisner, BB 1992, 73 (75 f.).

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2. Graduelle Nutzungsbeschränkungen als Normalfall Wie bemerkt werden Nutzungsbeschränkungen beim Grundeigentum zunehmend als Inhaltsbestimmungen kategorisiert - mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Auf die Intensität des Eingriffs soll es dabei für die Abgrenzung zwischen Inhaltsbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG und Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG nicht mehr ankommen.30 Auch die verbleibende Verwendungsmöglichkeit und die Möglichkeit der wirtschaftlichen Rendite soll für die genannte Abgrenzung unmaßgeblich sein, wobei allerdings insoweit schon das inhaltsschwere Wörtchen „grundsätzlich" beigefügt wird. 31 Aber selbst „drastische Begrenzungen bisheriger Nutzungen" sind keine Enteignungen, sondern Inhaltsbestimmungen, die möglicherweise ausgleichspflichtig sind. 32 Abgestellt wird vorrangig auf den Fortbestand des „individuellen Zuordnungsverhältnisses zwischen dem Rechtsträger und der Sache".33 Ob freilich an dem formalen Merkmal der rechtlichen Zuordnung zwischen Rechtsträger und Sache als allein maßgeblichem Kriterium für die Enteignung durchgehend festgehalten werden kann, auch dann wenn die „in der Hand" des Rechtsträgers verbleibende Sache ihres Wertes restlos entkleidet wird und damit das Eigentum zum nudum ius degeneriert, ist auch in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich offen gelassen worden. 34

3. Totalentleerung

des Eigentums - „de facto Enteignung "

Abwertungen des Eigentums durch Nutzungsbeschränkungen sind bis zur Neudefinition des Enteignungsbegriffs als Aufopferungsenteignungen eingeordnet und in ihrer Eingriffsqualität mit Hilfe der Schwellentheorien bestimmt worden. Mit dem neo-klassischen Enteignungsbegriff sollten solche Abwertungen, mit anderen Worten die herkömmlichen Aufopferungsenteignungen, in Inhaltsbestimmungen umdefiniert werden. Bei dieser Umdefinition ist man bereit, so weit zu gehen, daß selbst „drastische Begrenzungen bisheriger Nutzungen" nicht länger als Enteignungen angesehen werden können. Durchweg kommt aber zum Ausdruck, daß die Abwertung des Eigentums durch Nutzungsbeschränkungen zwar weit „heruntergefahren" werden kann, aber noch Nutzungsmöglichkeiten erhalten bleiben müssen - in welchem Umfang auch immer. Niemand hat bisher die These aufgestellt, daß auch dann „nur" eine Inhaltsbestimmung vorliege, wenn der wirtschaftliche Wert des Eigentums auf Null reduziert, zum nudum ius abgewertet und damit jede sinnvolle Nutzungsmöglichkeit genommen wird. In der Tat würde der neo-klassi30 BVerwG BayVBl. 1997, 249 f. 31 BVerwG BayVBl. 1997, 249 (250).

32 Wie vorige Fußnote. 33 BVerwG BayVBl. 1997, 249. 34 BVerfGE 79, 174 (192); BVerwG BayVBl. 1992, 249 (250).

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sehe Enteignungsbegriff ad absurdum geführt, sollte er auch jene Fälle aussondern, in denen von dem Vermögenswert des Eigentumsobjektes nichts mehr übrig bleibt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage, ob auch im Falle einer „völligen Entwertung" des Eigentums noch von einer „inhaltsbestimmendeu Regelung" gesprochen werden kann, ausdrücklich offen gelassen.35 Es wird diese Frage alsbald beantworten müssen. Denn das OVG Rheinland-Pfalz 36 hat in einem den § 13 DSchPflG RP betreffenden Vörlagebeschluß die Ansicht vertreten, daß Nutzungsbeschränkungen durch denkmalschutzrechtliche Vorschriften zwar grundsätzlich keine Enteignungen, sondern nur zulässige Inhaltsbestimmungen darstellen; dies sei jedoch anders, wenn ein Bauwerk nur noch „Denkmal" sei und damit jede wirtschaftlich sinnvolle privatnützige Verwendung ausscheide. In diesem Falle müsse die „Enteignungsschwelle" als überschritten angesehen und die Verweigerung einer Abbruchgenehmigung als „Enteignungseingriff 4 qualifiziert werden. Werden also alle Nutzungsmöglichkeiten entzogen, findet mit anderen Worten eine „Totalentleerung des Eigentums" statt, so liegt keine Inhaltsbeschränkung, sondern eine Enteignung vor. Man mag die Kategorien der Inhaltsbestimmungen und Enteignungen definieren, wie man will; es führt kein Weg daran vorbei, daß die „Totalentleerung des Eigentums" sich „der Sache nach" 37 als eine Enteignung darstellt. Dies bedeutet, daß sie als Inhaltsbestimmung verfassungsrechtlich nicht erlassen werden kann, weil sie mit dem aus dem Eigentumsbegriff resultierenden verfassungsrechtlichen Kriterium der „Privatnützigkeit" in Widerspruch steht. Wer auch für diesen Fall noch an „einer konsequenten formalen Unterscheidung" zwischen Inhaltsbestimmung und Enteignung festhalten will, 3 8 verteidigt juristische Kategorien gegen den Schutzzweck des Art. 14 GG und landet schnell in einer Sackgasse. Es bleibt dann nämlich nur noch eine façon de parier, wenn gesagt wird, daß eine bestimmte Eigentumsregelung wegen ihrer „Eingriffstiefe" als Inhaltsbestimmung überhaupt nicht oder nur mit einer Ausgleichsregelung erlassen werden kann, weil der vollständige Nutzungsentzug im Einzelfall „enteignende Wirkung" hat. Auch ist nicht zu sehen, wem mit einer Dogmatik gedient sein soll, bei der eine bis zur Fiktion gesteigerte formale Unterscheidung zwischen Inhaltsbestimmung und Enteignung durchgeführt wird. Man muß auch zögern, eine solche Auffassung als „konsequent" zu bezeichnen,39 weil die dogmatischen Scheuklappen die Wirklichkeit nicht mehr voll zur Wahrnehmung kommen lassen. Es ist nicht für die juristische Kategorienbildung, sondern zur Sicherung des durch die Eigentumsgarantie gewährten Schutzes wichtig, tatsächliche Befunde beim Namen zu nennen und wirklichkeitsgerecht zu erfassen. Geschieht dies nicht, 35 36 37 38 39

BVerfGE 79, 174(192). OVG Rheinland-Pfalz'NuR 1992, 487. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rn. 320 (Stand: Mai 1994). Vgl. Rozek (Fn. 5), S. 178 ff. (181). Rozek, wie vorige Fußnote.

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so führt dies zu einer Verfälschung der rechtlichen Maßstäbe, die bei der Prüfung von Hoheitseingriffen und bei der Festlegung ihrer Folgen anzulegen sind. Enteignungen „der Sache nach" laufen sonst Gefahr, anstatt voll entschädigt, mit dogmatisch leichter Hand durch einen minderen „Ausgleich" abgespeist zu werden. Es ist auch für die Erfassung und dogmatische Ausbildung der Eigentumsgarantie aufschlußreich, daß der Totalentzug von Nutzungen gem. Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und der einschlägigen Literatur als „de facto Enteignung" eingestuft wird, 40 worunter man eine Maßnahme versteht, „die das formal weiter bestehende Eigentum zur Hülse entleert". 41 Solche de facto Enteignungen werden wie formelle Enteignungen behandelt. Aus deutscher Sicht muß man zwar zugestehen, daß die Eigentumsgarantie des Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK nicht die Unterscheidung von Inhaltsbestimmungen und Enteignungen kennt und insoweit eine andere Struktur aufweist als Art. 14 GG. Für die materielle inhaltliche Bestimmung des Enteignungsbegriffs und der sich an diese Kategorie heftenden juristischen Konsequenzen kann jedoch dieser Unterschied keine Bedeutung erlangen. Deshalb wird es wichtig, wenn das Bundesverfassungsgericht betont, daß „bei der Auslegung des Grundgesetzes auch Inhalt und Entwicklungsstand der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen" sind und aus diesem Grunde „auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten" dient. 42 Die Menschenrechte der EMRK finden zunehmend Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und sie dienen nicht nur als Quelle der Inspiration, sondern auch als „ergänzende und vertiefende Prüfmaßstäbe".43 Diese Aufeinanderbezogenheit wird und muß im Interesse einer Kooperation und Rechtsangleichung zunehmen. Einen neuen Schub wird diese Entwicklung namentlich durch die Neuorganisation des EGMR, die am 1. November 1998 in Kraft getreten ist, erhalten. Aus diesem Grunde sollte man bei der deutschen Diskussion um die Einordnung des Nutzungsentzuges im System des Eigentumsschutzes auch den Blick auf die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR richten. Aus der Sicht der Koordinaten zum Eigentumsschutz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erscheint es auch nicht schwer, zu einer eindeutigen Lösung zu kommen. Denn das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, daß die Gewährleistung des Art. 14 GG „in jedem Falle ... die Erhaltung der Substanz des Eigentums" erfordert. 44 „Der Gesetzgeber darf nicht unter dem »Etikett4 einer 40 Vgl. Gelinsky (Fn. 7), S. 56 ff. 41

Mestmäcker / Engel, Das Embargo gegen Irak und Kuwait, 1991, S. 57. 42 BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (115). 43 Paul Kirchhof, Verfassungsrechtlicher Schutz und internationaler Schutz der Menschenrechte: Konkurrenz oder Ergänzung?, EuGRZ 1994, 16 ff. (32). 44 BVerfGE 42, 263 (295); 52, 1 (29 f.); 72, 66 (77 f.); 79, 174 (198); 87, 114 (139).

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Inhaltsbestimmung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG in Wahrheit eine Enteignung durchführen". 45 Zur Substanz des Eigentums, die „in jedem Falle" erhalten bleiben muß, gehört auch die Freiheit, „den Eigentumsgegenstand selbst zu nutzen" 46 . Wenn von dieser Freiheit nichts mehr übrig bleibt, liegt demnach ein Eigentumsentzug, d. h. eine Enteignung vor. Die ganze Schwierigkeit der gegenwärtigen, durch den neo-klassischen Enteignungsbegriff neu formierten Eigentumsdogmatik besteht nun offenkundig darin, diesen aufgrund materieller Kriterien („Substanz des Eigentums", „Privatnützigkeit") gewonnenen Befund des Eigentumsentzuges mit dem formalen neo-klassischen Enteignungsbegriff des Bundesverfassungsgerichts zu vermitteln. Insoweit kann die einschlägige Diskussion noch nicht als beendet angesehen werden. Zu unterscheiden sind zumindest folgende Varianten, die das mögliche Spektrum unterschiedlicher Konstellationen durchaus nicht abzudecken brauchen. Erste Variante: Der Totalentzug der Nutzungsmöglichkeiten wird gesetzlich generell angeordnet, wie dies beispielsweise bei der geplanten Stillegung von Kernkraftwerken 47 oder in anderem Zusammenhang bei der Schließung von Tierkörperbeseitigungsunternehmen 48 der Fall ist. Eine solche gesetzliche Stillegungsanordnung, gleichgültig, ob sie sozusagen offen oder verdeckt alle Nutzungsmöglichkeiten versperrt, ist eine Enteignung und allein nach Art. 14 Abs. 3 GG zu beurteilen. Zweite Variante: Eine gesetzliche Nutzungsbeschränkung etwa im Denkmalschutzrecht oder im Naturschutzrecht führt im Regelfalle (nur) zu partiellen Nutzungsbeschränkungen, die weitere sinnvolle Nutzungsmöglichkeiten unberührt lassen; im konkreten Einzelfall aber führt die gesetzliche Inhaltsbeschränkung zu einem Totalentzug der Nutzungsmöglichkeiten (Beispiel: Fall des oben mitgeteilten Vorlagebeschlusses des OVG Rheinland-Pfalz 49). In diesem Falle ist der konkret-individuelle (vollständige) Nutzungsentzug eine Enteignung „der Sache nach" (de facto Enteignung), die entweder vorhergesehen und durch eine Ausgleichsregelung berücksichtigt ist oder sich als unvorhergesehene „Zufallsenteignung" darstellt. In diesem Falle bleibt der generelle Charakter der gesetzlichen Nutzungsbeschränkung als Inhaltsbestimmung unberührt, aber der konkret-individuelle Nutzungsentzug ist desungeachtet eine Enteignung und deshalb im Umfange des Art. 14 Abs. 3 GG entschädigungspflichtig. Eine mindere Ausgleichspflicht, in welcher Form auch immer, reicht insoweit nicht. Dritte Variante: Ein Eigentumsreformgesetz, in welchem das (Grund-)Eigentum neu definiert, d. h. zwischen den Beteiligten neu abgegrenzt wird, führt zu einem 45 BVerfGE 42, 263 (295). 46 BVerfGE 79, 292 (304). 47 Vgl. Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Fragen eines Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie, AöR 124 (1999), 1 ff. 48 Vgl. BGH DVB1. 1997, 123. 49 NuR 1992, 487.

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vollständigen Nutzungsentzug für die Alt-Eigentümer. In diesem Falle soll nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine einheitliche Inhaltsbestimmung vorliegen, auch gegenüber den Alt-Eigentümern. Diese Einheitsbetrachtung ist aber allenfalls bei einem Teil-Nutzungsentzug oder einem Teil-Rechtsentzug plausibel, nicht hingegen bei einem Totalentzug der Nutzungsmöglichkeiten. Bei einem Totalentzug bleibt es für die Alt-Eigentümer bei einer Enteignung, die nach Art. 14 Abs. 3 GG zu beurteilen ist.

4. Teilweiser

Entzug

Die „teilweise Entziehung" konkreter subjektiver Eigentumspositionen wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls als Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG qualifiziert. 50 Dabei wird aber nach dem Kontext der Rechtsprechung die „teilweise Entziehung" nicht in einem quantitativen Sinne zu verstehen sein, denn die vormalige Aufopferungsenteignung, die den „teilweisen Entzug" im quantitativen Sinne in sich aufgenommen hatte, soll nach der „neuen" Dogmatik in der ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung aufgehen. Verbreitet ist deshalb die Auffassung, daß mit dem „teilweisen Entzug" lediglich rechtlich verselbständigte und entsprechend konturierte Bestandteile des Völlrechts erfaßt werden. 51 Wann freilich solche rechtlich verselbständigten Bestandteile vorliegen, ist schon im Grundsatz, aber auch in der Anwendung die Quelle neuer schwieriger Abgrenzungsfragen. Warum die Bebauungsbefugnis eine solche Teilrechtsposition sein soll, die landwirtschaftliche Nutzungsbefugnis hingegen nicht, 52 will nicht recht einleuchten. Auch wenn dies nicht mehr ins neue dogmatische Konzept paßt, muß man fragen, ob in jedem Falle erst beim Totalentzug die Schwelle zur Enteignung überschritten wird oder ob, wie der Bundesgerichtshof annimmt, diese Schwelle nicht schon vorher einsetzt. 5. Zeitweiser Entzug Auch der zeitweise Nutzungsentzug kann eine Enteignung sein. Dies zeigt das Beispiel der zeitlich begrenzten Bausperren. 53 Solche Bausperren sind bei Lichte betrachtet nicht Totalentleerungen im oben genannten Sinne, auch nicht für den Zeitraum der Bausperre, weil die Bausperre nur eine bestimmte, wenn auch die 50 Vgl. BVerfGE 24, 367 (394); 38, 175 (180); 42, 263 (299); 52, 1 (27); 58, 300 (331); 66, 248 (257); 70, 191 (199f.); 72, 66 (76); 74, 264 (280); 79, 174 (191). 51 Vgl. Maurer, in: Festschrift für Dürig, 1990, S. 293 (304); Ehlers, VVDStRL 51 (1992), 236; Burgi, NVwZ 1994, 527 (529 ff.); Kraft, BayVBl. 1994, 97 (102); Pieroth/Schlink, Grundrechte, 14. Aufl. 1998, Rn. 923; ablehnend Schwabe, Jura 1994, 529 (532 mit Fn. 15). 52 Vgl. Burgi, wie vorige Fn. 53 Vgl. Ossenbühl (Fn. 3), S. 194 ff.

Eigentumsschutz gegen Nutzungsbeschränkungen

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vielleicht wichtigste Nutzung des Grundstücks suspendiert, nämlich die Bebauung. Immerhin ist zunächst die Feststellung bemerkenswert, daß auch der temporäre Teilentzug von Nutzungen (hier: Bausperren) seit langem als klassischer Fall einer Enteignung in Erscheinung treten kann. Die Grenze zwischen Enteignung und Inhaltsbestimmung (früher Sozialbindung) wird bei Bausperren letztlich durch den „Zeitraum" bestimmt, für den die Bausperre angeordnet wird. Dieser Zeitraum wird unterschiedlich zu bemessen sein, je nachdem zu welchem Zweck die Bausperre erforderlich ist. Die absolute zeitliche Grenze wird vom Gesetz mit vier Jahren, vom Bundesgerichtshof für die gesetzlich nicht geregelten Fälle mit drei Jahren gezogen. Das Bundesverwaltungsgericht 54 verfolgt eine andere Linie. Es hält die Sperre zum Zwecke der städtebaulichen Sanierung, für die im Gesetz keine zeitliche Grenze festgelegt ist, grundsätzlich für eine Inhaltsbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG, und zwar auch dann, wenn sich die Sperre über eine sehr lange Dauer erstreckt (im Entscheidungsfalle waren es immerhin 12 Jahre). Auch bei überlanger Dauer ist der Gesetzgeber nach Auffassung des Gerichts nicht zum finanziellen Ausgleich verpflichtet, denn er kann auch andere Ausgleichsinstrumente bereitstellen, wie beispielsweise die Übernahme des Grundstücks durch die Gemeinde. Dieses Urteil ist ein überzeugendes Beispiel dafür, wie das Schutzniveau des Eigentums absinkt, wenn man Abwertungen des Eigentums von vornherein als Inhaltsbestimmungen deklariert. Ebenso wie „verzögerte Gerechtigkeit verweigerte Gerechtigkeit" (William Gladstone) darstellt, kann auch der Nutzungsentzug nicht sozusagen beliebig verzögert werden und gleichwohl eine zulässige Inhaltsbestimmung bleiben - auch nicht bei zeitaufwendigen Projekten wie der städtebaulichen Sanierung; selbst wenn die Bausperre hier noch „erforderlich" im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips sein mag, muß man sich fragen, ob eine Sperre bei überlanger Dauer noch den Maßstäben der „Angemessenheit" (Proportionalität) gerecht wird.

V. Ausgeübte und potentielle Nutzungen Auf eine weitere grundrechtlich relevante Unterscheidung für den Eigentumsschutz sei hingewiesen: nämlich die Differenzierung zwischen ausgeübten und potentiellen Nutzungen.55 Auch diese Unterscheidung ist am Grundeigentum orientiert. Hat die Ausübung der Nutzung des Grundstücks zu investiven Bauten oder Anlagen geführt, liegt also eine „investiv ausgeübte Nutzung" vor, so stellt der Entzug des durch Nutzungsausübung Geschaffenen, also des „ins Werk Gesetzten", eine Enteignung dar. 56 Der Entzug des „ins Werk Gesetzten" kann sich auf die 54 BVerwG NJW 1996, 2807. 55 Vgl. Leisner, BB 1992, 73 (75). 56 Leisner, wie vorige Fn.

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Fritz Ossenbühl

sachenrechtliche Zuordnung beziehen und auf den Entzug der Nutzungsmöglichkeiten. Im ersten Falle wird man sich einen Entzug des Geschaffenen allein kaum vorstellen können, weil Aufbauten und Anlagen im allgemeinen als wesentliche Bestandteile in das Eigentum des Grundstückseigentümers übergehen. Praktisch relevant bleibt jedenfalls der Fall des Totalentzuges der Nutzungsmöglichkeiten. Nach der Rechtsprechung wird als Enteignung aber auch der Entzug solcher Nutzungsmöglichkeiten qualifiziert, „die sich nach Lage und Beschaffenheit des Grundstücks objektiv anbieten".57

VI. Nutzungsentzug durch faktische Einwirkungen Die Nutzung des Eigentums kann nicht nur durch gesetzliche Regelungen und aufgrund solcher Regelungen erlassene Gebote und Verbote, also durch normative Eingriffe, beschränkt und beeinträchtigt werden, sondern auch durch faktische Einwirkungen, die den Gebrauchswert der Sache mindern. Dies gilt beispielsweise für Beeinträchtigungen des Zugangs von einem Grundstück oder Gewerbebetrieb zum Straßennetz, etwa durch Infrastrukturmaßnahmen (z. B. Straßenbauarbeiten, Bau von U-Bahnen etc.) oder die Errichtung sonstiger öffentlicher Anlagen oder Gebäude. Hierher rechnen aber auch Grundstücksüberschwemmungen, die durch hoheitliche Maßnahmen (z. B. Hochwasserschutzmaßnahmen, Deichsysteme, Talsperren und dgl.) ausgelöst werden. Zu nennen sind des weiteren Immissionen von hoher Hand, etwa in Gestalt von Geruchs- oder Lärmimmissionen, die von öffentlichen Einrichtungen oder Maßnahmen ausgehen.58 Solche durch hoheitliche Realakte ausgelösten faktischen Einwirkungen auf das Grundeigentum können zeitlich begrenzte, aber auch auf Dauer gerichtete Beschränkungen oder Beeinträchtigungen der Nutzung von Grundstücken, Gebäuden oder Gewerbebetrieben zur Folge haben, deren Intensität Ausmaße erreichten, die den einzelnen nicht mehr entschädigungslos zugemutet werden können. Der Eigentumsschutz für solche faktischen Nutzungsbeschränkungen wird thematisch durch Art. 14 GG nicht explizit aufgefangen. Nach der gegenwärtig herrschenden Eigentumsdogmatik des Art. 14 GG sind nur (ausgleichspflichtige) Inhaltsbestimmungen und Enteignungen, also normative Einwirkungen erfaßt, nicht hingegen faktische Einwirkungen auf das Eigentum. Indessen ist unbestrittener gegenwärtiger Stand der Grundrechtsdogmatik, daß die Grundrechtsgewährleistungen auch vor faktischen Eingriffen von hoher Hand schützen. Deshalb unterliegen auch Nutzungsbeschränkungen durch faktische hoheitliche Einwirkungen dem Eigentumsschutz.59 Jedoch wird dieser Schutz bemerkenswerter Weise außer57 BGHZ90, 17(25). 58 Vgl. Ossenbühl (Fn. 3), S. 163 ff., 273 ff. 59 Vgl. Ulrich Ramsauer, Die faktischen Beeinträchtigungen des Eigentums, 1980; Wendt, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 1998, Art. 14 Rn. 121 ff.; Jarass/Pieroth,

Eigentumsschutz gegen Nutzungsbeschränkungen

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halb des Art. 14 GG, in besonderen richterrechtlich entwickelten Instituten, nämlich im enteignungsgleichen und enteignenden Eingriff, angesiedelt, die freilich auf der Grundlage des Art. 14 GG entwickelt worden sind. 60 Ist ssungsrechtliche Randposition" merkwürdig, so kommt hinzu, daß die Anwendungsfelder des enteignungsgleichen und des enteignenden Eingriffs durchaus bestritten sind: Der Eigentumsschutz soll hier, so wird gesagt, im Primärrechtsschutz seine volle, aber auch alleinige Entfaltung finden. Wer sich nicht (rechtzeitig) gegen faktische Einwirkungen mit Abwehrklagen zur Wehr setzt oder etwa bei Infrastrukturmaßnahmen in der Planungsphase seine Rechtspositionen „anmeldet", soll nicht im nachhinein Beeinträchtigungen liquidieren können.61 Auch hier zeigt sich wieder „schonungslose Dogmatik", die gegenüber dem viel bunteren Leben farbenblind ist. Die faktischen Einwirkungen auf das Eigentum lassen sich nur zum Teil durch vorangehende formalisierte Hoheitsakte wie Widmungen oder Planfeststellungsbeschlüsse auffangen und eigentumsrechtlich „verarbeiten". Im übrigen bleiben sie nach wie vor ein umstrittenes Feld, welches der Bundesgerichtshof in seine Obhut genommen und mit Recht entgegen Forderungen des Schrifttums auch nicht aufgegeben hat. 62

VII. Schlußbemerkung Walter Leisner hat die Diskussion um die Problematik des Eigentumsschutzes von Nutzungsmöglichkeiten aufgegriffen und insbesondere für nicht realisierte Nutzungen in der Marktwirtschaft fortgeführt. Die vorstehenden Erwägungen sollten zeigen, daß damit der eigentliche Kern des Eigentumsschutzes in Rede steht und daß dieser Kern in dem formalen dogmatischen Gehäuse der neueren Lehre vom Eigentumsschutz verloren zu gehen droht. Der Eigentumsschutz von Nutzungsmöglichkeiten ist nach wie vor von erheblicher praktischer Relevanz. Was aber bislang noch fehlt, ist eine übergreifende Gesamtsicht des Problems, in die bestehende wichtige Einzelfragen eingefügt und plausibel beantwortet werden können.

Grundgesetz, 3. Aufl. 1995, Art. 14 Rn. 37; Alexander von Brünneck, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, 1984, S. 415. 60 Vgl. Ossenbühl (Fn. 3), S. 224 ff., 269 ff. 61

Vgl. etwa von Brünneck (Fn. 59); weitere Nachweise und Kritik bei Ossenbühl (Fn. 3), S. 270 ff. 62 Vgl. BGHZ 122,76 (77); 129, 124 (126).

Entschädigung und Ausgleichsleistungen für naturschutzbedingte Beschränkungen der Landwirtschaft Von Volkmar Götz

I. Realität und Problem: Die Landwirtschaft muß die naturschutzbedingten Beschränkungen hinnehmen 1. Eigentumsschutz im Sozialmodell der Verfassung Wie kein anderer Staatsrechtslehrer der Gegenwart hat Walter Leisner den Verfassungsschutz des Eigentums in den Mittelpunkt seiner Arbeit gerückt. Die Dogmatik der verfassungsrechtlichen Konzeption von Eigentum, Sozialbindung und Enteignung verdankt dem Jubilar bedeutende Beiträge 1. Nicht zuletzt hat Walter Leisner die Sache des landwirtschaftlichen Bodeneigentums vertreten - als Verfassungsinterpret, aber angesichts eines nicht mehr nur passiven und defensiven, sondern aktiven und offensiven und von breiten politischen Strömungen vorangetragenen Naturschutzes zunehmend auch als Mahner 2. Die Sache des landwirtschaftlichen Eigentums scheint in der Konfliktsituation meistens hoffnungslos unterlegen zu sein. Belange des Naturschutzes erhalten im öffentlichen Bewußtsein einen generellen Vorrang vor den Wirtschaftsinteressen der landwirtschaftlichen Eigentümer. In dieser Situation, in der die umweltrechtlichen Beschränkungen der landwirtschaftlichen Bodennutzung in eine neue Größenordnung eingetreten sind, erinnert Walter Leisner 3 an das „Sozialmodell" der Verfassung (Art. 14 Abs. 2 S. 1 GG), von dem aus Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetzgebung zu bestimmen sind. Dessen zutreffende Ausdeutung durch das BVerfG (es sind „die schutzwürdigen Interessen der Beteiligten in einen gerechten Ausgleich und ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen") drückt das Bekenntnis zu einem Harmonisierungsideal aus, das indessen allein die Konflikte zwischen landwirtschaft1 Walter Leisner, Eigentum. Schriften zu Eigentumsgrundrecht und Wirtschaftsverfassung 1970- 1996 (hrsg. von Josef Isensee), 2. A. 1998, im einzelnen u. a. ders., Sozialbindung und Eigentum, 1972; ders., Umweltschutz durch Eigentümer, 1988; ders., Eigentum, in: Isensee/Kirchhof (Hsg.), Hdb. d. Staatsrechts, Bd. V I (1989) § 149; ders., Situationsgebundenheit des Eigentums - eine überholte Rechtssituation? SchrR d. Jur. Ges. Berlin H. 119 (1990); ders., Eigentumsschutz - im Naturschutzrecht eine Ausnahme?, DÖV 1991, 781; ders., Eigentumsschutz von Nutzungsmöglichkeiten, BB 1992, 73; ders., Das Eigentum zwischen privatem Nutzen und sozialer Bindung, in: AgrarR 1994, Beil. II S. 3. 2 Eigentumsschutz - im Naturschutzrecht eine Ausnahme?, DÖV 1991, 781. 3 Eigentumsschutz von Nutzungsmöglichkeiten, BB 1992, 73 (74).

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lichem Eigentum und Naturschutz weder verhindern noch lösen kann. Die realistische Einschätzung, es könnte sich bei Konflikten zwischen Privateigentum und Naturschutz um im letzten trotz aller Harmonisierungsbemühungen unauflösliche Gegensätze handeln, hat Walter Leisner nicht resignieren lassen: die Harmonisierungsbemühungen seien fortzusetzen 4. Daß dies mit Aussicht auf Erfolg geschehen kann, dürfte nicht zuletzt davon abhängen, daß Entschädigungen und Ausgleichsleistungen für naturschutzbedingte Beschränkungen der Landwirtschaft mehr als eine nur marginale Bedeutung erhalten. 2. Das Versagen des Primärrechtsschutzes Wenn wir auf Entschädigung und Ausgleichsleistungen setzen, so heißt das auch, daß mit Aussicht auf Erfolg keine Erwartungen an einen Primärrechtsschutz gerichtet werden, welcher umweltrechtliche Beschränkungen der landwirtschaftlichen Bodennutzung unmittelbar auf der Grundlage der Eigentumsgarantie und der Gesetzgebung zum Naturschutzrecht zu begrenzen und gegebenenfalls zu Fall zu bringen sucht. Das ist nicht im Sinne einer rechtsdogmatischen Aussage gemeint, sondern einer Realanalyse, wie sie eindringlich bereits Walter Leisner vorgenommen hat5. Was immer naturschutzfachlich als notwendiger Eigentumseingriff dargestellt wird, setzt sich durch, vorausgesetzt nur, es erhält auf der jeweiligen Entscheidungsebene die politische Unterstützung. Die Versuche, die Unterschutzstellungen und Beschränkungen vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit als unzulässig außer Kraft zu setzen, scheitern regelmäßig, ja eigentlich stets. Wenn etwa, um ein charakteristisches Beispiel6 herauszugreifen, eine Niederungslandschaft unter Naturschutz gestellt wird und dabei die Düngung verboten, die Mahd und der Viehauftrieb beschränkt werden, so verfehlt ein vorliegendes naturschutzfachliches Gutachten über die Schutzwürdigkeit des hier vorliegenden Feuchtwiesen-Ökosystems seine Wirkung nicht, und sämtliche ausgesprochenen Beschränkungen der landwirtschaftlichen Nutzung halten einer „Erforderlichkeits"-Prüfung stand. In jenem Falle zitierte das OVG Bremen aus dem vorliegenden Gutachten, daß das Gebiet „aus botanischer Sicht durch einige stark gefährdete Vegetationseinheiten gekennzeichnet sei, die nicht nur zahlreiche auf der roten Liste vermerkte Pflanzenarten enthalten, sondern auch für den Bestand gefährdeter Säugetier-, Amphibien- und Libellenarten sowie seltene Insektenarten von Bedeutung sind". Diesem Befund mußte sich die auf den Grünlandflächen ausgeübte Weidewirtschaft beugen. Juristische Verhältnismäßigkeitsprüfungen vermögen in der Praxis gegen die politisch durchgesetzten Umweltschutzforderungen nichts auszurichten. Leisner 1 hat dies mit der kritischen Feststellung kommentiert, die Verhältnismäßigkeitsprüfung sei auf dem Weg zum Wortritual. 4 5 6 7

A. a. O. (Fn. 2) S. 782. A. a. O. (Fn. 2). OVG Bremen, Beschl. v. 29. 8. 1989, NuR 1990, 82. A. a. O. (Fn. 2) S. 785.

Entschädigung für naturschutzbedingte Beschränkungen der Landwirtschaft

3. Die Marginalisierung

der Landwirtschaftsklauseln

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des Naturschutzrechts

Die Landwirtschaftsklauseln des BNatSchG haben die Beschränkungen der landwirtschaftlichen Bodennutzung nicht verhindern können. Die allgemeine Landwirtschaftsklausel des § 1 Abs. 3 BNatSchG a.F. („Der ordnungsgemäßen Land- und Forstwirtschaft kommt für die Erhaltung der Kultur- und Erholungslandschaft eine zentrale Bedeutung zu; sie dient in der Regel den Zielen des Gesetzes") war das Objekt einer verbreiteten Kritik von Seiten des Umweltschutzes8. Bereits 1985 hatte der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen ihre Abschaffung gefordert 9. Schließlich hat sie die 3. Novelle zum BNatSchG vom 26. 8.1998, einer der letzten Gesetzgebungsakte der damaligen bürgerlichen Koalition, gestrichen und durch eine wesentlich schwächere Klausel ersetzt, die bloß zur „Berücksichtigung" der besonderen Bedeutung der Landwirtschaft für die Erhaltung der Kultur- und Erholungslandschaft auffordert (§ 1 Abs. 3 BNatSchG i.d.F. vom 21. 9. 1998). Da die Rechtsprechung10 eine enge, geradezu marginalisierende Auslegung der Landwirtschaftsklauseln vorgenommen hatte, indem sie beispielsweise von vornherein deren Anwendbarkeit auf einen Wechsel zwischen verschiedenen landwirtschaftlichen Nutzungsarten oder eine Umwandlung von Natur- in Kulturlandschaft verneint hatte, schien die Preisgabe der zentralen Landwirtschaftsklausel des § 1 Abs. 3 BNatSchG a.F. vordergründig wenig zu ändern. In Wahrheit hat sie aber eine bedenkliche Signalwirkung. Denn die Landwirtschaftsklauseln haben eine grundsätzliche Bedeutung, indem sie im Naturschutzrecht das Anrecht des landwirtschaftlichen Eigentums zum Ausdruck bringen 11.

II. Entschädigungs- und Ausgleichspflicht unter der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes 1. Der Konsens über die Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses der Entschädigung Das Reichsnaturschutzgesetz vom 26. 6. 1935 bestimmte in seinem § 24: „Rechtmäßige Maßnahmen, die auf Grund dieses Gesetzes ... getroffen werden, begründen keinen Anspruch auf Entschädigung." Mit dem so aufgerichteten Grundsatz der entschädigungslosen Rechtsbeschränkung wurden die Sonderinters Vgl. Soell, UTR Bd. 20, 1993, S. 133. 9 Sondergutachten „Umweltprobleme der Landwirtschaft", 1985, Tz. 1201, 1363-1368. 10 BVerwG, Beschl. v. 14. 10. 1988, AgrarR 1989, 308 = NuR 1989, 257 = UPR 1989, 108; BGH, Urt. v. 16. 7. 1993, NJW 193, 2605 = DVB1. 1993, 1092 = UPR 1993, 378 = NuR 1993, 500 m.w.N. 11 Volkmar Götz, Landwirtschaft und Umweltschutz in Deutschland: Zur Rechtsstellung der Landwirtschaft im Naturschutzrecht, in: Czechowski/Hendler (Hsg.), Umweltverträglichkeitsprüfung, Landwirtschaft und Umweltschutz, 1996, S. 138 (142).

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Volkmar Götz

essen des einzelnen Grundeigentümers den Interessen der Allgemeinheit untergeordnet 12. Dies galt als Anwendungsfall der Maxime „Gemeinnutz geht vor Eigennutz", die im Nationalsozialismus als maßgeblich für die Auslegung des Eigentumsbegriffes und als generelle Rechtsschranke der Eigentümerherrschaft angesehen wurde 13 . Nach dem Inkrafttreten der Landesverfassungen der Nachkriegszeit 14 und des Grundgesetzes stellte sich in Rechtsprechung15 und Literatur 16 alsbald ein Konsens darüber ein, daß der in § 24 RNatSchG angeordnete generelle Ausschluß von Entschädigung verfassungswidrig und nichtig sei, soweit es sich bei Anordnungen und Maßnahmen des Natur- und Landschaftsschutzes um „Enteignungen" handelte. Aber die Meinungen, unter welchen Voraussetzungen Beschränkungen der landwirtschaftlichen Bodennutzung Enteignungscharakter hätten und infolgedessen eine Entschädigungspflicht auslösten, gingen auseinander. Während etwa Werner Weber 17 und Ernst Forsthoff ls sich dafür aussprachen, daß das naturschutzrechtliche Verbot, Heideflächen aufzuforsten oder in Acker- oder Weideland zu verwandeln bzw. - unrentabel gewordenes - Weideland in Ackerland umzuwandeln, entschädigungspflichtige Enteignung sei, entschied bereits 1956 das BVerwG 19 , unter Berufung auf Herbert Krüger, die Erklärung eines Gebietes zum Naturschutzgebiet mit der Wirkung, daß die landwirtschaftliche Nutzung in dem bisherigen Umfang und die forstwirtschaftliche Nutzung abgängigen Holzes unberührt bleiben, sei keine Enteignung.

nach Maßgabe 2. Entschädigungs- und Ausgleichserforderlichkeit höchstrichterlicher Interpretation der Eigentumsgarantie Über das vergangene halbe Jahrhundert ist es eine Konstante geblieben, daß die Abgrenzung des entschädigungslos hinzunehmenden Eingriffes von den auf der Grundlage der Eigentumsgewährleistung (Art. 14 GG) entschädigungs- oder ausgleichspflichtigen Eigentumseingriffen der Rechtsprechung zufällt. Daran hat der 12

G. Mitzschke, Das Reichsnaturschutzgesetz, 1936, S. XXI. Vgl. Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, S. 114 ff. 14 Vgl. BGH, Urt. v. 20. 9. 1984, L M Art. 14 (Ca) GrundG Nr. 34 (zur Verfassung von Württemberg-Hohenzollern). 15 Vgl. BayVerfGH, Entsch. v. 25. 2. 1959, VGHE n.F. 12, II. Teil, 1 = VRspr. 12,1 = NJW 1959, 1267 = DVB1. 1959, 370 = DÖV 1959, 304; BGH, Urt. v. 16. 3. 1959, DÖV 1959, 750 = BB 1959, 507 = MDR 1959, 558 = L M Art. 14 (Cb) GrundG Nr. 5. Weitere Nachweise bei Günter Zwanzig, Die Fortentwicklung des Naturschutzrechtes in Deutschland nach 1945, Diss. Göttingen 1961, S. 208. 13

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Werner Weber, Die Entschädigungspflicht bei Naturschutzmaßnahmen, DVB1. 1955, 40. Weitere Nachweise bei Zwanzig, a. a. O. (Fn. 15). 17 A. a. O. (Fn. 16) S. 45. 18 Lb. d. VerwR, Allg. Teil, 9. A. 1966, S. 318 f. 19 BVerwGE 3, 335.

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Naßauskiesungsbeschluß des BVerfG von 198120 nichts ändern können, mochte das BVerfG auch noch so sehr durchdrungen sein von der Überzeugung, daß die Prärogativen des Gesetzgebers zu betonen seien und den ordentlichen Gerichten „für den Bereich des Enteignungsrechts" lediglich eine „funktional und inhaltlich begrenzte Entscheidungskompetenz" zustehe. Denn die Abgrenzung zwischen dem entschädigungslos hinzunehmenden Eigentumseingriff und der Entschädigungs- oder Ausgleichspflicht ist eine Frage der Verfassungsinterpretation geblieben, auch nachdem der Vorbehalt des Gesetzes für Entschädigungs- und Ausgleichspflicht durch den Naßauskiesungsbeschluß bestätigt und hervorgehoben wurde. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers ist nicht so groß, wie es nach dem Naßauskiesungsbeschluß scheint. Will der Gesetzgeber verhindern, daß Gerichte Maßnahmen des Naturschutzes wegen fehlender oder unzulänglicher Entschädigungsregelungen als rechtswidrig beurteilen, so muß er Entschädigungsund Ausgleichsregelungen vorsehen, die den gerichtlichen Beurteilungsmaßstäben standhalten und er muß sich folglich an diesen orientieren. Deshalb ist der Beitrag der Gesetzgebung zur Antwort auf die Frage, wann naturschutzrechtliche Beschränkungen der landwirtschaftlichen Bodennutzung entschädigungspflichtig und wann sie entschädigungslos vom Eigentümer hinzunehmen sind, stets dem der Rechtsprechung nachgeordnet. Dies gilt unterschiedslos für die Phase vor dem Naßauskiesungsbeschluß und für die Zeit danach. Das 1976 erlassene Bundesnaturschutzgesetz beschränkt sich auf den Hinweis, daß die Länder bei der Ausführung des Rahmengesetzes auch „geeignete Entschädigungsregelungen" erlassen sollen (§ 4). Der Beitrag der Landesgesetzgebung erschöpfte sich in „salvatorischen Klauseln", die bei Maßnahmen mit „enteignender Wirkung" Entschädigung vorsahen. Auch heute noch sind diese salvatorischen Klauseln in der Landesgesetzgebung vorherrschend. Erst mit § 7 des Landschaftsgesetzes von Nordrhein-Westfalen in der Fassung vom 15.8. 199421 tritt ein neuer Typ von landesgesetzlicher Entschädigungsregelung in Erscheinung. Auch bei diesem handelt es sich allerdings nicht darum, daß der Gesetzgeber es unternimmt, „eigenständig" die anstehenden Fragen zu regeln, sondern der Gesetzgeber ist bestrebt, die Abgrenzung der gebotenen Entschädigungs- oder Ausgleichspflicht aus der jüngsten Rechtsprechung des BGH 2 2 zu übernehmen.

3. Die drei anerkannten Grundsätze zur Bestimmung und Begrenzung der Entschädigungs- und Ausgleichspflicht Die BGH-Rechtsprechung der 50er bis 70er Jahre hat die maßgebliche Frage so gestellt, daß zwischen entschädigungslos hinzunehmender Sozialbindung des Eigentums und entschädigungspflichtiger Enteignung abzugrenzen sei. Nachdem 20 BVerfGE 58, 300. 21 GV NW 1994, 710. 22 BGHZ 121, 328.

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der Naßauskiesungsbeschluß des BVerfG zu einer Art Reformalisierung des Enteignungsbegriffes unter Hervorhebung des Gesetzesvorbehaltes für die Enteignungsentschädigung geführt hatte, hat die Rechtsprechung der späten 80er und der 90er Jahre die Zone der „entschädigungspflichtigen Enteignung" aufgeteilt auf „Enteignung" und „ausgleichspflichtige Eigentumsinhaltsbestimmung". Genau genommen, hat sie im Endergebnis solche Eigentumseingriffe, die nach bisherigen Abgrenzungsgrundsätzen eine „entschädigungspflichtige Enteignung" darstellten, zur Gänze überführt in die „ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung"23. Es ist also angezeigt, die gesamte Entwicklung der Rechtsprechung in ihren Grundzügen in den Blick zu nehmen. Es ist nicht allein die Entscheidungspraxis relevant, die unter der seit dem Naßauskiesungsbeschluß entstandenen neuen Begrifflichkeit von „Enteignung" und „ausgleichspflichtiger Eigentumsinhaltsbestimmung" entstanden ist. Die Mehrzahl der Entscheidungen betraf bisher Beschränkungen und Verbote des Abbaus von Bodenbestandteilen - Sand24, Kies 25 , Kalk 2 6 , Gips 27 , Lava 28 . Beschränkungen der landwirtschaftlichen Bodennutzung sind unter dem Gesichtspunkt der durch Art. 14 GG gebotenen Entschädigung bzw. des Ausgleichs bisher in der Rechtsprechung kaum ausgewiesen, obwohl sie in der Naturschutzpraxis zunehmende Bedeutung haben. Wann also lösen nach Ansicht der Rechtsprechung naturschutzrechtliche Beschränkungen der landwirtschaftlichen - und sonstigen - Bodennutzung eine Pflicht zur Entschädigung oder zur Gewährung eines Ausgleichs aus, und wann sind sie entschädigungslos hinzunehmen? Die Antwort darauf läßt sich in drei Grundsätzen zusammenfassen: 1. Naturschutzrechtliche Beschränkungen der Bodennutzung stellen in der Regel eine Konkretisierung der sozialen Gebundenheit des Eigentums dar und sind entschädigungslos hinzunehmen. 2. Es besteht jedoch Bestandsschutz bereits ausgeübter Nutzungen. 3. Auch Nutzungsmöglichkeiten, die sich nach Lage und Beschaffenheit des Grundstückes objektiv anbieten, sind gegen entschädigungslose Untersagung oder wesentliche Einschränkung geschützt. Diese Grundsätze sind gesicherter Bestand der Rechtsprechung zum Eigentumsschutz. Sie liegen bereits dem „Gipsbruch"-Urteil des BGH vom 16. 3. 1959 29 zugrunde. Die weitere Entwicklung hat allerdings gezeigt, daß nur die Grundregel, 23 StRspr.; BGHZ 123, 242; 126, 379; BGH, Urt. v. 19. 9. 1996, DVB1. 1997, 45 = NJW 1997, 388 = MDR 1997,47 = L M Art. 14 (Ca) GrundG Nr. 43. 24 BGHZ 77, 351; 90, 17; BGH, Urt. v. 16. 7. 1993, DVB1. 1993, 1092 = NJW 1993, 2805 = NuR 1993, 500 = UPR 1993, 378 = L M Art. 14 (Ba) GrundG Nr. 83. 25 BGHZ 77, 351; 90, 4; BVerfG (1. Kammer d. 1. Sen.), Beschl. v. 10. 10. 1997, NJW 1998, 367 = L M Art. 14 (Ba) GrundG Nr. 84 b. 26 BGHZ 126, 379. 27 BGH, Urt. v. 16. 3. 1959, DÖV 1959, 750 = BB 1959, 507 = MDR 1959, 558 = L M Art. 14 (Cb) GrundG Nr. 5. 28 BGH, Urt. v. 17. 2. 1977, NJW 1977, 945; BVerwG, Urt. v. 14. 11. 1975, BVerwGE 49, 365 = NJW 1976, 765 = DVB1. 1976, 211 = DÖV 1976, 204. 29 S. Fn. 27.

Entschädigung für naturschutzbedingte Beschränkungen der Landwirtschaft

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nach der die naturschutzrechtlichen Nutzungsbeschränkungen eine entschädigungslos hinzunehmende Konkretisierung der sozialen Gebundenheit des Eigentums darstellen, völlig eindeutig ist. Dagegen ist der Bestandsschutz, zumal derjenige der sich anbietenden Nutzungsmöglichkeiten, stets prekär und in der heutigen Praxis auf eine Verhältnismäßigkeits- und Zumutbarkeitsprüfung zurückgeführt 30. Unter den Prämissen, die sich aus der Realität naturschutzrechtlicher Eingriffe nach dem Stand des Jahres 1959 ergaben, war mit den Grundregeln der entschädigungslos hinzunehmenden Eigentumsbindung einerseits und des Bestandsschutzes andererseits, der die bestehende Nutzung sowie die sich aufdrängende oder anbietende Nutzungsmöglichkeit erfaßte, ein offensichtlich befriedigendes Gleichgewicht erreicht. Unter den Bedingungen der Gegenwart bedeuten die gleichen Grundsätze aber etwas völlig anderes. Obwohl die naturschutzrechtlichen Beschränkungen der landwirtschaftlichen Nutzung außerordentlich zunehmen, verschwinden die verfassungsrechtlich begründeten Entschädigungs- und Ausgleichsansprüche mehr und mehr aus der Rechtswirklichkeit. Rechtsprechungsübersichten 31 erweisen sich bei Lichte besehen als Sammlungen erfolgloser Klagen. Es gibt nach dem treffenden Urteil eines Kenners 32 für die Landwirte immer mehr zu dulden und immer weniger zu liquidieren.

4. Bedeutungswandel und veränderte Konsequenzen der Grundsätze zur Entschädigungs- und Ausgleichserforderlichkeit unter den Bedingungen der Gegenwart Was die Regel von der entschädigungslosen Hinnahme naturschutzrechtlicher Eigentumsbeschränkungen bedeutete, als sie aufgestellt wurde, läßt sich am „Buchendom"-Urteil von 195733 erkennen. Was sie heute bedeutet, muß angesichts der progressiven Vielfalt heutiger naturschutzrechtlicher Eigentumsbeschränkungen beurteilt werden. Mit dem Verbot, die unter Naturdenkmalschutz stehende Baumgruppe des Buchendoms zu fällen, wurde die Pflicht auferlegt, „eine unter den zahlreichen denkbaren, aus dem Eigentumsbereich fließenden Einzelbefugnissen zur Nutzung zu unterlassen". Dem Eigentümer verbleibt die Fülle der Nutzungsmöglichkeiten; nur eine wird ihm genommen, und deshalb ist er nicht „enteignet". Das Verhältnis zwischen Eigentümerbefugnissen und Nutzungsbeschränkungen hat sich heute nicht nur verändert, es hat sich, verglichen mit dem Modell der „Buchendom"-Entscheidung, häufig geradezu umgekehrt. Naturschutzrecht30 Vgl. Karl Nüßgens/Karlheinz Boujong, Eigentum, Sozialbindung, Enteignung, 1987, S. 97 f. 31 Otto Kimminich, in: Bonner Komm. GG, Lfg. Sept. 1992, Art. 14 Rdnr. 276 - 290; Rüdiger Breuer, Naturschutz, Eigentum und Entschädigung, NuR 1995, 537. 32

Hans-Joachim Hötzel, Eigentum und Agrarumweltrecht, in: AgrarR 1994, Beil. I I S. 9. BGH, Urt. v. 25. 3. 1957, DVB1. 1957, 861 = DÖV 1957, 669 = VRspr. 9, 467 = L M Art. 14 GG Nr. 60. 33

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liehe Beschränkungen, wie sie heute in Naturschutzgebieten und im Zuge der Schaffung von Biotopverbundsystemen34 vorkommen, aber vermehrt bereits auch in Landschaftsschutzgebieten, kennen nicht nur Auflagen, die die derzeitige Nutzung festschreiben und Nutzungsänderungen verbieten (Verbot des Grünlandumbruchs, Entwässerungsverbot, Erstaufforstungsverbot, Verbot der Beseitigung von Hecken und Feldgehölzen, Verbot des Abbaus oder Aufbringens von Bodensubstanz, Verbot der Errichtung baulicher Anlagen wie Schuppen, Silos, Zäune, Wege), sondern auch Verbote, die eine Beschränkung der bisherigen landwirtschaftlichen Nutzung bewirken (totale oder auf bestimmte Jahreszeiten bezogene Nutzungsverböte, Begrenzungen der Viehbestandsdichte, Verbote der Düngung)35. Die Realität heutiger naturschutzrechtlicher Beschränkungen landwirtschaftlicher Bodennutzung wirft daher die Frage auf, ob die Voraussetzungen noch gegeben sind, unter denen die Regel von der entschädigungslosen Hinnahme naturschutzrechtlicher Bindungen steht. Daran muß sich die Frage anschließen, wie es um den Bestandsschutz ausgeübter Nutzung und sich anbietender Nutzungsmöglichkeiten bestellt ist. Der BGH 3 6 bringt diesen heute in einer weichen Formulierung zum Ausdruck, nach welcher für die Grenzziehung zwischen den entschädigungslos oder nur gegen Entschädigung oder Ausgleich möglichen naturschutzrechtlichen Nutzungsbeschränkungen „in der Regel die bisherige Nutzung und die in der Vergangenheit schon verwirklichte Benutzungsart sowie insbesondere der Umstand von Bedeutung (sind), ob eine zulässige Nutzungsmöglichkeit, die sich nach Lage und Beschaffenheit des Grundstücks objektiv anbietet, untersagt oder wesentlich eingeschränkt worden ist." Bisherige Nutzung und sich anbietende Nutzungsmöglichkeit sind also „von Bedeutung" - aber welche Bedeutung haben sie im Ergebnis? Die „weiche" Bestandsschutz-Formel ist eine Konsequenz der Eigentums-Dogmatik des Naßauskiesungsbeschlusses. In diesem hatte das BVerfG 37 hervorgehoben, daß im Zuge von Eigentumsinhaltsbestimmungen auch vorhandene individuelle Rechtspositionen „umgestaltet" werden können, wenn Gründe des Gemeinwohls vorliegen, die den Vorrang vor dem „berechtigten - durch die Bestandsgarantie gesicherten - Vertrauen auf den Fortbestand eines wohlerworbenen Rechtes verdienen". Dieser Eingriff in den Bestand von Rechten könne, so der Naßauskiesungsbeschluß, ohne Entschädigung vonstatten gehen; es genüge eine 34

Manfred Fischer, Die Anpassung des Naturschutzrechts..dargelegt anhand des Konzeptes des Biotopverbundsystems, Diss. Bonn, 1991; Jedicke, Biotop verbünd, 1994; Rajfael Knauber, Auswirkungen der Schaffung eines Biotopverbundsystems auf die moderne Landwirtschaft, UPR 1986, 9; Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Sondergutachten, a. a. O. (Fn. 9), Tz. 1207 ff.; Armin Peter, Grundeigentum und Naturschutz, 1993, S. 12 ff. 35 Hartmut Hoppenworth, Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen für naturschutzbedingte Beschränkungen der Landwirtschaft, Diss. Göttingen 1991, S. 43 ff. 3 6 BGHZ 121, 328 = DVB1. 1993, 1085 (1087) m.w.N.; BGHZ 126, 379 = DVB1. 1995, 104 (106) m.w.N. Ebenso BVerwGE 67, 84; 84, 361 (371); 94, 1. 37 BVerfGE 83, 201 (213).

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angemessene und zumutbare Überleitungsregelung. In der späteren Entscheidung zum bergrechtlichen Vorkaufsrecht wird auch die entschädigungs- und übergangslose „Umgestaltung oder Beseitigung eines Rechtes" für möglich angesehen. Die Rechtsprechung zu naturschutzrechtlichen Eingriffen hat diesen Ansatz aufgegriffen 38 . Ein Kammerbeschluß des BVerfG 39 hat ihn nachdrücklich im Sinne der entschädigungslosen Beschränkung der Eigentümerbefugnisse hinsichtlich der vor dem Erlaß der Landschaftsschutzverordnung möglichen Kiesausbeute bestätigt: Der Eigentümerin sei das Abbauverbot im Hinblick auf den hohen Rang der betroffenen Gemeinwohlbelange entschädigungslos zuzumuten. Die Aufweichung des Bestandsschutzes, seine Zurücknahme auf eine Verhältnismäßigkeits- und Zumutbarkeitsprüfung, stellt zweifellos eine ernste Gefahr für den Eigentumsschutz dar. Die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit würden, wenn der Weg der Aufweichung des Bestandsschutzes weiter beschritten würde, ihrerseits einem Funktionswandel unterliegen. Statt den grundrechtlichen Eigentumsschutz zu verstärken, würden sie ihn substituieren. Noch scheint es denkbar, daß diese Fehlentwicklung angehalten wird. Dazu ist vor allem erforderlich, daß die Rechtsprechung an den von ihr entwickelten, ein halbes Jahrhundert bewährten Grundsätzen der Abgrenzung von entschädigungslos hinzunehmender Sozialbindung und entschädigungspflichtigem Eigentumseingriff festhält. Es ist verfassungsrechtlich unerläßlich, daß der Bestandsschutz erhalten bleibt und nicht auf eine Zumutbarkeitsprüfung reduziert wird. Selbst ein „intakter" Bestandsschutz birgt noch Risiken der Fehlbeurteilung, soweit es sich um die Kategorie der noch nicht ausgenutzten, „sich anbietenden" Nutzungsmöglichkeiten handelt. Diese stehen notwendig in einem Konflikt mit denjenigen Anforderungen des Naturschutzes, die auf eine Nutzungsregelung in der entgegengesetzten Richtung zielen. Wo sich für die eine Seite die gewerbliche Nutzung eines aufgegebenen Steinbruches „anbietet", sieht der Naturschutz ein Sekundärbiotop mit Halbtrockengräsern. Man darf hier Folgendes nicht übersehen: Die den Nutzungsabsichten des Eigentümers entgegengesetzten Interessen des Naturschutzes setzen sich in diesem Konflikt durch. Andernfalls käme es nicht zu der Nutzungsbeschränkung und würde sich die Frage der Ausgleichspflicht gar nicht stellen. Der „Vorrang" der Naturschutzbelange ist also Voraussetzung dafür, daß sich die Frage von Ausgleich oder Entschädigung überhaupt stellt. Es ist infolgedessen ein Fehlschluß, diesen „Vorrang" bzw. die Höherwertigkeit der Naturschutzinteressen als Argument dafür zu verwenden, daß sich die Nutzungsabsichten des Eigentümers nicht „anbieten". So scheint es nützlich, sich auch heute an einem Rechtsprechungs-Klassiker wie dem Gipsbruch-Urteil 40 zu orientieren. Durch den Landschaftsschutz war der über Tage mögliche Abbau eines bisher nicht abgebauten Gipsvorkommens verboten worden. Der BGH gewährte Entschädigung, weil 38 Eingehend: BVerwGE 94, 1 (5 f.). 39 A.a. O. (Fn. 25). 40 BGH, Urt. v. 16. 3. 1959, a. a. O. (Fn. 15).

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dem Betrieb des Klägers dieser Abbau bisher gestattet und jederzeit möglich war. Die Schutzwürdigkeit des Landschaftsteils wurde der Absicht des Gipsabbaus und damit dem Entschädigungsanspruch keineswegs entgegengehalten.

5. Verfassungsschutz des Bodeneigentums nur gegen unverhältnismäßige Eingriffe in das Betriebseigentum? Der Anwendungsbereich der verfassungsgebotenen Ausgleichsleistungen wird weiter eingeschränkt, indem die Entschädigungsregelungen der Landesnaturschutzgesetze die Ausgleichspflicht wegen „ausgleichspflichtiger Inhaltsbestimmung" - und das entspricht in der Begriffswelt vor dem Naßauskiesungsbeschluß der Enteignungsentschädigung - davon abhängig machen, daß „die Betriebe oder sonstigen wirtschaftlichen Einheiten, zu denen die Grundstücke gehören, unverhältnismäßig beeinträchtigt werden". Es reicht dann zur Begründung des Ausgleichsanspruchs nicht mehr aus, daß bisher ausgeübte Grundstücksnutzungen aufgegeben werden müssen oder unzumutbar eingeschränkt oder erschwert werden. Es reicht auch nicht aus, daß Aufwendungen für Investitionen wertlos gemacht werden. Hinzutreten muß die unverhältnismäßige Beeinträchtigung des landwirtschaftlichen Betriebs. Dies bedeutet, daß das landwirtschaftliche Bodeneigentum Eigentumsschutz nur nach Maßgabe des landwirtschaftlichen Betriebseigentums erhält. Dem Bodeneigentum wird der verfassungsrechtliche Schutz versagt. Jedenfalls erhält es als solches keinen verfassungsrechtlichen Schutz mehr gegen naturschutzrechtliche Beschränkungen, mögen diese auch eindeutig und „unzumutbar" in den Bestandsschutz ausgeübter Nutzungen und in Investitionen eingreifen. Als Schutzobjekt wird nur der „eingerichtete und ausgeübte Gewerbetrieb" ins Auge gefasst. Dessen Schutz ist freilich nicht ein solcher, der zum Eigentumsschutz des Bodeneigentums hinzutritt (wie man in der bisherigen Diskussion um den Eigentumsschutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbetriebs immer geglaubt hat), sondern er relativiert und verdrängt den Schutz des Bodeneigentums. Diese bedenkliche Entwicklung ist in vollem Gange. In der Gesetzgebung am eindeutigsten in diesem Sinne ist § 7 Abs. 3 Landschaftsgesetz NW von 199441. Sachsen (§ 38 Abs. 3 SächsNatschG), Niedersachsen (§ 50 Abs. 2 NNatSchG) und Thüringen (§ 49 Abs. 2 ThürNatSchG) haben die gleichen Bestimmungen wie NordrheinWestfalen, unterschieden nur dadurch, daß sie die genannten Voraussetzungen des Ausgleichsanspruchs durch ein „insbesondere" für andere Anwendungsfälle des Ausgleichsanspruches offen halten. Es muß wohl damit gerechnet werden, daß auch die Rechtsprechung diese Linie, das landwirtschaftliche Bodeneigentum nur gegen unverhältnismäßige Eingriffe in den landwirtschaftlichen Betrieb zu schützen, mitmachen wird. Eine jüngere Entscheidung des BGH 4 2 zu Art. 19 Abs. 3 WHG scheint dies zu bestätigen. Auch der Bundesgesetzgeber schlägt diese Richen S. Fn. 21. 42 DVB1. 1997,45 = NJW 1997, 388 = MDR 1997,47 = L M Art. 14 (Ca) GrundG Nr. 43.

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tung ein, wie die Vorgänge um die verspätete Umsetzung der sog. FFH-Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft 43 in das deutsche Naturschutzrecht illustrieren können. Die Umsetzung gelang dem deutschen Gesetzgeber mit dem 2. Änderungsgesetz zum BNatSchG vom 30. 4. 1998 (§§ 19 a ff. BNatSchG 1998) nur um den politischen Preis, daß eine gesetzliche Regelung über Ausgleichsleistungen an Landwirte für naturschutzrechtliche Beschränkungen, die über die „gute fachliche Praxis" der Land- und Forstwirtschaft hinausgehen, wegen der Meinungsverschiedenheiten zwischen Koalition und Opposition und zwischen Bund und Ländern nicht zustande kam. Der Bundestag holte die gesetzliche Regelung von Ausgleichsleistungen aber mit dem ohne Zustimmung des Bundesrates44 beschlossenen 3. Änderungsgesetz zum BNatSchG vom 26. 8. 199845 nach. Die rahmenrechtliche Bestimmung legt einen Rechtsanspruch der Landwirte auf den Ausgleich fest. Sie legt aber nicht dessen Höhe fest, sondern überläßt diese Regelung und vor allem die Finanzierung den Ländern. Welchen juristischen Stellenwert hat diese Ausgleichsleistung für die aufgrund des Naturschutzrechtes festgesetzten „standortbedingt erhöhten Anforderungen", „die die ausgeübte land-, forst- und fischereiwirtschaftliche Bodennutzung über die Anforderungen der guten fachlichen Praxis hinaus beschränken"? Ist der Ausgleich - bei dem es sich um einen nicht an das Kriterium der unverhältnismäßigen Beeinträchtigung des landwirtschaftlichen Betriebes gebundenen Ausgleich handelt - verfassungsgeboten? Nach Auffassung der FDP-Politiker Edzard Schmidt-Jortzig und Ulrich Heinrichwar dies prinzipiell der Fall. Allerdings schränkten sie ein, daß nicht alle derartigen Anforderungen den Landwirten auszugleichen seien; die Last dürfe den Land- und Forstwirten nicht allein aufgebürdet werden. Völlig eindeutig äußerte sich der damalige Staatssekretär im Bundesumweltministerium Erhard Jauck 47 zu der mit der 3. Naturschutznovelle beschlossenen Ausgleichsregelung: Es handele sich nicht um einen verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich von Eigentumsbeschränkungen, sondern um eine Ausgleichsregelung, die Beschränkungen betreffe, die im Rahmen der Sozialpflichtigkeit des Eigentums liegen und verfassungsrechtlich ohne Ausgleich hingenommen werden müssen. Der Ausgleich sei Ausdruck eines Billigkeitsgedankens. Richtig ist, daß der Ausgleich nach § 3 b BNatSchG den Raum unterhalb der Schwelle der verfassungsrechtlich gebotenen Entschädigungs- oder Ausgleichs43 Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. 5. 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen (ABl. EG Nr. L 206). 44 Der Bundesrat sah das Gesetz als ein zustimmungsbedürftiges Geldleistungsgesetz an (Art. 104 a Abs. 3 S. 3 GG). Sofern dies zutrifft, ist das Gesetz verfassungswidrig und nichtig, weil die Zustimmung des Bundesrates nicht erteilt wurde. 45 BGBl. 1,2481. 46 Naturschutz und Eigentum. Das Grundgesetz gebietet Ausgleichszahlungen bei Nutzungsbeschränkungen, in: FAZ v. 24. 3. 1998, S. 10. 47 Das Dritte Gesetz zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes, in: Umwelt Nr. 9/ 1998, S. 409.

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pflicht abdecken soll. Dies folgt auch aus der ausdrücklichen Klarstellung in dem letzten Halbsatz des § 3 b Abs. 1 BNatSchG. Zugleich bedeutet aber § 3 b BNatSchG eine Art Eingeständnis des Bundesgesetzgebers, daß die in sämtlichen Landesnaturschutzgesetzen vorhandenen Regelungen über den verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich von unverhältnismäßigen Eigentumsbeschränkungen den Sachverhalt nicht ausreichend erfassen, der in § 3 b BNatSchG geregelt wird, nämlich den naturschutzrechtlichen Eingriff in den Bestand ausgeübter landwirtschaftlicher Nutzungen. Wir beschränken uns an dieser Stelle darauf, daran zu erinnern, daß Grundeigentum und Betriebseigentum je eigenständig als Eigentum geschützte Rechtspositionen sind 48 . Daher reicht es nicht aus, das Grundeigentum nur nach Maßgabe des Betriebseigentums gegen unverhältnismäßige Eingriffe zu schützen. An der Realität ändern diese Einwände freilich nichts. Die Realität sieht so aus, daß es den verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich bzw. die Entschädigung wegen unverhältnismäßiger naturschutzrechtlicher Beschränkungen der landwirtschaftlichen Bodennutzung, trotz der ständigen Zunahme dieser Beschränkungen, in der Praxis kaum noch gibt. Eine Umfrage des Verfassers bei den zuständigen Landesministerien hat dies bestätigt. Die Ursache dafür ist aber nur zum Teil die allmähliche Höherlegung der Meßlatte für verfassungsrechtlich gebotene Entschädigung. Die Hauptursache - die ihrerseits mit der eben genannten Ursache in einem inhaltlichen Zusammenhang zu sehen ist - besteht darin, daß es der Politik zunehmend gelungen ist, öffentliche Finanzmittel in die Agrarumweltpolitik umzulenken und an die Stelle des verfassungsgebotenen Ausgleichs die Umweltsubvention in Form der Zuwendung und das Vertragsentgelt im Rahmen des Vertragsnaturschutzes treten zu lassen. Darauf ist abschließend noch einzugehen.

I I I . Überwindung des Antagonismus von landwirtschaftlichem Bodeneigentum und naturschutzrechtlichen Beschränkungen? Den eigentumsrechtlichen Imperativ „Dulde und liquidiere" ersetzen die zahlreichen Kulturlandschafts-, Landespflege- und Vertragsnaturschutzprogramme 49 der Länder durch ihr verlockendes „Mach mit und liquidiere!". Der Vertragsnatur48

Exemplarisch: Leisner, in: Isensee/Kirchhof, a. a. O. (Fn. 1), Rdnr. 102 ff. 9 Z. B.: Landschaftspflegerichtlinie BW v. 18. 12. 1990 (GABI. 1991 S. 145) und 1. 9. 1997 (GABI. S. 564); Bayer. Vertragsnaturschutzprogramm v. 7. 4. 1995 i.d.F. v. 1. 4. 1997; Programme des Vertragsnaturschutzes in Brandenburg (Mitteleinsatz 1996 18 Mio. DM, 1997 15,8 Mio. DM); Hessisches Kulturlandschaftsprogramm und Hessisches Landschaftspflegeprogramm; Richtlinien für Ausgleichsleistungen im Rahmen des Vertragsnaturschutzes MV; nds. VO über den Erschwernisausgleich und den Vertragsnaturschutz in geschützten Teilen von Natur und Landschaft v. 10. 7. 1997 (GVB1. S. 344); Programm „Vertrags-Naturschutz mit der Landwirtschaft" des schl.h. Umweltministeriums; Verwaltungsvorschrift Vertragsnaturschutz-Programm L des sächs. Umweltministeriums v. 15. 5. 1995 (ABl. Nr. 28/1995). 4

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schütz hat in die Landesnaturschutzgesetze Eingang gefunden. Mit § 3 a BNatSchG 1998 hat das Rahmenrecht des Bundes nachgezogen. Als Vertragspartner kooperiert der Landwirt mit der unteren Naturschutzbehörde. Er verpflichtet sich zu Bewirtschaftung und Pflege bestimmter Grundstücke nach den vertraglich vereinbarten Vorgaben der unteren Naturschutzbehörde. Damit verpflichtet er sich zugleich zur Unterlassung abweichender Nutzung. Demgemäß erfüllt das vereinbarte Vertragsentgelt die doppelte Funktion, Dienstleistungen des Landwirts als Landschaftspfleger zu honorieren und Nutzungsbeschränkungen zu kompensieren. Die Pflege- und Bewirtschaftungsmaßnahmen werden aus einem umfangreichen Katalog ausgewählt, der beispielsweise in der Kategorie der „Nicht biotopspezifischen Maßnahmen" u. a. Verzicht auf Gülleausbringung, Verzicht auf jegliche Düngung und chemischen Pflanzenschutz, Umwandlung von Ackerland in Grünland, in der Kategorie „Biotoppflege und -entwicklung" u. a. die extensive Weidenutzung oder den Erhalt und die Entwicklung von Streuobstwiesen umfaßt. Der Vertragsnaturschutz 50 bietet den Vorteil, die mühsame Suche nach den verfassungsrechtlichen Grenzen des Gebotenseins eines Ausgleichs entbehrlich zu machen und nicht vom ungewissen Ausgang dieses Bemühens abhängig zu sein. Wird ein Vertragsentgelt gezahlt, so stellt sich nicht mehr die Frage, ob auch ohne den Vertrag eine Zahlungspflicht der öffentlichen Hand geboten wäre. Die Grenzen zwischen entschädigungslos hinzunehmender und nur gegen Ausgleich auflegbarer Beschränkung des Eigentums werden verwischt. Denselben Effekt haben auch Umweltschutzsubventionen, die an Landwirte mit einem unter Umweltauflagen erteilten Zuwendungsbescheid gezahlt werden. Die im Vertragsnaturschutz verwirklichte Kooperation zwischen Landwirtschaft und Naturschutzbehörden ist ein bedeutender Gewinn, wenngleich er seinen Preis hat. Der Landwirt, dem auferlegt wird, seine Bewirtschaftung nach „guter fachlicher Praxis" zu Gunsten der Anforderungen der Naturschutzbehörde aufzugeben oder einzuschränken, wechselt vom freiverantwortlichen Eigentümer und Unternehmer in die Position eines Verwaltungshelfers der Naturschutzbehörde. Der Vertragsnaturschutz und die Umweltschutzzuwendungen an Landwirte werden aber nach aller Voraussicht das Problem des verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleichs naturschutzbedingter Beschränkungen der Landwirtschaft nicht obsolet werden lassen. Die maßgebliche Determinante der Wirksamkeit des Vertragsnaturschutzes sind die öffentlichen Finanzen. Ohne befriedigende Vertragsentgelte haben die Landwirte keinen Anlaß, sich zum Abschluß von Verträgen über Bewirtschaftung und Pflege bereitzufinden. Die Länder haben heute ihre Vertragsnaturschutzprogramme durchweg als Ausführungsmaßnahmen zur VO Nr. 2078/92 des Rates der EG vom 30. 6. 199251 über umweltgerechte und den natürlichen Lebens50 Vgl. Di Fabio, DVB1. 1990, 338; Fritz, UPR 1997, 439; Gellermann/Middeke, NuR 1991, 457; Rengeling / Gellermann, ZG 1991, 317; Riese, Subventionen, Entschädigungen und Entgelte für Naturschutzmaßnahmen der Landwirtschaft, 1997, S. 91 ff. 51 ABl. EG L 218.

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räum schützende landwirtschaftliche Produktionsverfahren konzipiert. Damit erreichen sie die Kofinanzierung der Maßnahmen aus Mitteln der EG, in der Regel zu 50%, in den „besonders benachteiligten Regionen" zu 75%. Die VO Nr. 2078/92 des Rates der EG ist eine „flankierende Maßnahme" der 1992 eingeführten Reform der EG-Agrarpolitik. Sie hat eine von der traditionellen Agrarstrukturpolitik losgelöste, eigenständige Agrarumwelt-Beihilfenpolitik der Europäischen Gemeinschaft eingeführt. Aber die aus dem Gemeinschaftshaushalt dafür zur Verfügung stehenden Mittel sind plafoniert 52. Der politische Streit um den aus § 3 b BNatSchG 1998 entstehenden Finanzierungsbedarf, der im Gesetzgebungsverfahren zur 3. Novelle zum BNatSchG ausgetragen wurde, läßt erkennen, daß das Angebot des Vertragsnaturschutzes an finanzielle Grenzen der öffentlichen Haushalte stoßen kann. Es ist aber auch von Seiten der Landwirtschaft nicht möglich, den landwirtschaftlichen Boden unbegrenzt in den Vertragsnaturschutz zu überführen, wenn die Produktionsfunktion der Landwirtschaft unter den Bedingungen der Agrarmärkte aufrechterhalten werden soll. Daher wird trotz der bedeutenden Erfolge einer Landwirtschaft und Umweltschutz harmonisierenden Kooperationspolitik weiter ein vom Verfassungsschutz des Eigentums herrührendes Problem der umweltrechtlichen Beschränkungen des Eigentums und der eigentumsrechtlichen Schranken solcher Beschränkungen bestehen.

52 1993 bis 1997 5,972 Mrd. ECU, davon für Deutschland 1,893 Mrd. ECU.

Alterssicherung und Eigentumsschutz Von Hans-Jürgen Papier

I. Vorbemerkung »„Sein4 und »Haben4 sind die Grundworte unserer Sprache. ,Sein4 wird durch »Freiheit4 geschützt - sichert »Eigentum' das Haben?" fragte Leisner 1 einmal grundlegend. Erstreckte man den Schutz des „Habens" auch auf die verfassungsrechtliche Absicherung eines bestehenden staatlichen Leistungssystems und -niveaus, könnte dies, worauf Zacher 1 hinwies, dem „Aberglauben" normativer Verfügbarkeit von Geld entspringen. Auch sei zu bedenken, daß alle anderen Elemente der Alterssicherung im Vergleich zur Härte der Eigentumsgarantie weichen und ungewissen Verfassungssätzen wie dem Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip anvertraut blieben; man werde einräumen müssen, wie erratisch dieser Vorrang der Besitzstände in der Landschaft all der Werte und Zwecke liege, die Alterssicherung zu verfolgen habe.3 Das Bundesverfassungsgericht hat sich von allen Warnungen nicht beeinflussen lassen und in seiner bahnbrechenden Entscheidung vom 28. Februar 19804 den Schutz der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie des Art. 14 GG auf die Versichertenrenten und die Anwartschaften auf Versichertenrenten der gesetzlichen Rentenversicherung erstreckt. In zahlreichen späteren Entscheidungen5 ist an dieser Grundauffassung zur Eigentumsqualität jener öffentlich-rechtlichen Rechtspositionen festgehalten worden, wenngleich die vielfach im Zusammenhang mit 1 Leisner, Eigentum, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, VI, 1989, § 149, Rdnr. 2. 2 Zacher, in: Kübler (Hrsg.), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1985, S. 36. 3 Zacher, Alterssicherung - Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung, in: ders., Abhandlungen zum Sozialrecht, hrsg. v. von Maydell/Eichenhofer, 1993, S. 498 (520). 4 BVerfGE 53, S. 257 (289 ff.). 5 BVerfGE 58, S. 81 (109ff.); 64, S. 87 (97); 69, S. 272 (298ff.); 72, S. 9 (18ff.); 74, S. 203 (213 ff.); 75, S. 78 (96 ff.); BVerfG, DtZ 1997, S. 86 (87 f.). Zu der sehr umfangreichen Literatur siehe etwa Ruland, Die Sparmaßnahmen im Rentenrecht und der Eigentumsschutz von Renten, in: DRV 1997, S. 94 ff.; Reiter, Eigentumsähnlicher Schutz rentenrechtlicher Ansprüche und Anwartschaften, SGb 1996, S. 246 ff.; Papier, Der Einfluß des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht, in: von Maydell / Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch (SRH), 2. Aufl. 1996, A.3., Rdnrn. 40 ff., jeweils m.w.N.

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einem solchen verfassungsrangigen Eigentumsschutz gehegten Erwartungen nicht selten in der gerichtlichen Praxis selbst keine Erfüllung fanden, sondern einer ernüchternden Desillusionierung zugeführt wurden. Beispielhaft sei hier die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 18. April 19966 erwähnt, in der die Bewertung beitragsfreier Zeiten nach dem Rentenreformgesetz 1992 - die sog. Gesamtleistungsbewertung - als mit Art. 14 GG vereinbar angesehen wurde, obgleich die neuen Regelungen den Kläger erheblich belasteten und zu einer Rentenbzw. Anwartschaftskürzung von etwa 40 v.H. führten. Mehr denn je drängt sich heute die Frage auf, was ein verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz von Rentenpositionen, die in einem Umlagesystem finanziert werden, das sich den bekannten Schwierigkeiten, wie der demographischen Entwicklung, den drastischen Verlängerungen der Rentenlaufzeiten, den Arbeitsmarktproblemen und den rentenversicherungssystemfremden Belastungen ausgesetzt sieht, wirklich leisten kann. Die verfassungsrechtliche Beurteilung erfährt überdies eine signifikante Zuspitzung, weil die Eigenfinanzierungsquote der Renten in den letzten Jahrzehnten erheblich angestiegen ist. Während der Eigenanteil nach Berechnungen im Jahre 1980 noch mit rund 20 - 30 v.H. angegeben wurde, 7 ergibt sich nach Ruland8 derzeit eine Eigenfinanzierungsquote für Männer von 83,12 v.H. und für Frauen von 84,58 v.H. und demnächst von 86,58 v.H. für Männer und von 88,11 v.H. für Frauen. „Das künftige Problem der Rentenversicherung wird nicht eine zu niedrige Eigenfinanzierungsquote sein, sondern daß eine von über 100 % vermieden werden muß".9 Während man zu den Zeiten, als die Rentenansprüche und Rentenanwaltschaften zu Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne hochqualifiziert wurden, dies - gemessen an den realen Eigenanteilen der Beitragsleistungen im Verhältnis zu den späteren Rentenzahlungen - noch als gewisse Generosität staatlicher Füllhornentleerung ansehen konnte, werden angesichts der heutigen und künftigen Eigenfinanzierungsquoten und damit Beitragsbelastungen die verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Schutzerwartungen und Schutzforderungen für die solchermaßen selbstfinanzierten Rentenpositionen sehr viel substantieller. Was zu Beginn der 80er Jahre vielleicht noch als Ausdruck guter Verfassungsästhetik, untermauert von einem festen Glauben an immerwährende ökonomische Prosperität, juristisch kreiert sein mochte, ist inzwischen zum verfassungsrechtlichen Ernst- und Spannungsfall größter Dimension geworden.

6 BSGE 78, S. 138 (145). 7 Siehe Schneider, Der verfassungsrechtliche Schutz von Renten der Sozialversicherung, 1981, S. 20 f. 8 Ruland, Die Sparmaßnahmen im Rentenrecht und der Eigentumsschutz von Renten, DRV 1997, S. 94 (100). 9 Ruland, DRV 1997, S. 94 (100).

Alterssicherung und Eigentumsschutz

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II. Differenzierter Eigentumsschutz 1. Beitragsorientierte

Faktoren

Der Eigentumsschutz der Verfassung bezieht sich nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts auf die Rentenposition insgesamt, da diese nicht ausschließlich auf einseitiger staatlicher Gewährung beruhe. Rentenanspruch und Rentenanwartschaft genössen den Schutz des Art. 14 GG im ganzen.10 Die Eigentumsgewährleistung zugunsten des Rentenrechts wird mit anderen Worten nicht als bloßer Bestandsschutz für die jeweils angesparten Beitragsmittel - einschließlich ihrer Verzinsung - verstanden. Das Maß der dem Rentenrecht zugrundeliegenden Eigenleistung soll jedoch für den Grad des Eigentumsschutzes von Bedeutung sein. „Je höher der einem Anspruch zugrundeliegende Anteil eigener Leistung ist, desto stärker tritt der verfassungsrechtlich wesentliche personale Bezug und mit ihm ein tragender Grund des Eigentumsschutzes hervor". 11 Die Folge ist eine gewisse Verschiedenwertigkeit des Eigentumsschutzes sozialrechtlicher Positionen. Insbesondere im Ausfallzeiten-Beschluß vom 7. Juli 198112 betont das Gericht die Notwendigkeit eines abgestuften Eigentumsschutzes. Es gibt danach einen besonders stringenten Eigentumsschutz in den durch Leistungsäquivalenz geprägten Bereichen der Rentenpositionen und einen - gemessen an den Eigenleistungen des Berechtigten - „überschießenden" Eigentumsschutz. In diesem zweiten, weiten Eigentumsbereich verfügt der Gesetzgeber aufgrund des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, der die Gesetzgebung zur Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums ermächtigt, über einen weiten Gestaltungsspielraum. Diese Ermächtigung ist im wesentlichen nur durch die allgemeinen rechtsstaatlichen Regelungsschranken (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Vertrauensschutzprinzip, allgemeiner Gleichheitssatz) begrenzt. Betrifft der gesetzgeberische Eingriff hingegen den durch eigene Leistung bestimmten (leistungsäquivalenten) Kern des Rentenrechts, so bedarf er einer besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Wegen des personalen Bezuges des Anteils eigener Leistung ist der Spielraum des Gesetzgebers hier wesentlich enger. Als legitimierender Eingriffsgrund kommt dann nicht mehr jeder Gemeinwohlbelang in Betracht. 13 In seiner Leitentscheidung vom 28. Februar 1980 14 hat das Bundesverfassungsgericht die Kürzungen von Renten und Rentenanwartschaften durch die Versorgungsausgleichsregelungen als durch Art. 6 GG und Art. 3 Abs. 2 GG legitimiert erachtet. Es hat insoweit also im Grunde nur eine verfassungsunmittelbare Eingriffslegitimation gelten lassen.

10 Siehe etwa BVerfGE 58, S. 81 (109); Papier, in: SRH, Rdnr. 40. 11 BVerfGE 53, S. 257 (292). 12 BVerfGE 58, S. 81 (109 ff.). 13 Siehe auch Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 14 (Stand 1994), Rdnrn. 136 ff.; ders., in: SRH, Rdnr. 41. 14 BVerfGE 53, S. 257 (295 f.). 47 FS Leisner

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Abstufungskriterien innerhalb des Eigentumsschutzes stellen nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts die einzelnen Berechnungselemente oder Berechnungsfaktoren einer Rentenposition dar. Die besonders geschützte Zone des personalen Bezuges erstreckt sich auf diejenigen Berechnungsfaktoren, die sich als lohn- oder beitragsbezogen erweisen, die „durch die persönliche Arbeitsleistung" des Versicherten mitbestimmt werden. 15 Die absolute Eigenfinanzierungsquote ist in diesem Zusammenhang unmaßgeblich.

2. Das Für und Wider einer Heranziehung des Art. 14 GG Für die Einbeziehung sozialversicherungsrechtlicher Positionen in den Eigentumsschutz der Verfassung spricht in der Tat die Funktion des Grundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG: Die Eigentumsgarantie soll dem Grundrechtsträger einen „Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich" sichern und ihm dadurch „eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens" ermöglichen. 16 Sie kann dann aber die heute am meisten vertretenen Formen existentiell-personaler Sicherungen nicht einfach aussparen. Das öffentlich-rechtliche Rentenrecht des einzelnen ist in ganz überwiegendem Maße die ökonomische Basis freiheitlicher Entfaltung geworden. Den Eigentumsschutz der Verfassung hier zu ignorieren, bedeutete - so dessen Befürworter - eine unzeitgemäße und sinnwidrige Verkürzung der grundrechtlichen Gewährleistung. Andererseits erfährt die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG durch eine Erstrekkung auf sozialversicherungsrechtliche Positionen letztlich eine nicht unerhebliche Wandlung. Aus einem Freiheits- oder Abwehrrecht des einzelnen gegen den Staat wird ein Teilhaberecht an staatlicher Leistung,17 dem naturgemäß nur eine geringere Stringenz, Unmittelbarkeit und Verbindlichkeit eigen sein kann. Die sozialstaatliche Grundrechtserweiterung führt zwangsläufig zu einer Anspruchsminderung oder Anspruchsrelativierung; die Ausdehnung des Grundrechtsschutzes in die Breite ist mit einer Abflachung der Gewährleistungstiefe oder Gewährleistungsschärfe verknüpft. Mancherorts hört man die Warnung, mit den Ausweitungstendenzen bei Art. 14 GG werde die Effizienz der Grundrechtsgeltung allgemein aufs Spiel gesetzt.18 Teilhaberechte können dem Gesetzgeber nur Abwägungsdirektiven geben und sie stehen unter dem Vorbehalt des finanziell Möglichen. 19 Anderenfalls schriebe ein grundrechtlicher Eigentumsschutz sozialrechtlicher Positionen die einmal staatlicherseits vorgenommenen Vermögensverteilungen und Vermögenszuteilungen für alle Zeit fest. Aus dem eigentumsrechtlichen Gebot, private Ver15 BVerfGE 58, S. 81 (112 f.). 16 Siehe etwa BVerfGE 24, S. 367 (389); 31, S. 229 (239); 50, S. 290 (339). 17 Siehe Papier, in: SRH, Rdnr. 51 m.w.N. in Fn. 122; ders., in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 129. 18 Vgl. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 129. 19 Vgl. auch BVerfGE 33, S. 303 (333 f.).

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mögenstatbestände und Vermögensverteilungen staatlicherseits zu achten, würde so eine Selbstbindung des sozialrechtlichen Gesetzgebers. Ein wesentlicher Teil der nur begrenzt verfügbaren Finanzmittel des Gemeinwesens würde gebunden, bestehende staatliche Leistungssysteme würden zu Lasten gesetzgeberischer Zukunftsgestaltungen und flexibler Reaktionen auf sich stetig ändernde ökonomische und soziale Gegebenheiten zementiert. Dies wäre ein Verständnis des Art. 14 GG, das mit der Staatszielbestimmung der Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1 GG) und der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG) unvereinbar wäre.

3. Eingriffs-

und Regelungsschranken

Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist - wie bereits angedeutet - diesen Weg nicht gegangen, sondern ist durch erhebliche Relativierungen des Eigentumsschutzes sozialversicherungsrechtlicher Positionen geprägt. Jenseits eines besonders geschützten Eigentumskerns, der durch den personalen Bezug des Anteils eigener Leistungen des Versicherten begründet wird, wird dem Gesetzgeber ein Regelungsspielraum zugebilligt, der letztlich nicht begrenzter ist als derjenige Rahmen, der dem außerhalb der Ergentumsgarantie operierenden Gesetzgeber eröffnet ist. Die Eingriffs- oder Regelungsschranken, die das Bundesverfassungsgericht hier aufstellt, sind im Grunde keine eigentumsspezifischen, sondern die allgemeinen, auch ohne den Eigentumsschutz geltenden, staatlichen Grenzen bzw. Garantien. Gesetzgeberische Eingriffe in die sozialversicherungsrechtlichen Rechtspositionen sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur zulässig, wenn sie „durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt" sind. 20 Gesetzgeberische Eingriffe in sozialversicherungsrechtliche Positionen sind im allgemeinen mit dem Ziel der Stabilisierung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung und damit der Erhaltung der Funktions- und Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems legitimiert worden. Dies sind zweifelsohne Gründe des öffentlichen Interesses.21 Legitimierende Eingriffsgründe sind ferner die Stärkung des Äquivalenzprinzips und damit die Herbeiführung einer größeren Beitragsgerechtigkeit. 22 Dem Gesetzgeber muß schließlich auch ein Prognosespielraum in bezug auf die Eignung und die Erforderlichkeit der von ihm gewählten Eingriffe und Gestaltungen zugebilligt werden. Die verfassungsrechtliche Prüfung im Anwendungsbereich des Art. 14 GG konzentriert sich damit vielfach auf die Wahrung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs im engeren Sinne, also auf seine Angemessenheit und Zumutbarkeit. Der 20 Siehe z. B. BVerfGE 75, S. 78 (97) = SGb 1987, S. 464 (467) m. Anm. Papier. 21 Vgl. auch BVerfGE 53, S. 257 (293); 58, S. 81 (110); 75, S. 78 (98) = SGb 1987, S. 464 (467) m. Anm. Papier. 22 BSGE 78, S. 138(144). 47*

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hohe und anspruchsvolle Ansatz am Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG führt letztendlich zu einer recht bescheidenen Einzelfallprüfung nach den Maßstäben der Zumutbarkeit und Billigkeit. Die großzügige Unterstellung sozialrechtlicher Positionen unter den Schutz des Art. 14 GG ist dann in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch in weiten Bereichen ohne nennenswerte praktische Konsequenz geblieben.

4. Kriterium

der Eigenleistung

Die zutreffende Verknüpfung des Eigentumsschutzes sozialrechtlicher Positionen mit dem Kriterium der Eigenleistung des Berechtigten führt dazu, daß Ansprüche auf Sozialhilfe, Ausbildungsförderung, Kindergeld, Wohngeld, Leistungen der Jugendhilfe und soziale Entschädigung, insbesondere aus der Kriegsopferversorgung, nicht dem Schutz des Art. 14 GG unterfallen. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, daß jene Ansprüche bzw. Positionen z.T. jedenfalls dem Grunde nach durch andere Verfassungsvorschriften und Verfassungsprinzipien gewährleistet sind, z. B. die Ansprüche auf Sozialhilfe durch Art. 1 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Den Eigentumsschutz des Art. 14 GG genießen dagegen die Ansprüche und Anwartschaften der sozialversicherungsrechtlichen Rentenversicherung - zur Hinterbliebenenrente siehe allerdings unten 5. - , die Ansprüche aus der Krankenversicherung, der Unfall- und Arbeitslosenversicherung. Es muß sich indes um Pflichtleistungen handeln. Ermessens- oder Kann-Leistungen beruhen nicht auf eigentumskräftig erstarkten Rechtspositionen.23 Ob die Ansprüche auf Geldleistungen oder auf Vermögenswerte Sach- oder Dienstleistungen gehen, ist für den Eigentumsschutz dagegen belanglos.24 Eigene Vermögenswerte Leistungen des Berechtigten müssen entweder dem verpflichteten Hoheitsträger gegenüber oder doch jedenfalls innerhalb der zur Leistung verpflichteten Solidargemeinschaft erbracht worden sein. Problematisch ist daher, ob sozialrechtliche Positionen, welche die Bundesrepublik in den Regelungen des EinigungsVertrages (s. Anlage 2 Kap. VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr. 9 lit. a und b) sowie in der nachfolgenden Rentenüberleitungsgesetzgebung den aus geschlossenen bzw. noch zu schließenden Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der ehemaligen DDR Berechtigten einräumt, 25 auf eigenen Leistungen dieser Personen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland bzw. den bundesdeutschen Rentenversicherungsträgern oder auch nur auf eigenen Leistungen innerhalb der bundesdeutschen Solidargemeinschaft beruhen. Man könnte anführen, es gehe vielmehr um einseitige bundesgesetzliche Rechtsgewährungen des öffentlichen 23 Krause, Eigentum an subjektiven öffentlichen Rechten, 1982, S. 90; Rüfner, in: Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz sozialer Rechtspositionen, 2. Sozialrechtslehrertagung, Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Bd. XXIII, 1982, S. 172. 24 Rüfner, a.a.O., S. 170. 25

Siehe dazu Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 135.

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Rechts, die demgemäß nicht als Eigentum i.S. des Art. 14 GG qualifiziert werden können.26 Diese Auffassung entspräche auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Ansprüchen nach dem Fremdrentengesetz. So heißt es in der Entscheidung vom 23. Juni 1970:27 „Die vom Fremdrentengesetz Betroffenen haben gegen den Versicherungsträger in der Bundesrepublik erst durch das Fremdrentengesetz ... einen Vermögenswerten Anspruch erhalten. Dieses neue Recht kann keinen ,größeren4 Inhalt haben als das Gesetz selbst bestimmt. Da das Gesetz das Recht erst gewährt, das von Art. 14 GG geschützt sein soll, kann es (das Gesetz selbst) den Art. 14 GG nicht verletzt haben". Wesentliche Abgrenzungskriterien innerhalb des Eigentumsschutzes stellen wie bereits erwähnt - die einzelnen Berechnungselemente oder Berechnungsfaktoren einer Rentenposition dar. Die besonders geschützte Zone des personalen Bezuges erstreckt sich auf diejenigen Berechnungsfaktoren, die sich als lohn- bzw. beitragsbezogen erweisen, die mit anderen Worten durch die persönliche Arbeitsleistung des Versicherten mitbestimmt werden. Zu diesem besonders geschützten Kern gehört danach nicht eine bestimmte Leistungshöhe oder Leistungsart. Auch eine bestimmte Rentenformel ist damit nicht gewährleistet. Auf der anderen Seite spielt es für den besonders eigentumsgeschützten Kern keine Rolle, ob der Berechtigte selbst Leistungen erbracht hat. Auch Beitragsleistungen, die Dritte zugunsten eines sozialversicherungsrechtlichen Schutzes des Berechtigten erbracht haben, sind in der Lage, den besonderen Kernbereichsschutz des Art. 14 GG zu begründen. 28 Daher müssen z. B. die Beitragsleistungen der Arbeitgeber den Arbeitnehmern und Versicherten als eigentumsrelevante Eigenleistungen zugerechnet werden. Die durch Beitragsleistungen erworbenen Entgeltpunkte bestimmen in ihrer Summe die Rangstelle und damit den durch die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 GG besonders geschützten Anteil, den der Versicherte nach Eintritt des Versicherungsfalles aus der Umverteilungsmasse der gesetzlichen Rentenversicherung beanspruchen kann. 29 Ausfallzeiten sind dagegen in besonderem Maße dadurch geprägt, daß sie den Versicherten zugerechnet werden, ohne daß diese dafür Beiträge bezahlen.30 Sie beruhen mit anderen Worten überwiegend auf staatlicher Gewährung und sind Ausdruck besonderer staatlicher Fürsorge. Die Eingriffsmöglichkeiten des Gesetzgebers sind hier weitergehend als bei denjenigen rentenrechtlichen Positionen, die durch einen personalen Bezug, d. h. durch die persönliche Arbeitsleistung der Versicherten und insbesondere durch die einkommensbezogenen Beitragsleistungen bestimmt werden.

26 Im Ergebnis ebenso BSG, Urteile vom 5. Dezember 1996 - 4 RA 31/95 und 35/95, SGb 1997, S. 162 f. 27 BVerfGE 29, S. 22 (33f.); vgl. ferner BVerfGE 53, S. 164 (176); 41, S. 126 (150f.). 28 Siehe auch Rüfner, a.a.O., S. 170; Krause, a.a.O., S. 101 ff. 29 Ruland, DRV 1997, S. 94 (103). 30 Siehe BVerfGE 58, S. 81 (112f.).

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5. Insbesondere: die Hinterbliebenenrenten Ob und inwieweit bei den Hinterbliebenenrenten und -anwartschaften ein Eigentumsschutz in Betracht kommt und jene Elemente personalen Anteils von Arbeitsund Beitragsleistung anzutreffen sind, ist vom Bundesverfassungsgericht, das diese Frage bislang offen gelassen hatte,31 kürzlich entschieden worden. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich in dieser Entscheidung mit der im Zuge der Neuordnung der Hinterbliebenenrenten im Jahre 1985 32 eingeführten Anrechnung eigenen Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkommens aus öffentlich-rechtlichen Regel- und Sondersystemen auf die Hinterbliebenenrente zu beschäftigen. Gegen die Verfassungsmäßigkeit solcher Anrechnungsmodelle im Recht der Hinterbliebenenversicherung waren verfassungsrechtliche Bedenken erhoben worden. 33 Unterstellte man Ansprüche von Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Versorgung ihrer Hinterbliebenen dem Eigentumsschutz, so beeinträchtigte die Anrechnung diese Rechtsposition. Der Eingriff beträfe auch den besonders geschützten Kern des Rentenrechts, der durch den personalen Bezug der Eigenleistung des Versicherten geprägt ist. Die Einkommensanrechnung (mit Freibetrag) bewirkt einen Umschlag von der Eigenleistungsorientierung der Rente zur fürsorgerischen Nachrangigkeit und Subsidiarität. Das Bundesverfassungsgericht verneinte in seinem Beschluß vom 18. Februar 1998 34 den Eigentumsschutz für Ansprüche von Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Versorgung ihrer Hinterbliebenen. Es stützte sein ablehnendes Ergebnis zum einen darauf, daß die Hinterbliebenenversorgung dem rentenversicherungspflichtig Beschäftigten nicht als Rechtsposition privatnützig zugeordnet sei, es bleibe vielmehr nur eine Aussicht auf die Leistung, die etwa mit der Auflösung der Ehe oder dem Vorversterben des Partners entfalle. Zum anderen beruhe die Hinterbliebenenversorgung nicht auf einer dem Versicherten zurechenbaren Eigenleistung. Es fehle der hinreichend personale Bezug zwischen der Beitragsleistung des Versicherten und der später an seine Hinterbliebenen geleisteten Rente; es handle sich bei der Hinterbliebenenrente vielmehr um eine primär fürsorgerisch motivierte - weil ohne eigene Beitragsleistung des Rentenempfängers und ohne erhöhte Beitragsleistung des Versicherten gewährte - Leistung.35 Eine differenzierte Betrachtung läßt Zweifel an dieser Argumentation berechtigt erscheinen: Die Aussicht auf die Hinterbliebenenversorgung unterscheidet sich nicht grundlegend von anderen, vom Bundesverfassungsgericht dem Eigentums31 Vgl. BVerfGE 55, S. 114 (131 f.); 69, S. 272 (299). 32 Gesetz zur Neuordnung der Hinterbliebenenrenten sowie zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung vom 11.7. 1985 (BGBl. I S. 1450). 33 Siehe zum Meinungsstand Papier, DRV 1985, S. 272 ff.; Ruland, DRV 1985, S. 278 ff.; Krause, DRV 1985, S. 254 ff. 34 BVerfGE 97, S. 271 ff. 35 BVerfGE 97, S. 271 (284 f.) m. Anm. Ossenbühl, JZ 1998, S. 679 f.

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schütz unterstellten Rentenanwartschaften; stets müssen der Erstarkung zum Vollrecht weitere Ereignisse vorausgehen.36 Ob etwaige Unterschiede in der Festigkeit dieser Aussichten eine unterschiedliche „Konzeption des Gesetzgebers"37 erkennen lassen, die es rechtfertigen würde, der Hinterbliebenenversorgung die Qualität einer privatnützig zugeordneten Rechtsposition abzusprechen, ist zu bezweifeln. Dies wird umso deutlicher, wenn man nicht nur auf den rentenversicherungspflichtig Beschäftigten abstellt, sondern auch auf den Hinterbliebenen. Dann nämlich drängt sich die Parallele etwa zur Position des aus der gesetzlichen Unfallversicherung Berechtigten auf. Wie beim Hinterbliebenen eines Rentenversicherten fehlt es auch bei diesem an der eigenen Beitragsleistung und ist der Eintritt des spezifischen Leistungsfalles - dessen Wahrscheinlichkeit generell betrachtet wohl zudem als geringer einzustufen ist als etwa die des Vorversterbens des Ehepartners - Voraussetzung für die Erstarkung zum Vollrecht. Dennoch werden - wie oben schon gesagt - die Ansprüche aus der Unfallversicherung dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG unterstellt und die privatnützige Zuordnung dieser Rechtspositionen bejaht. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinweisen, daß der Gesetzgeber des SGB V (Krankenversicherung) gerade Wert darauf legte, daß der Familienversicherte - der gerade keine eigenen Beiträge leistet - einen eigenen, ihm privatnützig zugeordneten Leistungsanspruch erhält, statt wie bisher nur „durch" den versicherungspflichtig Beschäftigten berechtigt zu sein. Auch das weitere Argument regt zum Überdenken an: Das Bundesverfassungsgericht gesteht zu, daß jeder Versicherte über seinen Beitrag zugleich auch zur Versorgung der Hinterbliebenen von Versicherten beitrage. 38 Die Hinterbliebenenrenten sind in der Tat beitragsfinanzierte Versicherungsleistungen. 39 Dann aber muß der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung so kalkuliert sein, daß auch das Risiko der Hinterbliebenenschaft mitabgedeckt ist. 4 0 Umgekehrt sind die vom Versicherten geleisteten Beiträge Berechnungselemente oder -faktoren auch für die Anwartschaften der Hinterbliebenenversicherung und für die Ansprüche der Hinterbliebenen nach Eintritt des Versicherungsfalles, nicht nur solche für die eigene Rente und die Anwartschaft auf die eigene Rente.41 Die Hinterbliebenenrenten enthalten als abgeleitete Leistungen nicht mehr Elemente des sozialen Ausgleichs als die Versichertenrenten auch. Insbesondere sind Zweifel an der Argumentation angebracht, die Hinterbliebenenrente werde ohne eine im Hinblick auf vorhandene unterhaltsberechtigte Angehörige erhöhte Beitragsleistung des Versicherten gewährt: 42 Ledige und Verheiratete stellen nämlich insofern ein gleich36 Siehe Ossenbühl, JZ 1998, S. 679. 37 BVerfGE 97, S. 271 (284). 38 BVerfGE 97, S. 271 (285). 39 Siehe Kolb, DRV 1984, S. 635 ff.; vgl. ferner Hauck/Bokeloh, DRV 1984, S. 650 (654); von Maydell, DRV 1984, S. 662 (669); Papier, DRV 1985, S. 272 (273). 40

Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 143. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnr. 143. 42 BVerfGE 97, S. 271 (283). 41

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hohes Risiko dar, als der Ledige, der kurz vor seinem Tode heiratet, Anrechte auf Hinterbliebenenversorgung hinterläßt, die sich aus seiner gesamten Versicherungsdauer errechnen. Die unterschiedslose Beitragshöhe ist also aus dem Gesichtspunkt des vergleichbaren Risikos für die Rentenversicherungsträger rechtfertigbar und findet ihren Grund nicht in einer vermeintlich vorwiegend fürsorgerisch orientierten Konzeption des Gesetzgebers.43 Hinterbliebenenrenten und -anwartschaften müßten demgemäß konsequenterweise dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG prinzipiell unterstellt werden.

6. Heraufsetzung des Rentenalters Die gesetzlichen Altersgrenzen in der Rentenversicherung prägen den Inhalt der eigentumsrechtlichen Position und sind daher grundsätzlich vom Schutz des Art. 14 GG miterfaßt. Die gesetzlichen Altersgrenzen sind maßgeblich für die Laufzeiten der Renten und damit für den sog. Barwert der rentenrechtlichen Leistungen.44 Eine Anhebung der Altersgrenzen tangiert daher den Eigentumsschutz aus Art. 14 GG, auf der anderen Seite werden bestehende gesetzliche Altersgrenzen nicht von dem angesprochenen Kernbereichsschutz des Art. 14 GG erfaßt. Denn solche gesetzlichen Altersgrenzen werden gerade nicht durch die persönliche Arbeitsleistung der Versicherten bestimmt oder beeinflußt. Es geht nicht um Elemente oder Faktoren, die sich als besonders lohn- bzw. beitragsbezogen oder -äquivalent erweisen. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist mithin erheblich, er hat allerdings - wie bereits erwähnt - die allgemeinen rechtsstaatlichen Regelungsschranken, insbesondere das Vertrauensschutzprinzip, zu beachten, das eine Rücksichtnahme auf die Lebensplanungen der Betroffenen gebietet und bei einer Anhebung der Altersgrenzen angemessene Übergangsregelungen bzw. Anpassungsfristen verlangt. 45

I I I . Vertrauensschutz Aufgrund der nicht unerheblichen Wandlung, die die Eigentumsgarantie durch Erstreckung auf sozialversicherungsrechtliche Positionen erfährt, wird teilweise dafür plädiert, 46 sich von Art. 14 GG als Vertrauensschutz-Basisnorm zu lösen und von einer „Verbiegung" der Eigentumsgarantie zur Begründung einer unmittel« Ossenbühl, JZ 1998, S. 679 f.; Papier, DRV 1985, S. 272 (273); Ruland, NJW 1986, S. 20 (26). 44 Ruland, DRV 1997, S. 94 (104 f.). 45 Siehe dazu auch Ruland, DRV 1997, S. 94 (105 ff.). 46 Bogs, Art. 14 GG (Eigentum) als Vertrauensschutz-Basisnorm für Renten versicherte? Ein Plädoyer für andere Wege verfassungsgerichtlicher Kontrolle von Sozialstaatsumbau in: Ruland /von Maydell/ Papier (Hrsg.), Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, Festschrift für Hans F. Zacher, 1998, S. 65 (79 f.).

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baren Schutzwirkung des Art. 14 GG für Rentenanwärter und -empfänger Abschied zu nehmen. Stattdessen sei ein Weiterbau an der Rückwirkungs-Dogmatik zu betreiben. Doch stellt sich auch im Falle eines Zurückgreifens auf die Rückwirkungslehre wiederum die Frage nach dem einschlägigen Grundrecht. Der Vertrauensschutz gegenüber gesetzgeberischen Einwirkungen mit Rückanknüpfungen wird zunehmend nämlich den thematisch betroffenen Grundrechten und nicht mehr dem von den Freiheitsrechten separierten objektiv-rechtlichen Rechtsstaatsprinzip entnom47

men. Der Vertrauensschutz ist vom Bundesverfassungsgericht zunächst als Element des Rechtsstaatsprinzips entwickelt worden. 48 Das daraus entwickelte System des zwischen echter und unechter Rückwirkung bzw. Rückbewirkung von Rechtsfolgen und tatbestandlicher Rückanknüpfung differenzierenden Vertrauensschutzes ist indes nicht so problemlos und widerspruchsfrei, wie es auf den ersten Blick erscheint. Es zeigt sich, daß der Begriff der Rückwirkung mehrdeutig ist. Rückwirkung kann einem Gesetz auch dann zukommen, wenn sein formaler Geltungsbeginn zwar nicht vor dem Verkündungszeitpunkt liegt, die Tatbestände dieses Gesetzes aber so formuliert bzw. ausgestaltet sind, daß sie (auch) an Sachverhalte oder Rechtsbeziehungen anknüpfen, die bereits der Vergangenheit angehören. Es ist nur eine Frage der Gesetzgebungstechnik, ob der Vergangenheit angehörende Fälle durch eine formale Vordatierung des Inkrafttretens des Gesetzes oder durch eine tatbestandliche Rückanknüpfung im Gesetz erfaßt werden. 49 Es kommt eine weitere Unsicherheit hinzu: Ob ein Tatbestand in der Vergangenheit „abgewickelt" ist oder nicht, läßt sich vielfach nicht exakt bestimmen. Es kommt auf die subjektiv bestimmten Anknüpfungspunkte an. 50 Die Begriffe der echten und unechten Rückwirkung bzw. der Rückbewirkung von Rechtsfolgen und der tatbestandlichen Rückanknüpfung können demgemäß keine abschließende und definitive Aussagekraft über die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der jeweiligen gesetzgeberischen Einwirkung haben.51 Ihnen kommt nur eine symptomatisch-indizielle Aussagekraft über die Schwere der legislatorischen Einwirkung zu, die in die notwendige Abwägung und Verhältnismäßigkeitsprüfung einfließen muß und mitentscheidend dafür wird, ob die tatbestandliche Rückanknüpfung uneingeschränkt oder nur unter Abfederung durch eine Übergangsregelung verfassungsrechtlich zulässig ist. 52 Dem entspricht es, daß der Vertrauensschutz gegenüber 47 BVerfGE 31, S. 275 (292 f.); 36, S. 281 (293); 55, S. 185 (201 ff.); 68, S. 272 (284); 72, S. 9 (18 ff.); Papier, Verfassungsrechtliche Probleme von Übergangsrecht, SGb 1994, S. 105 (108) m.w.N. 48 BVerfGE 14, S. 288 (296 ff.); vgl. auch schon BVerfGE 11, S. 139 (145 f.). 49 A. A. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 60, Rdnr. 14. so Ausführlich dazu vgl. Papier, SGb 1994, S. 105 (107 f.). 51

Vgl. auch Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981, S. 84. 52 Papier, SGb 1994, S. 105 (108).

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gesetzgeberischen Einwirkungen mit Rückanknüpfungen zunehmend den thematisch betroffenen Grundrechten und nicht mehr dem von den Freiheitsrechten separierten objektiv-rechtlichen Rechtsstaatsprinzip entnommen wird. Eine Spezialisierung des Vertrauensschutzes stellt insbesondere das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG dar. 53 Nachträgliche gesetzgeberische Einwirkungen auf Rechtspositionen, die den Eigentumsschutz des Art. 14 GG genießen, sind auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausschließlich nach Maßgabe des Art. 14 GG zu beurteilen. Der rechtsstaatliche Grundsatz des Vertrauensschutzes hat für die Vermögenswerten Rechte, die zum Eigentum i.S. des Art. 14 GG gehören, „eine eigene Ausprägung und verfassungsrechtliche Ordnung erfahren" 54. Eine der wesentlichsten Funktionen der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie besteht gerade darin, dem Eigentümer hinsichtlich der durch Art. 14 GG geschützten Güter Rechtssicherheit zu gewährleisten und damit sein Vertrauen auf den Bestand des durch die verfassungsmäßige Rechtsordnung ausgeformten Eigentums zu schützen.55 All dies macht deutlich, daß Anknüpfungspunkt für einen verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz der Rentenanwärter und -empfänger in erster Linie die Eigentumsgewährleistung aus Art. 14 GG sein sollte.

IV. Gewährleistung der Lohnersatzfunktion 1. Verfassungsrechtliche

Grundlagen

Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob und aus welchen Prinzipien bzw. Vorschriften ein Verfassungsschutz für die sog. Lohnersatzfunktion der Altersrente, also vornehmlich für eine Orientierung der Renten am jeweiligen allgemeinen Lohnniveau, hergeleitet werden kann. In der Literatur wird regelmäßig auch von Rechts wegen eine Orientierung des allgemeinen Rentenniveaus am Lohnniveau gefordert. Der Gesetzgeber wird mit anderen Worten kraft Verfassungsrechts für verpflichtet erachtet, dafür zu sorgen, daß die Renten und Rentenanwartschaften an das Lohnniveau der berufstätigen Versicherungsnehmer - zur Sicherung eines angemessenen Lebensunterhaltes trotz steigenden Lohn- und Preisniveaus - gekoppelt bleiben. 56 Ob die Anpassung der Renten Inhalt des Eigentumsschutzes ist, ist vom Bundesverfassungsgericht selbst bislang nicht abschließend entschieden worden. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage in seinem Beschluß vom 10. Mai 198357 53 Siehe etwa BVerfGE 31, S. 275 (292 f.); 36, S. 281 (293); 72, S. 9 (18 ff.). 54 BVerfGE 76, S. 220 (244). 55 Papier, SGb 1994, S. 105 (108). 56 Siehe etwa Ruland, DRV 1997, S. 94 (103); Papier, in: SRH, Rdnr. 61; ders., Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Alterssicherung, in: Cramer/ Förster /Ruland (Hrsg.), Handbuch zur Altersversorgung, 1998, S. 855 (868); Krause, a.a.O., S. 195 ff., jeweils m. w. N. 57 BVerfGE 64, S. 87 (97 ff.) = SGb 1984, S. 407 m. Anm. Papier.

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ausdrücklich offen gelassen, weil auch bei einer Geltung des Eigentumsschutzes der Gesetzgeber Modalitäten und Zeitpunkt der Anpassung zu bestimmen habe und dabei nur an die Forderung gebunden sei, daß die Rente ihre Funktion der Daseinssicherung erhalten müsse. Dem Grundgesetz läßt sich in der Tat im Grundsatz die Gewährleistung der Lohnersatzfunktion der Renten entnehmen. Diese haben sich sowohl als Zugangswie auch als Bestandsrenten am jeweiligen allgemeinen Lohnniveau zu orientieren. Dies folgt allerdings nicht aus der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 GG, der dies als bestandsschutzrechtliches Abwehrrecht nicht zu leisten vermag. 58 Dieses Grundrecht wäre völlig in ein Teilhaberecht uminterpretiert, enthielte es eine Gewähr für die stetige Koppelung zwischen Rentenniveau und Versicherteneinkommen. Die Rechtspflicht zur Koppelung der Renten an das Lohnniveau und der Anpassung von Zugangs- und Bestandsrenten an das jeweilige Maß des Volkseinkommens ist vielmehr Ausfluß einer rechtsstaatlichen Kontinuitätsverpflichtung und Vertrauensschutzgewähr des sozialgestaltenden Gesetzgebers sowie einer gewissermaßen intertemporären Gleichbehandlung.59 Der Gesetzgeber hat mit anderen Worten zugunsten der jeweils Beitragspflichtigen eine gewisse Systemkontinuität zu wahren und ihnen ein Sicherungssystem bereitzustellen, das dem entspricht oder gleichwertig ist, welches sie selbst mit ihren Beiträgen finanzieren müssen bzw. mußten. Aus dem Rechtsstaatsprinzip sowie dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG folgt also das an den Gesetzgeber gerichtete Gebot, den jeweils Finanzierungs- und Abgabenpflichtigen grundsätzlich Anwartschaften und Rentenrechte zu gewährleisten, die dem von ihnen finanzierten Versicherungssystem vergleichbar sind, die mit anderen Worten einen angemessenen Lebensunterhalt am Maßstab des - späteren - Lohn- und Preisniveaus (und natürlich nach Maßgabe des individuellen Vermögensopfers) gewährleisten. Verfassungsrechtliche Maßstäbe der Rentengesetzgebung folgen mit anderen Worten nicht ausnahmslos aus der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 GG. Im Gegenteil, für zentrale Fragen wie die der Rentenanpassung und der Gewährleistung der Lohnersatzfunktion dürfte die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG schlicht überfordert, die verfassungsrechtlichen Antworten vielmehr aus anderen Verfassungsprinzipien und Verfassungsvorschriften herzuleiten sein.

2. Einzelne Folgerungen Die verfassungsrechtliche Verbürgung der Lohnersatzfunktion der Renten geht über die Wahrung des existentiellen Minimums der Daseinssicherung hinaus. Auf der anderen Seite ist der einfache Gesetzgeber dadurch nicht auf ganz bestimmte 58 So aber Krause, a.a.O.,* S. 195 f.; Ruland, DRV 1997, S. 94 (103). 59 Siehe Papier, VSSR 1973, S. 49 ff.; ders., in: SRH, Rdnr. 61; Scholz, Sozialstaat zwischen Wachstum und Rezessionsgesellschaft, 1981, S. 42 f., und Pitschas, VSSR 1978, S. 375 ff., kommen über Art. 12 Abs. 1 GG zu einem vergleichbaren Ergebnis.

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Anpassungsmodalitäten, -großen, -formein und -Zeitpunkte festgelegt. Auch die bestehende Leistungshöhe ist damit nicht gewährleistet. Bei sinkendem Volkseinkommen entspricht der verfassungsrechtlich gewährleisteten Lohnersatzfunktion durchaus ein Rückgang des Rentenniveaus. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Lohnersatzfunktion wird noch nicht tangiert, wenn aufgrund des Einbaus einer „demographischen Komponente" in die Rentenformel der Anstiegswinkel in der Rentenanpassung mittelfristig verringert wird. Die Verfassung ist schließlich auch offen hinsichtlich der Frage, ob die Altersrente brutto- oder nettolohnbezogen ausgestaltet ist. Das Verfassungsrecht hindert grundsätzlich auch nicht daran, die Sozialrenten zu besteuern. Wenn die Sozialrenten besteuert werden sollen, müssen allerdings gerechterweise die Beiträge der Arbeitnehmer steuerfrei sein. Jetzt zahlen diese Versicherten jedenfalls teilweise ihre Beiträge aus dem schon versteuerten Einkommen an die Rentenversicherung, nämlich soweit die Beitragszahlungen den abzugsfähigen Vorsorgehöchstbetrag überschreiten. Zweimal dasselbe Einkommen zu besteuern ist nach geltendem Verfassungsrecht, das den Grundsatz der steuerlichen Lastengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) beinhaltet, problematisch.

3. Möglichkeiten der Systemaufgabe Folgte man radikalen Stimmen, dann wäre die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur das Ende der gewohnten gesetzlichen Rentenversicherung mit ihrer Balance von Beitragslast und Rentenhöhe. Kombinationsmodelle von Bürgergeld bzw. Grundrente einerseits und privater Eigenvorsorge andererseits werden als Alternativen zum gegenwärtigen sozialversicherungsrechtlichen Generationenvertrag in die Diskussion gebracht. Andere wiederum wollen den Generationenvertrag um jeden Preis retten, Forderungen nach Senkung des Rentenniveaus, Hinausschieben des Rentenalters sowie Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen werden als gewissermaßen systemimmanente Sanierungs- bzw. Korrekturmechanismen angeboten. Bei diesem Diskussionsstand drängt sich die Frage auf, welche Spielräume das Verfassungsrecht der künftigen Sozialgesetzgebung beläßt. Unsere Sozialleistungssysteme sind gesetzlich kodifiziert, die soziale Rentenversicherung ist ein System solidarischer öffentlich-rechtlicher Zwangsversicherung. Bei steigenden Beiträgen und sinkenden Leistungserwartungen stellen aber vor allem die jungen Aktiven die Frage nach der Legitimität des gegenwärtigen Generationenvertrages und der Notwendigkeit seiner „Kündigung". Gefragt ist das gesetzgeberische Handeln, wobei der legislatorische Systemwechsel, der normative Abschied vom Generationenvertrag und von der beitragsfinanzierten, lohnorientierten Rente einerseits oder mögliche systemerhaltende, wenn auch ggfs. einschneidende Gesetzeskorrekturen andererseits als Alternativen zur Diskussion stehen. Will der Gesetzgeber den Generationenvertrag „aufkündigen", will er sich vom System der beitragsfinanzierten und lohnorientierten Rente verabschieden, so kann er dies mit Wirkung pro futuro tun, denn es gibt keinen verfassungsrechtlichen

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Grundsatz der ewigen Systemerhaltung, weil dies zu einer Erstarrung von Gesetzgebung und Politik führen würde. Art. 14 GG sowie andere eben angesprochene Verfassungsprinzipien und -normen hinderten den Gesetzgeber allerdings daran, im Falle einer solchen Systemaufgabe die bereits entstandenen Ansprüche der Generationen der Leistungsempfänger ebenso wie die bereits existenten Anwartschaften der jetzt Aktiven, die mit ihrem gegenwärtigen, vergangenen und künftigen Einkommensverzicht diese Leistungen finanzieren, zu ignorieren. Sie wären in einem neuen Sozialleistungssystem jedenfalls im Kernbestand und in der Grundstruktur zu erhalten und zu erfüllen. Ein grundlegender Systemwechsel hin etwa zur steuerfinanzierten Grundversorgung der Bevölkerung wäre nach alledem (nur) für künftige Generationen möglich, die noch keine oder keine nennenswerten Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt und folglich keine Anwartschaften aufgebaut haben. Die bestehenden Rentenansprüche und Rentenanwartschaften, die durch eigene Beiträge aufgebaut worden sind, schützt das geltende Verfassungsrecht in der eben skizzierten Art und Weise. Es wird also nicht so sein dürfen, daß die jetzt Erwerbstätigen ein auslaufendes Rentenmodell zu finanzieren haben, an dem sie selber gar nicht mehr teilhaben werden, 60 wie es teilweise mit der plakativen Formel, die Generationen „40 und jünger" würden in jedem Fall doppelt zahlen müssen, an die Wand gemalt wird. 61 Vielmehr müßten dafür dann allgemeine Steuermittel verwendet werden. Es liefe auf die Erhebung einer verfassungsrechtlich unzulässigen Sondersteuer hinaus, wenn allein die beitragspflichtigen Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung mit ihrem Aufkommen ein Rentensystem finanzieren, in dessen Genuß sie mit Sicherheit nicht mehr gelangen werden. Wer heute mit seinen hohen Beiträgen die jetzige Rentnergeneration finanziert, hat von Verfassungs wegen grundsätzlich einen Anspruch darauf, in seinem Alter nach denselben oder doch ähnlichen Prinzipien behandelt zu werden. Damit ist selbstverständlich keine bestimmte Leistungshöhe der Rente von Verfassungs wegen geschützt, wohl aber die prinzipielle Struktur und Funktion der Sozialrente. 62

V. Versicherungsfremde Leistungen Der Staat verpflichtet über seine Sozialgesetzgebung die Arbeitnehmer zwangsweise zur Mitgliedschaft in der Rentenversicherung. Das bedeutet auch, daß er ihre Beiträge nicht zweckwidrig verwenden darf, etwa für Aufgabenzwecke, die sich als Gemeinlasten darstellen und nicht nach dem Gruppenlastprinzip finanziert werden dürfen. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG könnte verletzt sein, wenn und soweit sog. versicherungsfremde Leistungen nicht durch Staatszuschüsse ausgeglichen werden. 60 Vgl. Papier, Der Spiegel, 21 / 1996, S. 95. 61 Vgl. Matz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. 2. 1997. 62 Siehe auch Ruland, DRV 1997, S. 94 (102); Reiter, SGb 1996, S. 246 (249).

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Allerdings bleibt die Frage, welche Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungsfremd sind - sofern man dieser Begrifflichkeit überhaupt noch folgen möchte: Teilweise wird der Begriff der Versicherungsfremdheit gänzlich als irreführend abgelehnt und die Frage, was als Leistung zählt, was honoriert und was durch Umverteilung erreicht werden soll, einer politischen Entscheidung anheimgestellt.63 Bei der Verwendung des Schlagwortes sollte man jedenfalls mehr Sensibilität und Vorsicht walten lassen, als dies vielfach praktiziert wird. Wenn es teilweise heißt, daß alle diejenigen Leistungen versicherungsfremd seien, die sich nicht als beitragsäquivalent darstellen, 64 und als Beitrag zum System der gesetzlichen Rentenversicherung teilweise wiederum nur der monetäre Beitrag gesehen wird, 65 so erscheint dies einerseits zu eng, andererseits aber auch zu ungenau. Zum einen geht es gerade um die Frage, ob bestimmte Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung über das Beitragsaufkommen der Versicherten finanziert werden dürfen; daß sie durch Beiträge der Versicherten gedeckt sind', kann also kein hinreichender verfassungsrechtlicher Maßstab sein. Zum anderen muß berücksichtigt werden, daß in der gesetzlichen Sozialversicherung kein reines Äquivalenzprinzip herrscht, das versicherungsrechtliche Äquivalenzprinzip vielmehr ergänzt bzw. überlagert wird durch das Solidarprinzip. Die Höhe der Beiträge ist mit anderen Worten nicht wie in der Privatversicherung am individuellen Risiko des Versicherten ausgerichtet. Der Hinweis auf die Tragweite des Solidarprinzips ist allerdings mit außerordentlichen Schwierigkeiten behaftet und juristisch nur schwerlich faßbar. 66 Auch die Rechtsprechung charakterisiert die gesetzliche Rentenversicherung zwar regelmäßig dahingehend, daß sie auch wesentlich auf dem Gedanken der Solidarität ihrer Mitglieder sowie des sozialen Ausgleichs beruhe und von jeher auch ein Stück sozialer Fürsorge enthalte; 67 das Solidarprinzip verlange, daß die bei den verschiedenen Versicherten bestehenden ungleichen Risiken ausgeglichen werden, wobei der Ausgleich der gesamten Solidargemeinschaft obliege und nach sozialen Gesichtspunkten zu erfolgen habe.68 Eine eindeutige Abgrenzung für die Frage der Zuordnung einzelner Elemente der gesetzlichen Rentenversicherung zum einen oder zum anderen Prinzip gibt sie jedoch nicht. 69 Festzuhalten aber ist: Eine in der Organisationsform der Sozialversicherung durchgeführte Versicherung, deren Beiträge ausschließlich 63

Vgl. Jaeger, „Die Politik provoziert den Konflikt zwischen Jung und Alt", Die Zeit, Nr. 22/1998, 20. 5. 1998, S. 31. 64 Vgl. nur Schienger, Versicherungsfremde Leistungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Heft 86, 1998, S. 7. 65 Pechstein, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, 1994, S. 322, möchte dies aus den Prinzipien der Einrichtung der gesetzlichen Rentenversicherung ableiten. 66 Vgl. Pechstein, Familiengerechtigkeit, S. 360 f. 67 Vgl. BVerfGE 76, S. 256 (301). 68 Vgl. BSGE 48, S. 134 (137 f.). 69 Vgl. Pechstein, Familiengerechtigkeit, S. 360.

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nach der Höhe des Risikos bemessen werden, also mit anderen Worten in jedem Einzelfall genauso hoch sind wie die Versicherungsprämien, die eine Privatversicherung erheben würde, fällt nicht mehr unter den verfassungsrechtlichen Begriff der Soz/a/versicherung. Ein völliges Zurücktreten des Solidarprinzips (oder umgekehrt des Versicherungsprinzips) in der gesetzlichen Rentenversicherung würde also dazu führen, daß diese nicht mehr als „Sozialversicherung" i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG angesehen werden könnte und somit ihre gesetzlichen Grundlagen kompetenzwidrig würden. 70 Keine der beiden Komponenten kann daher in Reinkultur verwirklicht werden, vielmehr verhalten sich Versicherungsprinzip und Solidarprinzip wie zwei Waagschalen: Je mehr das eine verwirklicht ist, desto mehr muß das andere zurücktreten. 71 Versicherungsfremd sind sicherlich diejenigen Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung, die sich als Entschädigungsleistungen des Staates für Kriegsfolgen, zum Ausgleich von NS-Unrecht oder als Nachteilsausgleich nach dem Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz erweisen. Die von der Rentenversicherung gezahlten Auffüllbeträge sowie Renten- und Übergangszuschläge zu Renten in den neuen Bundesländern sind ebenfalls als versicherungsfremd anzusehen. Auch die rentenrechtliche Absicherung des Risikos der Arbeitslosigkeit muß im System der sozialen Rentenversicherung als versicherungsfremd angesehen werden. In der gesetzlichen Rentenversicherung wird das Risiko des Verlusts der Erwerbsfähigkeit, nicht aber das des Ausfalls der Erwerbstätigkeit versichert. Auch Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung, die sich als Ausfluß der staatlichen Fürsorge und damit als ein Instrument der sozialpolitischen Korrektur i.S. der Gewährleistung eines existenzsichernden Mindesteinkommens darstellen, können als versicherungsfremd qualifiziert werden. Problematisch ist hingegen, inwieweit die Aufwendungen der Rentenversicherung im Zusammenhang mit den Kindererziehungszeiten als versicherungsfremde Aufwendungen der gesetzlichen Rentenversicherung anzusehen sind. Vielfach werden solche Aufwendungen des Familienlastenausgleichs als eine Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft insgesamt erachtet, zu deren Finanzierung die Gesamtheit der Steuerzahler herangezogen werden müßte. Die einseitige, gruppenspezifische Belastung der Beitragszahler der gesetzlichen Rentenversicherung für Aufwendungen des Familienlastenausgleichs stellte nach dieser Ansicht ein Sonderopfer jener belasteten Gruppe dar, die mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren sei. Beamte, Selbständige und Personen mit Einkünften oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze oder aus Vermögen würden am Familienlastenausgleich nicht beteiligt werden, obschon auch ihre Alterssicherung von der nachwachsenden Generation erwirtschaftet wird und erwirtschaftet werden muß. Auf der anderen Seite wird man mit dem Bundesverfas70

Papier/Möller, Die Rolle des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Unfallversicherung, NZS 1998, S. 353 (354). 71 Vgl. Papier/Möller, NZS 1998, S. 353 (354).

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sungsgericht 72 durchaus anerkennen müssen, daß auch Kindererziehung eine Leistung speziell für die Solidargemeinschaft darstellt. Die ausschließliche Orientierung an gezahlten Beiträgen wird den Existenzbedingungen des Umlageverfahrens nicht gerecht; 73 gerade für das System der gesetzlichen Altersversorgung, das auf dem Generationenvertrag gründet, ist die nachrückende Generation von Beitragszahlern unverzichtbar. Die versicherungsrechtliche Berücksichtigung von Zeiten der Kindererziehung läßt sich daher wohl noch als systemkonform bezeichnen; man wird mit anderen Worten der Gesetzgebung einen Gestaltungsspielraum zubilligen müssen, inwieweit ein Familienlastenausgleich als steuerfinanzierte Gemeinlast oder als versicherungsspezifische Solidarlast ausgestaltet wird. Eine Einschränkung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums mag sich aus folgendem Gesichtspunkt ergeben: Im Zuge der Überprüfung des Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetzes (HEZG) vom 11. Juli 1985, mit dem der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Witwen- und der Witwerrente angeglichen und die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten bei den Rentenleistungen eingeführt hat, und des Kindererziehungsleistungs-Gesetzes (KLG) vom 12. Juli 1987, der Sonderregelung für die Mütter der Geburtsjahrgänge vor 1921, verpflichtete das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber in seinem Urteil vom 7. Juli 1992 74 , die festgestellte Benachteiligung von Erziehern von Kindern gegenüber Kinderlosen in weiterem Umfang als bisher schrittweise abzubauen. Wenn die Nachteile ihre Wurzeln auch nicht allein im Rentenrecht hätten und folglich auch nicht nur dort behoben zu werden bräuchten, so seien sie, soweit die Benachteiligung sich gerade in der Alterssicherung niederschlage, vornehmlich doch mit rentenrechtlichen Regelungen auszugleichen. Der nicht unerhebliche Gestaltungsrahmen, den das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber dabei zugesteht, ändert aber nichts daran, daß sich der Weg, den es dem Gesetzgeber aufgegeben hat, mit dem - in diesem Zusammenhang durchaus positiv belegten - Schlagwort der Einbahnstraße beschreiben läßt: Jede weitere auf diesem Feld ergehende gesetzgeberische Maßnahme kann nur zu einem Mehr an Kinderlastenausgleich führen. Wenn der Gesetzgeber auch in wesentlichem Maße frei über das „Wie" befinden kann, so ist er hinsichtlich des „Ob" doch gebunden, die Richtung ihm vorgegeben. Darüber hinaus ließe sich noch auf folgendes hinweisen: Dem Bundesverfassungsgericht wurde vorgeworfen, in seinen einzelnen argumentativen Schritten und den daraus abgeleiteten Folgerungen zu wenig die Altersversorgung außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung, den Familienlastenausgleich vor der Altersversorgung und schließlich die Honorierung der Erziehungsleistung neben voller Erwerbstätigkeit beachtet zu haben.75 All diese Forderungen hätte das Bundesverfassungs72 BVerfGE 87, S. 1 (37); 94, S. 241 (263); siehe auch Papier, in: Handbuch zur Altersversorgung, S. 855 (871 f.). 73 Schienger, Versicherungsfremde Leistungen, S. 26. 74 BVerfGE 87, S. 1 ff.; vgl. dazu Ruland, NZS 1993, S. 1 ff. 75 Zu all dem sehr ausführlich Ruland, NZS 1993, S. 1 (3 ff.); Ebsen, SozVers 1993, S. 144 (147); andererseits Borchert, FuR 1992, S. 227 (228).

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gericht eher über die Annahme einer umfassenden „Familiengesetzgebungspflicht" als mit der Überprüfung von HEZG und KLG am Gleichheitssatz76 durchsetzen können. Die dogmatische Konsequenz ist dem Bundesverfassungsgericht also nicht abzusprechen; daß seine Schlüsse dennoch den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum teilweise stark einschränken, liegt nicht zuletzt an der hohen Regelungsdichte der betreffenden Rechtsmaterien. 77 Ergänzend ist auf zwei zwar nicht unmittelbar juristische, so doch wichtige psychologisch-politische Aspekte hinzuweisen: Zum einen wird in der geführten Diskussion oftmals der Eindruck erweckt, nur die rentenrechtliche Anerkennung der Erziehungsleistung - und zwar die Anerkennung als Ausfluß „echter", versicherungsspezifischer Beitragsleistung und nicht etwa als versicherungsfremd 78 - sei als Bestätigung dafür zu werten, daß diese ,»richtige" Arbeit sei, während staatliche Leistungen wie etwa das Erziehungsgeld eher als Unterstützungsleistungen zu qualifizieren seien. Nicht zuletzt beruhte auch der politische Konsens für die Pflegeversicherung auf einem vergleichbaren Verständnis: Die Abhängigkeit von der staatlichen Fürsorgeleistung der Sozialhilfe im allerletzten Lebensabschnitt war als unwürdig empfunden worden. 79 Zum anderen wird vom Bund der Steuerzahler vorgebracht, durch steuergestützte Finanzierung versicherungsfremder Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung im Unterschied zu einer Erbringung dieser Leistungen unmittelbar aus Steuermitteln oder unmittelbar aus den monetären Beiträgen der Rentenversicherten könne der Handlungsdruck zu strukturellen Reformen in der gesetzlichen Rentenversicherung vermindert werden. Die durch die Umfinanzierung bedingte Entlastung beim Beitragssatz könne von einer an kurzfristiger Problemverschiebung interessierten Politik als Zeichen einer Entspannung der finanziellen Lage in der gesetzlichen Rentenversicherung gesehen werden. Sie ließe sich als Spielraum für Beitragssatzerhöhungen deuten, mit denen die zunehmende Belastung der gesetzlichen Rentenversicherung durch die demographische Entwicklung aufzufangen sei. 80 Sofern man eine Gefahr dieser Art und Schärfe überhaupt konstatieren

76 Denkbar wäre es zwar, die Argumentation mit Art. 3 GG insoweit auszudehnen: Gewissermaßen in einem zweiten Schritt wäre die Gleichbehandlung der kinderlosen rentenversicherten Eheleute, die in einem nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts reformierten Rentenversicherungsrecht für die ausgleichenden Leistungen an Familien mit aufkommen müßten, mit den nicht rentenversicherten Kinderlosen zu fordern; vgl. dazu Ebsen, SozVers 1993, S. 144 (147). Aber auch darauf hätte das Bundesverfassungsgericht strenggenommen bei der Überprüfung des HEZG und des KLG nicht eingehen können. 77

Ausführlicher dazu s. Papier, in: SRH, Rdnr. 105. Vgl. den Titel einer im Rahmen des Deutschen Katholikentags in Mainz am 13. 6. 1998 geführten Podiumsdiskussion („Erziehung - eine versicherungsfremde Leistung? Familienarbeit gesellschaftlich anerkennen"), der den Eindruck vermittelt, die „Honorierung" von Erziehungsleistungen durch Rentenversicherungsträger als versicherungsfremde Leistungen zu qualifizieren, bedeute die Ablehnung einer finanziellen Anerkennung der Erziehungsarbeit. 7 9 Vgl. Jaeger, Die Zeit, Nr. 22/ 1998, S. 31. 78

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möchte, so geht es aber sicherlich zu weit, daraus den Schluß zu ziehen, es sei sogar zu befürchten, daß die versicherungsfremden Leistungen auf diesem Wege der Überprüfung ihrer Notwendigkeit dauerhaft entzogen werden. 81

VI. Beitragspflichten In der bisherigen Diskussion stand der Grundrechtsschutz, insbesondere der Eigentumsschutz der Inhaber rentenrechtlicher Positionen im Vordergrund. Der Beitragspflichtige blieb lange Zeit im Hintergrund, was sich mit dem Anstieg der Beitragshöhe zunehmend ändert. Immerhin galt für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Abgabenpflichten die lapidare Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, 82 Art. 14 GG schütze nicht das Vermögen des einzelnen vor der Auferlegung öffentlich-rechtlicher Geldleistungspflichten. Auch wenn manchen dieser Satz angesichts der Vielzahl und Höhe der den Bürger treffenden öffentlich-rechtlichen Abgabenpflichten nicht mehr recht einleuchten will, 8 3 eine starre, gar ziffernmäßig ausdrückbare Belastungsgrenze kann dem Art. 14 GG schwerlich entnommen werden. Die gesetzliche Auferlegung öffentlich-rechtlicher Abgabenpflichten stellt aber in jedem Fall einen Freiheitsrechtseingriff dar; egal, ob man diesen dem Grundrecht des Art. 14 GG oder dem allgemeinen Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG zuordnet, in jedem Fall gilt die allgemeine rechtsstaatliche Eingriffsschranke des Übermaß Verbotes. Für die Beurteilung der rentenversicherungsrechtlichen Beitragspflichten bedeutet das Verhältnismäßigkeitsprinzip angesichts des im Rentenversicherungssystem herrschenden Solidarprinzips nicht, daß eine Individualäquivalenz zwischen Beitragsleistung und Versicherungsleistung bestehen muß. Auf der anderen Seite verbietet das verfassungsrangige Übermaßverbot eine offenkundige Disproportionalität von Beitragsleistung und versicherungsrechtlicher Leistung, wobei auf der Leistungsseite nicht allein die Gewährung der Alterssicherung, sondern auch die Sicherung des Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrisikos, der Hinterbliebenen beim Tod des Versicherten im erwerbsfähigen Alter und die finanziellen Absicherungen der Rehabilitationsleistungen zu berücksichtigen sind. 80 Schienger, Versicherungsfremde Leistungen, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, 1998, S. 4 f. 81 So Schienger, Versicherungsfremde Leistungen, S. 4. 82 Siehe etwa BVerfGE 4, S. 7 (17); 8, S. 274 (330); 10, S. 89 (116); aus jüngerer Zeit vgl. BVerfGE 75, S. 108 (154); 78, S. 249 (277); 81, S. 108 (122); 87, S. 153 (169); 93, S. 121 (137); w. Nachw. bei Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rdnrn. 165 ff. 83 Das BVerfG selbst spricht neuerdings davon, daß „Steuergesetze in die allgemeine Handlungsfreiheit gerade in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen und im beruflichen Bereich (Art. 14 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG) eingreifen": BVerfGE 87, S. 153 (169); s. auch BVerfGE 93, S. 121 (137); Papier, in: Handbuch zur Altersversorgung, S. 855 (872).

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Für die Beitragszahler, die als langjährig Versicherte bislang, einschließlich des Jahres 1997, in Rente gegangen sind, zeigen Modellrechnungen, daß die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung für die Altersrenten über dem durchschnittlichen langfristigen Kapitalmarktzins in Höhe von 5,5% liegen. 84 Verfassungsrechtliche Probleme in bezug auf die Beitragsbelastungen stellten sich mithin bislang unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit von Leistung und Gegenleistung nicht. Für Beitragszahler, die künftig in Rente gehen werden, braucht die Rendite der Beitragsleistungen nicht unbedingt das bisherige Niveau zu halten, eine „NullRendite" oder gar ein Minuswert dergestalt, daß die Rentenzahlungen nicht mehr ausreichen, um das „investierte Kapital" zu verbrauchen, dürfte allerdings die Grenze der verfassungsrechtlich unzulässigen, evidenten Disproportionalität von Leistung und Gegenleistung überschreiten. 85 Der denkbare Hinweis, daß ein durchschnittlicher Einkommensbezieher, der sog. Eckrentner, der 45 Jahre lang ein Durchschnittseinkommen bezogen und entsprechende Beiträge gezahlt hat, bei einer privatrechtlichen Anlage des eingesetzten Kapitals im Ergebnis besser dastünde,86 kann als solcher nicht gegen die Verhältnismäßigkeit ins Feld geführt werden. Denn die öffentlich-rechtliche Beitragslast im System der gesetzlichen Rentenversicherung beruht gerade auch auf der verfassungsrechtlich legitimen Einbeziehung dieser Personen in eine gesetzlich begründete Solidargemeinschaft, d. h. auf der gesetzlichen Auferlegung solidarischer Einstandspflichten für diejenigen, die zu angemessener privater Eigensicherung gegen die solidarisch angegangenen Risiken nicht in der Lage wären.

Schlußbemerkung Eine legislatorische Systemaufgabe oder Systempreisgabe bei der sozialen Alterssicherung hätte nicht nur ihren gesellschaftspolitischen Preis, sie beinhaltete auch vielfältige verfassungsrechtliche Risiken und Folgewirkungen. Auch aus diesem Grunde sollte man nicht vorschnell die Aufgabe des Generationenvertrages fordern und den Wegfall seiner Geschäftsgrundlage predigen. Die enormen Belastungen, denen sich der Generationenvertrag gegenübersieht, erfordern allerdings unbestreitbar Systemkorrekturen und Systemanpassungen, um die vielfach auch grundrechtlich geschützten Belange der Leistungsbezieher und Anwartschaftsberechtigten einerseits und der Beitragszahler andererseits in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Es geht keinesfalls an, die einen gegen die anderen verfassungsjuristisch auszuspielen. Verfassungsrechtlich nötig und im Grundsatz auch möglich sind Einhalt bei den Belastungen der Beitragszahler sowie moderate Begrenzungen des Rentenniveaus und der Rentenlaufzeiten durch Anhebung von 84 Siehe Ohsmann/Stolz, DAngVers 1997, S. 119ff. 85 Vgl. auch Kufer, NZS 1996, S. 559 (561). 86 Siehe etwa Miegel, Der Spiegel 6/1997. 48*

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Altersgrenzen. Schließlich sind die Beitragszahler von Lasten zu befreien, die sie gewissermaßen stellvertretend für die Allgemeinheit erbringen. Überdies ist zu bedenken, daß die reine Umlagefinanzierung ohne jede Kapitalfundierung die gesetzliche Rentenversicherung erheblichen demographischen und konjunkturellen Risiken aussetzt, die den Generationenvertrag gefährden und seine dauerhafte AbStützung immer wieder in Frage stellen. Der Gesetzgeber wird also zu erwägen haben, durch Aufbau eines Kapitalstocks für die Altersvorsorge des überwiegenden Teils der Bevölkerung eine hinreichende Sicherheit in einem angemessenen Zeithorizont zu schaffen. Den Sozialrechtsgesetzgeber trifft hier eine gewisse Schutzverpflichtung zugunsten des selbstgesetzten Systems. Wenn mit einem Strauß von gesetzgeberischen Korrekturmaßnahmen das Gesamtsystem dauerhaft gestützt und erhalten werden kann, dann sollte man nicht den Weg des radikalen Systembruchs wählen, auf dem man sich schnell im engmaschigen Netz verfassungsrechtlicher Schutzinstrumente verheddern und dann möglicherweise in den Abgrund des verfassungsjuristischen - von den gesellschaftspolitischen Folgen ganz zu schweigen - Chaos stürzen könnte.

Das Recht am und das Recht auf Eigentum Aspekte freiheitlicher Eigentumsgewährleistung Von Karl Albrecht Schachtschneider*

Walter Leisner ist im Deutschland unserer Zeit der Lehrer des Eigentums. Seine liberale Eigentumslehre hat sein Schüler Josef Isensee 1996 in dem von Norbert Simon verlegten Werk: Walter Leisner, Eigentum, Schriften zu Eigentumsgrundrecht und Wirtschaftsverfassung 1970- 1996, vorgestellt 1. Hinzu kommt Walter Leisners grundlegende Untersuchung zur Sozialbindung des Eigentums von 1972. Walter Leisner kommentiert seit drei Jahrzehnten die Eigentumspraxis des Gesetzgebers und der Rechtsprechung, bewahrend und fördernd, mahnend, warnend und ermunternd, niemals buchhalterisch und klein, immer wesentlich und groß. Vor allem aber ist Walter Leisner ein konservativer Philosoph des Eigentums. Walter Leisner hat die Eigentumsdogmatik im Kräftefeld der Verfassung entwickelt, ein Kräftefeld, in welches Walter Leisner ausweislich seines großen Beitrags zum Öffentlichen Recht, insbesondere zur Spätdemokratie, breit und tief eingedrungen ist. Während Walter Leisner das Eigentum dem Gesetz des Staates entgegenstellt und von einer „Gewaltenteilung" zwischen dem Recht und der Sozialpolitik sowie vom „Eigentum als Schranke der Staatsgewalt" gesprochen hat2, ordnet die republikanische Lehre, welche die Idee der allgemeinen Freiheit als das Paradigma des Rechts zugrundelegt3, das Eigentum dem allgemeinen Gesetz und damit dem allgemeinen Willen des Volkes unter. Walter Leisner begreift das Eigentum als eine materiale Freiheit. Der Republikanismus dagegen formalisiert um der Gleichheit in der Freiheit willen den Freiheitsbegriff und kann und muß dadurch die Staatlichkeit als die Gesetzlichkeit auf die allgemeine Freiheit stützen4. * Dr. Angelika Emme rieh-Fritsche und Dagmar Siebold haben durch ihre Kritik die Aspekte beeinflußt. Michael Klüver, Peter Wollenschläger und Horst Pawlowski haben Hilfe geleistet. Dafür danke ich. 1 Außer Sozialbindung des Eigentums, 1972, werde ich die Schriften Walter Leisners zum Eigentum und zum Markt aus diesem Werk zitieren. 2 Sozialbindung des Eigentums, S. 219 ff., insb. S. 221 f. („defensives Eigentum"). 3 K A. Schachtschneider, Res publica res populi, Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, 1994; ders., Republikanische Freiheit, FS Martin Kriele, 1997, S. 829 ff.; ders., Freiheit in der Republik, Manuskript 1999.

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Das Gerechtigkeitsproblem wird im Republikanismus eine Frage der inneren Freiheit, der Sittlichkeit der notwendig das Eigentum ordnenden Gesetze, und damit der Moralität der Bürgerschaft und deren Repräsentanten in den Organen des Staates5. Das Verhältnis von Freiheit und Eigentum ist ein Grundthema in der Eigentumslehre Walter Leisners 6. Die folgenden Überlegungen versuchen, auf einige Aspekte der Eigentumsgewährleistung einer Republik hinzuweisen, die einer republikanischen Sicht der Freiheit in den Blick fallen. Walter Leisner hat dies alles schon betrachtet. Ich maße mir nicht an, einem Walter Leisner Neues zeigen zu können, wage aber das Gespräch mit dem großen Rechtslehrer. Die Eigentumslehre ist eine Lehre von der Freiheit, vom Recht und vom Staat, eine Lehre von der Bürgerlichkeit des Bürgers. Walter Leisners Beitrag ist dafür beispielhaft. Das Eigene sind die Möglichkeiten des Menschen zu leben und zu handeln. Das Eigene sind das Mein und Dein, das Seine. Es ist Eigentum, wenn und insoweit es als Recht durch den Staat geschützt wird. Freiheit ist die Autonomie des Willens7. Die allgemeine Freiheit findet ihre bürgerliche Wirklichkeit in den Rechtsgesetzen. Die allgemeine Gesetzlichkeit ist die Staatlichkeit. Um seiner Freiheit willen hat jeder ein Recht auf Eigentum, soweit das seine Selbständigkeit als Bürger fordert. Eigentum ermöglicht freiheitliche Privatheit 8, rechtfertigt aber nicht Herrschaft 9. Es gibt keine Freiheit ohne Eigenes, weil der Mensch ohne Eigenes weder leben noch handeln kann. Die Gesetze verwirklichen die allgemeine Freiheit, indem sie das Mein und Dein als Eigentum ordnen. Aber Eigentum in seiner Materialität ist nicht Freiheit; denn Freiheit ist als Autonomie des Willens die allgemeine Gesetzgeberschaft oder die Bürgerlichkeit aller Menschen und damit formal. Mit dem Seinen aber darf der Mensch frei handeln.

I. Eigenes und Eigentum Das Eigene des Menschen sind seine Möglichkeiten zu leben und zu handeln Der Mensch ist eine „Einheit von Leib, Seele und Geist" 10 . Diese sind sein Eigen 4 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 4 ff., 275 ff., 303 ff., 410 ff., 519 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 42 ff., 84 ff., 93 ff., 197 ff. 5 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 279 ff., 325 ff., 560 ff., 637 ff., 707 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S.42ff., 68ff., 113ff., 197ff. 6 Insb. Freiheit und Eigentum - die selbständige Bedeutung des Eigentums gegenüber der Freiheit, 1974; Privateigentum als Grundlage der Freiheit, 1977; Eigentum, 1989; Eigentum - Grundlage der Freiheit, 1994, S. 7 ff., 3 ff., 81 ff., 21 ff. 7 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 275 ff., 325 ff., 410 ff.; ders., FS M. Kriele, S. 829 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 32ff. (insb. S. 68 ff.), 78 ff. 8 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 370 ff.; ders., Freiheit in der Repbulik, S. 233 ff. 9 Zur republikanischen Kritik der Herrschaft K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 71 ff.

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Der Mensch hat Verbindungen zu anderen Menschen, sei er anderen Menschen durch Ehe, Elternschaft oder Kindschaft, sei er ihnen durch Freundschaft oder Liebe, sei er ihnen beruflich oder geschäftlich, i m Dienst oder in der Arbeit, oder sei er ihnen sonst, insbesondere schuldrechtlich, verbunden. Derartige Verbindungen gehören zum Menschen und schaffen ebenfalls Eigenes. Der Mensch hat unmittelbar oder mittelbar Besitz an Sachen, sei es an Grund und Boden oder an beweglichen Sachen. Auch diese sind i m Verhältnis zu den anderen Menschen sein Eigen 1 1 . „Das Rechtlich-Meine (meum iuris)" definiert Kant als „dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren w ü r d e " 1 2 . A l l das Seine gehört zur Persönlichkeit des Menschen 1 3 . Diese seine Persönlichkeit darf der Mensch nach Art. 2 Abs. 1 GG frei entfalten 1 4 . Freiheit ist somit das Recht des Menschen, das Seine zur Entfaltung zu bringen, mit dem Seinen zu leben und zu handeln. Das Eigene ist personal 15 . Es gibt kein menschliches Leben ohne das Mein und Dein, weil und insoweit die Menschen in Gemeinschaft leben. Das meum et teum ist eine conditio humana des hominis socialis. Wenn der Mensch handelt, eignet er sich Möglichkeiten des BVerfGE 56, 54 (75); K A. Schachtschneider/D. Siebold, Transplantation ohne Zustimmung des Spenders, i.E., S. 4. h J. Locke, Über die Regierung, V, 27 ff.; vgl. /. Kant, Metaphysik der Sitten, ed. Weischedel (Kants Werke werden im Folgenden aus dieser Edition zitiert), Bd. 7, S. 355 ff. zum äußeren „Mein und Dein", nämlich „1) eine (körperliche) Sache außer mir; 2) die Willkür eines anderen zu einer bestimmten Tat (praestatio); 3) der Zustand eines anderen in Verhältnis auf mich; nach den Kategorien der Substanz, Kausalität, und Gemeinschaft zwischen mir und äußeren Gegenständen nach Freiheitsgesetzen", als der „äußeren Gegenstände meiner Willkür" (S. 355); vgl. aber auch S. 382; zur Eigentumslehre Kants: R. Brandt, Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, 1974, S. 167 ff.; H.-G. Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, 1983, S. 61 ff.; K. Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung. Zur Aktualität der Kantischen Rechts- und Eigentumslehre, 1984; R. Dreier, Eigentum in rechtsphilosophischer Sicht, 1987, in: ders., Recht - Staat - Vernunft, Studien zur Rechtstheorie 2, 1991, S. 168 ff.; W. Kersting, Transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung, 1991, in: ders., Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, 1997, S. 41 ff. 12 Metaphysik der Sitten, S. 353. 13 I.d.S. J. Locke, Über die Regierung, V, 22,44; dazu W. Kersting, Transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung, S. 58 ff.; i.d.S. auch /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 353 ff.; gewissermaßen auch W. Leisner, Freiheit und Eigentum, 1974, S. 14; G. Dürig, Das Eigentum als Menschenrecht, ZfgesStW 109 (1953), S. 326 ff. (348, 350), der sich auf Kant beruft. 14 Dazu K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 54ff., 297ff., 318ff., 340ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 103 ff. 15 I.d.S. G. Dürig, Eigentum als Menschenrecht, ZfgesStW 109 (1953), S. 345, auch S. 346 ff.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 421 ff.; H. Rittstieg, AK-GG, 2. Aufl. 1989, Art. 14/15, Rdn. 61 f., 74ff.; A. v. Brünneck, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, 1984, S. 386ff.; vgl. i.d.S. auch BVerfGE 24, 367 (400): „personenhafte Bezogenheit" des Eigentums, „als Arbeitsraum für eigenverantwortliche Betätigung"; BVerfGE 50, 290 (339 ff., insb. 348); 53, 257 (291 ff.); 58, 81 (112), personaler Bezug; allgemein zum „Persönlichkeitsbezug" der Grundrechte W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 395 ff.; weitere Hinweise in Fn. 180ff.

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Handelns zu. Er nimmt die Welt in Anspruch, ohne daß er dies vermeiden könnte. Sein Handeln verändert die Lebenswirklichkeit aller anderen Menschen, weil es auf alle einwirkt 16 . Die Möglichkeiten, welche ein Mensch nutzt, können nicht von anderen in Anspruch genommen werden. Das Mein und Dein ist als Notwendigkeit des Lebens und Handelns ein Apriori der Menschen als Gemeinschaftswesen, weil Menschen als Besondere individualisiert sind 17 . Eigenes hat seinem Wesen nach der (besondere) Einzelne in der Gemeinschaft. Das Eigene ist wie der Mensch als Person zugleich sozial 18 . Der Mensch sei „nicht isoliertes und selbstherrliches Individuum, sondern gemeinschaftsbezogene und gemeinschaftsgebundene Person", pflegt das Bundesverfassungsgericht sein Menschenbild zu plakatieren 19. Eigenes schließt die anderen von der eigenen Möglichkeit aus. Die Möglichkeiten eines Menschen sind einmalig. Sie können aufgegeben und genommen werden oder sonstwie, je nach ihrer Eigenart, verlorengehen. Kein Mensch hat dieselben Möglichkeiten, die ein anderer hat. Die Besonderheit jedes Menschen bewirkt die Einzigartigkeit seiner Möglichkeiten, eben die Persönlichkeit des Menschen. Jeder Mensch lebt in anderen, nämlich in seinen Verbindungen. Diese sind durch die beteiligten Personen substantialisiert, und die Personen sind nicht ohne Veränderung der Materie der Verbindungen austauschbar. „Eigentum ist bei jedem seiner Träger verschieden, kein Bürger besitzt genau dasselbe" (W. Leisner) 20. Dieter Suhr spricht von der Erweiterung der „Ich-Sphäre" auch durch „Eigentum aus Vertrag" 21 . Daran ändert die Übertragbarkeit des Eigentums an Sachen oder auch die Abtretbarkeit von Forderungen nichts. 16 K. A. Schachtschneider, 478 ff.

Res publica res populi, S. 218 ff., 299, 318 f., auch S. 370 ff.,

17 G.W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 1821, § 187 („Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben."); G. Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft. Vorüberlegungen zu einer Rechtsphilosophie, 1997, S. 9 ff., insb. S. 39 ff., 59 ff.; zum Bürgerbegriff K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 211 ff. 18 Dazu u. a. W. Leisner, Sozialbindung des Eigentums, passim; ders., Eigentum, S. 140ff.; ders., Sozialbindung des Eigentums nach privatem und öffentlichem Recht, 1975, S. 507 ff.; ders., Das Eigentum Privater - Vertragsfreiheit und Sozialbindung, 1995, S. 180 ff.; G. Dürig, ZfgesStW 109 (1953), S. 344 ff.; i.d.S. für das Eigentum BVerfGE 42, 263 (294); 50, 290 (340); 52, 1 (29); 53, 257 (291 ff.); st. Rspr. 19 BVerfGE 4, 7 (15 f.); 12, 45 (51); 27, 1 (7); 30, 173 (193); 32, 98 (108); 33, 303 (334); 45, 187 (227); 50, 166 (175); zum Personenbegriff I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 60f., 72; ders., Metaphsyik der Sitten, S. 329 f.; dazu W. Kersting; Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 1989, S. 89 ff., 93 f.; W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, HVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 480ff.; K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht. Kritik der Fiskustheorie, exemplifiziert an § 1 UWG, 1986, S. 99ff., 116ff., 22ff.; ders., Res publica res populi, S. 211 ff. (insb. S. 222), 234ff.; G. Jakob, Norm, Person, Gesellschaft, S. 14 ff., 29 ff., 59 ff. 20 Freiheit und Eigentum, S. 18; i.d.S. auch ders., Eigentum - Grundlage der Freiheit, 1994, S. 38. 21 Eigentumsinstitut und Aktieneigentum. Eine verfassungsrechtliche Analyse der Grundstruktur des aktienrechtlich organisierten Eigentums, 1966, S. 45 f. („So wie die Sache die

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Das bürgerliche Recht abstrahiert demgegenüber das Eigentum und die Forderungen weitgehend von den Eigentümern bzw. den Gläubigern und Schuldnern als Persönlichkeiten, um die Verkehrsfähigkeit des Eigentums und der Forderungen zu ermöglichen. „Eigentum ist etwas wesentlich Transpersonales, ein Gut für viele Hände, eine Hilfe für die Entfaltung vieler, unvergleichbarer Menschenwürden ..." (Walter Leisner) 22. Dies gilt für die Gegenstände des Eigentums, aber das Eigentum ist ein Rechtsverhältnis, welches durch die Menschen, personal-sozial, bestimmt ist 2 3 . Der Wechsel der beteiligten Personen verändert die Möglichkeiten, welche als Eigentum oder als Forderung rechtlich geschützt sind, und zieht dem auch Grenzen, wie § 415 BGB für den Schuldnerwechsel, welcher der Zustimmung des Gläubigers bedarf, erweist. Weil nach § 903 BGB jeder Eigentümer „mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen" darf, „soweit nicht das Gesetz oder die Rechte Dritter entgegenstehen"24, ist es für die Eigentumsverhältnisse unter den Menschen wesentlich, wer der Eigentümer ist. Aber diese Privatheit wird zugelassen und muß zugelassen werden, wenn die Menschen Eigenes haben können sollen; denn kein Mensch vermag mit einer Sache so zu verfahren, wie ein anderer, weil er in besonderen Verhältnissen lebt und vor allem eine besondere Persönlichkeit ist. Die Erwartungen gegenüber einem anderen Menschen sind insoweit Eigenes, als sie äußeren oder inneren Bindungen des anderen Menschen entsprechen, worauf letztere auch immer beruhen mögen, sei es auf dem Gesetz, welches ein zwangsbewehrtes subjektives Recht, also Eigentum, begründet 25, sei es auf gesetzlosem Zwang, dem sich der Betroffene zu fügen genötigt sieht, seien es auch nur Interessen, die es geraten sein lassen, den Forderungen eines anderen nachzukommen, oder sei es die Liebe, welche die stärkste Art der Bindung zu begründen vermag. Aus der Bindung erwächst die Verbindlichkeit, deren Erfüllung in Anspruch genommen werden kann, wenn die Bindung das trägt. Der Begriff des Eigenen ist deskriptiv und auch unabhängig von einer Rechtfertigung, im Gegensatz zu dem des gesetzesgegründeten Eigentums. Der Zwang oder das Interesse sind oft verbindlicher als das Gesetz, etwa der Zwang, den Verbrecher ausüben, oder das Interesse, welches Abgeordnete ihrer Partei gefügig macht. Wer erwarten kann (nicht Ich-Sphäre des Gebrauchseigentümers erweitert, so erweitert das Eigentum aus Vertrag die Ich-Sphäre des verfügungsmächtigen Eigentümers, der die Macht hat, sein Wirken um die aus der Freiheit ausgeschiedenen Handlungen der Vertragspartner zu erweitern und zu vervielfältigen."). 22

Freiheit und Eigentum, S. 13. 3 G. Dürig, ZfgesStW 109 (1953), S. 346ff.; vgl. /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365 ff.; W. Kersting, Transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung, S. 42. 2

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Grundsätzliche Kritik am Beliebigkeitsprinzip für das Eigentum an „Unternehmen von öffentlicher Bedeutung" entwickelt H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 430 ff. 2 5 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365 f., 366 ff., auch S. 338 f.; dazu W. Kersting, Transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung, S. 64ff., 69 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 430 f., allgemein zur freiheitlichen Zwangsbefugnis S. 545 ff., kantianischS. 553 ff.

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notwendig erwarten darf), daß ein anderer seine Erwartungen nicht enttäuschen werde, hat ein Eigenes (gegebenenfalls aufgrund Gesetzes Eigentum) an den Handlungen oder, wie Kant sagt, an der „Willkür eines anderen" 26. „Die Handlung des einen scheidet aus der Freiheit und wird zum Eigentum des anderen" (Dieter Suhr) 21. Das Handeln eines anderen Menschen, jedenfalls dessen die Handlung bestimmende Willkür, gehört dem Eigner nur, wenn dafür ein Grund besteht, seien es Zwang, Interesse oder Liebe, wie labil die Bindung auch sein mag. Nehmen darf man sich einen anderen oder dessen Handlungen oder dessen Willkür nicht; denn das würde dessen Freiheit verletzen; denn (äußere) Freiheit ist „die Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" 2 8 . Der Andere kann ebenso wie seine Handlung auch seine mehr oder weniger stabile Bereitschaft zur erwarteten Handlung nur geben29. Eigentum als subjektives Recht kann nur auf einem allgemeinen Gesetz beruhen, welches die Anerkennung und den Schutz des ganzen Volkes, organisiert als Staat, und damit auch den Willen der jeweils Verpflichteten ausspricht 30. Handeln ist Vollzug von Zwecken, die frei gesetzt sind, also seinem Begriff nach frei 31 . Rechtliche oder rechtmäßige Verbindlichkeiten müssen auf Freiheit gründen, also freiheitliche Bindungen sein. Die Erfüllung solcher Verbindlichkeiten ist immer freiheitlich, bestmöglich moralisch - nach dem Satz der Moralität: „Handle pflichtmäßig, aus Pflicht" (Kant) 32. Aber auch falls sie erzwungen werden muß, ist die Erfüllung freiheitlich, weil rechtens; denn der gesetzliche Zwang vollzieht den allgemeinen Willen, also auch das Gesetz dessen, der das Gesetz aus Unvermögen als homo phaenomenon nicht zu achten vermag 33. Frei ist nur der homo noumenon, der aber erfüllt seine Verpflichtungen. „Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden" (Kant) und darin Verwirklichung der Freiheit 34 . Die erzwungene Verbindlichkeit jedoch ist nicht freiheitlich begründet. Wenn sie unter Zwang erfüllt wird, ist die Handlung äußerlich und damit rechtlich nicht frei.

26 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 382. 27 Eigentumsinstitut und Aktieneigentum, S. 45, der sich auf Kant, F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Neudruck der 8. Aufl. von 1935, 1963, S. 186, und F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, 5. Aufl. 1878, 2. Bd., S. 362 („Ein Mensch dient so dem anderen als Stoff, als Sache, aber nur für einzelne äußere Handlungen."), beruft. 28 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345; dazu K. A. Schachtschneider, populi, S. 325 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 56 ff. 29 I.d.S. I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 382 f. 30 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365 f., 366 ff.; dazu näher sub III.

Res publica res

31 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 297 ff., 317 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 103 ff. 32 Metaphysik der Sitten, S. 521, dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 288 f.; ders., Freiheit in der Republik, S. 68 ff. 33 Vgl. /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 333; auch ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 41, 95; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 318 ff. 34 Metaphsyik der Sitten, S. 338 ff., 464, auch S. 527; ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Bd. 9, S. 144, 169; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 553 ff.

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Eigenes gibt es nicht nur an Sachen, sondern an allem, was dem Menschen zu eignen vermag, an allem, was das Seine sein kann, also neben den Sachen und sonstigen Gegenständen vor allem auch an den Handlungen oder der Willkür der Menschen. Das zeigen die Beobachtung, die Geschichte35 und die Philosophie des Eigentums. Die Verengung des Eigentumsbegriffs auf das Eigentum an Sachen im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 903) vermag die Wirklichkeit nicht zu verändern. Dieser privatrechtliche Eigentumsbegriff bestimmt nicht einmal den Eigentumsbegriff des grundgesetzlichen Eigentumsgrundrechts, der nach der immer noch restriktiven Praxis alle „Vermögenswerten Rechte" erfaßt, sogar die öffentlichen Rechts, letztere aber nur, wenn sie auf „eigener Leistung" beruhen 36. Die Rechte an oder auf Handlungen anderer Menschen finden ihren Schutz in anderen Rechtsinstituten als denen des Art. 14 Abs. 1 GG, insbesondere im Ehe- und Familienrecht und in dem Grundrecht des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG, im Vertragsrecht, das vielfältig grundrechtlich geschützt ist, jedenfalls durch Art. 2 Abs. 1 GG als Grundrecht der allgemeinen Vertragsfreiheit 37. Die Restriktion des Eigentumsbegriffs auf geldwertes Vermögen ist schon deswegen ohne Sinn, weil alle Handlungsmöglichkeiten einen Geldwert haben können. Die Würde des Menschen aber, die keinen Preis hat, ist dessen innere Freiheit, seine Willensautonomie38. Wer seine Handlungen nicht von dem Sittengesetz 35 Zur Geschichte des Eigentumsbegriffs D. Schwab, Eigentum, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1975, S. 65 ff.; H. Welkoborsky, Die Herausbildung des bürgerlichen Eigentumsbegriffs, und U. Sieling-Wendeling, Die Entwicklung des Eigentumsbegriffes vom Inkrafttreten des bürgerlichen Gesetzbuches bis zum Ende des Nationalsozialismus, in: W. Däubler/dies., Eigentum und Recht. Die Entwicklung des Eigentumsbegriffs im Kapitalismus, 1976, S. 11 ff. bzw. 75 ff.; H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem. Zur Geschichte und Gegenwart des bürgerlichen Verfassungsstaates, 1975. 36 BVerfGE 14, 288 (293); st. Rspr.; etwa BVerfGE 30, 292 (334); 53, 257 (289 ff.); 58, 81 (112f.); 69, 272 (300ff.); 70, 115 (122); 70, 191 (199); 72, 175 (193); 83, 201 (209); 95, 267 (300); 97, 350 (371); W. Leisner, Sozialbindung des Eigentums, S. 19 ff. (zur Entwicklung dieses Begriffs); ders., Eigentum, S. 82, 117 ff., 132ff.; P. Badura, Eigentum, HVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 329, 347ff.; H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, 1994, Art. 14, Rdn. 124 ff.; O. Kimminich, GG, Bonner Kommentar, Drittbearbeitung, 1992, Art. 14, Rdn. 31, 55 f.; R. Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, 1985, S. 113 ff., der Eigentum „als qualifiziertes normatives Zugehören" dogmatisiert (S. 121 ff.); D. Ehlers, Eigentumsschutz, Sozialbindung und Enteignung, VVDStRL 51 (1992), S. 214f.; weiter noch BGHZ (Großer Senat) 6, 270 (278), wonach Jedes Vermögenswerte Recht", „das ganze Vermögen der Bürger", durch die Eigentumsgarantie und den Eigentumsschutz geschützt sei, „gleichgültig, ob es dem bürgerlichen oder dem öffentlichen Recht" angehöre.

37 Vgl. etwa BVerfGE 8, 274 (328); 12, 341 (347); 70, 115 (123); 81, 242 (253 ff.); 89, 48 (61); 89, 214 (232 ff.); K A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 337 ff.; ders., Res publica res populi, S. 404ff.; W. Höfling, Vertragsfreiheit. Eine grundrechtsdogmatische Studie, 1991, passim. 38 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. 6, S. 69; ders., Kritik der praktischen Vernunft, Bd. 6, S. 144 ff., 148 ff., 155 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 332 ff., auch S. 279 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 68 ff., auch S. 78 ff.

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bestimmen, sondern sich durch Bestechung oder anderswie korrumpieren läßt, mißachtet seine Würde und handelt nicht frei. Der Habsucht, Herrschsucht oder Ehrsucht zu folgen ist ein „Unvermögen", dessen der Mensch freilich als homo phaenomenon, „als Sinnenwesen", fähig ist 3 9 . „Freiheit ist allein ... ein Vermögen" (des „intelligiblen Wesens"), nämlich das der praktischen (gesetzgebenden) Vernunft 40. Die sprachliche Restriktion des gesetzlichen Eigentumsbegriffs hebt den Sachbegriff des Eigentums nicht auf. Der Mensch ist „Eigner seiner selbst" 41 , insbesondere Eigner seines Lebens, seiner Gesundheit, seiner Gedanken, seiner Handlungen, seiner Arbeit, seiner Werke, seiner Meinung, seiner Religion. Er ist aber auch Eigner der Handlungen anderer Menschen, nämlich der seiner Arbeitnehmer, seiner Geschäftspartner, seines Ehepartners, seiner Geliebten etc. Auch Menschen (insgesamt) können das Eigene anderer Menschen, ihrer Herren, sein, nicht aber deren Eigentum, weil ein solches Recht die Menschheit des Menschen in der Person des Beherrschten verletzen würde 42 . Der jewei-lige Rechtsschutz dieser Verhältnisse schafft Eigentum, auch wenn die Rechtsinstitute anders benannt sind - aus gutem Grunde, weil der Eigentumsbegriff durch das Herrschaftsprinzip diskriminiert ist, das mit ihm verbunden wurde und wird 4 3 . Wenn Eigentum als Institut des Rechts, welches ausschließlich auf Freiheit gründet, dogmatisiert wird, kann es jedoch nicht Herrschaft legalisieren; denn das wäre ein Widerspruch zur Freiheit 44 . 39 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 332 f. /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 332 f.; ebenso ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 88 f.; vgl. auch ders., Kritik der praktischen Vernunft, S. 144 ff., 218; K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 279 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 1 ff., 56 ff., 68 ff. 41 I. Kant, Über den Gemeinspruch, S. 149; J. G. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat. Ein philosophischer Entwurf als Anhang zur Rechtslehre und künftig zu liefernden Politik, 1800, hrsg. v. F. Medicus, 1922, S. 60 („Nackend an jedes Ufer geworfen, kann er sagen: ich trage alles das Meinige an mir selbst."). 42 I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 382, wonach „ein Mensch sein eigener Herr (sui iuris), aber nicht Eigentümer von sich selbst (sui dominus) (über sich nach Belieben disponieren zu können) geschweige denn von anderen Menschen sein kann, weil er der Menschheit in seiner eigenen Person verantwortlich ist;...". 43 Prononciert W. Leisner, Die demokratische Anarchie. Verlust der Ordnung als Staatsprinzip?, 1982, S. 361 f. („In allem gibt das Eigentum die Kraft weiter, durch welche es konstituiert ist: die Herrschaftsgewalt, aus der Ordnung kommt."); auch ders., Politischer Einfluß des Eigentums - verfassungswidrig?, 1975, S. 73 ff.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 421 ff. („ein Stück absoluter Herrschaft"), S. 430 ff., der Herrschaft mit Verantwortung für Menschen und Sachen verbindet und als solche nicht kritisiert; R. Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S. 14 ff., 101 ff. („rechtliche Herrschaft"); M. Wolff, Sachenrecht, 9. Aufl. 1932, S. 143 („umfassendstes Herrschaftsrecht, das man an einer Sache haben kann"); F. Baur, Lehrbuch des Sachenrechts, 6. Aufl. 1970, S. 24 („absolute Herrschaftsmacht des Berechtigten"); vgl. auch BGHZ (Großer Senat) 6, 270 (278): „Herrschaftsbereich des Eigentumsrechts"; hingewiesen sei auf die Kritik der „Bourgeoisie" im Manifest der Kommunistischen Partei vom Februar 1848, Teil I; vgl. auch F. Tönnies, Das Eigentum, 1926, S. 11 ff., 16ff.; K. Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung, S. 297 ff. 44

K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 71 ff., insb. S. 124 ff., 153 ff.

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II. Recht am Eigentum 1. Das Mein und Dein hängt nicht davon ab, daß die Menschen in einem Staat zusammenleben und ihr gemeinsames Leben rechtlich geordnet haben. Das Eigene ist keine durch den Staat bedingte Lebenswirklichkeit. Vielmehr hat jeder Mensch das, was er sich genommen hat oder was er sich hat geben lassen. Auch ohne Gesetze gibt es eine Verteilung der Güter, freilich keine gerechte. Weil das Eigene Teil der Persönlichkeit des Menschen ist, wird der Mensch, der als solcher Eigenes vor allem sein Leben hat, schon durch die Gefahr lädiert, daß ihm das Seine von anderen genommen werde 45 , weil die Lebensverhältnisse und damit die Achtung des Seinen nicht durch allgemeine Gesetze, durch Recht also, gesichert sind. Wer das Eigene eines Menschen diesem gegen dessen Willen abnötigt, macht ihm die Handlungsmöglichkeiten, die „freie Entfaltung seiner Persönlichkeit", streitig, der verletzt dessen Willensautonomie; denn die äußere Freiheit ist „die Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" (Kant) 46. Weil aber jeder, der lebt und der um seines Lebens willen äußere Möglichkeiten nutzen muß, anderen die Möglichkeit nimmt, die allgemein zugänglichen Güter für sich in Anspruch zu nehmen, ist das Leben ohne Recht bereits eine Verletzung der Freiheit der anderen, also der allgemeinen Freiheit 47 ; denn alles Handeln nötigt andere. Das erweist sich in den Menschenrechten, welche das wesentliche Eigene des Menschen schützen, etwa das Recht auf Leben und das Recht auf Gesundheit (Art. 3 und 25 AEMR; Art. 2 Abs. 2 GG). Die Menschenrechte sind mit den Menschen geboren, jedenfalls folgen sie aus der Freiheit, welche die Menschheit des Menschen ausmacht48. Nach Art. 17 AEMR, Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG wird das Eigentum gewährleistet. Die Wirklichkeit von Freiheit und Eigentum ist der Zweck des Staates49, nämlich das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit 50 . Der Mensch strebt nach Sicherheit. Sicherheit ist Staatszweck51. Allgemeine Sicherheit gibt es nur durch Rechtlichkeit als der allgemeinen, der Menschheit des 45 I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 353, 365 f., 366 ff., 422 ff., 424 ff., 430 ff., 464. 46 Metaphysik der Sitten, S. 345; dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 290 ff., 332 ff., 494 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 56 ff. 47 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365 f., 430f.; ders., Über den Gemeinspruch, S. 143 ff., 148; ders., Zum ewigen Frieden, Bd. 9, S. 203. 48 I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345 f.; A. Enderlein, Der Begriff der Freiheit als Tatbestandsmerkmal der Grundrechte. Konzeption und Begründung eines einheitlichen, formalen Freiheitsbegriffs, dargestellt am Beispiel der Kunstfreiheit, 1995, S. 84ff.; K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 147 ff. 49 W. Leisner, Freiheit und Eigentum, S. 7 ff., insb. S. 19 f. 50 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 297 ff., 350 ff., 573 ff., 625 ff. 51 Th. Hobbes, Leviathan, II, 21 (Schutz); J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 3 ff.; Vi Götz, Innere Sicherheit, HStR, Bd. III, 1988, § 77; Ch. Link, Staatszwecke im Verfassungsstaat nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48 (1990), S. 27 ff., Ls. 10; G. Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48 (1990), S. 83 ff., Ls. 3, 4, S. 14ff., 23 f.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 545 ff.;

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Menschen gemäßen Gesetzlichkeit52. Diese Gesetzlichkeit ist die Staatlichkeit53. Sie sichert nach Maßgabe der allgemeinen Gesetze auch die Möglichkeiten der Menschen zu leben und zu handeln, also das jeweils Eigene. Ohne die gemeinsame Gesetzlichkeit, die, wenn die Bürger nicht „pflichtmäßig, aus Pflicht", also moralisch 54 , handeln, durch den Staat erzwungen werden darf und soll 55 , ist das Eigene nicht gesichert, sondern ständig durch die anderen Menschen gefährdet, welche Interesse haben können, anderen Menschen die äußeren Möglichkeiten des Handelns und Lebens, ja sogar das Leben selbst, zu nehmen56. Das ist die Lage des bellum omnium contra omnes, in dem jeder ein Recht auf alles beansprucht 57, der Zustand „natürlicher", „vollkommener", „wilder gesetzloser" Freiheit 58 , der Zustand der Friedlosigkeit. Im Interesse des Mein und Dein postuliert Kant das Recht auf eine bürgerliche Verfassung, welche den Staat schafft und damit die Rechte sichert 59. Aus dem menschheitlichen Recht auf Sicherheit, welches aus dem Urrecht der Freiheit folgt 60 , kann jeder die Sicherheit gewährleistende allgemeine Gesetzlichkeit oder eben Staatlichkeit beanspruchen, vor allem zur Sicherung der Möglichkeit des Lebens und des Handelns, also des Eigenen. zur Schutzpflicht des Staates BVerfGE 39, 1 (41 ff.); 46, 160 (164 f.); 49, 49 (141 f.); 53, 30 (57 f.); 56, 54 (73 ff.); 77, 170 (214); 88, 203 (215 ff.); 89, 214 (231 f.); J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, HStR, Bd. V, 1992, § 111, Rdn. 77 ff., 181 ff.; K Stern, Staatsrecht, Bd. III, 2, 1994, S. 1802ff. 52 I.d.S. /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 366 ff., 430f., 464.; K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 519 ff., 545 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 84 ff. 53 K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 519 ff. 54 I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 521, auch S. 323 ff., 326, 517, 523; ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 26 ff.; ders., Kritik der praktischen Vernunft, S. 191 ff., 203, 207, 295; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 279 ff., insb. S. 288 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 68 ff. 55 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 338 ff., 464, auch S. 527; ders., Über den Gemeinspruch, S. 144, 169; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 553 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 42 ff. 56 Th. Hobbes, Leviathan, I, 13; J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 8; /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365 ff., 430f.; ders., Zum ewigen Frieden, Bd. 9, S. 203; auch ders., Der Streit der Fakultäten, Bd. 9, S. 364; ders., Über den Gemeinspruch, S. 154 f.; O. Höffe, Politische Gerechtigkeit, Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, 1987, S. 207 ff., 343 ff., 382 ff.; ders., Gerechtigkeit als Tausch?, Zum politischen Projekt der Moderne, 1991, S. 23, 24ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 545 ff. 57 Th. Hobbes, Leviathan, I, 14, II, 17, 18; J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 8; vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 430f.; ders., Zum ewigen Frieden, S. 203, 208 f. 58 J. Locke, Über die Regierung, II, 4, IV, 22; J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 8; I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 434; auch ders., Zum ewigen Frieden, S. 209. 59 Metaphysik der Sitten, S. 366 ff., 374 ff.; ders., Über den Gemeinspruch, S. 143 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 290 ff., 325 ff. ders., Freiheit in der Republik, S. 38 ff., 84 ff. 60 I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 366 f.; ders., Über den Gemeinspruch, S. 143 ff.; 154 f.; ders., Zum ewigen Frieden, S. 203.

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Aus der Allgemeinheit der Freiheit folgt logisch das Recht auf Recht, weil niemand ohne das Recht seiner Freiheit sicher wäre 6 1 . Niemand wäre insbesondere des Seinen sicher, welches er zum Leben und Handeln benötigt. „Der Begriff aber eines äußeren Rechts überhaupt geht gänzlich aus dem Begriffe der Freiheit im äußeren Verhältnisse der Menschen zu einander hervor;... Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetz möglich ist, und das Öffentliche Recht ist der Inbegriff der äußeren Gesetze, welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen" (Kant) 62. „ A l l e Werte, welche der Existenzsicherung dienen können, sind eigentumsfähig" (Walter Leisner) 63. Die bürgerlichen, also die allgemeinen Gesetze begründen die subjektiven Rechte, welche das Eigene schützen. Damit wird das Eigene, das M e i n und Dein, zum Eigentum, oder es wird durch ein anderes eigentumshaftes Recht geschützt. Aus dem provisorischen wird das peremtorische Eigentum 6 4 . Der Staat verwirklicht das Recht, schützt das Eigene und begründet Eigentum 6 5 . Eigentum i m weiteren Sinne sind nämlich die durch die allgemeinen Gesetze begründeten materialen Rechte des Lebens und des Handelns, Rechte an Handlungen anderer Menschen, Rechte an Sachen, Rechte an Gegenständen aller Art. I m engeren Sinne ist Eigentum die Menge der Rechte am „Vermögenswerten" Eigenen 6 6 , auch am Vermögen insgesamt 67 . 2. „Eigentum wird gewährleistet", heißt es i m Grundgesetz, nicht aber: Eigentum wird geschützt 68 . Grundrechtliche Gewährleistung von Eigentum begründet 61 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 290ff., 325 ff., 545 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 42 ff., 38 ff., 84 ff. 62 Über den Gemeinspruch, S. 144; vgl. zum Begriff des Rechts auch ders., Metaphysik der Sitten, S. 336 ff. 63 Eigentum, S. 121; ders., Eigentum als Existenzsicherung? Das „soziale Eigentum" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1986, S. 52 ff., wo W. Leisner sich gegen eine Restriktion des Eigentums auf die Existenzsicherung wendet. 64 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 366 f., 374ff., 430f.; i.d.S. schon J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 9; dazu W. Kersting, Transzendentalphilosphische Eigentumsbegründung, S. 64 ff., 69 ff. 65 J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 8; i.d.S. I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365 ff.; ders., Über den Gemeinspruch, S. 143 f.; F. Tönnies, Eigentum, S. 9. 66 Hinweise in Fn. 36. 67 Vorsichtig W. Leisner, Eigentum, S. 135 ff.; H.H. v. Arnim u. P. Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39 (1981), S. 301 f. bzw. 234 ff.; genau D. Suhr, Eigentumsinstitut und Aktieneigentum, S. 31 ff.; vgl. K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 347 ff., 353 ff.; ders. (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution. Kritik der Altschuldenpolitik. Ein Beitrag zur Lehre von Recht und Unrecht, 1996, S. 177; restriktiv, nur gegen „Geldleistungspflichten, die den Betroffenen übermäßig belasten und seine Vermögensverhältnisse so grundlegend beeinträchtigen, daß sie eine erdrosselnde Wirkung haben", st. Rspr., etwa BVerfGE 78, 232 (243); 93, 121 (137); 95, 267 (300); aber noch enger H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rdn. 160ff.; vgl. auch D. Ehlers, VVDStRL 51 (1992), S. 216; weitergehend BGHZ 6, 270 (278).

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zunächst und zumindest ein Grundrecht auf eine Eigentumsordnung („Einrichtungsgewährleistung") 69 , welche es jedem Menschen ermöglicht, Eigentum zu haben, ohne jedoch ein jeweiliges Eigentum zuzusichern. Diese objektive Gewährleistung ist die Schmittsche Institutsgarantie 70 . Aber zur Gewährleistung des Eigentums gehört auch dessen Schutz. Eigentum ist nicht Eigentum, wenn die Privatheit des Eigenen nicht gesichert ist, wie es das Privatnützigkeitsprinzip anerkennt 7 1 . Der rechtliche, also staatliche, Schutz des Eigenen macht Eigenes zu Eigentum. Die Sicherung des Eigenen ist, wie ausgeführt, Zweck des Staates. Die Gewährleistungsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geht über den Schutz des jeweiligen Eigentums 7 2 hinaus, umfaßt diesen aber als Wesensgehalt des Grundrechts. Das Grundgesetz hat demgemäß in Art. 14 Abs. 3 für die Enteignung und in Art. 15 für die (sogenannte) Sozialisierung enge Voraussetzungen formuliert und damit einen wirksamen Bestandsschutz des jeweiligen Eigentums 7 3 , selbst von solchem an Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln, geschaffen 74 .

68 I.d.S. aber W. Leisner, Eigentum, S. 83 ff.; P. Badura, HVerfR, S. 341 ff., insb. Rdn. 26; H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rdn. 3 ff.; O. Kimminich, GG, Bonner Kommentar, Art. 14, Rdn. 100 ff. („Wirkung des Schutzes"). 69 W. Leisner, Freiheit und Eigentum, S. 17; ders., Eigentum, S. 87 ff.; R. Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S. 183 ff. 70 C. Schmitt, Freiheitsrecht und institutionelle Garantien der Reichsverfassung, 1931, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 140ff., 160 ff.; W. Leisner, Eigentum, S. 87 ff.; BVerfGE 24, 367 (389); 26, 215 (222); 31, 229 (240); 42, 263 (294); 58, 300 (339); //.J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rdn. 11 ff.; P. Badura, HVerfR, S. 342, 345ff.; O. Kimminich, GG, Bonner Kommentar, Art. 14, Rdn. 119; D. Ehlers, VVDStRL 51 (1992), S. 216; kritisch G. Dürig, ZfgesStW 109 (1953), S. 331 ff. 71 BVerfGE 24, 367 (390); 31, 229 (240); 37, 132 (140); 50, 290 (339); 52, 1 (30); 58, 300 (345); 79, 292 (303); 93, 121 (137) u.ö.; grundlegend R. Reinhardt, Wo liegen für den Gesetzgeber die Grenzen, gemäß Art. 14 des Bonner Grundgesetzes über Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen, in: ders./U. Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums, 1954, S. 10 ff., 33 ff.; W. Leisner, Sozialbindung des Eigentums, S. 171 ff. (kritisch); ders., Eigentum - Grundlage der Freiheit, S. 26, 44; ders., Eigentum, S. 101, 112, 143; H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rdn. 366ff.; P. Badura, HVerfR, S. 330, 342; vgl. K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 277 ff.; ders., Res publica res populi, S. 1004, 1023 ff. 72 Zur Materie der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 GG W. Leisner, Eigentum, S. 105ff.; P. Badura, HVerfR, S. 341 ff.; H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, 1994, Art. 14, Rdn. 56 ff.; O. Kimminich, GG, Bonner Kommentar, Art. 14, Rdn. 30ff.; R. Wendt, in: Sachs, GG, 1996, Art. 14, Rdn. 21 ff.; auch K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1023 ff. 73 Dazu W. Leisner, Eigentum, S. 111, 122 f., 126; ders., Bestandsgarantie des Eigentums vom Bergrecht unterminiert?, 1988, S. 465 ff.; ders., Der Sozialisierungsartikel als Eigentumsgarantie, 1975, S. 233ff.; H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rdn. 9; P. Badura, HVerfR, S. 334 f., 348 f., 360, 364; vgl. BVerfGE 24, 367 (397, 400); 38, 175 (181); 56, 249 (260 f.); 58, 300 (323); 71, 137 (143); 93, 121 (137 f.). 74 Grundlegend H. P Ipsen, Enteignung und Sozialisierung, VVDStRL 10 (1952), S. 74ff.; wesentlich W. Leisner, Sozialbindung des Eigentums, passim, insb. S. 43 ff., 65 ff., 147 ff.; ders., Eigentum, S. 157 ff.

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Die Praxis hat den Bestandsschutz dadurch gestärkt, daß die Entschädigung für Enteignungen regelmäßig nach dem Verkehrs wert bemessen wird 7 5 . Dem Text des Grundgesetzes läßt sich eine solche Regel nicht ablesen, aber sie verwirklicht den Gleichheitssatz gegenüber denen, welche der Allgemeinheit ihr Eigentum nicht opfern mußten76. Wie das jeweils Eigene der Menschen gesichert und insbesondere verteilt wird, ist eine Sache der jeweiligen Ordnung. Die Ordnung kann auf Stärke beruhen, also eine Herrschaftsordnung oder eben auf der allgemeinen Freiheit und damit eine Rechtsordnung sein 77 . Die wirkliche Ordnung der Freiheit wäre die vollendete Gemeinschaft der Liebe, weil die allseitige Liebe die Sittlichkeit als Wirklichkeit allgemeiner innerer Freiheit ist 78 . Diese Anarchie 79 ist eine Utopie von der vollendeten Menschheit des Menschen, die in einer respublica noumenon leben. Sie ist aber die Idee des Rechts, welche aus einer anderen Welt kommt als der Welt, in der sie wirkt und wirken soll, der Welt der Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht80. Die Idee des Rechts kommt aus der Welt der Liebe, der Welt der homines noumenoi. Aber: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden" 81 . Also sind Vorkehrungen gegen die Vergewaltigung des einen durch den anderen nötig. Das rechtfertigt nicht nur den Staat und die gesetzliche Eigentumsordnung, sondern gibt jedem das Recht auf Recht und Staat.

I I I . Recht auf Eigentum 1. Solange jeder Mensch das als das Seine hat, was er sich genommen hat oder was ihm von anderen Menschen gegeben wurde, sind die Möglichkeiten des Lebens und Handelns nicht allgemein, d. h. durch allgemeines Gesetz als das Gesetz aller, geordnet und damit nicht nur nicht gesichert, sondern auch nicht gerecht verteilt; denn nur das allgemeine Gesetz vermag Gerechtigkeit zu schaffen, freilich nur, wenn es die Menschheit des Menschen, also die Menschenrechte, 75 BGHZ 11, 156 (165 ff.); 39, 198 (202); dazu W. Leisner, Die Höhe der Enteignungsentschädigung, Unterschreitung des Verkehrs wertes?, S. 577 ff.; ders., Eigentum, S. 163 f.; grundlegend ders., Sozialbindung des Eigentums, S. 101 ff.; ders., Das Eigentumssyndikat. Fondseigentum und Zwangsgenossenschaft als Formen der Sozialbindung?, 1976, S. 484 f. 76 I.d.S. BVerfGE 24, 367 (421); vgl. auch BVerfGE 41, 126 (161); 46, 268 (286). 77 K. A. Schachtschneider (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, S. 29 ff. 78 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 279 ff., insb. 287 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 68 ff. 79 Vgl. /. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Bd. 10, S. 686 („Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt [Anarchie]"); W. Leisner, Die demokratische Anarchie, S. 17 ff., versteht demgegenüber „Anarchie als Negation jeder Ordnung" (S. 22) und als „totale Ablehnung", „systematische Verneinung aller Herrschaft" (S. 34 ff.). 80 /. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Bd. 9, S. 38. 81 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 41. FS Leisner

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wahrt 8 2 , zu denen auch das Recht auf Eigentum gehört (Art. 17 der Déclaration des Droits de T Homme et du Citoyen 1789; Art. 17 A E M R ) 8 3 . Walter Leisner sagt 1989 in aller Klarheit: „Das Grundgesetz schützt das ,Recht am Eigentum 4 , nicht ein ,Recht auf E i g e n t u m 4 " 8 4 . 1975 hatte Walter Leisner mit einer „demokratischgesellschaftlichen Grundrechtstheorie" „die letzte Konsequenz gezogen", „daß das Recht auf Eigentum dem Recht am Eigentum vorgehe" 8 5 . Es kommt darauf an, ob man den Bürger als citoyen oder als bourgeois begreift. Walter Leisner hat beide Konzeptionen bedacht, letztlich aber in hegelianischer Trennung von Staat und Gesellschaft 86 die Bürgerlichkeit durch das private Eigentum definiert. „ M a n versus State", „State versus M a n " sind seine Schlagworte 8 7 . Die Möglichkeiten des Handelns bedürfen, weil alle Menschen gut leben wollen und können sollen, der verteilenden Ordnung durch die allgemeinen Gesetze 88 . Zweck des staatlichen Gemeinwesens, der Republik, ist, wie gesagt, das gute 82

K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 275 ff., 519 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 47 ff., 94 ff. S3 W. Leisner, Eigentum, S. 90ff.; grundlegend G. Dürig, ZfgesStW 109 (1953), S. 326ff.; L. Raiser, Das Eigentum als Menschenrecht, FS Fritz Baur, 1981, S. 105 ff.; nicht unkritisch zur „Heiligkeit" des Eigentums H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 422. 84 W. Leisner, Eigentum, S. 83, auch S. 85; aber in: Eigentum - Grundlage der Freiheit, S. 50, verbindet W. Leisner ein Recht auf mit dem Recht aus Eigentum, jedenfalls eine reale Chance auf Eigentum; gegen ein „Recht auf Eigentum" auch P. Badura, HVerfR, S. 342; auch H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rdn. 7, 128f., 133; E. Stein, Staatsrecht, 15. Aufl. 1995, S. 342, 346; vgl. BVerfGE 40, 65 (82 ff.), offengelassen; H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, S. 386 f., plädiert für einen ,»rechtlichen geordneten Zugang zu den Grundlagen der Subsistenz und der personalen Entfaltung für die Masse der Bevölkerung", auch S. 403 („Eigentumsgewährleistung - Forderung nach einer Umgestaltung der aktuellen Eigentumsordnung"); vgl. K. A Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1026; vgl. zum Eigentumsschutz „sozialversicherungsrechtlicher Positionen" BVerfGE 4, 219 (240 f.); 40, 65 (82 ff.); 53, 257 (289 ff.); 64, 272 (300 ff.); 72, 175 (193 ff.); zu dessen Grenzen A. Leisner, Die Leistungsfähigkeit des Staates. Verfassungsrechtliche Grenze der Staatsleistungen?, 1998, S. 146 ff. 85

Der Eigentümer als Organ der Wirtschaftsverfassung, S. 749. S6 G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, §§ 182 ff., 257 ff.; dazu M. Riedel, Bürgerliche Gesellschaft und Staat. Grundproblem und Struktur der Hegeischen Rechtsphilosophie, 1970; E.-W. Böckenförde, etwa, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973; J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht. Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, 1968, insb. S. 149 ff.; dazu kritisch K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 159 ff., insb. S. 175 ff. 87

Insbesondere, Das Eigentum als Organ der Wirtschaftsverfassung, S. 740 ff. (756); Eigentum, S. 87. 88 Th. Hobbes, Leviathan, II, 18; J. Locke, Über die Regierung, V, 50; vgl. /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 366 ff., 374 ff. zur provisorischen Verteilung nach der „Idee eines a priori vereinigten (notwendig zu einigenden) Willens aller" im Naturzustand, S. 412, 419, 423,464 zur Distributionsgerechtigkeit im bürgerlichen Zustand; dazu W. Kersting, Transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung, S. 67 f., 69 ff.; J. G. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, S. 54 ff., insb. S. 58 ff.

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Leben aller in allgemeiner Freiheit, nicht etwa nur die allgemeine Freiheit und demgemäß der Schutz des jeweils Eigenen. Warum sollten die Menschen, die unter einem Mangel an Möglichkeiten zur freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit leiden, denen das Eigene sichern, die im Übermaß an Möglichkeiten schwelgen? Die wichtigsten Güter der Menschen, ihr Leben und ihre Gesundheit, sind im übrigen in den freiheitlichen Gemeinwesen, soweit Menschen auf diese Güter einwirken können, geradezu unterschiedslos zugeteilt, weil sie allen Menschen weitestgehend geschützt werden. Es werden, kaum noch bezahlbare, Anstrengungen unternommen, um allen so viel wie irgend möglich an Leben und Gesundheit zu geben89. Rechtlich besteht hinsichtlich dieses Eigentums Egalität, erst recht ideologisch jedenfalls noch. Das Eigentum im engeren Sinne aber ist unterschiedlich verteilt. „Das Eigentum aber bleibt stets das wesentlich Ungleiche" (Walter Leisner) 90. Die Abstrahierung des Eigentums von der Persönlichkeit des Menschen hat diese Entwicklung begünstigt. Ein nicht nur unabänderliches, sondern auch fundamentales Prinzip der Republik ist das Sozialprinzip 91. Der Gleichheit in der Freiheit ist das Prinzip gleichheitlicher Güterverteilung immanent92. „Demokratie als Ordnung der Gleichheit in Freiheit und das Prinzip einer sozialen Demokratie: größtmögliche und gleichberechtigte Wohlfahrt des Einzelnen bei notwendiger Gerechtigkeit für Alle", postuliert Werner Maihof er 93. Wer die Gleichheit der Menschen in ihrer Freiheit anerkennt, kann das Sozialprinzip nicht leugnen94. Dieses Prinzip der Brüderlich89 Zur Pflicht des Staates, Leben und Gesundheit zu schützen, BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 49, 89 (142); 53, 30 (57 f., 73 ff.); 56, 54 (73 ff.); 77, 176 (214 f.); 88, 203 (251 ff.); 89, 214 (231 f.); J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, HStR, Bd. V, 1992, § 111, Rdn. 77 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 821 ff. 90 W. Leisner, Freiheit und Eigentum, S. 18. 91

Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 234ff.; ders., Das Sozialprinzip. Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1974; ders., Grundgesetzliche Aspekte der freiberuflichen Selbstverwaltung, Die Verwaltung 31 (1998), S. 154 ff.; H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, HStR, Bd. I, 1987, § 25; durchaus auch W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 162 ff. 92 I.d.S. Aristoteles, Politik, 1295 1 b 1 ff., 40ff., auch 1292 a 30ff.; J. Locke, Über die Regierung, V, 25 ff.; J.-J. Rousseau, Vom Gesellschafts vertrag, I, 9; besonders klar Ch. de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, V, 3 ff. („Gleichheit der Vermögen"); W. Maihof er, HVerfR, S. 507ff., insb. S. 516f., 518f., auch S. 519ff.; i.d.S. auch F. Benda, Der soziale Rechtsstaat, HVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 761 ff., 785 ff.; auch P. Badura, Freiheit und Eigentum in der Demokratie, in: Eigentum und Eigentümer im Zeitalter globaler Märkte und Finanzströme, 1998, S. 17 ff., 18 („Verteilungsgerechtigkeit" - „egalitärer Grundzug der Demokratie" - „Lebensgesetz ein Sozialstaat"); H. F. Zacher, HStR, Bd. I, § 25, Rdn. 32 ff. (soziale Gleichheit); im Sinne der Chancengleichheit auch I. Kant, Über den Gemeinspruch, S. 147 f.; auch ders., Metaphysik der Sitten, S. 434; anders W. Leisner, Freiheit und Eigentum, S. 17 ff. 93 94

HVerfR, S. 507 ff.

So aber F. A. von Hayek, etwa, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2, Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, 1981, insb. S. 93 ff., 123 ff.; zum Versuch, dem Sozialprinzip die Verbindlichkeit streitig zu machen, insb. E. Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen *

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keit folgt aus der allgemeinen Freiheit 9 5 ; denn niemand kann beanspruchen, Herr anderer Menschen zu sein 9 6 . Die Brüderlichkeit unter den Menschen findet ihr Gesetz seit alters her und gestützt durch alle großen Religionen in dem Liebesprinzip, welches bei Mose (3. Mose 19, 18) lautet: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn ich bin der Herr" 97 . Unter Christen jedenfalls kann nur einer der Herr der Menschen sein, nämlich Gott. Es gibt keine gerechte Herrschaft von Menschen über Menschen 9 8 ; denn Herrschaft ist die nötigende Willkür, die Umkehrung der Freiheit 9 9 . „Imperium ist nicht dominium" (Dolf Sternberger) 100. Die Regierung ist Verwirklichung des Rechts, nicht aber Herrschaft 1 0 1 . Schon gar nicht herrscht der Staat, wenn er denn ein Staat des Rechts, also eine Republik, i s t 1 0 2 .

Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1954), S. 8 ff., 19 ff.; vermittelnd W. Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 167 ff.; im Sinne des Textes P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 90ff., 94 ff., 103 ff.; H. F. Zacher, HStR, Bd. I, § 25, Rdn. 166ff.; K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip, S. 38 ff., 72 ff., 75 ff., 82 ff.; ders., Res publica res populi, S. 237 ff., auch S. 247 f. („institutionelle Judiziabilität"). 95 W. Leisner, Freiheit und Eigentum, S. 19; W. Maihofer, HVerfR, S. 519 ff.; R Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 90ff., insb. S. 96ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 234 ff. 96

Augustinus, De civitate Dei, 19. Buch, 15 - 16, auch 11 - 12; W. Leisner, Freiheit und Eigentum, S. 19; kritisch F. Tönnies, Das Eigentum, S. 11 ff., 16 ff.; D. Sternberger, Der alte Streit um den Ursprung der Herrschaft, 1977, S. 26 f., auch in: ders., Schriften, Bd. III, 1980, S. 9 ff.; R. Marcic, Rechtsphilosophie. Eine Einführung, 1969, S. 216; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 71 ff., insb. S. 79 ff., auch S. 240 ff. 97 I.d.S. G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, 1973, Art. 3 Abs. I, Rdn. 156 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 126, 135, 277; ders., Frei - sozial - fortschrittlich, in: Symposium zu Ehren von Werner Thieme, Hamburg, 24. Juni 1988, Die Fortentwicklung des Sozialstaates, 1989, S. 11 ff. 98 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 71 ff., insb. S. 133 ff.; anders W. Leisner, etwa, Demokratische Anarchie; W. Henke, Recht und Staat. Grundlagen der Jurisprudenz, 1988, S. 251 ff.; gegen den Paternalismus I. Kant, Über den Gemeinspruch, S. 145 f., vgl. ders., Metaphysik der Sitten, S. 464; wie der Text J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 1; K. R. Popper, Bemerkungen zu Theorie und Praxis des demokratischen Staates, 1988, S. 14; J. Habermas, Die Utopie des guten Herrschers, 1972, in: G. Roellecke (Hrsg.), Rechtsphilosopie oder Rechtstheorie, 1988, S. 327 ff., insb. S. 335 f. 99 Vgl. die Definition von Herrschaft bei M.Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, ed. Winkelmann, 5. Aufl. 1972, S. 28, 182; kritisch K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 71 ff., 79 ff. 100 Der alte Streit um den Ursprung der Herrschaft, S. 26 ff.; ders., Max Weber und die Demokratie, in: ders., Schriften Bd. III, 1980, S. 152.

101 D. Sternberger, Der alte Streit um den Ursprung der Herrschaft, S. 20, 25 f.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 139 ff., auch S. 154 ff.; demgegenüber identifiziert C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, 4. Aufl. 1965, S. 216, 234 u. ö., Herrschen und Regieren. 102 K. A. Schachtschneider (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, S. 29 ff.

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Jedes Verfassungsgesetz muß das Sozialprinzip achten 103 , wenn es den Frieden als die allgemeine Freiheit, den vornehmsten Zweck des Staates104, sichern will; denn es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit, auch nicht ohne gerechte Verteilung der Güter. Die Republik ist somit nicht nur ein Gemeinwesen der gleichen Freiheit, sondern auch eines der Brüderlichkeit 105 und damit eine Einrichtung der gerechten Teilung der Güter, der „austeilenden" oder „distributiven Gerechtigkeit" (Kant) 106. „Der nicht-rechtliche Zustand, d. i. derjenige, in welchem keine austeilende Gerechtigkeit ist, heißt der natürliche Zustand (status naturalis)" (Kant) 101. Kant rechnet die iustitia distributiva zum Naturrecht 108 . „Freiheit bleibt eine Ordnung der Distribution" (Walter Leisner) 109. 2. Unter allen Bürgern müssen die Güter brüderlich geteilt werden 110 . Das Sozialprinzip zu verwirklichen, ist vornehmlich Sache der Legislative 111 . „Doch hinter der Brüderlichkeit steht das Eigentum, Bruder kann im Entscheidenden nur sein, wer besitzt und teilhaben läßt" (Walter Leisner) 112. Das Sozialprinzip verfaßt das Leben in Gemeinschaft als gemeinschaftliches Leben. Das aber ist ein Leben, in dem allen Eigentum nach allgemeinen Gesetzen derart gewährleistet ist, daß 103 BVerfGE 84, 90 (121); K. A. Schachtschneider (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, S. 35 f.; i.d.S. auch P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, 1987, § 20, Rdn. 1 ff., insb. Rdn. 46ff.; W. Maihofer, HVerfR, S. 432 ff., 513 ff., 536. 104 Th. Hobbes, Leviathan, II, 17, 18, 21; /. Kant, Zum ewigen Frieden, passim; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 714ff.; CA. Starck, Frieden als Staatsziel, in: FS Karl Carstens, 1984, S. 867 ff.; K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 9, 304; 105 E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, 1961, 2. Aufl. 1980, S. 187 ff.; G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. I, Rdn. 156ff.; W. Maihofer, HVerfR, S. 519ff.; M. Kriele, Die demokratische Weltrevolution. Warum sich die Freiheit durchsetzen wird., 1987, S. 49 ff.; ders., Einführung in die Staatslehre, 4. Aufl. 1990, S. 229, 334; P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 90ff., insb. 96ff.; K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 8, 234 ff., 285 ff., 304. 106 Metaphysik der Sitten, S. 423, auch S. 412, 419; dazu W. Kersting, Transzendentalphilosphische Eigentumsbegründung, S. 66 f., 69 ff.; R. Brandt, Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, S. 193. 107 Metaphysik der Sitten, S. 423. los Metaphysik der Sitten, S. 412. 109 Freiheit und Eigentum, S. 14 f.

uo CA. de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, V, 3 ff.; vgl. auch /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365 f., 366 ff., 432 ff.; ders., Über den Gemeinspruch, S. 150 f.; H. F. Zacher, HStR, Bd. I, § 25, Rdn. 32 ff., 48 ff.; vgl. auch K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip, S. 40ff., 48 ff. in BVerfGE 1, 97 (105); 33, 303 (313 ff.); 43, 213 (226); 50, 57 (108); 53, 164 (184); 65, 182 (193); 69, 272 (314); 70, 278 (288); P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 98ff., 110f.; W. Maihofer, HVerfR, S. 511, 516ff.; M. Kriele, Freiheit und Gleichheit, HVerfR, 1. Aufl. 1983, S. 145 ff., 151; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 816 ff.; H. F. Zacher, HStR, Bd. I, § 25, Rdn. 65 ff., 108; K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip, S. 72ff.; ders., Res publica res populi, S. 247 ff. ii2 Freiheit und Eigentum, S. 19.

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alle, wenn sie sich vom Sittengesetz bestimmen lassen, dem zuzustimmen gehalten sind. Um der Anreize willen muß das Eigentum derer, die sich der Leistung und damit ihres Beitrags für das gemeine Wohl verweigern, schmaler sein als das derer, die sich mühen; denn letzlich dient jede Mühe dem gemeinen Wohl, freilich nur, wenn die Ordnung des Gemeinwesens dem Recht entspricht. Leistung läßt sich formal als Erfüllung der Pflichten gegenüber einer Gemeinschaft definieren 113 . Zu diesen Pflichten gehört es auch, daß der Bürger seinen Lebensunterhalt selbst erarbeitet, zumindest erwirtschaftet, damit er nicht der Gemeinschaft zur Last fällt und diese mehr als unerläßlich in Anspruch nimmt. Wegen des Leistungsprinzips ist es jedoch nicht gerechtfertigt, daß arm und reich übermäßig auseinanderklaffen. Demgemäß steht die Ausgestaltung des Erbrechts 114, welches gegenwärtig wieder einmal die bürgerlichen Verhältnisse verzerrt 115 , auf dem Prüfstand. Das Erbrecht darf die Brüderlichkeit unter den Menschen nicht gefährden. Dem durch die allgemeinen Gesetze geordneten Leben in Gemeinschaft, also der dem Sozialprinzip gemäße Grundsatz gleichheitlicher Verteilung der Güter, der auch dem formalen Prinzip der Gleichheit in der Freiheit gemäß ist, erlaubt eine unterschiedliche Zuordnung von Gütern nur, wenn diese nicht willkürlich ist. Auch Walter Leisner konzidiert für den „marktkorrigierenden" „sozialen Bundesstaat" „gegenüber den in der Tat »erbarmungslosen Marktmächten'": „Zum anderen gilt es, allzugroße materielle Unterschiede zwischen Gruppen und Schichten der Bürger zu vermeiden 116. Dies ist nicht etwa ein Nivellierungsgebot, sondern ein ,Übermaß verbot von Ungleichheit* - und daher, wie jeder Übermaß-Ausschluß, wiederum nur eine letzte, eine Grenz-Korrektur'' 117.

Die Unterschiede in der Güterverteilung bedürfen also ständiger Begründbarkeit. Als Grund kommt eben die Leistung 118 als der jeweilige und unterschiedliche Beitrag des einzelnen Menschen zum gemeinen Wohl in Betracht. „Das Grundgesetz schützt das Leistungseigentum" (Walter Leisner) 119. Leistungen können ins113 I.d.S. D. Suhr, Eigentumsinstitut und Aktieneigentum. S. 75 („Gerechtigkeitswert": „Äquivalent", „proportional" der „Nützlichkeit" der „Leistung für die Volkswirtschaft"). Vgl. den formalen Leistungsbegriff des § 362 Abs. 1 BGB: „Das Schuldverhältnis erlischt, wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger bewirkt wird". n* Dazu W. Leisner, Erbrecht, 1989, S. 165 ff. 115 Vgl. dazu schon I. Kant, Über den Gemeinspruch, S. 148 f. 116 Unter Berufung auf BVerfGE 22, 180 (190); 35, 348 (355 f.): „ . . . Ausgleich sozialer Ungleichheiten zwischen den Menschen ...", „Erhaltung und Sicherheit der menschlichen Würde",... „soziale Solidarität". 117 Marktoffenes Verfassungsrecht, 1996, S. 709; so auch W. Maihofer, HVerfR, S. 516ff., auchS. 507 ff.

Iis Vgl. BVerfGE 1, 264 (277 f.); 14, 288 (293); 30, 292 (334); 58, 81 (112); 69, 272 (301); 72, 175 (193); 97, 350 (371), das der „eigenen Leistung" eine intensivere Schutzwürdigkeit des Eigentums abgewinnt; dazu W. Leisner, Eigentum, S. 117 ff.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 424 ff. ii9 Eigentum, S. 117.

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besondere Arbeit und Unternehmung sein 120 . Der Markt kann die Verteilung rechtfertigen, soweit der Wettbewerb sittlich ist. Der Interessenausgleich ist die Logik der Materialität von Gesetzen121. Diese Gesetze können die allgemeine Zustimmung nur finden, wenn das Interesse aller am guten Leben verwirklicht wird, wenn also der Interessenausgleich gelingt. Das erfordert Sittlichkeit als die Universalisierbarkeit der gesetzgeberischen Maxime, welche nur in der Moralität der diskursiven Erkenntnisweise materialisiert zu werden vermag 122 . Der soziale Staat muß den tragfähigen Ausgleich zwischen arm und reich, die, wie das Hans Friedrich Zacher genannt hat, „ökonomische Mitte des »Sozialen'", verwirklichen 123 . Das gebietet nicht etwa Unterschiedslosigkeit der Güterverteilung, sondern den Ausgleich, den der Frieden des gemeinsamen Lebens erfordert, der es erlaubt, von einer Gemeinschaft zu sprechen, die jedem das Seine zuerkennt 124. Es muß brüderlich geteilt werden. Jedenfalls muß jeder Bürger so viel an Gütern haben können und haben, daß er selbständig ist 1 2 5 . Die Gerechtigkeit des Interessenausgleichs hängt von der Sittlichkeit des Gesetzgebers und damit von der Moralität der Vertreter des Volkes in den Gesetzgebungsorganen ab126 Das Sozialprinzip sichert nicht lediglich den notdürftigen Lebensunterhalt derer, welche nicht in der Lage sind, ihn selbst zu erwirtschaften 127. Die Verfassung der Menschheit des Menschen 128 und damit auch das Verfassungsgesetz Deutschlands, 120 i.d.S. /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432f.; H F. Zacher, HStR, Bd. I, § 25, Rdn. 28; vgl. i.d.S. K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 244 ff.; P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 85 f., 100 ff.; ders., Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, 345 ff. (354f.); vgl. BVerfGE 31, 229 (239); 40, 65 (80); 53, 257 (291); 58, 81 (112f.); 69, 272 (301); 72, 175 (193); 97, 350 (371). 121 Vgl. i.d.S. /. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 250 f.; auch ders., Kritik der praktischen Vernunft, S. 146; J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 1962, 9. Aufl. 1978, S. 138 f., der mit der allgemeinen Gesetzgebung Wohlfahrtsrecht und Wohlfahrtseffekt verbunden sieht; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 617 ff. 122 M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung. Entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1967, 2. Aufl. 1976, S. 191 ff.; J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1992, S. 109 ff., insb. S. 349ff., 516ff.; ders., Die Einbeziehung des Anderen, Studien zur politischen Theorie, 1996, S. 277 ff., 293 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 584 ff. 123 HStR, Bd. I,§ 25, Rdn. 68 ff. 124 Zu dieser Formel Hinweise in Fn. 158. 125 K. Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung, S. 271 ff., 277 ff., versteht Kant als Philosophen der Chancengleichheit; zum sozialen Prinzip der Chancengleichheit Hinweise in Fn. 176. 126 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff., 127 Vgl. H. F. Zacher, HStR, Bd. I, § 25, Rdn. 27 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 241 ff.; vgl. BVerfGE 1, 97 (104 f.). 128 Zum Unterschied der Verfassung vom Verfassungsgesetz K A. Schachtschneider (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, S. 29 ff., 50 ff.

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nämlich das Grundgesetz, wird verzerrt, wenn das Sozialprinzip auf ein Gebot, den Armen zu helfen, reduziert wird. Die Eigentumsgewährleistung materialisiert das Sozialprinzip, welches als das Prinzip der Brüderlichkeit zum menschheitlichen und grundgesetzlichen Freiheitsprinzip gehört 129 . Die Brüderlichkeit der Eigentumsverhältnisse verwirklicht die Menschenwürde, nicht schon die Fürsorge für die Armen, welche man aus Humanität, aber auch aus Angst vor deren Stimmrecht 130 und somit vor deren Revolution nicht verkommen lassen will. „Überall entsteht die Revolution durch die Ungleichheit" (Aristoteles) 131. Eine Rechtfertigung dafür, daß die einen reich und mächtig und die anderen arm und ohnmächtig sind, hält das Rechtsprinzip nicht bereit, sondern allenfalls eine Rechtfertigung für begrenzte Unterschiede der Möglichkeiten des Handelns, welche die Verantwortung des Einzelnen für sich, für sein Leben und Handeln, und die Verantwortung jedes Bürgers für das gemeine Wohl fördern sollen. Wenn und insoweit die Ordnung der Güter nicht Sache des Staates ist, entwickelt sie sich staatsunabhängig, also unabhängig vom allgemeinen Gesetz. Der Staat hat in einer im Übermaß deregulierten, liberalistischen Ordnung, welche den Namen Gemeinwesen nicht mehr verdient, allenfalls die Aufgabe, die Armen soweit zu versorgen, daß sie nicht aufbegehren (müssen); denn ohne die soziale Gesetzgebung werden der Erfahrung nach die Reichen reicher und die Armen ärmer. Der staatliche Schutz vor der Revolution wäre der Schutz der beati possidentes. Der Staat würde zum Bollwerk des Kapitals und verlöre seinen republikanischen Charakter des Sozialen 132 . Dahin entwickelt sich gegenwärtig die globalisierende Unternehmenswirtschaft, welche wegen ihrer Entrechtlichung einer stützenden Ideologie bedarf, nämlich der der Marktlichkeit und Wettbewerblichkeit (der „Theologie des Marktes" 133 ) welche dabei freilich entstaatlicht werden und dadurch ihres Legitimationspotentials verlustig gehen. 3. Wenn die Eigentumsordnung gerecht sein soll, müssen alle Menschen an ihrer Materialisierung teilhaben 134 . Auch darum ist die politische Freiheit eine 129 H. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, 1928, S. 423 ff., 427 ff.; G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. I, Rdn. 156ff.; M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 334; W. Maihofer, HVerfR, S. 519 ff.; K A. Schachtschneider, Frei - sozial fortschrittlich, S. 11 ff., 20; ders., Res publica res populi, S. 234 ff. 130 Zum Wahlrecht als Motor der sozialen Realisation H. F. Zacher, HStR, Bd. I, § 25, Rdn. 86ff.; M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 327 ff.; ders., Freiheit und Gleichheit, HVerfR, S. 145 ff.; K. A. Schachtschneider, Sozialprinzip, S. 48 ff., 71 ff.; ders., Frei - sozial fortschrittlich, S. 15; ders., Res publica res populi, S. 236ff., 247 ff. 131 Politik, 1302 a 26; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 249 f. 132 K. A. Schachtschneider, Frei - sozial - fortschrittlich, S. 11 ff.; ders., Res publica res populi, S. 234 ff. 133 N. Birnbaum, Siegt die Marktorthodoxie, stirbt die Demokratie, Bl.f.dt.u.intern.Politik 1997, S. 1443 ff.(1448); i.d.S. schon H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 456 f., 468,474. 134 I.d.S. I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 365 f., 366 ff., 412 f., 419, 423, 430 f., 464; dazu W. Kersting, Transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung, S. 46 ff., 64 ff., 69 ff.; so auch P. Badura, Freiheit und Eigentum in der Demokratie, S. 18 f.

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Notwendigkeit des gemeinsamen Lebens. Die Staatsform eines Volkes freier Menschen ist der Freistaat oder eben die Republik, in der der Satz gilt: Res publica res p o p u l i 1 3 5 . Ein anderes Wort für Republik ist Demokratie, wenn man dies richtig, nämlich griechisch, als Freiheit des Volkes versteht 1 3 6 . Herrschaftliche Verhältnisse, die dadurch gekennzeichnet sind, daß nicht alle Menschen, die zusammenleben, wirklich frei sind, gewährleisten das Eigentum nicht, wie das Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG verspricht. Nur eine Verfassung der Freiheit, die sicherstellt, daß die Gesetze die Gesetze aller, die volonté générale, sind, ist die Gewährleistung des allseitigen Schutzes der unter allen gerecht geteilten Möglichkeiten des Lebens und des Handelns. Der Kantische Prozeduralismus (Wolfgang Kersting) 137 sichert die Gerechtigkeit der Eigentumsordnung, die formal dem Sittengeetz und folglich „der Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens" genügen m u ß 1 3 8 . Kant entwickelt die „Vernunftidee": „man müsse aus dem Naturzustand, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu geraten er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird, d. i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten" 139 . 135 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 14ff., insb. S. 23 ff., auch S. 586 ff., 685 ff. 136 I.d.S. K Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, 10. Aufl. 1988, S. 139, 187; W. Maihofer, HVerfR, S. 511 ff.; M. Kriele, Die demokratische Weltrevolution, 1987, S. 33 f., 79, auch S. 166; ders., HVerfR, S. 135 ff.; J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 118; K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 14 ff. 1 37 Transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung, S. 69 ff.; R. Dreier, Eigentum in rechtsphilosophischer Sicht, S. 182; vgl. i.d.S. allgemein J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 109ff., 324ff., 516; ders., Die Einbeziehung des Anderen, S. 119f., 245, 251, 305; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 71 ff., 445, 493 ff.; A. Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, 1989; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 560 ff., 584 ff.; vgl. auch V. Hösle, Moral und Politik, S. 642, 952. 138 I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 412 f., 419 f., 423, 430 f., 464; dazu W. Kersting, Transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung, S. 69 ff.; auch K Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung, S. 247 ff.; die Gesetzlichkeit des Eigentums haben auch Th. Hobbes, Leviathan I, 18 („Achtens hat auch die höchste Gewalt das Recht, diejenigen Vorschriften zu erlassen, welche das Eigentum betreffen, damit ein jeder wisse, was ihm gehört, dies ungestört genießen könne und unterrichtet werde, was er mit Recht tun und nicht tun dürfe. Vor der Errichtung der höchsten Gewalt hatten alle ein Recht auf alles: und dies eben veranlaßte den Krieg. Die Vorschriften über das Mein und Dein, über das Gute und Böse, Erlaubte und Unerlaubte in den Handlungen müssen daher von dem Oberherren gemacht werden: denn von alledem hängt der Frieden im Staate ab. Diese Vorschriften bekommen den Namen bürgerliche Gesetze."), und J. Locke, Über die Regierung, V,50 („In Staaten nämlich regeln die Gesetze das Eigentumsrecht und der Grundbesitz wird durch positive Satzungen festgesetzt.") erkannt. 139 Metaphysik der Sitten, S. 430; vgl. auch S. 365 f.; auch ders., Über den Gemeinspruch, S. 144; dazu W. Kersting, Transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung, S. 64 ff.,

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Der Prozeduralismus bewahrt die bestmögliche materiale Gerechtigkeit in der Republik. Walter Leisner hat gewarnt: „Es ist eine kopernikanische Wende, ob man von »Freiheit und Eigentum' spricht, oder nur von Freiheit" 140 . Die Republik aber ist die Wirklichkeit der Freiheit. Ihr dient das Eigentum 141 . Nur die Republik vermag das Menschenrecht des Eigentums (Walter Leisner) 142 zu verwirklichen; denn als Menschenrecht ist die Gewährleistung des Eigentums ein Recht jedes einzelnen Menschen. Weil aber das allgemeine Gesetz der Bürgerschaft den materialen Interessenausgleich mit sich bringt, wenn das Gesetz die Zustimmung aller, repräsentiert durch die Vertreter des ganzen Volkes in dem Gesetzgebungsorgan143, gefunden hat oder zumindest hätte finden können 144 , ist das Gesetz nicht nur die allseitige Schutzzusage unter den in ihrer Freiheit gleichen Bürgern für das jeweils Eigene, sondern zugleich Ausdruck der Verteilung der Möglichkeiten des Lebens und Handelns. Aus der Logik der allgemeinen Gesetzlichkeit folgt, daß das Eigentum nur das staatlich gesicherte gerechte Mein und Dein ist; denn Unrecht kann nicht allgemeines Gesetz, Gesetz aller, sein. Die Bürger, die durch die Gleichheit in der Freiheit und damit durch ihre Gesetzgeberschaft definiert sind 145 , werden nur die Möglichkeiten des Lebens und des Handelns als Eigentum sichern, welche im Interessenausgleich, also im Grundsatz gleichheitlich, geordnet sind 1 4 6 ; denn alle Menschen streben ein gutes Leben an und dürfen das. Sie haben das Recht, ihr Glück zu suchen 147 , und sind nicht verpflichtet, in Gesetze einzuwilligen, welche sie benachteiligen, also grundlos, willkürlich unterscheiden. Willkür des Gesetzgebers ist mit der allgemeinen Freiheit unvereinbar 148. Gemäß dem allgemeinen aus der 67 ff., 69 ff.; K. A. Schachtschneider Res publica res populi, S. 290 ff., 325 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 38 ff., auch S. 84 ff., 93 ff. 140 Bestandsgarantie des Eigentums - vom Bergrecht unterminiert?, S. 465. 141 I.d.S. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 430 ff., insb. S. 436, Fn. 100. 142 Eigentum - Grundlage der Freiheit, S. 27 ff.; auch Eigentum, S. 90ff.; BVerfGE 50, 290 (344). 143 Dazu K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff., insb. S. 707 ff. 144 K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 617 ff. 145 I. Kant, Über den Gemeinspruch, S. 150 f.; K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1 ff., 14 ff., 23 ff., 211 ff. 146 l.d.S. G. Fichte, Der geschlossene Handelsstaat, S. 54 ff. (insb. S. 60). 147 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 515 ff.; ders., Zum ewigen Frieden, S. 250; ders., Über den Gemeinspruch, S. 144; D. Sternberger, Das Menschenrecht nach Glück zu streben, 1966, in: ders., „Ich wünschte ein Bürger zu sein", 1967, S. 131 ff. 148 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 978 ff., 990ff., auch S. 410ff.; ders. (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, S. 94ff.; zum Willkürverbot etwa BVerfGE 3, 58 (135f.); 4, 144 (155); 9, 124 (129f.); 50, 177 (186); 51, 295 (300f.); 55, 72 (90); 57, 107 (115); 60, 16 (42); 71, 202 (205); 76, 256 (329); 88, 87 (97); 91, 389 (401); st. Rspr. mit divergierenden Formeln; v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 3. Aufl. 1985, Rdn. 10,11, 12ff. zu Art. 3 Abs. 1; grundlegend G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, 1973, Art. 3 Abs. I, Rdn. 303 ff., insb. Rdn. 333 ff.; P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, HStR, Bd. V, 1992, § 124, Rdn. 25,86 ff., 236 ff.; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 357 ff., 364 ff.

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Freiheit aller folgenden Gleichheitsprinzip 149 kann somit eine Ordnung, welche eine unterschiedliche Verteilung der Güter bewirkt, nur durch besondere Gründe gerechtfertigt werden. Diese Logik bestätigt Art. 14 Abs. 1 GG: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt". Diese Gesetze sind die allgemeinen Gesetze der in ihrer Freiheit gleichen Bürger. Nicht der Schutz des wie auch immer angeeigneten Mein und Dein wird vom Grundgesetz zugesagt, sondern die Gewährleistung des Eigentums, die nur durch die allgemeinen Gesetze als die Gesetze aller erfolgen kann. Allgemeine Gesetzlichkeit kann rechtens nur formal freiheitlich und material gleichheitlich, d. h. willkürfrei, sein. Folglich kann auch gesetzliche Gewährleistung des Eigentums nur eine gleichheitliche und darin freiheitliche Eigentumsordnung gewährleisten. Die Gesetze erweisen ihre ebenso freiheitliche wie gleichheitliche Sittlichkeit in dem Interessenausgleich, dem Ausgleich von arm und reich, der allen Bürgern das Einverständnis abnötigt, wenn sie sich vom Sittengesetz bestimmen lassen 150 . Eine andere Freiheit aber als die, sittlich zu handeln, gibt es nicht (Art. 2 Abs. 1 GG) 1 5 1 . Die Gesetze bestimmen nicht nur den Inhalt dessen, was Eigentum ist, also die Materie der Rechte des Eigenen, und die Schranken dieser Rechte, sondern gewährleisten auch Eigentum, ordnen somit auch das Mein und Dein. Eine solche Ordnung ist ohne interessenausgleichende Verteilung nicht denkbar; denn auch die gesetzliche Sicherung des jeweiligen Besitzstandes wirkt verteilend, ja zuteilend. Eigentum ist somit in der Republik begrifflich abhängig vom allgemeinen Gesetz 152 . Handlungsmöglichkeiten vermögen sich die Menschen im Kampf aller gegen alle unterschiedlich zuzueignen. Diese Zueignungen können jedoch den Schutz des Staates nicht beanspruchen. Nur das Mein und Dein, welches den Gesetzen gemäß erworben wurde, kann gerechtes Eigentum sein und wird durch die Eigentumsgarantie gesichert. Entgegen der Lehre von Walter Leisner gibt es nur „Eigentum nach Gesetz" 153 . Freilich muß der Gesetzgeber das Eigentum gewährleisten, also eine Ordnung des Mein und Dein schaffen, die als Eigentumsordnung

149 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 345 f.; K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 410 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 212 ff. 150 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 617 ff. 151 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 253 ff., passim; ders., Freiheit in der Republik, S. 68 ff., passim. 152 Ganz so die Kantinterpretation W. Kerstings, Transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung, S. 46 ff., insb. S. 54ff., 71 ff.; auch K. Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung, S. 231 ff., 277 ff.; so auch die (wenig klare) Aussage von D. Ehlers, VVDStRL 51 (1992), S. 214; ebenso O. Kimminich, GG, Bonner Kommentar, Art. 14, Rdn. 22 („Die Ausformung des Eigentumsbegriffs durch die Gesetzgebung ... und der Konkretisierung der Sozialbindung ... gehören wesensgemäß zum Eigentumsbegriff."). 153 Eigentum - Grundlage der Freiheit, S. 25 f.; Eigentum, S. 105 ff.; vgl. auch ders., Sozialbindung des Eigentums, S. 46ff.; wie der Text H. Rittstieg, AK-GG, Art. 14/15, Rdn. 152,163 ff.

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gelten k a n n 1 5 4 und insbesondere das eigentumsgemäße Privatheitsprinzip verwirklicht. Für die These der Gesetzlichkeit des Eigentums kommt alles auf den Gesetzesbegriff an. Der republikanische Gesetzesbegriff gibt der (vermeintlichen) Mehrheit kein Recht zur Willkür, sondern ist die Erkenntnis dessen, was für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit richtig i s t 1 5 5 . Die Republik ist nicht der „Räuberstaat der Mehrheit" (W. Leisner) 156, zu der die Demokratie allerdings werden kann, wenn sie zum Parteienstaat deformiert ist157. , Jedem das S e i n e " 1 5 8 - das heißt, jeder muß ein Eigentum haben, eben das, welches ihm die Gesetze zumessen, denen er selbst, wie alle anderen Bürger, zuzustimmen berechtigt und sittlich verpflichtet ist. Wenn die Eigentumsgewährleistung ein Menschenrecht ist, so genügt diesem nicht schon eine Eigentumsordnung zugunsten der Eigentümer (beati possidentes), sondern nur eine solche, welche allen Menschen ein ausreichendes Eigentum gewährleistet 1 5 9 . Das gilt erst recht, wenn Eigentum als Notwendigkeit der Freiheit erkannt wird, weil es die autonomiegemäße Selbständigkeit verschafft. Walter Leisner dagegen lehrt: „Eigentum ist Abwehranspruch oder es ist nicht. Entweder es bleibt Grundrecht, oder es ist nur mehr Verteilungsmaxime; das erstere allein entspricht dem Grundgesetz" 160. 154 I.d.S. BVerfGE 21, 73 (79 , 82 f.); 42, 263 (292 ff.); 45, 272 (296); 50, 290 (339 ff.); 52, 1 (29 f.); 56, 249 (260); st. Rspr.; im Sinne des Substanzschutzes des Eigentums BVerfGE 42, 263 (295); 45, 272 (296); 50, 290 (341); 52, 1 (30); 58, 300 (345); 70, 191 (199); 93, 121 (137); auch BVerfGE 45, 142 (173), Schutz des „Kerns"; zur Eigentumsgewährleistung als Institutsgarantie Hinweise in Fn. 70. 155 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 303 ff., 340ff., 350ff., 560ff.; 584 ff., auch S. 625 ff., gegen das Mehrheitsprinzip, S. 106 ff. 156 Das Eigentum Privater - Vertragsfreiheit und Sozialbindung, 1995, S. 182 f. 157 Dazu W. Maihofer, Abschließende Äußerungen, HVerfR, S. 1709; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 772 ff., 1045 ff. 158 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1132 b 15 („Wenn aber weder mehr noch weniger eingenommen wird, sondern Gleiches um Gleiches, so sagt man, man erhalte das Seinige und habe weder Schaden noch Gewinn."); Ulpian, Digesten, I, 1, 10 („suum cuique tribuere"); Th. Hobbes, Leviathan, I, 15 („Gerechtigkeit ist der feste Entschluß, einem jeden das Seinige zu geben", „von den Scholastikern angenommene Erklärung der Gerechtigkeit. Denn wo es nichts gibt, was man das Seinige nennen kann, wo kein Eigentum da ist, da fallt alles Ungerechte weg; und ohne bürgerliche Gesellschaft gibt es kein Eigentum."); I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 366, 412 f., 419, 423, 430 f., 464; ders., Über den Gemeinspruch, S. 144; dazu W. Kersting, Transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung, S. 56 f., 66f.; vgl. auch J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 9; E. Benda, HVerfR, S. 786; F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, Regeln und Ordnung, 2. Aufl. 1986, S. 149. 159 Nach D. Ehlers, VVDStRL 51 (1992), S. 216, zielt die Institutsgarantie des Eigentums „im Sinne eines Leitprinzips auf die Gewährleistung der Freiheit im vermögensrechtlichen Sinne ab, garantiert dem Bürger einen Mindeststandard privatnützig zugeordneter Vermögenswerte und wirkt insoweit als strikt zu beachtendes Untermaßverbot". 160 Eigentum, S. 83, vgl. auch S. 84, 92; i.d.S. auch ders., Sozialbindung des Eigentums, S. 219 ff.

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„Der Steuerstaat ist die einzige verfassungsentsprechende Organisationsform einer Güterordnung der egalitären Demokratie" 161 . Die grundgesetzliche Eigentumsgewährleistung kann aber ausweislich des Sozialprinzips nicht liberalistisch konzipiert werden. Aus dem Recht auf Eigentum folgt das Recht am Eigentum. „Eigentum - eine Schöpfung des Gesetzgebers?162. Diese Worte sollten nicht mehr gebraucht werden", mahnt Walter Leisner 163 - richtig, aber nur, weil die Eigentumsordnung nicht Schöpfung, sondern Erkenntnis 164 des sittlichen Mein und Dein der Bürger ist. 4. Unabhängig von eines anderen nötigender Willkür, also äußerlich frei, kann der Mensch nur sein, wenn er selbständig ist 1 6 5 . „Der in den Staat eingegliederte Einzelne bedarf, um unter seinesgleichen als Person, d. h. frei und selbstverantwortlich leben zu können und um nicht zum bloßen Objekt einer übermächtigen Staatsgewalt zu werden, also um seiner Freiheit und Würde willen einer rechtlich streng gesicherten Sphäre des Eigentums" (BHGZ GSZ 6, 270 (276)).

Der Mensch wird durch die Selbständigkeit zum Bürger und durch die Selbständigkeit der Autonomie des Willens fähig 166 . Diese Selbständigkeit beruht auf dem Eigentum (im weiteren Sinne, insbesondere der Arbeit 1 6 7 ) des Bürgers. Demgemäß gibt das freiheitliche Prinzip der Selbständigkeit der verteilenden Eigentumsordnung die wesentliche Orientierung. Diese ist im Sozialprinzip verankert. Unabhängig von seiner Arbeit oder seiner sonstigen Leistung, was immer das sei, muß jedem Menschen Eigenes als Recht zugemessen werden, welches ihm die Mög161

W. Leisner, Sozialbindung des Eigentums, S. 231, vgl. auch S. 226 ff. 162 BVerfGE 58, 300 (335 ff., 338 f.); dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1023 ff. 163 Eigentum, S. 107; kritisch auch H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14, Rdn. 37 ff., 254 ff.; O. Kimminich, GG, Bonner Kommentar, Art. 145, Rdn. 159 ff., 165 ff. 164 Zur Kognitivität der Gesetzgebung J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, II, 7, IV, 2; /. Kant, Zum ewigen Frieden, S. 205; K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 564ff., 567 ff., 644 ff., 718 ff., auch S. 584ff.; H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, Theorie der Norm und des Gesetzes, 1981, S. 106ff., 352 ff.; J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, 1968, S. 234 ff.; ders., Die Utopie des guten Herrschers, S. 327 ff.; ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, 1985, S. 73 ff., 83; ders., Faktizität und Geltung, S. 187 ff., 272 ff., 301 ff., 324 ff. 165 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432ff.; ders., Über den Gemeinspruch, S. 150ff.; K. Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung, S. 282 ff., 297 f.; W. Maihofer, HVerfR, S. 458 f.; K. A. Schachtschneider, Frei - sozial - fortschrittlich, S. 12 ff.; ders., Res publica res populi, S. 234 ff.; H. F. Zacher, HStR, Bd. I, § 25, Rdn. 48 ff. 166 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432; ders., Über den Gemeinspruch, S. 150 ff.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 531 f., 810; W. Maihofer, HVerfR, S. 452 ff., insb. S. 458 f.; M. Kriele, Befreiung und politische Aufklärung. Plädoyer für die Würde des Menschen, 1980, S. 57 ff., 66; ders., Einführung in die Staatslehre, S. 229, 334f.; auch W. Leisner, Demokratie. Selbstzerstörung einer Staatsform, 1979, S. 43 ff.; K. A. Schachtschneider, Frei sozial - fortschrittlich, S. 12 ff.; ders., Res publica res populi, S. 234 ff. 167 R Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 85 f., 100 ff.

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lichkeit der Willensautonomie gibt und darum seiner Würde gemäß ist. Die allgemeine Bürgerlichkeit durch Selbständigkeit ist die Verwirklichung des republikanisch verstandenen Sozialprinzips 168. Bürgerlichkeit und Armut sind unvereinbar. Folglich ist der Sozialhilfeanspruch ein Eigentum, welches den Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG genießt 169 . Die Idee bürgerlichen Eigentums aber verbindet mit der eigentumsgestützten Selbständigkeit den bürgerlichen Status in der Politik; denn die Politik darf sich nur auf die gleiche Freiheit der Menschen stützen, welche Bürger des Staates sind, wenn die Politik demokratisch legitimiert sein soll. Freilich müssen prinzipiell alle Menschen im Lande Bürger des Landes sein, jedenfalls wenn sie dauerhaft im Lande leben 170 . Die innere Selbständigkeit des Bürgers, welche um dessen Sittlichkeit willen die Substanz der Republik ist, kann nur postuliert werden, wenn der Bürger äußerlich selbständig ist. Der Bürger muß nicht nur Eigentum haben, sondern das Eigentum muß auch material das Seine, d. h. nach Möglichkeit von ihm selbst erwirtschaftet sein 171 . Selbständigkeit ist auch und wesentlich Selbstverantwortung 172. Demgemäß ist das Subsidiaritätsprinzip, wonach den Bedürftigen „Hilfe zur Selbsthilfe" gegeben werden soll, Leitprinzip des Sozialhilferechts (Nachrang der Sozialhilfe, § 1 Abs. 1 S. 2, § 9 SGB AT) 1 7 3 . 168 K. A. Schachtschneider, Frei - sozial - fortschrittlich, S. 12 ff.; ders., Res publica res populi, S. 234ff. 169 A.A. der Sache nach BVerfGE 2, 380 (399 ff.); 3, 58 (153); 14, 288 (294); 18, 392 (397); 45, 142 (170); 48, 403 (412f.); 53, 257 (291 f.); 58, 81 (112); 69, 272 (300ff.); W. Leisner, Eigentum, S. 132 ff.; im Sinne des Textes D. Ehlers, VVDStRL 51 (1992), S. 216; bemerkenswert im Sinne des Textes das abweichende Votum der Richterin W. Rupp-von Brünneck, in: BVerfGE 32, 111 (141 ff.); kritisch zum Eigentumsschutzkriterium „eigene Leistung" für öffentlich-rechtliche Vermögenswerte Rechte H. Rittstieg, AK-GG, Art. 14/15, Rdn. 114; W. Däubler, Eigentum und Recht in der BRD, in: W. Däubler/U. Sieling-Wendeling/H. Welkoborsky (Hrsg.), Eigentum und Recht. Die Entwicklung des Eigentumsbegriffs im Kapitalismus, 1976, S. 201.

170 I.d.S. /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 432 ff. in Verbindung mit S. 430 f. 171 I.d.S. /. Kant, Über den Gemeinspruch, S. 147 ff., 150 ff.; ders., Metaphysik der Sitten, S. 432 ff. 172 H. F. Zacher, HStR, Bd. I, § 25, Rdn. 28 ff.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 813 ff., auch S. 430 ff. für das Unternehmenseigentum; K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 145 ff., 149; ders., Frei - sozial - fortschrittlich, S. 16 ff. 173 Vgl. BVerfGE 9, 20 (35); 59, 52 (62); i.d.S. schon I. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 434; ganz so G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, 1973, Art. 3 Abs. I, Rdn. 69ff.; H. F. Zacher, HStR, Bd. I, § 25, Rdn. 27 ff., 61 ff.; R. Herzog, Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung, Der Staat 2 (1963), S. 399 ff., 411 ff.; H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 811 ff.; W. Maihofer, HVerfR, S. 528; E. Benda, HVerfR, S. 786; D. Merten, Sozialrecht, Sozialpolitik, HVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 977 ff., 993 f., 979 ff.; P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 65 f., 102; K. A. Schachtschneider, Sozialprinzip, S. 62 f.; ders., Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 145 ff., 149 f.; ders., Frei - sozial - fortschrittlich, S. 15 f., 19 ff.; i.d.S. auch W. Henke, Recht und Staat, S. 386.; F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 364 ff., kritisiert die Sozialversicherung als „Werkzeug egalitärer Umverteilung"; dazu M. Klüver, Die Verfas-

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Die „positiven Gesetze" dürfen „den natürlichen der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit aller i m Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustand (sc. als „bloßer Staatsgenosse ohne ein Eigentum") in den aktiven (sc. den des Staatsbürgers) empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein" (Kant) 174. Die Gesetze müssen somit den Bürgern die Chance sichern, die Selbständigkeit zu erlangen, also ein diese Selbständigkeit tragendes Eigentum zu erwerben. Diese Chancengleichheit, welche Kant mit der „Idee der Gleichheit der Menschen i m gemeinen Wesen als Untertanen" („Untertan ist alles, was unter Gesetzen steht") verbind e t 1 7 5 , ist folglich Teil der Eigentumsgewährleistung 1 7 6 ; denn Eigentum ist zwar nicht die formale Freiheit, aber doch materielle Voraussetzung des Handelns i n Freiheit 1 7 7 , also der freien Entfaltung der Persönlichkeit i m Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG, „die privat verfügbare ökonomische Grundlage individueller F r e i h e i t " 1 7 8 . Die soziale Homogentität ist ein Rechtsprinzip der R e p u b l i k 1 7 9 . Darum wird das Prinzip Eigentum mit dem Prinzip Freiheit verknüpft, meist unspezifisch, weil der Freiheitsbegriff offen bleibt oder Freiheit als Handlungsmöglichkeit und damit als Eigentum verstanden w i r d 1 8 0 . Als „Element der Sicherung der persönlichen Freiheit des Einzelnen" „genießt das Eigentum einen besonders ausgeprägten Schutz", sung des Marktes, Dissertation Erlangen-Nürnberg, 1999, 6. Kap., II, 4; kritisch gegenüber dem Wohlfahrtsstaat „perfekter Sekurität" K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 438 ff. 174 Metaphysik der Sitten, S. 434; ebenso ders., Über den Gemeinspruch, S. 147 ff.; dazu K. Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung, S. 218 ff.; K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 144 f. 175 Über den Gemeinspruch, S. 147 f., bzw. 146. i™ Zur Chancengleichheit W. Maihofer, HVerfR, S. 512; P. Häherle, VVDStRL (1972), S. 84, 92, 97; P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, HStR, Bd. V, 1992, § 124, Rdn. 74f., 107; H. F. Zacher, HStR, Bd. I, § 25, Rdn. 39; W.-H. Scholler, Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot und das Gebot der Chancengleichheit, 1969; K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 144 f., 344; beeindruckende Kritik von W. Leisner, Der Gleichheitsstaat, Macht durch Nivellierung, 1980, insb. S. 143 ff.; ders., Chancengleichheit als Form der Nivellierung, 1980, in: ders., Staat, Schriften zu Staatslehre und Staatsrecht, 1957 - 1991, hrsg. von J. Isensee, 1994, S. 642 ff.; kantisch K. Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung, S. 271 ff., 277 ff. 177 K. A. Schachtschneider, Frei - sozial - fortschrittlich, S. 11 ff.; O. Kimminich, GG, Bonner Kommentar, Art. 14, Rdn. 18 ff.; R. Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S. 80 ff. („freiheitssichernde Funktion der Eigentumsgarantie", S. 82 ff. i™ BVerfGE 97, 350 (370).

™ I.d.S. BVerfGE 5, 85 (206); 89, 155 (186); J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, I, 9 (Fußnote), III, 4; H. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S. 423 ff., 427 ff.; ders., Staatslehre, 1934, S. 158 ff.; W. Maihofer, HVerfR, S. 458 f.; P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 90ff.; K. A. Schachtschneider, Frei - sozial - fortschrittlich, S. 19; ders., Res publica res populi, S. 241, 247, 1177 ff. 180 w. Leisner, Eigentum, S. 91; D. Ehlers, VVDStRL 51 (1992), S. 213, 226 (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG - ein „Freiheitsrecht"), S. 247 („ohne Eigentum keine Freiheit" (?)); dazu K. A. Schachtschneider, daselbst, S. 336f.; bemerkenswert BVerfGE 79, 292 (304): „Die grundrechtliche Eigentumsverbürgung enthält Elemente der allgemeinen Handlungsfreiheit sowie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts".

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judiziert das Bundesverfassungsgericht 181 . Das Bundesverfassungsgericht hat die Formel standardisiert, daß der „Eigentumsgarantie im Gesamtgefüge der Grundrechte die Aufgabe zukomme, dem Träger des Grundrechts einen Frei(heits)raum im vermögensrechtlichen Bereich zu sichern und ihm dadurch eine eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens zu ermöglichen" 182 . Das Gericht geht noch weiter in der Identifizierung des Eigentums als eine Freiheit und behandelt das „Freiheitsrecht" des Art. 14 Abs. 1 GG „Ausprägung" der „allgemeinen Handlungsfreiheit", als Recht zur „persönlichen" Entfaltung i m vermögensrechtlichen . . . Bereich" (BVerfGE 87, 153 (169)). Bemerkenswert ist hinsichtlich der zitierten Formel ein Satz aus dem kommunistischen Manifest (II), welches sich gegen das „bürgerliche Eigentum", das „Privateigentum", die „Bourgeoisie" richtet: „Man hat uns Kommunisten vorgeworfen, wir wollten das persönlich erworbene, selbsterarbeitete Eigentum abschaffen; das Eigentum, welches die Grundlage aller persönlichen Freiheit, Tätigkeit und Selbständigkeit bilde" 1 8 3 . Das Manifest weist den Vorwurf zurück: „Erarbeitetes, erworbenes, selbstverdientes Eigentum! Sprecht ihr von dem kleinbürgerlichen, kleinbäuerlichen Eigentum, welches dem bürgerlichen Eigentum vorherging? Wir brauchen es nicht abschaffen, die Entwicklung der Industrie hat es abgeschafft und schafft es täglich ab." „ D i e Person muß sich eine äußere Sphäre der Freiheit geben, um als Idee zu sein." M i t dieser Erkenntnis hat Hegel das Eigentum mit der Freiheit verbund e n 1 8 4 . Auch Walter Leisner handelt von der „Eigentumsfreiheit" 1 8 5 , vom „Frei181 BVerfGE 14, 288 (293 f.); 42, 64 (77); 42, 263 (293 ff.); 50, 290 (340); 53, 257 (292); 70, 191 (201). 182 BVerfGE 97, 350 (370 f.); so schon BVerfGE 24, 367 (389); 31, 229 (239); 40, 263 (293); 50, 290 (339); 53, 257 (290); 68, 193 (222); 69, 272 (300); 83, 201 (208 f.); folgend O. Kimminich, GG, Bonner Kommentar, Art. 14, Rdn. 18; H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rdn. 1. 183 Kritik von W. Leisner, Die demokratische Anarchie, S. 361, der spezifisch gegen das „Tascheneigentum kommunistischer Herrschaft", das „lediglich persönlichkeitsvermittelte Eigentum, ein „Eigentum als Ordnungsmacht" verteidigt; ders. auch, Eigentum, S. 91; vgl. auch ders., Privateigentum - Grundlage der Gewerkschaftsfreiheit, 1978, S. 61 ff.; ders., Das Eigentum Privater - Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft, S. 712 ff.; ders., Privateigentum ohne privaten Markt?, S. 724, 734, wo er, sicher nicht ohne Bedacht, von „Privateigentum" spricht; zum „persönlichen Eigentum" H. Rittstieg, AK-GG, Art. 14/15, Rdn. 75 ff., 100 ff., mit entgegengesetzter Tendenz; dazu auch A. von Brünneck, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes 1984, S. 274 ff. 184 Rechtsphilosophie, § 41; dazu R. Dreier, Eigentum in rechtsphilosophischer Sicht, S. 183 ff. 185 Sozialbindung des Eigentums, S. 11, 20; i.d.S. auch, Freiheit und Eigentum, S. 18 („Eigentum - eine Art von Freiheit"); auch, Eigentum - Grundlage der Freiheit, S. 23; Das Eigentum zwischen privatem Nutzen und sozialer Bindung, 1994, S. 538 f. („Eigentum als

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heitsraum des privaten Eigentums" 1 8 6 . Er sagt 1972: „Jede Freiheit ist so viel wert, wie sie dem Staat unbequem ist. Deshalb ist die Eigentumsgarantie die wertvollste Freiheit." 1 8 7 , 1989: „Eigentum ist F r e i h e i t " 1 8 8 , 1994: „Bürgereigentum ist nichts als Freiheit", als „,geronnene Arbeit 4 , damit geronnene F r e i h e i t " 1 8 9 , und 1995: „Eigentum ist letztlich nur geronnene Freiheit, Freiheit vor allem Chance zum E i g e n t u m " 1 9 0 . 1974 aber war Walter Leisner, ausgehend von der mit dem Menschen geborenen „Gleichheit in der Freiheit", zur Erkenntnis gekommen: „ N u r weil Eigentum nicht Freiheit ist, kann es Freiheit neben Gleichheit, kann es überhaupt Freiheit begrifflich noch g e b e n " 1 9 1 . Walter Leisner und andere sprechen von „realer Freiheit" durch E i g e n t u m 1 9 2 . Letzteres spricht die Möglichkeiten freien Handelns an, also das als Eigentum oder anders rechtlich geschützte Eigene. „Denn dies war noch immer das Wesen der Mündigkeit: In Freiheit besitzen" (Walter Leisner) 193. „Wer Eigentum nimmt, nimmt Freiheit" (Walter Leisner) 194. Er nimmt Möglichkeiten der freien Entfaltung der Persönlichkeit, also doch nur Eigentum. Die Freiheit ist mit dem Menschen geboren. Sie ist dessen Würde als Vernunftwesen. Sie ist verletzbar, durch Unrecht. Aber keinem Menschen kann die

Freiheit"); ders., Erbrecht, S. 169; auch D. Suhr, Eigentumsinstitut und Aktieneigentum, S. 23, 73, 133 u.ö.; H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rdn. 10; O. Kimminich, GG, Bonner Kommentar, Art. 14, Rdn. 100 ff.; R. Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S. 90, 96, 251, passim; auch P Badura, Freiheit und Eigentum in der Demokratie, S. 17 („Die Eigentumsgarantie ist jedoch im Ursprung ein Freiheitsrecht."). 186 Etwa, Eigentum - Grundlage der Freiheit, S. 42; vgl. auch, Freiheit und Eigentum, S. 17ff.; Privateigentum ohne privaten Markt?, 1975, S. 728; kritisch zum räumlichen Freiheitsdenken K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 181, 466 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 127 f.; P. Badura, HVerfR, S. 347; auch BVerfG, etwa E. 24, 367 (400). 187 Sozialbindung des Eigentums, S. 239. 188 Eigentum, S. 91; vgl. ders., Die verfassungsrechtliche Freiheit und ihre Begrenzung, 1961, in: ders., Staat, 1994, S. 638 („Eigentum als Freiheit"); auch P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 85, identifiziert Eigentum als Freiheit; i.d.S. BVerfGE 79, 292 (304): „Freiheit, den Eigentumsgegenstand zu veräußern", „selbst zu nutzen", usw.; auch BVerfGE 97, 350 (371): „Eine wesentliche Freiheitsgarantie des Eigentums liegt gerade darin, Sachgüter und Geld austauschen zu können"; auch BVerfGE 52, 1 (31); 93, 121 (137). 189 Das Eigentum zwischen privatem Nutzen und sozialer Bindung, S. 539; D. Suhr, Eigentumsinstitut und Aktieneigentum, S. 20 („Parzelle gegenstandsbezogener Freiheit"); vgl. auch R. Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S. 81 („vergegenständlichte Freiheit"). 190 Das Eigentum Privater - Vertragsfreiheit und Sozialbindung, S. 190. m Freiheit und Eigentum, S. 17 ff., Zitat S. 18. 192 W. Leisner, Politischer Einfluß des Eigentums - verfassungswidrig?, S. 75; ders., Der Eigentümer als Organ der Wirtschaftsverfassung, 1975, S. 743; i.d.S. auch ders., Sozialbindung des Eigentums, S. 216 (Sicherung der „materiellen Grundlagen der Freiheit"); K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1970, S. 87, 119; P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 96 („Optimum an realer Freiheit"); i.d.S. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 423; M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 334; E. Stein, Staatsrecht, S. 346; i.d.S. auch BVerfGE 97, 350 (370 f.). ™ Freiheit und Eigentum, S. 20. Das Eigentum zwischen privatem Nutzen und sozialer Bindung, S. 539.

194

5

FS Leisner

772

Karl Albrecht Schachtschneider

Freiheit genommen werden. Sie ist die Würde des Menschen, unantastbar (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) 1 9 5 . Die Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 und 2 GG schützt nicht nur den Bestand des Eigentums, sondern garantiert auch den freiheitlichen Gebrauch desselben, die grundsätzliche Privatheit des Eigentümers 196, die Privatnützigkeit eben 197 . Der Gebrauch des Eigentums, besser: der Gegenstände des Eigentums, ist Handeln, welches dem allgemeinen Freiheitsprinzip zu folgen hat, wie es Art. 2 Abs. 1 GG formuliert, also vor allem dem Sittengesetz verpflichtet ist 1 9 8 . Es gibt in der Republik nur eine Freiheit, nicht Freiheiten 199 . Die Grundrechte schützen freies Handeln unterschiedlich, das Eigentumsgrundrecht auch und vor allem den freien Gebrauch des Eigentums oder die freie Willkür des Eigentümers. Das erweist Absatz 2 des Art. 14 GG, wonach der „Gebrauch des Eigentums zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll". Diese Sozialpflichtigkeit 200 ist nichts anderes als die sittliche Pflicht, mit der die Freiheit begrifflich verbunden ist, das Sittengesetz, dem alles Handeln der Menschen verpflichtet ist, der kategorische Imperativ 201 . Das Prinzip der Selbständigkeit macht jeden Bürger dafür verantwortlich, daß er die Chancen, welche die allgemeinen Gesetze geben, nutzt. Wenn es ihm allerdings nicht gelingt, die Selbständigkeit zu erarbeiten, ist der Staat kraft des Sozialprinzips zur Hilfe verpflichtet. Gerade wegen des Selbständigkeitsprinzips ist die Sozialhilfe auf das menschenwürdige Minimum zu begrenzen; denn sonst würden die Menschen ihre Bürgerlichkeit einbüßen und zu materiellen Untertanen werden 2 0 2 . Zur Vollkommenheit, die anzustreben Tugendpflicht ist 2 0 3 , gehört es auch, nicht durch Armut als „Bettler" anderen zur Last zu fallen 204 . 195

I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 68; dazu W. Maihof er, HVerfR, S. 490ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 253 ff., 275 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 1 ff., 30 ff.; i.d.S. auch BVerfGE 65, 1 (41). 196 Zur freiheitlichen Privatheit K A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 370 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 233 ff. 197 Hinweise in Fn. 71; dazu auch R. Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S. 250 ff. m K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 253 ff., 259 ff., 275 ff., 325 ff., 441 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 30ff., 78 ff.; zur „Integrationsfunktion" verantwortlichen dienenden Gebrauchs des Eigentums in „Selbstbeherrschung" D. Suhr, Eigentumsinstitut und Aktieneigentum, S. 68 ff., auch S 46 ff. 199 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 427 ff., 441 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 78 ff. 200 Dazu unter 6. 201 K. A. Schachtschneider, Res publica res pqpuli, S. 259 ff., 279 ff., 427 ff., 441 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 14 ff., 30 ff., 197 ff. auch S. 78 ff. 2 2 ° H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 813 f.; H. F. Zacher, HStR, Bd. I, § 25, Rdn. 28ff.; D. Merten, HVerfR, S. 999f.; K. A. Schachtschneider, Frei - sozial - fortschrittlich, S. 16ff.; ders., Res publica res populi, S. 244 ff.; i.d.S. auch F. A. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 1971, 3. Aufl. 1991, S. 323 ff.; vgl. auch Hinweise in Fn. 173. 2 03 /. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 516 f. 2

darunter: Eigenfinanzierungsmittel 2)

Kreditaufnahmen

% 6

insgesamt 5 4 darunter: für Wohnungsbauzwecke

3 2

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1 Aufwendungen für neue Wohngebäude einschl. Bestandspflege und Erwerb von Altbauten; ohne anteilige Grundstücke. — 2 Einschl. Abschreibungen. Deutsche Bundesbank

Otmar Issing

840

IV. Entwicklung der Geldvermögensbildung In Geldvermögen haben die Privathaushalte von 1991 bis 1997 insgesamt fast 1.700 Mrd DM angelegt. Trotz des beachtlichen Betrages verlor damit jedoch die Geldvermögensbildung - spiegelbildlich zur Akkumulation von Sachaktiva - an Boden; gemessen an den Verfügbaren Einkommen ging sie seit der Einigung bis 1997 von gut 13% auf 10% zurück. Die Wahl der Anlageformen wurde naturgemäß stark von den westdeutschen Sparern geprägt. Es verwundert deshalb nicht, wenn sich die schon seit Jahrzehnten erkennbaren Tendenzen in den Anlegerpräferenzen nach der Einigung fortgesetzt haben. Gleichzeitig hat sich die ostdeutsche Bevölkerung recht schnell westlichen Verhaltensmustern angepaßt, ohne daß dadurch freilich die historisch bedingten Unterschiede in der kurzen Zeit seit der Einführung der D-Mark zur Jahresmitte 1990 hätten völlig eingeebnet werden können.

Tabelle 2 Struktur der Geldvermögensbildung privater Haushalte in %* Geldanlage bei Banken3) Bargeld und Sichteinlagen Termingelder Sparbriefe Spareinlagen

1950/591)

1960/69

1970/79

1980/89

1990/972)

59,2

56,5

53,9

38,5

33,3

14,6 1,9

9,6 1,0 1,1 44,9

8,0 4,9 7,5 33,5

6,6 8,5 7,8 15,6

11,0 2,0 0,0 20,2

-

42,7 7,8

8,6

7,4

1,4

2,7

bei Versicherungen 4)

14,4

15,9

16,9

27,6

29,9

in Wertpapieren Rentenwerte5) Aktien5) Investmentzertifikate

6,7 4,7 2,0

13,7 9,5 4,1

14,6 13,8 0,8

23,1 22,3 0,9

27,8 13,1 -0,1 14,9

bei Bausparkassen

in sonstigen Forderungen 6) Nachrichtlich: Geldvermögensbildung in % des verfügbaren Einkommens

-

-

-

-

11,9

5,3

7,2

9,3

6,3

8,1

11,1

13,5

11,4

11,3

* Einschl. Organisationen ohne Erwerbszweck. - ! ) Altes Bundesgebiet ohne Saarland und Berlin/West. - 2> Ab Juli 1990 Gesamtdeutschland. - 3> Im In- und Ausland. - 4 ) Einschl. Pensionskassen. - 5> Für Westdeutschland einschl. des indirekten Erwerbs über in- und ausländische Investmentzertifikate. - 6 ) Im wesentlichen Ansprüche aus betrieblichen Pensionszusagen.

Zur Vermögenssituation der privaten Haushalte

841

Die insgesamt schwächere Geldvermögensbildung ging vor allem zu Lasten der Geldanlagen bei Banken, die im Mittel der Jahre 1991/97 nur noch ein Drittel (im Osten schätzungsweise zwei Fünftel) der „finanziellen" privaten Ersparnis in Form von Einlagen an sich binden konnten. Dies äußerte sich vor allem darin, daß mit der allmählichen Normalisierung der anfänglich inversen Zinsstruktur die ehedem kräftigen Mittelzuflüsse auf den kurzfristigen Terminkonten in ebenso hohe Abgänge umschlugen. Gleichzeitig zogen sich die privaten Sparer auch aus den längerfristigen Anlageformen zurück. Teilweise wurden die freigesetzten Gelder wohl den kurzfristigen Sparkonten zugeführt, wohin sich der Schwerpunkt der zinsattraktiven Sondersparangebote der Banken verlagerte. Insgesamt floß im Zeitraum 1991/97 ein Viertel der Geldvermögensbildung auf die Sparkonten gegenüber nur etwa einem Sechstel in den achtziger Jahren. Außerdem führten sinkende Opportunitätskosten und Unsicherheiten über die künftige Entwicklung der Kapitalmärkte sowie der Beschäftigung dazu, daß die private Kassenhaltung ebenfalls deutlich stärker als zuvor gewichtet wurde. In den Vordergrund rückte dagegen vor allem der Zertifikatserwerb, den die Banken auch deshalb förderten, um auf diese Weise die privaten Spargelder im Verbund mit den eigenen Kapitalanlagegesellschaften halten zu können. Stetige Produktinnovationen wirkten auf eine kräftige Ausweitung der Investmentanlagen hin, die im vorliegenden Zeitraum etwa ein Sechstel der privaten Geldvermögensbildung absorbierten. Dem Anteil nach war das etwa doppelt so viel wie in den achtziger Jahren, was auch auf die gute Resonanz der Investmentanteile bei ostdeutschen Anlegern zurückzuführen ist. Dabei haben sich aufgrund der seit 1993 kräftig anziehenden Aktienkurse die Anlageschwerpunkte recht deutlich zu Gunsten der Aktienfonds verschoben, vor allem solcher mit internationaler Ausrichtung. Die Präferenz für Anlagen mit Wertzuwachspotential zeigte sich auch im direkten Aktienerwerb, der zudem vom Börsengang der Telekom, der Einrichtung des Neuen Marktes und den vielfältigen Übernahmephantasien profitierte. Die Börsenturbulenzen in den beiden letzten Jahren konnten der gewachsenen Vorliebe für die Aktie bislang keinen größeren Schaden zufügen, zumal der Erwerb von Beteiligungstiteln mittlerweile zu einem guten Teil durch entsprechende Sparpläne verstetigt wird. Schätzungsweise floß seit 1991 etwa ein Zehntel der Geldvermögensbildung direkt oder indirekt in die Aktie; das war viermal so viel wie im vorangegangenen Jahrzehnt. Neben der Aktienanlage verbuchte das Vertragssparen außerhalb der Banken ebenfalls Terraingewinne. Günstig wirkte sich aus, daß der Nachholbedarf an individueller Vorsorge die ostdeutsche Bevölkerung veranlaßte, in größerem Umfang neue Verträge bei Bausparkassen und Lebensversicherungen abzuschließen. Kräftige Impulse erhielt das Bausparen zudem von der Neugestaltung der Wohnungsbau- und Bausparförderung. Das Versicherungssparen profitierte überdies von der wachsenden Unsicherheit in der Bevölkerung über die künftige Leistungskraft der gesetzlichen Rentenversicherung und der relativ attraktiven aktuellen Verzinsung der Neuverträge gegenüber vergleichbaren längerfristigen Geldanlagen.

842

Otmar Issing

V. Verschuldungsverhalten An zusätzlichen Krediten nahmen die privaten Haushalte seit der Einigung insgesamt gut 750 Mrd DM auf; davon dienten vier Fünftel der Finanzierung des Wohnungserwerbs und ein Fünftel vorrangig dem Konsum. Damit hat sich - bezogen auf die Verfügbaren Einkommen - die private Neuverschuldung deutlich erhöht; mit einem Anteil von durchschnittlich 5 % in den Jahren 1991/97 entsprach sie in etwa den Verhältnissen zu Beginn der achtziger Jahre mit ebenfalls starken privaten Wohnungsbauaktivitäten. Ähnlich wie damals wirkten vor allem rückläufige Zinsen sowie die staatliche Förderpolitik auf eine höhere Fremdfinanzierung hin. In den Jahren 1993/94 dürfte allerdings der Höhepunkt überschritten worden sein, zumal in der Folgezeit die Gewichtsverlagerungen im Wohnungsbau und die sukzessive Einschränkung steuerlicher Sonderregelungen eine höhere Eigenfinanzierung begünstigten. Davon abgesehen hat - wie bereits erwähnt - bei der privaten Baufinanzierung das Absparen langfristig an Bedeutung gewonnen. Hingegen hat der Zinsrückgang die private Verschuldungsbereitschaft für Konsumzwecke insgesamt nicht nennenswert erhöht. 14 Zum einen schwächte sich mit dem Abklingen des Einigungsbooms und der Wende am westdeutschen Wohnungsmarkt die Nachfrage nach langlebigen Gebrauchsgütern spürbar ab. Vor allem die Zulassungen fabrikneuer Personenkraftwagen gingen nach der Kaufwelle von 1990/91 längere Zeit zurück. Zum anderen haben vermutlich die gewachsenen Beschäftigungsrisiken die Unsicherheiten hinsichtlich der künftigen Bedienbarkeit privater Schulden vergrößert.

VI. Privates Wohnungsvermögen und Bauschulden Mit der schwächeren privaten Spartätigkeit hat sich naturgemäß das Vermögenswachstum tendenziell verlangsamt. Deutlich wird dies auch am privaten Immobilienvermögen, das den größten Aktivposten in der Vermögensbilanz privater Haushalte darstellt. Bewertet zu Wiederbeschaffungspreisen sowie abzüglich Abschreibungen betrug es Ende 1997 gut 7 Billionen DM; davon entfielen nahezu zwei Drittel auf den Wert der Wohnungen, der Rest auf die anteiligen Grundstücke. Seit 1990 nahm das Haus- und Grundvermögen um 40% zu; hieran waren die neuen Bundesländer zu einem Fünftel beteiligt. Durch hohe Neubauaktivitäten, Restitutionen und Privatisierungen hat sich das dortige private Immobilienvermögen in den Jahren 1990 bis 1997 - von einer vergleichsweise niedrigen Ausgangsbasis her - mehr als verdreifacht. Ursächlich dafür waren freilich auch erhebliche Verteuerungen der Grundstücke in den ersten Einigungsjahren, die u. a. darauf hin14

Vgl. auch Hermann-Josef Hansen, Der Einfluß der Zinsen auf den privaten Verbrauch in Deutschland, Volkswirtschaftliche Forschungsgruppe der Deutschen Bundesbank, Diskussionspapier 3/96, März 1996, S. 64 ff. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß sich eine befriedigende Trennlinie zwischen Investitions- und Konsumkrediten privater Haushalte immer weniger ziehen läßt.

1990

5.102,6

1.221,2

9.301,8

1.154,5 867,3 287,2

8.856,7

Gebrauchsvermögen 1.122,5

Bruttovermögen insgesamt

Verpflichtungen 1.072,3 Baukredite 821,5 Konsumentenkredite 250,8

Reinvermögen2)

* Ohne Organisationen ohne Erwerbszweck. in den Summen durch Runden der Zahlen.

8.229,5

3.358,3

1.427,5 131,7 703,7 838,3 509,8 120,7 178,5 257,1

5.431,7

3.477,6 1.954,1

1991

3.076,7

zusammen

Geldvermögen bei Banken 1.349,1 bei Bausparkassen 125,3 bei Versicherungen 644,3 in Wertpapieren 718,5 in Rentenwerten1) 428,3 in Investmentzertifikaten in Aktien 169,5 in sonstigen Anlagen 239,5

zusammen

Immobilienvermögen Gebäudewert 3.183,7 Grundstückswert 1.918,8

Bruttovermögen

Position

10.053,7

1.342,7 1.018,4 324,3

10.640,5

1.399,1

3.933,3

1.665,6 145,1 822,5 1.007,8 534,5 197,3 228,1 292,3

6.064,0

3.958,2 2.105,8

1993

10.549,6

1.465,9 1.130,8 335,1

11.396,4

1.449,3

4.154,6

1.692,7 151,1 897,6 1.113,9 575,0 245,2 223,5 299,3

6.411,7

4.169,2 2.242,5

1994

11.148,3

1.577,5 1.231,7 345,8

12.015,6

1.496,6

4.500,0

1.783,2 154,4 982,6 1.267,5 674,4 315,5 249,5 312,3

6.729,2

4.350,3 2.378,9

1995

11.634,2

1.689,0 1.332,9 356,1

12.725,8

1.558,3

4.795,4

1.867,3 164,3 1.066,7 1.369,5 690,1 343,6 302,3 327,6

6.969,5

4.444,0 2.525,5

1996

12.098,1

1.792,7 1.426,4 366,3

13.323,2

1.617,9

5.175,5

1.916,6 173,6 1.163,0 1.578,2 705,7 377,1 427,0 344,1

7.097,4

4.552,4 2.544,9

1997

13.890,8

445,5

Einschl. in Geldmarktpapieren. - 2) Brutto vermögen abzüglich Verpflichtungen. - Differenzen

9.406,7

1.233,8 921,8 312,0

10.011,2

1.326,8

3.577,3

1.528,9 138,3 748,1 882,2 513,3 150,1 171,6 279,8

5.736,4

3.747,4 1.989,1

1992

Tabelle 3: Vermögensbilanz privater Haushalte* - Bestand am Jahresende in Mrd DM

Zur Vermögenssituation der privaten Haushalte 843

844

Otmar Issing

wirkten, daß sich die anteiligen Bodenwerte im vorliegenden Zeitraum nahezu vervierfachten. Gleichzeitig verliehen größere Grundstücksflächen den Bodenwerten im Osten ein deutlich höheres Gewicht als im Westen. Hier wuchs das private Wohnungsvermögen zwischen 1990 und 1997 nur um zwei Fünftel. Gedämpft wurde diese Entwicklung zudem dadurch, daß längerfristig der „Flächenkonsum" abnahm und - anders als im Osten - die Verteuerung des Bodens sich verlangsamte. Von der Preisentwicklung her boten „Investitionen in die Betonmark" seit Mitte der neunziger Jahre im Westen kaum noch Aussicht auf größere Wertsteigerungen. Historisch bedingt ist privater Haus- und Grundbesitz in den neuen Bundesländern stärker konzentriert als im Westen, doch hat sich die Eigentümerquote - sowohl an der Zahl der Wohngebäude als auch der Wohnungen gerechnet - mittlerweile deutlich erhöht. Der Anteil der Osthaushalte, die in einer eigenen Wohnung leben, ist in den letzten fünf Jahren von 19% auf 26% gestiegen, während er im Westen - vermutlich auch unter dem Einfluß des Vordringens der Einpersonenhaushalte - mit 44 % nahezu unverändert geblieben ist. Zusammengenommen liegt die Quote der Eigentümerhaushalte in Deutschland mit 40% deutlich unter den Vergleichswerten anderer europäischer Länder, wobei man jedoch bei solchen Vergleichen auch die unterschiedliche Wirtschaftsstruktur, die Bevölkerungsdichte und den Urbanisierungsgrad berücksichtigen muß. Legt man die genannten Besitzverhältnisse zugrunde, dann verfügten die Wohnungseigentümer unter den Privathaushalten 1997 über ein durchschnittliches Haus- und Grundvermögen von 475.000 DM, was seit 1990 einem nominalen Zuwachs um etwa ein Drittel entspricht. Diesem Vermögen stand Ende 1997 eine kräftig ausgeweitete private Bauverschuldung in Höhe von 1.430 Mrd DM gegenüber. Bezogen auf die Haushalte mit Hausbesitz waren das durchschnittlich 95.000 DM und damit gut zwei Drittel mehr als zu Beginn der neunziger Jahre. Stellt man in Rechnung, daß das private Wohnungsvermögen in der Regel nur in der Hälfte der Fälle mit Restschulden belastet ist, dann erhöht sich der Kreditbetrag je verschuldetem Haushalt auf 190.000 DM sowie die durchschnittliche Belastung des privaten Immobilienbesitzes auf ca. zwei Fünftel, verglichen mit einer Quote von etwa einem Drittel zu Beginn der neunziger Jahre. Die höhere Verschuldung wurde nicht zuletzt durch die staatlichen Fördermaßnahmen für den Wohnungsbau stimuliert.

VII. Privates Gebrauchsvermögen und Konsumschulden Vermögensrelevant sind für die privaten Haushalte neben dem Immobilienbesitz auch andere höherwertige Sachgüter, die sie über einen längeren Zeitraum nutzen und in der Regel entweder durch Rückgriff auf früher angesammelte Ersparnisse oder durch Kreditaufnahmen finanziert haben. Dies sind vor allem langlebige Gebrauchsgüter, wie z. B. Personenkraftwagen, Einrichtungsgegenstände und tech-

Zur Vermögenssituation der privaten Haushalte

845

nische Geräte; aber auch Antiquitäten, Kunstwerke und Schmuck sind nicht zu vernachlässigende Wertobjekte. Die Ausstattung der Haushalte mit solchen Gütern hat sich nach den Ergebnissen der Einkommens- und Verbrauchsstichproben in den letzten fünf Jahren weiter verbessert. Dies gilt vor allem für die ostdeutsche Bevölkerung, die damit nicht nur gegenüber westdeutschem Standard aufgeholt, sondern diesen mittlerweile sogar teilweise übertroffen hat. Der Zeitwert des privaten Gebrauchsvermögens per Ende 1997 ist auf rund 1,6 Billionen DM zu veranschlagen. Pro Haushalt gerechnet sind das gut 40.000 DM oder ein Drittel mehr als zur Zeit der deutschen Einigung; in Ostdeutschland allein dürfte sich das private Gebrauchsvermögen pro Kopf verdoppelt haben.

Tabelle 4 Ausstattung privater Haushalte mit ausgewählten Gebrauchsgütern Von jeweils 100 Haushalten waren ausgestattet mit:

Westdeutschland 1962D

2

1993 )

Ostdeutschland 3

1998 )

19932)

19983)

Personenkraftwagen

27,0

73,9

76,2

66,2

70,6

Telefon stationär Autotelefon / Handy

14,0

97,4

97,3 11,4

48,8

94,3 10,8

Fernsehgerät

37,0

-

-

-

95,3

95,5

96,2

97,8

48,5

62,7

35,9

61,3

42,0

80,6

86,8

75,0

85,0

Kühlschrank

s) 52,0

95,4

99,0

95,5

99,3

Gefriertruhe

s) 3,0

Videorecorder Fotoapparat

Mikrowellengerät Geschirrspülmaschine Waschmaschine

-

75,1

76,9

66,6

80,0

-

40,8

53,0

14,8

41,2

-

38,0

49,1

2,7

25,7

88,2

91,2

91,2

94,3

34,0

Quelle: Statistisches Bundesamt, Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichproben. *) Stand Mai/Juni 1962; altes Bundesgebiet ohne Berlin; ohne Bevölkerung in Gemeinschaftsunterkünften und Ausländer. - 2> Stand Januar 1993; ohne Bevölkerung in Gemeinschaftsunterkünften sowie ohne Haushalte mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 35 000 DM und mehr. - 3> Stand Januar 1998; ohne Bevölkerung in Gemeinschaftsunterkünften sowie ohne Haushalte mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 35 000 DM und mehr.

Stellt man diesem Vermögen die Konsumentenschulden gegenüber, so wird auch in dieser Betrachtung deutlich, daß die deutschen Privathaushalte bei derartigen Krediten relativ zurückhaltend sind. Mit insgesamt rund 370 Mrd DM oder knapp 10.000 DM pro Haushalt entsprachen die Verbindlichkeiten Ende 1997 etwa einem Viertel des Gebrauchs Vermögens; im Osten war es nur ein Zehntel. Zu beachten ist jedoch, daß vermutlich höchstens ein Viertel der Haushalte Konsumentenkredite

846

Otmar Issing

(ohne Kontenüberziehungen) in Anspruch nehmen. Die Schuldenlast pro Kreditnehmer läge dann im Schnitt bei 32.000 DM; sie ist in der Regel lebensphasenund einkommensabhängig. Treffen mehrere ungünstige Einflüsse zusammen, welche die Haushaltseinkommen drastisch schmälern, dann ist es nur noch ein kurzer Schritt zur Überschuldung, von der nach einschlägigen Studien etwa 5 % der Haushalte in Deutschland betroffen sein sollen.15

V I I I . Privates Geldvermögen Die gesamten im In- und Ausland gehaltenen privaten Geldanlagen bei Banken, bei anderen Kapitalsammelstellen sowie in Wertpapieren erreichten Ende 1997 nach den verfügbaren statistischen Informationen eine Größenordnung von rund 5.350 Mrd DM; für 1998 dürfte mit gut 5.600 Mrd DM zu rechnen sein. Damit wird das tatsächliche private Geldvermögen allerdings eher zu niedrig angegeben, da sich manche Anlageformen statistisch nur unzureichend erfassen lassen. In erster Linie gilt dies für die aufgrund der Globalisierung der Kapitalmärkte kräftig gewachsenen Geldanlagen im Ausland 16 sowie für Anteilsrechte an Unternehmen, die nicht in der Form einer Aktiengesellschaft geführt werden. 17 Ein besonderes Gewicht haben in diesem Zusammenhang steuersparende Anlagen, wie z. B. Beteiligungen an geschlossenen Immobilien- oder sonstigen „Abschreibungsfonds". Seit der deutschen Einigung ist das private Geldvermögen um 2.150 Mrd DM oder um zwei Drittel gestiegen. Hinter dem Vermögenszuwachs steht zu vier Fünfteln die Akkumulation von Ersparnissen aus dem laufenden Einkommen. Der Rest dürfte überwiegend auf Wertsteigerungen beruhen, denen damit jedoch im vorliegenden Zeitraum eine weitaus geringere Bedeutung für das Geldvermögenswachstum zukam als in anderen Industrieländern, in denen die bewertungsbedingten Vorgänge in den neunziger Jahren sogar den Großteil der Veränderung der Finanzaktiva ausmachten. Der Wertzuwachs beim privaten Portefeuille an Aktien, Investmentzertifikaten und Rentenwerten in Deutschland kumuliert sich für die Jahre 1990 bis 1997 auf schätzungsweise 400 Mrd DM. Der Schwerpunkt liegt erwartungsgemäß mit nicht ganz 250 Mrd DM bei den Aktien, deren Notierungen - gemessen am DAX-Kursindex - sich seit Ende 1990 auf das Dreifache erhöht haben. Vor allem die Jahre 1993 sowie 1996/97 wiesen deutliche Kurssteigerungen auf. 15 Vgl. etwa Dieter Korczak u. a., Marktverhalten, Verschuldung und Überschuldung privater Haushalte in den neuen Bundesländern, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren; Frauen und Jugend, Band 145, September 1997. 16 Allein die statistisch erfaßten Auslandsanlagen nahmen von 1990 bis 1997 um das Anderthalbfache zu; mit rund 360 Mrd DM entsprachen sie ca. 7 % der gesamten Geldvermögen. 17

Nach den hochgerechneten Ergebnissen der Unternehmensbilanzstatistik der Deutschen Bundesbank könnte sich das Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Personengesellschaften und Einzelunternehmen zugeführte private Beteiligungskapital zum Bilanzkurs auf schätzungsweise 130 Mrd DM belaufen.

847

Zur Vermögenssituation der privaten Haushalte Tabelle 5 Veränderung des Geldvermögens in ausgewählten Ländern Land

Zeitraum

Veränderung in %

Kursgewinne (+) bzw. -Verluste (-) Anteil in

Großbritannien

1990/95

65,9

66

USA

1990/96

60,2

65

Frankreich

1990/96

58,5

47

Deutschland

1990/96

54,9

17

Japan

1990/96

30,8

-3

Errechnet als Differenz zwischen den Bestandsveränderungen und der akkumulierten ,finanziellen Ersparnis"; einschließlich errors und omissions.

Auf den einzelnen Haushalt entfiel Ende 1997 durchschnittlich ein Geldvermögen von nicht ganz 143.000 DM. Seit 1990 ist dieser Durchschnittswert um mehr als die Hälfte gestiegen, woran Kursgewinne von gut 10.000 DM beteiligt waren. Durch die divergierenden Einkommensverhältnisse hat sich die private Vermögensbildung zunehmend differenziert. Das gilt auch für die Beteiligung an den Kursgewinnen, von denen unter den Wertpapierbesitzern insbesondere die Aktieninhaber profitierten. Diese gehören zum größeren Teil den oberen Einkommensschichten an, obgleich hierzu auch zahlreiche Belegschaftsaktionäre in den unteren Einkommensgruppen zählen. Pro Haushalt kumulieren sich die Aktienkursgewinne auf 6.500 DM, bezogen auf den engeren Kreis der gut 4 Mio Haushalte mit Aktienbesitz sind es knapp 60.000 DM. Die Streubreite ist freilich auch hier je nach der Größe und Zusammensetzung der individuellen Depots beachtlich. Die unterschiedlichen Tendenzen der Vermögensbildung veranschaulicht auch der Ost-West Vergleich. Ende 1997 beliefen sich die privaten Geldanlagen im Osten pro Haushalt auf schätzungsweise 53.000 DM oder etwa ein Drittel der durchschnittlichen Geldanlagen westlicher Haushalte. Zu Beginn der deutschen Einigung hatten die neuen Bundesländer noch im Verhältnis 1 : 5 im Rückstand gelegen. Seither erhöhten sich dort die privaten Geldanlagen infolge des sehr kräftigen Wachstum der Verfügbaren Einkommen in den ersten Einigungsjahren und der in Verbindung damit steigenden Sparquote um 160%, im Westen dagegen nur um 50%. Die Durchschnittsergebnisse verdecken eine recht unterschiedliche Vermögensverteilung in Ost und West. Ursprünglich war das auf D-Mark umgestellte Geldvermögen der ostdeutschen Bevölkerung - infolge der ideologisch bedingten Einkommenspolitik und der auf wenige, niedrig verzinsliche Formen begrenzten Anlagemöglichkeiten - wohl etwas gleichmäßiger verteilt, als dies im Westen aufgrund der spezifischen Ausgestaltung der gesetzlichen Altersversorgung sowie der dem Sparerwillen und den Marktkräften überlassenen längerfristigen Akkumula-

Otmar Issing

848

tion seit der Währungsreform von 1948 der Fall ist. In Zukunft hingegen wird auch in Ostdeutschland die private Vermögensverteilung einer stärkeren Konzentration unterliegen, was durch die Selbstalimentation der Geldvermögensbildung über die Vermögenseinkünfte sowie durch die Wertsteigerungen am Sach- und Geldvermögen noch gefördert wird. Schaubild 2 Vermögen und Verbindlichkeiten privater Haushalte in West- und Ostdeutschland in Tsd DM pro Haushalt

200.000

150.000

100.000

50.000

0 Immobilienvermögen

Geldvermögen

Gebrauchsvermögen

Verpflichtungen

IX. Bedeutung der Geldvermögenserträge und Zinsaufwendungen Nach wie vor sind vier Fünftel des privaten Geldvermögens ertragbringend angelegt. Die Haushalte erzielten hieraus 1997 eine durchschnittliche Nominalrendite von 4 V 2 % p.a.; das war ein Prozentpunkt weniger als im Zinsgipfel des Jahres 1991. Berücksichtigt man den Rückgang der allgemeinen Teuerungsrate, dann haben sich die Sparer jedoch zuletzt mit real 2 3 / 4 % p.a. erheblich besser gestellt als im ersten Einigungsjahr und im längerfristigen Durchschnitt. Zu einem gewissen Grade reflektiert der ermittelte Durchschnittsertrag auch die verstärkte Hinwendung der Sparer zu zinsattraktiveren Anlageformen. Rechnet man die Kursgewinne bei den Aktien im Zeitraum 1991 bis 1997 hinzu, dann folgt daraus - bezogen auf das gesamte rentierliche Geldvermögen - für diesen Zeitraum im Jahresmittel eine nominale Rendite Verbesserung um fast 80 Basispunkte. Dem absoluten Betrage nach flössen den privaten Haushalten 1997 rund 193 Mrd DM an Zinsen und Dividenden zu. Pro Haushalt waren das 5.100 DM; die Geldvermögenserträge haben sich damit seit 1991 in ganz Deutschland durchschnittlich um rund ein Viertel erhöht, in Ostdeutschland vermutlich auf 1.600 DM verdoppelt. Aufgrund der Normalisierung der Zinsstruktur und der vorherrschen-

3,7

3,9

4,1

4,3

42,6 47,2 49,0 52,8 55,7 58,7

4,4

4,6 60,7

4,9

1995

5,2 2,5

2

7,4

7,9

8,1

105,1 7,8

7,6

112,4

5,0 3,3

7,2

75,8 43,5

4,7 3,3

118,6 6,7

4,5 2,7

120,2

189,8

1996

119,4

192,9

1997

) Im In- und Ausland. - ) Lebensversicherungen, Pensions- und Sterbekassen sowie berufsständische Versorgungswerke. - 3 ) Einschl. Geldmarktpapiere. - 4) Geldvermögenseinkommen in % des ertragbringenden Vermögens. - 5>) Geldvermögenseinkommen in % des ertragbringenden Vermögens unter Berücksichtigung der Entwicklung des Preisindex für die Lebenshaltung.

[

nachrichtlich: in % der verzinslichen Verpflichtungen

83,4 96,0

5,9 2,3

Schuldzinsen insgesamt

5,9 1,9

53,0 58,0 61,7 66,6 71,8 75,0 30,5 38,0 43,4 45,9 46,8 45,2

5,5 1,9

Schuldzinsen Baukredite Konsumentenkredite

nachrichtlich: Nominale Ertragsrate 4) Reale Ertragsrate 5)

aus Wertpapieren 39,3 53,5 64,8 60,8 64,4 70,6 72,9 Rentenwerte3) 27,5 37,8 42,9 41,6 42,8 45,9 46,6 Investmentzertifikate 7,0 10,2 16,2 13,3 15,6 18,0 18,8 Aktien 4,8 5,5 5,7 5,9 6,0 6,6 7,6 Geldvermögenseinkommen insgesamt 151,9 182,2 194,2 183,8 187,9 desgl. in % der gesamten Bruttoeinkommen 6,4 7,1 7,3 6,6 6,5 6,4 6,4

von Versicherungen2)

von Bausparkassen

6,7 9,4 36,1 27,2 8,9

1994

18,8 24,9 22,8 17,3 12,0 7,8 13,4 15,2 14,5 11,9 12,0 10,2 32,7 36,0 37,4 34,9 37,5 35,8 19,3 21,0 22,3 21,1 23,3 26,3 13,5 15,0 15,0 13,8 14,1 9,5

1993 54,5

1992

66,3 77,6 76,3 65,9 63,3 56,0

1991

Geldvermögenseinkommen von Banken1) darunter: Termingelder Sparbriefe Spareinlagen mit 3-monatiger Kündigungsfrist mit über 3-monatiger Kündigungsfrist

Position

Tabelle 6: Geldvermögenseinkommen und Schuldzinsen privater Haushalte Mrd DM

Zur Vermögenssituation der privaten Haushalte 849

850

Otmar Issing

den Anlegerpräferenzen expandierten die Wertpapiererträge am stärksten; sie nahmen im vorliegenden Zeitraum um gut vier Fünftel zu. Der Zinsanfall aus dem Vertragssparen bei Bausparkassen und Versicherungen wuchs um gut 40%, während die Erträge von Banken um 20 % zurückgingen. Aufgrund der zunehmenden Diversifizierung des Geldvermögens ist wohl anzunehmen, daß ein größerer Kreis der Anleger als früher an den höheren Wertpapiererträgen partizipierte, wodurch Konzentrationstendenzen entgegengewirkt wurde. Erheblich stärker als Zinsen und Dividenden expandierten die privaten Zinsaufwendungen, vor allem wegen der gewachsenen Baufinanzierungen, für die etwa zwei Drittel der gesamten Schuldzinsen aufgebracht werden mußten. Die vom Zinsertragssaldo ausgeübte stützende Wirkung auf die private Einkommens- und Ersparnisentwicklung hat damit etwas nachgelassen. Dem absoluten Betrage nach waren die gesamten Nettoerträge 1997 mit rund 74 Mrd DM zwar höher als im ersten Einigungsjahr; gemessen an den Einkommen folgt daraus indes ein Rückgang auf 3 %, gegenüber 3 V 2 % in 1991.

X. Die private Vermögensbilanz Faßt man die hier vorgestellten Entwicklungstendenzen beim privaten Sachund Geldvermögen zusammen, dann ergibt sich für Ende 1997 ein Brutto vermögen der privaten Haushalte in Deutschland von insgesamt 14 Billionen DM. Hiervon entfielen auf das Immobilienvermögen im In- und Ausland sowie auf das Gebrauchsvermögen gut 8 V 2 Billionen DM oder 62 %; der Anteil war damit deutlich geringer als zu Beginn der neunziger Jahre. Demgegenüber hat das Geldvermögen sein Gewicht von einem Drittel auf fast zwei Fünftel verstärkt, obwohl im vorliegenden Zeitraum die „Geldersparnis" gegenüber der „Sachersparnis" an Boden verloren hat. Ursächlich für diese Divergenz sind im wesentlichen die unterschiedlichen Preis- und Kursentwicklungen der privaten Sach- und Geldaktiva. Zusammengenommen entsprach das Bruttovermögen zuletzt etwa dem Sechsfachen des Jahreseinkommens. Dieser Wert reicht nicht ganz an internationale Vergleichsmaßstäbe heran. Aufgewogen wird dies freilich zum Teil durch die relativ geringen privaten Verbindlichkeiten. Aufgrund von Konsum- und Baufinanzierungen waren die privaten Haushalte Ende 1997 mit schätzungsweise 1,8 Billionen DM verschuldet; dies entspricht einer Kreditquote von insgesamt 0,8 Jahreseinkommen. Vor allem die Konsumentenschulden sind - gemessen an den Einkommen - in Deutschland nur halb so hoch wie in vergleichbaren Ländern. Zur Beurteilung der Vermögensposition eignet sich deshalb besser das (um Verschuldungsvorgänge bereinigte) Reinvermögen. Dieses betrug Ende 1997 etwas mehr als ca. 12 Billionen DM; seit der deutschen Einigung nahm es im Jahresdurchschnitt um 5 V 2 % zu, verglichen mit fast 6 V 2 % in den achtziger Jahren. Damit war die Expansion aber immer noch etwas

Zur Vermögenssituation der privaten Haushalte Schaubild 3

Entwicklung des privaten Reinvermögens Billionen D-Mark

12

Reinvermögen

10

Geldvermögen

Wim

darunter: Wohnungsvermögen netto2»

Sachvermögen netto1*

nachrichtlich: Schulden 3 )

8

6

Relation des Vermögens zum Verfügbaren Einkommen Geldvermögen Sachvermögen 1>

1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1 Wohnungs- und Gebrauchsvermögen abzüglich Schulden. — 2 Abzüglich Bauschulden. — 3 Für Bau- und Konsumzwecke. Deutsche Bundesbank

852

Otmar Issing

stärker als beim Verfügbaren Einkommen, so daß sich die Relation zwischen beiden Aggregaten leicht vergrößert hat. In einer Größenordnung von 5 : 1 entsprach das Verhältnis des Vermögens zum Verfügbaren Einkommen, das nicht zuletzt die vermögensmäßige Absicherung der Haushalte gegenüber den Wechselfällen des Lebens zum Ausdruck bringt, durchaus internationalen Vergleichswerten. Das positive Ergebnis resultierte jedoch nicht nur aus der Ersparnisakkumulation, sondern geht zum guten Teil auf die Weitsteigerungen beim privaten Wohnungs- und Wertpapiervermögen zurück. Läßt man diesen Einfluß beiseite, dann wuchs das private Rein vermögen seit 1990 im Jahresmittel nur um 4 %; aufgrund der stabilitätspolitischen Erfolge in diesem Zeitraum verblieb aber selbst in realer Rechnung noch ein ansehnlicher Zugewinn von 2 % pro Jahr. Die Untersuchung zeigt, daß sich die Vermögenssituation privater Haushalte, insgesamt gesehen, in den neunziger Jahren trotz geänderter Rahmenbedingungen auf international vergleichbarem Niveau hat halten können. Zwar nahm die Differenzierung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu, doch ist als Positivum festzuhalten, daß bei denjenigen Vermögensformen, die sich naturgemäß für eine breitere Streuung eignen, wie z. B. das Geld- und Gebrauchs vermögen, eine recht ansehnliche Ausstattung pro Haushalt gegeben ist. Außerdem verfügen gut zwei Fünftel der Haushalte in der einen oder anderen Form über Haus- und Grundbesitz. Über die damit verbundene wirtschaftliche Absicherung hinaus resultiert daraus ein gutes Stück Lebensqualität und persönliche Freiheit. Davon profitiert mittlerweile in zunehmendem Maße auch die ostdeutsche Bevölkerung. Sie erhielt durch die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, der Erweiterung des Währungsraumes der D-Mark und nicht zuletzt durch die historisch beispiellosen West-OstTransfers die Chance, sich in wachsendem Umfang an der gesamtwirtschaftlichen Vermögensbildung zu beteiligen.

Privatisierung in ordnungspolitischer Sicht Von Christian Watrin

I. Staat und Gesellschaft - Staat und Markt Wissenschaftliche Disziplinen, die das freiheitliche Gemeinwesen zum Gegenstand ihrer Analysen machen, haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: die Unterscheidung zwischen dem staatlichen und dem gesellschaftlichen Bereich. Walter Leisner hat in seinem profunden wissenschaftlichen Werk hierzu wesentliche Beiträge veröffentlicht 1. Von staatsrechtlicher Seite wird betont, daß die Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft konstitutive Bedeutung für eine freiheitlichen Ordnung hat, weil diese sich dadurch auszeichnet, daß politikfreie Bereiche ausdrücklich anerkannt werden. Dem ist aus wirtschaftsordnungspolitischer Sicht uneingeschränkt zuzustimmen. Abweichend von der juristischen Terminologie setzt die ökonomische Betrachtung den gesellschaftliche Bereich im Grundsatz mit dem nach Marktregeln ablaufenden Teil des Wirtschaftslebens in soweit gleich, wie es sich um Transaktionen zwischen Privaten auf der Angebots- und der Nachfrageseite eines Marktes handelt. Für die Fortentwicklung einer auf freiheitlichen Prinzipien beruhenden Wirtschaftsordnung ist der Umfang des Marktsektors in einem Land von zentraler Bedeutung. Hier hat es im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts große Veränderungen gegeben. Der totale Staat des nationalsozialistischen Regimes ließ zwar formal die privaten Eigentumsrechte am Produktivvermögen bestehen, belegte dasselbe jedoch im Rahmen seiner Wirtschaftslenkung mit sovielen Regulierungen und Produktionsbefehlen , daß von einer freien Wirtschaft nicht mehr die Rede sein konnte. Erst die Wiedereinführung der Marktwirtschaft im Jahre 1948 änderte das grundlegend und ließ das Privateigentum an Produktionsmitteln wieder zum Zuge kommen. In der ehemaligen DDR ging der Prozeß der Verstaatlichung noch wesentlich weiter. Im Zuge mehrerer Sozialisierungs- und Enteignungswellen wurden private 1 Genannt sei nur die unter Ökonomen recht bekannte Arbeit von Walter Leisner, „Kleineres Eigentum". Grundlage der Staatsordnung. In: Otmar Issing/Walter Leisner „Kleineres Eigentum" Grundlage unserer Staats- und Wirtschaftsordnung. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. 1976. S. 54-91.

5

854

Christian Watrin

Verfügungsrechte über Produktionsmittel nahezu vollständig beseitigt. Erst das letzte Jahrzehnt hat im Zuge der nationalen Einigung diesen Prozeß umgekehrt. Damit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, wie groß der staatliche bzw. private Sektor der deutschen Volkswirtschaft sein sollte. Es geht also um Art und Umfang der Privatisierung bzw. der staatlichen Erstellung von Gütern und Dienstleistungen. Dieser Frage soll im folgenden nachgegangen werden. Im Zuge des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik sind die sich hier abzeichnenden Fragen häufig vom Aspekt der Erlösmaximierung beim Verkauf des ehemaligen Kollektiveigentums überlagert worden. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre handelte es sich hier zweifellos um einen politisch wichtigen Vorgang, aus ordnungspolitischer Sicht liegt jedoch eher ein nachgeordnetes Problem vor. Der Beitrag der Ökonomik zur Frage einer Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft (Markt) kann nur Teile der Gesamtproblematik abdecken. Das gilt besonders, wenn nur die Privatisierungsproblematik abgehandelt werden soll. Ausgangspunkte sind die Sicht sowohl des Staates als auch des Marktes als komplexe Einrichtungen, die knappe Ressourcen allozieren. Unterstellt sei, daß es in beiden Fällen um die Verbesserung der Lage der Bürger/Konsumenten geht, d. h. die allgemeine Wohlfahrt gesteigert werden soll. In diesem Zusammenhang ist der Vergleich der jeweils zum Zuge kommenden Allokationsverfahren von besonderem Interesse. Mitunter wird die Ökonomik allerdings auch so verstanden, daß sie in erster Linie Kosten-Nutzenvergleiche aufstellt, um mittels derselben zu eruieren, welche Lösung - die staatliche oder die private Bereitstellung eines Gutes oder einer Dienstleistung - im Einzelfall die effizientere ist. Solche Kosten-NutzenAnalysen sind vorwiegend Gegenstand wohlfahrtsökonomischer Überlegungen. Sie werden im Folgenden jedoch zu Gunsten eines näheren Eingehens auf ordnungspolitisch-institutionellen Aspekte vernachlässigt.

II. Was heißt Privatisierung? Unter „Privatisierung" kann verschiedenes verstanden werden. Die gängigste Definition besagt, daß es sich um den Übergang öffentlichen Vermögens oder öffentlicher Leistungserstellung an private Träger handelt. In der Sprache der ökonomischen Theorie der Eigentumsrechte ausgedrückt, geht es um den entgeltlichen Transfer von Verfügungsrechten der öffentlichen Hand in die Hände von Privaten. Damit ist gleichzeitig eine Änderung der principle-agent Beziehung verbunden. Während bei staatlicher Verfügung über knappe Ressourcen die Bürger sich in der Rolle der Prinzipale befinden, d. h. derjenigen in derem Namen und Auftrag die Verfügungsrechte von den von ihnen bestellten Agenten, den Politiker und Bürokraten, wahrgenommen werden, treten bei der Privatisierung an deren Stelle private Produktionsmitteleigentümer (z. B. die Aktionäre). Dadurch verschwindet das principle-agent-Problem jedoch nicht. Es ändert nur seine äußere Form, denn die Unternehmensleiter (z. B. das Management) treten als Treuhänder bzw. Beauftragte der Investoren / Kapitaleigner an die Stelle der bisherigen politischen Agenten.

Privatisierung in ordnungspolitischer Sicht

855

Privatisierungen haben in den letzten zwei Jahrzehnten in vielen Staaten eine große Rolle gespielt. Spätestens seit der in der Mitte der achtziger Jahre beginnenden Privatisierungswelle unter Margret Thatcher sind sie Gegenstand des öffentlichen Interesses. Die Existenzberechtigung großer staatlicher Monopole, wie etwa der Telekommunikation, der Staatsbahnen oder der staatlichen Post, wird infragegestellt, und es entbrennen Diskussionen darüber, welche Produktionen oder Dienstleistungen besser durch private Anbieter erbracht werden können und bei welchen die staatliche Erstellung komparative Vorteile aufweist. Betrachtet man heutige Staaten auf der Zentralstaats-, der Länder-, und der Gemeindeebene, einschließlich ihrer im öffentlichen oder privatrechtlichen Gewände betriebenen Unternehmen, so wird ersichtlich, daß sie ein schwer durchschaubares, gewaltiges Bündel von Gütern und Dienstleistungen produzieren oder zumindest ganz oder teilweise finanzieren, das kaum zu entwirren ist. Erkennbar wird dies an der Staatsquote, die z. B. in fast allen OECD Ländern, wenn auch mit unterschiedlicher Wachstumsrate, in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten größtenteils erheblich angestiegen ist 2 . Die Ausgabenzuwächse sind primär durch die Leistungsseite des modernen Staates bedingt. Zwar nimmt der Rechtsschutzstaat3 ebenfalls Mittel in Anspruch, wenn es darum geht, die Spielregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens festzulegen und mit Hilfe von Gerichten, Rechtsprechung und Vollzugsorganen durchzusetzen. Aber diese gesetzgeberischen und schiedsrichterlichen Funktionen beanspruchen aufs Ganze gesehen nur geringe Mittel 4 . Die vom Leistungsstaat für seine Zwecke dem wirtschaftlichen Kreislauf entzogenen Ressourcen hingegen machen den größten Teil der öffentlichen Ausgaben aus5. Bei ihnen ist wiederum zu unterscheiden zwischen Transfers auf Grund von Leistungsgesetzen und Ausgaben für den Staatsverbrauch. Die Produktions- und Dienstleistungspalette des Leistungsstaates umfaßt Schulen, Krankenhäuser, Versorgungsbetriebe aller Art, Versicherungsunternehmen, Geschäfts-, Landes- und Zentralbanken sowie Pfandbrief- und Hypothekenbanken, Bergwerke, Land- und Forstwirtschaften, Reisebüros, Speditionen, Hotels, Theater, umfangreiche Liegenschaften, Wirtschaftsförderungsgesellschaften und vieles mehr. Im deutschen Fall haben in einigen Bereichen - besonders auf Bundesebene - umfangreiche Privatisierungen stattgefunden, so bei Fluglinien, in der Telekommunikation und bei Industrieunternehmen. Bei Post und Bahn sind erste Schritte 2

Siehe hierzu Tab. 1 bei James Gwartney, Randall Holcombe und Robert Lawson, The Scope of Government an the Wealth of Nations. Cato-Journal Vol. 18, Nr. 2, (1998) S. 164. 3 Zur Unterscheidung von Rechtsschutzstaat und Leistungsstaat siehe James M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan. J.C.B. Mohr, Tübingen, 1984.S. 97 ff. 4 Gwartney u. a. (vgl.) FN 5 schätzen sie auf fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts. 5 Den Versuch einer Unterscheidung zwischen „core functions of government" und leistungsstaatlichem Anteil findet sich bei James Gwartney u. a. (siehe FN 5).

856

Christian Watrin

eingeleitet, aber der Bund ist vorerst noch Alleineigentümer. Die deutschen Bundesländer und Kommunen sind allerdings noch kaum erschlossen, obwohl Untersuchungen das Privatisierunspotential bei beiden sehr hoch einschätzen5*. Rundfunk und Fernsehen, die noch vor zwei Jahrzehnten zum eisernen Bestand hoheitlicher Tätigkeit gerechnet wurden, haben private Konkurrenten bekommen und behaupten sich nur noch mit Hilfe des Zwangsgebührensystems. Selbst scheinbar so unumstrittene hoheitliche Bereiche wie die Arbeitsvermittlung und die Autobahnen und in den USA sogar die Gefängnisse, sind in das Blickfeld der Privatisierer geraten. Hier wie anderswo wird sichtbar, daß überkommene Vorstellungen über die Abgrenzung des Staates gegenüber der Privatwirtschaft sich auflösen. Dadurch wird es schwieriger, das Privatisierungsphänomen zu erfassen. Um Definitionsschwierigkeiten zu vermeiden, soll im folgenden das Augenmerk vor allem auf „Privatisierungen im engeren Sinne" gerichtet werden. Sie liegen vor, wenn eine Produktion oder Dienstleistung aus der staatlichen Erzeugung ausscheidet und statt dessen auf dem Markt erstellt wird. Der entsprechende Budgetposten verschwindet aus der öffentlichen Rechnung. Die staatliche „Gratisbereitstellung" entfällt und an ihre Stelle tritt das Preisausschlußprinzip. Damit eröffnet sich die Möglichkeit einer echten steuerlichen Entlastung der Bürger. Ihr wird aber meistens in den öffentlichen Debatten wenig Aufmerksamkeit zu teil. Das ist allein schon deswegen problematisch, weil künftig die betreffende Leistung, z. B. Abfallbeseitigung, Brandschutz, Bestattung oder Bädernutzung, um nur willkürlich einiges herauszugreifen, nur noch über den Markt bezogen werden kann, allerdings im günstigen Fall bei Wettbewerb der Anbieter. Findet ein Übergang von der staatlichen zur privaten Bereitstellung statt, so ändert sich das ordnungspolitische Regime, unter dem eine Leistung erbracht wird von Grund auf. Während im politischen Prozeß Leistungsempfang und Finanzierungspflicht in der Regel nicht zusammenfallen und der Nutznießer häufig ganz oder teilweise subventioniert wird, muß letzterer - zumindest im Prinzip - bei marktlicher Erstellung die vollen privaten und gesellschaftlichen Kosten seines Konsums tragen. Gleichzeitig ändern sich auch die Produktions- und Angebotsbedingungen. Bei öffentlicher Erstellung sind politische Kriterien maßgebend. Art und Umfang der produzierten Menge werden nicht durch die Nachfrager, sondern durch politische Körperschaften bestimmt. Nicht die Zahlungsbereitschaft der Nachfrager entscheidet über die produzierte Menge und deren Qualität, sondern der Wille der jeweiligen politischen Mehrheit. Die Anbieter, d.s. die verfügungsberechtigten Politiker und Bürokraten, riskieren keine eigenen Mittel, sondern disponieren über Ressourcen, die vorher im Wege des steuerlichen Zugriffs den Bürgern entzogen wurden. Die Leistungserstellung selbst kann in öffentlichen Unternehmen oder im Wege der Beschaffung über Märkte erfolgen. Auch im letzten 5a

Siehe hierzu den Ordnungspolitischen Bericht der Ludwig-Erhard-Stiftung, in: Orientierungen. Heft 79, 1999.

Privatisierung in ordnungspolitischer Sicht

857

Fall wird die Frage, „was" und „für wen" ein Gut bereitgestellt wird, politisch entschieden. Lediglich die Entscheidung über das „wie" der Produktion liegt in den Händen von Privaten. Anders vollzieht sich die marktliche Allokation. Hier müssen private Investoren bereit sein, auf eigene Rechnung und eigenes Risiko Mittel zur Verfügung zu stellen. Im Gegensatz zum Staat sind Unternehmer gezwungen, sich an den Präferenzen der Konsumenten zu orientieren und ihnen Rechnung zu tragen. Gleichzeitig sind sie den Regeln von Gewinn, Verlust und Haftung unterworfen. Gewinne sind als Prämie für konsumentengerechtes Verhalten und Verluste als „Bestrafung" für ökonomische Fehleinschätzungen zu verstehen. Im Gesamtsystem einer Marktwirtschaft hat der Wechsel vom Staat zum Markt zur Folge, daß sich die Struktur der relativen Preise verschiebt, d. h. die relativen Knappheiten ändern sich. Wählt man den liberal-individualistischen Ansatz, so ist es Aufgabe von Staat und Wirtschaft, den Bürgern / Konsumenten zu dienen. Daraus folgt ein Beurteilungskriterium im Hinblick auf die Zuordnung von Aufgaben zum öffentlichen oder privaten Sektor. Entscheidend ist, wo den Bürger- / Konsumentenpräferenzen am ehesten entsprochen wird oder - anders ausgedrückt - wer der bessere Agent für die Bewältigung anstehender Aufgaben ist. In der öffentlichen Diskussion werden unter „Privatisierung" auch noch andere Tatbestände subsumiert, so die Änderung der Rechtsform öffentlicher Unternehmen in Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Mitunter werden auch die Ausgliederung in Form des „Outsourcing" und die in den Bereich der Zwischenformen fallende Verträge, bei denen sich die öffentliche Hand privater Unternehmen, freier Wohlfahrtsverbände oder karitativer Organisationen bedient, um ihre Zwecke zu verfolgen, als „Privatisierung" bezeichnet. Dasselbe gilt für die Konzessionierung privater Anbieter, wenn diese bislang staatlich produzierte Leistungen erbringen. Wichtiger als das Eingehen auf eine ausgefeilte Kasuistik ist jedoch die Frage, warum denn Privatisierung erfolgen soll?

I I I . Warum Privatisierung? Für bzw.gegen die Verlagerung von Aufgaben in den privaten Sektor seien je zwei Argumente erörtert. So wird zugunsten der Privatisierung geltend gemacht, daß sie der individuellen Freiheitssicherung und der Effizienzverbesserung diene. Gegen sie wird angeführt,- daß privates Produktionsmitteleigentum Abhängigkeiten schaffe und daß es im modernen Wohlfahrtsstaat als Sicherungsnetz weitgehend obsolet sei. 1. Freiheitssicherung

durch Privatisierung

Unter den Regeln einer freiheitlichen Gesellschaft ist Privatisierung als Schritt zur Sicherung und Vertiefung der Freiheit des Einzelnen gegenüber einer Abhän-

858

Christian Watrin

gigkeit von staatlichen oder auch privaten Instanzen zu verstehen. Der selbständige, nicht der betreute oder bevormundete Mensch gilt als Leitbild für die Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung 6. Privates Eigentum wird dabei, angesichts seiner zahlreichen Verwendungsmöglichkeiten einschließlich seiner Veräußerbarkeit, als Schutz gegen Versuche verstanden, den Einzelnen der Fremdbestimmung zu unterwerfen. Gleichwohl wäre es falsch, nicht zu erkennen, daß die in unserem Lande ablaufenden Privatisierungsaktionen weniger von diesem Motiv getragen als durch die Lage der öffentlichen Kassen bedingt sind. Aber auch andernorts sind Privatisierungen vielfach eher „Kinder der (finanziellen) Not" als der ordnungspolitischen Überzeugung. Für den Fortgang Privatisierungen eröffnet das schlechte Aussichten. Die ordnungspolitische Beurteilung ist jedoch nicht davon betroffen. Für sie ist das „limited government" quasi das Komplement zur Sicherung der Privatautonomie.

2. Privatisierung

und Effizienz

Jenseits ordnungspolitischer Überlegungen lautet das ökonomische Argument zu Gunsten von Privatisierungsmaßnahmen, daß privates Produktionsmitteleigentum in der Regel effizienter als staatlich oder kollektiv verwaltetes eingesetzt wird. Grundlage für dieses Urteil sind die Allokationsregeln und Anreizsysteme im öffentlichen und im privaten Sektor. Bei öffentlicher Bereitstellung von Gütern oder Dienstleistungen gelten einerseits die Regeln der politischen Mehrheitsentscheidung im Hinblick auf Art, Menge und Preis des bereitgestellten Gutes und andererseits die bürokratischen Vorschriften für eine ordentliche Verwaltung vorgegebener Budgets. Die Aneignung von Gewinnen ist strikt untersagt, und sie müssen, sofern sie anfallen, an die Staatskasse abgeführt werden. Das schafft Anreize, Einkommensverbesserungen im Wege der Ausdehnung von Bürokratien anzustreben. Ferner entfällt, trotz entgegenstehender gesetzlicher Vorschriften, faktisch nahezu vollständig die Haftung der Entscheidungsträger für ökonomische Fehldispositionen. Und schließlich ist öffentliches Wirtschaften nicht an die strengen Wirtschaftlichkeitskriterien gebunden, die in Form von Gewinnen, Verlusten und Rentabilitätserfordernissen der privaten Wirtschaft bei Wettbewerb auferlegt sind. Kostentreibende Dispositionen werden nicht unmittelbar durch die Marktkräfte sanktioniert. Sie können in einer Umgebung, in der vielfältige Markteintrittshindernisse, Monopolstellungen, Wettbewerbsverbote und -hindernisse bestehen, ohne große Risiken getätigt werden. Demgegenüber sind die Regeln des Marktes wesentlich stärker auf den kostensparenden Umgang mit knappen Ressourcen ausgerichtet. Gewinne und Verluste sind, unabhängig von den Gründen ihres Entstehens, nicht nur gesamt-, sondern 6

Helmut Schelsky, Der selbständige und der betreute Mensch. Politische Schriften und Kommentare. Seewald Verlag Stuttgart, 1976, S. 188 ff.

Privatisierung in ordnungspolitischer Sicht

859

auch einzelwirtschaftlich Indikatoren des Erfolges oder Mißerfolges einer Handlung. Bei Fehldispositionen haften die privaten Investoren und nicht die unorganisierten und kaum organisierbaren Bürger/Steuerzahler 7. Und der Wettbewerb am Markt (nicht hingegen der Wettbewerb um staatliche Hilfen) zwingt zu permanenter Anpassung an neue Entwicklungen, zur Suche nach neuen Produkten und Produktionsmöglichkeiten und zur fortwährenden Fehlerkorrektur. Der wettbewerbliche, von Unternehmen betriebene Prozeß von Versuch und Irrtumskorrektur bei allen Arten privat hergestellter Leistungen ist gleichzeitig der Motor des wirtschaftlichen Fortschritts und Wachstums, nicht hingegen der seiner ganzen Anlage nach auf Verwaltung ausgerichtete Prozeß staatlicher Güterbereitstellung.

3. Verfiigungsrechte

und Machtkontrolle

Gegen das klassisch-liberale Argument der Sicherung der Privatautonomie wird ein traditioneller sozialistischer Einwand erhoben. Danach hat die Koppelung von Eigentum und privater Verfügungsmacht zur Folge, daß um des Profites willen produziert wird und daß die daraus folgende Vorherrschaft egoistischer Motive zur Mißachtung gesamtgesellschaftlicher Bedürfnisse führt. Ohne Zweifel ist die Kanalisierung egoistischer Antriebe ein zentrales Anliegen jeder gesellschaftlichen Ordnung. Zu fragen ist nur, wie sie zu leisten ist. Die seitens der Anhänger sozialistischer Vorstellungen gegebene Antwort, daß nur eine Kollektivierung oder Sozialisierung in der Lage wäre, die sonst sich ergebenden Konflikte und Abhängigkeiten zum Verschwinden zu bringen, ist auf Grund praktischer Erfahrungen nicht länger akzeptabel. Die uneingeschränkte Verfügungsgewalt einer politisch zentralisierten Macht über die Produktionsmittel, so wie sie sich im totalitären Sozialismus verkörperte, hat die Abhängigkeit des Einzelnen von Bürokratien und Kollektiventscheidungen deutlich gemacht. Bestenfalls hat er in den nicht sonderlich erfolgreichen sozialistischen Selbstverwaltungsorganisationen noch ein Recht, im Kollektiv mitzubestimmen; er muß sich jedoch der Mehrheit beugen. Schließlich fühlen sich die „Organe der Gesellschaft" im Sozialismus als über dem Recht stehende Vollstrecker des - von ihnen interpretierten - Gemeinwillens und zerstören so letztlich alle individuellen Rechte. Aber selbst unter demokratisch - rechtsstaatlichen Bedingungen bedeutet staatliche Verfügungsgewalt über Produktionsmittel, die nicht zur Aufrechterhaltung eines nach freiheitlichen Grundsätzen verfaßten Gemeinwesens erforderlich sind, eine Gefährdung der Gesamtordnung. Denn es kann nicht, wie die deutsche idealistische Philosophie meint, davon ausgegangen werden, daß die mit der Wahrnehmung gemeinsamer Angelegenheiten Betrauten ihre Aufgaben in jedem Fall oder 7 Siehe hierzu den Schlußabschnitt des Buches von Mancur Olson. Die Logik des kollektiven Handelns, J.C.B. Mohr, Tübingen 1968, S. 163 f. oder auch Charles B. Blankert, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 3. Aufl., Verlag Vahlen, München, 1998, S. 157 f.

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vorwiegend uneigennützig erfüllen. Das zeigt zur Genüge nicht nur die neuere public-choice-Theorie 8, sondern auch die Alltagserfahrung. Wer ein öffentliches Amt hat, legt nicht gleichzeitig die Neigung ab, sein Handeln auf die Mehrung des eigenen Wohlstands, auch zu Lasten Dritter, auszurichten. Wenn dem aber so ist, dann erfolgt die im öffentlichen Bereich stattfindende Allokation von Gütern nicht durch (uneigennützige) Agenten des Gemeinwohls. Deren Handlungsmöglichkeiten bedürfen deswegen genauso der Kontrolle und Gestaltung unter ordnungspolitischen Aspekten wie das für Märkte und die dort stattfindenden Verfügungen über Güter und Ressourcen selbstverständlich ist. Für die Praxis staatlicher Betriebe aber folgt daraus, daß der dort mögliche und oft genutzte Rückgriff auf den Bürger/Eigentümer, d. h. die Gesellschaft als Ganzes, zu Privilegierungen, ineffizienter Leistungserstellung oder Verlusten führen kann, die unter den Bedingungen privatwirtschaftlicher Eigentumsordnungen bei Wettbewerb so nicht möglich sind. Der private Wettbewerb als socher aber ist ein vorzügliches Mittel, um ökonomische Macht, wenn nicht aufzuheben, so doch zu mindern. Denn jedem Wirtschaftssubjekt steht unter seinen Regeln die Möglichkeit der Abwanderung vom einen zum anderen Produzenten offen. Das Problem der Kontrolle wirtschaftlicher Macht ist für den öffentlichen Sektor ebenso aktuell wie für den privaten, und es wäre kurzsichtig, sich lediglich auf Rechnungshöfe und parlamentarische Kontrollorgane beschränken zu wollen. Die Privatisierung staatlicher Einrichtungen und die Öffnung der meist staatlich monopolisierten Märkte für private Konkurrenten ist eine längst noch nicht hinreichend genutzte Möglichkeit zur Machtbeschränkung in einer offenen Gesellschaft.

4. Wohlfahrtsstaat

und Produktionsmitteleigentum

Gegen das Argument, daß private Verfügungsmacht über Produktionsmittel die Unabhängigkeit des Einzelnen gegenüber demokratischen und nichtdemokratischen Kollektiventscheidungen sichere, wird ferner vorgetragen, daß in heutigen Wohlfahrtsstaaten das dichte Netz der sozialen Sicherungen die Eigentumsfrage nachhaltig entschärft habe9. Käme noch das Wiedererreichen der Vollbeschäftigung hinzu, so würde ein Zustand erreicht, in dem über ein regelmäßig fließendes Arbeits* oder Sozialeinkommen die wirtschaftliche Existenz jedes Einzelnen gesichert sei. Das impliziert den Schluß, daß zumindest der direkte oder indirekte Erwerb von Produktivvermögen durch Sparakte weder ein Muß noch vordringlich ist. 8 Eine gut lesbare Einführung hierzu liefert William C. Mitchell , Government As It Is. The Impact of public choice economics on the judgement of collective decision-making by government and on the teaching of political science. Hobart Paper 109. Hrsg. vom „The Institute of Economic Affairs, London, 1988. 9 Siehe hierzu auch Otmar Issing, „Kleineres Eigentum" - Grundlage unserer Wirtschaftsordung. In: Otmar Issing/Walter Leisner, „Kleineres Eigentum". Grundlage unserer Staatsund Wirtschaftsordnung. Vandenhoeck Göttingen, 1976, S. 12 f.

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Diese Argumentation vernachlässigt volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte. Nach der Erfahrung jahrzehntelanger Arbeitslosigkeit kann Vollbeschäftigung nicht länger als Normalzustand betrachtet werden. Ebenso sind die als „sicher" gepriesenen Sozialkassen weder lang- noch kurzfristig verläßliche Finanziers des Lebensunterhaltes. Sie geraten mit wachsender Zahl der Antragsberechtigten oder infolge politischer Umschwünge oder durch nichtverantwortbare Aufgabenerweiterungen in finanzielle Engpässe, die nur durch Leistungsreduktionen oder durch steigende Abgaben bewältigt werden können. Leistungsabbau beschwört gesellschaftliche Konflikte herauf und weiter zunehmende Abgaben für den in Arbeit und Brot befindlichen Teil der Bevölkerung wirken sich negativ auf das Gesamtaufkommen an umverteilbaren Mitteln aus. Der Wohlfahrtsstaat ist somit kein überzeugendes Substitut für eine auf individuellen Produktivvermögen beruhende Absicherung des Einzelnen. Die individuelle Bereitschaft, Vorkehrungen gegen die zahlreichen Fährnisse des wirtschaftlichen Lebens zu ergreifen, aber hängt entscheidend davon ab, daß Leistung und Gegenleistung einander entsprechen. Einzahlungen in Kollektivkassen, deren Auszahlungen politisch manipulierbar sind, schrecken nicht nur ab, sondern veranlassen zum Freifahrerverhalten und erzeugen Steuer- und Abgabenwiderstände. Gesamtwirtschaftlich aber ist die aus der individuellen Risikovorsorge erwachsende Sparbereitschaft eine Voraussetzung dafür, daß Kapital in ausreichendem Maße gebildet wird. Das wirkt sich positiv auf die Finanzierung der im Zuge der modernen Produktionsentwicklung immer länger werdenden Produktionsumwege aus. Der aus der Vorsorge des Einzelnen resultierende Konsumverzicht ist ein wesentlich besseres Fundament für eine ergiebige Kapitalakkumulation als das „erzwungene Sparen", welches der Wohlfahrtsstaat (ohne Vermehrung des Kapitalbestandes) gegenwärtig betreibt. In den realen Wirtschaften unserer Zeit gibt es zahlreiche Abweichungen, Hindernisse und Verzerrungen der hier nur idealtypisierend skizzierten Prozesse einer privaten Wirtschaft. Monopole sind im Privatsektor ebenso gesellschaftsschädigend wie im öffentlichen Bereich. Von einer Privatisierung, die ein staatliches durch ein privates Monopol ersetzt, gehen keine positiven Wohlstandsimpulse aus. Aber selbst in einer ordnungspolitisch verzerrten Marktwirtschaft spricht einiges dafür, daß Initiativen in Richtung Fortschritt, Produktivitätssteigerung und Wohlstandsverbesserung sich eher im privaten als im staatlich-kollektiven Sektor entwickeln. So gesehen sind Privatisierungen ein wesentlicher Bestandteil eines umfassenderen Programms der gesellschaftlichen Wohlstandssteigerung.

IV. Zur Abgrenzung zwischen staatlichem und privatem Eigentum an Produktionsmitteln Privates Produktionsmitteleigentum hat somit zwei wichtige Wirkungen. Es stärkt die Unabhängigkeit des Einzelnen gegenüber den Kollektiven, deren Mit-

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glied er entweder freiwillig oder auf Grund von Zwang ist, und es mehrt den gesellschaftlichen Wohlstand, wenn es in eine wettbewerbliche Marktwirtschaft eingebunden ist. Die deutschen Verfassungsgeber waren somit gut beraten, in Art. 14 des Grundgesetzes den Schutz des Eigentums zu verankern Die Frage nach der Abgrenzung zwischen privater und staatlicher Verfügungsgewalt über Produktionsmittel und die Frage, ob die gegenwärtige Privatisierungswelle fortgesetzt oder in entgegengesetzter Richtung korrigiert werden sollte, ist damit noch nicht beantwortet. Auch wer den gegenwärtigen Trend aus der Sicht einer freien oder - im Rückgriff auf K. R. Popper 10 - offenen Gesellschaft begrüßt, muß beachten, daß die Überführung staatlich bereitgestellter Güter in die Privatwirtschaft einmal auf politische Vorbehalte stößt; zum anderen ist ihr nicht ohne nähere Prüfung beizupflichten. Zwar empfehlen die heutigen Vertreter des Anarcho-Kapitalismus die völlige Ablösung des Staates und seinen Ersatz durch ein System freiwilliger Verträge zwischen den Gesellschaftsmitgliedern 11. Aber selbst wer den Kreis der Privatisierungsmöglichkeiten weit zieht und willens ist, traditionelle staatliche Betätigungsfelder, wie die Schulen oder die Geldproduktion, zur Diskussion zu stellen, kann doch der Meinung sein, daß es einen Kern staatlicher Aufgaben gibt, die aus ordnungspolitischen oder ökonomischen Gründen nicht dem Regelsystem der Märkte unterworfen werden sollten.Die seitens der Ökonomik entwickelten Überlegungen zur Festlegung dessen, was der Staat und was die Privaten können und tun sollten, haben, wie zu zeigen ist, nicht die Trennschärfe, die sich viele erhoffen. Mitunter wird der Weg einer pragmatischen Zuweisung zum einen oder anderen Bereich gewählt. So ordnen Gwartney 12 und seine Koautoren den Rechtsschutzstaat, die äußere Sicherheit, das Schulwesen einschließlich der höheren Bildung, die Schnellstraßen, die Kanalisation, die allgemeine Hygiene, den Umweltschutz und das Zentralbanksystem den „core functions" des Staates auf seinen verschiedenen Ebenen (Zentralstaat, Länder und Gemeinden) zu 1 3 . Neben solchen eher willkürlich anmutenden Zuweisungen spielt vor allem die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Gütern und das Argument der natürlichen Monopole in den Fachdiskussionen eine Rolle.

10

Karl Raimund Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bände, J.C.B. Mohr Tübingen, 7. Aufl. 1992. u Siehe hierzu Murray N. Rothbard, The Ethics of Liberty. Atlantic Highlands 1982. Deutsch unter dem Titel „Die Ethik der Freiheit". Academia Verlag, St. Augustin 1999, sowie Hans-Hermann Hoppe, Eigentum, Anarchie und Staat, Studien zur Theorie des Kapitalismus. Westdeutscher Verlag 1987. 12 Siehe FN 5, S. 167. 13 Die Budgetausgaben für diesen Teil der staatlichen Tätigkeit betragen in der Zeit von 1960 bis 1992 für die USA zwischen 16,5 und 14 Prozent des Bruttoinlandsproduktes; die Staatsquote insgesamt beläuft sich auf 28,4 (1960) und 34,6 (1996) Prozent des realen Bruttoinlandsproduktes. Die Differenzen zwischen den verschiedenen Weiten bieten einen Anhaltspunkt für den Umfang des Leistungsstaates.

Privatisierung in ordnungspolitischer Sicht

1. Öffentliche

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versus private Güter

Von öffentlichen und privaten Gütern spricht im Grunde schon Adam Smith 14 . Er nennt neben der Rechtspflege und der Sicherung der inneren und äußeren Sicherheit als dritte Staatsaufgabe die Produktion jener Güter, die zwar gesellschaftlich und wirtschaftlich erstrebenswert, aber privatwirtschaftlich nicht rentabel sind 15 . Dazu zählt er Straßen, Häfen und Brücken, kurz das, was heute wenig scharf als „Infrastruktur" bezeichnet wird. Bei öffentlichen Gütern wird - anders als bei privaten Gütern, bei denen Dritte vom Konsum ausgeschlossen werden können und die Produktion zu steigenden Kosten pro Stück erfolgt - sogenanntes Marktversagen konstatiert. Es äußert sich darin, daß der Ausschluß nichtzahlender Dritter vom Konsum nicht oder nur mit prohibitiv hohen Kosten möglich ist und daß gleichzeitig der Konsum der Nichtzahler die übrigen Verbraucher nicht beeinträchtigt. Folglich sei, so wird gesagt, die staatliche Bereitstellung im Wege der Erhebung von allgemeinen Steuern unvermeidbar. Landesverteidigung, innere Sicherheit, Umweltschutz, und Armutsbekämpfungsprogramme sind oft genannte Beispiele. Diese Abgrenzung hat Schwächen. Denn in vielen Fällen läßt sich zeigen, daß es Gegenbeispiele gibt. Landesverteidigung kann durch Freiwillige oder Söldnerarmeen betrieben werden 16. Ob und inwieweit Freifahrerverhalten auf der Seite der Nutznießer möglich ist, hängt von der Art und Weise ab, wie die zur Finanzierung der äußeren Sicherheit erforderlichen Mittel aufgebracht werden. - Innere Sicherheit wird heute längst nicht mehr allein durch Polizeien erbracht. Diese sehen sich vielmehr zunehmend der Konkurrenz privater Sicherheitsagenturen ausgesetzt17. Es besteht mithin eine zahlungsbereite Nachfrage für ein „öffentliches" Gut und das Problem des Ausschlußes der Nichtzahler läßt sich zumindest in Grenzen lösen. - Zum Schutz gemeinsamer Umweltressourcen (z. B. unterirdischer Wasserreservoirs) bilden sich spontan selbstverwaltete private Organisationen heraus 18 , wie Elinor Ostrom eindrucksvoll gezeigt hat. - Große wissenschaftliche Fortschritte und Durchbrüche sind fern von staatlichen Kassen erzielt worden. Armutsbekämpfung wurde lange bevor es eine staatliche Sozialpolitik gab von 14 Adam Smith, An Inquiry into The Wealth of Nations (Glasgow Edition, Oxford: Clarendon Press, Bd. 2, S. 687). 15 Eine bekannnte Textstelle bei A. Smith (Bd. 2, S. 687) hat folgenden Wortlaut: „(Ejecting and maintaining those public institutions and public works, which, though they be in the highest degree advantageous to a great society, are however of such a nature that profit could never repay the expense to any individual or small group of individuals". 16

Die liberal-anarchistische Position vertritt hier z. B. Hans-Hermann Hoppe, The Private Production of Defense, Hrsg. The Ludwig von Mises Institute o.J.o.O. 17 Siehe Walter Zuber, Innere Sicherheit - Polizei, Ordnungsbehörden und privates Sicherheitswesen, sowie Gerhard Nitz, Das Verhältnis von Polizei und Sicherheitsgewerbe in den USA. In: DSD Heft 3 - 4/98, S. 3 ff. und S. 8 ff. 18 Siehe hierzu die gründliche Studie von Elinor Ostrom, Governing the Commons, Cambridge University Press, 1990.

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Klöstern, Orden und Gemeinden sowie später von philanthropischen Gesellschaften betrieben 19. Staatliches Handeln in diesem Bereich ging teilweise mit der Unterdrückung oder Benachteiligung privater Initiativen einher. Auf die Historie der Entstehung und des Wachstums von „Staatsaufgaben" und auf die Gründe, die im einzelnen zur Verlagerung von Gütern und Diensten aus dem privaten in den staatlichen Bereich geführt haben, kann hier nicht eingegangen werden. Sicher haben ökonomische Gründe eine Rolle gespielt. Von Gewicht aber waren politische Ziele. Das wird ersichtlich daran, daß mit der staatlichen Erstellung in der Regel die Einschränkung oder sogar das Verbot der privaten Betätigung auf den gleichen Feldern einhergeht. Für die öffentliche Produktion ist daher die monopolistische Leistungserstellung und nicht selten die Dekretierung des Zwangs zur Mitgliedschaft oder des Abnahmezwangs charakteristisch. Private Wettbewerber werden so vom Markt ausgeschlossen und selbst das Angebot enger Substitute ist oft nicht zulässig. Ins Auge fallende Beispiele hierfür sind oder waren der Ausbau des Postmonopols zu einem umfassenden Monopol für alle Formen der Fernkommunikation oder die Abschirmung der Elektrizitätsversorgungsunternehmen von jeglichem Wettbewerb. Zwar wird im Fall staatlich geschaffener Monopole mittels öffentlicher Kontrolle, besonders der Preisgestaltung, versucht, die wirtschaftliche Macht der Staatsunternehmen zu begrenzen. Verglichen mit den Möglichkeiten, die ein offener Wettbewerb, ein „Bestreiten" der betroffenen Märkte durch private Anbieter, zum Schutze der Verbraucher bietet, handelt es sich bei der staatlichen Aufsicht jedoch eher um eine palliative Maßnahme. Obwohl das Argument, daß es quasi geborene öffentliche Güter gäbe, auf schwachen Füßen steht, wurde es in einer ausgiebig geführten öffentlichen Diskussion dahingehend erweitert, daß selbst Güter und Dienstleistungen, die auf dem Markt angeboten werden, deswegen in staatliche Obhut gehörten, weil die Marktallokation naturnotwendig Nachfragerschichten ausschließe, die aus Gründen des Allgemeinwohls in den Genuß des betreffenden Gutes kommen sollten und müßten. Es handelt sich hier um so genannte „meritorische Güter". Ein Beispiel ist die Verstaatlichung des Schulwesens und die Einführung der Schulpflicht auf Grund der Forderung, daß jeder Bürger eines Landes zumindest des Lesens, Schreibens und Rechnens kundig sein müsse, um erfolgreich mit seinen Mitmenschen kooperieren zu können. Um den Ausschluß durch marktliche Allokation zu verhindern, sei die „kostenfreie" Bereitstellung schulischen Wissens für jeden Jugendlichen erforderlich und das Staatsschulwesen der beste Weg, um das erforderliche Mindestwissen zu vermitteln. Dieses Ziel läßt sich jedoch, wie die Vertreter der voucher-Bewegung nicht müde werden zu betonen, durch gebun19

Zur Geschichte des sozialen Denkens und zur Verdrängung von Selbsthilfeeinrichtungen durch staatliche Eingriffe im 17. und 18. Jahrhundert siehe Alfred Müller-Armack, Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliches Hintergründe unserer europäischen Lebensform. W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 1959, S. 230 - 242.

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dene Gutscheine für den Schulbesuch und Wettbewerbsfreiheit unter den Schulen am Markt für Ausbildungsleistungen besser und kostengünstiger erreichen als durch ein staatlich beherrschtes Schulwesen, das sich zu allem Übel lähmend sowohl auf die pädagogische Freiheit als auch auf Fortschritte in der pädagogischen Provinz auswirkt. Großbritannien mit seinen „independent schools" ist ein interessantes Beispiel dafür, wie Wettbewerb die Leistung staatlicher Schulen anzuheben 20

vermag . 2. Natürliche Monopole Produktionen, in denen die Stückkosten mit steigender Ausbringung sinken, so daß als Resultat des Marktprozesses der Wettbewerb zum Erliegen kommt, werden „natürliche Monopole" genannt. Sie sind ein weiterer Bereich, der lange Zeit als Domäne der öffentlichen Hand angesehen wurde. Beispiele sind „Leitungsmonopole" wie Trink- und Abwasserleitungen, Stromnetze, Telefonleitungen, Schienenwege, aber auch Straßen, Kanäle oder Flughäfen. Im deutschen Fall wurde die Verstaatlichung, d. h. die Entziehung privater Eigentums- und Verfügungsrechte häufig mit dem Argument begründet, daß die marktliche Erstellung zu ruinöser Konkurrenz und gleichzeitig zum Bau paralleler Leitungen, Netze und Wege führe, die vom Standpunkt der Leistungserstellung überflüssig seien. Folglich sei die Verschwendung knapper Ressourcen im einen wie im anderen Falle durch staatlichen Akt zu verhindern. Ob und inwieweit dieses Argument zutrifft, hängt teilweise vom Stand der technischen Entwicklung ab. Heutige Formen der Telefonie sind weitgehend unabhängig von Leitungsnetzen; dasselbe gilt angesichts der Satellitentechnik für Funk und Fernsehen. Betrieb und Wartung von Schienenwegen können vom Schienenverkehr entkoppelt werden. Die Bereitstellung von Elektrizität kann in Erzeugung, Durchleitung und Distribution aufgeteilt und auf der ersten und dritten Ebene wettbewerblich organisiert werden. Es eröffnen sich somit ständig neue Privatisierungsmöglichkeiten. Ihre Nutzung aber hängt entscheidend vom Ordnungsrahmen auf den betreffenden Märkten ab. Wenn natürliche Monopole zur Privatisierung anstehen - und das gilt mittlerweile auch für ein so wichtiges Gut wie Wasserleitungen - dann liegt es nahe, daß die „alten" Monopolisten, die staatlicherseits privilegierten Anbieter, eine große Findigkeit an den Tag legen, um potentielle Konkurrenten zu behindern und ihre überkommene Marktstellung abzusichern. Gelingt ihnen das, so heben sie die den allgemeinen Wohlstand steigernden Wirkungen des Wettbewerbs auf. Da sie mitunter starke politische Fürsprecher haben, sind ihre Erfolgschancen vor allem dann nicht gering, wenn sie die Öffentlichkeit mit dem Pseudoargument der Sicherung von (gesamtwirtschaftlich oft unrentablen) Arbeitsplätzen verblüffen können. Not20

Frank-Rüdiger Jack, Land der pädagogischen Freiheit. In: Handelsblatt vom 5. 3. 1999, S. 12 und das dort angegebene Buch.

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wendig ist jedoch im Zuge der Privatisierung, daß eine Reregulierung durch eine unabhängige, in der Regel staatliche Instanz zum Schutz des Wettbewerbs stattfindet 21 . Der gegenwärtige Ist-Zustand der Privatisierungen in der Bundesrepublik ist dadurch gekennzeichnet, daß zahlreiche marktfähige Güter und Dienstleistungen, vor allem auf kommunaler Ebene, von Staatsverwaltungen produziert oder im Wege staatlicher Aufträge hergestellt werden. Hinzukommt eine nicht geringe Zahl von Unternehmen, die aus politischen Gründen von staatlichen Verwaltungen übernommen und am Ende oft unrentabel geworden sind. Um jene Güter, Dienstleistungen oder Unternehmenseinheiten aufzuspüren, die privatisierungsfähig sind, bedarf es der Analyse im Einzelfall. Herauszufinden ist, wo die komparativen Vorteile der staatlichen bzw. der privaten Gütererstellung liegen. Dabei ist zu beachten, daß sich die Kostenstrukturen im Zuge der dynamischen Wirtschaftsentwicklung verändern können. Ausschlaggebend für die Zuordnung zum staatlichen oder privaten Bereich ist jedoch letztlich die Antwort auf die Frage, wie frei die Bürger eines Landes von staatlicher Bevormundung und Herrschaft sein wollen. Die Grenzen werden, wie die letzten hundert Jahre gezeigt haben, im liberalen Staat anders gezogen als im interventionistischen Staat der Daseinsfürsorge und der totale Staat unterscheidet sich grundlegend von der Sozialen Marktwirtschaft.

21

Zu einigen speziellen Schwierigkeiten, die beim Abbau von Markteintrittshemmnissen bei natürlichen Monopolen entstehen, siehe Günter Knieps, Koordination, Kooperation und Wettbewerb im Europäischen Verkehr. Diskussionsbeiträge des Instituts für Verkehrswissenschaft und Regionalpolitik der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg, Nr. 16 (1994).

Kapitalismus in der Krise?* Von Norbert Berthold

I. Einleitende Bemerkungen Die Welt ist im Umbruch. Ein rasanter technologischer, informationsgetriebener Wandel verringert Transport- und Kommunikationskosten. Er nährt den Prozeß der schöpferischen Zerstörung, den Kampf des Besseren gegen das Gute. Humankapital und vor allem „Wissen" sind die Rohstoffe der Zukunft. Die Produktion wird humankapital- und informationsintensiver, die Produktionsprozesse werden komplexer. Einzelne Glieder der Wertschöpfungskette lassen sich leichter räumlich entkoppeln, Direktinvestitionen werden bedeutender. Auch Arbeit wagt sich öfter über nationale Grenzen, selbst wenn der Aktionsradius auch zukünftig aus kulturellen und sprachlichen Gründen zumeist regional begrenzt bleiben wird. Vor allem aber, die weltweit offenen Finanzmärkte erfahren einen gewaltigen Auftrieb. Alles in allem: Der strukturelle Wandel wird noch mehr an Fahrt gewinnen. Damit steht vieles zur Disposition. Der Sozialismus weltweit war das erste Opfer dieser Entwicklung, die durch offenere Güter- und Faktormärkte ausgelöst wurde. Die Globalisierung legte mit einem Schlag offen, wie wenig wettbewerbsfähig die sozialistischen Länder waren. Der jahrzehntelange Verzicht auf Markt und Wettbewerb kam sie teuer zu stehen. Der vollständige ökonomische Zusammenbruch war die Folge. Unter Druck geraten sind als nächstes die Länder, die trotz ihrer grundsätzlich marktwirtschaftlichen Orientierung auf dem interventionistischen Weg schon weit vorangeschritten sind. Die sozialen Marktwirtschaften in Europa gehören zu dieser Gruppe. Hart getroffen werden vor allem die Länder, die dem Wettbewerb kaum eine Chance lassen. Steigende Massenarbeitslosigkeit und immer größere finanzielle Krisen des Sozialstaates sind die offenkundigen Folgen. Am besten aus der Affäre zogen sich Länder wie etwa die Vereinigten Staaten, die schon immer auf Markt und Wettbewerb setzten und sich nicht auf pseudosoziale Irrwege locken ließen. Dennoch: Auch sie kommen offenkundig nicht ungeschoren davon. Es gelingt ihnen zwar, die Arbeitslosigkeit in diesen stürmischen Zeiten gering zu halten. Der Preis, den sie dafür bezahlen müssen, besteht aber in * Für wertvolle Anregungen und hilfreiche Kritik danke ich Jörg Hilpert und Cornelia Schmid. 56 FS Leisner

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einer steigenden Ungleichheit der Einkommensverteilung. Die Folgen sind bekannt: Die Armut nimmt zu, die sozialen Spannungen steigen, die Kriminalität erhöht sich, die Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung geht zurück. Es scheint so, als ob sich die Marktwirtschaft in der Krise befände: Arbeitslosigkeit oder Armut sind die Alternativen.

I I . Welche Versäumnisse werden marktwirtschaftlichen Ordnungen angekreidet? 1. Ein Argument, das schon von K. Marx und J. M. Keynes gegen die marktwirtschaftliche Ordnung vorgebracht wurde, ist auch heute nicht totzukriegen: Der Kapitalismus sei zu produktiv. Weil er die knappen Ressourcen so effizient einsetze, neige er dazu, immer größere Überkapazitäten zu schaffen. Damit schaufle er sich aber sein eigenes Grab. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage hinke mit zunehmendem Entwicklungsstand immer stärker hinter dem wachsenden Angebot her. Die Arbeitslosigkeit nehme zu, deflationäre Tendenzen gewönnen an Bedeutung. Gerade dieser letzte Aspekt hat gegenwärtig wieder Konjunktur. Es sei damit offenkundig, daß kapitalistische Systeme inhärent instabil seien. Der Staat sei gefordert, entweder für entsprechende gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu sorgen oder das wachsende Angebot etwa über kürzere Arbeitszeiten zu senken. Diese Kritik an marktwirtschaftlichen Ordnungen trifft offenkundig nicht. Es ist zum einen leider so, daß wir auch in kapitalistischen Systemen unter dem kalten Stern der Knappheit produzieren müssen. Da wir nicht im Paradies leben, nimmt es nicht wunder, wenn die Wachstumsraten des potentiellen Bruttosozialproduktes der nächsten Jahre in den entwickelten Ländern nach Schätzungen der OECD die Marge von 2 - 3 % nicht übersteigen werden. Dies entspricht in etwa der Rate der letzten 20 Jahre und liegt deutlich unter den außergewöhnlich hohen Wachstumsraten der 50er und 60er Jahre. Die Länder, die sich wie etwa die asiatischen noch weiter entwickeln, weisen wegen des hohen Tempos der Industrialisierung zwar längerfristig eindeutig höhere Wachstumsraten auf. Dies entspricht angesichts der zunächst geringen Kapitalintensität dieser Länder den Vorhersagen der neoklassischen Wachstumstheorie (Solow 1956). Wenn man diese Entwicklung mit berücksichtigt, kommt man dennoch nicht über einen Wert von 4 %, was das wirtschaftliche Wachstum weltweit angeht. Das ist sicherlich besser als die 3% Wachstum der marktwirtschaftlichen Länder in den 70er und 80er Jahren, aber etwas niedriger als die Rate in den 50er und 60er Jahren. Zudem haben sich die Wachstumsaussichten für Südostasien mittelfristig verdüstert. Die Chance, nicht das Risiko, daß die Wachstumsrate des Bruttosozialproduktes höher liegt, ist gering. Es spricht zum anderen nichts dafür, daß die gesamtwirtschaftliche Nachfrage hinter dem wachsenden Angebot zurückbleibt. Die Vorstellung ist zwar weit verbreitet, daß bei den Konsumenten in den entwickelten Ländern mit hohem Pro-

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Kopf-Einkommen gewisse Sättigungstendenzen auftreten. Sie ist dennoch nicht zutreffend: Die Ausgaben für Konsumzwecke steigen nicht nur mit zunehmendem Einkommen, auch die private Sparquote bildet sich fast überall in den entwickelten Ländern zurück und rutschte in den USA temporär sogar in den negativen Bereich, die Konsumquote nimmt somit zu. Es trifft auch nicht zu, daß die schneller wachsenden Entwicklungsländer mehr zum weltweiten Angebot als zur weltweiten Nachfrage beitragen. Das Gegenteil ist richtig: Die Gruppe dieser sich entwickelnden Länder weist gegenüber den entwickelten Ländern eindeutig Defizite in der Handelsbilanz aus. Der eigentliche Grund, weshalb sich diese falschen Vorstellungen über Sättigung halten, liegt darin, daß wir nur eine eingeschränkte Sichtweise haben und uns nicht vorstellen können, wo die Individuen mit wachsendem Einkommen ihren Konsum entfalten werden. Wir schauen immer nur auf einzelne Branchen, die den Zenit ihrer wirtschaftlichen Entwicklung überschritten haben. Diese Bereiche sind hochproduktiv, die Nachfrage nach ihren Produkten geht zurück, die sektorale Arbeitslosigkeit nimmt zu. Diese unvermeidliche Entwicklung einzelner Branchen übertragen wir auf die gesamte Volkswirtschaft, vergessen aber, daß andere Branchen gleichzeitig wachsen. Diese eingeschränkte Sicht der Dinge wirkt sich in Prognosen verstärkt aus, weil wir nicht genau wissen, welche Branchen dies sein werden, was also die Individuen tatsächlich kaufen werden. Die Problematik wird offenkundig, wenn man sich vorstellt, was wohl ein Ökonom zur Mitte des letzten Jahrhunderts auf diese Frage geantwortet hätte. Damals waren die meisten Deutschen in der Landwirtschaft tätig, die Produktion von Textilien dominierte den noch kleinen Sektor des verarbeitenden Gewerbes. Er wäre zweifellos nicht auf die Idee gekommen, daß heute, 150 Jahre später, rund 2,5 % der Erwerbstätigen alle im Inland produzierten landwirtschaftlichen Güter herstellen und weniger als 1 % alle Textilien. Die Angst vor gesamtwirtschaftlichen Überkapazitäten ist unbegründet, sie ist das Ergebnis unserer fehlenden Vorstellungskraft über zukünftige Konsummöglichkeiten. Einem ähnlichen Irrtum unterliegen die, die gegenwärtig das Gespenst der Deflation an die Wand malen. Es ist zweifellos richtig, die Inflationsraten haben sich in den letzten zehn Jahren weltweit stark zurückgebildet. Die jüngsten Zahlen der Bundesbank weisen einen Anstieg des allgemeinen Preisniveaus von nur noch 0,7% aus. Unter Berücksichtigung statistischer Fehlerquellen in der Größenordnung von einem dreiviertel Prozent ist damit Preisniveaustabilität erreicht, aber es ist falsch, von Deflation zu reden. Was wir beobachten konnten, war ein Prozeß der Disinflation. Der Grund, weshalb zunehmend auch Ökonomen vor der Gefahr der Deflation warnen, besteht darin, daß sie von einzelnen Branchen auf das Ganze schließen. Es ist zweifellos richtig, daß die Preise einiger Güter fallen, aber das gilt längst nicht für alle Güter und noch weniger für Dienstleistungen. Für einige scheint dies der Beginn einer Periode zu sein, wo Überkapazitäten und ein globaler Wettbewerb die Preise kontinuierlich nach unten drücken, in anderen Worten: eine Ära der Deflation habe begonnen. 5

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Diese Sicht der Dinge ist wahrscheinlich falsch und wenn sie wahr sein sollte ungefährlich (Krugman, 1998). Die Gefahr inflationärer Entwicklungen ist entschieden größer als die deflationärer. Inflation kommt zustande, weil die Regierungen die Notenbanken veranlassen, das Angebot an Geld stärker auszudehnen als es der Zuwachs bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen erfordert. Der Grund ist einfach: Wenn man das Geldangebot erhöht, fühlt man sich, wie wenn man zuviel Dessert ißt, zunächst einmal gut. Die wirtschaftliche Entwicklung wird positiv beeinflußt, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Gewinne steigen. Die Rechnung wird erst später in der Gestalt höherer Inflationsraten und eines sinkenden Außenweites der heimischen Währung präsentiert. Der Abbruch inflationärer Entwicklungen ist demgegenüber sehr schwierig. Er ist fast immer verbunden mit unmittelbaren Lasten, weil es zu einer wirtschaftlichen Rezession kommt und die Arbeitslosigkeit steigt. Es ist wie mit dem Abnehmen, man ist immer wieder versucht, die Tortur abzubrechen. Die Wahrscheinlichkeit, daß man zu dünn wird, ist relativ gering, da die Versuchung, das Leben zu genießen, einfach zu groß ist. Damit ist aber auch klar, daß die Gefahr deflationärer Entwicklungen äußerst gering ist. Wenn man aber trotzdem zu dünn werden sollte, gibt es eine einfache Therapie: Laß es dir gutgehen und genieße das Leben, zumindest ein bißchen. Das gilt auch für die Gefahr deflationärer Entwicklungen. Wenn die Inflationsrate negativ zu werden droht, haben die Notenbanken immer die Möglichkeit, dieser Gefahr zu begegnen, indem sie das Geldangebot erhöhen. Die Gefahr deflationärer Entwicklungen, die im späten 19. Jahrhundert wegen des Goldstandards und in den frühen 30er Jahren wegen einer falschen Geldpolitik eintraten, ist heute nicht real. Ein Kollaps wie 1931 setzt voraus, daß nicht nur alles schiefgeht, was schiefgehen kann, sondern auch, daß Alan Greenspan und seine Kollegen bei der Europäischen Zentralbank sich völlig verblendet verhalten (Krugman, 1998). Dies ist zweifellos nicht zu erwarten. 2. Die eigentliche Gefahr kapitalistischer Systeme wird heute vor allem in den volatilen Finanzmärkten gesehen. Das wirklich Neue an der Globalisierung ist zweifellos die Entwicklung der kurz- und langfristigen Kapitalbewegungen (Willgerodt 1998). Die Finanzmärkte sind wesentlich offener geworden. Die grenzüberschreitenden Anleihe- und Aktientransaktionen sind in den letzten 20 Jahren geradezu explodiert. Vor allem der Handel mit Finanzderivaten, wie Swaps, Optionen und Futures hat gewaltig zugenommen. Täglich werden rund 1,5 Bio. US-$ umgesetzt. Dabei handelt es sich allerdings um die Brutto-Bewegungen. Ökonomisch bedeutsamer sind die Nettoströme, also die Salden aus Zu- und Abflüssen in einer Währung, die keine derart astronomisch hohen Werte erreichen. Zudem dient ein großer Teil dieser Bewegungen der Arbitrage, die Spekulationsabsicht dominiert keineswegs immer. Die Güter- und Finanzmärkte sind jedoch weniger stark als früher miteinander verbunden. Es wird deshalb befürchtet, daß sich auf den Finanzmärkten immer häufiger Erwartungen bilden, die mit der realwirtschaftlichen Entwicklung wenig zu tun haben. Dieses Eigenleben der Finanzmärkte begünstige eine „Zocker-Mentalität", die über volatile Zinsen und Wechselkurse schließlich

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im realwirtschaftlichen Bereich der Güter- und Faktormärkte zu großen Irritationen führe. Es herrscht weithin die Vorstellung, daß das, was man sich realwirtschaftlich mit Mühe und Not aufgebaut hat, innerhalb kürzester Zeit von den Entwicklungen auf den Finanzmärkten kaputt gemacht werden könnte. Was nützt eine moderate Lohnpolitik, so wird vielfach gefragt, wenn schwankende Wechselkurse diese Anstrengungen von heute auf morgen zunichte machen. Diese Sicht der Dinge ist irreführend. Die Asienkrise ist kein Beleg für derlei Ansichten, sondern weist auf die wahren Zusammenhänge hin. Die erheblichen Turbulenzen auf den Finanz- und Devisenmärkten kommen nicht aus heiterem Himmel, sie haben im allgemeinen eine Vorgeschichte. Diese ist geprägt von realen Fehlentwicklungen: einer hohen Inflationsrate, eines erheblichen Budgetdefizits, einer zu großen Verschuldung des Staates oder auch der Privatwirtschaft im Ausland (Nunnenkamp 1996; Kronberger Kreis, 1998, 26). Das ist aber nicht alles: Es existieren zumeist auch gravierende Fehlentwicklungen im Bankenbereich. Die auf dem Papier stehenden Mindeststandards für die Eigenkapitalausstattung, die Bankenaufsicht, die Bremsen für spekulative Anlagen, die Vermögensbewertungen werden in der Praxis oft nicht eingehalten. Damit aber nicht genug: Oft beherrscht Insider-Verhalten die Szene, die Finanzintermediäre sind allzu oft eng mit den politischen Entscheidungsinstanzen verbandelt, sie vertrauen deshalb auf den staatlichen Rettungsanker („bail out"), wenn etwas schiefgeht. Das japanische Beispiel hat erneut daran erinnert. Diese strukturellen Mängel bauen sich nach und nach auf, werden aber zunächst von den wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern mißachtet, für beherrschbar gehalten oder sogar im Eigeninteresse ausgenutzt. Die internationalen Ratingagenturen decken die schon vorhandenen Fehlentwicklungen oft nicht rechtzeitig auf, weil sie zu konform agieren. Damit schätzen aber die Anleger die Länderrisiken oft ganz ähnlich ein. Ein Herdenverhalten der Anleger ist die Folge. Über kurz oder lang werden die realen Fehlentwicklungen aber offenkundig, oft genügt ein kleiner, unbedeutender Anlaß. Die strukturellen Eigenheiten dieser Länder werden plötzlich in einem ganz anderen Licht gesehen. Den Regierungen wird nicht zugetraut, die notwendigen Reformen durchzuführen. Die wirtschaftspolitische Glaubwürdigkeit geht flöten, die international disponierenden Kapitalanleger schichten ihr Portfolio schließlich massiv um. Die Flucht aus den Währungen solcher unsicherer Länder nimmt drastisch zu, oft übertriebene Abwertungen sind die Folge (Siebert 1997). Trotz aller Übertreibungen, zu denen die international sehr offenen Finanzmärkte bisweilen neigen, sie sind nicht die Totengräber des Kapitalismus. Ganz im Gegenteil: Da die politischen Märkte kaum in der Lage sind, für eine konsequente Stabilitätspolitik, eine solide Haushaltspolitik und ein effizientes Aufsichtswesen im Finanzsektor zu sorgen, bleiben vor allem die Finanzmärkte als Wächter. Sie bestrafen eine unsolide Wirtschaftspolitik mit Risikoaufschlägen. Steigende Kosten zwingen die nationalen politischen Entscheidungsträger über kurz oder

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lang zur notwendigen Kurskorrektur (International Monetary Fund, 1997, 70-71.; Kronberger Kreis, 1998, 26). Der Richterspruch der Finanzmärkte ist zwar kurzfristig nicht immer der beste, mitunter ist er sogar falsch, dennoch sind spekulative Attacken zumeist rationale Reaktionen auf ökonomische Ungleichgewichte. Ein weiteres kommt hinzu: Die Notenbanken sind auch bei einem steigenden Volumen auf den Finanzmärkten in der Lage, die Geldmenge und die Inflation wirksam zu kontrollieren. Trotz explodierender Finanzmärkte sind die Inflationsraten zurückgegangen. Integrierte Finanzmärkte führen dazu, daß die Bedeutung einer soliden Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik zunimmt. 3. Es ist offenkundig, die behaupteten Überkapazitäten marktwirtschaftlicher Ordnungen sind ein Scheinproblem, die finanziellen Krisen bringen Marktwirtschaften nicht um, ganz im Gegenteil. Das eigentliche Problem ist nicht die vermeintliche Krisenanfälligkeit des Kapitalismus, sondern die Tatsache, daß seinem Wirken zu wenig Spielraum gelassen wird. Die Fehlentwicklungen auf den Arbeitsmärkten und die zunehmende Instabilität des europäischen Sozialstaates zeigen eine Krise des Interventionismus an, nicht eine Krise des Kapitalismus. Um es vorweg zu nehmen: Diese Fehlentwicklungen sind nicht auf die Globalisierung zurückzuführen, sie sind hausgemacht. Die desolate Lage auf den Arbeitsmärkten wird vordergründig durch den strukturellen Wandel ausgelöst. Die weltweit offeneren Güter- und Faktormärkte beschleunigen den unvermeidbaren Prozeß der schöpferischen Zerstörung. Damit sind alle gefordert, besonders aber die wenig qualifizierten Arbeitnehmer. Der technische Fortschritt und der internationale Handel tragen dazu bei, daß in den hochentwickelten Völkswirtschaften die Nachfrage nach einfacher Arbeit zurückgeht; zu welchen Teilen, ist umstritten (Landmann/ Pflüger 1998, Krugman 1994). Die Tragik auf den deutschen und den meisten europäischen Arbeitsmärkten besteht darin, daß die Akteure nicht bereit sind, die anfallenden Lasten aus dem unvermeidlichen strukturellen Wandel direkt über flexible Löhne und Lohnstrukturen oder eine entsprechende räumliche und berufliche Mobilität zu tragen. Die Tarifpartner versuchen vieles, um die Anpassungslasten zu sozialisieren, sie also auf Dritte, zumeist auf den (Sozial-)Staat abzuwälzen. Der mangelnde Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten erlaubt es ihnen, diesen Weg zu gehen. Die Tarifpartner verhandeln faktisch auf relativ zentraler Ebene. Regionale, sektorale und qualifikatorische Besonderheiten werden kaum zur Kenntnis genommen. Die faktischen Mindestlöhne, die der Sozialstaat mit Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe setzt, helfen ihnen dabei, werfen allerdings die wenig qualifizierten Arbeitnehmer aus dem Markt (Berthold 1998a). Diese Macht, die den Tarifvertragsparteien wegen des mangelnden Wettbewerbs auf den Arbeitsmärkten und im Bereich des Sozialen zuwächst, nutzen sie, um die Anpassungslasten auch über einen ausgebauten Sozialstaat auf Dritte abzuwälzen. Als Vehikel dient nicht nur die Arbeitslosenversicherung, auch die Rentenversicherung wird benutzt, um über arbeitsmarktpolitisch motivierte Berufs- und Erwerbs-

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Unfähigkeitsrenten und Frühverrentungen im Rahmen des Systems der flexiblen Altersgrenze die Lasten auf die Beitrags- und Steuerzahler zu verteilen. Damit aber nicht genug: Die Tarifpartner nutzen ihre Macht, um den Staat nicht nur beschäftigungspolitisch in Geiselhaft zu nehmen, sie nötigen ihn auch, teilweise flächendeckend finanziell zu dopen. Alles in allem: Der mangelnde Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten hilft, die beschäftigungspolitische Verantwortung der Tarifpartner zu verwischen. Die Folge ist eine persistent hohe Arbeitslosigkeit. Die miserable Lage auf den Arbeitsmärkten trägt dazu bei, dem primär umlagefinanzierten Sozialstaat die finanzielle Basis zu entziehen. Diese Entwicklung auf den Arbeitsmärkten kommt nicht wie eine Plage über ihn, der Sozialstaat selbst nährt die Arbeitslosigkeit. Da wettbewerbliche Elemente auch im Bereich des Sozialen nur ein Schattendasein fristen, nimmt es nicht wunder, daß „moral hazard"-Verhalten auf diesem sozialen Feld hervorragend gedeiht. Das ist in allen Systemen der sozialen Sicherung der Fall. In der Arbeitslosenversicherung äußert es sich in individuellem „moral hazard" der Arbeitnehmer, externem „moral hazard" der Unternehmungen und kollektivem „moral hazard" der Tarifvertragsparteien auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosigkeit steigt, das wirtschaftliche Wachstum wird beeinträchtigt, die finanzielle Basis des Sozialstaates erodiert. Das in der Gesetzlichen Krankenversicherung existierende Verantwortungsvakuum, das entsteht, weil der marktliche Koordinationsmechanismus weitgehend ausgeschaltet ist, begünstigt nicht nur „moral hazard"-Verhalten der Versicherungsnehmer, sondern auch der Leistungsanbieter. In der umlagefinanzierten Gesetzlichen Rentenversicherung zeigt sich dieses Problem u. a. an der großen Zahl von Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten. Eine besondere Spielart von „moral hazard" tritt auf, weil die erwerbstätige Generation zu wenig Kinder in die Welt setzt (Berthold 1998b). Die Probleme verschärfen sich durch die umverteilungspolitischen Aktivitäten des Sozialstaates. Unvollkommene politische Märkte führen die politischen Entscheidungsträger vor allem in indirekten Demokratien in Versuchung, die umverteilungspolitischen Instrumente als Parameter im Wettbewerb auf den Wählerstimmenmärkten einzusetzen (Frey 1990). Damit wird aber nicht nur „zuviel", sondern auch wenig effizient inner- und außerhalb der Systeme der sozialen Sicherung umverteilt. Der Löwenanteil der umverteilungspolitischen Aktivitäten wird in der politisch ertragreichen Mittelklasse von den „nicht ganz Reichen zu den nicht ganz Armen" (Külp 1975) entfaltet. Die Gruppe der Bezieher mittlerer Einkommen wird per Saldo kaum begünstigt. Sie ist auch die Gruppe, die vorwiegend zur Kasse gebeten wird, wenn es darum geht, umverteilungspolitische Wohltaten zu finanzieren. Man versucht außerdem viel zu oft, über regulierende Eingriffe in die Güterund Faktormärkte und durch administrierte Preise inter-personell umzuverteilen. Das ist noch nicht alles. Der primär umlagefinanzierte Sozialstaat wird anfälliger für exogene Schocks. Vor allem demographische Veränderungen, wie die gravierende Verschlechterung der Altersstruktur, machen ihm schwer zu schaffen.

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Hier zeigt sich der unsolide Charakter von umlagefinanzierten Systemen. Kritiker vergleichen deshalb den „Generationenvertrag" mit einem zwar unmoralischen, aber legalen Kettenbrief. Solche demographischen Schocks rütteln an den Grundfesten eines staatlich organisierten umlagefinanzierten Systems. Es ist zwar richtig, daß die gravierenden demographischen Verschiebungen für den Sozialstaat zum größten Teil exogen und nicht von ihm zu verantworten sind. Dennoch ist er an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Er begünstigt vor allem in seinen umlagefinanzierten Systemen der sozialen Sicherung demographisches „moral hazard"Verhalten. Damit verstärkt er aber die demographischen Probleme und trägt selbst mit dazu bei, daß die umlagefinanzierten Systeme vom Einsturz bedroht sind (Berthold/Schmid 1997). Alles in allem: Die Arbeitsmärkte sind ebenso wie der Bereich des Sozialen wettbewerbspolitische Ausnahmebereiche. Interventionistische Lösungen dominieren, der Wettbewerb wird fast überall zur Restgröße degradiert. Damit wird aber ein Teufelskreis von wachsenden Ungleichgewichten auf den Arbeitsmärkten und immer größeren finanziellen Krisen des Sozialstaates in Gang gesetzt. Da der Sozialstaat inhärent instabil ist, werden die Probleme verstärkt. Diese wirken als Schwungrad für noch gravierendere Probleme auf den Arbeitsmärkten und ziehen damit dem Sozialstaat den finanziellen Boden unter den Füßen weg. Es ist offenkundig, die institutionellen Regelwerke auf den Arbeitsmärkten und im Bereich des Sozialen steuern nicht nur falsch, sie sind auch untrennbar miteinander verbunden. Die Reform des Sozialstaates kann nicht isoliert vorgenommen werden, wenn sie erfolgreich sein will, muß sie zeitgleich mit einer grundlegenden Reform des Arbeitsmarktes einhergehen.

I I I . Was not tut: Arbeitsmarkt-, Steuer- und sozialpolitische Aktivitäten Der Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus war nur eine Zwischenetappe. Nun geht es auch den interventionistischen Auswüchsen grundsätzlich marktwirtschaftlich orientierter Volkswirtschaften an den Kragen. Die falschen Weichenstellungen, die den sozialistischen Staaten zum Verhängnis geworden sind, tragen auch mit dazu bei, den marktwirtschaftlichen Ländern, die das Adjektiv „sozial" zu groß schreiben, ökonomische Schwierigkeiten zu bereiten. Der eigentliche Irrweg besteht darin, viele Bereiche des wirtschaftlichen und sozialen Lebens zu wettbewerblichen Ausnahmebereichen zu machen. Dies gilt nicht nur für den Arbeitsmarkt und den Bereich des Sozialen. Notwendig ist auch wieder ein Steuersystem, das wirtschaftlichen Erfolg nicht bestraft, aber auch dafür Sorge trägt, daß den wirklich Bedürftigen wirksam geholfen werden kann. 1. Das Grundproblem ist die hohe Arbeitslosigkeit. Ein Blick über den großen Teich zeigt, daß Arbeitslosigkeit trotz eines hohen Tempos des strukturellen Wandels kein Problem sein muß. Mehr Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten und mehr Eigenverantwortung, wenn es darum geht, sich gegen die Wechselfälle des Lebens

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abzusichern, sind der Humus, auf dem ein hoher und wachsender Beschäftigungsstand gedeiht. Die amerikanischen Erfahrungen zeigen, daß man sich den kostspieligen, weil ressourcenvernichtenden Weg durch das arbeitsmarktpolitische „Tal der Tränen" ersparen kann. Ausgehend von einem hohen interventionistischen Niveau ist aber ein kurzfristig schmerzhafter Anpassungsprozeß notwendig (Berthold/Hilpert 1998). Die Löhne und Arbeitsbedingungen müssen sich flexibel an die veränderten sektoralen, regionalen und qualifikatorischen Gegebenheiten anpassen. Die Arbeitnehmer müssen bereit sein, sich in den wachsenden Sektoren und Regionen nach einem neuen Arbeitsplatz umzusehen, und beruflich so mobil sein, daß sie die neuen Tätigkeiten, die der strukturelle Wandel mit sich bringt, auch ausüben können. Der Preis, den man für die guten Ergebnisse auf den Arbeitsmärkten zahlen muß, ist allerdings eine temporär ungleichere Einkommensverteilung. Das ist das exakte Gegenteil der kontinentaleuropäischen Verhältnisse. Hier wird das wettbewerbliche Treiben auf den amerikanischen Arbeitsmärkten mit Mißtrauen betrachtet. Die Macht des Tarifkartells erodiert zwar, noch degradiert es aber den Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten zur Restgröße. Ein ausgebauter Sozialstaat erlaubt es den Tarifpartnern, erhebliche Teile der Anpassungslasten auf Dritte abzuwälzen. Man versucht, die Anpassungslasten des strukturellen Wandels zu sozialisieren. Damit wird aber ein Teufelskreis von steigenden Steuern und Abgaben, höherer Arbeitslosigkeit und noch größeren finanziellen Belastungen in Gang gesetzt. Die Lohnstrukturen orientieren sich kaum an den veränderten sektoralen und regionalen Gegebenheiten. Die Vorstellung, daß das Einkommen auf einem Arbeitsplatz die materielle Existenz sichern soll, verhindert eine ausreichend differenzierte qualifikatorische Lohnstruktur. Das Phänomen der „working poor" bleibt damit zwar ein amerikanisches, den Preis zahlen dennoch vor allem die wenig qualifizierten Arbeitnehmer, weil sie zuhauf arbeitslos werden und es auch bleiben (Giersch 1998). Die europäische und die amerikanische Entwicklung bestätigen eine ökonomische Binsenweisheit: Der steigende materielle Wohlstand hat einen Preis, die unvermeidbaren Anpassungslasten des unabdingbaren strukturellen Wandels (Dieckheuer et al. 1998). Obwohl man unterschiedliche Wege gehen kann, um diese Lasten ohne steigende Arbeitslosigkeit zu schultern, haben alle eines gemeinsam: Ein funktionsfähiger Arbeitsmarkt ist unverzichtbar. Damit muß man den amerikanischen Weg zumindest ein Stück weit gehen. An mehr Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten und im Bereich des Sozialen kommt man nicht vorbei. Die Tarifparteien müssen gezwungen werden, ihre Verantwortung für die Beschäftigung wieder wahrzunehmen. Das macht es notwendig, mehr institutionellen Wettbewerb zuzulassen, der betriebsnähere und individuellere Formen der Tarifabschlüsse erlaubt. Den Verwerfungen, die durch den strukturellen Wandel entstehen, wird besser Rechnung getragen. Die wirtschaftliche Lage der einzelnen Unternehmung wird stärker berücksichtigt, die Produktivität und Präferenzen des einzelnen Arbeitnehmers spielen eine größere Rolle.

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Das ist nicht alles. Es muß auch dafür Sorge getragen werden, daß die Kanäle verstopft werden, über die bisher die Tarifparteien einen Teil der Anpassungslasten auf Dritte abwälzen. Setzt man stärker auf Wettbewerb, wenn es darum geht, wie sich die Individuen gegen die Wechselfälle des Lebens absichern, gehen auch die Möglichkeiten zurück, den Beitrags- und Steuerzahlern die Lasten des strukturellen Wandels über Arbeitslosen- und Alterssicherung aufzubürden. Doch nicht nur der Sozialstaat steht auf dem Prüfstand. Eine Politik, die endlich ernst damit macht, finanzielles Doping rigoros zu bekämpfen, gehört ebenfalls dazu. Ein unverzichtbarer Baustein funktionsfähigerer Arbeitsmärkte ist schließlich eine reformierte Arbeitsmarktpolitik. Sie darf kein Instrument des arbeitsmarktpolitischen Versteckspiels sein, das den Staat zum „employer of last resort" macht, sondern muß sich darauf beschränken, die Bildung von marktverwertbarem Humankapital „on the job" zu fördern (Berthold/Fehn, 1997). 2. Die Lage auf den Arbeitsmärkten ließe sich wesentlich verbessern, wenn es gelänge, die Steuerlast zu verringern, die auf der Schaffung von Arbeitsplätzen liegt. Die Anreize, wieder verstärkt in Deutschland zu investieren, würden ebenso zunehmen wie die Zahl der Arbeitsplätze. Die Grenzsteuerbelastung in Deutschland ist eindeutig zu hoch. Es muß deshalb zuallererst darum gehen, die Gewinnsteuersätze entschlossen zu verringern. Damit verbessert man nicht nur für die inländischen Unternehmungen die Anreize, im Inland zu investieren. Man trägt auch dazu bei, daß ausländische Direktinvestitionen, die in den letzten Jahren einen weiten Bogen um Deutschland gemacht haben, wieder nach Deutschland zurückkehren. Es ist zwar richtig, daß die effektiven Steuersätze auf die Unternehmenserträge in Deutschland, wenn man also Bemessungsgrundlage und Tarif zusammennimmt, international im Mittelfeld liegen. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, daß für viele ausländische Investoren offenbar die hohen Steuersätze eine abschreckende Signalwirkung ausüben. Die gegenzurechnenden Vergünstigungen (Abschreibungen, Pensionsrückstellungen, subventionsähnliche Steuerbefreiungstatbestände) sind anscheinend nicht wert, was sie kosten. Die Debatte um die sogenannten Steuerschlupflöcher, die vielfach nichts anderes sind als vom Gesetzgeber bewußt geschaffene Investitionsanreize, ist ein deutlicher Beleg für die nötige Neueinschätzung der Grundelemente unseres Einkommensteuersystems. Es sollte allerdings nicht nur darum gehen, die Grenzsteuersätze zusammen mit den effektiven Steuersätzen zu verringern. Mindestens ebenso wichtig ist, die Steuerflucht der Bemessungsgrundlagen einzudämmen. Es kann nicht angehen, daß zwar öffentliche Güter in Anspruch genommen werden, man sich der zugeordneten Steuerbelastung aber weithin erfolgreich zu entziehen sucht. Das ist zwar gegenwärtig legitim, dennoch sollte man bedenken, daß der Fiskus hier Regeln geschaffen hat, die den fiskalischen Interessen nicht wirklich entsprechen. Die offeneren Güter- und Faktormärkte zwingen die politischen Entscheidungsträger, eine große Steuerreform, die diesen Namen auch verdient, über kurz oder lang durchzuführen.

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Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium hat einen Vorschlag gemacht, wie eine solche große Steuerreform aussehen könnte (Wiss . Beirat BMWi, 1996). Er sieht vor, die Sätze der Einkommen- und Körperschaftsteuer stärker zu senken, als nach den derzeitigen Vorstellungen der Parteien und der Bundesregierung beabsichtigt ist, einen Drei-Stufentarif der Einkommensbesteuerung mit niedrigeren Sätzen einzuführen und die Körperschaftsteuer mit dem Spitzensatz der Einkommensteuer zu harmonisieren. Da die Einkommensteuer mit der Besteuerung der Ersparnis und ihrer Zinserträge das Sparen diskriminiert, wird zudem vorgeschlagen, diese Diskriminierung zu entschärfen, und zwar durch Herausnahme der Zinseinkünfte aus der Einkommensteuer und die Einführung einer Abgeltungssteuer mit niedrigem Satz. Im einzelnen wird vorgeschlagen (Wiss. Beirat BMWi, 1996, 4 - 5): die Einführung eines Stufentarifs mit einem Eingangssteuersatz von 10 Prozent und einem Spitzensteuersatz von 30 Prozent; ein einheitlicher Körperschaftsteuersatz von 30 Prozent auf einbehaltene und ausgeschüttete Gewinne; eine Abgeltungssteuer in Höhe von 15 Prozent auf Zinseinnahmen aus Einlagen, Anleihen und Lebens Versicherungsverträgen. Der vorgeschlagene Reformtarif würde (auf der Grundlage der Zahlen von 1996) zu Steuerausfällen in Höhe von 102 Mrd. DM führen. Zur Gegenfinanzierung bedarf es daher eines umfassenden Abbaus von Steuerbegünstigungen. Es bedarf jedoch keiner Erhöhung einer anderen Steuer. Der Beirat schlägt eine Reihe von Maßnahmen vor, die zusammengenommen ein Finanzierungsvolumen von 77,5 Mrd. DM ergeben. Der verbleibende Steuerausfall in Höhe von 24,5 Mrd. DM sollte nicht durch anderweitige Steuererhöhungen gegenfinanziert werden, sondern als Netto-Entlastung erhalten bleiben. Das wäre zu erreichen durch eine Senkung der Staatsquote um weniger als einen Prozentpunkt. Dabei wäre vor allem auch an einen Abbau der sehr umfangreichen Subventionen (1997: 300 Mrd. DM) zu denken. 3. Man kann es drehen und wenden, wie man will, an funktionsfähigeren Arbeitsmärkten führt kein Weg vorbei. Die europäische Philosophie verlangt allerdings mehr: Ohne soziale Gerechtigkeit geht nichts. Es gehört zum kleinen Einmaleins der Ökonomie, daß es wenig Sinn hat, verteilungspolitische Ziele über die relativen Preise zu verwirklichen. Der Preis, den man in Form von allokativen Verlusten, wie etwa Arbeitslosigkeit, bezahlen muß, ist zu hoch. Vollbeschäftigung ist auch künftig möglich, wenn die Löhne über die gesamte Palette der Qualifikationen die Verteilungsspielräume nicht überschreiten, die durch die Arbeitsproduktivitäten vorgegeben werden. Dabei müssen allerdings regionale und sektorale Beschränkungen des Spielraums beachtet werden. Dieser „amerikanische Weg" sichert trotz des starken strukturellen Wandels einen hohen Beschäftigungsstand. Er garantiert mehr individuelle Freiheit, weil das individuelle Arbeitsangebot auch eine Nachfrage findet. Das heute dominante Normalarbeitsverhältnis wird stärker um Teilzeitarbeitsplätze ergänzt, die Frauenerwerbstätigkeit wird weiter zunehmen. Die Unternehmungen werden verstärkt solche Arbeitsplätze in allen Bereichen anbieten, wenn sich die Arbeitskosten an die Verteilungsspielräume halten.

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Damit ist noch nicht garantiert, daß das Ziel der sozialen Gerechtigkeit erreicht wird. Die nicht oder nur wenig qualifizierten Arbeitnehmer werden zwar beschäftigt sein, möglicherweise aber ein Arbeitseinkommen erzielen, das ein Existenzminimum, das den europäischen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit entspricht, nicht sichert. Der sinnvollste Weg, dieses verteilungspolitische Ziel zu realisieren, ist zweifellos, die Arbeitnehmer so zu qualifizieren, daß sie auf den Arbeitsmärkten ein ausreichendes Einkommen erzielen. Es ist offenkundig, daß die Ausbildung in Schule und Beruf einen noch höheren Stellenwert erlangen wird. Das duale Berufsbildungssystem in Deutschland, eine auch international herausragende Institution, die ganz entscheidend mit dazu beiträgt, auch die Qualifikationen im prekären Bereich entscheidend anzuheben, muß weiter verbessert werden. Das alles hilft zweifellos, das Phänomen der „working poor" klein zu halten, aber erst eine Beschäftigung räumt den Arbeitnehmern die Möglichkeit des „upsizing" ein (Nickeil/Bell 1996). Der in hochentwickelten Volkswirtschaften rückläufigen Nachfrage nach einfacher Arbeit wird damit zwar entgegengewirkt, wirklich gelöst wird das Problem damit noch nicht. Ein Teil der Arbeitnehmer will sich nicht soweit qualifizieren oder ist nicht in dem Maße qualifizierbar, daß er auf den regulären Arbeitsmärkten ein Einkommen erzielen kann, das ausreicht, um das europäische Niveau des Existenzminimums zu sichern. Nach europäischem Verständnis von sozialer Gerechtigkeit bleibt in diesen Fällen nur übrig, das erzielte Arbeitseinkommen um staatliche Transfers zu ergänzen und es über das existenzsichernde Niveau zu schleusen, so daß für die betroffenen Arbeitnehmer ein Arbeitsanreiz besteht. Damit fangen die Probleme aber erst an. Wie man solche Transfers auch ausgestaltet, ein garantiertes Existenzminimum wirkt sich immer negativ auf das Lohnsetzungsverhalten der Tarifpartner und das individuelle Arbeitsangebot aus. Der Preis für mehr soziale Gerechtigkeit zeigt sich in einer steigenden transferbedingten Arbeitslosigkeit. Es sind mehrere Vorschläge unter Begriffen wie negative Einkommensteuer, Bürgergeld oder Kombilohn im Umlauf, die vorgeben, diese volkswirtschaftlichen Kosten zu reduzieren. Eine Variante sieht vor, die Höhe des staatlich garantierten Existenzminimums für arbeitsfähige Arbeitnehmer abzusenken und die erzielten Arbeitseinkommen in geringerem Umfang auf die staatlichen Transfers anzurechnen. Das ist sowohl aus allokativen als auch distributiven Gründen zweifellos die beste Lösung. Sie läßt sich in Europa aber politisch noch nicht durchsetzen. Wenn man allerdings das Existenzminimum für Arbeitnehmer, die grundsätzlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, beibehält und die Arbeitseinkommen trotzdem weniger als bisher auf die staatlichen Transfers anrechnet, läuft man Gefahr, daß die negativen Arbeitsanreize nicht sinken und die finanzielle Leistungskraft des Staates überfordert wird (Jerger/Spermann 1997). Es verwundert nicht, wenn mit steigender Arbeitslosigkeit und spärlicher fließenden staatlichen Einnahmen immer öfter zwangsweisen Maßnahmen das Wort

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geredet wird. Die Höhe des staatlich garantierten Existenzminimums soll demnach prinzipiell erhalten bleiben, die arbeitsfähigen Arbeitslosen werden allerdings verpflichtet, eine wie auch immer geartete angebotene Arbeit anzunehmen. Vor allem die Kommunen sollen die notwendigen Arbeitsplätze auf einem dritten Arbeitsmarkt anbieten. Ein solcher kommunaler Arbeitsmarkt hat ganz ähnliche Nachteile wie der zweite Arbeitsmarkt, der gegenwärtig vor allem durch die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik gespeist wird. Der Staat entwickelt sich in beiden Fällen immer mehr zum „employer of last resort". Das Lohnsetzungsverhalten auf dem ersten Arbeitsmarkt wird negativ tangiert, der marktliche Koordinationsmechanismus auf den Arbeitsmärkten wird noch weiter durch staatliche Lösungen sabotiert. Die erforderlichen finanziellen Mittel müssen durch Steuern und Abgaben auf dem ersten Arbeitsmarkt aufgebracht werden. Die negativen Rückwirkungen auf die Beschäftigung in diesem Bereich sind offenkundig. Damit ist aber letztlich niemand geholfen (Berthold/Fehn 1997). Wenn man die Höhe der Sozialhilfe für arbeitsfähige Arbeitnehmer zum Tabu erklärt und staatlichen Zwang zur Arbeitsaufnahme ablehnt, sind wegen der finanziellen Belastungen, die entstehen, wenn man Formen einer negativen Einkommensteuer einführt, letztlich nur „kleine" Lösungen möglich {Berthold, 1998c, 15). Was bleibt, um die Schwierigkeiten auf den Arbeitsmärkten zumindest etwas zu lindern, sind abgespeckte Lösungen für ganz bestimmte Gruppen von Arbeitslosen. So bieten sich bei Arbeitnehmern, die neu in die Arbeitswelt einsteigen, bezuschußte Qualifizierungsgutscheine an, die sie bei Unternehmungen ihrer Wahl einreichen können. Es ist daneben auch denkbar, Langzeitarbeitslosen zu gestatten, einen Teil ihrer Ansprüche auf staatliche Transfers in befristete Lohnsubventionen umzuwandeln oder bei Banken zur Finanzierung einer Karriere als Selbständiger einzulösen. Der große Durchbruch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit wird auf diesem Weg nicht gelingen. Nur mehr Markt auf dem Arbeitsmarkt und im Bereich des Sozialen gibt der Arbeitsgesellschaft eine Zukunft. 4. Die gesamte Völkswirtschaft kann allerdings nur dann wirklich gesunden, wenn es auch gelingt, die Systeme der sozialen Sicherung grundlegend zu reformieren. Der Sozialstaat hat seine komparativen Vorteile, wenn es darum geht, die Individuen gegen die Wechselfälle des Lebens abzusichern, inzwischen weitgehend verloren. Private Versicherungslösungen sind heute mit Ausnahme der Absicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit staatlichen Lösungen überlegen. Damit steht aber auch die Gesetzliche Rentenversicherung vor einer grundlegenden Reform. Die Schwierigkeiten sind allerdings erheblich. Dies liegt vor allem daran, daß in den umlagefinanzierten Alterssicherungssystemen eine Altlast besteht, der wir grundsätzlich nicht entkommen können. Diese Last entstand, weil für die erste Generation nach der Einführung im Jahre 1957 erhebliche Einführungsgewinne entstanden, die bei der Wiedervereinigung noch ausgeweitet wurden. Ein weiteres Problem kommt hinzu: Jede Generation kann im Alter nur dann eine Rente beziehen, wenn sie entweder in Humankapital oder Realkapital investiert hat, denn von nichts kommt nun einmal nichts. In Deutschland wurden in den letz-

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ten Jahrzehnten zu wenig Kinder geboren. Dieses Versäumnis läßt sich bis zum Höhepunkt der demographischen Krise in den 30er und 40er Jahren des nächsten Jahrhunderts nicht mehr nachholen. Die spannende Frage ist, wie man auf die absehbare Krise im Alterssicherungssystem reagieren soll. Die neue Bundesregierung hat sich erst einmal entschieden, nicht zu reagieren und hat die Rentenreform 1999 für zwei Jahre ausgesetzt. Die Rentenreform 1992 und die nicht in Kraft getretene Reform 1999 kennzeichnen eine Politik, die den eingetretenen Mangel, nämlich die fehlenden Investitionen in Humankapital, nur verwaltet, ihn aber nicht verringert. Es dominiert die rein fiskalische Denkweise: Die Last soll sowohl durch Veränderungen auf der Einnahmeals auch der Ausgabenseite möglichst gerecht zwischen den Generationen verteilt werden. Mit der Rentenreform 1999 wollte man den Rentenanstieg verlangsamen. Durch diese Reform wäre der erwartete Anstieg der Beiträge begrenzt worden. Dennoch: Man hätte nicht verhindern können, daß der Beitragssatz in der Rentenversicherung bis Mitte des vierten Jahrzehnts des nächsten Jahrhunderts auf fast 30 % ansteigt. Damit sind aber die Probleme vorgezeichnet: Die hohe Abgabenbelastung treibt die Arbeitnehmer zur Flucht aus der Gesetzlichen Rentenversicherung (Selbständigkeit, Scheinselbständigkeit, Schwarzarbeit etc.) und verschärft das Standortproblem. Das System der Alterssicherung verliert an Vertrauen; es treibt in den Konkurs. Demographisch bedingte Probleme sind auch in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung zu erwarten. Die sich vertiefende Vertrauenskrise betrifft letztlich auch das Staatswesen. Der Generationenkonflikt nimmt an Schärfe zu. Die düsteren Vorahnungen von F. A. v. Hayek könnten doch noch Wirklichkeit werden: „Letzten Endes wird nicht die Moral, sondern die Tatsache, daß die Jungen die Polizei und das Militär stellen, den Verteilungskampf zwischen den Generationen entscheiden" (v. Hayek, 1971, 355). Diese praktizierte Politik der Mangelverwaltung resultiert zum einen aus den polit-ökonomischen Schwierigkeiten im Falle der Umstellung. Die hohen Kosten der Kündigung des Generationenvertrags tragen zu seiner Stabilität bei. Korrigierende Maßnahmen statt grundlegender Reformen sind das Ergebnis politischen Handelns. Die Rentnergeneration und die älteren Arbeitnehmer sind natürlich am Erhalt ihrer erworbenen Ansprüche interessiert und setzen sich für den Fortbestand des umlagefinanzierten Alterssicherungssystems ein. Die Politik der Mangelverwaltung ist aber auch die Konsequenz eines grundsätzlich falschen Denkens in der Tradition von Mackenroth. Nach einer These von Mackenroth kann aller Sozialaufwand nur aus dem Sozialprodukt der laufenden Periode finanziert werden. Diese These ist falsch und irreführend; sie ist falsch, weil sie die Möglichkeit vernachlässigt, im Ausland akkumulierte Ersparnisse zu verbrauchen; sie ist irreführend, weil sich die Last des Sozialaufwandes über ein verändertes Sozialprodukt durch Sparen, Kapital- und Humankapitalbildung leichter tragen läßt. Die Sozialpolitik sollte ihre volkswirtschaftlichen Möglichkeiten endlich sehen und nutzen. Wenn sich die demographische Zeitbombe schon nicht entschärfen läßt, sollte man wenigstens in Kapitaldeckung gehen.

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Eine Politik, die den Mangel nicht verwalten, sondern ihn substantiell verringern will, muß dazu beitragen, daß die Volkswirtschaft heute gekräftigt wird, damit sie in den 30er und 40er Jahren des nächsten Jahrhunderts von der unentrinnbaren Altlast nicht erdrückt wird. Wir müssen somit versuchen, einen Teil der Lasten schon heute zu schultern. Damit bleibt nur der Weg, den Fehlbestand beim Humankapital möglichst klein zu halten und durch Realkapital zu ersetzen. Damit bieten sich aber zwei Wege an: Es muß zum einen mehr gearbeitet werden. Die Anreize für ein höheres Arbeitsangebot müssen steigen. Die Arbeitsproduktivität muß zunehmen, die Arbeitslosigkeit sinken. Dies erfordert funktionsfähigere Arbeitsmärkte. Auch die Qualität des Arbeitsangebots muß verbessert werden. Eine Reform des Bildungswesens kann ihren Beitrag dazu leisten. Es muß zum anderen heute temporär auf Konsum verzichtet, also mehr gespart werden. Die Mittel, die heute wegen einer geringeren Kinderzahl eingespart werden, können zum Aufbau eines Kapitalstocks verwandt werden. Im Höhepunkt der demographischen Krise kann man den Sozialaufwand dann leichter tragen. Alles in allem: Eine stärkere Kapitalfundierung der Alterssicherung hilft, die nicht wegreformierbare Altlast besser über die Zeit hinweg zu verteilen. Damit erhöht man nicht nur den allgemeinen Wohlstand, die Altlasten lassen sich also leichter tragen. Dieser Schritt ist auch ein Gebot der fairen Behandlung zukünftiger Generationen. Damit entschärft man auch den potentiellen Generationenkonflikt. Die Belastung der erwerbstätigen Generation wird über die Zeit hinweg weitgehend verstetigt. Die Frage stellt sich, was konkret notwendig ist, um einen solchen Übergang zu bewerkstelligen. Der Vorschlag, den der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft gemacht hat (Wiss . Beirat BMWi, 1998), besteht im wesentlichen aus drei Elementen: 1. Die in der Gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Zeitpunkt der Umstellung erworbenen Anwartschaften werden nach Maßgabe der Rentenreform 1999 (Absenkung des Rentenniveaus auf 64%) garantiert. Die Ansprüche müssen ab der Umstellung von der erwerbstätigen Generation über Beiträge an die Gesetzliche Rentenversicherung finanziert werden. Das Problem dabei ist, daß sich ein hoher impliziter Steuersatz nicht vermeiden läßt, weil an das alte System weiter Beiträge bezahlt werden müssen, ohne Ansprüche zu erwerben. Dies führt zu erheblichen AllokationsVerzerrungen im Übergang. Eine wesentliche Verbesserung auf den Arbeitsmärkten ist zunächst nicht zu erwarten. 2. Neben der Beitrags- wird eine Sparpflicht eingeführt, die zum Aufbau eines Kapitalstocks zur Rentenfinanzierung dient. Die Summe aus umlage- und kapitalfundierten Rentenansprüchen sollen den Ansprüchen nach der Rentenreform 1999 entsprechen. Der umlagefinanzierte Rentenanteil wird wegen der höheren Rendite der kapitalfundierten Lösung immer kleiner, die allokativen Verzerrungen ebenso. Die Pflichtsparquote ist im Zeitablauf variabel, um die prozentuale Gesamtbelastung des Arbeitseinkommens (Umlagebeitrag plus Pflichtersparnis) konstant zu halten. 3. Die Ersparnis soll unter individueller und staatlicher Kontrolle bei privaten Fonds vorgenommen werden. Eine kollektive Kapitalbildung ist auf alle Fälle zu vermeiden: „Politiker können ebensowenig Über-

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schüsse erwirtschaften, wie ein Hund einen Wurstvorrat anlegen kann" (J. A. Schumpeter). Alles in allem: Die demographischen Versäumnisse der Vergangenheit und der Gegenwart lassen sich nur durch verstärkte Investitionen in Real- und Humankapital ausgleichen. Damit läßt sich die Volkswirtschaft kräftigen und die demographischen Belastungen über die Zeit hinweg verteilen und damit verstetigen. Eine Verstetigung, bei der die Belastung nicht höher als heute ist und die Rentenformel 1999 respektiert wird, ist unmöglich. Eine zusätzliche Belastung ist somit unabdingbar. Damit bewahrheitet sich die These eines fehlenden „free lunch" oder anders ausgedrückt: „Man muß für alles bezahlen, früher oder später".

IV. Schlußbemerkungen Der Kapitalismus ist nicht in der Krise. Die weltweit stärker integrierten Güterund Faktormärkte haben nicht nur den Sozialismus zum Einsturz gebracht, sie legen auch schonungslos offen, wie weit in den marktwirtschaftlich orientierten Ländern die sozialistische Entwicklung schon fortgeschritten ist. Die Globalisierung tut allerdings mehr: Sie zwingt die politischen Entscheidungsträger, die überkommenen institutionellen Gegebenheiten den veränderten weltwirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Es ist allerdings nur die halbe Wahrheit, wenn behauptet wird, daß sich der Markt das wieder zurückhole, was man ihm in den letzten 200 Jahren abgetrotzt habe. Er setzt sich nur da gegen staatliche Lösungen durch, wo er komparativ im Vorteil ist. Das ist in nicht wenigen Bereichen der Fall. Sowohl auf den Arbeitsmärkten als auch im Bereich des Sozialen werden Markt und Wettbewerb an Boden gewinnen. Das ist für den Wohlstand aller gut. Die soziale Komponente geht dabei nicht verloren. Die für die Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung unabdingbare Solidarität mit den wirklich Bedürftigen kann auch in einem solchen wettbewerblicheren Umfeld geübt werden. Die umverteilungspolitischen Instrumente müssen sich allerdings stärker als bisher am Kriterium der Effizienz orientieren.

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Kapitalismus in der Krise?

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Nationaler öffentlicher Rundfunk im weltweiten Wettbewerb Von Martin Bullinger

L Nationaler öffentlicher 1 Rundfunk war in Europa zunächst das Normale. Neben ihm mußte privater Rundfunk seine Existenzberechtigung erweisen. Nunmehr entwickelt sich ein weltweiter Wettbewerb mit Rundfunkprogrammen und anderen audiovisuellen Gütern. Wie inmitten eines solchen globalen Marktes nationaler öffentlicher Rundfunk mit seiner Sonderstellung gerechtfertigt werden kann, fragt man sich nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch etwa in Großbritannien, Frankreich und auf der Ebene der EG. Zur Rechtfertigung können nur die besonderen Aufgaben des öffentlichen Rundfunks dienen. Sie genauer herauszuarbeiten und zu konkretisieren, wird deshalb zum verbreiteten Anliegen2. Dieses Anliegen wird umso dringlicher, je stärker öffentliche Rundfunkeinrichtungen unter dem Druck des Wettbewerbs ihre Programme erfolgreichen Programmrezepten privatwirtschaftlicher Veranstalter anpassen, um nicht ihr Publikum und mit ihm ihre Werbeeinnahmen weiter schwinden zu sehen. Zwar ist das Programm der öffentlichen Rundfunkeinrichtungen insgesamt nicht mit dem privater Veranstalter deckungsgleich3, doch ist damit nicht geklärt, ob das, was an Besonderheiten des öffentlichen Rundfunkangebots verbleibt, dem voll gerecht wird, was die Sonderstellung des nationalen öffentlichen Rundfunks legitimiert. Nach herkömmlichem Verständnis, nicht nur in der Bundesrepublik, ist es dem öffentlichen Rundfunk vor allem aufgetragen, den gesellschaftlichen Zusammen1 Es handelt sich um Rundfunkeinrichtungen, die dazu bestimmt sind, nach einem staatlichen Funktionsauftrag besondere öffentliche Aufgaben zu erfüllen. In der Bundesrepublik sind dies die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in Frankreich die privatrechtlich organisierten staatlichen Gesellschaften des „secteur public" (insb. FR 2 und 3) und in Großbritannien, dem eine durchgehende Trennung von Privatrecht und öffentlichem Recht ohnehin noch fremd ist, zwei Gesellschaften (BBC und Channel Four). Man kann daher auf europäischer Ebene nicht allgemein von einem „öffentlich-rechtlichen Rundfunk" sprechen, sondern verwendet besser den Ausdruck „öffentlicher Rundfunk", was dem englischen public broadcasting und dem französischen radio-télévision public entspricht. 2 Dazu und zum folgenden eingehend Martin Bullinger, Die Aufgaben des öffentlichen Rundfunks, Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1999. 3 Darauf hebt ein noch unveröffentlichtes Gutachten über die Sparten- und Zielgruppenprogramme im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, insbesondere im Hörfunk ab (1998).

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halt zu fördern (Integrationsfunktion), alle Stimmen der Gesellschaft zu Wort kommen zu lassen (Forumsfunktion), auch Sendungen von gesellschaftlichem Interesse zu bringen, die unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht angeboten würden (Komplementärfunktion), und darüber hinaus Qualitätsstandards zu setzen (Vorbildfunktion) 4. Davon war in der Bundesrepublik bisher neben der Forumsfunktion (Vielfaltpflege) die Integrationsfunktion als besonderes Kennzeichen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks herausgestellt worden 5. Nunmehr wird gerade sie geleugnet oder doch in Frage gestellt. Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk dürfe seine Vollprogramme in Spezialprogramme auffächern, die nur bestimmte Zielgruppen wie die Jugend ansprechen oder nur bestimmten Interessen wie etwa dem Sport gewidmet sind (Zielgruppen- und Spartenprogramme). Der Trend zur Fragmentierung und Individualisierung in der Gesellschaft müsse vom öffentlichrechtlichen Rundfunk berücksichtigt werden 6. Auch die Vörbildfunktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird nicht mehr durchweg betont7. Droht so das traditionelle Aufgabenethos des nationalen öffentlichen Rundfunks gegenüber dem wachsend globalen Wettbewerb abzubröckeln, muß es jedenfalls in der Bundesrepublik in geeigneter Weise abgestützt werden, und zwar aus verschiedenen Gründen: 1. Einmal gefährdet ein öffentlicher Rundfunk, der seine Aufgaben nicht mehr voll erfüllt, nach deutschem Recht die Legitimität des Rundfunks überhaupt, auch des privaten Rundfunks. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist werbefinanzierter privater Rundfunk, weil er das Angebot auf Sendungen mit hohen Einschaltquoten verengt, nur tragbar, solange der öffentlich-rechtliche Rundfunk das gesamte Spektrum der Meinungen und Interessen bedient und damit der verfassungsrechtlichen Pluralitätsgarantie gerecht wird, die man Art. 5 12 GG entnimmt. Dieses Dogma war unverkennbar dazu bestimmt, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gegen mögliche Privatisierungstendenzen in seinem Bestand zu schützen. Es droht nun den Rundfunk insgesamt verfassungsrechtlich in den Abgrund zu ziehen. Erfüllt nämlich der öffentlich-rechtliche Rundfunk unter dem Druck des Wettbewerbs ebenfalls nicht in voller Breite seinen „klassischen" Auftrag, verliert nicht nur er 4 Die Formulierungen sind weitgehend angelehnt an Klaus Mattem/Thomas Künstner / Markus Zirn (Booz, Allen & Hamilton) in: Fernsehen auf dem Prüfstand, Aufgaben des dualen Rundfunksystems, Internationale Studien im Rahmen der Kommunikationsordnung 2000, hrsg. von Ingrid Hamm, Verlag Bertelsmann Stiftung Gütersloh 1998, S. 14. 5 Stock setzt etwa dem Marktmodell das „Integrationsmodell" entgegen; vgl. ZUM 1986, 411 mit Anm. 3. S. ferner Ricker / Schiwy, Rundfunkverfassungsrecht, München 1997, F Rnr. 16a und 18 mit weiteren Hinweisen. 6 So das Gutachten über die Sparten- und Zielgruppenprogramme (oben Fn. 3), besonders deutlich die Zusammenfassung unter III, allerdings mit dem Vorschlag einer „Rekonstruktion" des Integrationsauftrags in einem anderen Verständnis (dazu unten mit Fn. 13). 7 Bemerkenswert aber Stolte, Monats Journal 1/1998 S. 3, der die Einschaltquoten durch Programme stabilisieren will, die „Qualität und Popularität verbinden".

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selbst seine verfassungsrechtliche Legitimation, sondern mit ihm auch der werbefinanzierte private Rundfunk, weil nunmehr beide in ihrem Programmangebot „defizitär" sind, ohne daß ein öffentlich-rechtliches Vollangebot den Ausgleich bildete. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, muß man auf die allgemeine Aussage der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zurückgehen, der Gesetzgeber sei verpflichtet, für den Rundfunk eine positive Ordnung zu schaffen, die volle Vielfalt gewährleiste8. Daraus folgt, daß der Gesetzgeber in erster Linie gehalten ist, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch im Wettbewerb effektiv bei seinen „klassischen" Aufgaben zu erhalten, damit Rundfunk insgesamt die erforderliche volle Vielfalt aufweist. Sache des Gesetzgebers ist es dabei, die „klassischen" Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks klar und kontrollfähig zu bestimmen und den technischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen ohne Substanzminderung anzupassen. 2. Zum zweiten verstärkt der wachsend globale, marktmäßige Wettbewerb das Interesse jedes Staates daran, einen Bereich des Rundfunks zu erhalten, in dem er noch dafür zu sorgen vermag, daß nationale und regionale Eigenart, Politik und Kultur in gesicherter voller Breite für die gesamte eigene Bevölkerung und nach außen qualitätvoll dargestellt werden, maßstabbildend für alle Anbieter. Dies kann auf Dauer gesichert nur mittels öffentlicher Rundfunkeinrichtungen erreicht werden, die durch Gesetz einen entsprechenden öffentlichen Auftrag erhalten und ganz oder ausschlaggebend aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Nationalen privaten Rundfunkveranstaltern einschneidende nationale Programmauflagen zu machen, wird sich voraussichtlich in dem Maße verbieten, in dem sie nicht mehr dank faktischer Oligopolstellung oder oder unter dem Schutz staatlicher Zulassungsbeschränkungen gesteigerte Gewinne erzielen und deshalb die Kosten hoher Programmlasten tragen können, sondern sich in einem harten Wettbewerb über alle Grenzen hinweg behaupten müssen. Ihre Fähigkeit dazu wäre gefährdet, wenn sie national wesentlich höher belastet würden als dies dem internationalen Normalniveau entspricht. Aus diesem Grund denkt etwa der Multimediabericht des zuständigen Ausschusses des britischen Unterhauses von 1998 daran, die bisher noch ausgeprägten öffentlichen Aufgaben privater Rundfunkveranstalter abzubauen und umso genauer und intensiver dem öffentlichen Rundfunk aufzuerlegen 9. 3. Zum dritten müssen die Aufgaben des voll oder überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanzierten öffentlichen Rundfunks im Rahmen eines globalen Wettbewerbs auch deshalb genauer umgrenzt und eingeschärft werden, damit die Voraussetzungen für einen fairen Wettbewerb mit privaten Anbietern hergestellt werden. Private Anbieter finanzieren sich, sieht man vom Pay TV zunächst ab, im wesentlichen aus Werbeeinnahmen. Müssen sie um das Publikum, dessen Zahl die s BVerfGE 57, 295, 320 ff. - FRAG-Urteil - v. 16. 6. 1981. Culture, Media and Sport Committee, Fourth Report „The multi-media revolution", vol. I, Report and proceedings of the Committee, London Stationary Office 520 -1. 9

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Höhe der Werbeeinnahmen bestimmt, mit Rundfunkeinrichtungen ringen, die ganz oder teilweise aus einschaltunabhängigen Pflichtgebühren finanziert werden, können sie darin einen unlauteren, da nur auf einer Seite subventionierten Wettbewerb sehen. Die öffentliche Finanzierung stellt aber keine rechtlich problematische Subventionierung dar, wenn sie die Belastung mit besonderen öffentlichen Aufgaben ausgleicht. Fehlt es daran, handelt es sich auch nach EG-Recht um eine unzulässige Beihilfe. Kompensierende öffentliche Aufgaben liegen nicht vor, wenn sie zwar verbal auferlegt sind, doch in so vagen Formulierungen, daß sie nicht genau identifiziert und in ihrer Anwendung kontrolliert werden können. Daran ändert auch der Amsterdamer Vertrag mit seiner Protokollerklärung über den öffentlichen Rundfunk 10 nichts. Er gibt keine Pauschalermächtigung zu öffentlicher Finanzierung des öffentlichen Rundfunks, sondern deckt sie nur insoweit, als dessen öffentliche Aufgaben „von den Mitgliedstraaten übertragen, festgelegt und ausgestaltet" sind. Dies setzt sinngemäß ein gewisses Maß an inhaltlicher Präzisierung voraus und läßt vage, der Kontrolle ihrer Anwendung nicht fähige Aufgabenformeln nicht ausreichen, zumal dadurch die Handels- und Wirtschaftsbedingungen in der Gemeinschaft ohne klare Notwendigkeit und damit unverhältnismäßig beschnitten würden 11 . 4. Schließlich darf in die öffentlichen Aufgaben des öffentlichen Rundfunks, wie sie sich aus Verfassung und Gesetz ergeben, nicht eine Gleitklausel hineingelesen werden, die von den Aufgaben dispensierte, soweit sie sich im Wettbewerb mit privaten Anbietern als nachteilig erweisen. Gewiß muß dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die „Wettbewerbsfähigkeit" mit dem privaten Rundfunk erhalten bleiben 12 . Dies bedeutet aber nicht, daß das Vermeiden von Wettbewerbsnachteilen für sich allein zum obersten Leitsatz des öffentlich-rechtlichen Rundfunk werden dürfte. Vielmehr soll die öffentliche Finanzierung den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gerade in die Lage versetzen, Nachteile auszugleichen, die ihm aus der Erfüllung seiner Aufgaben im Wettbewerb mit „kommerziellen" Anbietern erwachsen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muß also z. B. auch im publikumswirksamen Abendprogramm des Fernsehens einen angemessenen Anteil von Sendungen mit hohem kulturellem Niveau ausstrahlen, auch wenn dadurch die Einschaltquoten zurückgehen. Nutzt der private Rundfunk gesellschaftliche Tendenzen einer Fragmentierung und Individualisierung zu einem entsprechend aufgefächerten Angebot von Zielgruppen- und Spartenprogrammen oder Abrufdiensten, darf der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht um der bloßen Wettbewerbsfähigkeit 10 Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten, EGAB1. 1997 Nr. C 340, S. 109. 11 Dies kommt nicht zur Geltung in dem Gutachten über die Sparten- und Zielgruppenprogramme (oben Fn. 3), § 9. 12 BVerfGE 90, 60, 90 - Rundfunkfinanzierungsurteil - .

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willen derselben Aufsplitterung verfallen. Er muß vielmehr seine Integrationsaufgabe dagegensetzen, um im Rahmen des Möglichen den kulturellen und politischen Zusammenhalt zu bewahren, nicht anders als sonst die nationalen oder regionalen politischen und kulturellen Institutionen wie Parlamente, Schulen, Universitäten und Theater. Erfüllte etwa ein Staatstheater noch seine öffentliche Funktion kultureller Bildung und Integration der Bevölkerung, wenn es, einer gesellschaftlichen Tendenz zu Fragmentierung und Individualisierung folgend, sein „Großes Haus" in Videozellen für Einzelne und kleine Gruppen zum beliebigen Abruf audiovisueller Produkte verwandelte? 13 Alles in allem ist es ein wichtiges Anliegen von rechtlicher, auch verfassungsrechtlicher Relevanz, die besonderen Aufgaben des öffentlichen Rundfunks stärker als bisher herauszuarbeiten und so festzulegen, daß sie diesen Rundfunk auch unter den Bedingungen eines zunehmend marktmäßigen Wettbewerbs mit audiovisuellen Gütern davon abhalten, sich den privatwirtschaftlichen Angeboten anzugleichen.

II. Die Frage ist aber, wie dies geschehen soll. Zur Auswahl stehen im wesentlichen zwei Methoden: die herkömmliche französische Methode hoheitlicher Präzisierung der öffentlichen Aufgaben des öffentlichen Rundfunks und die britische Methode einer abgestuften Präzisierung, die umso mehr Raum für eine autonome Konkretisierung durch die öffentlichen Rundfunkeinrichtungen läßt, je stärker strukturelle Sicherungen selbsttätig einem Abgleiten in rein marktmäßigen Wettbewerb entgegenwirken. Die autonome Konkretisierung soll gleichzeitig die öffentliche Einrichtung für ihre öffentlichen Aufgaben mobilisieren. Frankreich bewegt sich teilweise in Richtung auf die britische Methode: 1. Für den französischen öffentlichen Rundfunk werden bisher die öffentlichen Aufgaben durch Gesetze, Regierungsdekrete und behördliche Auflagen mit einer Genauigkeit konkretisiert und präzisiert, die den deutschen Gesetzen und Staatsverträgen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk so gut wie unbekannt ist 14 . So ist etwa für das öffentliche Hauptfernsehprogramm FR 2 die Zahl der Stunden festgelegt, die jährlich der Wiedergabe von Opern und öffentlichen Konzerten zu widmen sind. 13

Es nützte auch wenig, den Übergang von einer zur anderen Zelle zu erleichtern und damit das Ganze durch Übergänge zu „vernetzen", wie es für den Rundfunk als Integration neuer Art vorgeschlagen wird (Gutachten oben Fn. 3, Zusammenfassung III und § 7 II; diese neuartige Integration müsse durch Wissenschaft, Rechtsprechung und Gesetzgebung näher konkretisiert werden). 14 Dagegen finden sich für die obligatorischen „Fensterprogramme" marktstarker privater Fernsehprogramme in § 31 i.V.m. 26 des Rundfunkstaatsvertrages 1996 präzise Zeitangaben (wöchentlich mindestens 260 Minuten, davon 75 Minuten zwischen 19 und 23 Uhr).

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An dieser detailgenauen hoheitlichen Präzisierung der Aufgaben wird in Frankreich selbst zunehmend Kritik geübt. Sie gipfelt in dem unveröffentlichten Bericht, den der Conseiller d'Etat Jean-Louis Missika auf Bitte der Kultusministerin Frau Trautmann Ende 1997 erstattet hat. Er zeigt auf, wie die Auflagen, die in verwirrender und nicht durchweg koordinierter Fülle existieren, systematisch umgangen werden. So wird das „Opernkontingent" geballt an wenigen Sommertagen abgearbeitet, während die Bevölkerung sich am Strande vergnügt und wenig fernsieht, so daß die Einschaltquoten eines Fernsehprogramms ohnehin niedrig sind. Deshalb empfiehlt Missika, die Programmbindungen nur noch rahmenweise von oben festzulegen und es im übrigen der Eigeninitiative der öffentlichen Rundfunkeinrichtungen zu überlassen, Programmbindungen vorzuschlagen, über die dann etwa mit der unabhängigen Aufsichtsbehörde Conseil Supérieur de 1'Audiovisuel (CSA) eine Einigung herzustellen sei. Vieles spricht dafür, daß diese Empfehlungen zumindest teilweise auf die bevorstehende Rundfunkreform durchschlagen 15. Eine größere Autonomie für die öffentlichen Programmgesellschaften bei der Konkretisierung ihrer öffentlichen Aufgaben setzt aber nach den Ausführungen von Missika und nach Auffassung der Regierung voraus, daß die strukturell aufgabengefährdende Abhängigkeit dieser Gesellschaften von Werbeeinnahmen stark abgebaut wird 1 6 . 2. In Großbritannien wird es der werbefreien, weitgehend aus Gebühren finanzierten BBC aufgetragen, ihre Aufgaben autonom zu konkretisieren, und zwar der Öffentlichkeit gegenüber. Dagegen soll das voll werbefinanzierte öffentliche Fernsehprogramm Channel 4 mit einem Geflecht von finanziellen Vorkehrungen und detaillierten Programmbindungen unter intensiver Aufsicht davon abgehalten werden, Erwägungen marktwirtschaftlichen Wettbewerbs über die öffentlichen Aufgaben zu stellen: Die BBC, rechtlich gegenüber der Regierung weisungsgebunden, faktisch aber in hohem Maße unabhängig, ist nach der erneuerten Royal Charter von 1995 gehalten, jährlich gegenüber der Öffentlichkeit zu erklären, wie sie in effizienter Ausführung der sehr allgemein formulierten öffentlichen Aufgaben dem gebührenzahlenden Bürger mehr und anderes bieten werde als werbefinanzierte private Veranstalter (value for money). Dieses Versprechen ist zunächst vom Aufsichtsrat (Board of Governors) zu begutachten, dann der Regierung wie dem Parlament vorzulegen und auch in der Öffentlichkeit zu vertreten, etwa in Versammlungen mit den Bürgern zu erörtern. Nach einem Jahr ist erneut zu berichten, wie weit die Versprechungen erfüllt sind und was an weiteren Verbesserungen übernommen wird. Obwohl der Elan mittlerweile etwa nachgelassen hat, stimmen Persönlichkeiten 15 Der Regierungsentwurf eines Gesetzes über die Neuordnung des öffentlichen Rundfunks ist in die Nationalversammlung eingebracht (registriert am 10. 11. 1998, Nr. 1187), aber zunächst stillgelegt worden, um weitere Klärungen vorzunehmen und die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierungskoalition auszuräumen; vgl. Le Monde v. 4. 12. 1998, S. 1,7, 19. 16 Der Gesetzentwurf sieht vor, die Höchstdauer der Werbung je Sendestunde von 12 auf 5 Minuten herabzusetzen.

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von Rang innerhalb und außerhalb der BBC, auch aus dem Kreise ihrer Konkurrenten, darin überein, daß die jährlichen Versprechungen die BBC dazu beitragen bei ihren öffentlichen Aufgaben zu halten und einem rein marktmäßigen Wettbewerb mit privaten Anbietern unter Übernahme ihrer Programmrezepte entgegenzuwirken. Nach allgemeiner Auffassung ist die BBC nicht zuletzt deshalb in der Lage, ihre besonderen Aufgaben selbst zu konkretisieren und damit auch bei Konkurrenten Vertrauen zu erwecken, weil sie nicht von Werbeeinnahmen abhängt. Denn so ist sie nicht strukturell in die ständige Gefahr gebracht, für alle Sendungen primär auf die Einschaltquoten zu achten, statt ihren Aufgaben entsprechend für alle, auch für Interessenminderheiten, etwas zu bieten und sich so vom Angebot werbefinanzierter privater Veranstalter abzuheben. Da diese Voraussetzung bei der rein werbefinanzierten staatlichen Programmgesellschaft Channel 4 fehlt, vertraut man hier nicht auf eine autonome Konkretisierung ihrer gesetzlichen Aufgaben. Sie ist mit dichten hoheitlichen Programmauflagen versehen und wird intensiv von der unabhängigen Independent Television Commission (ITC) beaufsichtigt, die zugleich die staatlichen Anteile an Channel 4 hält. Außerdem soll eine allzu starke programmwirksame Abhängigkeit von Werbeeinnahmen dadurch vermieden werden, daß ein finanzierungsgefährdender Rückgang der Werbeerträge aus einem Gesamtfonds des werbetreibenden Rundfunks ausgeglichen wird. Ob diese Präzisierungen und Sicherungen aufgabengerechter Programmgestaltung sich auch als hinreichend wirksam erweisen, wenn globaler Wettbewerb die bisher gesicherte Oligopolstellung weniger Anbieter in Großbritannien in Frage stellt, läßt sich noch nicht übersehen. Jedenfalls hält für diese kommende marktwirtschaftliche Phase des Rundfunks der zuständige Ausschuß des Unterhauses schärfere hoheitliche Programmbindungen des öffentlichen Rundfunks für erforderlich 17. Dies verspräche aber für den ohnehin stark reglementierten Channel 4 wenig und könnte für die BBC nicht unbedingt als notwendig und angemessen erscheinen. Die zurückhaltende Reaktion der Regierung 18 läßt die Bedenken deutlich werden. 3. Für die Bundesrepublik könnte die Befugnis und Verpflichtung der BBC, ihre besonderen Aufgaben jährlich der Öffentlichkeit gegenüber zu konkretisieren, als besonders nachahmenswert erscheinen. Denn sie würde die Programmautonomie der Anstalten schonen. Zum anderen könnte sie dazu beitragen, daß die Anstalten sichtbar etwas Besonderes bieten, so daß die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln als Gegenleistung für die Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben und nicht als unzulässige Subventionierung erscheint. Als wesentlicher Stützpfeiler der Aufgaben-Autonomie der BBC wird aber, wie gezeigt, ihre Unabhängigkeit von Werbeeinnahmen angesehen. Will man also in i7 S. o. Fn. 9. iß Vom Juli 1998, Cm. 4020.

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der Bundesrepublik den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit derselben Autonomie der Aufgabenkonkretisierung versehen wie die BBC, wird man überlegen müssen, wie die Finanzierung so umgestaltet werden kann, daß kein schwer überwindlicher Anreiz besteht, primär auf hohe Einschaltquoten zu achten. Wirtschaftswerbung wäre also, soweit sie beibehalten wird, in ihrer Auswirkung auf das Programm so weit wie möglich zu neutralisieren, wie das für Channel 4 in Großbritannien versucht wird 19 . Der Anteil der Werbeeinnahmen am Gesamtaufkommen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hat ohnehin beträchtlich abgenommen20, und die unabhängige Kommission zur Ermittlung ihres Finanzbedarfs (KEF) zieht den voraussichtlichen Werbeertrag jeweils vom Finanzbedarf ab, der durch Gebühren gedeckt wird. Ein Wegfall der Werbung führte für die Anstalten also nur zu einer Umschichtung und möglicherweise sogar zu einer Stabilisierung der Einnahmen. Das gängige Argument, Werbefinanzierung bedeute für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine größere Unabhängigkeit als bei voller Abhängigkeit von Gebühren, ist angesichts des nunmehr maßgeblichen Einflusses der unabhängigen KEF nicht mehr unbedingt zwingend und geeignet, das BVerfG weiter zu überzeugen 21. Kann man sich nicht zu einer Übernahme des BBC-Modells voll eigener Programmkonkretisierung bei fehlender Abhängigkeit von werbewirksamen hohen Einschaltquoten entschließen, wird es darauf ankommen, in Anlehnung an die neueren französischen Überlegungen die unmittelbar geltenden gesetzlichen Programmbindungen so weit zu verschärfen, wie dies unvermeidlich ist, um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bei seinen besonderen Aufgaben zu erhalten. Für die möglichst weitgehende autonome Ausfüllung des gesetzlichen Rahmens durch den Anstalten wird es rechtlicher Vorkehrungen bedürfen, die auch die legitimen Interessen der Gebührenzahler, der Konkurrenten und der Allgemeinheit zur Geltung bringen. III. Die Frage nach der Rolle des öffentlichen Rundfunks im globalen Wettbewerb mit audiovisuellen Gütern ist bisher vereinfacht im Blick auf die Konkurrenz zwischen gebührenfinanzierten und werbefinanzierten Rundfunkprogrammen gestellt 19 S. o. II. und Hearst, Media Perspektiven 1991 S. 170, 171. 20

Zwischen 1990 und 1995 von 1,5 Milliarden auf ca. 650 Millionen pro Jahr (Media Perspektiven, Badisdaten, Daten zur Mediensituation in Deutschland 1997, S. 11. Der Zuschaueranteil sank im gleichen Zeitraum von 70 auf 39%. 21 Noch im Rundfunkgebührenurteil gibt sich das BVerfG mit dem Unabhängigkeitsargument zufrieden, also vor der verstärkten Unabhängigkeit der Ermittlung des Finanzbedarfs für die Gebührenfestsetzung (BVerfGE 90, 60, 91), weist aber warnend darauf hin, die Werbeeinnahmen dürften „wegen der mit ihnen verbundenen programm- und vielfaltverengenden Tendenzen" die Gebührenfinanzierung nicht in den Hintergrund drängen. Das Gericht geht offenbar davon aus, daß auf keinen Fall das Programmangebot vorrangig dem Maßstab der Einschaltquoten unterworfen werden darf; in diesem Sinne etwa auch Kühler, NJW 1987, 2961, 2964.

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worden. Digitalisierung und Kompression der Übertragung, Satelliten und Glasfaserkabel schaffen aber vervielfachte Übertragungsmöglichkeiten auch für vielfältige Rundfunkdienste gegen Abonnement oder Einzelentgelt je Sendung und für nicht rundfunkmäßige Multimediadienste, etwa den fast zeitgleichen Abruf von audiovisuellen Gütern aus Datenspeichern22. Wie weit und nach welchen Regeln der öffentliche Rundfunk an diesem verbreiterten „Markt" teilnehmen darf, ist noch nicht voll geklärt. Einige Gesichtspunkte drängen sich jetzt schon auf: - Eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt erfüllte nicht mehr ihre öffentlichen Aufgaben, wenn sie ihr Hauptprogramm nunmehr ganz auf ein Mehrheitspublikum abstellte23, Sendungen für Minderheiten in Sonderprogramme auslagerte und für sie gar noch ein besonderes Entgelt verlangte. Denn die Integrationsund die Forumsfunktion wären damit nicht mehr gewahrt. - Gebühreneinnahmen sind für diejenigen Programme bestimmt, die dem „klassischen" Rundfunkauftrag entsprechen, nicht für einen marktmäßigen Vertrieb audiovisueller Güter. Dieser muß daher, wie es die BBC versucht, von der Haupttätigkeit getrennt und so finanziert werden, daß eine Quersubventionierung aus dem Gebührenaufkommen vermieden bleibt. - Auch bei Nutzung neuer Verbreitungsformen dürfte der öffentliche Rundfunk sich nicht rein marktmäßig verhalten, sondern müßte seinen besonderen öffentlichen Auftrag, dem er seine Existenz verdankt, in einer Form wahrnehmen, die den veränderten Gegebenheiten entspricht. Angesichts der raschen Entwicklung neuer Angebotsformen im globalen Wettbewerb wird es sich empfehlen, mit der rechtlichen Ordnung flexibel zu bleiben, auch für den nationalen öffentlichen Rundfunk.

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Dazu näher Bullinger / Mestmäcker, Multimediadienste, Baden-Baden 1997. In der Badischen Zeitung v. 3. 12. 1998 (S. 17) wurde - sicher zugespitzt - berichtet, bei der ARD habe sich die „Überzeugung durchgesetzt, ein klares Programm für Zuschauermehrheiten anzubieten". 23

V I . Verwaltung

Von der Verwaltungsverträglichkeit der Rechtsdogmatik Von Bernhard Raschauer

„Erster und wichtigster Ausdruck der Rechtsstaatlichkeit ist die Legalität im engeren Sinne, die Bindung der Verwaltung an das Gesetz. Der Verwaltung wird damit der Wille des Gesetzgebers vorgegeben, darin bewährt sich die Gewaltenteilung ... Eine wichtige moderne Form der Verdeutlichung der Staatsmacht und damit der Sichtbarwerdung des Staates selbst ist der rechtsstaatliche Grundsatz der Bestimmtheit staatlichen Handelns".1 Der „Staat des offenen Visiers", den Walter Leisner mit diesen Worten einmahnt, sieht die öffentliche Verwaltung als Exekutor und nicht als primären Schöpfer des „Staatswillens". Unüberschaubar ist jedoch mittlerweile jenes Schrifttum, das den Grenzen dieses Grundkonzepts gewidmet ist. Selbst der denkbar umfassend formulierte Gesetzmäßigkeitsgrundsatz des Art 18 Abs 1 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes 2 bildet nach allgemeiner Auffassung keinen „Totalvorbehält". 3 Vielmehr stehen heute Diskussionen um Gesetzesvorbehalte und Parlamentsvorbehalte, um Varianten des „Wesentlichen"4 oder um indirekte Formen der „Steuerung" 5 der Verwaltung im Vordergrund. Nur zum Teil geht es um das Fehlen von parlamentarischen bzw gesetzlichen Grundlagen, vielmehr ist aus der Perspektive der Verwaltung unverändert auch Frido Wageners Befund von der „Not der Selbstbestimmung durch Regelungsüberlastung" gültig: „Die ,genaue Beachtung und strikte Anwendung' aller Gesetze und Verordnungen, Richtlinien und Erlasse, Pläne und Programme durch den öffentlichen Dienst würde inzwischen auf nahezu jedem Verwaltungsgebiet die Tätigkeit der Verwaltung zum Stillstand kommen lassen".6 Politik sucht ihr Heil in legislatorischem Aktionismus als Antwort auf tagespolitische Aktualitäten. Dies 1

Walter Leisner, Der unsichtbare Staat, 1994,44. „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden". 3 Begriff nach Jesch, Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl, 1968, 34, 188.

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Vgl Nierhaus FS Stern, 1997, 717. Vgl auch Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, 157 ff.; Fischer, Die Auswirkungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Dogmatik des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1997, 48 ff. 5 Vgl zuletzt Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht (Fn 4) 18 ff. und Raschauer in Raschauer (Hg.), Grundriß des österreichischen Wirtschaftsrechts, 1998, Rz 100 f. mwN. 6 Wagener, VVDStRL 37,215,244. Vgl. zur „Beamtenüberforderung durch Legalitätsübersteigerung" auch Leisner in Isensee (Hg), Beamtentum, 1995,192 ff., zu den Grenzen der „Beachtung allen Rechts in jedem Einzelfall" Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht (Fn 4) 47.

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wiederum führt dazu, daß es in immer größeren Rechtsbereichen keine „aktuelle" Judikatur gibt, da neue höchstgerichtliche Entscheidungen immer häufiger Rechtsvorschriften betreffen, die mittlerweile wieder novelliert wurden. Daß die öffentliche Verwaltung in weiterer Folge nur jene Rechtsunsicherheit weitgeben kann, mit der sie selbst konfrontiert ist, liegt auf der Hand. Von der Fülle der heute die Gesetzesbindung der Verwaltung überlagernden und damit relativierenden 7 Determinanten sollen hier nur zwei Aspekte näher beleuchtet werden, die man in Anlehnung an Walter Leisner als die Einwirkung des „unsichtbaren Rechts" auf die öffentliche Verwaltung bezeichnen könnte: die verfassungskonforme Interpretation und - aus dem Blickwinkel eines Neumitgliedes, das jahrezehntelange Entwicklungen im Zeitraffer aufnimmt - die spezifische Wirkungsweise des Europäischen Gemeinschaftsrechts. In gefestigten Verfassungssystemen können sich Interpretationen und richterrechtliche Rechtsschöpfungen entwickeln, die zu Gesetzestexte transzendierenden rechtlichen Bindungen führen, Bindungen, die kraft verbreiteter Anerkennung selbsttragend werden und in weiterer Folge zur Grundlage für weitere dogmatische „Ableitungen" werden können. Beispielsweise liegt es in der Logik von Freiheitsrechten, daß Eingriffsakte nur im Rahmen des im öffentlichen Interesse Erforderlichen zulässig sind. Die „Verhältnismäßigkeit" tritt damit als ein verfassungsrechtlich vorgegebenes Prinzip zu den zu Rechtseingriffen ermächtigenden Gesetzestexten hinzu. Auf ähnliche Weise lassen sich Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Waffengleichheit im Verfahren, von Treu und Glauben uvam als verfassungsrechtlich vorgegebene Prinzipien entwickeln. Sie treten sodann in der Form von „verfassungskonformen Interpretationen" zum primären Gesetzestext hinzu, was mitunter so weit geht, daß man sich als Leser fragt, ob sich nicht letztlich ohnehin alles in einer das Gesetz erübrigenden Weise aus der Verfassung ergibt. Dennoch verdienen derartige Ableitungen Beachtung, konkretisieren sie doch allgemeine Grundsätze der Freiheitssicherung und der Fairness, deren Gültigkeit jedem billig und gerecht Denkenden einleuchten. Bedenklicherweise werden die eigentlichen Adressaten solcher „verfassungskonformen Interpretationen" aus der Würdigung ausgeblendet. Das sind eben nicht nur die (begünstigten) Bürger, sondern auch die mit der RechtsanWendung betrauten Organe. Soweit diese - wie dies im Regelfall auf die nicht bloß subsumierende öffentliche Verwaltung zutrifft - dabei öffentliche Interessen wahrzunehmen haben, können verfassungskonforme Interpretationen zu Lasten dieser öffentlichen Interessen und damit mittelbar zu Lasten der dahinterstehenden Interessen der Allgemeinheit wirken. 8 Gesetzestexte überspielenden verfassungskonformen Inter7 Schock JZ 1995, 109, 111; Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht (Fn 4) 45, 161; Raschauer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1998 Rz 627 ff. 8 Die deregulierten Bauordnungen haben zu der Frage Anlaß gegeben, wie die unverändert aufgegebenen öffentlichen Interessen noch durchgesetzt werden können: Moritz in Rebhahn (Hg), Rechtsfragen des Bauens in Kärnten, 1997, 23.

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pretationen ist es zumeist eigen, daß sie vornehmlich zugunsten des Einzelnen wirken, so als würde die Verfassung nur aus den Grundrechten bestehen. Der Gedanke, daß es dann auch eine verfassungskonforme Interpretation zugunsten des öffentlichen Interesses und zu Lasten des Einzelnen geben müßte, ist nicht eben verbreitet. Vor allem das Polizeirecht läuft wie auf einer schiefen Ebene, so als wäre die Polizei wie in einer Diktatur der Feind des Bürgers und nicht eine gemeinsame Einrichtung zur Wahrung der Sicherheit der Allgemeinheit. Diese bedenkliche Asymmetrie wirkt zu Lasten der gleichfalls verfassungsrechtlich vorgezeichneten öffentlichen Interessen. Vor allem aber, und nur dieser Aspekt soll hier beleuchtet werden, implizieren zunehmende verfassungskonforme Interpretationen 9 scheinbar eine „neue Freiheit" der Verwaltung, wird es ihr - als Teil der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" - doch anheimgestellt, sich unter Berufung auf eine verfassungskonforme Interpretation von einem an sie adressierten Gesetzesbefehl zu dispensieren. Jedenfalls führt die verfassungskonforme „Klärung" häufig zu einem Mehr an Unklarheit für andere 10 Fallkonstellationen. Die erweiterte „Freiheit" der Verwaltung kann nicht mehr bewältigbare Aspekte der Verantwortlichkeit dieser Verwaltung mit sich bringen. In VfSlg. 11567/1987 war der österreichische Verfassungsgerichtshof mit der Bestrafung einer übenden Konzertpianistin wegen ungebührlicher störender Lärmerregung konfrontiert. Er behob das Straferkenntnis, da es die Verwaltung unterlassen hatte, das Grundrecht der Freiheit der Kunst „abwägend zu berücksichtigen". Aus der Sicht der Konzertpianistin muß man über diese Deutung erfreut sein, aus der Sicht der belästigten Nachbarn wohl nicht. Wie aber soll die Verwaltung die öffentliche Aufgabe der Lärmbekämpfung künftig wahrnehmen? Wie „berücksichtigt" man das Grundrecht der Freiheit der Kunst in administrativen Strafverfahren? Als Rechtfertigungsgrund, als Entschuldigungsgrund oder nur „über den Daumen"? Soll der Beamte einem Künstler ein paar Stunden mehr Lärm pro Woche zugestehen als einem „normalen" Bürger? In VfSlg. 10737/1985 findet sich der Hinweis: „Bei weniger eingriffsnahen Gesetzen kann es durchaus hinreichen, das Gesetz der MRK entsprechend auszulegen oder auch die den materiellen Gesetzesvorbehalt umschreibende Konventionsbestimmung als innerstaatlich unmittelbar anwendbares (zusätzlich zum Gesetz geltendes) Recht anzuwenden". Damit sollen also - eindeutig an die Gesetzgebung (by law; par la loi) adressierte - Bestimmungen von der Art der Abs 2 der Art 8 bis 11 EMRK dann von der Verwaltung unmittelbar angewendet werden, wenn der Gesetzgeber von der allein ihm eröffneten Einschränkungsmöglichkeit gar nicht Gebrauch gemacht hat. 11 9 Vgl zu Deutschland zB die Hinweise bei Fischer (Fn 4) 169 f. Zur österreichischen Judikatur krit zB Wiederin EuGRZ 1987, 137; Öhlinger, Verfassungsrecht, 3. Aufl, 1997, 37. !0 Angesichts der bloß kassatorischen Funktion der österreichischen Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts wird oft nicht einmal für den anhängigen Fall Klarheit geschaffen.

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In VfSlg. 12501 /1990 betonte der Gerichtshof, daß dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit auch eine Pflicht zum Schutz ordnungsgemäß angemeldeter Versammlungen immanent ist. Im konkreten Fall erachtete er die zwangsweise Abnahme von Transparenten der Gegendemonstranten als nach den Umständen verhältnismäßig und im Ergebnis rechtmäßig. Das Problem bestand jedoch darin, daß das österreichische Verwaltungsrecht (damals) keine darauf bezogene Eingriffsermächtigung bereithielt. Also entnahm der Gerichtshof kurzerhand in verfassungskonformer Interpretation einem bloßen Verwaltungsstraftatbestand die Ermächtigung „zu polizeilichem Einschreiten, das dem Schutz der Versammlung dient". 12 Im Hinblick auf den „Vertrauensschutz" war der österreichische Verfassungsgerichtshof in VfSlg. 13896/1994 mit dem Fall eines auf eine bestimmte Zeit in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis aufgenommenen Soldaten (Zeitsoldaten) konfrontiert, der vorzeitig sein Ausscheiden aus dem Dienst erklärt hatte (um bei einer anderen Dienststelle die Stelle eines Vertragsbediensteten anzunehmen). Wenige Tage nach seiner Austrittserklärung wurde eine Gesetzesnovelle kundgemacht, welche vorzeitig Austretende zur Entrichtung eines Erstattungsbetrages verpflichtete. Die Novelle wurde ab dem Ablauf ihrer Kundmachung ohne eine einschränkende Übergangsbestimmung wirksam. Dementsprechend wurde dem Austretenden in gesetzmäßiger Weise der Erstattungsbetrag vorgeschrieben. Der Gerichtshof behob den Bescheid als verfassungswidrig. Auch das österreichische Recht kennt Regeln über die Zulässigkeit von Rückwirkungen, über Vertrauensschutz und Übergangsgerechtigkeit. 13 In diesem Licht scheint ein übergangsloser und nicht vorhersehbarer Eingriff von erheblichem Gewicht in eine Position schützenswerten Vertrauens bedenklich. Gesetze werden aus solchen Gründen als verfassungswidrig aufgehoben. Das Überraschende der Entscheidung besteht nun darin, daß nicht eine ohne Differenzierung und Übergangsregelung in Kraft getretene gesetzliche Bestimmung als verfassungswidrig aufgehoben - und damit die Verantwortung des Gesetzgebers eingemahnt - wurde. Vielmehr wurde der Verwaltungsbehörde vorgehalten, sie hätte im Wege verfassungskonformer Interpretation beamtenrechtliche Bestimmungen über die Grenzen der Rückforderbarkeit zu viel ausbezahlter, im guten Glauben empfangener Beträge analog anwenden müssen. Mag das Ergebnis auch dem subjektiven Gerechtigkeitsgefühl entsprechen - wobei gewiß der Umstand eine Rolle spielt, daß es ohnehin „nur" um den nebulosen und als virtuell unbegrenzt empfundenen Fundus „öffentlicher Mittel" geht so drängen sich doch Zweifel auf, wenn man sich der Frage zuwendet, inwiefern aus der Entscheidung verallgemeinerbare Lehren zu ziehen sind. Soll Krit Raschauer ZfV 1988, 30. Vgl auch Berka FS Walter, 1991, 37. 12 Krit U. Davy JAP 1990/91, 197; vgl. auch Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 1997, 303; Raschauer, Verwaltungsrecht (Fn 7) Rz 649. Vgl für das deutsche Recht auch Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht (Fn 4) 60, 68. 13 Vgl Raschauer, Verwaltungsrecht (Fn 7) Rz 688 ff.

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jeder Beamte im Einzelfall nachzudenken beginnen, ob Aspekte der individuellen Gerechtigkeit ihn dazu motivieren sollten, den als anwendbar erkannten Gesetzestext beiseitezuschieben und solange im Umfeld zu suchen, bis er eine nicht anwendbare Bestimmung gefunden hat, die bei analoger Anwendung zum „richtigen" Ergebnis führt? Oder ist etwa doch der Gesetzgeber der eigentliche Adressat der Regeln der Übergangsgerechtigkeit? Frido Wagener hat sein Referat vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer mit der von ihm als „schockierend" bezeichneten These eingeleitet: „Der öffentliche Dienst in der Bundesrepublik Deutschland ist im Vergleich zum Ausland gut". Ich will nicht zum Ausland (einschließlich der Bundesrepublik Deutschland) Stellung nehmen, möchte aber im übrigen das Gleiche auch für den öffentlichen Dienst in Österreich behaupten. Nur weil er so gut ist, vermag er die permanenten Normkollisionen durch die Überlagerung der Gesetzestexte durch Gelehrten- und Richterrecht mit einem gewissen Instinkt für das praktisch Sinnvolle aufzufangen und dennoch tagtäglich die aufgetragenen öffentlichen Aufgaben zu erfüllen, ohne nach Art einer Normlogik in ein non liquet zu resignieren. Daß solche pragmatische Vorgangsweisen dann hinter rechtsdogmatisch-ästhetischen Idealen zurückbleiben, soll nicht verwundern. Die nationale Verwaltung kann aber nicht nur nationale Rechtsquellen und Rechtsgrundsätze anzuwenden haben, sondern auch gemeinschaftsrechtliche. In diesem Zusammenhang stellen sich für die Verwaltung Probleme recht unterschiedlicher Art. 1 4 Dabei soll der bekannte „Klassiker" der sog richtlinienkonforme Interpretation 15 hier nicht aufgegriffen werden, da er strukturell gleichartige Fragen wie der vorstehend angesprochene topos der verfassungskonformen Interpretation aufwirft. An erster Stelle seien EG-VO im Sinn von Art 189 Abs 2 EGV genannt. Grundsätzlich ist mit ihnen kein besonderes Problem verbunden, das nicht auch aus Konstellationen mittelbarer Verwaltung in Bundesstaaten geläufig wäre. Im Detail ergeben sich freilich Schwierigkeiten daraus, daß EG-VO aus der Sicht der Rechtsanwendung praktisch nie „gebrauchsfertig" sind, was schon dadurch begründet ist, daß sie „in jedem Mitgliedstaat" in gleicher Weise „unmittelbar" gelten. Daher sind nationale „Begleitgesetze" erforderlich, welche etwa die Behördenzuständigkeit, das maßgebliche Verfahren und die erforderlichen Sanktionen regeln. Als Faustregel gilt: Jede EG-Verordnung zieht wenigstens ein Begleitgesetz nach sich, was zur völligen Preisgabe des Kodifikationsgedankens 14 Isensee FS Stern 1997, 1239 hat auf unüberbietbare Weise deutlich gemacht, daß die konkurrierenden Geltungsansprüche des nationalen Rechts und des Gemeinschaftsrechts in ein „rechtslogisches Dilemma" (1261) münden, dessen Auflösung „Sache der Macht" (1265) ist. Die Konflikte erinnern sehr an die frühmittelalterlichen Auseinandersetzungen zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt um die „Zwei-Schwerter-Lehre". 15 Vgl aus österreichischer Sicht Rüffler ÖJZ 1997, 121; Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht, 1998, 80 ff. Weiters Ress DÖV 1994, 489; Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, 89 ff.; König DVB1. 1997, 581. Mit beachtlichen Argumenten krit bereits di Fabio NJW 1990, 947.

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führt, da sich in keinem Text die „gesamte" Regelung findet. 16 Neue EG-VO treffen zudem zumeist nicht auf ein bisher regulativ ausgespartes „weißes Feld". Wenn es sich nicht gerade um eine Materie exklusiver Gemeinschaftszuständigkeit handelt, legt sich die EG-VO oft quer über bestehende und weiterhin verbindliche nationale Gesetze. Im Arzneimittelrecht unterliegen bestimmte Arzneimittel einem durch EG-VO geregelten gemeinschaftlichen, andere Mittel einem gemischten („dezentralen") Zulassungssystem, die übrigen Arzneimittel bleiben in RL-gebundener nationaler Zulassungshoheit.17 So weit, so noch vollziehbar. Schlimm aber wird es, wenn der Teilaspekt der Änderung von Zulassungselementen verschiedener Art zum Gegenstand von zu dieser Dreiteilung quer liegenden EG-VO 18 wird. Man fühlt sich unwillkürlich an ärgerliche Ausbrüche des österreichischen Verfassungsgerichtshofs 19 erinnert und gewinnt Verständnis, wenn solches Gemeinschaftsrecht in der Rücksichtslosigkeit seines Geltungsanspruchs sogar schon mit „Besatzungsrecht" 20 verglichen wurde. Ebenso ärgerlich ist es, wenn in einer umsetzungsbedürftigen EG-RL eine nichtumsetzbare EG-VO zum Bestandteil der Richtlinie erklärt wird, wie dies hinsichtlich der Fristberechnung in den VergabeRL erfolgt ist. 21 Der österreichische Gesetzgeber hat sich im Interesse der Lesbarkeit des Gesetzestextes über das Umsetzungsverbot hinweggesetzt und die Fristberechnung autonom geregelt. 22 Aus der Sicht der nationalen Rechtsanwendung ist das EG-Verordnungsrecht - anders als das „fremde Recht" in Fällen mittelbarer Verwaltung im Bundesstaat zumeist nicht in einer mit dem nationalen Gesetzeswerk homogenen Weise konzipiert. Beispielsweise leidet die erwähnte EMAS-VO darunter, daß die zentrale Frage von Umfang und Intensität der Umweltrechtskontrolle nur angedeutet, aber nicht geregelt wird. Mathias Schmidt-Preuß ringt um eine vermittelnde Deutung: „Die richtige Lösung liegt in der Mitte. Eine Reduzierung der Tätigkeit des Umweltgutachters auf eine bloße Systemprüfung würde ihn auch dann zur Validierung verpflichten, wenn er begründeten Anlaß zur Annahme eines Rechtsverstoßes hat. 16 Vgl etwa die EMAS-VO 1836/93/EG im Verein mit dem Umweltauditgesetz dBGBl. 1995 I, S 1591 bzw mit dem Umweltgutachter- und Standorteverzeichnisgesetz öBGBl. 622/ 1995. 17 EG-VO 2309/93 einerseits und EG-RL 65/65, 87/22 ua andererseits. 18 EG-VO 541 und 542/95 sowie EG-VO 2141/96. 19

„Eine Vorschrift, zu deren Sinnermittlung subtile verfassungsrechtliche Kenntnisse, qualifizierte juristische Befähigung und Erfahrung und geradezu archivarischer Fleiß von Nöten sind, ist keine verbindliche Norm" (VfSlg. 3130/1956); eine Vorschrift, deren Sinn nur „mit subtiler Sachkenntnis, außerordentlichen methodischen Fähigkeiten und einer gewissen Lust am Lösen von Denksport-Aufgaben ... überhaupt verstanden werden kann", ist rechtswidrig (VfSlg. 12420/1990). 20 Salzwedel/Reinhardt NVwZ 1991, 946, 947. 21 ZB Art 30 der EG-RL 93 / 36. 22 § 68 Bundesvergabegesetz, BGBl. 56 1/1997. Divergierende Regelungen finden sich in Landes-Vergabegesetzen.

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Eine solche Degradierung wäre mit der herausragenden Stellung des Umweltgutachters nicht vereinbar. Auch wenn das Öko-Audit insgesamt prozeduralen Charakter hat, ist es gegenüber dem materiellen Recht doch nicht indifferent. Ein Managementsystem, das nicht zur Vermeidung und Behebung von Rechtsverstößen befähigt ist, ist nicht testatfähig. Allerdings würde eine generelle Pflicht zur materiellen Vollprüfung über das hinausgehen, was die Öko-Audit-VO dem Umweltgutachter an Prüftiefe zuweist. Nach der Konzeption der Verordnung reichen - auf der Grundlage der Erhebungen der Auditoren - stichprobenartige Prüfungen. Ergeben sich hierbei im Einzelfall Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Umweltvorschriften, so ist der Umweltgutachter allerdings zu Aufklärung und Ermittlung im Detail verpflichtet". 23 Die Überlegungen sind anerkennenswert und plausibel. Würde es aber irgendwer wagen, einem Umweltgutachter auf dieser Grundlage eine Rechtsauskunft über die - zur Vermeidung seiner Haftung - im konkreten Einzelfall erforderliche Prüfung zu erteilen ? Das Problem liegt in diesem Fall darin, daß die EG selbst keine Anstalten trifft, die im Interesse der Rechtssicherheit erforderliche Konkretisierung zu treffen, daß es den Mitgliedstaaten bei einer EG-VO jedoch verwehrt ist, selbst eine Konkretisierung durch nationale Rechtsakte zu treffen. Letztlich muß man sich auf den Befund zurückziehen, daß die Rechtslage in einer mit dem EMRK-Standard der „Vorhersehbarkeit der Rechtslage" unvereinbaren Weise unbestimmt ist, 24 was letztlich im konkreten Fall nur deshalb weniger drastisch hervortritt, weil das EMAS-System nur zur freiwilligen Teilnahme offensteht. Bekannt ist weiters der Problemkreis der unmittelbaren Anwendbarkeit von EG-Richtlinien.25 Die mit dem Text des Art 189 Abs 3 EGV unvereinbare und seit der Einführung des Zwangsgeldverfahrens in Art 171 Abs 2 EGV auch sachlich nicht mehr rechtfertigbare richterliche Rechtsschöpfung ist nicht auf den Fall beschränkt, daß eine RL in ihrer Gesamtheit nicht fristgerecht umgesetzt wurde. Auch in Teilen oder gar punktuell unvollständige und unkorrekte Umsetzungen können zur unmittelbaren Anwendbarkeit führen. In der Rechtssache Fratelli Costanzo 26 hielt der EuGH der Mailänder Stadtverwaltung vor, sie hätte den Bieter angesichts der defizitären Umsetzung einer EG-VergabeRL in das italienische 23 Schmidt-Preuß FS Kriele, 1997, 1157, 1174. 24

Vgl im Hinblick auf nationale Umsetzungsakte auch EuGHSlg. 1983, 449. Zum Problem der Bestimmtheit von Gemeinschaftsakten Öhlinger FS 75 Jahre B-VG, 1996, 633; Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht (Fn 4) 32; Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, 1996, 275. Allgemein ist zu beobachten, daß der EuGH nationale Umsetzungsakte - zB im Hinblick auf Art 30 EGV oder eben hinsichtlich der hinreichenden Bestimmtheit - strenger prüft als Rechtsakte der Gemeinschaften: Raschauer, Wirtschaftsrecht (Fn 5) 18 m Anm. 72; vgl auch Schoch JZ 1995, 109, 118. 25 Aus dem umfangreichen Schrifttum seien hier stellvertretend nur die die Perspektive der Verwaltung beleuchtenden Studien von Fischer NVwZ 1992, 635 und Jarass (Fn 15) 71 ff. genannt. 2 6 EuGHSlg. 1989, 1839.

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Recht nicht gemäß italienischem Recht vom Vergabeverfahren ausschließen dürfen, sondern ihn in unmittelbarer Anwendung der RL einbeziehen müssen. Dies impliziert, daß Organe, die nicht nach Art 177 EGV vorlageberechtigt sind, 27 unter eigener Verantwortung entscheiden sollen, ob sie möglicherweise kontrovers beurteilte Umsetzungsfragen 28 anders sehen als die zur Umsetzung berufene Gesetzgebung und dementsprechend der einen Rechtsquelle den Vorzug vor der anderen geben. Mit Art 189 EGV unvereinbar ist es, wenn eine RL in der Weise von vornherein unmittelbar anwendbar ist, daß sie die Entstehensbedingungen nationaler Rechtsakte regelt. Eine jedenfalls für das österreichische Recht neue Form absoluter Nichtigkeit (Unanwendbarkeit) von Rechtsakten aller Art - von technischen Richtlinien bis zu Gesetzen - ergibt sich nämlich aus der Judikatur zur RL über das Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften. 29 Die Entscheidung CIA-International 30, welche die Nichtigkeit nicht notifizierter Gesetze und Verordnungen impliziert, vermengt die beiden Ebenen der Pönalisierung untätiger Staaten einerseits und der Auswirkungen auf die Rechtslage andererseits. Wie soll ein Verwaltungsbeamter beurteilen, ob ein Gesetz oder eine Verordnung eine „technische Vorschrift" in diesem Sinn zum Inhalt hat? Die Tatsache der vorhergehenden Notifizierung wurde in Österreich bislang nicht amtlich kundgemacht. Es geht bei alledem wohlgemerkt nicht um bloße Auslegungsfragen, sondern darum, ob im Einzelfall als anwendbar erkannte Gesetze überhaupt verbindlich sind. Nur noch als blanker Hohn ist es zu sehen, wenn der EuGH judiziert, daß ein nach diesen Regeln eigentlich nicht verbindlicher Rechtsakt im Einzelfall doch wiederum anwendbar sein kann. 31 Denkt man den vergaberechtlichen Fall Fratelli Costanzo weiter, so gelangt man zwangsläufig zu einer Konsequenz, welche die Konstruktion der unmittelbaren Anwendbarkeit von RL neuerlich in Zweifel zieht. Zu einer wesentlichen Prämisse dieser Konstruktion gehört es seit jeher, daß es sich um eine RL handeln muß, die einen für Rechtsunterworfene begünstigenden Inhalt aufweist. Mit der Komponente der „Pönalisierung säumiger Mitgliedstaaten" verträgt es sich nicht, wenn unmittelbare Anwendbarkeit zu Lasten „unschuldiger Privater" wirkt. Konnte man bei den klassischen VergabeRL noch davon ausgehen, daß nur solche Private als „öffentliche Auftraggeber" belastet wurden, die staatsnah bzw „Staat im funktionellen Sinn" sind, so hat sich das Bild spätestens mit der SektorenRL gewandelt. Für „echte Private" - wie z. B. Bergbauberechtigte oder Telekombetreiber - stellt sich damit die bange Frage, ob allfällige Umsetzungsmängel zu ihren 27 Ress FS Winkler, 1997, 897, 930; Schmidt-Aßmann FS Stern, 1997, 745, 760. 28 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht (Fn 4) 46. 29 EG-RL 83 /189, ersetzt durch die EG-RL 98 / 34 und 98/48. 30 EuGHSlg. 1996 1-2201. Vgl aus österreichischer Sicht näherhin Vorbach ÖZW 1997, 65, Madner in Österreichischer Wasser- und Abfallwirtschaftsverband (Hg), Umweltrecht zwischen Gemeinschaftsrecht und Deregulierung, 1998, 39, 65 ff. und Bernhard/Madner JRP 1998, 87. 31 EuGH Lemmens EuZW 1998, 569.

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Lasten wirken werden, 32 wobei ihnen keine Dienststelle seriöserweise eine gesicherte Rechtsauskunft geben kann. Die eine sog „Horizontalwirkung" verneinende Entscheidung Faccini Dori 33 spricht dagegen, die Judikatur zur UVP-RL 3 4 spricht dafür. Zur UVP-RL ist der EuGH nämlich mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, daß wesentliche Elemente dieser RL einer unmittelbaren Anwendung zugänglich sind, obwohl diese RL primär und ganz dominierend Projekte „echter Privater" betrifft. Damit können Projekte um Jahre zurückgeworfen werden, wenn sich in einer späteren Phase herausstellt, daß die auf Grund der „eigentlich" anwendbaren UVP-RL erforderliche UV-Erklärung nicht vorliegt. Nationale „Heilungsregeln" können einem solchen gemeinschaftsrechtlich begründeten Verfahrensmangel selbstverständlich nicht wirksam entgegengehalten werden. 35 In potenziertem Maße wird diese Frage mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist der UVP-ÄnderungsRL 96/11, die auf eine Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereichs des UVP-Regimes hinausläuft, im März 1999 aktuell. Das in Deutschland als „Verwerfungsrecht" des weisungsgebundenen Verwaltungsbeamten bezeichnete Phänomen der unmittelbaren Anwendbarkeit von RL kennt keine zeitliche Begrenzung. Auch Jahre und Jahrzehnte nach ihrer Erlassung kann ein Sachbearbeiter einer Naturschutzbehörde vor der Frage stehen, ob das von ihm anzuwendende Naturschutzgesetz nicht vielleicht doch punktuell im Widerspruch zB zur VogelschutzRL steht und daher unangewendet bleiben soll. 36 Ein solches Ergebnis ist den Schöpfern des EGV denkmöglich nicht zusinnbar. Die unmittelbare Anwendbarkeit macht nicht vor Regelungen halt, die explizit auf weitere Schritte der Rechtskonkretisierung ausgerichtet sind. Muß sich ein öffentlich Bediensteter nicht darauf verlassen können, daß - um beim Beispiel zu bleiben - nur jene Gebiete Vogelschutzgebiete sind, welche von den auf Grund der RL dazu berufenen staatlichen Stellen als solche bekanntgegeben worden sind? Soll er sich in offenen Konflikt mit dem für seine Karriere maßgeblichen Landespolitiker setzen, und zB im Einzelfall entscheiden, daß eine Straße nicht gebaut werden darf, weil sie durch ein Gebiet führen soll, das ein Vogelschutzgebiet sein könnte, jedoch von der vorgesetzten Landesregierung - aus welchen Gründen immer - eben nicht als Vogelschutzgebiet ausgewiesen wurde? Nichts anderes verlangt die Santona-Entscheidung des EuGH 37 von ihm. 32 Vgl zuletzt Rengeling in Rengeling (Hg), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, 1998, 880, 903 ff. mwN. 33 EuGHSlg. 19941-3325; vgl in der Folge auch EuGHSlg. 19961-1281. 34 EuGHSlg. 19951-2189. 35 Vgl in diesem Zusammenhang auch Gellermann DÖV 1996, 443, 440; Rengeling in Handbuch (Fn 32) 908, 916. 36 Vgl aus österreichischer Sicht Feik RdU 1997, 3 und 57. Vgl zur FFH-RL überdies Erbguth/Stollmann DVB1. 1997, 453. 37 EuGHSlg. 19931-4221.

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Noch drastischer werden die Diskrepanzen, wenn eine als wenigstens partiell unmittelbar anwendbar erkannte Bestimmung des EG-Primärrechts hinzutritt. Kann sich ein Rechtsanwendungsorgan darauf verlassen, daß es das nationale Gesetz dann vorbehaltslos anwenden kann, wenn das Gesetz uneingeschränkt einer einschlägigen RL entspricht? Wie uns die Entscheidung Vlassopoulou belehrt, ist das nicht der Fall. Wenn nämlich jemand so hervorragend qualifiziert ist, daß diese besondere Qualifikation - die bei Frau Vlassopoulou zweifellos gegeben war durch eine EG-RL und dementsprechend durch das diese RL korrekt umsetzende deutsche Gesetz nicht adäquat erfaßt wird, dann gebietet die in Art 52 EGV zum Ausdruck kommende Wertentscheidung nach Auffassung des EuGH eine „materielle Würdigung" des Besonderheit des Einzelfalls. 38 Dabei spielt es offenbar keine Rolle, daß der in Art 52 EGV enthaltene Liberalisierungsbefehl an die in Art 57 EGV genannten Organe und nicht an die nationale Rechtsanwendung adressiert ist. In der Judikatur des EuGH, der als angemaßter Motor der Europäischen Integration auch freie Rechtsschöpfung betreibt, werden bedauerlicherweise zwei Ebenen vermengt: Die Frage der Pönalisierung der als nicht rasch genug voranschreitend beurteilten Mitgliedstaaten und die Frage der Vollziehbarkeit solcher Rechtsschöpfungen. Besonders deutlich wird dies beim derzeitigen Modethema der gemeinschaftsrechtlich eingestifteten „subjektiven Rechte".39 Es liegt in der Zwecksetzung von Richtlinien, daß sie an die Mitgliedstaaten adressiert sind und dementsprechend ex definitione niemals subjektive Rechte einzelner Bürger begründen können. Mit der Annahme einer - auch nur partiellen - unmittelbaren Anwendbarkeit verdoppelt sich jedoch zwangsläufig die rechtliche Identität der Richtlinie, es können ihr im innerstaatlichen Bereich Inhalte zu entnehmen sein, welche sie nach ihrem objektiven, staatsgerichteten Gehalt eigentlich nicht hat. Damit zeigen sich mehrere Ebenen40 des Problemkreises der subjektiven Rechte: Zum ersten die Frage, ob eine Umsetzung einer Richtlinie darin bestehen muß, daß - bestimmten Personen oder überhaupt jedermann - bestimmte Rechte als „subjektive Rechte" eingeräumt werden müssen, daß also bloß objektive Amtspflichten der Verwaltung nicht ausreichen, und zwar bei sonstiger Unkorrektheit der Umsetzung.41 In diesem Sinn wurde z. B. dem in Deutschland - anders als in 38 EuGHSlg. 1991 1-2357; vgl in der Folge auch EuGHSlg. 1994 1-425 Haim und 1995 1-4165 Gebhard. 39 Frenz DVB1. 1995, 408; Remmert Verw 1996, 465; v Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, 230 ff., 364ff.; ders DÖV 1996, 481; Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft, 1996; ders DVB1. 1998, 69; Triantafyllou DÖV 1997, 192; Wegener, Rechte des Einzelnen, 1998; Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998, 309 ff. Aus österreichischer Sicht Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht (Fn 15) 63, 112, 133; Madner in Umweltrecht (Fn 30) 75 ff. 40 Überzeugend Ruffert DVB1. 1998, 69. Vgl zB Rengeling in Handbuch (Fn 32) 880, 889 mwN.

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Österreich - öffentlich-rechtlichen Grundwasserregime eine subjektiv-rechtliche Dimension als Fremdkörper aufoktroyiert. 42 Zum zweiten die Frage, ob nur solche Richtlinien unmittelbar anwendbar sind, die - wie etwa Verbraucherschutzrichtlinien - subjektive Rechte der Rechtsunterworfenen zum Inhalt (genauer: zum Ziel) haben. Wie bereits erwähnt, wird der Begriff der „subjektiven Rechte" in diesem Zusammenhang zu Unrecht verwendet. 43 Maßgeblich ist, ob die Richtlinie einen - wie z. B. im Bereich der Umsatzsteuerharmonisierung - die Rechtsunterworfenen „begünstigenden" Inhalt hat. Im Bereich der Richtlinien, die Rechtsverhältnisse inter privatos zum Gegenstand haben, beginnt freilich, wie gezeigt, auch diese Lehrbuchkategorie zu verschwimmen. Zum dritten die Frage, ob sich aus einer - auch nur partiell - als unmittelbar anwendbar erkannten Richtlinie subjektive Rechte der Rechtsunterworfenen ergeben. Dies kommt prinzipiell in Betracht, ob man sich dabei an der „Schutznormtheorie" orientiert oder nicht. Freilich handelt es sich diesfalls um subjektive Rechte, die ihren Rechtsgrund im Gemeinschaftsrecht haben. Sie müssen daher nicht eo ipso auch subjektive Rechte im Sinn des nationalen Verwaltungsrechts - insbesondere im Sinn des nationalen Verfahrensrechts - sein. Die Problematik ist ähnlich zu sehen, wie bei dem vom EuGH geschöpften verschuldensunabhängigen Staatshaftungsanspruch, der seinen Rechtsgrund allein im Gemeinschaftsrecht hat und daher nicht dem Staatshaftungsrecht des nationalen Rechts unterliegen muß. Freilich kann es mit dem Befund dieser möglichen Diskrepanz nicht sein Bewenden haben. Es gilt nicht nur im nationalen Recht als rechtsstaatliches Gebot, daß im materiellen Recht wurzelnde Rechte und Ansprüche auch verfahrensrechtlich durchsetzbar sein müssen, vielmehr sieht es der EuGH sogar als geboten an, daß im Gemeinschaftsrecht wurzelnde Rechte und Ansprüche so geltend gemacht werden können, daß sie letztlich an ein nach Art 177 EGV vorlageberechtigtes Organ herangetragen werden können.44 Damit bleibt der nationalen Rechtsanwendung - auf deren Rücken die zur unmittelbaren Anwendung hinzutretenden Folgefragen ausgetragen werden - also gar nichts anderes übrig, als im Rahmen einer weiter ausholenden gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation das sachlich nächstliegende Regime des nationalen Rechts zur Anwendung zu bringen, 45 das eine rechtskraftfähige Sachentscheidung ermöglicht, und sei es, daß Rechtswege neu 42 EuGHSlg. 1991 1-825, 4983 ua. Vgl zu dem vom EuGH erfundenen Konzept einer Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts das gleichnamige Buch von Masing (1997), weiters v. Danwitz, System (Fn 39) 230ff.; Classen VwArch 1997, 645; Wegener, Rechte (Fn 39) 46 ff. 43 Treffend Ruffert DVB1. 1998, 69, 70 f. 44 ZB EuGHSlg. 1986, 1651; 1988, 4635; 1995 1-2303. Aus österreichischer Sicht Potacs/Pollak in Schwarze (Hg), Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1996, 733. Zum Erfordernis der Effektivität des Zugangs zum EuGH vgl EuGHSlg. 1995 1-4599 Peterbroeck; dazu mit guten Grund krit Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht (Fn 4) 321 f. 45 Im Hinblick auf eine vergaberechtliche Problematik näherhin Holoubek ÖZW 1998, 75, 79 m Anm. 48.

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erfunden werden müssen.46 Allerdings ist auch dieser Grundsatz nach der KeckWende punktuell in einer Weise ins Gegenteil verkehrt worden 4 7 die sogar den österreichischen Verfassungsgerichtshof in die Irre gehen ließ. 48 Dies leitet über zu den vielfältigen Auswirkungen des Grundsatzes der Gemeinschaftstreue (Art 5 EGV), die von der Verwaltung mit dem im Rahmen nationaler Rechtsanwendung gebotenen Ernst nicht mehr bewältigt werden können. Nobelzurückhaltend spricht Schmidt-Aßmann das hier Gemeinte etwa mit der Formulierung an, daß „die Bestandskraft von Verwaltungsakten und das Verfahren ihrer Rücknahme schon seit längerer Zeit unter dem Einfluß des EG-Rechts stehen".49 Zu mehreren - auch bewußt taxativen - gesetzlichen Regelungen kann man heute nur mehr sagen, daß sie nur insoweit maßgeblich sind, als sich im Einzelfall zur Wahrung der Gemeinschaftsinteressen 50 nichts anderes ergibt. 51 Wer sich in Deutschland nicht unbeliebt machen will, enthält sich im Gefolge der Alean-Entscheidung52 besser einer Stellungnahme zum Themenkreis des „Vertrauensschutzes". 53 Man kann sich allerdings leicht vorstellen, in welcher Situation ein mit der Frage der Rückzahlung einer Beihilfe konfrontierter Verwaltungsbeamter steht. Auch der Grundsatz der Gemeinschaftstreue kann mit der Maßgeblichkeit des EG-Sekundärrechts kollidieren. Das österreichische Bundesvergabeamt geht davon aus, daß es bei der Erlassung von einstweiligen Verfügungen in Vergaberechtssachen54 nicht nur den die einschlägige RL-Bestimmung umsetzenden § 116 des österreichischen Bundes Vergabegesetzes, sondern gleichzeitig auch die aus der Gemeinschaftstreue abgeleiteten allgemeinen Grundsätze einstweiligen Rechtsschutzes55 kumulativ anzuwenden habe, mit der Konsequenz einer Befugnis zur Abwägung im Einzelfall. 56 Ob das der EuGH ebenso sehen wird, ist unklar. Die zu den Art 30 ff. EGV ergangene Judikatur, derzufolge im Anwendungsbereich des Sekundärrechts nur dieses maßgeblich ist, spricht dagegen, die oben erwähnte 46 47 48 49

Vgl EuGHSlg. 19901 - 2466 Factortame /. EuGHSlg. 1997 1-4961 Dorsch Consult ua. Zunächst VfSlg. 14607/1996, gegenteilig dann VfGH B 2630/96 v 26. 6. 1998. Schmidt-Aßmann , Verwaltungsrecht (Fn 4) 31.

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Die Eindimensionalität der europäischen Betrachtungsweise wird treffend von Schock JZ 1995, 109, 117 beleuchtet. 51 Vgl im einzelnen zB Schmidt-Aßmann DVB1. 1993, 924; Schock JZ 1995, 109; ders DVB1. 1997, 289; v. Danwitz, System (Fn 39) passim; ders DVB1. 1998, 421; Hatje (Fn 39) 246 ff. Aus österreichischer Sicht grundlegend Potacs JRP 1995, 180; vgl auch Raschauer, Verwaltungsrecht (Fn 7) Rz 628 ff. 52 EuGHSlg. 19971-1591. 53 Vgl nämlich die überaus gehässige Replik von Frowein DÖV 1998, 806, 807 f. auf die harsche Kritik von Scholz DÖV 1998, 261. Vorsichtig differenzierend Fastenrath Verw 1998, 277, 296. 54 Art 2 Abs 1 lit a der Rechtsmittel RL 89/665. 55 Vgl zB v. Danwitz, System (Fn 39) 297 ff. mwN. 56 Holoubek ÖZW 1998, 75, 82 f.

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Vlassopoulou-Judikatur spricht dafür. Angesichts solcher Unbestimmtheiten denkt man mit Wehmut an Fachdiskussionen zurück, in denen es darum ging, inwieweit „Ermessen" und „Abwägungsspielräume" mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar sind. Beide hier behandelte Aspekte - die verfassungskonforme Interpretation und die modifizierende Einwirkung durch das Gemeinschaftsrecht - können im Einzelfall in einer die Problematik weiter potenzierenden Weise kumulieren, wie jüngst an der TabakwerbungsRL 57 sichtbar wird. Wenn man von der wohl fehlenden EGKompetenz einmal absieht58, dürfte die RL doch mit Art 10 EMRK unvereinbar sein. Jedenfalls ein österreichisches Rechtsanwendungsorgan hat angesichts der gefestigten Judikatur zu Art 10 EMRK 5 9 davon auszugehen, daß ein absolutes (uneingeschränktes) Werbeverbot mit der EMRK unvereinbar ist. Nun hebt die EU-Mitgliedschaft bekanntlich die unmittelbare Bindung der Mitgliedstaaten an die EMRK nicht auf. 60 Der österreichische Verfassungsgerichtshof erachtet die Eingriffsvorbehalte der EMRK vielmehr, wie gezeigt, sogar als auch für die Verwaltung unmittelbar anwendbar. Österreichische Rechtsanwendungsorgane können der Situation daher nur mit Nestroy 'scher Ironie begegnen, mit Rechtsstaatlichkeit hat das alles aber nichts zu tun. Der vorliegende Beitrag versteht sich nicht als eine Studie zur Rechtsquellenlehre. Einzumahnen ist indes, daß alle diese Fälle auch einmal aus der Perspektive der nationalen Verwaltungen gewürdigt werden müssen. Mindestens in dieser Hinsicht wirken sie katastrophal: Diejenigen, denen dogmatische Konstruktionen von der Art der verfassungskonformen Interpretation oder der gemeinschaftstreuen Rechtsanwendung „auf den Kopf fallen", werden in den Entscheidungen und in den nachfolgenden Entscheidungsbesprechungen gar nicht sichtbar: Es sind dies stets Menschen (Organwalter), denen als nationale Rechtsanwendungsorgane Entscheidungszuständigkeiten als Dienstpflichten übertragen sind. Der Verwaltungsbedien57 EG-RL 98/43. 58 Vgl nur v Danwitz, Produktwerbung in der Europäischen Union, 1998, 22. - Aus der Perspektive eines Neumitglieds muten Formulierungen wie in Art 126 und 127 EGV („unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten ...") bei einer Gemeinschaft, die sich als Rechtsgemeinschaft versteht, zunächst belustigend an. Wenn man dann allerdings die Unverfrorenheit erlebt, mit der die TabakwerbungsRL entgegen Art 129 Abs 4 EGV erlassen wurde, beginnt man das verzweifelte verbale Bemühen der Mitgliedstaaten zu begreifen, drohenden Umgehungen und Mißbräuchen, welche dem Sinn der vereinbarten Zuständigkeitsordnung zuwiderlaufen würden, vorzubeugen. Vgl als „Sündenfall" nämlich EuGHSlg. 1989, 1425; krit Schock JZ 1995, 109, 115 f. 59 ZB VfSlg. 12942/1991, 13128/1992, 13554/1993 und 13675/1994 (jeweils unter Berufung auf den EGMR) betreffend absolute Werbeverbote für bestimmte freie Berufe, VfSlg. 14635/1996 betreffend das absolute Verbot kommerzieller Werbung beim Betrieb von Kabelrundfunk und VfSlg. 13704/1994 betreffend ein unbedingtes und umfassendes Verbot der Werbung mit beschränkten Abgabemengen. Stets war es die mit der Kommunikationsfreiheit unvereinbare „Absolutheit", die zur Aufhebung wegen EMRK-Widrigkeit führte. 60 Vgl schon Giegerich ZaöRV 1990, 836; Ress FS Winkler, 1997, 897, 916 ff.

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stete steht - wie dies Walter Leisner 51 grundlegend herausgearbeitet hat - unter der durch Disziplinarrecht, Justizstrafrecht und Regreßdrohungen nach Amtshaftungsrecht sanktionierten Bindung an das nationale Gesetz. Aus seiner Sicht gibt es zwei Varianten: Hält er sich an das Gesetz und ergibt sich in der Folge - am Schreibtisch von nicht an der Front tätigen Kontrollorganen - , daß er im Lichte weiter ausholender Interpretationsmöglichkeiten fehlgegangen ist, so impliziert dies den Vorwurf, daß er rechtswidrig gehandelt hat. Dementsprechend kann er in auf dieses sein Verhalten bezogenen Folgeverfahren nur hoffen, daß milde Richter erkennen, daß der durch sein gesetzestreues Verhalten letztlich herbeigeführte rechtswidrige Erfolg nicht schuldhaft gesetzt wurde. Geht man davon aus, daß das Rechtsstaatsprinzip auch für öffentlich Bedienstete gilt, ist die damit im Raum stehende Implikation „Sie haben rechtswidrig gehandelt, aber Sie waren zu dumm, um das erkennen zu können" unerträglich. Die andere Variante ist aber noch viel unerträglicher: Versucht ein verfassungsbewußter und für die Europäische Integration aufgeschlossener öffentlich Bedienster das Wertbewußtsein kollegialer Höchstgerichte zu antizipieren und setzt er sich in vorauseilender verfassungskonformer oder gemeinschaftsrechtskonformer Interpretation über den Gesetzestext hinweg, so muß er damit rechnen, daß die erstbeste Rechtsmittelinstanz seine Entscheidung als rechtswidrig, weil gesetzwidrig befindet. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat es damit sein Bewenden, seine grundlegenden Überlegungen werden nie die hehren Sphären der Höchstgerichte erreichen. Gleichzeitig wird es in dieser Konstellation zumeist ungleich schwieriger sein, die auf sein Verhalten bezogene Kontrolle davon zu überzeugen, daß er nicht in vorwerfbarer Weise rechtswidrig gehandelt hat. Ist es in dieser Situation zu viel verlangt, wenn man meint, daß der usus modernus constitutionis vel iuris europei auch einmal auf seine „Verwaltungsverträglichkeit" geprüft werden müßte?

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Vgl insbesondere den von Isensee herausgegebenen Band Beamtentum, 1995.

Gemischte Demokratie ein Wesensmerkmal kommunaler Selbstverwaltung Von Franz-Ludwig Knemeyer

Am Ende der Demokratie oder am Anfang? - das war die Frage Josef Isensees in seinem Festvortrag in Nürnberg im November 1994 anläßlich des 65. Geburtstages des Jubilars 1. Er hat damit einen zentralen Forschungsbereich Walter Leisners aufgegriffen: die Frage nach'„Demokratie - Selbstzerstörung einer Staatsform" 2. Im Kreislauf der Staatsformen, bei der Antike beginnend, zeigt Josef Isensee - ein wenig auch wohl vom Prinzip Hoffnung bestimmt - Wege zur „Vitalität aus Dekadenz"3 oder mit Walter Leisner zur „Wiederkehr der guten Staatsformen" 4. Als Kommunalrechtler nicht der „großen Politik" und der „großen", sondern der örtlichen Demokratie verbunden und eher dem handfest Praktischen als der Staatsphilosophie verhaftet, gestehe ich gern Anleihen beim Jubilar und seinem „Assistenten a.D." 5 , wenn ich meine Gedanken zu Mehr Demokratie 6 und den Folgen einer Initiative gleichen Namens für die kommunale Selbstverwaltung vortrage. Örtliche Demokratie - am Anfang oder am Ende? - mein Plädoyer für eine gemischte Kommunalverfassung - erfaßt kommunale Selbstverwaltung im (Kreis-) Lauf der Formen kommunaler Verwaltung 7 in der Situation des Jahres 19988. 1

Josef Isensee, Am Ende der Demokratie - oder am Anfang?, Berlin 1995. 2 Berlin 1979. 3

Isensee, Am Ende der Demokratie - oder am Anfang? (FN 1), S. 60. 4 Berlin 1987. 5

Isensee, Am Ende der Demokratie - oder am Anfang? (FN 1), S. 9. Zu der so bezeichneten, mittlerweile auf mehrere Länder ausgedehnten, in München gegründeten Initiative - siehe etwa Knemeyer, Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik. Mitwirkungsrechte von Bürgern auf kommunaler Ebene, 2. erw. Aufl. m. Bayern-Bilanz, Landsberg/ Lech 1997, S. 179 ff. m.w.N., und eine Selbstdarstellung bei Seipel / Mayer, Triumph der Bürger!, Mehr Demokratie in Bayern - und wie es weitergeht, Eigenverlag, München 1979. „Mehr Demokratie" war im Volksentscheid zur Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid nach bayerischem Muster auf Bezirksebene in Hamburg am 27.9.98 erfolgreich. 7 Zur Entwicklung der Kommunalverfassungen siehe etwa Knemeyer, Die duale Rat-Bürgermeister-Verfassung im Kommunalrecht, JuS 1998, 193 ff. 8 1999 wird Bayern sich erneut zum Wie der bürgerschaftlichen Mitwirkung und damit der Ausgestaltung eines wesentlichen Elements örtlicher Demokratie entscheiden müssen. Siehe dazu hinten Teil IV. 6

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Im Gefolge der „zweiten Partizipationswelle" 9 in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, des (Ab-)Weges örtlicher Demokratie in Bayern 1995 und der korrigierenden Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs im August 1997 10 mit der Notwendigkeit erneuter legislatorischer Befassung bis zum Jahre 2000 werden gerade in Bayern intensive Überlegungen angestellt, wie die politischdemokratische und die administrative Funktion kommunaler Selbstverwaltung in eine Balance zu bringen sind. Es wird erörtert, ob und wie man die schon um mannigfaltige Elemente unmittelbarer Demokratie erweiterte, grundsätzlich aber repräsentativ angelegte örtliche Demokratie zu einer den bürgerschaftlichen Mitwirkungsansprüchen einerseits und den Notwendigkeiten einer funktionsfähigen Verwaltung andererseits Rechnung tragenden gemischten Verfassung ausgestalten kann. Der von der Initiative erneut zur Völksabstimmung gestellte „Änderungsentwurf 4 1 1 wird diesen Postulaten nicht gerecht. Das Ziel meiner Überlegungen, nunmehr doch konkret gefaßt als „örtliche Demokratie nicht ohne funktionsfähige Organe" 12, möchte ich in vier Schritten erreichen: Einer Skizze des Wechsel vollen Weges der Funktionen kommunaler Selbstverwaltung (I.) folgt eine Darlegung des Demokratieschubes der neunziger Jahre (II.) und des Sonder- oder Ab-Weges in Bayern unter dem Titel »Abschied vom Demos - hin zur Betroffenendemokratie oder zum guten Bürger? 4 (III.). In einem abschließenden Teil soll - auch hier - auf gedanklichen Wegen Walter Leisners (und Josef Isensees) verdeutlicht werden, daß örtliche Demokratie auf einem richtigen „bayerischen Weg" nicht am Ende ist, daß aus Verfall auch Stärke werden kann 13 . I. Von der kommunalen Verwaltung zur kommunale Selbstverwaltung und örtlichen Demokratie Der wechselvolle Weg kommunaler Selbstverwaltung wird im Gegensatz zur Historie der Demokratie regelmäßig nicht mit der Antike, sondern beim Freiherrn vom Stein und seinen Gedanken begonnen. Die jahrhundertealte Tradition der Stadt- und Gemeindefreiheiten war im Zeitalter des Absolutismus weitgehend untergegangen. Ihre moderne Ausprägung hat sie dann - unter völlig neuen Vorzeichen - mit der preußischen Städteordnung vom 19. 11. 1808 gefunden. Dabei 9 Knemeyer, Bürgerbeteiligung (FN 6), S. 13 ff., 42 ff., 52 ff., 104 ff. Bezogen auf die Völksentscheide spricht Zacher, Plebiszitäre Elemente in der Bayerischen Verfassung, BayVBl. 1998, 737 ff., 740, von einem „Aufbruch in eine neue Ära". 10 BayVBl. 1997, 622 ff.; DVB1. 1998, 136 ff., und dazu Knemeyer, Direkte Demokratie und funktionsfähige kommunale Selbstverwaltung, DVB1. 1998, 113 ff. 11 „Mehr Demokratie in Bayern" Teil 2. - Dazu hinten IV. 12 Quintessenz des Urteils des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 27. 8. 1997 (siehe FN 10); dazu auch Blanke / Huf schlag, Kommunale Selbstverwaltung im Spannungsfeld zwischen Partizipation und Effizienz, JZ 1998, 653 ff. 13 Isensee, Am Ende der Demokratie - oder am Anfang? (FN 1), S. 60.

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ging es Stein vor dem historischen Hintergrund zwar um Bürgeraktivierung - dies freilich nicht unter dem Aspekt heutiger Demokratievorstellungen, sondern mit dem Ziel der Staatsgesundung. Selbst in der Weimarer Zeit stand die demokratische Komponente allenfalls im Hintergrund. Die administrativen Funktionen der Kommunen wurden betont, ja Demokratie und Selbstverwaltung wurden weitgehend in einem antagonistischen Verhältnis stehend gesehen.14 Dieses Verständnis hat sich auch in den ersten Jahrzehnten unter dem Grundgesetz - wenn auch z.T. abgeschwächt - noch erhalten können. Die Gemeinden als „Urzelle der Demokratie", dem Aufbau der Demokratie unten nach oben dienend15, werden über lange Jahre in der Praxis weit überwiegend behandelt als nützliche Verwaltungsebene innerhalb des Staates.16 Auch in der Wissenschaft würde die Funktionendiskussion noch längere Zeit bestimmt durch rein formale Selbstverwaltungskonzeptionen, vertreten etwa von Forsthoff und Woljf. 11 Erst in den siebziger Jahren wird die Affinität von Selbstverwaltung und Demokratie in der wissenschaftlichen Literatur zunehmend betont.18 Die Erörterungen über Krisen kommunaler Selbstverwaltung beziehen sich nicht so sehr auf eine etwa unterentwickelte demokratisch-politische Funktion als die Erfüllung der verwaltungstechnischen Funktionen - kommunale Selbstverwaltung als besondere Form der Verwaltungstechnik. 19 Erst mit dem Ende der weitgehend von Effizienzgesichtspunkten bestimmten großen Gebietsreformen 20 - Jahre nach der „ersten partizipativen Revolution" 21 gewinnt die demokratisch-politische neben der administrativen Funktion kommunaler Selbstverwaltung in der rechtswissenschaftlichen Literatur an Boden. Mit der politikwissenschaftlichen Diskussion konnte sie jedoch keineswegs Schritt halten. 22 Die Doppelfunktion kommunaler Selbstverwaltung im demokratischen 14 Dazu näher Reinhard Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, Köln u. a. 1984, S. 135 ff., 163 ff. m.w.Nachw. 15 Art. 11 Abs. 4 BV und ähnlich die größere Zahl der Einleitungsbestimmungen der Gemeindeordnungen. 16 Dezentralisation und vertikale Gewaltenteilung: Knemeyer, Dezentralisation als Mittel vertikaler Gewaltenteilung überholt?, DVB1. 1976, 380 ff. 17 Hendler, Selbstverwaltung (FN 14), S. 271 ff. 18 Dazu näher Hendler, Selbstverwaltung (FN 14), S. 302 ff. 19

Ist kommunale Selbstverwaltung nicht eigentlich immer in der Krise gesehen? Zur demokratischen Komponente der Gebietsreformen Hill, Die politisch-demokratische Funktion kommunaler Selbstverwaltung nach der Reform, 1987. 21 Zu diesem Begriff Knemeyer, Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik (FN 6), S. 11. 22 Siehe dazu nur die Angaben bei Blümel, Gemeinden und Kreise vor den öffentlichen Aufgaben der Gegenwart, VVDStRL 36 (1978), S. 71 ff., 228, FN 283 ff. - Er selbst hat der demokratischen Funktion in seinem Staatsrechtslehrertagungsreferat lediglich vier Seiten gewidmet; das Korreferat von Grawert bezieht diesen Aspekt auch nur in geringem Umfang ein - Formen unmittelbarer Kommunaldemokratie - Grawert, Gemeinden und Kreise vor den öffentlichen Aufgaben der Gegenwart, VVDStRL 36 (1978), S. 271 ff., 318 f. - Dazu näher die Überblicke bei Hendler, Selbstverwaltung (FN 14), S. 302; siehe aber auch Berg, Demokratie und kommunale Selbstverwaltung, Städte- und Gemeinderat 1979, 345 ff., der die Selbstverwaltung als Element des Demokratiebegriffs besonders hervorhebt. 20

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Rechtsstaat grundgesetzlicher Prägung stellt Berg zu Recht heraus: zum einen, im Einklang mit staatlichen Gesetzen Verwaltungsarbeit zu leisten, zum anderen, dem grundgesetzlichen Selbstbestimmungsanspruch des Bürgers Rechnung zu tragen. 23 Parallel zu diesen Diskussionen sind in einzelnen Gemeindeordnungen spärliche Ornamente unmittelbarer Demokratie am grundsätzlich repräsentativen Selbstverwaltungssystem angebracht worden. 24 Unter dem Aspekt Demokratie sei ein wenig näher eingegangen auf die politisch-demokratische Funktion kommunaler Selbstverwaltung. 25 Als örtliche Demokratie dient kommunale Selbstverwaltung der Aktivierung der Bürger für ihre eigenen, sie in ihrem örtlichen Umfeld besonders berührenden Belange sowie ihrer Identifikation und Integration mit den Belangen des örtlichen Wirkungskreises. 26 Von Mutius faßt eingängig zusammen: „Die kommunalen Körperschaften bilden ... sowohl Grundlage und Glieder des Staates als auch Basis für die Selbstaktivierung der Bürger und ihr Engagement für das Gemeinwohl. Sie schaffen Freiräume für eigenverantwortliche Selbstverwirklichung ihrer Einwohner durch dezentralisierende, organisatorische, personelle und funktionelle Gewaltentrennung, -balancierung und -ergänzung gegenüber Bund und Ländern. Sie sind demokratische und soziale Koordinations- und Integrationsfaktoren. Sie liefern eine wesentliche Plattform für die Artikulation und mehrheitliche Umsetzung politischen Willens. Sie dienen der Befriedigung elementarer ökonomischer, sozialer und kultureller Bedürfnisse ihrer Bürger." 27

Hat das Bundesverfassungsgericht schon in frühen Entscheidungen die politisch-demokratische Funktion herausgestellt, so ist es das besondere Verdienst dieses Gerichts in seiner Rastede-Entscheidung des Jahres 1988 28 , früher und zum Teil heute noch vertretenen Auffassungen eine klare Absage erteilt zu haben, nach denen „örtliche Demokratie" und kommunale Selbstverwaltung „als unverwechselbar voneinander geschieden" angesehen wurden. 29 Das Bundesverfassungsgericht hat mit wünschenswerter Deutlichkeit die einzelnen verwaltungstechnischen 23 Berg, Demokratie (FN 22), Städte- und Gemeinderat 1979, 350. 24 Siehe etwa die Zusammenstellung bei Kühne /Meissner, Züge unmittelbarer Demokratie in der Gemeindeverfassung, Göttingen 1977; dazu auch Blümel, Gemeinden und Kreise (FN 22), S. 228 ff., und Grawert, Gemeinden und Kreise (FN 22), S. 318 f. 25 Zu den einzelnen Funktionen näher Brohm, Die Eigenständigkeit der Gemeinden, DÖV 1986, 397 ff., 398; Henneke, Möglichkeiten zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, DÖV 1994, 705 ff., 707. 26 Ständige Rspr. des BVerfG, insb. seit BVerfGE 8, 104, 122; 11, 266, 275 f. - Dazu auch Berg, Selbstverwaltung im ländlichen Raum und die Grundlagen des demokratischen Lebens, BayVBl. 1982, 522 ff., und Hill, Die politisch-demokratische Funktion (FN 20), insb. S. 13 ff. 27 Von Mutius, Kommunalrecht, 1996, Rn. 45. 28 BVerfG79, 127f.-23. 11. 1988. 29 So vor allem Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, Allg. Teil, 10. Aufl. 1973, S. 536, und Von Unruh, Demokratie und kommunale Selbstverwaltung, DÖV 1986, 217 ff.

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Funktionen kommunaler Selbstverwaltung mit der demokratischen Willensbildung verknüpft, das Verhältnis zwischen Verwaltungsfunktionen - dezentrale Verwaltungsebene - und demokratischen Funktionen zurechtgerückt und der namentlich von Forsthoff vertretenen Auffassung eine Absage erteilt, wonach Demokratie und Selbstverwaltung unverwechselbar geschieden seien. Spätestens seit der RastedeEntscheidung sieht die ganz h. M. kommunale Selbstverwaltung dem grundgesetzlich verankerten System entsprechend. Bürgerschaftliche Selbstverwaltung ist „ eine Symbiose mit dem Demokratieprinzip eingegangen und hat dadurch ihr eigenes gegenwartsbezogenes Gepräge erhalten"? 0 Muß man die demokratische Funktion als zentral ansehen, so gilt es, doch immer wieder auf die Notwendigkeit ihrer richtigen Gewichtung im Funktionenbündel hinzuweisen. Zu leicht wird eine der Funktionen im wechselvollen Politikverständnis überbewertet.

II. Der Demokratieschub der neunziger Jahre Nach der ersten „partizipativen Revolution" (1968) hat die örtliche Demokratie in den neunziger Jahren vor allem einigungsbedingt einen neuen Schub erhalten. Betrachtet man die Diskussion im jahrzehntelangen Überblick, so ist leicht festzustellen, daß sie in der Betonung der einzelnen Elemente immer wieder in Wellenbewegungen verlaufen ist. Hat Bürgermitwirkung - und damit die Stärkung der demokratischen Funktionen - in den neunziger Jahren wieder Hochkonjunktur, so wird in der öffentlichen Diskussion und zum Teil auch in der wissenschaftlichen Literatur nicht selten der Aspekt einer funktionsfähigen Kommunalverwaltung vergessen oder vernachlässigt. Zu einseitig stand und steht ein Schlagwort im Vordergrund, dem sich ja eigentlich auch niemand entziehen kann: „Mehr Demokratie" in der kommunalen Selbstverwaltung. Beispielhaft für die Wellenbewegungen sei nur auf die Gebietsreformen einerseits und die zweite Partizipationswelle andererseits hingewiesen. In den Gebietsreformen wurde zumindest in den Anfangsjahren die Leistungsfunktion kommunaler Selbstverwaltung - eine effektive Verwaltungsorganisation - überbetont. Unterschlagen oder zumindest nicht adäquat eingeordnet wird dabei auch die Tatsache, daß örtliche Demokratie sich nicht in Wahlen und Abstimmungen (Bürgerentscheiden) erschöpft, sondern durch vielfältige Mit- und Einwirkungsmöglichkeiten gekennzeichnet ist.

30 Ipsen, Soll das kommunale Satzungsrecht gegenüber staatlicher und gerichtlicher Kontrolle gestärkt werden?, JZ 1990, 789 ff., 790.

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1. Örtliche Demokratie - Wahlen und vielfältige Mit- und Einwirkungsmöglichkeiten Örtliche Demokratie, zunächst allein gekennzeichnet durch die Wahl der Vertretungsorgane, ist sehr bald erweitert worden durch vielfältige andere Möglichkeiten der Mit- und Einwirkung. Vor allem aber ist das Wahlsystem in einer Art ausgestaltet worden, die dem Bürger vielfältige Mitgestaltungsmöglichkeiten in bezug auf seine Repräsentanten eingeräumt hat. Gehen einige Länder noch heute vom System der starren Listen aus 31 , so hat Bayern neben Baden-Württemberg schon früh sein Kommunalwahlrecht weitgehend personalisiert und von starren Vorschlägen der Parteien abgekoppelt.32 Bayern hat sein Kommunalwahlrecht zu einer „demokratischen Delikatesse ausgestaltet". Es ermöglicht dem Bürger, „in den Listen zu surfen" 33, oder - anders formuliert: Kumulieren und Panaschieren schaffen einen bürgernahen Rat. 34 Örtliche Demokratie erschöpft sich aber schon seit langer Zeit nicht im Wahlakt. In Abgrenzung zu den Möglichkeiten der Wahrnehmung eigener Rechte als von einer Verwaltungsentscheidung Betroffener 35 hatte und hat der Bürger vielfältige Möglichkeiten demokratischer Mit- und Einwirkung. In der öffentlichen Diskussion, aber horribile dictu auch in der Fachdiskussion, bleiben zumeist unbeachtet - vielleicht weil mittlerweile selbstverständlich - die Einrichtungen allgemeiner Bürgerbeteiligung: Öffentlichkeitsbeteiligung im Gegensatz zu Betroffenenbeteiligung, etwa im Baugesetzbuch und im Städtebauförderungsgesetz, im Raumordnungsgesetz, im Landesplanungsgesetz, im Flurbereinigungsgesetz, im Abfallbeseitigungsgesetz, im Naturschutzgesetz, Wald- und Wassergesetz, im Immissionsschutzgesetz und in dem die allgemeinen Regeln des Verwaltungsverfahrens - speziell das allgemeine Planfeststellungsrecht - enthaltenen Verwaltungsverfahrensgesetz.36 So ist z. B. die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Aufstellung von 31 Siehe etwa die Tabelle bei Knemeyer, Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik (FN 6), S. 168 f. 32 Dazu im einzelnen Knemeyer, in: Knemeyer/Jahndel, Parteien in der kommunalen Selbstverwaltung, Kommunalforschung für die Praxis, Heft 28, Stuttgart u. a. 1991. 33 So die typisch Oberreuterische Terminologie; siehe etwa Heinrich Oberreuter, Selbstregierung oder Stellvertretung. Zum Eigenwert repräsenmtativer Demokratie, in: Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Situation, Analysen, Erfordernisse, hg. v. d. Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Bd. D 50, München/Tutzing 1998, S. 13 ff. 34 Zu diesem System und seinen Auswirkungen auf die Kommunalpolitik: Knemeyer, Stärkung kommunaler Selbstverwaltung durch Stärkung örtlicher Demokratie, Festschrift für Martin Kriele, München 1997, S. 1141 ff., 1146f., und zum System im einzelnen ders., Bayerisches Kommunalrecht, 9. Aufl., München 1996, Rn. 155 ff. 35 Betroffenen-Demokratie gibt es nicht; Demokratie hat für alle verbindlich zu entscheiden und läßt somit regelmäßig »Betroffene' zurück. Die Betroffenenanhörung im Verwaltungsrecht ist davon zu unterscheiden. Zur Unterscheidung zwischen Öffentlichkeits- und Betroffenenpartizipation Hendler, Zu den Vorzügen und Nachteilen verstärkter Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene, Der Landkreis 1995, 321 ff.

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Bauleitplänen im Jahre 1976 durch Novellierung des 1960 erlassenen Bundesbaugesetzes eingeführt worden. Mit dieser Novelle wurden die Gemeinden erstmals verpflichtet, die allgemeinen Ziele und Zwecke ihrer Planung öffentlich darzulegen und allen Einwohnern Gelegenheit zur Äußerung und Erörterung zu geben. Diese und andere Bürgerbeteiligungsverfahren zeigen, daß auch der Gesetzgeber für Bürgermitwirkung sensibel geworden ist. Hier wird Mitwirkung im Interesse einer besseren Verwaltungsentscheidung, die damit auch der Allgemeinheit zugute kommt, als echte Bürgermitwirkung für das bonum commune gewährt. Durch eine derartige Einschaltung der Bürger wird die Aufgabenwahrnehmung durch die Repräsentativorgane ergänzt und fundiert. Den eigentlichen Durchbruch hat die erweiterte Bürgermitwirkung in den Partizipationsnovellen der neunziger Jahre erfahren. Neben der Einrichtung von Bürgerfragestunden und Bürgerbefragungen und auch der Einschaltung sachkundiger Bürger in die Mitarbeit in Rat und / oder seinen Ausschüssen stehen Ratsreferenden und Ratsbegehren - kleine Bürgerbegehren auf Ratsentscheidungen - , Bürgeranträge und die Einwohner- oder Bürgerversammlungen sowie nichtinstitutionalisierte Formen der Bürgerbeteiligung und vielfältige informelle Einflußmöglichkeiten in Gesprächen mit Mandatsträgern etc. 37 All diese Möglichkeiten müssen einbezogen werden in die Abwägung zwischen Demokratie und Effizienz sowie bei der richtigen Gewichtung zwischen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie vor Ort, wenn die stärkste Form der Bürgerbeteiligung - der Bürgerentscheid - gewichtet wird. Bei dieser Mitwirkungsform, das gilt es zu beachten, werden die gewählten Repräsentanten ad hoc für eine Einzelentscheidung ihres Amtes enthoben. Der Bürger fordert die Selbstentscheidung und Selbstverwaltung von den von ihm Beauftragten zurück. 38 Neben grundlegenden Änderungen der Kommunalverfassungssysteme in den Kommunalrechtsnovellen der neunziger Jahre, bestimmt durch die weitgehende Übernahme der sogenannten süddeutschen Ratsverfassung 39 mit Direktwahl des 36 Normenauswahl zur Öffentlichkeitsbeteiligung: Art./§ 73 Abs. 3, 4, 6 VwVfG; § 3 BauGB; Art. 3 Abs. 5 S. 2 BayNatSchG; § 7 Abs. 6 ROG; Art. 23 Abs. 7 BayLplG; § 10 Abs. 3 - 6 BImSchG; § 7 Abs. 4 S. 3 AtG i.V.m. AtVfV; Art. 46 Abs. 2 BayNatSchG; Art. 38 Abs. 2 BayWaldG; Art. 85 Abs. 3 BayWG; § 9 UVPG; § 39 KrW-/ AbfG. 37

Dazu Knemeyer, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid - Demokratiewert, Politikbedeutung, erste Erfahrungen, BayVBl. 1996, 545 ff., sowie weiterführend Knemeyer, Bürgerbeteiligung (FN 6), S. 83 ff. 38 Zur Vielfalt und zum Stand in den einzelnen Ländern Knemeyer, Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik (FN 6), insb. die Tabelle S. 168 f. - Siehe auch Jesse, Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger und Einwohner nach den deutschen Gemeindeordnungen unter besonderer Berücksichtigung der Neuregelung in Nordrhein-Westfalen (1994), Diss. jur. Bielefeld 1997. 39 Dazu im einzelnen Knemeyer, Die duale Rat-Bürgermeister-Verfassung im Kommunalrecht, JuS 1998, 193. - Nach den Reformen kann man die Kommunal Verfassungen in den deutschen Ländern wie folgt bezeichnen und gliedern: Duale Rat-Bürgermeister-Verfassung 59*

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Rats- und Verwaltungschefs, belegt die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid eine veränderte Position des Bürgers in der Kommunalpolitik, aber auch ein neues Verständnis des Bürgers für die Kommunalpolitik. Die erst am Anfang stehende Entwicklung könnte - wie Ossenbühl es zu Recht prognostiziert „eine völlig neue Phase in der Kommunalpolitik einleiten". 40 Vor diesem Hintergrund gilt es - das sei nochmals betont - , in Abwägung zwischen Demokratie und Effizienz eine selbstverwaltungsverträgliche Bürgermitwirkung zu normieren. 41 Nur dann wird es gelingen, dem „Ruf nach dem Plebiscit" die rechte Antwort zu erteilen und die „neuartige Hoffnung auf die vox populi" 42 nicht überzubewerten.

2. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als wichtigste Ergänzung des Wahlrechts Bürgerbegehren und Bürgerentscheid als wichtigste Ergänzung des Kommunalwahlrechts könnten das Gesicht der örtlichen Demokratie maßgeblich bestimmen. Kein anderes Instrument ermöglicht ein ähnliches Maß an Aktivierung der Bürger für die eigenen Belange, kein anderes kann aber auch so starke Auswirkungen auf eine von Rat und Bürgermeister insgesamt zu vertretende gesamtkonzeptionelle Kommunalpolitik entfalten. Wieweit der Einfluß tatsächlich reicht, hängt von der Ausgestaltung im einzelnen und der Akzeptanz der Bürger ab. Im Anschluß an das baden-württembergische Vorbild haben die Länder Brandenburg, Bremen, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Sachsen-Anhalt nicht nur Bürgerbegehren und Bürgerentscheid übernommen, sondern auch ein 30%iges Entscheidungsquorum eingeführt. Alle anderen Länder - mit Ausnahme Bayerns verlangen ein 25 %iges Entscheidungsquorum. - Dem Abweg in Bayern ist neuerdings Hamburg gefolgt. Durch Volksentscheid am 27. 9. 1998 wurden Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auf Bezirksebene eingeführt.

unter einer urgewählten Spitze: BW, BY, NRW, RhPf, Saarl, Sa und Thür; duale Rat-Bürgermeister-Verfassung mit zwei Spitzen: Bra, MeV, S-A, SH und - mit der Möglichkeit, den Bürgermeister auch zum Ratsvorsitzenden zu wählen, also sich für eine Spitze zu entscheiden: Nds.; unechte Magistratsverfassung: nur in Hessen. 40 Ossenbühl, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, in: Gelebte Demokratie, Festschrift für Manfred Rommel, Stuttgart u. a. 1997, S. 247 ff., 249. 41 Dazu Blanke / Huf schlag, Partizipation und Effizienz (FN 12) und zur Abwägung beider Funktionen grundsätzlich auch Steinger, Amtsverfassung und Demokratieprinzip, Kommunalrecht - Kommunalverwaltung, Bd. 24, Baden-Baden 1997, insb. S. 30 ff. 42 Isensee, Am Ende der Demokratie - oder am Anfang? (FN 1), S. 31 f.; zum „täglichen Plebiscit" Walter Leisner, Die demokratische Anarchie, 1982, S. 116 ff.

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I I I . Mehr Demokratie - oder Abschied vom Demos? Der bayerische (Ab-)Weg Lediglich Bayern hat eine völlig eigenständige Normierung geschaffen. Durch Volksentscheid vom 1. 10. 1995 wurde die bürgerfreundlichste - die Kommunalpolitik aber auch am stärksten tangierende - Regelung eingefühlt: ohne Zustimmungsquorum, ohne Nachweis einer Kostendeckung, mit schmälstem Negativkatalog, frühem Suspensiveffekt und langer Sperrwirkung - einem Suspensiveffekt übrigens, den keine andere Länderregelung kennt und die dann in der gleich näher zu besprechenden Entscheidung auch für verfassungswidrig erklärt wurde. 43 Der wesentliche Unterschied zu allen anderen Länderregelungen ist vor allem dadurch zu erklären, daß der Gesetzgeber selbst sich zunächst nicht dazu hat entschließen können, neben bereits bestehenden vielfältigen Mitwirkungsformen in Bayern auch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid einzuführen. So ist es der Bürgerinitiative „Demokratie entwickeln" auf der Basis der Verfassung gelungen, in der Zeit vom 6 . - 1 9 . 2. 1995 erfolgreich ein Volksbegehren unter dem Titel „Mehr Demokratie in Bayern" durchzuführen und ihr Konzept durchzusetzen. Bei beschämend geringer Abstimmungsbeteiligung von 36,9 % - die beiden vorausgehenden Völksentscheide erreichten immerhin noch 46,2% (1984) bzw. 43,8 % (1991), und der letzte Volksentscheid hat eine Beteiligung von 38,5 % erbracht - haben 57,8 % für den Gesetzentwurf der Initiative und 38,7 % für den Gesetzentwurf des Landtags votiert. 3,5 % der Abstimmungsberechtigten haben beide Gesetzentwürfe abgelehnt, wollten es also bei dem Bestehenden belassen. Diese rechtliche Regelung hat dazu geführt, daß das neue Instrumentarium in Bayern - jedenfalls bis zur maßgeblichen Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs - häufiger als in anderen Ländern genutzt wurde. 44

7. Was ist - vorläufig - daraus geworden? Die Popularklageentscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Die Regelungen haben aber auch zu Verfahren vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof geführt. In einem vielbeachteten Entscheid hat dieser einen Teil des Gesetzes für verfassungswidrig und nichtig erklärt und andere, dem kommuna43

Zu den „normativen Extravaganzen" Schmitt Glaeser, Grenzen des Plebiszits auf kommunaler Ebene, DÖV 1998, 824 ff. 44 Zu Einzelheiten siehe die Bayern-Bilanz, in: Knemeyer, Bürgerbeteiligung (FN 6), S. 117 ff.; siehe auch die Vergleichszahlen zu Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Hessen, S. 118; zur Wertung siehe etwa Gerhard, Plebiszitäre Scherbenhaufen, in: Akademie-, gespräche im Landtag, 24. Juli 1997, Bayerischer Landtag, München 1997. Weiteres statistisches Material in: Bürgerbegehren und Bürgerentscheid (FN 33), S. 69 ff., 199 ff. - Zum Zusammenhang zwischen exzessiver Regelung und intensiver Nutzung Schmitt Glaeser, Grenzen (FN 43), DÖV 1998, 824ff.; Zacher, Plebiszitäre Elemente (FN 9), BayVBl. 1998, 737 ff., 741, spricht - bezogen auf Volksentscheide - vom „Breitensport".

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len Selbstverwaltungsrecht widersprechende Regelungen dem Gesetzgeber zur Neufassung bis spätestens zum Jahr 2000 überantwortet. Die vom Verfassungsgerichtshof beanstandeten Vorschriften betreffen gerade die Besonderheiten gegenüber den ansonsten im großen und ganzen einheitlichen Regelungen von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in der Bundesrepublik. 45 Während der Verfassungsgerichtshof zu schmalem Negativkatalog, fehlendem Kostendeckungsvorschlag und Unterschriftensammlung keine umfangreichen Ausführungen hat machen müssen, hat er sich mit den wesentlichen Kennzeichen bayerischer Regelung: der frühen Sperrwirkung, dem fehlenden Quorum und der langen BindungsWirkung ausführlich auseinandergesetzt. Dabei standen im Gegensatz zur Diskussion in der Öffentlichkeit weder das Demokratieprinzip noch die mögliche Verletzung bürgerschaftlicher (Grund-)Rechte im Vordergrund. Der Verfassungsgerichtshof hat vielmehr im Anschluß an die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Zustandekommens des Volksgesetzes46 mögliche Verstöße des Gesetzes gegen die Garantie kommunaler Selbstverwaltung (Art. 11 Abs. 2 BV, 10 Abs. 1 BV) untersucht und dabei die Funktionsfähigkeit der kommunale Beschlußkörper in den Vordergrund gestellt. Auf diese Weise ist die Diskussion wieder ein wenig ins Gleichgewicht gebracht worden, denn neben den alles bestimmenden Demokratieaspekten in der zweiten Partizipationswelle der neunziger Jahre 47 wurden Hinweise und einzelne Erörterungen zu Auswirkungen überzogener Partizipation auf eine funktionsfähige, gesamtkonzeptionelle Kommunalpolitik 48 in der Diskussion zumeist weggewischt oder überdeckt. Der Verfassungsgerichtshof hat sie - ohne die Demokratiefunktion unterzubewerten - bei der Überprüfung anhand der Selbstverwaltungsgarantie in den Vordergrund stellen müssen und geprüft, inwieweit die neuen Möglichkeiten bürgerschaftlicher Mitwirkung Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems, insbesondere die Arbeit der verfassungsmäßigen Organe, also der unmittelbar durch die Bürgerschaft gewählten Mandatsträger, haben. Wie schon in früheren Entscheidungen wird hervorgehoben, daß zum Selbstverwaltungsrecht nicht nur das Recht, sondern auch die tatsächliche Fähigkeit eigenverantwortlicher Ordnung und Entscheidung der eigenen Angelegenheiten gehört. Damit greift er bewußt oder unbewußt die Definition des Selbstverwaltungsrechts aus der Europäischen Kommunalcharta auf (Art. 3). Der Kernsatz der Entscheidung: „Zum Selbstverwaltungsrecht gehört auch, daß die verfassungsmäßigen Organe der Gemeinde, ihre Bürgermeister und »Vertretungskörper', funktionsfähig und in der Lage bleiben müssen, eigenständig und selbstverantwortlich über die Angelegenheiten der Gemeinde zu entscheiden." wird komprimiert auch im Leitsatz 4 Satz 2 herausgestellt.49 4

5 Dazu im einzelnen Knemeyer, Bürgerbeteiligung (FN 6), insb. Teil 3, S. 165 ff.

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In der abgedruckten Entscheidung nicht wiedergegeben. Die erste war verbunden mit der 68er Bewegung. 48 Dazu etwa im einzelnen Knemeyer, Bürgerbeteiligung (FN 6), insb. S. 77 ff., 247 ff. 49 Zu Einzelheiten Knemeyer, Direkte Demokratie und funktionsfähige Selbstverwaltung, DVB1. 1998, 113 ff. - Zur Funktionsfähigkeit als maßgebliche Parameter kommunaler Selbst47

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IV. Wieviel Plebiszit verträgt unsere örtliche Demokratie? Die Diskussion um den „bayerischen Weg" Ausgelöst und beflügelt durch die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs stehen drei verschiedene Modelle zur Diskussion.50 1. Die Wiederherstellung und verfassungsrechtliche Verankerung des Status 1995 mit einer Einschränkung und einer Erweiterung, 2. eine dem bayerischen Volksentscheid im wesentlichen entsprechende Regelung, 3. ein Bürgerentscheid mit gestuften Quoren. Entsprechen die beiden ersten Modelle wohl am ehesten dem von Leisner gezeichneten Ideal des aktiven Bürgers 51, so bezieht das dritte Modell die Realitäten mit ein, berücksichtigt die vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof als maßgeblichen Parameter kommunaler Selbstverwaltung herausgestellte Funktionsfähigkeit des grundsätzlich repräsentativ angelegten Systems und stärkt örtliche Demokratie durch vereinfachte Realisierungschancen von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden. 1. Aushebelung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs durch Volksgesetz

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Das erste - von Mehr Demokratie e.V. fortentwickelte und 1999 in einem Völksentscheid zur Abstimmung gestellte Modell hält im wesentlichen an der für teilweise verfassungswidrig erklärten Regelung fest. Es sieht sogar nunmehr in der Verfassung 53 abgesichert vor: 1. die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, 2. eine Bindungswirkung von 2 Jahren anstatt bisher 3 Jahren - die einzige Konzession - , 3. die Beibehaltung des Nullquorums, 4. eine Ausweitung der Gegenstände von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auch auf Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises und 5. die Beibehaltung der „freien" Unterschriftensammlung. Verwaltung in der Rspr. des VerfGH auch Blanke / Huf schlag, Partizipation und Effizienz (FN 12), JZ 1998, 653 ff., 658. 50 Zu den weiteren Möglichkeiten im einzelnen Thum , Rechtspolitische Überlegungen zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheid - Ein Beitrag aus kommunalpraktischer Sicht, BayVBl. 1998,193 ff., 198 ff. 51 Zum Menschenbild des „aktiven Bürgers" Leisner, Die demokratische Anarchie (FN 42), S. 225 ff. 52 Zur erstmaligen Überprüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit eines Volksgesetzes durch ein Verfassungsgericht Blanke / Huf schlag, Partizipation und Effizienz (FN 12), JZ 1998, 653 ff., 658. 53 Eine verfassungstechnisch bisher völlig ungebräuchliche Detailregelung.

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Die Reduzierung der Bindungsdauer von 3 auf 2 Jahre bei Beibehaltung des Nullquorums wird der Verknüpfung zwischen Bindungswirkung und Quorum, die der Verfassungsgerichtshof zu Recht in den Vordergrund gestellt hat, nicht gerecht. Es kann nicht auf eines von beiden verzichtet werden. Beim völligen Verzicht auf ein Quorum müßte auch auf die Bindungswirkung völlig verzichtet werden. 54 Auch bei noch so hoch angesetztem Quorum könnte die Bindungswirkung nicht beliebig lang festgelegt werden. Andererseits könnte bei niedrigem Quorum die Bindungswirkung kaum unter einem Jahr liegen. Bei zu geringer Bindungsdauer wäre dem Bürger kaum verständlich zu machen, warum er dann ausdrücklich zur Urne gebeten wird. 55 Die Ausweitung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden auf den übertragenen Wirkungskreis berücksichtigt schließlich nicht die Wesensverschiedenheit dieser beiden Aufgabenbereiche und auch nicht das Verhältnis kommunaler Selbstverwaltung zur Staatsverwaltung.56 Bezüglich der „freien" Unterschriftensammlung kann mit dem Verfassungsgerichtshof nur darauf vertraut werden, daß die Initiativen sich bei der Unterschriftensammlung entsprechende Zurückhaltung auferlegen und die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen respektieren. 57 2. Bürgerentscheid

= Volksentscheid

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Das zweite Modell - die Anbindung an die Regelungen des Volksentscheides in der Bayerischen Verfassung (Art. 74) 5 9 - entspricht dem pragmatisch-politischen Denken der Stelle, die die Konsequenzen, wenn auch nicht im Einzelfall, so doch in der Gesamtkonzeption, zu vertreten hat - dem Bayerischen Staatsministerium des Innern. Der in diesem Hause für den Bereich Bürgerbegehren / Bürgerentscheid zuständige Referent, Beobachter und Vordenker, Dr. Thum, führt dazu aus: „Nach den in den beiden vergangenen Jahren bekanntgewordenen Zahlen liegt die durchschnittliche Abstimmungsbeteiligung in kleineren Gemeinden über 50 %. Die Einführung 54 So zu Recht auch Blanke / Huf schlag, Partizipation und Effizienz (FN 12), JZ 1998, 653 ff., 659: „Je geringer das Legitimationserfordernis eines Bürgerentscheids, desto kürzer seine Bindungswirkung." 55

Zur Ablehnung des Quorums werden von der Initiative keinerlei neue Argumente vorgetragen. - Der diskutierte Verzicht auf eine rechtliche Verankerung einer BindungsWirkung ist nur verständlich vor dem Hintergrund faktischer Bindungswirkung von Bürgerentscheiden. 56

Dazu näher Thum, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid (FN 50), BayVBl. 1998, 193 ff., 200 f. 57 VerfGH, BayVBl. 1997, 622 ff., 628. 58 Der Verfassungsgerichtshof stellt ausdrücklich die grundlegende Verschiedenheit heraus, BayVBl. 1997, 622 ff., 627. 59 Zum einzigen Geburtsfehler der Bayerischen Verfassung, dem fehlenden Quorum beim Volksentscheid, siehe näher Zacher, Plebiszitäre Elemente (FN 9), BayVBl. 1998, 737, 740.

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eines Beteiligungsquorums von 50% oder eines Zustimmungs- oder Abstimmungsquorums von 25 % wäre deshalb für diese Gemeinden im Grunde bedeutungslos. Ein Quorum würde sich lediglich bei größeren Städten auswirken, jedoch mit der Folge, daß bei nicht erreichter Mehrheit die mitunter sehr hohen Kosten des Bürgerentscheids (etwa Tunnelentscheid in München 1,6 Mio. DM) vergebens aufgewendet worden sind. Außerdem wäre ein Quorum bei größeren Städten damit verbunden, daß sich eventuell sehr viele Bürgerinnen und Bürger mit einem sehr kleinen Problem zu befassen hätten. Schließlich ist weder bei Volksentscheiden noch bei Wahlen ein Quorum vorgesehen. Ausgehend von diesen Überlegungen dürfte es sich empfehlen, auf die Einführung eines wie auch immer gearteten Quorums zu verzichten. Statt dessen sollte die Bindungswirkung mit einer „clausula rebus sie stantibus" verbunden, auf ein Jahr reduziert und die letztlich sehr viel wichtigere Unterschriftenzahl für ein erfolgreiches Bürgerbegehren (Art. 18 a Abs. 6 und 7 GO) angehoben werden. Denn mit höheren Eingangs- und Zulassungshürden könnten Minderheitsaktivitäten wirksam unterbunden'ünd Kosten für einen möglicherweise von vornherein aussichtslosen Bürgerentscheid eingespart werden." 60

Dieser Vorschlag - rein pragmatisch eingekleidet - entspricht weitgehend dem Vorschlag der Initiative. Der wesentliche Unterschied - Anhebung des Begehrensquorums - wird sich in einem erneut anstehenden Verfahren des Volksentscheides kaum durchsetzen lassen. Auch wäre einem Minimum an Legitimation im Bürgerentscheid nicht Rechnung getragen, und schließlich läßt dieser Vorschlag den wesentlichen Unterschied zwischen Bürgerentscheid und Volksentscheid sowie Wahlen außer Betracht. 61 Der Bürgerentscheid soll ja einen Sachentscheid des Rates ersetzen, nicht Entscheider wählen und auch nicht generell-abstrakte Regelungen für die Zukunft festlegen. Inkonsequent ist bei dem Vorschlag aus dem Innenministerium schließlich weiterhin, daß bei der Anlehnung an Volksbegehren und Volksentscheid eine wesentliche Voraussetzung nicht übernommen wird: der Amtseintrag - und damit das effektivste Sicherungsmittel gegen eine Überstrapazierung und eventuellen Mißbrauch. 62 Auch hier mag wieder der Pragmatiker gesprochen haben, denn selbst wenn alle Vorteile der Regelung des Volksentscheides akzeptiert werden würden, so ließe sich doch ein Amtseintrag kaum realisieren. Hier würde dann von der Initiative im „Abstimmungskampf 4 - wieder die Seiten wechselnd - auf die Parallelen in anderen Ländern bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheid hingewiesen werden; dort gibt es keinen Amtseintrag. Im übrigen wird im „Volksentscheid-Kampf 4 jeder, der eine Hürde einbaut, ja sie sogar noch erhöht, mit dem Stigma belastet werden, kein echter Demokrat zu sein.63 60 Thum , Bürgerbegehren und Bürgerentscheid (FN 50), BayVBl. 1998, 193 ff., 199 f. 61 Gerade zu dieser Unterscheidung hat der Verfassungsgerichtshof Maßgebliches ausgeführt, BayVBl. 1997, 622 ff., 627. 62 Thum erklärt ausdrücklich, daß ein Amtseintrag nicht empfohlen werden könne; BayVBl. 1998, 200. 63 Der Jurist sollte zwar nicht spekulieren, aber in einer Fußnote darf wohl angemerkt werden, daß ein derartiges Modell m.E. kaum Chancen haben dürfte. Im übrigen ist gerade (Juli 1998) die Unterschriftensammlung für ein Volksbegehren unter dem Schlagwort „Faire Volksrechte" angelaufen, das eine Verringerung des Volksbegehrensquorums von 10 auf 5 %

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3. Bürgerentscheide

mit gestuften Quoren 64

Auch unter dem mehr pragmatisch-politischem Aspekt kommt am ehesten ein Modell infrage, das sich die positiven, aber auch die negativen Erfahrungen anderer Länder zunutze macht und zugleich den Fingerzeigen des Verfassungsgerichtshofs Rechnung trägt: ein Modell mit gestuften Quoren, die die Möglichkeiten effektiver Nutzung der begrüßenswerten direktdemokratischen Formen auch in größeren Städten weiter öffnet und realistisch werden läßt, zugleich aber die Funktionsfähigkeit der Repräsentativorgane nicht übermäßig einschränkt. Ein derartiges Modell - in keinem Bundesland praktiziert - könnte der Tatsache Rechnung tragen, daß die Bevölkerung in Großstädten vergleichsweise schwerer mobilisiert werden kann als in kleineren Gemeinden. Es würde - wie der Verfassungsgerichtshof es ausdrückt - jedenfalls „eine gewisse Repräsentativität" 65 für sich in Anspruch nehmen können. Es würde die örtliche Demokratie stärken, die Instrumente würden effektiver auch in größeren Städten genutzt werden können, es würde mehr Mitsprache ermöglichen, aber nicht eine Entscheidung der Wenigen ermöglichen. 66 Gleichzeitig würde dieses Modell auch eine gewisse, aber nicht überzogene und unrealistische „Erziehungsfunktion" erfüllen können: Es könnte und würde die Mandatsträger zu mehr Offenheit und Öffentlichkeitsarbeit veranlassen und mehr Bürger veranlassen teilzunehmen, um Gewolltes zu erreichen oder Nichtgewolltes zu verhindern. 67 Zugleich würde es nicht jedermann „faktisch verpflichten", über die Gänge zur Wahlurne hinaus die Mandatare, denen er einmal das Vertrauen für die Amtsperiode ausgesprochen hat, ständiger Kontrolle zu unterziehen. 68 zum Ziel hat. - Bezogen auf Volksentscheide ohne Quoren pointiert Zacher: „Wer hier von ,mehr Demokratie' spricht, muß sich fragen lassen, ob er nachgedacht hat." Zacher, Plebiszitäre Elmente (FN 9), BayVBl. 1998, 737 ff., 742. 64 So nunmehr der Vorschlag der Staatsregierung. 65 BayVerfGH, BayVBl. 1997, 622 ff., 627. - Zur Problematik der Volksgesetzgebung, Delegitimation, „Verantwortungslosigkeit" siehe besonders Zacher, Plebiszitäre Elemente (FN 9), BayVBl. 1998, 737 ff., 742. 66 Zur Bürgeraristokratie Leisner, Demokratie - Selbstzerstörung einer Staatsform?, Berlin 1979, S. 227 f. - Leider kann auch hier nicht näher auf Leisners Bürgerideal eingegangen werden, ebenso wenig auf die große Diskussion um den guten - politisch aktiven Bürger, wie sie besonders von Politologen und Sozilogen genährt wird. Hingewiesen sei nur auf die Beiträge von Gabriel und Strohmeier, in: Gabriel/Knemeyer/Strohmeier, Neue Formen politischer Partizipation - Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, Interne Studie Nr. 136/1997, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin 1997. 67 Zur zumutbaren Last des Bürgers, sich bekennen zu müssen auch Blanke /Hufschlag, Partizipation und Effizienz (FN 12), JZ 1998, 653 ff., 659. Auch der VerfGH hält es nicht für unzulässig, ein höheres bürgerschaftliches Engagement einzufordern. Er hat aber gleichzeitig auch die Grenzen der Zumutbarkeit angesprochen; BayVerfGH, BayVBl. 1997, 622 ff., 629. 68 Auf weitere Einzelheiten, insbesondere die Ausgestaltung eines Negativkatalogs - Bürgerentscheide nur Richtungsentscheide, Einzelheiten aber dem Gemeinderat überlassen, bei Planungs- und Prognoseentscheidungen eine clausula einbauen - kann hier nicht eingegan-

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Durch eine das Gesamtsystem berücksichtigende Erweiterung und positive Nutzung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid könnte eine gewisse Selbstregenerierung der örtlichen Demokratie bewirkt werden. 69 Die schon in den siebziger Jahren eingeleitete stufenweise Erweiterung von Mit- und Einwirkungsmöglichkeiten der Bürger würde konsequent und harmonisch weiterverfolgt, ohne die für eine funktionsfähige kommunale Selbstverwaltung inakzeptablen Folgen 70 einer „informellen Plebiszit-Demokratie" 71 in sich zu tragen. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid wären dann - aber auch nur dann - wertvolle Ergänzungen, vielleicht würden sie sogar mit der Zeit zu einer neuen Bürgerkultur beitragen. Jedenfalls sollte die gemischte Demokratie mit richtig austariertem Spannungsverhältnis von Partizipation und Effizienz - von repräsentativer und direkter Demokratie - Wesensmerkmal kommunaler Selbstverwaltung sein. Das kommunale Repräsentativsystem muß - auch weiterhin - Orientierung und Grenze für Elemente direkter Demokratie bilden. 72

gen werden. Auch ließe sich über Demokratie-defizitäre Mehrheitsregelungen weiter trefflich streiten. 69 Dazu Isensee, Am Ende der Demokratie - oder am Anfang? (FN 1), S. 61 f. 70 Zur Erosion der kommunalen Entscheidungsmacht Berg, Demokratie (FN 22), Städteund Gemeinderat 1979, 353. 71 Isensee, Am Ende der Demokratie - oder am Anfang? (FN 1), S. 33. 72 Direkte Demokratie ist nicht bessere Demokratie. Zu den Grenzen Schmitt Glaeser, Grenzen des Plebiscits auf kommunaler Ebene (FN 43), DÖV 1998, 824 ff., 826.

Mitbestimmung im öffentlichen Bereich Von Günter Püttner

I. Der Werdegang eines Problems Als sich um das Jahr 1970 eine Tendenz zur Erweiterung der Mitbestimmung im öffentlichen Bereich auszubreiten begann, war Walter Leisner 1 der erste, der mit aller Deutlichkeit auf den Widerspruch zwischen dem Anspruch der Beschäftigten auf Mitbestimmung und tragenden Prinzipien der Verfassung aufmerksam gemacht hat. Das heute im Vordergrund stehende Demokratieprinzip war damals vom BVerfG 2 oder einem Landesverfassungsgericht noch nicht dezidiert ins Spiel gebracht worden. Walter Leisner zog ebenfalls stärker den Grundsatz der Gewaltenteilung als das Demokratieprinzip heran, das dann aber in der Studie über die Schulleiterbestellung3 mehr in den Vordergrund rückte. Im übrigen war Walter Leisner auch der erste, der klar herausstellte, daß jeder an der Ausübung der Staatsgewalt Beteiligte diese Legitimation brauche, also in einem Kollegialorgan (Verwaltungsrat usw.) nicht nur die Mehrheit der Mitglieder; schließlich könne jede Stimme den Ausschlag geben (a. a. O. S. 40 f.). Nur langsam setzte sich diese Auffassung in der Rechtsprechung durch. Das BVerfG stellte erstmals in der Entscheidung zur Schleswig - holsteinischen Magistratsfrage (BVerfGE 38, S. 258 ff.) den Grundsatz heraus, daß Staatsgewalt nur ausüben dürfe, wer vom Volk dazu legitimiert sei (S. 270 f.). Diesen Grundsatz bestätigte das Gericht in der Entscheidung zur Legitimation der Stadtbezirksvertretungen in Nordrhein-Westfalen (BVerfGE 47, S. 253 ff.). Das Gericht fand aber bis 1995 keine Gelegenheit, diesen Grundsatz auf die Beschäftigten-Mitbestimmung anzuwenden. So blieb es dem VerfGH NW vorbehalten, erstmals den Gedanken der Legitimation zur Ausübung von Staatsgewalt für die Mitbestimmungsfrage in öffentlichen Unternehmen (konkret: Sparkassen) fruchtbar zu machen4: Da die 1

Walter Leisner, Mitbestimmung im öffentlichen Dienst, Bad Godesberg 1970. Die immer wieder zitierte Entscheidung BverfGE 9, S. 268 ff. Zum Bremer Personalvertretungsgesetz argumentierte mit Regierungsverantwortung, Gewaltenteilung (S. 279), mit dem Verbot ministerialfreien Raumes (S. 282) und Art. 53 Abs. 4 GG (S. 282), nicht jedoch mit Demokratie oder demokratischer Legitimation (der Begriff Demokratie taucht beiläufig auf S. 279 und - adjektivisch - auf S. 281). 3 Walter Leisner, Vörgesetztenwahl, Bonn - Bad Godesberg 1974 (bes. S. 44 ff.). 4 Urteil vom 15. 9. 1986, DVB1. 1986, S. 1196 ff. 2

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Sparkassentätigkeit öffentliche Aufgabenerfüllung bedeute und zur Ausübung von Staatsgewalt zu rechnen sei, müßten alle Mitglieder des Verwaltungsrats der Sparkassen ordnungsgemäß demokratisch legitimiert sein. Die Beschäftigten seien kein Teilvolk und auch sonst nicht befähigt, demokratische Legitimation zu vermitteln. Die gleiche Auffassung hat um die selbe Zeit auch der Hessische Staatsgerichtshof im Hinblick auf Bestimmungen im hessischen Personalvertretungsgesetz vertreten, allerdings ohne die unternehmerische Mitbestimmung in Verwaltungsräten besonders herauszustellen5. Damit erfuhren die zahlreichen Gutachten und literarischen Stellungnahmen, die im Anschluß an Leisner die Grenzen der Mitbestimmung im öffentlichen Bereich aufgezeigt hatten6, endlich die ersehnte gerichtliche Bestätigung. Längere Zeit blieb allerdings, wie gesagt, ein Spruch des Bundesverfassungsgerichts aus. Dieser folgte erst 1995 im Zuge einer Überprüfung des schleswigholsteinischen Mitbestimmungsgesetzes von 19907. Im grundlegenden Teil seiner Entscheidung (S. 66 ff.) stützt sich das Gericht, an seine dargestellte frühere Rechtsprechung anknüpfend, insbesondere auf Art. 20 Abs. 2 GG, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und nur von Organen und Amtswaltern ausgeübt werden darf, die dafür vom Volk, und zwar von der Gesamtheit der Staatsbürger, legitimiert sind. Am Prinzip der „ununterbrochenen Legitimationskette" wird ausdrücklich festgehalten (S. 67). In diesem Zusammenhang fügt das Gericht eine Bemerkung an, die für die Zukunft wichtig werden kann (S. 67-68): „Sieht das Gesetz ein Gremium als Kreationsorgan für die definitive Bestellung eines Amtsträgers vor, das nur teils aus personell legitimierten Amtsträgern zusammengesetzt ist, so erhält der zu Bestellende volle demokratische Legitimation für sein Amt nur dadurch, daß die die Entscheidung tragende Mehrheit sich ihrerseits aus einer Mehrheit unbeschränkt demokratisch legitimierter Mitglieder des Kreationsorgans ergibt. Die Vermittlung personeller demokratischer Legitimation setzt weiter voraus, daß die personell demokratisch legitimierten Mitglieder eines solchen Kreationsorgans bei ihrer Mitwirkung an der Bestellung eines Amtsträgers ihrerseits auch parlamentarisch verantwortlich handeln."

Das BVerfG beanstandet also nicht die Existenz gemischt zusammengesetzter Gremien, sondern legt nur dar, unter welchen Bedingungen sie zur Weitergabe von demokratischer Legitimation in der Lage sind. 5 Urteil vom 30. 4. 1986, DVB1. 1986, S. 936 ff. 6 Vgl. Kurt Biedenkopf 7Franz-Jürgen Säcker, Grenzen der Mitbestimmung in kommunalen Versorgungsunternehmen, ZfA 1971, S. 211 ff.; Günter Püttner, Die Mitbestimmung in kommunalen Unternehmen unter dem Grundgesetz, Frankfurt a.M. 1972; Fritz Ossenbühl, Erweiterte Mitbestimmung in kommunalen Eigengesellschaften, Stuttgart 1972; Klaus Obermayer, Mitbestimmung in kommunalen Eigengesellschaften, Frankfurt a.M. 1972; Reinhardt Berner, Die erweiterte Mitbestimmung in kommunalen Eigengesellschaften, Göttingen 1975. 7 BverfGE 93, S. 37 ff. vom 24. 5. 1995.

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Das BVerfG betont dann, daß die Legitimation sich jeweils auf eine bestimmte Funktion, ein Amt bezieht und andere Tätigkeiten nicht mitumfaßt. Weiter wird festgehalten, daß zur Ausübung von Staatsgewalt auch behördeninternes Handeln gehört, weil es auf die Ausübung der Staatsgewalt nach außen einwirkt (S. 68, 69). Das Gericht fügt aber hinzu, daß für eine maßvolle Mitgestaltung der Arbeitsbedingungen durch die Beschäftigten durchaus Raum sei, weil sie sich „nach den Erfahrungen des Arbeitslebens" als Instrument des Interessenausgleichs und „zur Förderung sachgerechter Aufgabenerledigung" erwiesen habe. Solche Mitgestaltung sei solange mit dem Demokratieprinzip vereinbar, wie sie „nicht den Grundsatz berührt, daß alle der Staatsgewalt Unterworfenen den gleichen Einfluß auf die Ausübung der Staatsgewalt haben müssen" und individuell Betroffene keine gesteigerten Mitbestimmungsrechte haben dürfen (S. 69). Offengelassen wird, ob die Grundrechte oder das Sozialstaatsprinzip zur Einräumung von Mitbestimmungsrechten nötigen (S. 69). Im folgenden Abschnitt zeigt das BVerfG im einzelnen die Grenzen der zulässigen Mitbestimmung über die Personalvertretungen auf. Die Mitbestimmung dürfe sich nur auf innerdienstliche Maßnahmen beziehen und müsse durch die Interessen der Beschäftigten gerechtfertigt sein (Schutzzweckgrenze). Bei „Entscheidungen von Bedeutung für die Erfüllung des Amtsauftrages" müsse die Letztentscheidung durch einen legitimierten und parlamentsverantwortlichen Amtsträger gesichert sein (Verantwortungsgrenze). Innerhalb dieses Rahmens gelte: Je weniger die zu treffende Entscheidung typischerweise die verantwortliche Wahrnehmung des Amtsauftrages und je nachhaltiger sie die Interessen der Beschäftigten berührt, desto weiter kann die Beteiligung der Personalvertretung reichen. Diesen Grundsatz entfaltet das Gericht im folgenden näher (a) für Maßnahmen im Binnenbereich, die den Amtsauftrag nicht oder nur unerheblich berühren, (b) für Maßnahmen im Binnenbereich, die den Amtsauftrag nicht nur unerheblich berühren, sowie (c) für Maßnahmen der Erledigung des Amtsauftrags, die unvermeidlich auch die Interessen der Beschäftigten berühren. Im Fall a sei einiger Raum für Mitbestimmung bis hin zur Entscheidung durch eine Einigungsstelle, wobei es aber doch „einer - wenngleich abgeschwächten demokratischen Legitimation" bedürfe. Dies könne durch eine Mehrheit „in gewissem Maße personell legitimierter" Mitglieder in der Einigungsstelle, durch deren Gesetzesbindung und durch einen Amtsträgervorbehalt für wichtige Entscheidungen (z. B. per Evokationsrecht) gesichert werden (S. 71). Maßnahmen des Falles b bedürften „eines höheren Maßes an demokratischer Legitimation" (S. 72), weshalb jedenfalls die Möglichkeit der Letztentscheidung durch einen volkslegitimierten Amtsträger vorbehalten bleiben müsse. Es heißt dann (S. 72): „Die Kompetenz einer Einigungsstelle zur abschließenden Entscheidung kann hier nur unter der Voraussetzung hingenommen werden, daß die Mehrheit ihrer Mitglieder uneingeschränkt personell demokratisch legitimiert ist und die Entscheidung darüber

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hinaus von einer Mehrheit der so legitimierten Mitglieder getragen wird (Prinzip der sogenannten doppelten Mehrheit; vgl. hierzu erläuternd E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1 1987, 22, S. 899, Fußnote 25)." Allerdings könne der der Einigungsstelle anhaftende Mangel auch durch das (nachfolgende) Letztentscheidungsrecht eines legitimierten Amtsträgers ausgeglichen werden. Im Falle c dürfe es dagegen keine substantielle Einschränkung der Entscheidungsgewalt der volkslegitimierten Amtsträger geben: Sprüche der Einigungsstelle dürften nur empfehlenden Charakter haben (S. 73). Im einzelnen wird auf § 104 S. 3 BPersVG und auf die alte Entscheidung BVerfGE 9, S. 268 ff. verwiesen. Das BVerfG fügt noch an, daß dem Gesetzgeber Gestaltungsspielraum verbleibe (S. 73/74) und daß es mit einer nur „formalen Wahrung" der Entscheidungskompetenz volkslegitimierter Amtsträger nicht getan sei (S. 74). Der Gesetzgeber dürfe diese Amtsträger nicht in die Lage bringen, daß sie das für die Erfüllung ihres Amtsauftrags Notwendige „nur um den Preis von Zugeständnissen" durchsetzen könnten. Allerdings hat auch die jüngste Rechtsprechung die immer vorhandenen Kritiker der Legitimationsdoktrin 8 nicht völlig zum Verstummen gebracht. Und es ist auch bezeichnend für die neuere Rechtskultur in Deutschland, daß in den Ländern, für die noch kein verfassungsgerichtlicher Spruch ergangen ist, die Mitbestimmung nach wie vor in der beanstandeten Weise ausgeübt wird 9 . Die Entwicklung der Mitbestimmungsfrage im öffentlichen Bereich ist noch nicht an ihrem Endpunkt angekommen. Es lohnt sich deshalb, auf den einen oder anderen kritischen Punkt näher einzugehen, nachdem die Grundsatzfrage kaum noch streitig ist.

II. Ein Grenzfall: Gemischte Gremien Nach der Entscheidung zur schleswig-holsteinischen Magistratsfrage 10 sollten bei einem Gremium, das Staatsgewalt ausübt, alle Mitglieder der demokratischen Legitimation bedürfen, was auch die Unzulässigkeit gemischter Entscheidungsgremien, bestehend aus Legitimierten und Nichtlegitimierten, hinauslaufen müßte. 8

Früher Hans Peter Schneider, Wirtschaftliche Mitbestimmung in öffentlichen Unternehmen, DÖV 1972, S. 598 ff.; Thomas Raiser, Paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Unternehmen der Gemeinden, RdA 1972, S. 65 ff.; später besonders: Bernhard Nagel /Uwe Bauers, Mitbestimmung in öffentlich-rechtlichen Unternehmen,Baden-Baden 1990; Peter J. Tettinger, Mitbestimmung in der Sparkasse und verfassungsrechtliches Demokratiegebot, Heidelberg 1986 (vertritt eine „abgestufte Stringenz" des als „schmückendes Staatsattribut" S. 21 - titulierten Demokratieprinzips). 9 Vgl. Z. B. §§ 12, 15 SpkG BW. 10 BVerfGE 38, S. 258 (271).

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Davon hat das BVerfG, wie dargestellt, nun Abstriche gemacht und nur die „doppelte Mehrheit" bei Entscheidungen gefordert. Es darf aber nicht übersehen werden, daß das B VerfG diese Gestaltung zugelassen hat für ein Gremium (Einigungsstelle), in dem die volkslegitimierte Seite mit einer gewissen Geschlossenheit und Homogenität auftritt. Zwar kann es bei diesen Vertretern ein unterschiedliches Abstimmungsverhalten geben (deshalb die doppelte Mehrheit), aber grundsätzlich bildet doch die Dienstherrn-Seite in der Einigungsstelle eine gleichgerichtete Front. Anders liegt es bei Verwaltungsräten und ähnlichen kommunalen Gremien, in denen die volkslegitimierten Vertreter nach Gemeinderats-Proporz bestellt sind. Hier kann es vorkommen, daß die Personalvertreter mit der einen oder anderen Gruppierung koalieren und damit eine Mehrheit herstellen, die von der Gemeinderatsmehrheit abweicht. Zwar würde das Prinzip der doppelten Mehrheit (wenn es denn eingeführt wird) die Überstimmung der volkslegitimierten (Gemeinderats-)Mehrheit verhindern, aber umgekehrt würde diese Mehrheit sich auch nicht durchsetzen können, weil ihr die Gesamtmehrheit fehlt. Also gäbe es entweder eine - nicht längere Zeit tragbare - Blockade oder den Zwang zum Kompromiß. Dieser Zwang wäre in wichtigen Fragen der Ausübung der Staatsgewalt nicht hinnehmbar, so daß gemischte Gremien aus nach Proporz bestellten Volksvertretern und Personalvertretern nach wie vor als unzulässig gelten müssen11. Dies auch deshalb, weil es nicht Sinn der Mitbestimmung sein kann, die vom Volk bestimmten Mehrheits- und Proporzverhältnisse zu verändern. Es ist deshalb ein Unterschied zu machen zwischen Verständigungsgremien wie der Einigungsstelle, in der sich beide Seiten treffen sollen, und z. B. Verwaltungsräten, in denen die geschäftspolitische Richtung öffentlicher Unternehmen festgelegt werden, also Staatsgewalt in Richtung auf die Bürger ausgeübt werden soll. Hier muß sich die volkslegitimierte Mehrheit in positivem Sinne durchsetzen können; es genügt nicht, daß sie einer andersgerichteten Gesamtmehrheit in den Arm fallen kann. Es bleibt also bei der von den Landesverfassungsgerichten ausgesprochenen Unzulässigkeit der Mitbestimmung in diesen Gremien.

I I I . Zur Bewertung der Drittelparität an den Universitäten Ganz gleich ob es in den Universitäten die „Drittelparität" (Gremien aus Professoren, Mitarbeitern und Studenten je zu einem Dirttel) oder eine niedrigere Mitbestimmungsguote wie in Baden-Württemberg gibt, jedenfalls erheben sich Zweifel an der demokratischen Legitimation der Mitbestimmungsträger, namentlich der Studenten, geht man von den oben dargestellten, nun auch vom BVerfG anerkannten Grundsätzen aus. Interessant ist aber, daß sich in der früheren BVerfG-Ent11

Vgl. Günter Püttner, Mitbestimmung und demokratische Legitimation insbesondere im Kulturbereich, DÖV 1988, S. 357 (359 f.). 60 FS Leisner

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Scheidung zum niedersächsischen Vorschaltgesetz12 zwar Belege dafür finden, welche Entscheidungen mehrheitlich den Professoren vorbehalten bleiben müssen, aber kein Wort zur demokratischen Legitimation der Mitbestimmenden. Dies war eben seinerzeit jedenfalls für die Hochschulorganisation noch kein Thema; offenbar haben es die Prozeßvertreter der Professorenseite auch nicht vorgebracht. Nun aber läßt sich der Legitimationsfrage nicht mehr ausweichen. Es fragt sich, wie in Selbstverwaltungskörperschaften die demokratische Legitimation vermittelt werden kann. Sicher ist, daß in Ländern, Kreisen und Gemeinden, also in den Gebietskörperschaften,das jeweilige „Teilvolk" (Terminus vom VerfGH NW) gemäß der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG die Staatsgewalt für seinen Bereich ordungsgemäß legitimieren kann. Es fragt sich indessen, ob auch die funktionalen Selbstverwaltungskörperschaften, also Kammern aller Art, aber auch Universitäten über ein für die Erteilung der demokratischen Legitimation geeignetes Teilvolk verfügen 13. Aber wenn man dies annimmt - und dafür spricht einiges - , dann fragt sich weiter, ob dieses ein homogenes sein muß und analog zu Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG auf der Grundlage allgemeinen und gleichen Wahlrechts die Legitimation erteilen muß, oder ob dieses Teilvolk ein in Gruppen gegliedertes sein darf, die mit unterschiedlichem Stimmrecht mitwirken. Vom Grundgedanken der egalitären Demokratie her wird man die Frage eher verneinen wollen, zumal das Gruppenmodell sich mehr an den Ständestaat als an die moderne Demokratie anlehnt. Aber die besondere Situation der gruppengeprägten Selbstverwaltungskörperschaften sollte doch Anlaß geben, die Antwort zu überdenken. Lange bevor man in den Universitäten, die immerhin schon seit Humboldt als Gemeinschaften von Lehrenden und Lernenden gelten, die Gruppenmitbestimmung ersonnen wurde, gab es beispielsweise in den Handwerkskammern die Regelung, daß ein Drittel der Mitglieder der Vollversammlung von den Gesellen zu stellen waren und sind (§ 93 HwO), woran ersichtlich niemand Anstoß nahm und nimmt. In vielen Bereichen des Kultur- und Wissenschaftswesens gibt es nun einmal verschiedene Beteiligte bzw. Gruppen, die, wenn überhaupt, nur je unterschiedlicher Weise mitwirken können. Natürlich läßt sich bezweifeln, ob in den Universitäten die in den 68er Jahren gegen die Professoren durchgesetzte Drittelparität wirklich das Richtige ist. Da aber schon vorher vielerorts gewählte Studentenvertreter in den Gremien mitwirkten (so an der FU Berlin) und dies auch gemeinhin als sinnvoll gilt, wäre es nicht unproblematisch, wegen der ungeliebten Drittelparität die Demokratiewidrigkeit jeglicher Gruppenmitwirkung zu postulieren und damit jegliche Mitbestimmung der Studenten unmöglich zu machen14. 12 BVerfGe 33, S. 79 ff. 13

Vgl. Hierzu und zum folgenden Püttner a. a. O. (Anm. 11), S. 360, 362. Bei den Assistenten, die ja öffentlich Bedienstete sind, wäre die Frage der Legitimation nicht so einfach zu verneinen. 14

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Eher erscheint es sinnvoll, nach der Legitimation des neuen Hochschulrats zu fragen, aber dieser wird im Zweifel aus staatsbestellten Persönlichkeiten bestehen, so daß an deren formeller Legitimation letztlich keine Zweifel verbleiben werden. Ob aber der Übergang von der Gruppenuniversität zur hochschulratsgeleiteten Management-Universität der Wissenschaft zuträglich ist oder in den Abgrund führt, ist eine andere Frage.

IV. Zur Wahl von Schulleitern und Rektoren Was nach klassischem Staats- und Verwaltungsrecht zur Wahl der Schulleiter durch Lehrer, Eltern und Schüler zu sagen war und ist, hat Walter Leisner 1974 zusammengetragen und engagiert bewertet 15. Dabei führte er in aller Klarheit aus, daß die Mitbestimmung (der Gruppen) wegen Verstoßes gegen das Demokratieprinzip, die Gewaltenteilung und die Parlamentsverantwortung verfassungswidrig ist (S. 21-23). Die Frage, ob eine solche Wahl dem Schulleiter die nötige demokratische Legitimation zur Amtsausübung verleihen könne, stellte sich nach dem damaligen Stand der Dinge noch nicht; heute muß sie aufgeworfen werden. Wird sie nämlich verneint, so verstärken sich die damals von Leisner vorgebrachten (bis heute gültigen) Argumente noch ganz erheblich. Auf den ersten Blick scheint die Antwort einfach zu sein. Eltern und Schüler können die nötige Legitimation keinesfalls vermitteln, weil sie selbst nich legitimiert sind, und die Lehrer können dies, die doppelte Mehrheit für sie unterstellt, eigentlich auch nicht. Zwar sind sie als Beamte volkslegitimiert, aber doch wohl gegenüber den Bürgern, nicht dagegen zum Zwecke der Wahl ihres Vorgesetzten. Alles, was der VerfGH NW (a. a. O.) gegen die Wahl der Sparkassenverwaltungsräte durch die Sparkasenbediensteten vorgebracht hat, trifft auch auf die Wahl der Schulleiter durch die Lehrer zu. Es wäre allerdings wiederum zu fragen, ob die „Schulgemeinde" aus Lehrern, Eltern und Schülern als Teilvolk aufzufassen ist mit der Folge, daß sie den Schulleiter legitimieren kann. Bei der in Richtung auf Selbstverwaltung tendierenden heutigen Schule, gern als „autonome Schule" betitelt, würden das einige Zeitgenossen vielleicht annehmen wollen. Aber die allgemeine Auffassung hält doch am Anstaltscharakter der Schule fest 16 , auch wenn in ihr begrenzte eigene Entscheidungen getroffen werden können; eine echte körperschaftliche Struktur besitzt die Schule nicht. Hilft also die Teilvolk- oder Selbstverwaltungsthese nicht, so bleibt noch die delikate Frage zu beantworten, ob jedem Lehrer bei der Verbeamtung (oder Anstellung) vermittelte demokratische Legitimation zur Ausübung seines Amtes im Falle 15 Vgl. Anm. 3 16 Vgl. § 23 SchulG BW und dazu Günter Püttner, Schulrecht in: Achterberg/Püttner, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. I (1990), S. 769/774, Rn. 226) 60*

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der vorgesehenen Wahl der Schulleiter bereits auch „in nuce" die Legitimation zur Ausübung des Schulleiteramtes enthält, so daß es für den Fall der Wahl einer Erteilung der (zusätzlichen) Legitimation gar nicht bedarf. Trifft das zu, dann bleiben zwar die damals von Leisner geäußerten Bedenken trotzdem bestehen; das Legitimationsargument würde aber entfallen. Die Frage soll nicht vorschnell beantwortet werden, kann sie doch auch für die Wahl von Rektoren, Dekanen, Senatoren usw. an Universitäten Bedeutung erlangen. Es gehört ja zu den traditionellen Selbstverwaltungsrechten, diese leitenden Personen aus den eigenen Reihen selbst zu wählen. Ein Mangel an Legitimation bei Rektoren und Dekanen würde die Universitäten sicherlich in Verlegenheit bringen. Gerade angesichts der Selbstverwaltungstradition der Universitäten spricht eigentlich viel für die Ansicht, daß bei Professoren auch die Legitimation zur Ausfüllung der Leitungsämter bereits mit der Ernennung erteilt und später bei der Wahl nur aktualisiert wird. Durchmustert man nun das Staatsrecht, um zu ergründen, ob die Verfassungen etwas zur Beurteilung der Problematik beitragen können, so wird man an verschiedenen Stellen durchaus fündig. In Hamburg beispielsweise wählt die Bürgerschaft die Senatoren, die dann unter sich den Ersten Bürgermeister und dessen Stellvertreter küren (Art. 34, 41 Hbg.Verf.), ein Verfahren, das der Rektor- oder Dekanswahl sehr ähnelt und dessen Übereinstimmung mit dem Demokratieprinzip ersichtlich nie angezweifelt wurde 17 . Die Mitglieder des Bundesrates werden nach Art. 51 Abs. 1 GG durch die Landesregierungen aus ihrer Mitte bestellt und erhalten so offenbar die Legitimation zur Ausübung ihres Amtes im Bundesrat, wobei interessanterweise in diesem Falle die ja eigentlich nur vom jeweiligen Landesvolk legitimierten Landesminister nun als zur Ausübung von Bundesstaatsgewalt im Bundesrat legitimiert gelten, eine Gegebenheit, die sich aus dem Föderalismus erklärt, im übrigen auf vordemokratische Gestaltungen zurückgeht. An der Verfassungsmäßigkeit dieses - vom GG selbst festgelegten - Verfahrens zweifelt ersichtlich niemand. Im übrigen nehmen auch die Bundesminister, wenn sie für Deutschland im Rat der EG in Brüssel auftreten, eine ähnliche Legitimationsbasis in Anspruch. Es läßt sich also ganz allgemein sagen, daß offenbar die ordnungsgemäß erteilte Legitimation für ein bestimmtes Amt auch für die weiteren Funktionen gilt, die aus dem Amt folgen können. Es erhärtet sich damit die Antwort, daß auch bei gewählten Schulleitern oder Rektoren (usw.) die notwendige Legitimation für die Ausübung der Leitungsfunktion durchaus gegeben ist, weil in der ursprünglichen Legitimation enthalten. Eine ganz andere Frage ist, wer an solchen Wahlen mitwirken darf und wer nicht.

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Jedenfalls findet sich bei Klaus David, Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg, Stuttgart 1994, Anmerkungen zu Art. 34 und 41, nicht der kleinste Hinweis auf Zweifel.

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V. Die Zukunft der Mitbestimmung im öffentlichen Bereich Die Frage, welche Zukunft die Mitbestimmung im öffentlichen Bereich haben werde, müßte man angesichts des verfassungsrechtlichen Befunds eigentlich beantworten mit: eine bescheidene! Aber wo ein (politischer) Wille ist, da ist auch ein Weg, und gerade Gewerkschaften haben sich durch Verfassungsvorschriften nicht immer von ihrem Weg abbringen lassen. Man kann aber auch von der Sache her fragen, was denn in nächster Zeit vernünftigerweise aus der Mitbestimmung werden solle. Dann kann man nicht bei der Beschwörung des Demokratieprinzips oder der Gewaltenteilung stehen bleiben, sondern muß sich auch fragen, welche Funktion Mitbestimmung heute und morgen haben kann und wie sie aus der Sicht der Betroffenen zu werten ist. Was zunächst die in den Personalvertretungsgesetzen geregelte betriebliche Mitbestimmung angeht, so ist es in den letzten Jahren eher still um sie geworden. In Zeiten gefährdeter Arbeitsplätze verlangt deren Ausübung in der privaten Wirtschaft Augenmaß, und diese Anforderung strahlt wie so oft in den öffentlichen Bereich über. Für mächtiges Auftrumpfen ist nicht die Zeit. Aber dieser Mitbestimmungsbereich soll hier nicht vertieft werden. Soweit es um die unternehmerische (direktive) Mitbestimmung in Verwaltungsräten usw. geht, besteht die geschilderte gespaltene Situation. Wo bereits ein Verfassungsgericht gesprochen hat, findet diese Mitbestimmung nicht mehr bzw. nur in dem gerichtlich zugelassenen eingeschränkten Maß statt, ansonsten wird sie nach Maßgabe der Gesetze weiter praktiziert. Dabei kann es unter Umständen noch lange bleiben, weil die Normenkontrollantrags-Berechtigten, Regierungen und Parlamentarier, sich nicht gern mit den Gewerkschaften anlegen und deshalb auf die Anrufung des jeweiligen Verfassungsgerichts verzichten 18. Im übrigen stehen sich so seit geraumer Zeit mitbestimmte öffentliche Unternehmen und nicht mitbestimmte gegenüber, ohne daß zu erkennen wäre, daß die eine oder die andere Gruppe besser oder schlechter arbeiten würde. Überhaupt stellt sich - auch in der privaten Wirtschaft - die Frage, wie sich die Beschäftigtenoder Arbeitnehmermitbestimmung eigentlich auswirkt. Gelegentlich gewinnt man den Eindruck, daß es den Arbeitnehmer-Vertretern mehr darauf ankommt, gleichberechtigt dabei zu sein, als wirklich den Kurs des Unternehmens mitzubestimmen. Inzwischen sind die mitbestimmtenden Arbeitnehmer nicht selten Angehörige des mittleren Managements und damit Kenner des Betriebs; ihnen kann der Vorstand nichts vormachen. So ergibt sich aus der Mitbestimmung eine besondere Art von Kontrolle des (Spitzen-)Managements, womit es sich in Ländern, in denen die Mitbestimmung am Verfassungsgericht gescheitert ist, die Zuziehung von Beschäftigten-Vertretern mit beratender Stimme durchaus empfiehlt 19 . 18

Der HessStGH ist von dem in Hessen vorhandenen und antragsberechtigten Landesanwalt angerufen worden, nicht aus der Politik.

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In der Mitbestimmungsdiskussion ist der ursprünglich sehr präsente Gedanke des Grundrechtsschutzes der Beschäftigten in jüngster Zeit ziemlich in den Hintergrund getreten, nämlich die Frage, ob die Beschäftigten aus Art. 1, 2 oder 12 GG einen Anspruch auf ein gewisses Maß an Mitbestimmung im Rahmen ihrer Arbeits- oder Dienstverhältnisse beanspruchen können. Auch die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst dürfen nicht zu willenlosen Werkzeugen degradiert werden, sondern müssen mitgestalten können. Dem dient allerdings eher eine darauf gerichtete Organisation der einzelnen Arbeitsverhältnisse und ein entsprechendes Führungsverhalten der Vorgesetzen. Die kollektive Mitbestimmung über gewählte Vertreter kann die Grundrechtsverwirklichung vielleicht flankierend abstützen, aber nicht gewährleisten. Schon deshalb kann es einen einklagbaren Anspruch auf kollektive Mitbestimmung nicht geben, ganz abgesehen davon, daß er als Individualanspruch kaum konstruierbar wäre. Im übrigen ist der Gedanke des Grundrechtsschutzes auch nicht geeignet, die behandelten Bedenken gegen die direktive Mitbestimmung zu zerstreuen. Die Entscheidung des BVerfG, die oben wiedergegeben wurde, eröffnet in ihrer abgestuften Betrachtung jedenfalls einen guten Weg, um legitimen Interessen der Beschäftigten Rechnung zu tragen, ohne tragende Prinzipien des Verfassungsrechts zu gefährden.

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Diesen Weg ist Rheinland-Pfalz bei den Sparkassen gegangen, vgl. § 5 Abs. 3 SpkG Rhl-Pf.

Der Staatsangehörigenvorbehalt im deutschen Beamtenrecht Von Peter M. Huber

Daß der deutsche Beamte auch Deutscher ist, scheint seit dem Inkrafttreten des Zehnten Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften vom 20. Dezember 19931 nicht mehr als ein empirischer Befund. Normativ intendiert ist er offenbar nicht mehr, seit der Bundesgesetzgeber mit diesem Gesetz die allgemeinen persönlichen Voraussetzungen für die Berufung in ein Beamtenverhältnis grundsätzlich allen Unionsbürgern (Art. 17 Abs. 1 EGV 1999) zugesprochen hat: „In das Beamtenverhältnis darf nur berufen werden, wer... Deutscher im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes ist oder die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaften besitzt...".

So sieht es das Bundesrecht vor (§§4 Abs. 1 Nr. 1 BRRG, 7 Abs. 1 Nr. 1 BBG), so heißt es mittlerweile in fast allen Beamtengesetzen der Länder (z. B. § 6 Abs. 1 Nr. 1 ThürBG). Jahrzehntelang waren das als besonderes Dienst- und Treueverhältnis ausgestaltete Beamten(rechts)verhältnis (§§ 2 Abs. 1 BRRG, 2 Abs. 1 BBG etc.) und das durch die Staatsangehörigkeit begründete „Band" zwischen dem Bürger und seinem Staat miteinander gekoppelt, schien es geradezu selbstverständlich, daß die vom Beamten geforderte Loyalität gegenüber dem Staat typischerweise nur von einem Deutschen erwartet werden konnte. Zwar hat sich zu Beginn der 90er Jahre die Auffassung durchgesetzt, daß es sich beim Staatsangehörigkeitserfordernis nicht um einen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums handelte2. Gleichwohl legt die traditionelle Verknüpfung beider Rechtsverhältnisse die Ver1 BGBl. I 1993, 2136. D. Merten, in: Magiera / Siedentopf (Hrsg.), Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 191 f.; a.A. J. Isensee, Öffentlicher Dienst, in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, 2. Aufl., 1995, § 32 Rdnr. 42; W. Loschelder, Der Staatsangehörigkeitsvorbehalt des deutschen Beamtenrechts und die gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit der Arbeitnehmer: zu den verfassungsrechtlichen Grenzen supranationaler Definitionsmacht, ZBR 1991, 102/104ff.; G. Schwerdtfeger, Teilgutachten Ausländerintegration, Verh. 3. DJT, Bd. I, Teil A, 1980, A 72; krit. zu dem rückwärtsgewandten „Versteinerungskonzept" von BVerfGE 8, 332/343; 70, 69/79; 83, 89/90 P M. Huber, Das Berufsbeamtentum im Umbruch, DV 29 (1996), 437/462; H. Lecheler, Der öffentliche Dienst, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 1988, § 72 Rdnr. 64. 2

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Peter M. Huber

mutung nahe, daß zwischen den (Status-)Rechtsverhältnissen, in denen sich Beamte und Staatsangehörige zum Staat befinden, auch rechtsdogmatische Querverbindungen und Wechselbezüglichkeiten existieren. Selbst wenn der genaue Verlauf dieser Querverbindungen noch einer detaillierteren Überprüfung bedarf, spricht doch manches dafür, daß die Öffnung der Beamtenlaufbahnen für sämtliche Unionsbürger, die grundsätzliche Entkoppelung von Beamtenstatus und Staatsangehörigkeit, auch wenn sie kaum größere Wellen geschlagen und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt geblieben ist, nicht nur eine beamtenrechtlich-technische Nebensächlichkeit darstellt. Sie ist zumindest eine für das Berufsbeamtentum grundlegende Zäsur, mit der mittel- und langfristig nicht weniger auf dem Spiele stehen könnte als die Legitimation des Berufsbeamtentums an sich3 - ein Thema, das Walter Leisner, wie wenigen anderen, am Herzen lag und liegt 4 . I. Das Problem Die Frage, weshalb der Gesetzgeber des Jahres 1993 die überkommene Verknüpfung zwischen Staatsangehörigkeit und Beamtenstatus offenbar aufgegeben hat, wäre gleichwohl nurmehr einer rechtshistorischen Nachlese wert, gewänne sie nicht dadurch auch dogmatisch-praktische Bedeutung, daß der prinzipiellen Öffnung der Beamtenlaufbahnen für alle Unionsbürger sogleich eine - in ihrer Bedeutung nur schwer abschätzbare - Einschränkung folgt: „Wenn es die Aufgaben erfordern", so heißt es in §§ 4 Abs. 2 BRRG, 7 Abs. 2 BBG sowie in den Beamtengesetzen der meisten (Bundes-)Länder5, „darf nur ein Deutscher im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes in ein Beamten Verhältnis berufen werden (Artikel 48 Abs. 4 EWG-Vertrag)".

Diese Bestimmung stürzt den Interpreten nicht nur in Aporie, sondern weckt auch Zweifel an der gesetzlichen „Grundverheißung" in §§ 4 Abs. 1 BRRG, 7 Abs. 1 BBG etc. Denn wann erfordern die Aufgaben die Besetzung einer Beamtenstelle mit einem Deutschen? Handelt es sich dabei um eine rechtlich gebundene oder um eine nach politischen Opportunitätserwägungen zu treffende Ermessensentscheidung, und wer ist dafür zuständig - der Dienstherr oder die Gerichte? Wenn es sich um eine rechtlich gebundene Entscheidung handelt, nach welchen Maßstäben hat sich dann die Konkretisierung des Erforderlichkeitskriteriums zu bemessen - nach beamten- oder gar verfassungsrechtlichen Kriterien, oder nach dem Maßstab des Art. 39 [48] Abs. 4 EGV, auf den das Gesetz ausdrücklich ver3 P. M. Huber, DV 29 (1996), 437/463. 4

W. Leisner, Legitimation des Berufsbeamtentums aus der Aufgabenerfüllung, 1988; J. Isensee, Öffentlicher Dienst, in: Benda/Maihofer/Vögel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., 1995, § 32 Rdnr. 94, sieht sogar die Identität des Staates berührt. 5 Siehe hierzu § 6 Abs. 2 LBG B.W., Art. 9 Abs. 2 BayBG, § 9 Abs. 2 NdsBG, § 6 Abs. 3 LBG NW, § 6 Abs. 1 Satz 2 SächsBG, § 6 Abs. 2 ThürBG.

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weist? Läßt sich dies mit der Systematik der §§ 4 BRRG, 7 BBG etc. vereinbaren, die einen abstrakt-generellen Regelungsansatz wählen, während es im Rahmen von Art. 39 [48] Abs. 4 EGV einer konkreten Betrachtung des jeweiligen Dienstpostens bedarf? Und was wollte der Gesetzgeber mit der Öffnung der Beamtenlaufbahnen wirklich erreichen? Viele Fragen, auf die es kaum zufriedenstellende Antworten gibt. Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen sind sie bislang nicht gewesen, und auch ihre Behandlung in der Literatur kann bestenfalls als lustlos beschrieben werden6. Im postnationalen Ambiente des öffentlichen Rechts scheint es anachronistisch, nach dem Zweck eines Staatsangehörigenvorbehalts zu fragen. Wo schon die Staatsangehörigkeit selbst als Relikt einer überwundenen Epoche erscheint - die Debatte um die doppelte Staatsangehörigkeit7 oder das (kommunale) Ausländerwahlrecht auch jenseits von Art. 19 [8b] Abs. 1 EGV 8 mögen als Beleg dafür genügen - sind es die an sie geknüpften Rechtsfolgen allemal.

II. Der Staatsangehörigenvorbehalt als rechtlich gebundene Entscheidung Wenig Zweifel können zunächst daran bestehen, daß die §§ 4 Abs. 2 BRRG, 7 Abs. 2 BBG etc. mit dem Kriterium der Erforderlichkeit einen unbestimmten Rechtsbegriff normieren und damit in der Sache eine gebundene Entscheidung. Mit der Formulierung „darf nur" gibt das Gesetz zu erkennen, daß der Dienstherr insoweit keinen - politisch nutzbaren - Ermessensspielraum besitzt, sondern dem Staatsangehörigenvorbehalt grundsätzlich uneingeschränkt Rechnung zu tragen hat9. Nach der überkommenen Doktrin des deutschen Verwaltungsrechts gibt es für unbestimmte Rechtsbegriffe idealtypisch nur eine richtige Auslegung10, zu der letztverbindlich die (Verwaltungs-)Gerichte berufen sind 11 . Sie sind es deshalb auch, die über die Konkretisierung des hier interessierenden Erforderlichkeitskriteriums zu entscheiden und den Staatsangehörigenvorbehalt mit Leben zu füllen haben. 6 Immerhin L. Kathke, Wie weit geht die Öffnung des Berufsbeamtentums für EU-Bürger?, ZBR 1994, 233 ff. 7 Aus der aktuellen Diskussion siehe nur K. Hailbronner, Es geht auch pragmatisch, FAZ Nr. 16 vom 20. Ol. 1999, S. 8. s Siehe dazu nur BVerfGE 83, 37 ff. - Schleswig-Holstein; 83, 60 ff. - Hamburg; J. Isensee /E.-Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Das Ausländerwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht, 1993, mit Abdruck sämtlicher Stellungnahmen der Antragsgegner in den beiden Verfahren. 9 Ermessen räumen dem Dienstherren dagegen die Bestimmungen der §§ 4 Abs. 3 BRRG, 7 Abs. 3 BBG ein. 10 H. M. VG Wiesbaden, NJW 1988, 356/358 m. w. N.

11 BVerfGE 84, 34ff.; BVerwGE 92, 132 ff. - prüfungsspezifische Wertungen; BVerfGE 83, 130ff.; BVerwGE 91, 211 ff. - Indizierungsentscheidungen; BVerfG, DVB1. 1992, 145 ff. - KapVO.

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Wenn auch die Differenzierung zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessenstatbeständen mit Blick auf die fortschreitende Europäisierung des nationalen Verwaltungsrechts einer kritischen Überprüfung bedarf 12, so ist sie - jenseits der Anwendungsfälle der normativen Ermächtigungslehre 13 - jedenfalls dort verfassungsrechtlich vorgegeben, wo der unbestimmte Rechtsbegriff der näheren Konturierung subjektiver öffentlicher Rechte dient (arg. e Art. 19 Abs. 4 GG) 14 . Das ist im hier interessierenden Kontext der Fall. Denn die §§ 4 Abs. 1 BRRG, 7 Abs. 1 BBG etc. begrenzen das grundrechtlich geschützte Interesse (Art. 12 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG) jedes Deutschen, nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte zu erhalten (Art. 33 Abs. 2 GG). Indem sie den Kreis der Zugangsberechtigten um alle nicht deutschen Unionsbürger erweitern, reduzieren sie im selben Maße und in den Grenzen des jeweiligen Abs. 2 dieses grundrechtsähnliche Recht der Deutschen, konkret ihre Erfolgschancen beim Zugang zum öffentlich Dienst. Es liegt auf der Hand, daß eine beamtenrechtliche Konkurrentenverdrängungsklage 15 vor diesem Hintergrund auch auf eine Verletzung der §§ 4 Abs. 2 BRRG, 7 Abs. 2 BBG etc. gestützt werden können muß 16 .

I I I . §§ 4 Abs. 2 BRRG, 7 Abs. 2 BBG - perplexe Normen? 1. Wortlaut und Systematik Wie weit der Staatsangehörigenvorbehalt der §§ 4 Abs. 2 BRRG, 7 Abs. 2 BBG reicht, ist damit freilich noch nicht geklärt. Wortlaut und Systematik von § § 4 BRRG, 7 BBG sprechen zunächst dafür, daß die Gleichstellung von Deutschen und Unionsbürgern beim Zugang zu den Laufbahnen des Beamtenrechts der Grundsatz (§§4 Abs. 1 Nr. 1 BRRG, 7 Abs. 1 Nr. 1 BBG), der Staatsangehörigenvorbehalt hingegen die - rechtfertigungsbedürftige - Ausnahme ist (§§4 Abs. 2 BRRG, 7 Abs. 2 BBG). Als solche bedürfte er nach allgemeinen methodischen 12 R M. Huben Die entfesselte Verwaltung, StWiss 8 (1997), 423/441 f. 13 BVerfGE 88, 40ff. - Privatschule; BVerwGE 91, 211/215f. - Opus Pistorum; dazu E. Schmidt-Aßmann, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Stand 1998, Einl. Rdnr. 58, 182. 14 Dazu BVerfGE 35, 382/402; 67, 43/61 f.; 69, 315/363f. - Brokdorf; 83, 130/148 Josefine Mutzenbacher; 84, 34/54 f. - Juristische Staatsprüfung; 84, 59/77 - Multiple Choice; BVerwGE 92, 132 ff.; BVerfG, DVB1. 1992, 145/146 - KapVO; R M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, I, 4. Aufl., 1999, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 513; ders., Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 1997, S. 158; ders., StWiss 8 (1997), 423/442; enger H Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl., 1997, § 7 Rdnr. 55 ff. 15

Zum Begriff P. M Huber; Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 1991, S. 94 ff. 16 Während das BVerfG die beamtenrechtliche Konkurrentenverdrängungsklage ohne weiteres anerkennt, BVerfG, NJW 1990, 501 f., betrachtet es die eigentlich parallel gelagerten wahlrechtlichen Konkurrentenabwehrklagen nicht ganz folgerichtig als unzulässig, BVerfGE 89, 155 /179 f. - Maastricht; BVerfG, NVwZ 1998, 52 f.

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Grundsätzen einer restriktiven Auslegung 17, so daß die deutsche Staatsangehörigkeit bzw. die Deutschen-Eigenschaft nur in begrenzten und klar definierten Ausnahmefällen zur Voraussetzung einer Ernennung gemacht werden dürfte.

2. Die Verweisung auf den EGV Dieser Befund wird allerdings dadurch in Frage gestellt, daß nahezu alle deutschen Beamtengesetze in ihrer aktuellen Fassung bei der Regelung des Staatsangehörigenvorbehalts - freilich nicht mehr ganz aktuell - auf Art. 48 Abs. 4 E(W)GV verweisen 18. Sollte damit wirklich gemeint sein, daß sich nach dem EGV bemißt, wann die Aufgaben einer bestimmten Stelle die Beschäftigung von Staatsangehörigen erfordern, so lägen dem zumindest zwei Mißverständnisse (des Gesetzgebers) zugrunde. Zum einen läßt sich dem EGV nämlich nicht entnehmen, daß bestimmte Ämter in der nationalen Verwaltung überhaupt den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten bleiben müssen. Art. 39 [48] Abs. 4 EGV regelt lediglich, daß ihnen solche Ämter vorbehalten werden dürfen. Das ist etwas ganz anderes. Zum anderen aber dürfte dem Vertragsgeber des Art. 39 [48] Abs. 4 EGV auch ein anderes Regel-Ausnahme-Verhältnis vor Augen gestanden haben, als es den §§4 BRRG, 7 BBG zugrunde zu liegen scheint. Zwar behandelt auch Art. 39 [48] Abs. 4 EGV den Staatsangehörigenvorbehalt als Ausnahme. Ausgangspunkt und Maßstab ist insoweit jedoch der europäische Arbeitsmarkt, in dem eine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung ihrerseits wiederum eine Ausnahme ist. Bezugspunkt für den Ausnahmefall des Art. 39 [48] Abs. 4 EGV ist insoweit also die Arbeitnehmerfreizügigkeit, nicht die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung. Hier soll die Zulässigkeit von Staatsangehörigenvorbehalten durch die Mitgliedstaaten nicht weiter ausgedehnt werden, als dies für die Wahrung ihrer durch Art. 39 [48] Abs. 4 EGV legitimierten Interessen unbedingt erforderlich ist 19 . Soweit der Anwendungsbereich des Art. 39 [48] Abs. 4 EGV jedoch reicht, im Bereich der öffentlichen Verwaltung (im unionsrechtlichen Sinne), ist es freilich 17 Für das Unionsrecht EuGHE 1986, 2121/2147 Rz. 27 - Lawrie-Blum. 18 In Zukunft muß sich die Verweisung auf Art. 39 Abs. 4 EGV 1999 beziehen. Die Verweisung ist wohl als dynamische Verweisung konzipiert und wird durch die bloße Änderung in der Numerierung des EGV im Gefolge des Amsterdamer Vertrages nicht in Frage gestellt. § 9 Abs. 1 Nr. 1 R.RLBG spricht denn auch zu Recht von Art. 48 EGV „in der jeweils geltenden Fassung". Kompetentielle und rechtsstaatliche Probleme dürften sich zumindest für das Bundesrecht aus einer solchen dynamischen Verweisung nicht ergeben, da auch jede Änderung des Art. 39 [48] EGV gem. Art. 23 Abs. 1 GG eines Zustimmungsgesetzes bedarf; siehe dazu allgemein BVerfGE 47, 287/311 f.; 48, 240; 60, 135/155; 64, 208; P. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl., 1996, F 49. 19 EuGHE 1986, 2121/2147, Rz. 27 - Lawrie-Blum.

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umgekehrt: der Staatsangehörigenvorbehalt darf hier nicht nur die Regel sein; selbst wenn er durch das nationale Recht ausnahmslos gefordert würde, gäbe es dagegen aus unionsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern. Wo die „unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse" oder die Wahrnehmung von Aufgaben, die „auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder sonstiger Körperschaften des öffentlichen Rechts" 20 zielen, in Rede stehen, respektiert Art. 39 [48] Abs. 4 EGV Staatsangehörigen vorbehalte im nationalen Dienstrecht. Legt man diese - an Art. 33 Abs. 4 GG erinnernden - Kriterien an die einzelnen Dienstposten im Bereich von Bund und Ländern an, so dürfte ihre weitaus überwiegende Zahl durchaus unter den unionsrechtlichen Begriff der „öffentlichen Verwaltung" zu subsumieren sein 21 . Für die Dienstposten in der Bundestagsverwaltung, den Landtagsverwaltungen und der Justizverwaltung liegt dies auf der Hand. Im übrigen werden überall dort hoheitliche Befugnisse unmittelbar ausgeübt, wo die Erfüllung öffentlicher Aufgaben typischerweise mit (klassischen oder faktischen) Grundrechtseingriffen einhergeht. Hoheitliche Befugnisse werden mittelbar dagegen dort in Anspruch genommen, wo übergeordnete Behörden im Wege von Weisungsrechten, rechts- und fachaufsichtlichen Maßnahmen auf eben diese Aufgabenerfüllung Einfluß nehmen (können) oder wo mit dem Erlaß von Rechts- und Verwaltungsvorschriften der rechtliche Rahmen für potentiell eingreifendes Verwaltungshandeln näher konturiert wird. Keinen unionsrechtlichen Bedenken begegnet der Staatsangehörigenvorbehalt schließlich auch in der Ministerialbürokratie sowie bei den Dienstposten, die den Organen von Selbstverwaltungsträgern zugeordnet sind. Denn hier geht es stets auch um die „Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder sonstiger Körperschaften des öffentlichen Rechts". Ist der Klammerzusatz in §§ 4 Abs. 2 BRRG, 7 Abs. 2 BBG also ernst gemeint, dann hätte der Gesetzgeber des 10. DienstRG damit den gesamten Reservatbereich des Art. 39 [48] Abs. 4 EGV aufgrund einer eigenständigen, im nationalen Kontext zu verantwortenden Entscheidung dem Staatsangehörigenvorbehalt unterstellt und die Öffnung der Beamtenlaufbahnen auf das beschränkt, was unionsrechtlich unabdingbar ist. Die hier in Rede stehenden Bestimmungen der §§4 Abs. 2 BRRG, 7 Abs. 2 BBG etc. wären dann so zu lesen, daß die Aufgaben die Berufung eines Deutschen immer schon dann erfordern, wenn die unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse oder die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates und sonstiger Körperschaften des öffentlichen Rechts in Rede steht. Damit wäre der Staatsangehörigenvorbehalt - entgegen dem ersten Eindruck - für das deutsche Beamtenrecht nach wie vor die Regel, seine Durchbrechung im Interesse der Arbeitnehmerfreizügigkeit hingegen eine relativ eng begrenzte Ausnahme. 20 So die Abgrenzungskriterien des EuGH, EuGHE 1980, 3881/3903 - Kommission/Belgien; 1982, 1845/1851 - Kommission/Belgien; 1986, 2121 /2147 - Lawrie-Blum. 21 Anders wohl L. Kathke, ZBR 1994, 233/244, der mit Blick auf die bayerische Landesverwaltung mehr als die Hälfte der Dienstposten von der Öffnung erfaßt sieht.

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Es ergibt sich damit der Befund, daß § 4 Abs. 1 und 2 BRRG, § 7 Abs. 1 und 2 BBG und die gleichlautenden Bestimmungen der Länder zwei gegenläufige Prinzipien 22 in sich zu vereinigen scheinen: Nach Wortlaut und Systematik ordnen sie die grundsätzliche Öffnung der Beamtenlaufbahnen für alle Unionsbürger an und beschränken den Staatsangehörigenvorbehalt auf jene Ausnahmefälle, in denen die Aufgaben den Rückgriff auf eigene Staatsangehörige erfordern. Zugleich aber bestimmen sie durch den Hinweis auf Art. 48 Abs. 4 E(W)GV, daß die weitaus meisten Stellen in der öffentlichen Verwaltung mit Deutschen zu besetzen sind, und stellen das von Wortlaut und Systematik der §§ 4 BRRG, 7 BBG etc. nahegelegte Verhältnis von Regel und Ausnahme damit wieder auf den Kopf. Beide einfach-gesetzlichen Prinzipien lassen sich nicht miteinander vereinbaren, sondern schließen sich gegenseitig aus. Ihre Harmonisierung kommt daher nicht in Betracht. Sollen § 4 Abs. 2 BRRG, § 7 Abs. 2 BBG und vergleichbare Bestimmungen daher nicht dem Verdikt der Nichtigkeit aufgrund inneren Widerspruchs („Perplexität") 23 anheimfallen, und das wäre bei einer für die Legitimation des Berufsbeamtentums dermaßen grundlegenden Regelung kaum vertretbar, so kann es letztlich nur darum gehen, sich für eine der beiden Leitlinien zu entscheiden.

IV. Die Europäisierung von Art. 33 Abs. 2 GG Den Schlüssel zum „richtigen" Verständnis der §§ 4 Abs. 2 BRRG, 7 Abs. 2 BBG etc. findet man, wenn man sich ihre Entstehungsgeschichte vergegenwärtigt und damit auch ihren unionsrechtlichen Hintergrund. Im Staatenverbund der Europäischen Union verfügen die Mitgliedstaaten zwar grundsätzlich über eine institutionelle und verfahrensmäßige Autonomie 24 . Über ihren Staatsaufbau und ihre öffentliche Verwaltung sowie über deren personelle Beschickung entscheiden sie grundsätzlich selbst. Mit Art. 39 [48] Abs. 1 und 4 EGV besitzt die EG jedoch einen Hebel, mit dem sie zwar keine Harmonisierung des öffentlichen Dienstrechts der Mitgliedstaaten, wohl aber dessen unionsrechtliche Kompatibilität erreichen kann, was mittel- und langfristig auch ein gewisses 22 Das ist durchaus im Sinne Alexy'scher Begriffsbildung gemeint, weil es insoweit entweder um die Optimierung der Arbeitnehmerfreizügigkeit oder um die Optimierung nationaler Reservate geht, R. Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips: in: Rechtstheorie, Beiheft 1 (1979) S. 79 ff. 23 Zu diesem im allgemeinen auf Willenserklärungen gemünzten Terminus U. Diederichsen, Der logische Dissens, in: FS zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, S. 88/95; A. Jahr, Geltung des Gewollten und Geltung des Nicht-Gewollten, JuS 1989, 249/252 f. 24 EuGHE 1968, 679 - Salgoil; 1980, 617/629 - Ferwerda; R M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 1996, §§9 Rdnr. 10, 22 Rdnr. 4, 25 Rdnr. 1 ff.

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Maß an Konvergenz im öffentlichen Dienstrecht der Mitgliedstaaten nach sich ziehen wird 25 .

1. Die Rechtsprechung des EuGH zur Arbeitnehmerfreizügigkeit in der öffentlichen Verwaltung Seit Beginn der 80er Jahre hat der EuGH Art. 39 [48] Abs. 4 EGV zum Anlaß genommen, um die Mitgliedstaaten daran zu hindern, unter Rückgriff auf jene institutionelle und verfahrensmäßige Autonomie den Anwendungsbereich dieser (Ausnahme-)Vorschrift (mißbräuchlich) auszudehnen und die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit in einer vom EGV nicht vorgesehenen Weise zu begrenzen. Aus diesem Grund hat er entschieden, daß es sich sowohl beim Begriff des „Arbeitnehmers" in Art. 39 [48] Abs. 1 EGV 2 6 als auch bei jenem der „öffentlichen Verwaltung" in Art. 39 [48] Abs. 4 EGV 2 7 um unionsrechtliche Begriffe handele, die im Lichte des EGV und der durch Art. 39 [48] EGV verbürgten Arbeitnehmerfreizügigkeit auszulegen seien28. Deshalb könne eine bestimmte Stelle dem Anwendungsbereich des Art. 39 [48] Abs. 1 EGV 1999 nicht allein dadurch entzogen werden, daß der Mitgliedstaat sie organisatorisch der öffentlichen Verwaltung zuordnet. Wörtlich heißt es in der Rs. Lawrie-Blum/Land Baden-Württemberg, daß sich Art. 39 [48] Abs. 4 EGV „ . . . als Ausnahme von dem Grundprinzip der Freizügigkeit und der Nichtdiskriminierung auf das beschränkt, was zur Wahrung der Interessen, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zu schützen erlaubt, unbedingt erforderlich ist. ... Wie der Gerichtshof bereits ... ausgeführt hat, sind unter der Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung im Sinne von Art. 48 (seil. Art. 39) Absatz 4 ... diejenigen Stellen zu verstehen, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und die deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen" 29 .

25 Andere Grenzen für die institutionelle Autonomie der Mitgliedstaaten im Bereich des Verwaltungsorganisationsrechts lassen sich etwa dem Art. 86 [90] EGV entnehmen, teilweise auch dem sekundären Unionsrecht; siehe zu diesem Problemkreis H Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54 (1995), 243/259 ff.; W. Kahl, Europäisches und nationales Verwaltungsorganisationsrecht, DV 29 (1996), 341 ff. 26 EuGHE 1982, 1035-Levin; 1986, 2121 / 2144 - Lawrie-Blum. 27 EuGHE 1980, 3881 - Kommission/Belgien; 1982, 1845 - Kommission/Belgien; 1986, 2121/2147 - Lawrie-Blum. 28 EuGHE 1986, 2121/2144, 2146, Rz. 16, 26 - Lawrie-Blum. 29 EuGHE 1986, 2121 / 2147, Rz. 27 - Lawrie-Blum.

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2. Zum Handlungsbedarf für den deutschen Gesetzgeber Der Gerichtshof hat diese Voraussetzungen für Studienreferendare 30, Lehrer 31 , Fremdsprachenlektoren 32 sowie für eine Reihe anderer Tätigkeiten verneint 33 , die nach deutschem Recht typischerweise von Beamten wahrgenommen werden. Da der Zugang zu den Laufbahnen des Beamtenrechts nach §§ 4 Abs. 1 Nr. 1 BRRG a. F., 7 Abs. 1 Nr. 1 BBG a. F. etc. grundsätzlich jedoch nur den Deutschen offenstand und eine Beschäftigung im Angestelltenverhältnis einen diskriminierungsfreien Zugang zu der Stelle ebenso wenig eröffnete 34 wie die Ausnahmeregelung des § 4 Abs. 2 BRRG a. F. - heute § 4 Abs. 3 BRRG - , ergab sich für das deutsche Beamtenrecht Handlungsbedarf. Dabei hatte der Gesetzgeber aus unionsrechtlichem Blickwinkel im wesentlichen zwei Optionen: den tradierten Staatsangehörigenvorbehalt aufrecht zu erhalten und die unter die Arbeitnehmerfreizügigkeit fallenden Ämter von einer Verbeamtung auszunehmen oder die Beamtenlaufbahnen entsprechend zu öffnen 35 . Der Gesetzgeber hat sich dabei für die zweite Alternative entschieden. Eine (Neu-)Ausrichtung des Beamtenrechts in Anlehnung an Art. 39 [48] Abs. 4 EGV 3 6 an einen eng verstandenen Funktionsvorbehalt nach Art. 33 Abs. 4 GG wäre zwar denkbar und für die Legitimation des Berufsbeamtentums langfristig womöglich auch von Vorteil gewesen37. Dies durchzusetzen hätte jedoch einen politischen Kraftakt erfordert, zu dem sich der Gesetzgeber des Jahres 1993 nicht verstehen konnte. Statt dessen hat er versucht, auf der Grundlage des beamtenrechtlichen Status quo den unionsrechtlichen Anforderungen Rechnung zu tragen. Nicht mit Sicherheit entnehmen läßt sich der Entstehungsgeschichte der hier in Rede stehenden Norm allerdings, ob und inwieweit der Gesetzgeber bei der 30 EuGHE 1986, 2121/2147, Rz. 28 - Lawrie-Blum. 31 EuGHE 1991 I, 5627/5641, Rz. 7 f. - Annegret Bleis. 32 EuGHE 1989, 1591, Rz. 9 - Allue und Coonan. 33 Siehe etwa K. Hailbronner, in Hailbronner/Klein/Magiera/Müller-Graff, Handkommentar zum EGV/EUV, Art. 48 (Stand 1994) Rdnr. 92f. 34 Zu diesem Gedanken EuGHE 1989, 1591 /1610 ff. - Allue u. a./Universitä degli studi di Venezia; 1986, 1 - Pinna; siehe auch Art. 3 VO Nr. 1408/71.; J. Isensee, Öffentlicher Dienst, in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, 2. Aufl., 1995, § 32 Rdnr. 93; H Lecheler, Die Interpretation des Art. 48 Abs. 4 EWGV und ihre Konsequenzen für die Beschäftigung im (nationalen) öffentlichen Dienst, 1991, S. 46 f. 35 p. M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 1996, § 25 Rdnr. 18 f. 36 Siehe dazu Aktion der Kommission auf dem Gebiet der Anwendung von Art. 48 Abs. 4 EWGV (88/172/02, ABl. Nr. C 72/2 vom 18. 3. 1988); H Lecheler, Die Interpretation des Art. 48 Abs. 3 EWGV und ihre Konsequenzen für die Beschäftigung im (nationalen) öffentlichen Dienst, 1991. 37 Dazu D. Dörr, Das deutsche Beamtenrecht und das europäische Gemeinschaftsrecht, EuZW 1990, 565/571; ders., Die Abgrenzung von Beamten- und Angestelltenfunktion im öffentlichen Dienst, ZTR 1991, 182, 226/231; R M. Huber, Das Berufsbeamtentum im Umbruch, DV 29 (1996), 437/442 ff.

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Öffnung der Beamtenlaufbahnen über das unionsrechtlich gebotene Maß an Öffnung hinausgehen wollte. Schon der Innenausschuß des Bundestages, der anläßlich der Beratungen zum Bundesbesoldungs- und -Versorgungsanpassungsgesetz 1991 (BBVAnpG 91) einen entsprechenden Gesetzesvorschlag unterbreitet hatte 3 8 , scheint sich darüber nicht i m klaren gewesen zu sein. In der Begründung zu der vorgeschlagenen Neufassung von § 4 Abs. 1 B R R G hatte er einerseits die generelle Öffnung des öffentlichen Dienstes i m Interesse fortschreitender europäischer Integration betont 3 9 , die „notwendige Ausnahmeregelung" 40 in § 4 Abs. 2 BRRG unter Rückgriff auf die EuGH-Rechtsprechung zu Art. 48 Abs. 4 E ( W ) G V andererseits damit begründet, daß die Beamten die dem Staat übertragenen Aufgaben als Sachwalter und Treuhänder der Gesamtheit der Staatsbürger wahrnähmen. Deshalb müsse es trotz der zunehmenden europäischen Ausrichtung der deutschen öffentlichen Verwaltung für eine absehbare Zeit dabei bleiben, daß „ . . . Aufgaben, für deren Wahrnehmung es notwendig ist,... nur von solchen Bediensteten erfüllt werden, die selbst Mitglied der staatlichen Gemeinschaft sind, um deren Belange es geht" 41 . Kaum klarer fällt die von Ende 1992 datierende Begründung zum Entwurf der Bundesregierung für das Zehnte Gesetz zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften aus 4 2 . Freilich betont die Begründung des Regierungsentwurfs die Verkoppelung von § 4 Abs. 2 BRRG mit Art. 48 Abs. 4 E G V stärker als es der Entwurf des Innenausschusses tat: „Die Vorschrift entspricht der Freizügigkeitsregelung des Artikels 48 EWG-Vertrag. ... Diese Norm ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes eine gemeinschaftsrechtliche Schutzvorschrift zur Wahrung einzelstaatlicher Belange, die zum Ausdruck bringt, daß im Bereich der öffentlichen Verwaltung der einzelnen Mitgliedstaaten die Sicherung der Erfüllung der öffentlichen Aufgaben Vorrang hat vor einer uneingeschränkten Freizügigkeit der Beschäftigten. Die Entscheidung muß nach der Rechtsprechung des EuGH im Einzelfall, d. h. in bezug auf die von dem jeweiligen Bediensteten 38 BT.-Drucks. 12/1455, S. 24, 59f.; Th. Schotten, Der Zugang von Unionsbürgern zum deutschen Beamtenverhältnis, DVB1. 1994, 567/573 f. 39 „Auch für den nationalen öffentlichen Dienst gewinnt die Freizügigkeit innerhalb der europäischen Gemeinschaft zunehmend an Gewicht. Dem entspricht es, wenn durch eine Änderung der beamtengesetzlichen Vorschrift über die Voraussetzungen für die Berufung in das Beamtenverhältnis die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft Deutschen i. S. des Artikels 116 des Grundgesetzes gleichgestellt werden ( . . . ) . Der bis jetzt erreichte Grad der Integration mit den Auswirkungen auf die nationalen Rechtsordnungen und der vorgegebene Weg der „Europäischen Union" berechtigen zu dieser generellen Öffnung des nach dem Grundgesetz für die Erfüllung wesentlicher öffentlicher Aufgaben vorgesehenen Beamtenverhältnisses auch für die Staatsangehörigen der anderen EG-Staaten.", BT.-Drucks. 12/1455, S. 59 f. 40 BT.-Drucks. 12/1455, S. 60. 41 BT.-Drucks. 12/1455, S. 60. 42 BT.-Drucks. 12/3791, S. 7f.

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wahrgenommene Funktion getroffen werden. Durch den Klammerzusatz wird auf die einschlägige Vorschrift des EWG-Vertrages Bezug genommen. Hierdurch wird diese Norm, die von ihrem Wortlaut die ganze öffentliche Verwaltung erfaßt, in der notwendigen Weise innerstaatlich präzisiert. Dabei ist der gesetzliche Tatbestand so gefaßt, daß er der künftigen europäischen Entwicklung Rechnung tragen kann" 43 .

Mit dem Klammerzusatz in §§ 4 Abs. 2 BRRG, 7 Abs. 2 BBG etc. sollte das deutsche Beamtenrecht also dauerhaft unionsrechtskompatibel gefaßt und die unionsrechtlich geforderte Öffnung der Beamtenlaufbahnen in das deutsche Gesetz übernommen werden. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Insofern ist die Verweisung auf Art. 39 [48] Abs. 4 EGV durchaus ernst gemeint. Ob sich Bundesregierung und Gesetzgeber darüber im klaren waren, daß mit dem Rückgriff auf Art. 39 [48] Abs. 4 EGV die mit § 4 Abs. 1 BRRG angestrebte „grundsätzliche Gleichstellung"44 von Deutschen und sonstigen Unionsbürgern weitgehend konterkariert würde, erscheint allerdings zweifelhaft.

V. Staatsangehörigenvorbehalt und Demokratieprinzip 1. Das Spannungsverhältnis zu Art. 33 Abs. 2 GG Das kann letztlich jedoch auf sich beruhen. Denn diese restriktive, strikt an Art. 39 [48] Abs. 4 EGV orientierte Lösung ist nicht (nur) das Ergebnis gesetzgeberischer Dezision, sondern das Produkt verfassungsrechtlicher Konkordanzbemühungen45. Der Anspruch des einzelnen auf chancengleichen Zugang zum öffentlichen Dienst hat seine maßgebliche Grundlage in Art. 33 Abs. 2 GG. Dieser verbürgt allen Deutschen nach ihrer Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt. Er macht zugleich deutlich, daß nach der Vorstellung des Grundgesetzes für die Bekleidung öffentlicher Ämter in Deutschland typischerweise auch nur Deutsche in Betracht kommen 46 . Die h. M. leugnet dies freilich 47 . Sie übersieht jedoch, daß Art. 33 Abs. 2 GG die Regelung des Abs. 1 « BT.-Drucks. 12/3791, S. 7 f. 44 BT.-Drucks. 12/3791, S. 7. 45 j. Isensee, Öffentlicher Dienst, in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, 2. Aufl., 1995, § 32 Rdnr. 93. 46 So schon Chr. Tomuschat, Zur politischen Betätigung des Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland, 1968, S. 57; ähnlich Art. 4 Abs. 4 GriechVerf.; dazu W. Skouris, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Griechenland, in: Magiera/Siedentopf (Hrsg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 317/328. 47 Ph. Kunig, in: v. Münch /Kunig (Hrsg.), GG, Bd. II, 1995, Art. 33 Rdnr. 19; G. LübbeWolff, in: Dreier (Hrsg.), Bd. II, 1998, Art. 33 Rdnr. 37; Th. Rieckhoff, Die Entwicklung des Berufsbeamtentums in Europa, 1993, S. 22 f. Zurückhaltender Th. Schotten, Die Auswirkun61 FS Leisner

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spezifiziert 48, der allen Deutschen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten verheißt und insoweit eine Brücke zum demokratischen Prinzip des Art. 20 GG schlägt49. Der Zugang zum Beamtenverhältnis mag dem Schutz von Art. 12 Abs. 1 GG 5 0 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG unterfallen 51. Im selben Maße ist er jedoch auch staatsbürgerliches Mitwirkungsrecht im Sinne des sog. Status activus, eine Ausprägung „staatsbürgerlicher Mündigkeit" 52 , eine wichtige Facette der demokratischen Staatsordnung unter dem Grundgesetz53. Die Öffnung der Beamtenlaufbahnen für nicht deutsche Unionsbürger steht daher in einem SpannungsVerhältnis vor allem zu Art. 33 Abs. 2 GG. Gegenüber kollidierenden Vorgaben des Unionsrechts hat dieser freilich zurückzutreten, ohne daß er deshalb selbst unionsrechtswidrig würde 54 . Die anders lautende Auffassung55 verkennt das Verhältnis von nationalem Recht und Unionsrecht, das sich aufgrund eines durch Art. 23 Abs. 1 GG legitimierten innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehls in den Grenzen von Integrationsprogramm und Art. 23 Abs. 1 Satz 3, 79 Abs. 3 GG selbst gegenüber der Verfassung durchsetzt. Soweit das Unionsrecht daher mit Art. 39 [48] Abs. 1 EGV Freizügigkeit beim Zugang zu den „öffentlichen Ämtern" fordert, kommt ihm auch gegenüber Art. 33 Abs. 2 GG Anwendungsvorrang 56 zu. gen des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf den Zugang zum öffentlichen Dienst in der Bundesrepublik Deutschland, 1994, S. 18, 103 f. Übersehen wird in diesem Zusammenhang i. ü. auch die konkurrenzschützende Dimension des Staatsangehörigen Vorbehalts. 48 So auch die Erwägung von G. Lübbe-Wolff, in: Dreier (Hrsg.), Bd. II, 1998, Art. 33 Rdnr. 30. 49 Th. Rieckhoff, Die Entwicklung des Berufsbeamtentums in Europa, 1993, ist sich dessen durchaus bewußt und sieht das demokratische Prinzip denn auch zumindest bei leitenden Positionen berührt. 50

Eines Deutschen-Grundrechts übrigens. Dazu schon W. Leisner, Öffentliches Amt und Berufsfreiheit, in: ders., Beamtentum, J. Isensee (Hrsg.), 1995, S. 4/20 f. = AöR 93 (1968), 161 ff. 52 Zu diesem Begriff P. M. Huber, Das Menschenbild im Grundgesetz, Jura 1988, 505/ 511. 53 U. Battis, in: Sachs (Hrsg.), 2. Aufl., 1999, Art. 33 Rdnr. 20 spricht von einer „staatsorganisationsrechtlichen Komponente"; J. Isensee, Öffentlicher Dienst, in: Benda/ Maihofer/Vogel, HdbVerfR, 2. Aufl., 1995, § 32 Rdnr. 42; M. Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 398ff.; W. Leisner, Öffentliches Amt und Berufsfreiheit, in: ders., Beamtentum, J. Isensee (Hrsg.), 1995, hat denn auch stets betont, daß es die besonderen Aufgaben der Beamten (i. S. v. Art. 33 Abs. 4 GG) seien, die die Berufsfreiheit hinter Art. 33 GG zurücktreten ließen. 51

54 Zu Recht G. Lübbe-Wolff, in: Dreier (Hrsg.), Bd. II, 1998, Art. 33 Rdnr. 37. 55 Th. Schotten, Der Zugang von Unionsbürgern zum deutschen Beamtenverhältnis, DVB1. 1994, 567/574; ders., Die Auswirkungen des europäischen Gemeinschaftsrechts auf den Zugang zum öffentlichen Dienst in der Bundesrepublik Deutschland, 1994, S. 115, 145. 56 EuGHE 1964, 1251 ff. - Costa/Enel; 1970, 1125ff. - Internationale Handelsgesellschaft; 1978, 629ff. - Simmenthai; BVerfGE 31, 145/174; 75, 223/244; P. M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 1996, § 7 Rdnr. 8 ff. m. w. N.

Der Staatsangehörigenvorbehalt im deutschen Beamtenrecht

2. Funktionsvorbehalt

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und Demokratieprinzip

Diese Interpretation - Aufrechterhaltung des Staatsangehörigenvorbehalts im Grundsatz, Durchbrechung nur dort, wo dies unionsrechtlich gefordert ist - tritt noch klarer hervor, wenn man die Verbindungslinien zwischen Berufsbeamtentum und Demokratieprinzip genauer in den Blick nimmt. Schon Art. 20 Abs. 2 GG bringt dies zum Ausdruck, wenn er bestimmt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt". Dem dient nicht zuletzt der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG. Dieser wird zwar vor allem unter dem Gesichtspunkt der besonderen Loyalität des Beamten zu seinem Dienstherrn und dem damit verbundenen spezifischen Pflichtenkanon 57 thematisiert, mit dem Aspekt des Staatsangehörigenvorbehalts jedoch kaum in Verbindung gebracht. Verbindungslinien bestehen hier jedoch durchaus. Denn der Funktionsvorbehält von Art. 33 Abs. 4 GG hat im wesentlichen zwei Bezugspunkte und muß insoweit auch zwei Verfassungsgrundsätzen zu- bzw. untergeordnet werden: Einerseits dient er dazu, „ . . . den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung personalwirtschaftlich zu gewährleisten.. ." 5 8 , und steht insoweit unter der Direktionskraft des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG). Zugleich läßt er den Einsatz von Beamten jedoch auch besonders geeignet erscheinen, um die Belange des Dienstherrn durchzusetzen, und dient damit vor allem dem Ziel effektiver Aufgabenerfüllung 59. Insoweit sichert er, wie es das Bundesverfassungsgericht ausgedrückt hat, „die Kontinuität hoheitlicher Funktionen des Staates, indem er als Regel vorsieht, daß ihre Ausübung Beamten übertragen wird.. ." 6 0 . Der Funktionsvorbehalt weist damit unübersehbare Verbindungslinien zum Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG auf, das nach einer möglichst effektiven Durchsetzung des (parlamentarisch gebildeten) Mehrheitswillens verlangt 61. 57 Streikverbot; begrenztere Mitwirkungsmöglichkeiten in der Personalvertretung, BVerfGE 9, 268/281 ff.; BVerfG, DÖV 1996, 74; aus dem Meinungsbild G. Manssen, Das Personalvertretungsgesetz Mecklenburg-Vorpommern, LKV 1997, 1 ff.; G. F. Schuppen, Mitbestimmung und Verfassungsrecht - Zur Verfassungsmäßigkeit des Personalvertretungsgesetzes für das Land Rheinland-Pfalz vom 8. 12. 1992, Personalrat 1993, 521 ff. 58

P. Badura, Reichweite des Funktions Vorbehalts nach Art. 33 Abs. 4 GG unter Berücksichtigung aktueller Privatisierungstendenzen sowie der Auswirkung der europäischen Integration und der Entwicklung in den neuen Ländern, Forschungsprojekt für das Bundesministerium des Innern, München, 1995, S. 5. 59 Zum Effizienzaspekt W. Leisner, Legitimation des Berufsbeamtentums aus der Aufgabenerfüllung, 1988, S. 58; R. Scholz/J. Aulehner, Berufsbeamtentum nach der deutschen Wiedervereinigung - Die Personalstruktur der Deutschen Bundespost in den fünf neuen Ländern, APT (1993), 5/19. 60 BVerfGE 88, 103/114. 61 P. M. Huber, Das Berufsbeamtentum im Umbruch, DV 29 (1996), 439/441. 61

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Peter M. Huber

Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes ist jedoch auf das Staatsvolk bezogen und damit auch auf die Staatsangehörigkeit62. Wenn die Staatsgewalt vom Volke also u. a. mittels besonderer Organe der vollziehenden Gewalt ausgeübt wird, das Volk aber aus den Staatsangehörigen besteht63, dann spricht alles dafür, daß jene Organe zumindest typischerweise auch durch das Staatsvolk und seine Angehörigen beschickt werden müssen64.

3. Der Gesichtspunkt der Akzeptanz Vergleicht man die beiden Legitimationsstränge von Funktionsvorbehält (Art. 33 Abs. 4 GG) und Berufsbeamtentum, das Demokratie- (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) und das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie ihre wissenschaftliche Entfaltung näher, so sticht eine Ungereimtheit ins Auge: Während es unter dem Blickwinkel des Rechtsstaatsprinzips unzweifelhaft (auch) darum geht, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gegenüber dem einzelnen sicherzustellen, der Funktionsvorbehalt sich also in ein multipolares Verwaltungsrechtsverhältnis zwischen dem Staat, dem Dienstherrn, den Beamten und den Bürgern eingebettet sieht, spielen letztere für sein „demokratiespezifisches Standbein" praktisch keine Rolle. Der Funktionsvorbehalt wird hier, wenn überhaupt, nur mit Blick auf die bipolaren Verwaltungsrechtsverhältnisse zwischen dem Dienstherrn und seinen Beamten thematisiert. Der Bürger, der Adressat hoheitsrechtlicher Befugnisse, bleibt Statist. Das ist angesichts der subjektiv-rechtlichen Deutung des Demokratieprinzips durch das Bundesverfassungsgericht zumindest überprüfungsbedürftig 65. Als Ausgangs- wie Endpunkt der Staatsgewalt und letzter Adressat allen Beamtenhandelns ist der Staatebürger nicht nur der archimedische Punkt für das demokratische Prinzip des Grundgesetzes66. Er ist auch die entscheidende Orientierungslinie für die Interpretation der dem Demokratieprinzip dienenden Institutionen wie Berufsbeamtentum und Funktionsvorbehalt. Insoweit verläuft eine durchgehende Linie zwischen dem (realplebiszitär zu deutenden) Wahlakt und 62 BVerfGE 83, 37 / 50 - st. Rspr. 63 Genauer aus den Deutschen i. S. v. Art. 116 GG, BVerfGE 83, 37/50; P. M. Huber, Das „Volk" des Grundgesetzes, DÖV 1989, 531/535. 64 J. Isensee, Öffentlicher Dienst, in: Benda / Maihofer / Vogel, HdbVerfR, 2. Aufl. 1995, § 32 Rdnr. 42, der dies allerdings nur auf die politischen Ämter beschränkt wissen will. Bei der Verwaltung gehe es „nur" um die Ausführung, nicht um die Bildung des Völkswillens. Diese Differenzierung findet im Verfassungstext freilich keinen Anhaltspunkt. 65 BVerfGE 89, 155/171 f. - Maastricht; BVerfG, Beschl. vom 31. März 1998, 2 BvR 1877/97, 2 BvR 50/98 - EURO; P M. Huber, Das Menschenbild im Grundgesetz, Jura 1998, 505/509 ff.; der s., Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker?, in: Drexl/ Kreuzer/Scheuing/Sieber (Hrsg.), Europäische Demokratie, demn. bei Nomos. 66 Zur Subjektivierung des Demokratieprinzips durch das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil siehe BVerfGE 89, 155/171 f.

Der Staatsangehörigenvorbehlt im deutschen Beamtenrecht

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seiner späteren „Konkretisierung" in hoheitlichen Maßnahmen, zwischen Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, und seinem Satz 2, der dem Volke u. a. die Ausübung der Staatsgewalt durch besondere Organe der vollziehenden Gewalt zuweist. Die Durchsetzung des demokratisch gebildeten Mehrheitswillens auch zu Lasten individueller Rechte und Interessen wird der einzelne umso eher hinnehmen, je stärker dieser Mehrheitswille von ihm als selbstbestimmt bzw. selbstbestimmbar erfahren wird. Damit tritt die Erreichung und Erleichterung von Akzeptanz hoheitlicher Entscheidungen durch die Staatsbürger als weiterer legitimierender Gesichtspunkt des Beamteneinsatzes hinzu. Vor diesem Hintergrund muß auch die demokratisch-funktionale Deutung des Funktionsvorbehalts um den Bürger zu einem tri- oder multipolaren (Verwaltungs-)Rechtsverhältnis erweitert werden und der Tatsache Rechnung tragen, daß Demokratieprinzip und Staatsangehörigenvorbehalt zwei Seiten derselben Medaille sind. Das scheint auch den Beteiligten an dem hier in Rede stehenden Gesetzgebungsverfahren irgendwie klar gewesen zu sein. Denn was anderes sollte es bedeuten, wenn in den Begründungen zu § 4 Abs. 2 BRRG wiederholt, wenn auch etwas apokryph davon die Rede ist, daß es „auch bei der zunehmenden europäischen Ausrichtung der deutschen öffentlichen Verwaltung zumindest für eine absehbare Zeit bei solchen Aufgaben (verbleibe), für deren Wahrnehmung es notwendig ist, daß sie nur von solchen öffentlichen Bediensteten erfüllt werden, die selbst Mitglied der staatlichen Gemeinschaft sind, um deren Belange es geht" 67 ?

4. Die Parallelität

nationaler und unionsrechtlicher

Direktiven

Der Gleichklang von Funktionsvorbehalt, Demokratieprinzip und Staatsangehörigenvorbehalt ist nicht das Produkt deutscher Nabelschau, sondern für zahlreiche (europäische) Rechtsordnungen nachweisbar 68. Er wird auch durch das Unionsrecht, wenn nicht bekräftigt, so doch anerkannt. Deshalb ist es wohl kein Zufall, daß die vom EuGH zu Art. 39 [48] Abs. 4 EGV entwickelten Kriterien - kaum verfremdet - auch in der demokratiespezifischen 67 BT.-Drucks. 12/3791, S. 7; 12/1455, S. 60. 68 Für Frankreich: Chr. Autexier, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Frankreich in: Magiera/Siedentopf (Hrsg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 235/260f.; für Griechenland: W. Skouris, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Griechenland, in: Magiera/Siedentopf (Hrsg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 317/ 328; für Großbritannien: Civil Service Nationality Rules 1991; N. Johnson, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Großbritannien, ebend., S. 343/370; für Irland: J. Gallagher/ S. Dooney, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Irland, S. 437/447 usw.

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Peter M. Huber

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auftauchen. So heißt es etwa in der Entscheidung zum Personalvertretungsgesetz Schleswig-Holstein wörtlich: „Als Ausübung von Staatsgewalt, die demokratischer Legitimation bedarf, stellt sich jedenfalls alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter dar (BVerfGE 83, 60, 73). Es kommt nicht darauf an, ob es unmittelbar nach außen wirkt oder nur behördenintern die Voraussetzungen für die Wahrnehmung der Amtsaufgaben schafft. Auch solche Entscheidungen bedürfen daher demokratischer Legitimation" 69 .

Der EuGH geht, wie bereits angeklungen ist, davon aus, daß die Zugehörigkeit der Beamten zu dem Staat, mit dem sie ihr Dienst- und Treueverhältnis verbindet, für die Durchsetzung des demokratisch gebildeten Mehrheitswillens zumindest förderlich ist. Wie selbstverständlich unterstellt er, daß der Erlaß eingreifender hoheitlicher Maßnahmen und die Mitwirkung an der Staatsleitung in den Mitgliedstaaten der EU legitimerweise Personen vorbehalten sein soll bzw. darf, die dem hoheitlich agierenden Staat in besonderer Weise verpflichtet sind. Wörtlich heißt es in der Entscheidung Lawrie-Blum zu den unter den Vorbehalt für die öffentliche Verwaltung nach Art. 39 [48] Abs. 4 EGV 1999 fallenden Stellen, daß sie wegen dieser Aufgaben „ . . . ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen" 10, 71.

Weshalb es auf diese besondere Verbundenheit von Stelleninhaber und Staat ankommt, wird vom EuGH nicht näher dargelegt, sondern vorausgesetzt. Berücksichtigt man freilich, daß die Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung 72 unter unionsrechtlichem Blickwinkel vor allem als „Repräsentanten mitgliedstaatlicher Politik" 73 erscheinen, so bedarf es keiner besonderen Phantasie, um zu erkennen, daß hinter dem Vorbehalt des Art. 39 [48] Abs. 4 EGV die Souveränität der europäischen Nationalstaaten steht, ihr nationalstaatlich geprägtes Demokratieprinzip. Und dieses ist grundsätzlich auf das jeweilige Staatsvolk ausgerichtet 74. 69 BVerfG, DVB1. 1995, 1291/1292. 70 Hervorheb. d. Verf. 71 EuGHE 1986, 2121 ff. - Lawrie-Blum, Rz. 27. 72 I. S. d. Art. 39 [48] EGV. 73 M. Burgi, Kommentar zur Situation von Berufen in der öffentlichen Verwaltung im Zeichen des steten Wandels der Staatlichkeit, in: Hailbronner (Hrsg.), 30 Jahre Freizügigkeit in Europa, 1998, S. 115. 74 Für Deutschland grundlegend BVerfGE 83, 37/50 ff. - Ausländerwahlrecht S. H.; 83, 60 ff. - Ausländerwahlrecht Hamburg; für Frankreich: Entscheidung Nr. 91 - 293 DC Conseil Constitutionnel vom 23. 7. 1991, JO 25. 7. 1991, S. 9854, 9855 mit der Bejahung eines (ungeschriebenen) Verfassungsprinzips, wonach nur französische Staatsangehörige Ämter wahrnehmen können, die die Souveränität der Nation berühren. Af. Burgi, Kommentar zur Situation von Berufen in der öffentlichen Verwaltung im Zeichen des steten Wandels der Staatlichkeit, in: Hailbronner (Hrsg.), 30 Jahre Freizügigkeit in Europa, 1998, S. 115 f.; Th. Rieckhoff, Die Entwicklung des Berufsbeamtentums in Europa, 1993, S. 52 ff.

Der Staatsangehörigen vorbehält im deutschen Beamtenrecht

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Stellt sich das (nationalstaatlich verfaßte) Demokratieprinzip somit als Klammer um den Vorbehalt für die öffentliche Verwaltung nach Art. 39 [48] Abs. 4 EGV und den Funktionsvorbehalt nach Art. 33 Abs. 4 GG dar, so lassen sich die unterschiedlichen Direktiven für die Handhabung des Staatsangehörigenvorbehalts letztlich doch zur Deckung bringen.

VI. Fazit Mit der Rezeption von Art. 39 [48] Abs. 4 EGV in das deutsche Beamtenrecht hat der Gesetzgeber im Grunde nichts anderes getan, als die ohnehin bestehende Rechtslage auch in den Beamtengesetzen zu kodifizieren. Zu mehr wäre er nach der hier vertretenen Auffassung gar nicht berechtigt gewesen. Denn daß die allgemeinen persönlichen Voraussetzungen für den Zugang zum Beamtenverhältnis i. d. R. die Eigenschaft des „Deutschen" i. S. d. Art. 116 GG fordern, beruht nicht auf einer politischen Gestaltungsentscheidung des Gesetzgebers, sondern - wie gezeigt - auf einem verfassungsrechtlichen Gebot. Und dieses duldet Durchbrechungen nur im Interesse kollidierender Verfassungswerte wie der europäischen Integration (Art. 23 Abs. 1 GG), nicht generell 75. Wo das Unionsrecht keine Vorgaben enthält, also jenseits der Grenzen von Art. 39 [48] Abs. 4 EGV, muß es daher mit der Parallelität von Beamtenstatus und Staatsangehörigkeit sein Bewenden haben. Wie der EuGH, so geht auch das Grundgesetz davon aus, daß hoheitliches bzw. staatliches Handeln typischerweise in den Händen von Personen liegt, die dem (deutschen) Staatsvolk angehören und dem Staat darüber hinaus auch durch ein besonderes Dienst- und Treueverhältnis verpflichtet sind 76 . Deshalb zwingt neben der historischen auch die teleologisch-systematische Auslegung der §§ 4 Abs. 2 BRRG und 7 Abs. 2 BBG etc. zu jener extensiven Interpretation, die sich im Grunde schon dem - ernstgenommenen - Klammerzusatz entnehmen läßt: Immer dann, wenn Art. 39 [48] Abs. 4 EGV die Beschränkung auf Angehörige des Beschäftigungsstaates gestattet, „erfordern" auch die Aufgaben den Rückgriff auf deutsche Bewerber. Die §§ 4 BRRG, 7 BBG bringen dies freilich nicht klar genug zum Ausdruck. Dem sollte der Gesetzgeber de lege ferenda dadurch Rechnung tragen, daß er im nächsten Dienstrechtsreformgesetz auf die insoweit gelungenere Formulierung des Beamtengesetzes Rheinland-Pfalz 77 zurückgreift und den Staatsangehörigenvorbehalt wie folgt faßt: 75 A. A. U. Battis, BBG, § 7 Rdnr. 5; J. Isensee, Öffentlicher Dienst, in: Benda/Maihofer/Vogel, HdbVerfR, 2. Aufl., 1995, § 32 Rdnr. 94 unter Bezugnahme auf den (insoweit gerade nicht einschlägigen) Anwendungsvorrang des Unionsrechts und in gewissem Widerspruch zu der in Rdnr. 93 enthaltenen Einordnung als Konkordanzproblem. 76 Andernfalls gäbe es keinen Gesichtspunkt, warum die Aufgaben überhaupt den Einsatz von Deutschen erfordern sollten, wie es das Gesetz verlangt; R M. Huber, Das Berufsbeamtentum im Umbruch, DV 29 (1996), S. 463. 77

§ 9 Abs. 1 Nr. 1 R.P.LBG.

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Peter M. Huber

„In das Beamtenverhältnis darf nur berufen werden, wer Deutscher im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes ist oder als Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union im Rahmen der Freizügigkeit nach Art. 39 [48] EGV in der jeweils geltenden Fassung Anspruch auf Gleichbehandlung hat". Damit wäre in der Sache auch klargestellt, daß es - wie U. Battis 1% zutreffend bemerkt hat - letztlich der EuGH ist, der über die richtige Auslegung der §§ 4 Abs. 2 BRRG, 7 Abs. 2 B B G etc. zu entscheiden h a t 7 9 .

78 U. Battis, BBG, 2. Aufl., 1997, § 7 Rdnr. 5. 79 Zur Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung einer nationalen Rechtsvorschrift, die auf eine unionsrechtliche Bestimmung verweist EuGHE 1990, 4003 ff. - GmurzynskaBscher; P. M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 1996, § 20 Rdnr. 10.

Kein Recht auf Stiftungsgenehmigung Von Michael Sachs

Mit seinem Urteil vom 12. Februar 19981 hat das Bundesverwaltungsgericht die Revision der Partei DIE REPUBLIKANER gegen das Berufungsurteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 19952 zurückgewiesen, mit dem die zuvor in erster Instanz3 erfolgreiche Klage gegen das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen abgewiesen worden war, die sich auf die Verpflichtung zur Erteilung einer Genehmigung für die Errichtung der parteinahen „Franz-Schönhuber-Stiftung" gerichtet hatte. Die vom Bundesverwaltungsgericht für bundesrechtskonform befundene Begründung des Oberverwaltungsgerichts hatte sich vor allem darauf gestützt, daß die Genehmigung nach dem zwingenden Versagungstatbestand des § 4 Abs. 1 lit. a StiftG NW 4 gar nicht erteilt werden durfte, weil die Stiftung mit Rücksicht auf ihre festgestellten verfassungsfeindlichen Zielsetzungen das Gemeinwohl gefährdet hätte. Nachdem die so festgestellte Gefährdung des Gemeinwohls vor allem darauf gestützt worden war, daß die Stiftung wegen ihrer Nähe zu der politischen Partei DIE REPUBLIKANER - wie diese - als verfassungsfeindlich und damit gemeinwohlwidrig qualifizierte Ziele verfolgen würde, stellte sich die vom Berufungs- wie vom Revisionsgericht bejahte Frage, ob die Versagung der Genehmigung auf dieser Grundlage mit dem sog. Parteienprivileg des Art. 21 Abs. 2 GG vereinbar war. 5 Auf die vielfältigen Facetten dieser interessanten Fragestellung wird allerdings hier nicht näher eingegangen werden; vielmehr soll im Hinblick auf die Affinität des Jubilars zum Stiftungsrecht überhaupt6 die in den vorgenannten Gerichtsverfahren nicht näher thematisierte Frage im Mittelpunkt stehen, ob eine Klage auf 1 Az. 3 C 55.96, NJW 1998, 2545 ff. 2 OVG Münster, NWVB1. 1996, 181 ff. 3 VG Düsseldorf, NVwZ 1994, 811. 4 Stiftungsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (StiftG NW) vom 21. Juni 1977, GV NW S. 274. 5 Insoweit ist der Verf., der als Vertreter des beklagten Innenministeriums in der Revisionsinstanz tätig geworden ist, weitgehend mit den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts einverstanden. 6 Vgl. insbesondere Walter Leisner (Bearb.), Stiftungen in der Rechtsprechung, Band I (1980), Band I I (1982) und Band III (1985), hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Stiftungen.

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Michael Sachs

Erteilung der zur Entstehung einer rechtsfähigen Stiftung gem. § 80 S. 1 BGB außer dem Stiftungsgeschäfte erforderlichen Genehmigung nicht stets - vorbehaltlich nur eines selbständigen Gleichbehandlungsanspruchs7 - schon deshalb scheitern muß, weil der Klägerin jedenfalls kein subjektiv-öffentliches Recht auf die Genehmigung bzw. auch nur auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Genehmigung zukommt. Ob in Bezug auf die Genehmigung einer Stiftung subjektive öffentliche Rechte des Stifters bestehen, wird heute, soweit ersichtlich, allerdings kaum noch kontrovers diskutiert, sondern meist mehr oder weniger fraglos vorausgesetzt. Man streitet dann nur noch darüber, ob dem Stifter ein strikter Anspruch auf die Genehmigung zusteht8 oder ob die Genehmigung im Ermessen der Genehmigungsbehörde steht.9 Soweit mit der wohl nach wie vor „h.M." 1 0 letzteres angenommen wird, wird offenbar, soweit ersichtlich, ohne nähere Begründung vorausgesetzt, daß dem Stifter in Bezug auf diese Ermessensentscheidung ein entsprechendes, formell subjektiv-öffentliches Recht auf fehlerfreie Ausübung des Genehmigungsermessens zusteht. Bei näherer Betrachtung zeigt sich indes, daß weder den meist zur Stützung sogar eines strikten Anspruchs herangezogenen Grundrechten (unten I.), noch den Bestimmungen des BGB (unten II.), noch schließlich den landesrechtlichen Vorschriften über die Genehmigung (unten III.) ohne weiteres überhaupt ein subjektives öffentliches Recht des Stifters, und sei es auch nur auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung gerichtet, zu entnehmen ist. Angesichts der aktuellen Bemühungen um die Umstellung des Stiftungsrechts vom Konzessionssystem auf ein Normativsystem,11 deren Zweckmäßigkeit hier nicht bewertet werden soll, scheint 7 Dazu näher zuletzt Michael Sachs, Der Gleichheitssatz als eigenständiges subjektives Grundrecht, in: Staat, Steuern, Wirtschaft, Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, 1996, S. 309 ff. m.w.N. s Dafür Hagen Hof, in: Werner Seifart, Handbuch des Stiftungsrechts, 1987, § 4 Rdn. 10 m.w.N.; Dieter Reuter, Rechtsprobleme unternehmensbezogener Stiftungen, DZWiR 1991, 192 (193); zuletzt Sebastian Schwintek, Stiftungsförderung durch Normativsystem?, ZRP 1999, 25 (26) m.w.N. 9

So Harry Ebersbach, Handbuch des deutschen Stiftungsrechts, 1972, S. 61 ff. m.w.N.; Klaus Neuhoff, in: Th. Soergel/W. Siebert (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Bd. 1, 12. Aufl., 1987, § 80 Rdn. 15; Otto Voll/Johann Störle, Bayerisches Stiftungsgesetz, Kommentar, 3. Aufl., 1998, S. 58. 10 So auch die Qualifikation durch die Gegenauffassung, vgl. etwa Dieter Reuter, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 3. Aufl., 1993, § 80 Rdn. 12 m.w.N.; Peter Rawert, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Erstes Buch, Allgemeiner Teil, §§ 21 -103, 13. Bearb. 1995, vor § 80 Rdn. 48 m.w.N.; s. auch Klaus Riehmer, Körperschaften als Stiftungsorganisationen, 1993, S. 27, wonach „in den rechtlichen Vorschriften und in der Genehmigungspraxis nach wie vor das Konzessionssystem" überwiegt. 11 Vgl. den von der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des Stiftungswesens, BT-Dr. 13/9320; dazu etwa Friedrich Bischoff, Auf dem Weg zu einer Reform des Stiftungsrechts, ZRP 1998, 391 ff. m.w.N.

Kein Recht auf Stiftungsgenehmigung

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eine Klarstellung der Ausgangslage ratsam, vor allem um angesichts bereits diagnostizierter Gefahren 12 zu verhindern, daß die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers durch vermeintliche verfassungsrechtliche Zwänge ungerechtfertigt eingeengt wird.

I. Kein grundrechtlicher Genehmigungsanspruch 1. Kein unmittelbar grundrechtlicher

Genehmigungsanspruch

Ein unmittelbar grundrechtlicher Genehmigungsanspruch ist im Rahmen der grundgesetzlichen Grundrechtsbestimmungen nur in besonderen Einzelfällen, wie bei Art. 7 Abs. 4 S. 3 GG, in Betracht zu ziehen. Bei den für die Stiftung im allgemeinen in Frage kommenden Grundrechten (zumal Art. 2 Abs. 1 GG und die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, nicht hingegen Art. 9 Abs. 1 GG, der einen bei der Stiftung fehlenden personellen Zusammenschluß voraussetzt 13) handelt es sich insoweit um Freiheitsrechte, die auf ungehinderte Betätigung ausgerichtet sind und daher - vorbehaltlich der im Rahmen der Grundrechtsbegrenzungen bestehenden Einwirkungsmöglichkeiten - als Abwehrrechte staatlichen Freiheitsbeschränkungen entgegenstehen. Ansprüche auf staatliche Leistungen, insbesondere auf Erteilung staatlicher Genehmigungen, ergeben sich aus diesen Grundrechten allein nicht.

2. Kein mittelbar grundrechtlich

abgeleiteter Genehmigungsanspruch

Die grundrechtliche Ableitung des Genehmigungsanspruchs wird vielmehr mittelbar dadurch begründet, daß eine gesetzlich angeordnete Grundrechtseinschränkung nur dann verfassungsrechtlich zu rechtfertigen und damit gültig ist, wenn der Betroffene einen an zulässige Voraussetzungen gebundenen Anspruch auf eine die Einschränkung aufhebende Genehmigung hat. 14 In der Tat hat das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen angenommen, daß gesetzliche Beschränkungen grundrechtlicher Freiheiten nur dann den verfassungsrechtlichen Anforderungen standhalten, wenn dem Betroffenen bei Erfüllung zulässigerweise aufgestellter gesetzlicher Voraussetzungen ein 12

In diesem Sinne Karsten Schmidt, Konzessionssystem und Stiftungsrecht, in: Axel Frhr. von Campenhausen/Herbert Kronke/Olaf Werner, Stiftungen in Deutschland und Europa, 1998, S. 229 (241); auch Schwintek (o. Fußn. 8), S. 26 ff. 13 Vgl. ausdrücklich BVerwG (o. Fußn. 1); so auch die h.L.: Wolfram Höfling, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl., 1999, Art. 9 Rdn. 10; Hartmut Bauer, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 1996, Art. 9 Rn. 34; Rupert Scholz in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Band I, Stand Nov. 1997, Art. 9 Rn. 62. 14

Vgl. zu dieser Konstellation allgemein nur Michael Sachs, in: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 612 f., 614.

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Michael Sachs

strikter Anspruch auf eine Genehmigung zusteht, die seine ursprüngliche grundrechtliche Betätigungsfreiheit wiederherstellt. 15 Eine ausnahmslose Verallgemeinerung verträgt der aus der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts zitierte Ansatz freilich nicht. 1 6 Vielmehr kann das Gesetz auch i m tatbestandlichen Anwendungsbereich grundrechtlicher Freiheitsgarantien die Behörden zu beschränkenden Eingriffen nach ihrem Ermessen ermächtigen, solange dieser - gegenüber dem ausnahmslosen Verbot der Betätigung j a immer noch mildere - Eingriff nur den Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen genügt, wie sie sich namentlich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben. 17 Die Tatsache, daß gesetzliche Genehmigungserfordernisse für eine grundrechtsgeschützte Tätigkeit aufgestellt sind, berechtigt daher keineswegs automatisch dazu, eine gebundene Genehmigung anzunehmen, auf die ein strikter Rechtsanspruch besteht. 18 Dies ist i m Gegenteil verfassungsrechtlich nur insoweit geboten und ge15 Vgl. namentlich BVerfGE 20, 150 (154 ff.); 46, 120 (157); 50, 256 (263); ähnlich auch: BVerfGE 9, 83 (87); 34, 165 (200); 41, 378 (399); 52, 1 (41); 62, 169 (183), jeweils mit Rücksicht auf fehlende oder unzulängliche Tatbestandsvoraussetzungen für die Ermessensausübung; ferner BVerfGE 18, 353 (364); auch BVerfGE 40, 371 (382 ff.), für Unverhältnismäßigkeit eines allgemeinen Verbots; BVerfGE 65, 116 (128) zur Notwendigkeit, Befreiungsregeln weit auszulegen; aus dem Schrifttum grundsätzlich zustimmend etwa Hans D. Jarass, in: ders./Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1997, Art. 20 Rdn. 40 m.w.N.; Gunther Schwerdlfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, 10. Aufl. 1997, Rdn. 148; Werner Frotscher, Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl. 1994, Rdn. 191 f.; Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1997, § 9 Rdn. 51 ff. Zum Teil wird im Schrifttum zur Stiftungsgenehmigung in diesem Zusammenhang Judikatur angeführt, die nur die Reichweite des Vorbehalts des Gesetzes im allgemeinen oder die Gestaltungsaufgabe des Gesetzgebers in anderweitigen grundrechtlichen Spezialzusammenhängen betrifft, hier aber nicht weiterführt, vgl. etwa die Hinweise auf BVerfGE 47, 46 (78 f.); 50, 290 (354 f.); 57, 295 (319 ff.); 58, 233 (247) bei Dieter Reuter, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 3. Aufl., 1993, vor § 80 Rdn. 8; nicht einschlägig auch BVerfGE 80, 1 (20 f.), ergangen zu Bestimmtheitsanforderungen im Prüfungsrecht, auf das Peter Rawert, in: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Erstes Buch, Allgemeiner Teil, §§ 21 -103, 13. Bearb. 1995, vor § 80 Rdn. 48, hinweist. 16 Abweichend für atomrechtliche Genehmigungen etwa schon BVerfGE 49, 89 (145 f.), das Dieter Reuter (o. Fußn. 10), vor § 80 Rdn. 8, gleichwohl für die gegenteilige Position anführt; ebensowenig hat BVerfGE 61, 291 (317 f.), worauf Peter Rawert (o. Fußn. 10), Rdn. 48, hinweist, das grundrechtliche Verbot mit bloßem Befreiungsvorbehält, also behördlichem Entscheidungsermessen, an sich schon verworfen; s. auch bereits Jürgen Schwabe, Das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, JuS 1973, 133 (137 f.). 17 Vgl. für die Möglichkeit von Befreiungsermessen, soweit auch völlige Verbote in Betracht kommen, etwa BVerfGE 38, 348 (368); aus neuerer Zeit dann sehr deutlich BVerwGE 96, 293 (298 f.); 96, 302 (310 ff.); allgemein wie hier auch Gerrit Manssen, Privatrechtsgestaltung durch Hoheitsakt, 1994, S. 122 f., der ganz allgemein feststellt: „Ein striktes Schema dergestalt, daß ein Ermessen der Behörden im Hinblick auf grundrechtlich geschützte Tätigkeiten unzulässig ist, gibt es nicht.". 18 So aber offenbar in bezug auf die Stiftungsgenehmigung Hagen Hof (o. Fußn. 8), Rdn. 9, der annimmt, gegenüber der Grundrechtsausübung sei für Ermessensgenehmigungen kein

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gebenenfalls im Rahmen verfassungskonformer Auslegung zur Geltung zu bringen, als den legitimen Schutzzwecken der grundrechtsbeschränkenden Regelung schon durch das Erfordernis einer gebundenen Genehmigung genügt ist, wenn es also einer Ermessensermächtigung als der weitergehenden Einschränkung nicht bedarf. Dies ist auch für die Frage eines Ermessens bei der Stiftungsgenehmigung zu beachten. Viel prinzipieller ist aber darüber hinaus zu bedenken, daß die dargestellte Ableitung behördlicher Genehmigungspflichten und entsprechender Berechtigungen in allererster Linie davon abhängt, daß es überhaupt um die Situation freiheitsbeschränkender gesetzlicher Verbote geht, die mit Rücksicht auf die Grundrechte der Betroffenen unter Genehmigungsvorbehalt gestellt sind. Bei dem Genehmigungserfordernis für Stiftungen fällt schon den ersten Blick auf, daß es an dem (präventiven oder repressiven) Verbot einer Tätigkeit, von dem die Genehmigung (unter festgelegten Voraussetzungen oder ausnahmsweise nach Ermessen) freistellen müßte, fehlt. Die Stiftungsgenehmigung hat nicht die Funktion, das Verbot bestimmter, vielleicht grundrechtsgeschützter Aktivitäten auszuräumen, sondern zielt in eine gänzlich andere Richtung, die in § 80 S. 1 BGB in aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommt, wenn es dort heißt, daß die Genehmigung „zur Entstehung einer rechtsfähigen Stiftung ... erforderlich" ist. Soll diese Genehmigung Grundrechtsrelevanz besitzen, muß sich der Grundrechtsschutz schon auf die rechtliche Möglichkeit beziehen, durch Vornahme eines Stiftungsgeschäfts eine rechtsfähige Stiftung hervorzubringen. Diese Möglichkeit geht über den Bereich natürlicher Freiheit hinaus, sie ist notwendig rechtlich konstituiert, hat als möglicher Inhalt einer Grundrechtsberechtigung die Struktur eines „Bewirkungsrechts", 19 einer Kompetenz20. Raum, die Grundrechtsausübung könne „nur von der Erfüllung gesetzlich normierter sachlicher Voraussetzungen abhängig gemacht werden"; ebenso etwa Dieter Reuter (o. Fußn. 10), vor § 80 Rdn. 8, auch Rdn. 33, § 80 Rdn. 12; Peter Rawert (o. Fußn. 10), Rdn. 48; § 80 Rdn. 29; Volkram Gebel/Stephanie Hinrichsen, Schleswig-Holsteinisches Stiftungsgesetz, 1994, § 2 Anm. 4; auch Jörn Ipsen, Staat und Stiftung - Überlegungen zum verfassungsrechtlichen Standort der Stiftung des privaten Rechts, in: Entwicklungstendenzen im Stiftungsrecht, Zur rechtspolitischen Diskussion - , Bericht über ein Symposion vom 12. bis 14. Februar 1987 veranstaltet von der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Stiftungen - Bundesverband - , o.J., S. 150 (154 ff., 160); Martin Schulte, Staat und Stiftung, 1989, S. 42 ff.; Schwintek (o. Fußn. 8), S. 26 m.w. N.; für den Fall des Grundrechtsschutzes für die Errichtung der Stiftung Herbert Kronke, Stiftungstypus und Unternehmensträgerstiftung, 1988, S. 39 f., der sonst (nur) einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung gibt; dagegen geht Stephan Dewald, Die privatrechtliche Stiftung als Instrument zur Wahrnehmung öffentlicher Zwecke, 1990, S. 69 Fußn. 367, nur von einer praktisch einer strikten Bindung gleichwertigen Ermessensreduzierung aus. 19 Michael Sachs (o. Fußn. 14), S. 577 f., 604 ff. m.w.N. 20 So bereits mit großer Deutlichkeit Walter Leisner, Grundrechte und Privatrecht 1960, S. 328 f.; dann wieder Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 212 ff.; auch Wolfram Höfling, Vertragsfreiheit, 1991, S. 28 ff.

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Nur wenn und soweit ein grundrechtlicher Anspruch auf die Begründung eines solchen Bewirkungsrechts besteht, kann dessen Abhängigkeit von staatlichen Mitwirkungsakten als Grundrechtsbeschränkung erscheinen und gegebenenfalls nur durch die Einräumung eines Anspruchs auf die Mitwirkung gerechtfertigt sein.21 Die Berufung auf die „durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte(n) Handlungsfreiheit" 2 2 verfehlt die spezifische Eigenart der in Frage kommenden Grundrechtsposition. Vielmehr setzt die Handlungsfreiheit erst ein, wenn und soweit zuvor die zu betätigenden Bewirkungsrechte von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellt sind; das Grundrecht auf den Bestand dieser Bewirkungsrechte ist von der Freiheit, sie im Falle ihres Bestehens ungehindert ausüben zu dürfen, zu trennen. Ob nun die Verfassung ein allgemeines „Grundrecht auf Stiftung", 23 also einen grundrechtlichen Anspruch auf die Schaffung (oder Erhaltung) der rechtlichen Möglichkeit, Stiftungen begründen zu können, beinhaltet, scheint überaus fraglich. Sicher ist es richtig, daß die Verfassung in verschiedenen Bestimmungen die Verfügbarkeit gewisser rechtlicher Instrumentarien als Grundlage der Freiheitsausübung garantiert. Dies kann sich auf recht spezifische Institutselemente beziehen, etwa in Art. 14 Abs. 1 GG beim Erbrecht auf die Möglichkeit letztwilliger Verfügungen als Medium der Testierfreiheit oder für Art. 6 Abs. 1 GG auf die Möglichkeit rechtswirksamer Eheschließung. In anderen Fällen sind aber nur generell geeignete Instrumente verfassungsrechtlich notwendig, etwa für die Betätigung der Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG lediglich „diejenigen Normen, die zur Realisierung des grundrechtlich Gewährleisteten unerläßlich sind". 24 Keineswegs ist stets die von einem Grundrechtsträger gewünschte rechtliche Gestaltungsmöglichkeit auch verfassungsrechtlich geboten.25 In ganz besonderem 21 Vgl. auch Gerrit Manssen (o. Fußn. 17), S. 220, der bezogen auf eine grundrechtliche Garantie von Stiftungsmöglichkeiten feststellt: „Mehr als das, was das einfache Recht bietet, ist nicht Gegenstand einer formellen Bestandsgarantie." 22 Hagen Hof(o. Fußn. 8) Rdn. 7. 23 So die plakative Formulierung von Jochen A. Frowein, Grundrecht auf Stiftung, 1976, S. 11 ff.; ähnlich bereits Georg Strickrodt, Stiftungsrecht, 1977, S. 69 ff. (erschienen auf der Grundlage des insoweit schon 1962 als Teillieferung erschienenen Textes); sachlich im Kern übereinstimmend ferner etwa Dieter Reuter (o. Fußn. 10), vor § 80 Rdn. 8 und ff., § 80 Rdn. 12; Peter Rawert (o. Fußn. 10), Rdn. 40ff.; Volkram Gebel/ Stephanie Hinrichsen (o. Fußn. 18), Einführung Anm. 2; auf die bei Frowein, aaO, S. 12 ff. aus Einzelgrundrechten abgeleitete Notwendigkeit der Möglichkeit, Stiftungen für einzelne Lebensbereiche zu begründen, kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden, doch scheint gegenüber derart konkreten Schlußfolgerungen aus grundrechtlichen Gewährleistungen prinzipiell größte Zurückhaltung am Platze. Immerhin soll ja der Gestaltungsspielraum des nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebundenen Gesetzgebers eingeengt sein. 2

4 Wolfram Höfling (o. Fußn. 13), Art. 9 Rdn. 6, 30. 5 Vgl. aus dem Bereich des Art. 9 Abs. 1 GG BVerwG, NJW 1979, 2261 ff., wonach keineswegs stets die Verleihung der Rechtsfähigkeit an einen Verein verlangt werden kann; ferner BVerwG, NJW 1979, 2265. 2

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Maße muß dies für die allgemeinste Garantie dieser Art gelten, die als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrecht notwendige Möglichkeit des einzelnen, seine Angelegenheiten rechtsgeschäftlich zu gestalten. Auch hier werden nicht alle als nützlich angesehenen Gestaltungsmöglichkeiten von Verfassungswegen geschuldet, vielmehr muß das Gesetz nur „der Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben einen angemessenen Betätigungsraum eröffnen". 26 Ob hierzu die Möglichkeit des einzelnen gehören muß, selbständige Stiftungen als eigenständige juristische Personen zu erzeugen, scheint zweifelhaft. Zwar wird postuliert, „daß der Stifter, der seine Persönlichkeit in der Gründung einer sozialen Anstalt verwirklicht, zu seinen Lebzeiten die Möglichkeit haben muß, eine Sicherung dieser Anstalt auch für die Zeit nach seinem Tode zu erreichen". 27 Eine Begründung dieses Postulats sucht man indes vergeblich. Allein die (nicht unproblematische) Anerkennung gewisser über den Tod der Person hinausreichender Schutzwirkungen der Grundrechte 28 kann nicht ausreichen, um zu erklären, warum gerade die Möglichkeit rechtswirksamer Stiftung zu dem „Mindestmaß an Privatautonomie" gehören soll, das das Grundgesetz den Menschen garantiert. Daher bleibt es insoweit bei dem nüchternen Befund, den Salzwedel in seinem Gutachten für den 44. DJT formuliert hat: „Aber es kann sich immer nur darum handeln, die Privatautonomie des Lebenden zu wahren, der auf diesem Wege seine Individualität verwirklichen will. Niemand hat indes einen grundrechtlichen ,Anspruch' darauf, seine Individualität auch noch künftigen Generationen aufzuzwingen. ... Das hat mit Art. 2 Abs. 1 GG nichts mehr zu tun." Entsprechend bleibt es auch bei der Schlußfolgerung, daß der Gesetzgeber „in der Entscheidung darüber frei ist, wieweit er die erweiterte Privatautonomie des Stifters anerkennen will oder nicht". 29 Dem entspricht auch die später wohl mißverstandene Aussage von Karpen, eine Beschränkung der Stiftungszwecke auf solche gemeinnütziger Art „wäre, wenn sie prinzipieller Natur wäre, eine Begrenzung der grundrechtlich geschützten Privat26 BVerfGE 89, 214 (231). 27 So Jochen A. Frowein (o. Fußn. 23), S. 16. 28 Jochen A. Frowein (o. Fußn. 23), S. 16, beruft sich auf das Mephisto-Urteil; allerdings wird dort ein postmortal wirksames Persönlichkeitsrecht sogar schlechthin verneint und nur die Menschenwürdegarantie mit solchen Nachwirkungen ausgestattet, BVerfGE 30, 173 (194); s. auch Dietrich Murswiek, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 2 Rdn. 78 m.w.N. 29 Jürgen Salzwedel, 4. Abschnitt: Verfassungsrechtliche Fragen zur Reform des Stiftungswesens, in: Kurt Ballerstedt/Jürgen Salzwedel, Soll das Stiftungsrecht bundesgesetzlich vereinheitlicht und reformiert werden, gegebenenfalls mit welchen Grundzügen ?, Gutachten für den 44. DJT, Verhandlungen des 44. DJT, Bd. I, 5. Teil, 1962, S. 52, 67 ff.; ebenso wieder Gerrit Manssen (o. Fußn. 17), S. 218 f.; ausdrücklich gegen ein Grundrecht auf Stiftung auch Helmut Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 57. Aufl. 1998, § 80 Rdn. 2; auch Peter Rawert, Die Genehmigungsfähigkeit der Unternehmens verbundenen Stiftung, 1990 (= Diss. Kiel 1989), S. 69 f. m.w.N., sieht keinen Widerspruch zu Salzwedel, da dieser nur auf Möglichkeiten gesetzlicher Abschaffung der Stiftungsmöglichkeit abstellt.

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autonomie".30 Dies trifft im Sinne einer Terminologie, die zwischen der Einschränkung garantierter Schutzgegenstände der Grundrechte und der die Reichweite der Grundrechtsgarantie selbst betreffenden Begrenzung unterscheidet,31 genau den Kern: Die privatrechtlich vorgegebenen Möglichkeiten rechtswirksamen Handelns stecken die mögliche Reichweite des insoweit durch die Grundrechte vermittelten Freiheitsschutzes vorweg ab, sie bilden den Rahmen, der allenfalls auf prinzipielle Unzulänglichkeit des bereitgestellten Instrumentariums zu überprüfen wäre. 32 Soweit von denjenigen, die die zitierte Aussage übernehmen,33 in Wahrheit doch an eine Beschränkung der (gewährten) Privatautonomie "gedacht wird, verkennen sie entweder, daß Privatautonomie (vorbehaltlich nur der institutionell unzulänglichen Ausgestaltung) lediglich die Freiheit meint, sich derjenigen rechtsgeschäftlichen Handlungsmöglichkeiten frei zu bedienen, die die Rechtsordnung zumal zur Gestaltung der eigenen Angelegenheiten zur Verfügung stellt, oder sie gehen von einer „an sich" umfassend begründeten und so unter Grundrechtsschutz stehenden Stiftungsmöglichkeit aus, deren Einengung durch die nähere rechtliche Ausgestaltung dann als Eingriff in eine als vorgegeben behandelte umfassende Stiftungsmöglichkeit erscheint. Für die Annahme eines in dieser Weise zweischichtigen Aufbaus des Stiftungsrechts, der im abstrakten Teil Grundrechtssubstanz gewährt, die er in konkreten Bestimmungen dann einschränkt, fehlt aber jede Grundlage. Der logische Zirkel, dem derartige Auffassungen erliegen, tritt mit besonderer Deutlichkeit bei Peter Rawert 34 hervor. Dieser sieht die Reichweite des Art. 2 Abs. 1 GG im Ansatz völlig zutreffend und sehr klar auf den Gebrauch der Rechtsformen beschränkt, mit denen die Zivilrechtsordnung dem einzelnen die Macht gibt, rechtverbindliche Folgen zu setzen, betont auch noch, daß es keine verfassungsrechtliche Bestandsgarantie des Instituts der rechtsfähigen Stiftung gibt. Damit ist überzeugend belegt, daß sich die Reichweite der grundrechtlich geschützten (rechtsgeschäftlich wirksamen) Handlungsmöglichkeiten (jedenfalls für den Bereich der Errichtung von Stiftungen) auf den gesetzlich gewährten Umfang 30

Ulrich Karpen , Gemeinnützige Stiftungen im pluralistischen Rechtsstaat, 1980, S. 20. 1 Vgl. dazu Michael Sachs (o. Fußn. 14), Bd. III/2, 1994, S. 227 f. m.w.N. 32 Nicht eindeutig insoweit Karsten Schmidt (o. Fußn. 12), S. 235, der allerdings klar einen allgemeinen grundrechtsbegründeten Anspruch für „jedes zu einem erlaubten Zweck gebildete Zweckvermögen" verneint, „der juristischen Personifizierung teilhaftig" zu werden, andererseits aber annimmt, der Gesetzgeber schulde zum Schutz vor Willkür „den Gestaltern von Vereinen und Stiftungen die Gewährleistung rechtlicher Voraussetzungen für die Ausgestaltung als Rechtsperson". Wiederum andererseits läßt Schmidt schließlich Sympathien für die Möglichkeiten des Konzessionssystems erkennen, unvernünftige oder geringfügige Stiftungen zu verhindern, ebda, S. 240 f. 3

33 Namentlich Bernd Andrick, Stiftungsrecht und Staatsaufsicht unter besonderer Berücksichtigung der nordrhein-westfälischen Verhältnisse, 1988, S. 37 f.; sowie zuletzt Heike Merten, Die Genehmigung einer sog. parteinahen Stiftung, NWVB1. 1997, 44 (45 f.). 34 (o. Fußn. 10), Rdn. 45; entsprechend schon ders. (o. Fußn. 29), S. 67 ff.

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an Rechtsgestaltungsmacht beschränkt. 35 Wenn bei einem insoweit gesetzesakzessorischen Grundrechtsschutz dennoch versucht wird, die Reichweite der gesetzlichen Gestaltungsmacht vom Grundrecht her zu bestimmen, ist der Zirkelschluß offenbar. Nicht offenbar, sondern in höchstem Maße problematisch, ja nicht mehr recht nachvollziehbar ist vor allem, wie angesichts der erkannten Gesetzesakzessorietät des Grundrechtsschutzes aus denselben Grundrechten eine Legitimation zu begründen gesucht wird, die Möglichkeiten zum Gebrauch der Rechtsform Stiftung entgegen der Vorstellung des historischen Gesetzgebers von behördlichen Zweckmäßigkeitserwägungen unabhängig zu stellen.36 Denn wenn die Grundrechte für die Errichtung von Stiftungen nur den freien Gebrauch der rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten sichern, die im Rahmen des ihnen vorgegebenen Gesetzesrechtes - also: einschließlich der Bestimmung, die den Behörden die Genehmigung der Stiftung freigestellt - bestehen, können sie nicht zugleich Anlaß geben, eben diesen Rahmen zu erweitern bzw. aufzuheben. 37 Selbst bei (der nach dem Gesagten nicht tragfähigen) Annahme eines grundrechtlichen Schutzes der prinzipiellen Möglichkeit, Stiftungen mit jedem beliebigen Zweck begründen zu können, würde der gesetzliche Ausschluß dieser Möglichkeit für gemeinwohlgefährdende Stiftungszwecke als Einschränkung dieses Grundrechts die durch dieses zunächst allgemein begründete subjektiv-rechtliche Position insoweit eben aufheben. Das Grundrecht könnte ein subjektives Recht auf Errichtung der gesetzwidrigen Stiftung nur noch begründen, wenn das Gesetz - etwa wegen Verletzung des Grundrechts - verfassungswidrig wäre. Dies müßte für Zwecke der gerichtlichen Rechtsanwendung allerdings zunächst einmal nach Art. 100 Abs. 1 GG verfassungsgerichtlich geklärt werden. Materiell-rechtlich ist nicht erkennbar, warum die gesetzliche Einschränkung einer unterstellten Stiftungs„freiheit" aus Art. 2 Abs. 1 GG dahin, daß Stiftungen ihrem Zweck nach nicht das Gemeinwohl gefährden dürfen, im Rahmen der Begrenzungen dieses Grundrechts, namentlich als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung, nicht zulässig sein sollte. 35 Auch Jörn Ipsen (o. Fußn. 18), S. 150 (153), läßt die Möglichkeit des Gesetzgebers, die Stiftung als Rechtsinstitut abzuschaffen, ausdrücklich offen und den Grundrechtsschutz der Stiftung nur de lege lata durchgreifen. 36 Peter Rawert (o. Fußn. 10), Rdn. 45; in der Argumentationsstruktur parallel auch Jörn Ipsen (o. Fußn. 18), S. 150 (153, 155 f.), der aus Grundrechtsgründen ein Genehmigungsermessen de lege lata ausschließt, zugleich aber offenläßt, ob nicht die gesetzliche Beseitigung jeder Stiftungsmöglichkeit als doch viel weitergehender „Grundrechtseingriff' möglich wäre. 37 Vgl. auch umgekehrt Martin Schulte (o. Fußn. 18), S. 39 f., der geradezu im Sinne eines argumentum ad absurdum gegen die Annahme einer (gegen gesetzliche Beseitigung) grundrechtsgesicherten Möglichkeit zur Stiftung ins Feld führt, „daß der Staat bei Annahme einer mittelbaren Errichtungs- und Bestandsgarantie der Stiftung gezwungen wird, auch solche Stiftungen zu genehmigen, die äußerst zweifelhafte, vielleicht sogar sinnlose oder gemeinwohlschädliche, aber nicht rechtswidrige Stiftungszwecke verfolgen", selbst aber (bei Art. 14 GG, S. 43 f.) später demselben Zirkelschluß unterliegt.

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Im übrigen bleibt zu erwähnen, daß jedenfalls für Stiftungen, die nicht von natürlichen Personen vorgenommen werden, sondern etwa von juristischen Personen oder anderen, teilrechtsfähigen Gebilden, eine persönlichkeitsgrundrechtliche Begründung entsprechender Möglichkeiten im Sinne der Gedanken Froweins auszuscheiden hat. Das allenfalls grundrechtlich schutzfähige menschliche Interesse, das eigene Wirken über den Tod hinaus verlängern zu wollen, kommt für juristische Gebilde nicht in Betracht. Für deren möglicherweise gleichwohl bestehendes Interesse, einer abgesonderten Vermögensmasse eine selbständige juristische Existenz in der Form einer Stiftung zu verleihen, ist eine grundrechtliche Anerkennung mit verpflichtender Wirkung für den privatrechtsgestaltenden Gesetzgeber schlechterdings nicht mehr erkennbar. Nur um Mißverständnissen vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, daß von der hier verneinten Frage eines Grundrechtsschutzes des Stifters für die Möglichkeit, Stiftungen zu errichten, die andere Frage eines Grundrechtsschutzes der einmal mit staatlicher Genehmigung errichteten Stiftung für ihre Betätigung, zumal in Verfolgung des (nicht das Gemeinwohl gefährdenden) Stiftungszweckes, streng zu unterscheiden ist, der sich nach Art. 19 Abs. 3 GG richtet.38 Bei Beachtung dieser Unterscheidung ist es ausgeschlossen, aus bestimmten Anforderungen, die für staatliche Eingriffe gegenüber der Stiftung bestehen, Rückschlüsse auf parallele Erfordernisse für die Stiftungsgenehmigung zu ziehen. Namentlich sagt die hier als solche nicht zu diskutierende Begrenzung der Stiftungsaufsicht gegenüber bestehenden Stiftungen auf eine Rechtskontrolle unter Ausschluß reiner Zweckmäßigkeitserwägungen39 entgegen gewissen Äußerungen im Schrifttum 40 überhaupt nichts darüber aus, welche Kriterien für die Genehmigung einer Stiftung in Betracht zu ziehen sind. Dem entspricht die deutliche Trennung, die Walter Leisner in seiner Anmerkung zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zwischen der Genehmigung der Stiftung und der Stiftungsaufsicht im Hinblick auf die Durchsetzung der öffentlichen Interessen vornimmt: „Auch die öffentliche Stiftung ist ... private Autonomie im öffentlichen Interesse. Dieses öffentliche Interesse aber wird nicht laufend vom Staat, sondern ein für alle Mal vom Stifter bestimmt. Der Staat genehmigt lediglich diese einmalige Zwecksetzung, er hat kein Recht, dem stiftenden Bürger dauernd neue öffentliche Interessen im Wege der Zweckmäßigkeitskontrolle aufzuzwingen". 41

38 Vgl. dazu nur Hartmut Krüger, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 19 Rdn. 56 m.w.N., der freilich daneben auch Grundrechtsschutz für den Stiftungsakt annimmt. 39 So BVerwGE 40, 347 (350 ff.); für eine grundsätzliche Beschränkung auf Rechtskontrolle auch BGHZ 99, 344 (349) m.w.N. 40 Namentlich Hagen Hof (o. Fußn. 8), Rdn. 13, der nach dem Bericht über den Ausschluß von Zweckmäßigkeitserwägungen bei der Stiftungsaufsicht postuliert: „Das muß dann aber auch für die Genehmigung gelten,...". 41 DÖV 1973, 272, 273 (274).

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3. Ergebnis zu /. Festzuhalten ist, daß es - vorbehaltlich hier nicht zu behandelnder Spezialgrundrechte - weder ein grundrechtsunmittelbares Bewirkungsrecht gibt, stiften zu können, noch eine grundrechtliche Garantie entsprechender gesetzlicher Möglichkeiten. Mangels einschlägiger Aussagen können die Grundrechte auch die Auslegung einschlägiger gesetzlicher Regelungen nicht in diese Richtung beeinflussen. Ihre Bedeutung erschöpft sich darin, den freien Gebrauch von Stiftungsmöglichkeiten zu gewährleisten, die ohne verfassungsrechtliche Notwendigkeit gesetzlich geschaffen worden sind. Soweit es an einschlägigen gesetzlich begründeten Möglichkeiten fehlt, können die Grundrechte - mit der bereits erwähnten Ausnahme gleichheitsrechtlicher Bestimmungen - keine Wirksamkeit entfalten. Sie können daher namentlich gegenüber gesetzlich vorgesehenen Notwendigkeiten staatlicher Mitwirkung in Form einer „Genehmigung" keinen Anspruch auf eine solche Genehmigung erzeugen. II. Kein Anspruch aus den Bestimmungen des BGB Die ausdrücklichen Aussagen des BGB zur Genehmigung der Stiftung beschränken sich im wesentlichen darauf, daß § 80 S. 1 sie zur Entstehungsvoraussetzung der Stiftung macht; hinzu treten Bestimmungen über einzelne zivilrechtliche Konsequenzen. Dagegen legt das BGB nicht fest, ob und unter welchen Bedingungen die Genehmigung erteilt werden muß oder erteilt werden kann. Namentlich ist festzuhalten, daß § 87 BGB allein für die Frage der Beaufsichtigung einer bereits existierenden Stiftung eingreift, während er im übrigen nur als Anhaltspunkt dafür gesehen werden kann, daß bei der Prüfung der Genehmigung entgegenstehender öffentlicher Interessen die Gefährdung des Gemeinwohls aus Sicht des Bundesrechts unbedenklich berücksichtigt werden kann. Keinesfalls läßt sich - ohne Rückgriff auf vermeintliche grundrechtliche Ausstrahlungen - aus den §§ 80, 87 BGB eine Verpflichtung der Behörde zur Genehmigung oder gar ein entsprechender Anspruch des Stifters für den Fall ableiten, daß die Voraussetzungen des § 87 BGB nicht erfüllt sind. Im Rahmen grundsätzlicher Erwägungen zur Bedeutung des Genehmigungserfordernisses des BGB für die Errichtung einer Stiftung hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg ausgeführt, daß dieses Erfordernis „vom Gesetzgeber ausschließlich aus Gründen des Gemeinwohls und zur Wahrung der Belange der Allgemeinheit und des Staates aufgestellt worden" sei. Es hat dann ausdrücklich festgestellt, daß „die Norm des § 80 BGB ausschließlich öffentlichen Interessen dient", und daraus gefolgert, daß der Klägerin, „kein Recht auf eine bestimmte Regelung durch die Genehmigungsbehörde" zusteht.42 42

OVGE 22, 484 (485 f.). Allerdings suchte sich im Rahmen des dortigen Verfahrens die Klägerin gegen die Erteilung einer Stiftungsgenehmigung zu wehren, die Begründung des 62*

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Auch die §§ 83, 84 BGB, nach denen die Genehmigung sogar unabhängig von der fortdauernden Existenz des Stifters möglich ist, zeigen die Unabhängigkeit der Genehmigung von Berechtigungen des Stifters auf. Denn ein Anspruch des Verstorbenen selbst auf die Genehmigung scheidet zumindest in diesem Falle von vornherein aus. Auch ein Recht des Erben auf die Genehmigung scheint problematisch, zumal er umgekehrt zum Widerruf nicht berechtigt ist, wenn das Gesuch bei der Behörde eingereicht oder der beurkundende Notar mit der Einreichung betraut worden ist, § 81 Abs. 2 S. 3 BGB, und dem Erben bei einem Stiftungsgeschäft durch Verfügung von Todes wegen die Möglichkeit des Widerrufs gänzlich versagt ist. 43 Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat denn auch gegenüber dem Postulat einer dem einzelnen, insbesondere dem Stifter zustehenden subjektiven „Rechtsstellung in bezug auf die Erteilung oder Versagung der staatlichen Stiftungsgenehmigung" festgestellt, niemand könne „den §§80 bis 86 BGB ... zugunsten der Annahme einer solchen Rechtsstellung etwas entnehmen". Er hat dabei ausdrücklich klargestellt, daß eine möglicherweise nach den gesetzlichen Bestimmungen oder aufgrund einer etwaigen Ermessensschrumpfung bestehende objektive Genehmigungspflicht der Behörde „kein Grund für die Annahme einer solchen Rechtsstellung" sei, „weil es sich um eine einseitige, gegenüber der Rechtsordnung bestehende Verpflichtung ohne eine korrespondierende Rechtsstellung handeln kann." 44

I I I . Kein Anspruch aus § 4 StiftG NW Allein maßgebliche Grundlage eines etwaigen Anspruchs des Stifters auf die Genehmigung der Stiftung ist danach die landesrechtliche Genehmigungsnorm, für die hier exemplarisch § 4 StiftG N W 4 5 herangezogen wird. 46 Dabei kommt es Urteils ist aber nicht auf diese spezielle Konstellation beschränkt, sondern von allgemeingültiger Bedeutung. Zur der der Folgerung des Urteils unausgesprochen zugrundeliegenden Schutznormlehre noch unten III.2. « Helmut Heinrichs (o. Fußn. 29), § 83 Rdn. 1. 44 BayVGH, in: Walter Leisner (Bearb.), Stiftungen in der Rechtsprechung, Bd. III, 1985, Nr. 48 w, S. 178 (184 f.), wo die Frage allerdings letztlich offengelassen wurde. 45 Die Vorschrift lautet auszugsweise wie folgt: „§ 4 Genehmigung (1) Die Genehmigung ist zu versagen, wenn a) die Stiftung das Gemeinwohl gefährden würde, b) ... c) ... (2) Die Genehmigung kann versagt werden, insbesondere wenn a) ... b) der Hauptzweck der Stiftung in dem Betrieb oder der Verwaltung eines erwerbswirtschaftlichen Unternehmens besteht, das ausschließlich oder überwiegend eigennützigen Interessen des Stifters oder seiner Erben dient.". 46 Eine landesrechtsvergleichende Behandlung der Genehmigungstatbestände kann hier nicht geleistet werden. Insoweit sei aber betont, daß es dem Landesgesetzgeber selbstver-

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nicht allein auf die durchweg im Zentrum der Diskussion stehende Frage an, ob die Genehmigung als strikt gebundene Entscheidung oder als Ermessensentscheidung anzusehen ist (unten 1.). Vielmehr ist ein Anspruch auf die Genehmigung nur dann definitiv auszuschließen, wenn von vornherein auch ein Recht auf fehlerfreie Ermessensentscheidung nicht besteht (unten 2.). 1. Die Stiftungsgenehmigung

als Ermessensentscheidung

Der Wortlaut des § 4 StiftG NW gibt für die Annahme einer gebundenen Entscheidung der Genehmigungsbehörde, also für eine Rechtspflicht zur Genehmigung in Abwesenheit gesetzlicher Versagungsgründe, nichts her. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift zeigt in aller Deutlichkeit, daß der Gesetzgeber die Genehmigung von Stiftungen ganz selbstverständlich als Ermessensentscheidung ansah, deren Kriterien der Landesgesetzgeber deutlich machen wollte. 47 Gelegentlich ist allerdings versucht worden, aus der „systematischen Konstruktion der §§ 3 bis 5" des StiftG NW, wonach „in bestimmten Fällen die Genehmigung versagt werden muß und in anderen Fällen versagt werden kann", im „Umkehrschluß" abzuleiten, „daß zu genehmigen ist, wenn keine Versagungsgründe vorliegen". 48 Dieser Argumentation liegt die Annahme zugrunde, daß § 4 Abs. 2 neben § 4 Abs. 1 einen zweiten abgegrenzten Teil von Fällen aus einer insgesamt weitergehenden Menge von genehmigungsbedürftigen Stiftungen betrifft, wobei der weder von § 4 Abs. 1 noch von § 4 Abs. 2 StiftG NW erfaßte Kreis von Stiftungen zwingend genehmigt werden müsse. Dem wird mit Recht entgegengehalten, daß § 4 Abs. 2 StiftG NW mit Rücksicht auf die Formulierung „insbesondere" nicht als Enumeration von Versagungsgründen mit abschließendem Charakter gelesen werden kann. 49 Weitergehend ist gegenüber der gelegentlich ohne nähere Begründung anzutreffenden Annahme, daß § 4 Abs. 2 StiftG NW „über die Formulierung insbesondere' die Berücksichtigung weiterer, den ausdrücklich genannten vergleichbarer Versagungsgründe" eröffne, 50 festzuhalten, daß § 4 Abs. 2 StiftG NW die Genehmigung von Stiftungen, soweit sie nicht nach § 4 Abs. 1 versagt werden muß, ganz allgemein in das Ermessen der Behörde stellt und sich darauf beschränkt, exemplarisch einige denkbare Versagungsgründe zu benennen. ständlich freisteht, die Stiftungsgenehmigung so zu regeln, daß ein strikter Anspruch oder zumindest ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung besteht. 47 S. den Gesetzentwurf der Landesregierung, Begründung B zu § 4, Landtag NordrheinWestfalen, Drucksache 8/830, S. 20. 48 So etwa das zur Republikaner-Stiftung ergangene Urteil des VG Düsseldorf (o. Fußn. 3), S. 815. Entsprechend auch Georg Wochner, Stiftungen und stiftungsähnliche Körperschaften als Instrumente dauerhafter Vermögensbindung, MittRhNotK 1994, 89 (99) m.w.N.; dem folgend Heike Merten (o. Fußn. 33), S. 46. 49 OVG NW (o. Fußn. 2), S. 188. 50 VG Düsseldorf (o. Fußn. 3), S. 815.

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Der systematische Zusammenhang der Bestimmungen führt danach zu dem Ergebnis, daß die Genehmigung einer Stiftung, wenn nicht die zwingenden Versagungsgründe des § 4 Abs. 1 StiftG NW entgegenstehen, immer unter § 4 Abs. 2 StiftG NW fällt und damit in das Ermessen der Genehmigungsbehörde gestellt ist. Das Gesetz spricht die Möglichkeit, daß die Genehmigung einer Stiftung in irgendwelchen Fallkonstellationen zwingend erteilt werden muß, nicht nur nicht ausdrücklich an, sondern bietet auch keine Handhabe für einen „Umkehrschluß" solchen Inhalts. 51

2. Kein subjektiv öffentliches Recht im Hinblick auf die Erteilung der Stiftungsgenehmigung Die Qualifikation des § 4 StiftG NW als Norm, die die Genehmigung von Stiftungen in das Ermessen der Genehmigungsbehörden stellt, betrifft indes nur die objektiv-rechtliche Seite. Die Frage, ob mit einer objektiven normativen Anordnung subjektive Rechte verbunden sind, ist selbständig zu prüfen. Die Charakterisierung des § 4 StiftG NW als Ermessensnorm besagt insoweit nur, daß sich ein eventuell anzunehmendes subjektiv-öffentliches Recht (nur) auf ermessensfehlerfreie Entscheidung richten würde. Ob § 4 StiftG NW überhaupt subjektive Berechtigungen erzeugen kann, bedarf selbständiger Prüfung, für die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wie des Bundesverwaltungsgerichts die Kriterien der sog. Schutznormlehre als Maßstab heranzuziehen sind. 52 Danach ergibt sich ein subjektives öffentliches Recht aus einer objektiv-rechtlichen Bestimmung des öffentlichen Rechts, wenn diese zumindest auch den Zweck hat, den Betroffenen zu begünstigen, und es ihm ermöglichen soll, sich auf diese Begünstigung zu berufen. Umgekehrt scheidet ein subjektives öffentliches Recht aus, wenn eine Norm ausschließlich öffentlichen Interessen zu dienen bestimmt ist und Begünstigungen für einzelne Betroffene nur reflexweise eintreten. Letzteres wäre gewiß auszuschließen, wenn die Interessen des Stifters an der wirksamen Begründung der von ihm gewollten Stiftung grundrechtlichen Schutz gegenüber dem Gesetzgeber genießen würden; in diesem Falle wäre mit Rücksicht auf die berührten grundrechtlichen Belange des Stifters eine Auslegung des § 4 StiftG NW ausgeschlossen, die die Norm ausschließlich dem öffentlichen Interesse verpflichtet sieht. Geht man hingegen aufgrund der (oben zu I.) dargelegten Gründe davon aus, daß für den Stifter keine dem Gesetz vorgelagerten Grundrechtsposi51 Anders allerdings mit im wesentlichen auf den angeblichen Grundrechtsschutz bezogener Argumentation Heike Merten (o. Fußn. 33), S. 46 m.w.N.; bei unterstelltem Grundrechtsschutz für das Errichten der Stiftung auch Herbert Kronke (o. Fußn. 18), S. 40. 52 Vgl. nur Michael Sachs, in: Paul Stelkens / Heinz Joachim Bonk/ Michael Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 5. Aufl. 1998, § 40 Rdn. 133 m.w.N.

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tionen eingreifen, muß sich die Prüfung allein an der Zielsetzung der gesetzlichen Bestimmungen selbst orientieren. Die Bestimmungen des StiftG NW selbst lassen keinerlei Anhaltspunkte für eine Intention des Gesetzgebers erkennen, dem Stifter in Bezug auf die Genehmigung der Stiftung subjektive Rechtspositionen einzuräumen. Das Gesetz erwähnt den für den Stifter günstigen Fall, daß die Genehmigung erteilt wird, gar nicht, sondern behandelt ausschließlich die Versagung der Genehmigung. Dem Gesetz kommt es erkennbar allein darauf an, die Möglichkeit sicherzustellen, daß die Entstehung einer Stiftung verhindert werden kann; die Erteilung der Genehmigung ist nur ein gar nicht angesprochenes Resultat des Umstandes, daß im Einzelfall kein Anlaß für eine Versagung besteht. Daß dieses Resultat den Interessen des Stifters entspricht, findet im Gesetz keinen Ausdruck, weit weniger, daß die Genehmigung etwa jedenfalls auch zur Wahrung dieser nicht angesprochenen Stifterinteressen erteilt werden soll. Die Begünstigung des Stifters durch eine erteilte Genehmigung ist, soweit sie nicht geradezu einen der exemplarisch benannten Versagungsgründe bildet, s. § 4 Abs. 2 lit. b StiftG NW, 5 3 dem Gesetz jedenfalls kein erkennbares Anliegen; sie bleibt bloßer Rechtsreflex, ein subjektives Recht auch nur auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung wird nicht begründet. Diese Bewertung der landesrechtlichen Genehmigungsnorm wird durch die Zielsetzung des Genehmigungserfordernisses nach § 80 S. 1 BGB bestätigt. Die Stiftungsgenehmigung wurde in das BGB „vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungskontrolle" aufgenommen, sollte dem Staat die Möglichkeit geben, „die Entstehung von Stiftungen zu steuern, damit durch deren Tätigkeit seine eigenen kulturellen, sozialpolitischen und sonst ähnlichen Bestrebungen nicht gestört werden. Danach konnte die Genehmigungsbehörde auf Grund reiner Zweckmäßigkeitserwägungen entscheiden und die Genehmigung versagen, wenn sie den Stiftungszweck nicht billigte oder nicht für dem öffentlichen Interesse dienlich hielt". 54 Dem entspricht es, wenn nach der ursprünglichen Konzeption des § 80 BGB die Genehmigung im „freien" Ermessen der zuständigen Behörde stehen sollte 55 oder wenn sie als gerichtsfreier Hoheitsakt gesehen wurde. 56 Besonders plastisch hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg ausgeführt, daß die Behörde „über die Erteilung der Genehmigung nach freiem Ermessen und aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen entscheidet", und hinzugefügt: „Die Verleihung 53 S. o. Fußn. 45. 54 Harry Ebersbach (o. Fußn. 9), S. 62 m.w.N.; übereinstimmend in der Bewertung der (jedenfalls ursprünglichen) Ausrichtung des BGB auch Dieter Reuter (o. Fußn. 10), vor § 80 Rdn. 7, 8, auch 10; Peter Rawert (o. Fußn. 10), Rn. 32 ff., 48; § 80 Rdn. 28; Klaus Riehmer (o. Fußn. 10). 55 Ludwig Enneccerus /Hans Carl Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 1. Halbband, 15. Aufl., 1959, S. 721. 56 Theodor Schiller, Stiftung im gesellschaftlichen Prozeß, 1969, S. 50.

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erfolgt, indem der Staat die Genehmigung erteilt, wenn er den Stiftungszweck billigt, während er die Genehmigung versagt, wenn er den Stiftungszweck nicht billigt oder nicht als dem öffentlichen Interesse dienlich erachtet." 57 Wenn demgegenüber heute ganz überwiegend von einem „pflichtgemäßen Ermessen" gesprochen wird, 58 ist dem insoweit zuzustimmen, als es unter dem Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Art. 20 Abs. 3 GG, ein „freies" Ermessen ohne rechtliche Bindungen in der Tat nicht geben kann. 59 Wenn gleichwohl die Kritik in der „Konstruktion des »pflichtgemäßen Ermessens' ... alle Schwächen eines dogmatischen Kompromisses" erkennen will, 6 0 entspricht dies primär der aus hier nicht passenden grundrechtlichen Überlegungen gespeisten weitergehenden Annahme strikter Rechtsbindung der Genehmigungserteilung; es macht aber zugleich deutlich, daß der eigentliche Gehalt des Gesetzes - wenn man die unzutreffend angenommene Beeinflussung durch die Grundrechte hinwegdenkt - durch ein Höchstmaß an behördlicher Entscheidungsfreiheit gekennzeichnet ist, die zwar objektiv-rechtlich nicht gänzlich ungebunden sein kann, aber auch heute nicht an subjektiven Interessen des nicht in seinen Grundrechten beeinträchtigten Stifters orientiert sein muß. 61 Dies folgt namentlich auch nicht aus den gelegentlich gezogenen Verbindungslinien zum Willkürverbot. 62 Denn der (nach verbreitetem Verständnis das Willkürverbot einschließende) Gleichheitssatz greift für jeden in eigenen Interessen Betroffenen unabhängig von der Berührung sonstiger Rechte ein und bietet als eigenständiges subjektives Grundrecht Schutz gegen willkürliche Ungleichbehandlungen,63 ohne daß es dazu der zusätzlichen Begründung gesetzlich abgeleiteter Rechtspositionen bedürfte. 57 OVGE 22, 484 (485 f.) im Anschluß an den Kommentar zum BGB von Staudinger, Ausgabe 1957, § 80 Rdn. 14. 58 Vgl. die Nachw. bei Hagen Hof (o. Fußn. 8), Rdn. 6.; ferner etwa Hans Carl von Werthern, Unternehmensverfassungsrecht und Stiftung, 1986, S. 89 f.; Stephan Dewald (o. Fußn. 18), S. 68 f.; auch Heike Merten (o. Fußn. 33), S. 46, mit dem nicht recht klaren Hinweis „mit Blick auf Art. 1 Abs. 3 GG", da die Pflichtigkeit des Ermessens längst vor der umfassenden Grundrechtsbindung anerkannt war und die Beachtung der rechtlichen Grenzen des Ermessens aus anderen Rechtsnormen, zu denen ja auch die Grundrechtsbestimmungen gehören, doch einfach aus der Gesetzmäßigkeit einer rechtsstaatlichen Verwaltung folgt. 59 BVerfGE 18, 353 (363); 69, 161 (169) m.w.N.; Michael Sachs (o. Fußn. 52), Rdn. 53 m.w.N.; in diesem Sinne ist auch Peter Rawert (o. Fußn. 10), § 80 Rdn. 28, zuzustimmen, wenn er wegen des Willkürverbots das ursprünglich intendierte völlig freie Ermessen ausgeschlossen sieht; Gerrit Manssen (o. Fußn. 17), S. 220 f. spricht davon, daß es sich bei der Ermessensbindung um eine „Banalität" handle. 60 Hagen Hof{o. Fußn. 8), Rdn. 8. 61 Sehr deutlich herausgearbeitet findet sich das Fehlen gerade der auf subjektive Berechtigungen zielenden Dimension der Bestimmungen über die Stiftungsgenehmigung (für § 80 BGB) bei OVG Lüneburg, OVGE 22, 484 (485 f.); dazu schon oben II. 62 Vgl. Peter Rawert (o. Fußn. 10), § 80 Rdn. 28 f. 63 Dazu näher Michael Sachs (o. Fußn. 7), S. 315 ff. m.w.N.

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3. Ergebnis zu III. Es fehlt damit jede Grundlage für die Annahme, daß § 4 StiftG NW unausgesprochen auch dem Ziel zu dienen bestimmt ist, dem Interesse des Stifters an dem Zustandekommen der Stiftung zu dienen. § 4 StiftG NW kann damit nicht als eine Schutznorm qualifiziert werden und ist somit keine taugliche Grundlage für die Annahme subjektiver Rechte des Stifters auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Genehmigung der Stiftung.

IV. Ergebnis Somit kommt dem Stifter weder aus Grundrechten noch aus Vorschriften des BGB noch schließlich aus § 4 Abs. 1 lit. a StiftG NW ein subjektives öffentliches Recht auf die Genehmigung der Stiftung oder auch nur auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung der Genehmigung zu.

Der kommunale Finanzausgleich - politisch entschieden oder verfassungsrechtlich determiniert? Von Thomas Würtenberger

Das kommunale Finanzverfassungsrecht ist in Bewegung geraten. Spielten Klagen der Kommunen vor den Staats- oder Verfassungsgerichtshöfen, in denen eine unzureichende Finanzausstattung der kommunalen Ebene gerügt wurde, bis in die achtziger Jahre nur eine geringe Rolle, so hat in den letzten Jahren die Streitfreudigkeit deutlich zugenommen1. Hierfür gibt es vielfältige Ursachen: Bereits seit langem wird darauf aufmerksam gemacht, daß der Bundesgesetzgeber dazu neige, den Kommunen kostenträchtige Aufgaben zuzuweisen, ohne daß ihnen ein entsprechender finanzieller Ausgleich zufließe 2, was die finanzielle Basis der Selbstverwaltung aushöhle. In letzter Zeit hat die Finanzkrise der öffentlichen Haushalte in Bund und Ländern dazu geführt, daß die Finanzzuweisungen an die kommunale Ebene in den Finanzausgleichsgesetzen eingeschränkt werden mußten. Außerdem führte der finanzielle Beitrag, den die Länder zur Wiedervereinigung Deutschlands zu leisten hatten, dazu, daß die der kommunalen Ebene zustehende Finanzmasse zu kürzen war. Dieser enger werdende kommunale Finanzrahmen wurde mit einem erheblichen Anstieg der Sozialhilfekosten konfrontiert 3. Auch führt das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz zu einem deutlichen Anstieg der finanziellen Belastung der kommunalen Ebene. Diese Spirale eines bisweilen stagnierenden, insgesamt nur langsam wachsenden kommunalen Finanzvolumens einerseits und stark anwachsender Ausgabenverpflichtungen im sozialen Bereich andererseits hat die Finanzsituation vieler Landkreise bedenklich werden lassen. Der Zwang, zum Ausgleich des Haushalts die Kreisumlage anzuheben, hat zugleich auch eine empfindliche Beschränkung des gemeindlichen Finanzrahmens zur Folge. 1 Vgl. BW StGH ESVGH 44, 1; 8; NVwZ-RR 1999, 93; in den Verfahren GR 2/97 und GR 1/98 ist Verf. Bevollmächtigter der Landesregierung; BayVerfGH BayVBl. 1992, 365; 1996, 462; 1997, 303; 1998, 207; Nds StGH DVB1. 1995, 1175; 1998, 185; NRW VerfGH OVGE 40, 300; DVB1. 1998, 1280; 1999, 391; RhPf VerfGH NVwZ-RR 1998, 607; SachsAnhVerfG NVwZ-RR 1999, 96. 2 Hierzu ausführlich Wendt in: FS für Stern, 1997, S. 603 ff.; Mückl, Finanzverfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Selbstverwaltung, 1998, S. 30 ff.; Blümel, Gemeinden und Kreise vor den öffentlichen Aufgaben der Gegenwart, VVDStRL 36 (1978), S. 171 (198 f.). 3 Hufen, DÖV 1998, 276 (277); Schoch, Verfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Finanzautonomie, 1997, S. 30 ff.; Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlaßte kommunale Aufgaben, 1995, S. 5 ff., 34 ff.

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In dieser Situation eines sich verengenden finanziellen Spielraums und erheblicher Schwierigkeiten, kommunale Haushalte entsprechend den kommunalrechtlichen Vorschriften auszugleichen, ist die Frage nach der von der Verfassung gebotenen finanziellen (Mindest-)Ausstattung der kommunalen Ebene aufgeworfen 4. Zwei Positionen lassen sich unterscheiden: Zum einen sieht man die Entscheidung über die Finanzverteilung als eine zentrale politische Leitentscheidung an, die demokratisch zu legitimieren ist und lediglich den Kernbereich der verfassungsrechtlichen Garantie kommunaler Selbstverwaltung zu beachten hat. Zum anderen will man den demokratischen Souverän insofern in Fesseln legen, als bestimmte Prozentsätze der Finanzmasse für kommunale Freiwilligkeitsaufgaben vorzusehen seien oder die Finanzmasse zwischen Land und Kommunen nach den Prinzipien der Proportionalität und Verteilungssymmetrie aufgeteilt werden soll. Die nachfolgenden Überlegungen sind den Grenzen einerseits der demokratischen Gestaltungsfreiheit und andererseits einer „Verfassungsverrechtlichung" des kommunalen Finanzausgleichsrechts gewidmet. Auf einer höheren Abstraktionsebene führen sie damit auf das Problem der Abwägung öffentlicher Interessen zurück, dem sich Walter Leisner in seiner 1997 veröffentlichten und wegweisenden Untersuchung zum „Abwägungsstaat" zugewendet hat5. Länder wie Kommunen reklamieren im Streit um die kommunale Finanzausstattung jeweils antagonistische öffentliche Interessen für sich, von denen das eine, die Sicherstellung der finanzpolitischen Handlungsfähigkeit der Kommunen, nur auf Kosten der entsprechenden Belange auf Länderebene verwirklicht werden kann. Damit stellt sich wiederum die alte Frage, inwieweit die Auflösung solcher Spannungslagen rechtlich determiniert oder politisch zu entscheiden ist.

I. Der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Regelung des kommunalen Finanzausgleichs Das in Art. 28 Abs. 2 GG und in den Landesverfassungen garantierte Recht auf kommunale Selbstverwaltung6 umfaßt einen gegen das Land gerichteten Anspruch auf eine angemessene finanzielle Ausstattung. Eine Kommune kann ohne eigene und frei verfügbare Finanzmittel keine eigenverantwortlichen Entscheidungen tref4 Ausgeklammert bleibt damit die Frage, ob durch eine verfassungsrechtliche Begrenzung der Aufgabenzuweisung die kommunale Ebene entlastet und auf diese Weise Abhilfe geschaffen werden kann; hierzu Schock (Fn. 3), S. 116 ff.; Wendt (Fn. 2), S. 610ff.; Mückl (Fn. 2), S. 91 ff.; Hufen, DÖV 1998, 276 (281 ff.). 5

Walter Leisner, Der Abwägungsstaat - Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit?, 1997, S. 132 ff. 6 Wenn im folgenden zwischen der Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden und Kreise nicht weiter differenziert wird, so bleibt doch zu beachten, daß der Bestand an Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft auf der Ebene der Gemeinden und Kreise unterschiedlich ist, was wiederum Rückwirkungen auf die verfassungsrechtlich gebotene finanzielle Mindestausstattung hat (vgl. BVerfGE 83, 363, 383; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 4. Aufl. 1997, Art. 28 GG Rdnr. 15; Lusche, Die Selbstverwaltungsaufgaben der Landkreise, 1998, S. 78 f.).

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fen. Hinreichende Finanzmittel sind die realen Voraussetzungen für eine Selbstgestaltung in Selbstverwaltung. Dies hat der Verfassungsreformgesetzgeber durch den neuen Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG bekräftigt. Das Land als Schuldner der Finanzausstattungsgarantie hat für eine Finanzausstattung der Kommunen zu sorgen, die ihnen eine angemessene und „kraftvolle" Erfüllung ihrer Aufgaben erlaubt. Eine Schwächung der kommunalen Finanzkraft darf nicht zu einer Aushöhlung des Selbstverwaltungsrechts führen 7. Die Finanzausstattungsgarantie ist verletzt, wenn die Kommunen keine freiwilligen, selbstgewählten Angelegenheiten mehr erfüllen können. Allerdings läßt sich ein „kommunales Existenzminimum", dessen Unterschreitung die Lebensfähigkeit der kommunalen Selbstverwaltung bedrohen würde, kaum in einer rechnerisch exakten Weise bestimmen8. Wie das Land den Gemeinden eine finanzielle Mindestausstattung in dem Sinne gewährleistet, „daß sie ihre Funktionen erfüllen können und ihre finanzielle Leistungsfähigkeit erhalten bleibt, unterliegt der Entscheidung des Gesetzgebers" mit einem weiten normativen Gestaltungsspielraum9. Im älteren Schrifttum wurde die Ansicht vertreten, dieser weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers würde wegen der im Finanzverfassungsrecht verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe einerseits und des politisch-staatsleitenden Charakters der in einem demokratischen Verfahren erfolgenden Aufteilung der Finanzmittel andererseits in eine „letztverbindliche Beurteilungs- und Entscheidungskompetenz" der Legislative, frei von verfassungsrichterlicher Nachprüfung münden10. Dem steht jedoch die Normativität der landesverfassungsrechtlichen Regelungen über den kommunalen Finanzausgleich11 entgegen, die ein allerdings recht grobmaschiges Verteilungsraster vorgeben. Außerdem erfordert der Schutz der kommunalen Finanzausstattung als Voraussetzung der Entfaltung kommunaler 7 BVerfGE 71, 25 (37): Anspruch auf angemessene Finanzausstattung zur Aufgabenerfüllung; BW StGH ESVGH 44, 1 (5) m. Nw.; Bay VerfGH BayVBl. 1997, 303 (304); NRW VerfGH DVB1. 1998, 1280 f.; DVB1. 1999, 391 (392); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 12 II 8 k; Wendt (Fn. 2), S. 609; Schock, ZG 1994, 246 (253 f.); Henneke, DÖV 1994, 1 (2); ders., Die Kommunen in der Finanzverfassung des Bundes und der Länder, 3. Aufl. 1998, S. 19 ff.; Hufen, DÖV 1998, 276 ff.; Löwer, in: von Münch/Kunig (Hg.), Grundgesetzkommentar, Bd. 2, 3. Aufl. 1995, Art. 28 GG Rn. 88 ff.; Mückl (Fn. 2), S. 64 ff.; Hoppe, Reform des kommunalen Finanzausgleichs, 1995, S. 6 ff.; Paul Kirchhof, Die kommunale Finanzhoheit, in: Püttner, Handbuch der kommunalen Wirtschaft und Praxis, Bd. 6, S. 1 ff. m. Nw.; Werner, VB1BW 1997, 1 (4). s Hufen, DÖV 1998, 276 (280); Waechter, VerwArch 85 (1994), 208 (219). 9 Bay VerfGH BayVBl. 1997, 303 (304); NRW VerfGH DVB1. 1993, 1205 ff. jew. m. Nw. zur ständigen Rspr. der Verfassungsgerichtshöfe; Inhester, Kommunaler Finanzausgleich im Rahmen der Staatsverfassung, 1998, S. 78; Grote, JZ 1996, 832 (839 f.). 10

Ossenbühl, Zur Justitiabilität der Finanzverfassung, in Festschrift für Carstens, 1985, S. 743 (752f.) m. Nw.; kritisch Vogel, Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1990, § 87 Rdnr. 122 ff. 11 Zu deren hier nicht weiter zu verfolgenden Systematik: Henneke, DVB1. 1998, 1158 (1159 ff.); Schock (Fn. 3), S. 162 ff.

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Selbstverwaltung eine - in ihrem Umfang allerdings umstrittene - verfassungsgerichtliche Kontrolle des Finanzausgleichs in den Finanzausgleichsgesetzen. Daher besteht insofern Einigkeit, daß der Gesetzgeber trotz des weiten Gestaltungsspielraums nicht willkürlich handeln darf und die finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben in den Landesverfassungen ebenso wie die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung zu beachten hat. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umfaßt zunächst das System, nach dem sich die finanzielle Ausstattung der Kommunen richtet und das grundsätzlich in den Finanzausgleichsgesetzen geregelt ist. Dieser Gestaltungsspielraum umfaßt sodann die Gewichtung des Finanzbedarfs des Landes einerseits und der Gemeinden und Gemeindeverbände andererseits. Auf der Grundlage dieser Gewichtung wird der Umfang der kommunalen Finanzausstattung festgelegt. Dabei werden die Differenzlagen hinsichtlich des zu erwartenden Finanzbedarfs und der vorhandenen Finanzausstattung abgeglichen und die Finanzkraftunterschiede zwischen Kommunen abgemildert. Insgesamt gesehen hat der Gesetzgeber einen normativen Gestaltungsspielraum sowohl bei der Aufteilung der Finanzmassen zwischen Land und Kommunen als auch bei der Bestimmung des Systems, nach dem die der kommunalen Ebene zustehende Finanzmasse auf die Gemeinden und Gemeindeverbände verteilt wird 1 2 . Dieser gesetzgeberische Gestaltungsspielraum gehört seit jeher zum Kernbereich demokratischer politischer Ordnung 13. Historisch gesehen war die Durchsetzung des demokratischen Staates mit dem Zugriff des Parlaments auf die Verteilung der Finanzmassen verbunden. Die zahlreichen Verfassungskonflikte in diesem politischen Feld stehen für die Bedeutsamkeit parlamentarischer Finanzverantwortung und Finanzgestaltung im demokratischen System. Ist doch die Entscheidung über die Verteilung der Finanzmasse der goldene politische Zügel, der die Richtung der demokratisch zu verantwortenden Politik bestimmt. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber kann hier keinen Antipoden (wie einst die monarchische Exekutive) und damit auch keine Mitentscheidung eines Verfassungsgerichts dulden. Daher läßt sich der finanzpolitische Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in nur begrenztem Umfang mittels einer - auch verfassungsgeleiteten - Abwägung ausfüllen: Im einheitlichen Finanzverbund zwischen Land und Kommunen sind ihre Finanzstärke und ihre Aufgabenbelastung politisch zum Ausgleich zu bringen. Bei der erforderlichen Abwägung muß der Gesetzgeber auf Grund seiner politischen Zielvorstellungen den Finanzbedarf von Land und Kommunen bewerten. Maßstab und Orientierungspunkt sind dabei die (Ausgaben für die) Aufgaben, die das Land 12 BVerfGE 23, 353 (369): „Dem Landesgesetzgeber ist ein weiter Spielraum für die Gestaltung des Finanzausgleichs zuzubilligen". Stern (Fn. 6): „Es bleibt durchweg den Ländern überlassen, wie sie die Finanzausstattung konkretisieren. Deren Gestaltungsspielraum ist mindestens hinsichtlich der Finanzierungsmodalitäten erheblich"; Birk/Inhester, DVB1. 1993, 1281 (1287). 13

Zu einer derartigen Rückbesinnung auf die „Grundprinzipien der Demokratie": Leisner, JZ 1998, 861 (863).

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zu erfüllen hat, einerseits und die (Ausgaben für die) Aufgaben, die die Kommunen zu erfüllen haben, andererseits. Im Prinzip ist von der Gleichrangigkeit der Aufgaben des Landes und der kommunalen Ebene auszugehen. Bei der Verwirklichung des Gemeinwohls hat die Erfüllung der Aufgaben des Landes und der Kommunen einen prinzipiell gleichen Rang. Gleichrangigkeit bedeutet allerdings nicht Schematismus. Aus dem allgemeinen Gesichtspunkt der Gleichrangigkeit öffentlicher Aufgaben kann kein rechtlich überprüfbares Verteilungsprinzip hergeleitet werden. In welchem Umfang die im Hinblick auf die Verwirklichung des Gemeinwohls im Prinzip gleichrangigen Aufgaben erfüllt werden, ist eine politische Entscheidung. Es unterliegt der politischen Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bei der Gestaltung des Gesamtfinanzgefüges, die zu erfüllenden politischen Aufgaben auf Landes- wie auch auf Kommunalebene zu gewichten und entsprechend ihrem Gewicht die erforderlichen Finanzmittel bereitzustellen. Daß dabei auch die nach Bundesrecht zu erfüllenden Aufgaben des Landes und der Kommunen entsprechend zu berücksichtigen sind, liegt auf der Hand 14 . Die abgesehen von solchen Vorrangüberlegungen bestehende politische Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers ist das Herzstück des demokratischen Systems. Hier geht es um die demokratisch legitimierte Entscheidung über die in Angriff zu nehmenden Staatsaufgaben und deren Erfüllung durch Bereitstellung der erforderlichen Finanzmittel. Die Aufteilung der Finanzmasse des Landes erschöpft sich nicht in einer einmal getroffenen, statischen Entscheidung, sondern ist ein dynamischer Prozeß. Die jeweilige Festlegung des kommunalen Finanzausgleichs hängt von einer Prognose bzw. Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers ab, wie sich die haushaltspolitischen Rahmenbedingungen kurz- und mittelfristig entwickeln. Diese betrifft zunächst die Entwicklung der staatlichen Einnahmen, also vor allem die Steuerschätzung. Weiterhin ist abzuschätzen, wie sich der Finanzbedarf für die Erfüllung einzelner staatlicher Aufgaben verändert; in diese Prognose ist u. a. auch eine Veränderung im Finanzbedarf aufgrund geänderter politischer Ziel- und Prioritätensetzung (geänderte Präferenzvorstellungen) einzubeziehen. Der NRW VerfGH hat dies auf eine griffige Formel gebracht: Es steht „dem Gesetzgeber frei, veränderte Rahmenbedingungen, neue Erkenntnisse und gewandelte Präferenzvorstellungen bei der jährlichen Regelung des kommunalen Finanzausgleichs zu berücksichtigen" 15 . Aus diesem weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum folgt, daß die Kommunen keinen Anspruch haben, daß ihnen bestimmte finanzielle Mittel, wie etwa bestimmte Steuern, oder konkret bezifferbare Ansprüche zugewiesen werden. Sie haben ebensowenig einen Anspruch, daß bestimmte Verteilungsregeln oder Anteile 14 Mückl (Fn. 2), S. 249 f., 253 mit Hinweis auf verfassungspolitischen Reformbedarf, damit den Kommunen bei einer bundesgesetzlichen Aufgabenzuweisung eine aufgabenbezogene Kostenerstattung garantiert ist. 15 NRW VerfGH DVB1. 1993, 1205 (1206).

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unverändert bleiben 16 . Der Gesetzgeber hat freilich zweierlei zu beachten: Die kommunale Finanzausstattung muß zum einen hinreichen, damit die Kommunen jene Aufgaben erfüllen können, die auf Grund konditionaler gesetzlicher Programmierung zwingend erfüllt werden müssen. Jenseits dieses Bereichs beginnen die vielfältigen Möglichkeiten zu kommunaler politischer Gestaltung und Prioritätensetzung. Hier ist vom Gesetzgeber zum anderen wegen der verfassungsrechtlichen Garantie kommunaler Selbstverwaltung sorgfältig zu berücksichtigen, daß die kommunale Finanzausstattung im Hinblick auf die kommunale Selbstverwaltung nicht offensichtlich unzureichend ist. Vor allem muß den Kommunen die Möglichkeit eröffnet bleiben, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Finanzmitteln auch Freiwilligkeitsaufgaben zu gestalten. Es entspricht der Rationalität des demokratischen Systems, daß die politischen Wertungen und Abwägungen sowie die Beurteilungen und Prognosen des Gesetzgebers zwar an einer optimierenden Lösung 17 orientiert und nachvollziehbar zu erfolgen haben, daß sie aber verfassungsrechtlich nur daraufhin überprüft werden können, ob sie „offensichtlich fehlerhaft und eindeutig widerlegbar sind" 18 . Verfassungsgerichtlich überprüfbar ist damit nur ein Verstoß gegen das Willkürverbot und damit eine evident unzureichende Finanzierung der Kommunen19. II. Abhängigkeit des kommunalen Finanzvolumens von der allgemeinen finanz- und haushaltspolitischen Lage Die Finanzausstattung der Landkreise und Gemeinden steht unter einem verfassungsrechtlichen Vorbehalt der „finanziellen Leistungsfähigkeit des Landes". Dies ist teils im Verfassungsrecht der Bundesländer geregelt (Art. 58 Nds. Verf.) und wird bei Fehlen einer derartigen Regelung als allgemeiner verfassungsrechtlicher Grundsatz angesehen. Die Staats- und Verfassungsgerichtshöfe der Länder haben diesen verfassungsrechtlichen Grundsatz ausdrücklich anerkannt 20. 16 Stern (Fn. 7); NRW VerfGH DVB1. 1993, 1205 (1206); BayVerfGH BayVBl. 1997, 303 (304); BW StGH ESVGH 44, 8 (11); NRW VerfGH DVB1. 1993, 1205 (1206); Werner, VB1BW 1997, 1 (4). 17 In diese Richtung zielt die Entscheidung des Bay VerfGH BayVBl. 1996, 462 (463 f.), der fordert, daß die Belange des Landes und der Kommunen „zu einem angemessenen Ausgleich" zu bringen seien, wobei eine „Abwägung zwischen den Belastungen oder Beeinträchtigungen der gemeindlichen Finanzausstattung und den dafür maßgebenden, am öffentlichen Wohl orientierten, hinreichend sachlichen Gründen erfolgen" müsse. 18 Bay VerfGH BayVBl. 1998, 207 (208); NRW VerfGH DVB1. 1999, 391 (393): Überprüfung, ob die Finanzausstattung der Kommunen „offensichtlich unzureichend" ist. 19 Bay VerfGH BayVBl. 1997, 303 (306); RhPf VerfGH NVwZ-RR 1998, 609. 20 BW StGH ESVGH 44, 1 (7); BayVerfGH BayVBl 1993, 177; 1996, 462 (463 f.); 1997, 303 (304); NRW VerfGH DÖV 1989, 310 (311); DVB1. 1998, 1280ff., 1283; Hoppe, DVB1. 1992, 117 (119 f.); Schwarz, ZKF 1997, 26 (27); kritisch Henneke, DÖV 1998, 330 ff. mit der Forderung, der kommunale Finanzausgleich dürfe nicht zur „Reservekasse der Länder" werden.

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Der alte Rechtsgrundsatz des ultra posse nemo tenetur gilt auch für die Bemessung jener finanziellen Mittel, die von Bund und Ländern der kommunalen Ebene zur Verfügung zu stellen sind. Der Anspruch der Landkreise auf eine angemessene Finanzausstattung ist durch die finanzielle Leistungsfähigkeit des Landes begrenzt. Da die kommunale Finanzausstattung Teil der gesamten staatlichen Haushaltswirtschaft ist, ist auch die staatliche Leistungsfähigkeit deren Bezugspunkt und Maßstab. Wird die Haushaltswirtschaft von Bund und Land durch Sparmaßnahmen, durch Abbau öffentlicher Aufgaben etc. beherrscht, so ist hiervon notgedrungen auch die kommunale Ebene betroffen. Damit ist es wegen des Haushaltsverbundes zwischen Bund, Land und kommunaler Ebene verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität oder Normallage zur Verfügung gestellten Mittel in Zeiten wirtschaftlicher Depression empfindlich gekürzt werden müssen. Es widerspräche dem Gebot föderalistischer bzw. kommunaler Treue und Solidarität, in Zeiten äußerst angespannter Haushaltslage Mittel für eine weitere Expansion der kommunalen Haushalte zu fordern. Hier kann die kommunale Ebene nicht eine glückliche Insel ohne Not zu haushaltswirtschaftlicher Beschränkung, zum Abbau kommunaler Aufgaben etc. sein. Richtet sich der den Kommunen verbleibende Spielraum für Freiwilligkeitsaufgaben nach den konkreten finanziellen Möglichkeiten des Landes, so kann er in Zeiten einer angespannten Finanzsituation auf ein Minimum reduziert sein 21 . Macht man in Zeiten einer äußerst schwierigen Haushaltssituation die haushaltswirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes zum Maßstab für die Finanzausstattung der Landkreise, so sollte das Land plausibel machen, daß es sich selbst jene haushaltswirtschaftliche Sparsamkeit auferlegt hat, die von den Kommunen ebenfalls zu erwarten ist und auch zu einer Reduzierung der Mittel im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung führt. Bei dem naheliegenden Einwand von kommunaler Seite, das Land möge die eigenen Steuerquellen stärker ausnutzen, weitere öffentliche Aufgaben abbauen und einen noch rigoroseren Sparkurs fahren, wird nicht ausreichend gewürdigt, daß das Land nicht nach Belieben öffentliche Aufgaben „zurückfahren" oder gar privatisieren kann. Die Bereiche der Inneren Sicherheit, der Justiz, des Schul- und Hochschulwesens etc., die jeweils sehr ausgabenintensiv sind, verkörpern wichtige Staatsaufgaben, die nicht darum vernachlässigt werden können, um jene Finanzmassen zusätzlich zur Verfügung zu stellen, die die Kommunen begehren, um insbesondere „Freiwilligkeitsaufgaben" in großem Umfang in Angriff nehmen zu können. Dies führt zu dem Ergebnis, daß in Zeiten defizitärer öffentlicher Haushalte auch von der kommunalen Ebene sparsam gewirtschaftet werden muß und ihr lediglich ein Mindestmaß an Finanzmitteln für die Wahrnehmung von Freiwilligkeitsaufgaben und im Bereich der weisungsfreien Pflichtaufgaben zur Verfügung steht: „Da es neben dem Selbstverwaltungsrecht noch zahlreiche andere, gleich21 NRW VerfGH DVB1. 1998, 1280 (1283); BayVerfGH BayVBl. 1997, 303 (304) m. Nw. zur Rspr. 63 FS Leisner

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wertige Güter zu schützen und zu erhalten gilt (etwa die innere Sicherheit, das Bildungswesen, die Justizgewährung), kann sich der den Gemeinden verbleibende Spielraum für die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben bei sehr knappen finanziellen Möglichkeiten des Landes auf ein Minimum reduzieren" 22.

I I I . Zur Forderung einer freien Spitze von 5 - 1 0 % des kommunalen Haushalts für Freiwilligkeitsaufgaben Im kommunalwissenschaftlichen Schrifttum wird neuerdings verfassungsrechtlich argumentierend gefordert: Um die Finanzautonomie der Gemeinden und Kreise finanziell nicht auszuhöhlen und um eine „kraftvolle Erfüllung der Selbstverwaltungsaufgaben" zu erreichen, müsse das Land dafür Sorge tragen, daß den Kommunalhaushalten jährlich eine freie Haushaltsspitze in Höhe von 5 - 1 0 % der Finanzmittel, die ausgegeben werden, gewährt werde. Dabei soll eine freie Spitze von 5% das vom Wesensgehalt der Selbstverwaltungsgarantie geschützte verfassungsrechtliche Minimum und von 10% angemessen sein 23 . Eine derartige verfassungsrechtliche Argumentation unter Rückgriff auf volksund finanzwissenschaftliche Begriffe und Theorien wirft allerdings die Frage auf: Wie steht es mit der Klarheit der volks- und finanzpolitischen Begriffsbildung und mit der Erklärungskraft der volks- und finanzwissenschaftlichen Theorien? Der Terminus der „freien Spitze" wurde bislang bei der Frage angesprochen, welche Verschuldensmöglichkeiten einer Gemeinde offenstehen. Die „freie Spitze" diente damit ursprünglich als Kriterium zur Rechtfertigung der Genehmigung von Krediten. In anderem Zusammenhang wird die „freie Spitze" als derjenige Betrag an Finanzmitteln definiert, über den die Gemeinde verfügen kann, wenn zwangsläufige Ausgaben bestritten worden sind. Hier bildet der Überschuß des Verwaltungshaushaltes die sog. „freie Spitze" 24 . Will man mit dem Begriff der „freien Spitze" einen Maßstab für die Finanzkraft von Gemeinden entwickeln, anhand dessen sich beurteilen läßt, ob die Kommune in verfassungsrechtlich gebotenem Umfang zur Selbstgestaltung in Selbstverwaltung in der Lage ist, so steht man vor dem Dilemma, daß zur Lösung dieses Problems seit Jahrzehnten im kommunal- und finanz22 NRW VerfGH DVB1. 1998, 1280 (1283); 1999, 391 (393); Inhester (Fn. 9), S. 87. 23 Schmidt-Jortzig, Kommunalrecht, 1982, S. 274; Zinn/Stein, Kommentar zur Verfassung des Landes Hessen, Art. 137 Erl. IX, 1; Schoch/Wieland (Fn. 3), S. 189f., 205; zustimmend Henneke, NdsVBl. 1998, 25 (29 ff.); ders., Die Kommunen (Fn. 7), S. 20; Wendt (Fn. 2), S. 625. - Wenig überzeugend Hufen, DÖV 1998, 276 (280), wenn er antithetisch gegenüberstellt, daß, wenn eine Gemeinde für mehr als 95% des Haushalts „als bloßer Ausgabenautomat" agiere, die verfassungsrechtliche Selbstverwaltungsgarantie verletzt sei. Hier wird nicht ausreichend gewichtet, daß vor allem auch bei den weisungsfreien Pflichtaufgaben ein ganz erhebliches Maß an Selbstverwaltung entfaltet wird, was nicht in das Bild des bloßen Ausgabenautomaten paßt. 24 Essig, Wirtschaft und Statistik, 1984, S. 798 (804) mit Vorschlägen zu noch exakteren Definitionen; Inhester (Fn. 9), S. 83 ff.

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wissenschaftlichen Schrifttum unterschiedliche Kriterien gewählt werden, die allesamt nicht unumstritten sind. Weder dem finanzwissenschaftlichen Schrifttum noch den Autoren des kommunalen Haushaltsrechts ist bisher eine widerspruchsfreie Definition der „finanziellen Leistungsfähigkeit" einer Kommune gelungen. Vielmehr ist lediglich eine Annäherung durch unterschiedliche und zu kombinierende Ansätze möglich, da es keine allgemein aussagefähige, einzeln meßbare, aggregierte Größe für die finanzielle Leistungsfähigkeit einer Gemeinde gibt. Übereinstimmung besteht darin, daß „die Ermittlung der freien Spitze zahlreiche Unsicherheiten enthalte"25. Von diesen definitorischen Bedenken abgesehen, sollte man gegenüber der Einforderung einer „freien Spitze" bedenken: Es besteht kein nachvollziehbarer Sachzusammenhang zwischen der Einnahmenseite im Kommunalhaushalt und den erforderlichen Mitteln für eine kraftvolle Wahrnehmung der Selbstverwaltungsaufgaben. Die Höhe der Mittel für die Erfüllung der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben oder der Mittel für die Erfüllung der weisungsfreien Pflichtaufgaben steht nicht in rechtlicher Relation zur Höhe der Mittel des Kommunalhaushalts insgesamt. Die „freie Spitze" wird willkürlich 26 berechnet, da die nach ihr errechnete Höhe der Mittel für den Selbstverwaltungsbereich davon abhängig ist, wieviel Mittel im Haushalt für gesetzlich gebundene Aufgaben eingestellt sind. So würde die Höhe der freien Spitze davon abhängen, ob die kommunale Abfallbeseitigung im kommunalen Hauhalt geführt wird oder würden sich mit einer Verdoppelung der gesetzlich gebundenen Mittel auch die Mittel für Selbstverwaltungsaufgaben verdoppeln, was offensichtlich von der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie nicht gefordert sein kann. Eine freie Spitze von 5 - 1 0 % des Kommunalhaushalts entspricht weiterhin nicht der Rationalität der öffentlichen Haushalte27. Selbst in Jahren wirtschaftlicher Prosperität liegt die „freie Spitze" öffentlicher Haushalte deutlich unter 10%, was kommunale Forderungen nach „angemessenen" 10% aus der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie heraus in ökonomisch schwieriger Situation als rechtlich wie politisch unerfüllbar erscheinen läßt. Im föderalen, auf gerechten Ausgleich ausgerichteten Finanzverbund kann die kommunale Ebene nicht mehr politischen Gestaltungsspielraum einfordern, als ihn Bund und Länder besitzen. Wenn die Haushalte von Bund und Ländern keine „freie Spitze" aufgrund abnehmender Finanzmittel mehr haben, läßt sich eine „freie Spitze" der Kommunalhaushalte verfassungsrechtlich nicht begründen. Letztlich wird in den Verwaltungswissenschaften mit Nachdruck darauf abgestellt, daß nur Rationalisierung, Nutzen-Kostenanalysen, Aufgabenabbau und Auf25 Hoffmann, Der Gemeindehaushalt, 1986, S. 245 m. Nw.; Schwabing, ZKF 1982, 82 (85); umfassend zur Problematik finanzstatistischer Kennzahlen: Essig, Wirtschaft und Statistik, 1984, S. 798 ff. 26 Zum Vorwurf der Willkür vgl. Inhester (Fn. 9), S. 85. 27 Rambow, DÖV 1975, 617 (619 ff.). 63=

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gabenumschichtung (Veränderung der politischen Prioritäten im Selbstverwaltungsbereich) zum dauerhaften Erhalt einer „freien Spitze" beitragen können. Eine schematische Forderung von 5 - 10% „freie Spitze" verkennt, daß die Dynamik der Haushaltszuwächse wie insgesamt auch bei den Mitteln zur Erfüllung freiwilliger Aufgaben wesentlich von der Dynamik der allgemeinen Entwicklung der Haushaltsansätze abhängt. Eine angemessene von Verfassungs wegen geforderte Finanzausstattung ist bereits dann sichergestellt, wenn die Kommunen für die Erfüllung der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben eine finanzielle Manövriermasse haben, innerhalb derer durch Umschichtungen oder Sparmaßnahmen politische Handlungsspielräume im Bereich der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben gewonnen bzw. wiedergewonnen werden. Die erforderlichen Mittel für Freiwilligkeitsaufgaben sind damit nicht nur - zum Teil - vom Land zu gewähren, sondern auch von den Kommunen zu erwirtschaften. Die „freie Spitze" ist im konkreten Einzelfall und in ihrer jeweiligen Ausprägung immer Spiegelbild früherer politischer Entscheidungen. Die Beurteilung, ob es eine „freie Spitze" gibt, hängt von der gesamten kommunalen Einnahmen- und Ausgabenpolitik ab. In diesem Sinne kam der BayVerfGH in bezug auf die Stadt München zu dem Ergebnis, daß der enge finanzielle Spielraum der Stadt nicht alleine auf unabdingbare Pflichtaufgaben und die damit verbundenen Ausgaben zurückzuführen sei 28 . An diesem konkreten Beispiel wird exemplarisch entwickelt, daß die Haushaltslage einer Kommune primär durch eigenes Einnahmen- und Ausgabe verhalten bestimmt werde. Hierauf könne die Gemeinde in erheblichem Umfang durch kommunalpolitische Entscheidungen Einfluß nehmen. Dies bedeutet, daß den Gemeinden verfassungsrechtlich durchaus zugemutet werden darf, durch Abstriche im Bereich der Selbstverwaltung für eine Konsolidierung ihrer Haushalte und für die Erwirtschaftung einer „freien Spitze" Sorge zu tragen. Durch das Verlangen, mit Mitteln sparsam umzugehen bzw. nach Einsparungs- und Entlastungsmöglichkeiten der Kommunalhaushalte zu suchen, wird nicht in die verfassungsrechtlich geschützte Selbstverwaltung eingegriffen, sondern sichergestellt, daß auch in Zeiten allgemein knapper Mittel eine gerechte Finanz Verteilung zwischen allen öffentlichen Körperschaften erreicht wird 2 9 . Nur soweit konjunkturbedingt (oder nur scheinbar durch inflationäre Entwicklungen) die öffentlichen Haushalte insgesamt wachsen, können auch die Mittel für die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben wachsen. In einer Zeit, in der die Rückführung des Staatssektors und Sparsamkeit notgedrungen auf der politischen Agenda stehen, gibt es weder politisch noch verfassungsrechtlich eine abstrakt errechnete „freie Spitze" für die Kommunen.

28 BayVBl. 1997, 303 (306); NRW VerfGH DVB1. 1999, 391 (392); Inhester (Fn. 9), S. 221. 29 Anders Hufen, DÖV 1998, 276 (283) mit der These, die Verwaltung des Mangels entspreche nicht der Selbstverwaltungsgarantie.

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IV. Zur Proportionalität und Verteilungssymmetrie bei der Verteilung der Finanzmassen zwischen Land und Kommunen Zusätzlich zu den vorstehenden Überlegungen zur Mindest- sowie zur angemessenen Finanzausstattung der kommunalen Ebene versucht man grundsätzlicher ansetzend aus dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit ein Modell der Aufteilung der Finanzmasse zwischen Land und Kommunen zu entwickeln. Dieses Modell thematisiert die Gleichheit als Richtpunkt gerechter Entscheidung und sucht Güter, also Finanzen, und (Ausgaben-)Lasten angemessen zu verteilen 30. Angestrebt wird eine verhältnismäßige Gleichheit aller Gebietskörperschaften bei der Finanzierung der ihnen obliegenden Aufgaben. Die Proportionalität und Verteilungssymmetrie bei der Verteilung der Finanzmassen zwischen Land und Kommunen ist vom Niedersächsischen Staatsgerichtshof zu einem Verfassungsgrundsatz erhoben worden 31 . Aus Art. 58 Nds Verf. wird eine „Kollisionsregelung für das normative Spannungsverhältnis" zwischen den zur Aufgabenwahrnehmung „erforderlichen Mitteln" einerseits und der „finanziellen Leistungsfähigkeit" des Landes andererseits entnommen. Daraus folgert der Nds StGH das Gebot einer gerechten und gleichmäßigen Verteilung bestehender Lasten. Vor dem Hintergrund einer prinzipiellen Gleichwertigkeit der Landes- und der Kommunalaufgaben 32 bedürfe es daher einer Verteilungssymmetrie, um dem Land und den Kommunen die jeweils verfügbaren Finanzmittel gleichermaßen aufgabengerecht zukommen zu lassen33. Diese setze voraus, daß die sachgerechte Verteilung der Finanzmassen zwischen Land und Kommunen auf einer Aufgaben- und Kostenanalyse beruhe. Das Gebot der Verteilungssymmetrie verlange, daß die aufgabengerechte Finanzausstattung von Kommunen und Land gegenübergestellt werde, daß die jeweiligen Belastungszuwächse in Ansatz gebracht werden, daß „nachvollziehbare Vergleichsmaßstäbe" entwickelt und all dies für Referenzzeiträume der gesetzgeberischen Entscheidung zugrunde gelegt werde 34. Die vorstehend skizzierte Forderung, die Entwicklung der Finanzen des Landes und der Kommunen müsse dem Grundsatz der Proportionalität und der Verteilungssymmetrie entsprechen, ist entgegen der Auffassung des Nds StGH kein Grundsatz des geltenden Finanzverfassungsrechts. Die Kommunen haben eben nur einen Anspruch auf eine Finanzausstattung, die ihren Aufgaben angemessen ist und mit der sie „kraftvoll" ihre Aufgaben erfüllen können. Die Rechtsprechung der Staats- und Verfassungsgerichtshöfe der übrigen Bundesländer kennt anders als die problematische niedersächsische Entscheidung kein Recht der Kommunen auf proportionale Berücksichtigung und auf VerteilungsSymmetrie bei der Aufteilung der 30

Hierzu allgemein Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, § 16 II. 31 Nds StGH DVB1. 1998, 185 (187 ff.); zustimmend Henneke, NdsVBl. 1998, 25 (28); ders., DÖV 1998, 330 (334). 32 In diesem Sinne auch Leisner (Fn. 5), S. 138. 33 Nds StGH DVB1. 1998, 185 (187). 34 Nds StGH DVB1. 1998, 185 (188).

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Finanzmasse. So haben nach Ansicht des BayVerfGH 35 die Kommunen kein Recht darauf, „daß bestimmte Verteilungsregeln oder Anteile geschaffen werden, unverändert bleiben oder fortbestehen". Allein nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Willkürverbotes muß durch den Gesetzgeber „eine Abwägung zwischen den Belastungen oder Beeinträchtigungen der gemeindlichen Finanzausstattung und den dafür maßgebenden, am öffentlichen Wohl orientierten, sachlichen Gründen erfolgen". Hierbei hat der Gesetzgeber einen weiten Entscheidungs- und Prognosespielraum. Der kommunale Finanzausgleich ist ein Teil der demokratisch zu ordnenden Haushalts Wirtschaft des Staates. Dem Gesetzgeber obliege es im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit, den Finanzbedarf der Gemeindeverbände zu bewerten, gegenüber dem Finanzbedarf des Landes und der Gemeinden zu gewichten und die Verteilung festzulegen 36. So wäre es vom politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umfaßt, selbst in einer krisenhaften Haushaltssituation zur Sicherung der Zukunft der kommenden Generation, z. B. im Bereich von Bildung und Technologie in erheblichem Umfang zu investieren. Für diese Prioritätensetzung aus politischer Verantwortung kann es wegen des knappen Rahmens der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel sachgerecht sein, in anderen Aufgabenbereichen und damit auch im Bereich der Freiwilligkeitsaufgaben der kommunalen Ebene die verfügbaren Finanzmittel bis an die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen zurückzufahren. Dies wäre ein keinesfalls vom Gesichtspunkt der Proportionalität beherrschtes Szenario. Außerdem sind die Prinzipien „Proportionalität" und „Verteilungssymmetrie" für die Verteilung der Finanzmassen zwischen Land und Kommunen nicht aussagekräftig: Was soll Maßstab der proportionalen und symmetrischen Verteilung sein? Ist dies mit einem Fortschreiben der Entwicklung gleichzusetzen? Soll es etwa einen verfassungsrechtlichen Automatismus geben, daß immer dann, wenn sich die Finanzsituation des Landes z. B. um 10% verbessert, dies ebenfalls für die Finanzsituation der Kommunen zu gelten habe? Bereits solche Fragen stellen, beschwört die Gefahr herauf, die politische und demokratische Entscheidung über die Verteilung der Finanzmasse des Landes in ein verfassungsrechtliches Korsett zu schnüren. Eine proportionale Verteilung der Finanzmittel nach den abstrakten Aufgaben des Landes und der Kommunen hätte tiefe Eingriffe in die demokratische Legitimation politischer Entscheidungen zur Folge. Der demokratische Prozeß und die demokratische Legitimität wären durch verfassungsrechtliche Vorgaben gefährdet. Prinzipien wie Verteilungssymmetrie und Proportionalität wurzeln im übrigen in typisch deutschen Argumentationsweisen, wie sie in anderen demokratischen Verfassungsstaaten völlig undenkbar sind 37 . 35 BayVBl. 1998, 207 (208); NVwZ-RR 1997, 301 (302 f.). 36 BayVerfGH NVwZ-RR 1997, 301 (303). 37 Hierzu Würtenberger, Rechtliche Optimierungsgebote oder Rahmensetzungen für das Verwaltungshandeln?, VVDStRL 58 (1999), S. 140, 147 ff. mit Hinweis auf die typisch deutsche Tendenz, das Recht aus der Rechtsidee herzuleiten und die demokratische Legitimation des Rechts gering zu achten; zusammenfassend Hain, JZ 1999, 242 (246).

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Die rechtliche These, die Finanzmassen seien nach dem Gesichtspunkt der Verteilungssymmetrie proportional auf die Landes- und kommunale Ebene zu verteilen, ist unterschwellig von einem Mißtrauen gegenüber dem demokratischen Prozeß geprägt. Die Verteilung der Finanzmassen im Land wäre dann keine politische, demokratisch legitimierte Entscheidung mehr, sondern eine Entscheidung, die man dem Sachverstand eines technokratischen Entscheidungsverfahrens überantwortet. Den Haushaltsgesetzgeber an das dergestalt definierte Verhältnismäßigkeitsprinzip zu binden, führt zu einer nicht hinnehmbaren Verrechtlichung der Politik und zu einer Entsubstanzialisierung des demokratischen Prozesses. Mit Walter Leisner kann man den Führungsanspruch des demokratischen Staates gefährdet sehen, wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gefahr steht, „sich in ein Organ indirekter Gesetzesinitiative zu verwandeln, ihre Aufgabe vor allem in ständigen Aufrufen an den Gesetzgeber zur Verfeinerung des Gesetzesnetzes zu sehen, über den bewehrenden Raster der Gesetze den erstickenden Beton der Verfassung auszugießen"38. Die der Gerichtsbarkeit anvertraute Rechtsprechung ist der Idee der Ordnung durch Bewährung des Rechts verpflichtet, was sich nicht mit politischer, demokratisch zu legitimierender Entscheidungsmacht verträgt. Auch in dieser Perspektive können Ordnungs-Prinzipien wie Proportionalität oder Verteilungssymmetrie im Bereich des (Finanz-)Politischen keine normative Kraft entfalten. Die verfassungsrichterrechtlich geschöpften Prinzipien der Verteilungssymmetrie und Proportionalität versagen darüber hinaus auf dem Prüfstand finanzwissenschaftlicher Analyse. Das Gutachten zur Neuordnung des kommunalen Finanzausgleichs in Niedersachen39 kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, daß die vom Nds StGH geforderten Maßstäbe der Proportionalität und Verteilungssymmetrie finanzwissenschaftlich nicht konkretisiert werden können, sondern es einer politischen Sinn- und Richtungsgebung bedarf. Dies gilt vor allem darum, da bislang „alle Versuche, die Notwendigkeit von Aufgaben und Ausgaben zu bestimmen, gescheitert" sind. Die erforderlichen Entscheidungen sind, wie mit Nachdruck betont wird, an die Politik zurückzuverweisen. Damit bedarf nach Einschätzung des Gutachtens die situationsgerechte Verteilung der Finanzmasse der Einvernehmlichkeit und eines Vertrauensverhältnisses zwischen Land und Kommunen. Dies ist wichtiger als die Ermittlung zweifelhafter Formeln zur Aufteilung der Finanzmasse.

38 Leisner, Demokratie, 1998, S. 989. 39 Niedersächsisches Innenministerium (Hg.), Neuordnung des kommunalen Finanzausgleichs in Niedersachsen, Gutachten des Niedersächsischen Instituts für Wirtschaftsforschung e.V., Dezember 1998, S. 76 f., 171.

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V. Zum Verhältnis zwischen Finanzausstattung und Selbstverwaltungsbereich Können die vorgenannten Anforderungen an ein Minimum kommunaler Finanzausstattung nicht überzeugen, so bleibt es bei dem alten Grundsatz: Den Kommunen muß eine Finanzausstattung gewährleistet sein, die für die Erfüllung der gesetzlich gebundenen Aufgaben hinreicht und ihnen - als Mindestvoraussetzung in einem sehr geringen Umfang gestattet, Freiwilligkeitsaufgaben in Angriff zu nehmen40. Hierin ist keine Verkürzung der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie zu sehen. Denn man darf sich nicht der üblichen Argumentation im finanzverfassungsrechtlichen Bereich anschließen, zum Bereich der Selbstverwaltung seien lediglich die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben der Kommunen zu rechnen. Kommunale Selbstverwaltung sei nur dort existent, wo Freiwilligkeitsaufgaben, für deren Erfüllung in der derzeitigen Haushaltssituation kaum hinreichende Finanzmittel zur Verfügung stehen, in Angriff genommen würden. Demgegenüber bleibt zu betonen, daß eine „kraftvolle Aufgabenerfüllung" der Kommunen in ihrem Selbstverwaltungsbereich sowohl bei den freiwilligen Aufgaben wie auch bei den weisungsfreien Pflichtaufgaben erfolgt. Nach ganz herrschender Dogmatik werden die Selbstverwaltungsaufgaben im Sinne der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie in freiwillige Aufgaben und Pflichtaufgaben ohne Weisung eingeteilt41. Auch im Bereich der Pflichtaufgaben ohne Weisung haben die Kommunen erhebliche Spielräume zu einer eigenverantwortlichen Gestaltung. Ist hier doch nur das Ob der Aufgabenerfüllung festgelegt, während das Wie der Aufgabenerfüllung weitgehend im politischen Gestaltungsermessen der Kommune steht. Konsequenterweise ist in diesem Bereich auch lediglich eine Rechtsaufsicht vorgesehen. Das politische Gestaltungsermessen der Kommunen erstreckt sich u. a. auf Investitionsentscheidungen, auf die Intensität der Aufgabenerfüllung und hierbei auch auf eine gewisse Prioritätensetzung. Dabei sind zwar zum Teil gesetzliche Vorgaben zu beachten, was aber nicht ausschließt, daß in einem weiten Umfang auch politisch gestaltet wird. Zu diesen weisungsfreien Pflichtaufgaben gehören u. a. die Straßenbaulast für Kreisstraßen, die Trägerschaft für die Abfallentsorgung und die Krankenhausträgerschaft. Zu diesen weisungsfreien Pflichtaufgaben treten die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben, die u. a. im Bereich von Bildung, Forschung, Kultur oder Sport wahrgenommen werden. Soweit die Kommunen in den vorgenannten Bereichen durch staatliche Zweckzuweisungen finanziell unterstützt werden, werden nach dem Modell des kooperativen Staates die ökonomischen Vor40 Nw. in Fn. 6. 41 Gern, Kommunalrecht Baden-Württemberg, 6. Aufl. 1996, Rdnr. 107 f, 470 f.; Tettinger, Besonderes Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995, Rdnr. 91; vgl. weiter Schock, Aufgaben und Funktionen der Landkreise, in: ders. (Hg.), Selbstverwaltung der Kreise in Deutschland, 1996, S. 25 (33 ff.); ders. /Wieland, Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlaßte kommunale Aufgaben, 1995, S. 96 ff. m. Nw.

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aussetzungen für die Wahrnehmung von Selbstverwaltungsaufgaben geschaffen, was nicht als tendenziell selbstverwaltungsfeindlich angesehen werden sollte 42 . Faßt man diese freiwilligen Aufgaben und weisungsfreien Pflichtaufgaben zusammen, so besteht ein relativ hohes Maß an autonomer Selbstgestaltung in Selbstverwaltung. Fragt man nach der Höhe und damit nach den politischen Gestaltungsmöglichkeiten des „Selbstverwaltungshaushaltes", so greift der Hinweis lediglich auf die finanziellen Mittel für die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben zu kurz. Zu beachten sind neben den allgemeinen Schlüsselzuweisungen vor allem die Bedarfs- und Zweckzuweisungen, die die kommunale Finanzautonomie sichern 43. Auch auf diese Finanzierungsquellen ist zu blicken, wenn nach der Wahrung des Kernbereichs kommunaler Selbstverwaltung durch die für die Selbstverwaltung zur Verfügung stehende Finanzausstattung gefragt wird. Diese wichtige Perspektive wird verkannt, wenn man allein darauf abstellt, nur Finanzmittel für freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben würden die kommunale Selbstverwaltungsgarantie sichern 44. Die politisch-demokratische Funktion der Selbstverwaltungsgarantie entfaltet sich eben nicht allein im Bereich der freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben, sondern überall dort, wo ohne strikte gesetzliche Bindung gestaltet werden kann. Zusammenfassend hat die von Walter Leisner in der bereits oben zitierten Schrift zum Abwägungsstaat entwickelte These erneut ihre Bestätigung erfahren. Wo öffentliche Interessen untereinander zum Ausgleich zu bringen sind, spricht vieles dafür, „daß hier nichts ist als eine allgemeine, im weiteren Sinne eben doch politische', jedenfalls aber weitestgehend normfreie Abwägung" 45 . Der „Kampf 4 um die angemessene Finanzausstattung der kommunalen Ebene wird also auch in Zukunft nicht vor den Verfassungsgerichten, sondern in den Länderparlamenten auszutragen sein.

42 Vgl. Mückl (Fn. 2), S. 72 f. 43 Vgl. den Überblick bei Leidinger, Das Kreisfinanzsystem, in: Püttner (Hg.), HdkW, Bd. 6, 2. Aufl. 1985, § 119, S. 343 ff.; Ferdinand Kirchhof, Das Finanzsystem der Landkreise, in: Schoch (Hg.), Selbstverwaltung der Kreise in Deutschland, 1996, S. 57, 66 m. Nw. 44 So etwa Inhester (Fn. 9), S. 83 m. Nw. 45 Vgl. Leisner (Fn. 5), S. 139.

Brauchen wir einen Gerichtsmanager? Von Ulrich Karpen

I. Moderne öffentliche Verwaltung: Ein Modell auch für die Gerichtsverwaltung? Der Zwang zum Sparen bei leeren Kassen macht nun auch vor den Gerichten nicht halt, die sich lange im Schutze der verfassungsrechtlichen Garantie richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Grundgesetz) vom Kosten-Nutzen-Denken verschont glaubten.1 Es ist jedoch schwer einzusehen, warum nicht jedenfalls die nichtrichterliche Serviceverwaltung der Gerichte unter den Aspekten neuen öffentlichen Managements kritisch sollte überprüft werden können und müssen. Die Modernisierung von Staat und Verwaltung 2 greift um sich, geht in die Tiefe und Breite. „Neues Öffentliches Management", „Neues Steuerungsmodell", „Managerial Bürokratie", Verwaltung „nach der Bürokratie", „Postmoderne Verwaltung", „New Public Management", „Schlanker Staat": Diese Begriffe bezeichnen, mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, den Einzug des Produktivitätsdenkens und betriebswirtschaftlicher Steuerungsmethoden in die Verwaltung. 3 Aus betriebswirtschaftlicher Sicht4 lassen sich die wichtigsten Prinzipien des neuen Steuerungsmodells, wie folgt, zusammenfassen: - verstärkte ziel- und ergebnisorientierte Steuerung anstatt Steuerung über Input; - strategische Steuerung statt Detailsteuerung; - Selbststeuerung dezentraler Einheiten bei komplementärer zentraler Rahmensteuerung; - Integration von Fach- und Ressourcenverantwortung bei delegierter ErgebnisVerantwortung, also: (Global-)Budget, also: Zusammenführung von Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung (AKV-Prinzip); 1

Klaus F. Röhl, Vom Gerichtsmanagement zur Selbstverwaltung der Justiz, DRiZ 1998,

241. 2 Klaus König /Joachim Beck, Modernisierung von Staat und Verwaltung. Zum Neuen Öffentlichen Management, Baden-Baden 1997, S. 19 ff. 3 Wulf Damkow ski /Klaus Precht, Public Management. Neue Steuerungskonzepte für den öffentlichen Sektor, Stuttgart / Berlin 1995. Wichtig vor allem: David Osborne /Ted Gaebler, Reinventing Government. How the Entrepreneurial Spirit is Transforming the Public Sector, Washington D.C., 1992. 4 Christoph Reichard, Umdenken im Rathaus, Berlin 1994, S. 35 ff.

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- Reintegration von Aufgaben und Leistungsprozessen; - Kunden- und Qualitätsorientierung; - Marktorientierung und Öffnung in Richtung Wettbewerb; - Fokus auf Kernkompetenzen und Ausgliederung von Annexaufgaben; - Differenz von Kosten und Leistungen durch flächendeckende Kostenrechnung; - Leistungsmotivation und Personalentwicklung durch Personalmanagement. Die für das Bürokratiemodell kennzeichnende rechtlich-normative und hierarchische Steuerung soll im Neuen Steuerungsmodell durch eine dezentrale, wettbewerbsbetonte Anreizsteuerung überwunden werden.5 Mit dem Gedanken der Ressourcen- und Ergebnisverantwortung der Verwaltungseinheiten ist eine durchgreifende Organisationsreform verbunden. Fraglich ist, ob und in welchem Umfang das Neue Steuerungsmodell auch auf die Gerichte übertragbar ist. Gerichte sind professionelle Organisationen, insoweit Krankenhäusern, Universitäten, Forschungseinrichtungen, Theatern ähnlich. Den Kern einer professionellen Organisation6 bildet eine Gruppe akademisch oder künstlerisch geschulter Fachleute, die sich einer bestimmten Idee (Gesundheit, Erkenntnis, Gerechtigkeit, Kunst) verpflichtet fühlen und die dafür eine mehr oder weniger ausgeprägte Unabhängigkeit in Anspruch nehmen. Letztere ist z.T. (Art. 5 III, 12, 97 GG) verfassungsrechtlich abgestützt.7 Die „Profis" lassen sich nicht voll in die Hierarchie der Verwaltung eingliedern und damit auch nur beschränkt steuern und kontrollieren. Sie arbeiten kollegial und kontrollieren sich an Hand professionellen Standards selbst. Externe Vorgaben werden unter Berufung auf die professionelle Autonomie abgewehrt. In solchen Arbeitsorganisationen lassen sich in der Regel zwei Aufgabenbereiche unterscheiden: GesundheitsVorsorge, Wissenschaft in Lehre und Forschung, Oper und Schauspiel, Rechtsprechung einerseits und Unterstützungs-, Serviceaufgaben, welche die Erfüllung der Kernaufgaben ermöglichen, andererseits. Die Verantwortung für die Intendanzaufgaben liegt häufig in der Hand eines Verwaltungsleiters: dem Universitätsrektor steht ein Kanzler zur Seite, dem Ärztlichen Direktor ein Verwaltungsdirektor, dem Intendanten ein Verwaltungsleiter, dem Gerichtspräsidenten ein Geschäftsleiter. Diskutiert wird gegenwärtig die Frage, ob in den Gerichten im Zuge der Einführung des Neuen Steuerungsmodells die Position des Geschäftsleiters zu der eines „Gerichtsmanagers" mit eigenem Anforderungs- und Ausbildungsprofil „aufgewertet" werden kann und soll. Überlegungen dazu sollen in vier Schritten angestellt werden. Zunächst ist zu fragen, was die Funktion eines 5 König (Fn. 2), S. 62. 6 Röhl (Fn. 1), S. 241. 7 Zu den Hochschulen vgl. Ulrich Karpen, Vom Zauber des Universitäts-Globalhaushaltes - Hamburger Erfahrungen - , in: Staat, Wirtschaft, Steuern, Festschrift für Karl Heinrich Friauf zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1996, 507 f.

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Gerichtsmanagers kennzeichnet. Sodann sollen Erfahrungen in anderen Ländern ausgewertet werden. Danach werden Pro und Contra abgewogen. Das Ergebnis soll schließlich in Thesen zusammengefaßt werden. Für Einzelheiten soll auf die Verhältnisse in der Hamburger Justiz8 zurückgegriffen werden.

II. Der Gerichtsmanager Die mit der Einführung von Elementen des „Neuen Steuerungsmodells"9 verbundenen Aufgaben stellen die Leitungen von Gerichten und Staatsanwaltschaften vor neue Herausforderungen. „Management"-Aufgaben gehörten schon immer zur Gerichtsleitung, zu Gerichts(dienst)leistungen und Gerichts Verwaltung: - Haushaltswesen, - Organisation der Geschäftsabläufe, - Personalwesen, - EDV-Technik, - Aus- und Fortbildung, Prüfung, - Statistik, Dokumentation, Archiv, - Öffentlichkeitsarbeit, - Steuerung von Teilbereichen (Dezernate, Hauptabteilungen, Außengerichte). Durch die Dezentralisierung der Aufgaben- und Budgetverantwortung werden diese „Leistungsmanagementaufgaben" ergänzt durch „Ressourcenmanagementaufgaben": 10 8

Hierzu jetzt die ausführlichen Darstellungen in: Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Reform der Justizverwaltung. Ein Beitrag zum modernen Rechtsstaat. Baden-Baden 1998, sowie: Das Neue Steuerungsmodell am Verwaltungsgericht Hamburg. Möglichkeiten und Grenzen. Abschlußbericht aus der Arbeitsgruppe II am Verwaltungsgericht Hamburg von den Richtern Bertram, Daum, Graf von Schlieffen, Wagner, Hamburg 1998. 9 Für Hamburg vgl. „Erprobung eines neuen Steuerungsmodells in Pilotbereichen", Mitt. des Senats an die Bürgerschaft, DrS 15/1813 vom 13. 09. 1994, Mitt „Verwaltungsmodernisierung", DrS 15/3750 vom 15. 08. 1995, „Stand der Verwaltungsmodernisierung in Hamburg", Mitt. DrS 15/5844 vom 06. 08. 1996; Mitt. „Stand der Verwaltungsmodernisierung in Hamburg", DrS 15/7826 vom 29. 07. 1997; Antrag „Reform der öffentlichen Verwaltung" zum Haushalt 1997, DrS 15/6634 vom 10. 12. 1996. 10

Terminologie aus der Berichtstätigkeit des Senats über das Neue Steuerungsmodell und das Gerichtsmanagement in der Hamburger Justiz: Mitt. über „Belastung der Justiz", DrS 15 / 7871 vom 05. 08. 1997 mit Anlage „Projekt Justiz 2000", Ziele und Stand des Projekts, Stand 15. Mai 1997; fortgeschrieben in der abschließenden Stellungnahme „Belastung der Justiz", DrS 15/8064 vom 23. 09. 1997; die Stellungnahme des Senats „Reformkonzept Justiz 2000", DrS 16/1679 vom 17. 11. 1998 schrieb Ziele und Stand des Projektes im 2. Bericht bis zum 31. Dez. 1997 und im 3. Bericht bis zum 30. Juni 1998 fort. Die DrS 15/5845 vom 06. 08. 1996 enthält Einzelheiten des Pilotversuchs im Bereich der Verwaltungsgerichte. Einige der genannten Projektstandsberichte sind abgedruckt bei: Hoffmann-Riem (Fn. 8), S. 285 ff.

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- Produktbeschreibung - Qualitätsmanagement - Leistungsvereinbarungen - Entwicklung von Kennzahlen - Organisationsentwicklung - Personalführung - Gebäudemanagement - nonprofit-marketing Eine effiziente Wahrnehmung der genannten neuen Aufgaben setzt Fähigkeiten voraus, die über die juristische Ausbildung hinausgehen. Betriebswirtschaftliche und verwaltungswissenschaftliche Kenntnisse und Erfahrungen sind notwendig. Die Inhaber von Spitzenleistungspositionen - Gerichtspräsidenten, Geschäftsleiter - verfügen über diese Fähigkeiten nicht immer. Sie wurden als herausragende Richter oder Rechtspfleger ausgewählt und mußten sich Verwaltungserfahrungen erst aneignen. Die Überlegungen gehen nun dahin, ob man es bei einer Konzentrierung aller Aufgaben bei einer Person - dem Präsidenten - belassen solle oder ob ein Teil der Leistungsaufgaben mit Verwaltungsschwerpunkt einem besonderen Funktionsträger, eben einem Gerichtsmanager zugewiesen werden sollte. 11 Zum Anforderungsprofil eines solchen Managers sollte eine betriebswirtschaftliche Ausbildung gehören. Man erwartet, daß ein solcher Manager - nach ausländischem Vorbild „frischen Wind" in die Rechtsverwaltung bringen könnte. Er könnte den Gerichtspräsidenten entlasten, indem er die Dienstaufsicht über das nichtrichterliche Personal übernähme, so daß der Präsident auf die Dienstaufsicht über die Richter beschränkt wäre. Ein Großteil der Aufgaben, die heute dem Geschäftsleiter obliegen, fielen ihm zu. Man denkt daran, an Fachhochschulen besondere Studiengänge oder doch Ausbildungselemente für Gerichtsmanager einzuführen, welche auf die neuen Aufgaben der Gerichtsverwaltung nach dem Neuen Steuerungsmodell vorbereiten sollen. Dabei gibt es unterschiedliche Meinungen darüber, wie weit das ökonomische, betriebswirtschaftlich-unternehmerische Handeln des Gerichtsmanagers an den Bereich der Rechtsprechung herangehen darf. Während Röhl 1 2 meint: „Es muß 11

Wolf gang Hoffmann-Riem, Optimierung durch Reorganisation der Gerichtsverwaltung Reform unter Krisenbedingungen, Die Verw, 30. Bd. (1997), S. 481; Thomas Anmüller, Dieter Strempel (Hrsg.), Strukturelle Veränderungen in der Justiz, Bericht der Arbeitsgruppe der Landesjustizverwaltungen. Beiträge zur Strukturanalyse der Rechtspflege, Reihe Rechtstatsachenforschung des Bundesministeriums der Justiz, Köln, 1996, bes. S. 79 ff. und S. 91 ff.; vgl. auch den Antrag „Erprobung eines professionellen Gerichtsmanagements", DrS 16/834 vom 13. 05. 1998. 12 Fn. 1, S. 245.

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jedoch diskutiert werden, ob und wie weit die Justiz sich selbst in einer Weise managen kann, die bis in die Behandlung konkreter Fälle hineinreicht, mit der Folge, daß jedenfalls Randbereiche, für die bislang individualrichterliche Unabhängigkeit in Anspruch genommen wird, nicht unberührt bleiben", sieht HoffmannRiem 13 das Management auf die nichtrichterliche Tätigkeit beschränkt. Auch Röhls Ansicht darf nicht überinterpretiert werden: „Für den Kernbereich der Rechtsprechung bleibt jede Form des Managements indiskutabel".14 Die 67. Justizministerkonferenz hat sich am 03. 05. 1996 in Wiesbaden mit dem Thema beschäftigt. Er herrschte Einvernehmen, daß die innerbetrieblichen Geschäftsabläufe verbessert werden müßten, verstärkt auf EDV-Einsatz geachtet und moderne Managementmethoden angewandt werden müßten.15 Da der Einführung eines Gerichtsmanagers derzeit noch die Rechtslage entgegensteht (z. B. für die ordentliche Gerichtsbarkeit § 22 III GVG), nach der die Dienstaufsicht über die Gerichte einem Richter zu übertragen ist, haben die Justizminister mehrheitlich beschlossen, eine Arbeitsgruppe zur Untersuchung der Voraussetzungen und Folgen der Einführung von Gerichtsmanagern einzusetzen.

I I I . Ausländische Erfahrungen Die Arbeitsgruppe hat auch ausländische Institutionen und Erfahrungen des Gerichtsmanagements verwertet. Näher eingegangen werden soll hier nur auf die USA, die Niederlande und Großbritannien.

1. USA In der US-amerikanischen Justiz wird seit längerem eine Verlagerung der Gerichtsverwaltungsaufgaben von der nachgeordneten, unselbständigen Verwaltung auf einen autonomen „Court Manager" erprobt. 16 Auch dort war Auslöser das Bedürfnis nach einer möglichst effektiven Nutzung der Dienstleitung „Justiz"; es war und ist gegen richterliche / gerichtliche Unabhängigkeit und gesetzlichen Richter abzuwägen. Das Court-Management in einer Reihe von Staaten der USA sowie in der Bundesgerichtsbarkeit zeichnet sich vor allem dadurch aus,17 daß - es zwar bei den meisten Gerichten faktisch autonom, aber rechtlich doch dem Gerichtspräsidium nachgeordnet ist, 13 Fn. 11, und ders ., in: Auf dem Wege zu einem Organisationskonzept „Justiz 2000", DRiZ 1996, 169. 14 Vgl. Fn. 12. 15

Hermann Leeb, Brauchen wir Gerichtsmanager?, DRiZ 1997, 287. 16 Klaus R. Röhl , Court Management in den USA, ZfRsoz 1991, 217 ff., ders., Gerichtsverwaltung und Court-Management in den USA, Köln 1993. 17 Unveröff. Stellungnahme von Harald Koch zur BüDrS 16/834 vom 07. 09. 1998.

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- Personal-, Finanz-, Bau- und Büroverwaltung ebenso wie strategische Abteilungen hochprofessionalisiert besetzt sind, - aber auch Planung und Steuerung durch laufende Beobachtung und Auswertung justizrelevanter Informationen und Daten ermöglicht werden, - die drastische Zunahme des Geschäftsanfalls (Prozeßflut) durch effizientes Court Management kanalisiert und bewältigt werden konnte, - Court Management institutionell begleitet wird durch Justizforschungseinrichtungen, die sich um Evaluation und Fortbildung bemühen. Der einfachen Übertragung amerikanischer Erfahrungen auf Deutschland stehen folgende Andersartigkeiten des amerikanischen Systems entgegen: - Das Prinzip des gesetzlichen Richters ist in den USA unbekannt. - Da Gerichte über ihr eigenes Verfahren bestimmen (rulemaking power) und Justizverwaltung nicht scharf vom Gerichtsverfahren unterschieden wird, ist unabhängiges Court Management sehr viel leichter als hierzulande. - Die Zweiteilung des Gerichtssystems (Bundes-, Staatengerichte) sowie die große Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsautonomie in den Einzelstaaten lassen Experimente im weiteren Umfange zu als in Deutschland. - Die Evaluation gerichtlicher Leistungen liegt in einem Land, in dem die meisten Richter auf Zeit gewählt werden, sehr viel näher (und kann folgenreich sein!) als hier. Zugleich führt das System der Richterwahl zu stärkerer Verselbständigung einer (kontinuierlichen) Gerichtsverwaltung. Daraus ergeben sich für die Frage der Übertragbarkeit auf Deutschland folgende Antworten: (1) Haushaltsverwaltung, Controlling, Projektmanagement und Organisationsentwicklung sind neue Aufgaben einer dezentralisierten Gerichtsverwaltung, die aber nicht von vornherein bei einem unabhängigen und weisungsfreien Gerichtsmanager angesiedelt sein müssen. Die Erfahrungen aus den USA zeigen ohnehin, daß selbst bei formeller Unterordnung des Gerichtsmanagers eine starke faktische Verselbständigung kraft Sachkompetenz eintritt. Mit einer bloßen Betrauung von Gerichtspräsidenten mit zusätzlichen Managementaufgaben ist es jedoch nicht - allenfalls bei Kleingerichten - getan. (2) Während die Geschäftsverteilung schon aus verfassungsrechtlichen Gründen Aufgabe des Gerichtspräsidiums bleibt, können Bereiche wie Personal-, Haushalts*, Büroorganisation, aber auch Datenerhebung und -auswertung von einem (faktisch unabhängigen) Gerichtsmanagement wahrgenommen werden. (3) Ob eine bloße Zusatzqualifikation des Gerichtspräsidenten für Managementaufgaben ausreichend ist, erweist sich nach Auffassung von Beobachtern 18 als is Koch (Fn. 17), S. 2.

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zweifelhaft. Ein Gerichtsmanager sollte neben allgemeinen Verwaltungskompetenzen über besondere Qualifikationen im Bereich der Personalführung (nichtrichterliches Personal), der Haushaltsverwaltung, des Controlling und der Datenverarbeitung haben. Die Einzelheiten der Gerichtsverwaltung sind im GVG nicht geregelt und im übrigen Sache der Länder (Artt. 92, 83 GG). Die hier in Rede stehenden Instrumente der Steuerung und Budgetverwaltung unterliegen der Verantwortung der Gerichtspräsidien (§§ 21 a ff. GVG). Damit hat es der Landesgesetzgeber weitgehend in der Hand, durch haushaltsrechtliche Vorgaben (Stellenplan, Sachetat) die kompetente Besetzung und Ausstattung von Gerichtsmanagement-Positionen zu ermöglichen. Nur soweit Gerichtsmanager auch auf die Steuerung und Verteilung des Geschäftsanfalls sollen Einfluß nehmen können, wäre dies unter Beachtung von Art. 101 GG (gesetzlicher Richter) durch den (Landes-)Gesetzgeber zu ermöglichen. Im Hinblick auf die außerordentlich hohen Anforderungen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung an die Erfüllung des gesetzlichen Richter-Prinzips dürfte es hier aber kaum Delegationsmöglichkeiten geben. Eine Studie, die das Bundesministerium der Justiz im Rahmen des Forschungsprogrammes „Strukturanalyse der Rechtspflege" über Gerichtsverwaltung und Court-Management in den USA durchgeführt hat, 19 empfiehlt deshalb, das Modell nicht zu übertragen. In der Tat ist eines der effektivsten Instrumente des Court Managers, im Case-Management hereinkommende Fälle nach Eignung der Richter, Belastung, Intensität der Fallbearbeitung, Zeitdauer auf Richter und Spruchkörper zu verteilen, in Deutschland wegen Art. 1011 2 GG nicht anwendbar.

2. Niederlande Im Rahmen der Einführung des Neuen Steuerungsmodells wurde auch in den Niederlanden Mitte der achtziger Jahre ein duales Gerichtsorganisationssystem eingeführt. 20 Das Land ist in neunzehn Gerichtsbezirke, die Arrondissements eingeteilt. Jedes Arrondissement hat mehrere Amtsgerichte, ein Landgericht und eine Staatsanwaltschaft. Wenn feststeht, wieviel Mittel für das Jahr für das Arrondissement zur Verfügung stehen, reist der zuständige Beamte des Ministeriums in die Arrondissements und berät die endgültige Mittelverteilung mit den Arrondissementsräten, die aus den Gerichtspräsidenten, dem Leitenden Staatsanwalt und dem DGO (Directeur Gerechtelijke Ondersteuning) besteht. Er ist der „Chef-Gerichtsmanager". Es war von Anfang an klar, daß man den Richtern nicht die gesamte Haushaltsverantwortung aufbürden konnte. Das taten die neu eingestellten Geis Leeb(Fn. 15), S. 288. 20

Martina Tragter-Schubert, Das Neue Steuerungsmodell an einem Landgericht in den Niederlanden: Wie geht das?, in: Hoffmann-Riem (Fn. 8), S. 187 ff. 64 FS Leisner

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richtsmanager, die DGOs. So entstand die duale Struktur. Die 19 Manager wurden z.T. aus der Wirtschaft, z.T. aus anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung rekrutiert, in Lehrgängen ausgebildet und mit der Arbeit der Justizorgane vertraut gemacht. Es zeigte sich sehr rasch, daß die Zusammenarbeit der Richter mit den DGOs erfolgreich und für alle Beteiligten befriedigend war, wenn die persönliche Beziehungen gut waren. Fand der DGO aber kein Verständnis für seine Position oder versuchten die konkurrierenden Autoritäten ihn zum Spielball ihrer eigenen Interessen zu machen, ging es hingegen schief. Es stellte sich heraus, daß die neue Struktur zu sehr von persönlichen Sympathien und Antipathien abhängig war und die duale Struktur, in der in einer Dienststelle eigentlich zwei Dienststellen nebeneinander bestanden, auf die Dauer nicht gut funktionierte. Die Unabhängigkeit der Richter und bis zu einem gewissen Grade auch der Staatsanwälte verhinderte eine effektive Einordnung in die Abläufe der Organisation. Das Experiment wurde nicht fortgeführt. Zu dieser Entscheidung trug u. a. der Umstand bei, daß das nichtrichterliche Personal 21 von alters her daran gewöhnt war, mehr auf die Richter und Staatsanwälte zu hören als auf ihre nichtrichterlichen Vorgesetzten. Die zusammen mit dem DGO eingeführte hierarchische Managementstruktur für das nichtrichterliche Personal funktionierte deshalb nirgendwo reibungslos. Vor allem die Führungskräfte der mittleren Ebene hatten und haben es schwer, ihre Planung durchzusetzen, weil die Richter und Staatsanwälte als echte „Professionals" keine Einmischung in ihre Arbeit duldeten. Es zeigte sich außerdem, daß das nichtrichterliche Personal, das in zunehmendem Maße aus Volljuristen besteht und den Richtern als Assistenten zur Verfügung steht, eine neue Gruppe von Professionals in den Organisationen bildet und sich eine Führung durch nichtrichterliche Manager z.T. widersetzt. Verbesserungsversuche haben diesen mißlichen Zustand letztlich nicht beseitigen können. 3. Großbritannien Auch in Großbritannien setzte sich Mitte der achtziger Jahre das neue ökonomische Denken in der Verwaltung durch, vor allem in Gestalt der „Financial Management Initiative (MFI)". 2 2 Auf Ministerialebene wurde ein zielorientiertes Managementsystem entwickelt. Globalbudget, Wettbewerb zwischen den Behörden, „quality for money", sind die Stichworte der neuen Entwicklung. Sie erstreckt sich auch auf die englische Justiz.23 Lange Prozeßdauer, unkalkulierbare Prozeßkosten, mangelhafter Zugang zu den Gerichten für weite Bevölkerungskreise, mangelhafte Effektivität und Effizienz der Gerichts Verwaltung: diese 21 Tragter-Schubert (Fn. 20), S. 193. 22 OECD-PUMA (Hrsg.), Public Management Developments, Survey, 1993, S. 179. 23 Überblick bei Albrecht Henning, „Your Honour" - „My Learned Friend" - Ein Besuch bei englischen Richtern, in: DRiZ 1998, 203.

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Symptome veranlaßten Lord Mackay, den ehemaligen Lord Chancellor, 1994 Lord Woolf, ein Mitglied des Judicial Committee des House of Lords, zu beauftragen, einen Bericht 24 über die Verbesserung des Zivilprozesses zu erarbeiten. Er wurde 1996 veröffentlicht. 25 Wenngleich die Einführung eines Gerichtsmanagers nicht empfohlen wird, ist eine bedeutende Verbesserung des Gerichtsmanagements Bestandteil des Berichtes. Es soll auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis geachtet werden. Die Verfahrenskosten sollen genau berechnet werden. Die Verfahren sollen beschleunigt werden. Es soll feste Kosten für Eilverfahren (cases on the fast track) geben. Die Verwaltung der Gerichte (Administrative Structure-Court Service) soll verbessert werden. Vor allem soll es ein effizientes System des Case Managements geben. Dazu ist eine Aus- und Fortbildung der Richter notwendig.

IV. Pro und Contra Die Notwendigkeit einer Verbesserung des Gerichtsmanagements wird also überall erkannt, nirgends bestritten. Der Weg von einer „legalistischen zu einer managerialen Bürokratie" 26 ist betreten und wird weiter beschritten. Ökonomisches Denken, Kostenbewußtsein, Kosten-Controlling sind auch in Gerichten keine Fremdworte mehr. 27 Die richterliche Unabhängigkeit steht einer grundlegenden Modernisierung der Gerichtsverwaltung nicht im Wege. Sie ist als verfassungsrechtliches Institut kein Pfeiler der Privilegien des Richters, sondern ein Pfeiler des Rechtsstaates,28 welcher aus- und umbaufähig und -bedürftig ist. Allerdings bleibt der Kernbereich der Rechtsprechung unangetastet.29 Das wirft die weitergehende Frage auf, ob nicht optimale Effizienz in der Gerichtsverwaltung nur erreicht werden kann, wenn den Gerichten Selbstverwaltung, die auch Budgethoheit einschließt, gewährt wird. 30 Eine Reihe von Gründen lassen sich ins Feld führen, die davor warnen sollten, den Ertrag der Einführung des Neuen Steuerungsmodells in die Justiz, vor allem auch der Einführung der Funktion eines Gerichtsmanagers zu hoch einzuschätzen. Unternehmerisches Denken und Handeln ist nur in begrenztem Umfang auf die Justiz anwendbar. Die Justiz kann ihre Produkte und Ressourcen nicht selbständig 24

Carsten Rumberg /Tim Eicke, Der „Woolf Report" - Reform des englischen Zivilprozesses, in: RIW 1998, S. 19. 25 The Lord Chancellor's Department, Lord Woolf's Final Report „Access to Justice Final Report", London, 1996. 2 * König (Fn. 2), S. 14. 27 Fritz Behrens, Kostencontrolling und Haushaltsflexbilisierung als Instrumente einer modernen Justiz und Verwaltung, ZRP 1998. 28 Rainer Voß, Kostencontrolling und richterliche Unabhängigkeit des Neuen Steuerungsmodells contra unabhängige Rechtsprechung? In: DRiZ 1998, 379. 29 Röhl (Fn. 1), S. 245. 30 Röhl (Fn. 1), S. 250. 64*

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bestimmen, wie dies bei Wirtschaftsunternehmen der Fall ist. Das Aufkommen an Fällen ist unkontrollierbar, und das richterliche Entscheidungsverhalten darf niemals von der Aussicht auf Einnahmen bestimmt sein. Die Justiz ist nicht auf Effizienzkonzepte festzulegen. Kosten-Nutzen-Prioritäten würden die Wirklichkeit der Justiz übersehen und trivialisieren. Negative Auswirkungen auf die Gerichtspersonen müssen verhindert werden. Die bloße Herstellung des „gläsernen Richters oder Staatsanwaltes" ist noch kein Anschlag auf die richterliche Unabhängigkeit oder das Legalitätsprinzip, kann aber schnell dazu werden. Es darf aber etwa nicht ausschlaggebend für einen Besetzungsoder Beförderungsvorschlag sein, daß ein Bewerber „preiswerter" arbeitet als ein anderer. Ein Wettbewerb der Richter und Staatsanwälte untereinander sollte sich nicht entlang der Linie vollziehen, wer seine „Produkte" „kostengünstiger" herstellt. Es wäre ein Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit, wenn die Gerichtsverwaltung steuernden Einfluß auf bestimmte Kostenansätze nähme, die unmittelbar mit der rechtsprechenden Tätigkeit zusammenhängen: Telefonate, Bestellung von Dolmetschern, Sachverständigen, Art und Frequenz der Terminierung usw. Akut werden dürfte die Kollision mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit nicht erst dann, wenn auch die Kosten in Rechtssachen budgetiert werden. Soweit es die - zunächst wohl experimentelle - Einführung eines Gerichtsmanagers angeht, wird genau darauf zu achten sein, wie er in die Gerichtsorganisation eingebaut wird. Hier mag man sich an US-amerikanischen Modellen orientieren. 31 Sie weisen dem Gerichtsmanager einen unterschiedlichen Grad an Autonomie zu. Manche Courtmanager sind ganz autonom, manche leiten ihre Kompetenzen eher vom Chief Charge, vom Gerichtspräsidium ab. Strukturell kann man fünf Konzepte unterscheiden: - Es gibt das Alter ego Konzept. Das heißt, der Chief Charge hat einen Alter ego, einen zweiten Mann oder eine zweite Frau auf dem Podest, einen Juristen; dabei ist der Court Manager ein Jurist mit Verwaltungs.erfahrung. Das ist eine Art Tandemlösung, bei der beide sich absprechen und in enger Zusammenarbeit die richterlichen und nichtrichterlichen Aufgaben wahrnehmen. - Das zweite Konzept wird als Spezialistenkonzept bezeichnet. Dabei ist der Court-Manager dazu da, den Richter vor allen Dingen für die eigentlichen Aufgaben, für die Rechtsprechungsaufgaben zu entlasten. Es geht darum, daß Verwaltungsaufgaben delegiert werden, daß bestimmte Richtlinien als Vorgaben von der richterlichen Bank kommen und auch beaufsichtigt werden und daß der Nichtjurist, in aller Regel der Court-Manager, dann diese Verwaltungsaufgaben wahrnimmt. - Das dritte Konzept ist das Judge-only-Konzept. D.h., es muß auch ein Richter - ein Volljurist - sein, der als Court-Manager tätig wird. Argument: Richter 31

Harald Koch, Ausschußprotokoll 16/12 der Sitzung des Rechtsausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft vom 12. 11. 1998, S. 15 ff.

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lassen sich nur von Richtern etwas sagen. Die Akzeptanz ist sehr viel größer, wenn auf der Managerbank auch eine Richterin oder ein Richter sitzt. - Das vierte Konzept wird als das Sergeant-Colonel-Modell - Feldwebel-OberstModell - bezeichnet. Das ist die subalterne Rolle des Sergeants, des CourtManagers, der dort mit einer bestimmten Fachausbildung in völliger Abhängigkeit und Weisungsgebundenheit vom Gerichtspräsidium fungiert. - Das fünfte Modell wird als das Idealmodell in der Literatur dargestellt: es ist das Team-Management-Modell. Das ist eine Kombination zwischem dem Alterego-Modell und dem Spezialistenmodell. Es gibt keine scharfe Zuständigkeitsabgrenzung außer in den Kernbereichen der Rechtsprechung - bei deren Selbständigkeit bleibt es natürlich - , sondern eher eine flexible, situationsgebundene Zusammenarbeit beider. Es wird deutlich, daß die Adaption eines der genannten Modelle auf deutsche Gerichte wegen der richterlichen Unabhängigkeit und des daraus resultierenden Verbotes der Außensteuerung problematisch ist und genau durchdacht sein muß, will man nicht zwingend der Auffassung folgen müssen, die Einführung eines Neuen Steuerungsmodells und des Gerichtsmanagers in die Gerichtsbarkeit sei „entweder wirksam und deshalb rechtlich unzulässig oder aber unwirksam und rechtlich zulässig, dann aber auch wirtschaftlich nicht zu rechtfertigen". 32 Bleibt als Alternative die Möglichkeit, das Führungspersonal in den Reihen der Richter und Staatsanwälte zu aktivieren und durch Schulung, Ergänzungsausbildung, Fort- und Weiterbildung die Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die ein modernes Gerichtsmanagement verlangt. 33 Solche WeiterbildungsVeranstaltungen sind für Präsidenten und Leitende Oberstaatsanwälte bereits im Gange. Vor allem werden sie auf Geschäftsleiterebene durchgeführt. Rechtspfleger mit analytischen Fähigkeiten werden besonders geschult. Organisationsberater erfahren Fortbildung beim REFA-Verband. Es ist überhaupt ein alternativer Weg, die Rolle der Geschäftsleiter zu stärken. Es darf nicht dahin kommen, daß die Geschäftsleiter durch einen Gerichtsmanager - möglicherweise einen Seiteneinsteiger - in eine „Hausmeisterolle" abgedrängt werden. Überhaupt könnten die Geschäftsleiter demotiviert werden, wenn als Gerichtsmanager Personen eingestellt würden, deren Ausbildung erheblich über der der Geschäftsleiter läge. Schon deshalb ist zu überlegen, ob man nicht fortgebildeten leistungsstarken Bediensteten des höheren Justizdienstes den Vortritt lassen sollte. Letztlich ist zu berücksichtigen, daß für komplexe Aufgaben eines Gerichtsmanagements - wie bisher schon - Sachverstand von Unternehmensberatern herangezogen werden könnte. Die Trias von Fortbildung, Stärkung der Kompetenzen der Geschäftsleiter und Rat von außen könnte weiterreichende Experimente entbehrlich machen. 32 Bertram, u. a. (Fn. 8), S. 200. 33 Leeb (Fn. 15), S. 288.

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V. Thesen 1. Das AKV-Prinzip ist durch die dezentrale Verantwortungsstruktur in den Gerichten voll verwirklicht, mit Ausnahme der Kosten. Verantwortlich sind das Präsidium, die Spruchkörper, der einzelne Richter. 2. Aufgeschlossenheit für Kostendenken ist weit verbreitet und förderungswürdig. Die Einführung einer Kammer- oder Einzelrichterbudgetierung ist verfassungsrechtlich unzulässig. Bei einem Gesamtgerichtsbudget werden sich „Schattenbudgets" für Kammer und Einzelrichter herausbilden. Damit besteht die Gefahr eines qualitätsmindernden Kosten- und Vereinfachungsdruckes. 3. Die verwaltungsmäßige Abwicklung des Verfahrens - Aktenvorlage, Terminierung, Intensität der Amtsermittlung etc. - ist vor einer Einflußnahme durch die Exekutive geschützt. Anordnungen, bestimmte Textbausteine zu verwenden und die Urteile EDV-gerecht abzusetzen, verbieten sich. 4. Effektivität und Wirtschaftlichkeit dürfen nicht die beherrschenden Grundsätze für die Arbeit der Justiz werden, die Aufgaben der Justiz lassen sich nicht maßstabsgetreu und vollständig in einer Kosten-Nutzen-Rechnung darstellen. Selbst wenn NSM und Gerichtsmanagement nur am Gesamtgerichtsbudget ansetzen und kein direkter Druck auf Kammer und Gericht zu befürchten ist, geht von ökonomischen Vorgaben, Leistungsvereinbarungen, Fallkostenpauschalen, Durchschnittskosten für Eilverfahren ein „sanfter" struktureller Druck aus, der die richterliche Unabhängigkeit zu gefährden geeignet ist. 5. Die Effizienzsteigerung ist die Kernidee des NSM. Weil das einzige „verobjektivierbare" Kriterium für „Effizienz" der Rechtsprechung aber die Verfahrensdauer ist, geht die Quantität möglichst vieler Erledigungen auf Kosten der Qualität „gerechter", „guter" Erledigungen. Im Ergebnis werden minder gute, schnelle Produkte belohnt. 6. Ökonomische Parameter, Menge pro Zahl (Effizienz) haben aber mit der Aufgabe der Justiz nur am Rande zu tun. Sollten sich ökonomische Gesichtspunkte als zentral durchsetzen, so wären eine verzerrte Wahrnehmung und (letztlich) Fehlurteile das Resultat. 7. Richter dürfen nicht fremdbestimmt werden, weder durch die Gerichtspräsidenten (die die Leistungsvereinbarungen abschließen) noch durch Gerichtsmanager, die die Richter in Erfolgsvorgaben einzwängen. 8. Das Grundprinzip des NSM - die outputorientierte Steuerung - ist die Mittelzuweisung nach Maßgabe der Feststellung, ob das Gericht bestimmte, im Rahmen der Leistungsvereinbarung festgelegte Ziele erreicht. Diese könnten strategisch von der Politik (Haushaltsgesetzgeber, Finanzbehörde, Justizbehörde) festgelegt werden. Das widerspricht der Gewaltenteilung. Mögliche Steuerungsvorgaben, wie die Priorisierung der Erledigung von Asylverfahren, die Erledigung baurechtlicher Eilverfahren innerhalb eines Monats, die Erle-

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digung baurechtlicher Verfahren innerhalb von sechs Monaten („Wirtschaftsstandort Hamburg") widersprechen der Steuerung der Justiz allein durch „Gesetz und Recht" (Art. 20 Abs. 3 GG). 9. Ein Gerichtsmanager, der das NSM in den Gerichten durchsetzen soll, würde aus den genannten Gründen nur ein begrenztes Einsatzfeld haben. Es besteht die Gefahr, daß er die latent vorhandene Spannung zwischen Richterschaft und nichtrichterlichem Dienst verstärken würde. Das zeigen die Erfahrungen mit der Einführung des inzwischen aufgegebenen Gerichtsmanagements in den Niederlanden. Die Struktur war sehr von persönlichen Sympathien und Antipathien abhängig. Die duale Struktur funktionierte nicht. Die Unabhängigkeit der Richter und (entsprechend) der Staatsanwälte verhinderte eine effektive Einschaltung des Gerichtsmanagements in die Verfahrensabläufe. Jeder Richter hat seine eigene Arbeitsweise. Auch das nichtrichterliche Personal besteht aus „Professionals", die nicht leicht auf einen Professionellen „von außen" hören. 10. Es gilt zu verstehen, daß Managementabläufe voraussetzen, daß man das Produkt, das am Ende herauskommt, gestalten kann (Produkt, Verfahren, Kosten). Das „Produkt" der Gerichte ist originäre richterliche Arbeit. Bei allen Formen, Verfahren, Strategien, die darauf zielen, dieses Produkt in irgendeiner Form zu bewerten, zu beeinflussen, „effizienter" zu machen, wird die richterliche Unabhängigkeit tangiert.

Die deliktsrechtliche Gefahrenverantwortung Von Richard Bartlsperger

Eine schon in Jahrzehnte gehende Zahl von Jahren gemeinsamer Zugehörigkeit zur Juristischen Fakultät in Erlangen verbindet mit dem Jubilar. Aus seinem überreichen Werk soll eine Thematik aufgegriffen werden, mit der er sich schon auf der Staatsrechtslehrertagung 1961 in seinem Referat zur „Gefährdungshaftung im öffentlichen Recht" grundlegend beschäftigt hat.1 Weit über das bis heute legislativ unbewältigte Staatshaftungsrecht 2 hinausgreifend hat er seinerzeit den Fragen- und Problembereich des öffentlichen Ersatzleistungs- und Entschädigungsrechts zum Anlaß genommen, die Grundlagen außervertraglicher Schadenshaftung überhaupt unter den rechtsstaatlichen Voraussetzungen der deutschen Verfassungsordnung prinzipiell klarzustellen. Eine generelle Gefährdungshaftung im öffentlichen Recht hat er allein schon wegen der sachlichen Unbestimmtheit und der staatstheoretischen Ungeeignetheit des Gefahrenbegriffs zur Kennzeichnung staatlichen Handelns verworfen und aus verfassungsstaatlichen Gründen abgelehnt.3 Zugleich hat er nicht nur für das öffentliche Ersatzleistungsrecht, sondern auch für das bürgerliche Deliktshaftungsrecht dargelegt, daß die Haftung für Unfallschäden ausschließlich an die objektive Rechtswidrigkeit des betreffenden schadensursächlichen Verhaltens anknüpfen kann.4 Sowohl gegenüber einer Grundlegung außervertraglicher Schadenshaftung im Aufopferungsgedanken oder in einem sozialstaatlich distributiven Ausgleichsdenken5 als auch gegenüber einem nur am Schadenserfolg orientierten generellen Prinzip der Gefährdungshaftung vermochte er zu verdeutlichen, daß das Prinzip der Rechtswidrigkeitshaftung „eine Entwicklung der Abklärung und Vergeistigung des Rechts" darstellt 6 und daß die „technische Zukunft" den schadlos-rechtswidrigen Kategorien gehört.7 Gegenüber dem Verschuldensprinzip im Haftungsrecht hat er nachdrücklich Stellung bezogen.8 1 VVDStRL 20 (1963), 185 ff. 2 Siehe bei Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, 13. Teil. 3 VVDStRL 20 (1963), 185/221 ff. 4 AaO, 202, 205, 225 ff. 5 Dazu aaO, 201 ff. 6 AaO, 238. 7

AaO, 210. Zur praktischen Auflösung des Verschuldensprinzips, aaO, 211 ff. s AaO, 201 f., 206, 210 ff. und 230 ff.

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Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die Feststellung, daß die privatrechtlichen Haftungsregelungen gar nicht vor dem GG bestehen könnten, wenn sie die Schadenshaftung anstatt von bloßer Rechtswidrigkeit wegen Verletzung objektiver Sorgfalt von subjektiven Schuldelementen abhängig machten.9 „Illegalität ersetzt Verschulden" 10 - diese seinerzeitige These zur Bestimmung deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung bezeichnet eine in der Rechtspraxis und in der ihr folgenden Zivilrechtslehre immer noch nicht prinzipiell verwirklichte Erkenntnis und Forderung. I. Problematik und Problembereich deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung 1. Wenn im folgenden die Grundlagen deliktsrechtlicher Verantwortung erneut und für den praktisch wesentlichen Bereich von Unfallschäden aus gefahrschaffendem Verhalten aufgegriffen werden, dann geschieht dies aus einer bestimmten Perspektive. Sie ergibt sich aus dem Umstand, daß das bürgerliche Deliktshaftungsrecht auch auf die Gefahrenhaftung für unvermeidlich mit einer aktuellen Gefahrendisposition verbundene öffentliche Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung angewendet wird. 11 Das anschaulichste und zweifellos praktisch bedeutsamste Beispiel hierfür ist die maßgebliche Handhabung der Straßenverkehrssicherungshaftung. 12 In dem Zusammenhang kann nicht die Diskussion der Zivilrechtslehre um das Verschuldensprinzip im bürgerlichen Deliktshaftungsrecht aufgenommen werden. Es reicht die kritische Perspektive aus, die sich unter den besonderen Voraussetzungen der Verkehrssicherungshaftung bzw. Verkehrssicherungspflicht für öffentliche Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung eröffnet. In diesem Bereich muß es in gesteigertem Maße als unerträglich empfunden werden, wenn die deliktsrechtliche Gefahrenverantwortung unter Zugrundelegung eines undifferenziert verwendeten Verschuldensprinzips nach Judikaten beurteilt wird, die in ihrer Fallbezogenheit und mangelnden Evidenz nicht mehr überschaubar und darstellbar sind, 13 und wenn man sich angesichts dieses Zustandes mit der Feststellung begnügen soll, die Frage, wann „eine Verkehrssicherungspflicht besteht und worauf sie gegebenenfalls gerichtet ist", stelle 9 AaO, 232. 10 AaO, 233. 11 Grundlegend nachwievor Urt. BGH 30. 4. 53, BGHZ 9, 373 ff.; im übrigen siehe die Darstellung und Erörterung zur Verkehrssicherungspflicht bei Ossenbühl (Fn. 2), 2. Teil, III 1 e aa; zur Problematik Bartlsperger, Verkehrssicherungspflicht und öffentliche Sache, 1970, ders., DVB1. 73, 465 ff. und ders., DÖV 82,469 ff. 12 Speziell zur Straßenverkehrssicherungspflicht Grote, in: Kodal / Krämer, Straßenrecht, 5. Aufl. 1995, Kap. 40. 13 Beispielhaft für die Haftung aus der Verletzung der Straßenverkehrssicherungspflicht siehe bei Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 3. Aufl. 1997, § 16 Rn. 552 ff. und 574 ff.

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„wegen der Uferlosigkeit und starken Einzelfallbezogenheit des einschlägigen Materials ein typisches »Kommentarproblem' dar", und die einschlägigen „Parameter und erst recht ihre Abwägungen gegeneinander" erlaubten „nicht die Bildung fester Tatbestände, sondern lediglich »komparativer' Sätze nach Art eines »beweglichen' Systems".14 Unerträglich ist der Stand von Rechtspraxis und Rechtsdogmatik zur deliktsrechtlichen Gefahrenverantwortung nicht zuletzt deshalb, weil zwischenzeitlich in den Fällen unvermeidlich gefährlicher öffentlicher Einrichtungen die Wahrnehmung der Gefahrenverantwortung durch den Einrichtungsträger nicht selten auf eine Normkonkretisierung der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten in technischen Regeln und Regelwerken angewiesen ist. 15 Diese können mit einer Inhalts- und Umfangsbestimmung der betreffenden Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten nach einzelfallbezogenen, individuell konkreten Verschuldenskriterien „innerer Sorgfalt" überhaupt nichts anfangen. Es kann nicht mehr daran vorbeigegangen werden, daß eine normstrukturelle Verknüpfung von deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung und technischem Sachverstand zur Gefahrbeherrschung bzw. Verkehrssicherung besteht.16 Die juristische Seite erscheint hierfür schlecht gerüstet, wenn sie auf eine undifferenzierte Handhabung des Verschuldensprinzips als Prinzip deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung fixiert bleibt. Demgegenüber wird hier die Auffassung vertreten, daß die deliktsrechtliche Unfallhaftung wegen gefahrschaffenden Verhaltens ihr Prinzip in der Verletzung objektiver Gefahrbeherrschungspflichten des Gefahrenverursachers hat, die einer den jeweiligen Haftungsregelungen, auch denjenigen des im übrigen und außerdem noch individuell verschuldensabhängigen bürgerlichen Deliktshaftungsrechts, vorausliegenden allgemeinen Deliktsordnung angehören und ihren Rechtsgrund in einem den staatlichen Rechtsgüterschutz verwirklichenden rechtsfunktional eigenständigen Gefahrenrecht haben. Die Annahme eines rechtsfunktional eigenständigen Gefahrenrechts entspricht dem vor allem bei gefahrschaffenden öffentlichen Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung erkennbaren Bedürfnis, den Inhalt und den Umfang von Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten unabhängig von verallgemeinernden, individuell konkreten Verschuldenselementen des bürgerlichen Deliktshaftungsrechts normbereichsLarenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. I I / 2 , 13. Aufl. 1994, § 76 III vor a und 4 b. 15 Zur Normkonstituierung bzw. Normkonkretisierung durch normstrukturelle Verknüpfung von „Recht und Technik" siehe aus dem juristischen Schrifttum Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1979, Rittstieg, Die Konkretisierung technischer Standards im Anlagenrecht, 1982, Nicklisch, NJW 83, 84 ff., Hoppe/Beckmann, Umweltrecht, 1989, § 3 Rn. 23 ff., Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Aufl. 1994, § 31 Rn. 12, Ossenbühl, in: Erichsen (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 6 Rn. 9, Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 176/202 ff. 16 Zur straßenbaulichen Verkehrssicherungspflicht bezeichnend Urt. BGH 12. 4. 73, VersR 73, 637/638 (Gewährleistung der Straßengriffigkeit nach dem Stand und den Möglichkeiten der Straßenbautechnik).

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spezifisch und objektiv zu bestimmen. Innerhalb des Gefahrenrechts folgt die deliktsrechtliche Gefahrenverantwortung dem Prinzip objektiver Rechtswidrigkeit. 2. Der Rechtsordnung ist ein Gefahrenrecht aufgegeben, das den Umgang mit der Schaffung von Gefahrenlagen für Rechtsgüter regelt. Es besteht aus allen Vorschriften und Rechtsgrundsätzen, die der rechtlichen Bewertung gefahrschaffenden Verhaltens gelten, indem sie über die rechtliche Zulässigkeit von Rechtsgutgefährdungen überhaupt entscheiden und gegebenenfalls die den Gefahrenverursachern obliegenden Rechtspflichten bestimmen, eine Realisierung der betreffenden, zulässigerweise geschaffenen Gefahr in einem Schadensereignis zu vermeiden bzw. die Verantwortung für einen Schaden nach Maßgabe der jeweiligen Haftungsregelungen zu übernehmen.17 Für den Fall einer rechtlichen Anerkennung der betreffenden Gefahrschaffung, also der rechtlichen Zulässigkeit einer „notwendigen Gefahr", haben Gefahrenbewertung und Gefahrenrecht die weitere Bewertungs- bzw. Regelungsaufgabe zu lösen, wie mit dem Umstand umzugehen ist, daß sich eine Gefahr letztlich auch verwirklichen kann und trotzdem ein Schutz der betreffenden Rechtsgüter zu gewährleisten ist. 18 Insofern haben Gefahrenbewertung und Gefahrenrecht zu bestimmen, wie weit die Pflicht des Gefahrenverursachers reicht, die Verwirklichung einer Gefahr durch eine Beherrschung der betreffenden Gefahrenlage zu vermeiden oder jedenfalls die Verantwortung für einen Schadenseintritt zu übernehmen. Der verfassungsrechtlich begründete Schutz grundrechtlich gewährleisteter Rechtsgüter gibt eine rechtsfunktionale Zweiteilung des Gefahrenrechts vor. 19 Einschlägige Grundrechte konstituieren in ihrer freiheitsgewährenden Funktion (status negativus) Abwehrrechte gegenüber Rechtsgutgefährdungen, die durch den Staat selbst in Form unmittelbarer „Grundrechtseingriffe" vorgenommen werden, sei es daß sie im Rahmen eigener hoheitsrechtlicher Aktivitäten und Einrichtungen erfolgen oder als Rechtsgutgefährdungen zwischen Dritten hoheitsrechtlich zugelassen werden. 20 Zum zweiten haben grundrechtliche Rechtsgutgewährleistungen gefahrenrechtlich die Rechtsfunktion, Rechtsgutträger vor einer Gefährdung sowie einer gefährdungsbezogenen Verletzung bzw. Beeinträchtigung ihrer Rechtsgüter von Seiten Dritter und außerhalb des Bereichs von „Grundrechtseingriffen" zu schützen. Insofern räumen sie eine Anspruchsstellung gegenüber dem Staat auf Rechtsgüterschutz ein (status positivus).21 Die beiden grundrechtsfunktional unterschiedenen 17

Zur Begriffsbildung eines Gefahrenrechts aus Anlaß eines besonderen Falltyps straßenbaulicher Verkehrssicherung Bartlsperger, Das Gefahrenrecht öffentlicher Straßen, 1994, S. 25 ff. 18 Zur Unterscheidung der Pflichten zur Vermeidung einer Gefahr und zur Vermeidung ihrer Verwirklichung Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, 2. Aufl. 1996, Rn. 197. 19 Hierzu und zum Folgenden die Darlegungen zu den Grundrechtsfunktionen bei Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 1992, § 111 Rn. 1 ff., 89, 92, 103 f., 116. 20 Zur Rechtsdogmatik des „Grundrechtseingriffs" Bethge und Weber-Dürer, VVDStRL 57(1998), 10 ff. bzw. 59 ff.

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Bereiche des Gefahrenrechts lassen sich rechtsbegrifflich klar trennen, ungeachtet zwischenzeitlicher, möglicherweise problematischer Ausweitungen des klassischen Begriffs der „Grundrechtseingriffe". 22 Beim „Grundrechtseingriff 4 wirkt der Staat auf den Grundrechtsstatus immer gegen den Willen der Betroffenen ein. 23 Im übrigen gilt eine staatliche Schutzpflicht in bezug auf Rechtsgutgefährdungen. In beiden genannten Bereichen ist dem Gefahrenrecht eine zweckrationale Abwägung zwischen kollidierenden Rechtsprinzipien aufgegeben. Einerseits muß als grundlegender und übergreifender Gesichtspunkt zur Geltung kommen, daß auch schon in jeder Schaffung einer bloßen Gefahrenlage für Rechtsgüter eine „mögliche Veränderung zum Schlechten" und eine „negative Tendenz" liegt und daß deshalb bereits eine Beziehung zu einer Rechtsgutverletzung bzw. Rechtsgutbeeinträchtigung, d. h. zu einer Rechtsverletzung im Sinne des Grundsatzes „neminem laedere" hergestellt wird. 24 Insofern ist es als primäres Prinzip des Gefahrenrechts anzusehen, daß kein Recht zur Gefahrschaffung besteht, im Gegenteil eine Rechtspflicht zur Gefahrvermeidung gilt. 2 5 Andererseits sieht sich das Rechtsprinzip der Gefahrvermeidungspflicht mit der Wirklichkeit konfrontiert, daß sich nicht jedes rechtsgutgefährdende Verhalten vermeiden läßt, wenn persönliche Handlungsfreiheit und Verwirklichung des Gemeinwohls gewährleistet bleiben sollen. Deshalb muß es der Rechtsordnung, auch im Rahmen des grundrechtlich gewährleisteten Rechtsgüterschutzes, vorbehalten sein, den von gefährlichen Handlungen, Unternehmungen und Einrichtungen erwarteten Nutzen höher zu bewerten als den Nachteil damit notwendigerweise verbundener Gefahren. Der Umstand mangelnder Vermeidbarkeit von Rechtsgutgefährdungen setzt dem Rechtsprinzip der Gefahrvermeidungspflicht Grenzen. 26 Die Berücksichtigung der Unvermeidbarkeit von 21 Zur staatlichen Schutzpflicht die Darlegungen und Nachweise zur verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung und zur reichhaltigen Literatur bei Isensee, aaO, § 111, Rn. 1, 3, 89, 77 ff., 92, 103 f. und 116, Nachw. insb. Rn. 3 Fn. 6 und Rn. 19 Fn. 38 sowie bei Stern, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 1992, § 109 Rn. 59f. und Bethge, aaO, 19 (Fn. 67) und 50 (Fn. 294). Ferner Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1987, Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, Eckart Klein, NJW 89, 1633 ff., Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992. 22 Dazu Isensee, aaO, § 111 Rn. 62 ff. sowie Bethge und Weber-Dürer (Fn. 20). Zum „Grundrechtseingriff' im klassischen Sinne Isensee, aaO, § 111 Rn. 61. 2 3 Isensee, aaO, § 111 Rn. 63. 24 So zum Haftungsrecht Deutsch (Fn. 18), Rn. 203. Siehe auch bei Leisner, VVDStRL 20 (1963), 185/205. 25 Zum Begriff der Gefahrvermeidungspflicht als gefährdungsbezogener Verhaltenspflicht Larenz/Canaris (Fn. 14), § 75 II 3 b (S. 365 f.) und § 76 III d. Sie wird dort im Rahmen des Haftungsrechts als Grundlage zur Bestimmung von Verhaltensunrecht verstanden. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um eine dem gefährdungsbezogenen Haftungsrecht vorausgesetzte gefahrenrechtliche Pflicht. 2 6 Zu Gefahr und Vermeidbarkeit Deutsch (Fn. 18), Rn. 197 und 216. Ferner Müller-Erzbach, AcP 106 (1910), 309/365 ff. und Larenz/Canaris, aaO, § 75 I.

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Gefahren ist der zweite Zweck des Gefahrenrechts. 27 Es ist das Regelungsproblem und die Regelungsaufgabe des Gefahrenrechts, das Dilemma von „Gefahr und Vermeidbarkeit" durch eine flexible Handhabung zu lösen. 3. Die nachfolgende Erörterung beschäftigt sich nicht mit den gefährdungsbezogenen „Grundrechtseingriffen" des Staates und den spezifisch darauf gerichteten Rechtsmaterien und Verfahren des öffentlichen Rechts. Vielmehr soll es um die Normstrukturen des Gefahrenrechts in dem Bereich gehen, in dem die Pflicht des Staates zum Rechtsgüterschutz in Fällen einer rechtlich zulässigerweise unvermeidbaren Gefahrschaffung seine einfachrechtliche Ausgestaltung erfährt. Es handelt sich um den grundsätzlich dem Deliktsrecht zugeordneten Fragenbereich einer Gefahrenverantwortung von Gefahrenverursachern in den Fällen einer rechtlich zulässigerweise notwendigen Gefahrschaffung. Nichtsdestoweniger bildet hierfür die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zum Rechtsgüterschutz die rechtsprinzipielle Grundlage. Traditioneller und grundsätzlicher „Schauplatz" des Gefahrenrechts ist allerdings das bürgerliche Deliktshaftungsrecht, namentlich der allgemeine Deliktstatbestand des § 823 Abs. 1 BGB. Damit ist das schon angesprochene Problem bezeichnet. Rechtsdogmatik und Rechtspraxis zur deliktsrechtlichen Gefahrenverantwortung sind auf das bürgerliche Deliktshaftungsrecht und auf das dort grundsätzlich geltende Verschuldensprinzip als Haftungsprinzip fixiert. Auf dieser Grundlage haben sich nicht die rechtsdogmatischen Voraussetzungen schaffen lassen, um eine über variable, auch gänzlich von Verschuldenselementen absehende Haftungsregelungen hinausgreifende allgemeine Deliktsordnung gefahrschaffenden Verhaltens zu entwickeln und ein den jeweiligen Haftungsregelungen vorausliegendes rechtsfunktional eigenständiges Gefahrenrecht herauszubilden. Zunächst vermag allein schon eine genauere Betrachtung der wesentlichen gefahrenrechtlichen Haftungsprinzipien zu vergegenwärtigen, daß den jeweiligen Haftungsregelungen ein rechtsfunktional und normstrukturell eigenständiges Gefahrenrecht vorausgeht. Aus der Sicht eines solchen Gefahrenrechts stellt sich das Prinzip einer gefährdungsbezogenen Verschuldenshaftung lediglich als eine Variable im Bereich der an das Gefahrenrecht anknüpfenden jeweiligen Haftungsregelungen dar. Die Prinzipien der Gefahrenverantwortung sind von den jeweiligen Haftungsprinzipien zu trennen.

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Deutsch, aaO, Rn. 197. Zu der deshalb im Gefahrenrecht vorzunehmenden zweckrationalen Abwägung bzw. Opportunitätsentscheidung unter Verwendung des Begriffs der „Zulässigkeit" einer Gefahrschaffung Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, 1963, S. 120 f.

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II. Prinzipien der Gefahrenverantwortung 1. Vielfach stellt sich heute die Frage einer haftungsauslösenden Gefahrenverantwortung bei zulässigerweise unvermeidlich gefahrschaffenden Einrichtungen, deren Benutzung massenhaft und in alltäglicher Angewiesenheit geschieht. Die immer vorhandene dispositionelle Gefährlichkeit öffentlicher Straßen ist hierfür ein augenfälliges Beispiel. 28 Deshalb ist es ausgehend von solchen signifikanten Fällen eine vermutlich weit verbreitete Einstellung, daß ein stets auch durch die unvermeidbare Gefährlichkeit solcher Einrichtungen mitverursachter Schaden an Rechtsgütern die eigene Risikozuständigkeit der Benutzer überfordere und eine Risikoübernahme des Einrichtungsträgers verlange. Es handelt sich um das sozialethische Phänomen, für die aufgrund allgemeiner Lebensrisiken entstehenden Unfallschäden aus Gründen der sozialen Existenzsicherung von Geschädigten einen Ausgleich darin zu suchen, daß eine wie auch immer rechtlich ausgestaltete Risikoverlagerung auf die Allgemeinheit stattfindet. Einschlägige Beobachtungen zur Entwicklung der Gesetzgebung und zu Tendenzen in der Rechtspraxis können die Feststellung rechtfertigen, daß überkommene Haftungsprinzipien, die sachlogisch und rechtsgrundsätzlich von einer primären Schadenszuständigkeit des Geschädigten selbst ausgehen und eine Schadensübernahme durch den Schadensverursacher an besonders geregelte, bestimmte Verantwortungsvoraussetzungen knüpfen, aufgrund gewandelter sozialethischer Anschauungen durch ein „Unfallrecht im sozialen Rechtsstaat" in Frage gestellt werden und in der Rechtspraxis bereits eine kasuelle Modifizierung erfahren haben.29 Es ist „dem sozialstaatlichen Rechtsbewußtsein unserer Zeit zweifelhaft geworden" 30, ob bei einer Zulassung oder Hinnahme von Gefahrenlagen durch die Rechtsordnung hierbei entstehende Unfallschäden überhaupt noch „haftungsrechtlich", d. h. nach Prinzipien geregelt sein sollen und können, die für eine Schadensübernahme durch den Gefahrenverursacher die Verletzung einer bestimmten „Verantwortung" voraussetzen und es im übrigen bei einer Schadenszuständigkeit des Geschädigten selbst belassen. 2. Das positive Recht geht indessen für die außervertragliche Schadenshaftung nach wie vor von der sachlogisch begründeten haftungstheoretischen Grundregel aus, daß nicht jeder Schaden ersetzt wird, daß vielmehr ein Schaden zunächst dem Träger des betroffenen Rechtsgutes selbst wegen dessen eigener Sachzuständigkeit zur Last fällt. 31 Es handelt sich um die Einsicht, daß jeder sein Lebensrisiko grundsätzlich selbst zu tragen hat (casum sentit dominus).32 Danach gilt haftungstheoretisch, daß das „allgemeine Lebensrisiko" einen „negativen Zurechnungsgrund" 28

Zur Gefahrschaffung bei öffentlichen Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung grundsätzlich Urt. BGH 30. 4. 53, BGHZ 9, 373 ff.; zur aktuellen Gefahrendisposition öffentlicher Straßen Bartlsperger (Fn. 17), S. 37 ff. 29 Kötz, Deliktsrecht, 7. Aufl. 1996, Rn. 33 ff. 30 Kötz, aaO, Rn. 34. 31 Deutsch (Fn. 18), Rn. 1 ff., Larenz/Canaris (Fn. 14), § 75 11 und 2 a. 32 Deutsch, aaO, Rn. 1, Larenz/Canaris, aaO, § 75 I 2 a.

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darstellt, kraft dessen Gefahren und Risiken für Rechtsgüter im Schadensfalle nicht von vornherein dem Schadensverursacher zugerechnet werden. 33 Das Haftungsrecht gewährt also keine Garantie der Person und des Vermögens.34 Vielmehr erfolgt die Beantwortung der Haftungsfrage nach dem Prinzip, daß die Übernahme eines Schadens durch den Verursacher stets einen besonderen Rechtsgrund verlangt, den man als haftungsrechtliche Verantwortung bezeichnen kann. 35 Die Rechtswissenschaft kennt zwar auch gegensätzliche theoretische Ansätze, wonach es als „natura aequum" angesehen wird, daß niemand „sich mit dem Schaden eines anderen bereichern dürfe". 36 Aber die rechtliche Positivierung einer derartigen, aus der Epoche des Naturrechts stammenden „Grundwahrheit" im Haftungsrecht scheidet an der dem Recht vorgegebenen Wirklichkeit, daß mit einer generellen Haftungsübernahme jedes verursachten Schadens, also auch jedes nur mittelbar infolge eines gefährlichen oder risikobehafteten Verhaltens verursachten Schadens, alles Handeln und alle Unternehmung erstickt würde. 37 Da die persönliche Lebensentfaltung und die Verwirklichung des Gemeinwohls in vielen Fällen unvermeidlich mit Gefahren oder Risiken verbunden sind, wäre eine generelle Regelung, die gefährliches oder risikobehaftetes Handeln verbieten oder mit einer unbedingten Haftungsverantwortung verknüpfen würde, utopisch.38 Die Entscheidung über die Zulässigkeit und die Haftungsverantwortung gefährlicher oder risikobehafteter Handlungen, Unternehmungen oder Einrichtungen verlangt von der Rechtsordnung eine Risikoabwägung zwischen möglichen Schäden und der Bedeutung des Nutzens. Es handelt sich um die spezifischen Vorgänge rechtlicher Gefahrenbewertung, die einem rechtsfunktional eigenständigen Gefahrenrecht zugeordnet sind. 3. Am weitesten geht die rechtliche Gefahrenbewertung bei der durch die mangelnde Vermeidbarkeit von Gefahren gebotenen flexiblen Handhabung des staatlichen Rechtsgüterschutzes, wenn sie sogar den Eintritt potentieller Rechtsgutgefährdungen um des Vorteils eines allgemeinen Nutzens der betreffenden Gefahrschaffung willen als unvermeidlich erachtet und akzeptiert. Unter solchen Voraussetzungen verbleibt der rechtlichen Gefahrenbewertung zur Wahrung des Rechtsgüterschutzes lediglich die Möglichkeit, den Gefahrenverursacher wenigstens zu einer prinzipiellen und umfassenden Gefahrtragung, also zur Übernahme von Schäden im Wege einer Gefährdungshaftung zu verpflichten. Die sachlichen Gründe für eine solche weitgehende Gefahrenverantwortung bzw. Gefahrenrege33 Deutsch, aaO, Rn. 201. Zum „allgemeinen Lebensrisiko" ferner Mädrich, Das allgemeine Lebensrisiko, 1980 und Deutsch, in: Festschrift Günther Jahr, 1993, S. 251. 34 Deutsch, aaO, Rn. 2. 3 5 Deutsch, aaO, Rn. 3. 3 6 Müller-Erzbach, AcP 106 (1910), 304/309f. unter Hinweis auf Christian Wolff und naturrechtliche Auffassungen. 37 Müller-Erzbach, aaO, 310.

38 Deutschi Fn. 18), Rn. 218; ferner Larenz/Canaris

(Fn. 14), § 75 I.

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lung zu Lasten des Gefahrenverursachers können vielfältiger Art sein. 39 Jedenfalls steht aber eine Gefährdungshaftung unter dem Vorbehalt einer enumerativen spezialgesetzlichen Regelung.40 Ihr Haftungsprinzip beruht darauf, daß Haftungsgrund bereits die Gefährdung von Rechtsgütern selbst bzw. die Verwirklichung der betreffenden Gefahr ist. 41 Danach hat die gefahrenrechtliche Verpflichtung des Gefahrenverursachers zur prinzipiellen und umfassenden Gefahrtragung ihren Hauptzweck darin, den Verursacher einer „besonderen Gefahr" auch das Gefahrenrisiko tragen zu lassen.42 Es handelt sich um Fälle einer rechtlichen Gefahrenbewertung, in denen die ausschließliche Gefahrtragung und Schadensübernahme durch den Gefahrenverursacher tragender Grund dafür sind, daß die betreffende „besondere Gefahr" überhaupt zugelassen wird. 43 Man kann von einer „Zusammengehörigkeit von Vorteil und korrespondierendem Risiko" sprechen.44 Letztlich können die gesetzlich besonders geregelten Fälle der Gefährdungshaftung einer rechtlichen Gefahrenbewertung zugeordnet werden, die in der betreffenden Verwirklichung einer Gefahr nicht ein „Unrecht", sondern ein „Unglück" sieht und deshalb die Gefahrtragung und Haftung des Gefahrenverursachers als eine Regelung austeilender Gerechtigkeit im Falle des „Unglücks" interpretiert. 45 Möglicherweise werden die Regelungsfälle einer spezialgesetzlichen, enumerativen Gefährdungshaftung als Argument angeführt, um die rechtskonstruktive Trennung rechtlicher Gefahrenbewertung von den jeweiligen Haftungsregelungen zu leugnen und damit ein rechtsfunktional eigenständiges Gefahrenrecht zu verneinen. Denn sicherlich ist bei einer Gefährdungshaftung der Zusammenhang zwischen den Grundsätzen des Gefahrenrechts und dem Haftungsrecht am engsten, weil hierbei ohne weitere Voraussetzungen ein unmittelbarer Schluß von einer prinzipiellen und alleinigen Gefahrtragung des Gefahrenverursachers auf dessen 39

Darstellung und zum Teil kritische Erörterungen bei Müller-Erzbach, AcP 106 (1910), 309/346 f., 352 ff. und 360ff., Larenz/Canaris, aaO, § 8412 a und 2 b, Deutsch, aaO, Rn. 24 und 634 ff., Kreuzer, Prinzipien des deutschen außervertraglichen Haftungsrechts, in: Pfister/ Will (Hg.), Festschrift Werner Lorenz, 1991, S. 123/129ff.; zur Unbestimmtheit des Gefahrenbegriffs in dem Zusammenhang auch Leisner, VVDStRL 20 (1963), 185/222 f. 40 Larenz/Canaris, aaO, § 8411, Kötz (Fn. 29), Rn. 334 ff. 41 Müller-Erzbach, AcP 106 (1910), 309/334f., Larenz/Canaris, aaO, § 84 I 3, Deutsch (Fn. 18), Rn. 9 ff., Kötz, aaO, Rn. 333. 42 Zu den rechtspolitischen und ökonomischen Begründungen der Gefährdungshaftung, insbesondere zu dem weiteren Zweck einer hierdurch geförderten Schadensprävention, Kötz, aaO, Rn. 38 ff. und 340 ff. sowie ders., Ziele des Haftungsrechts, in: J. F. Bauer u. a. (Hg.), Festschrift Ernst Steindorff, 1990, S. 643/652ff.; ferner schon Müller-Erzbach, aaO, 368. Kritisch zur ökonomischen Analyse der Gefährdungshaftung und zu deren Präventionszweck Larenz/Canaris, aaO, § 76 III 4 h und § 841 2 f. und Deutsch, aaO, Rn. 638. 43

Deutsch, aaO, Rn. 636. 44 Larenz/Canaris (Fn. 14), § 841 2 a.

45 So unter Bezugnahme auf Esser, Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung 1969, S. 105 ff. die Erörterung bei Kötz (Fn. 42), 643 / 660 f. und Larenz/Canaris, aaO, § 841 2 c; besonders deutlich und nachdrücklich gegen eine verteilungsgerechte Generalisierung der Gefährdungshaftung Leisner, VVDStRL 20 (1963), 185/202 und 239f.

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ausschließliche (Gefährdungs-)Haftung erfolgt. Man mag deshalb dazu neigen, die Fälle einer alleinigen Gefahrtragung des Gefahrenverursachers als Ergebnis eines logischen Rückschlusses von einer spezialgesetzlichen Gefährdungshaftung anzusehen, also insofern das Verhältnis von Gefahrenrecht und Haftungsrecht umzudrehen. Solche Überlegungen können aber nichts an der rechtskonstruktiven Logik ändern, daß Grundlage einer spezialgesetzlichen Gefährdungshaftung eine vorausgegangene rechtliche Gefahrenbewertung ist, die betreffenden Fälle einer „besonderen Gefahr" nur in Verbindung mit einer prinzpiellen und umfassenden Gefahrtragung des Gefahrenverursachers als unvermeidbar zu akzeptieren und zuzulassen. Auch der Gefährdungshaftung geht auf solche Weise eine rechtliche Gefahrenbewertung als rechtsfunktional eigenständiger Vorgang eines Gefahrenrechts 46

voraus. Schließlich ist in dem Zusammenhang das Prinzip der Gefährdungshaftung gegenüber möglichen Annahmen klarzustellen, die spezialgesetzlichen Regelungen einer Gefährdungshaftung begründeten eine bloße „Kausalhaftung" des betreffenden Gefahrenverursachers für „Zufälle" und beruhten deshalb insofern nicht auf einer rechtlichen Gefahrenbewertung, als sie einen Unfallschaden nicht von zufälligem Geschehen abgrenzten, also keine Zurechnung einer Gefahr bzw. eines Schadens zu einem zweckhaften Willen des Gefahrenverursachers vornähmen. 47 Demgegenüber ist festzuhalten, daß das Prinzip der Gefährdungshaftung keineswegs einer „reinen" naturwissenschaftlichen Schadenskausalität folgt und damit im Tatsächlichen verhaftet bleibt, sondern ebenfalls auf einer gefahrenrechtlichen Weitentscheidung der Rechtsordnung beruht, die betreffenden „besonderen Gefahren" einem willentlichen zweckhaften Verhalten des Gefahrenverursachers zuzurechnen. 48 Seine Besonderheit besteht lediglich darin, daß insofern die betreffenden Unfälle bzw. Schadensereignisse dem Gefahrenverursacher deshalb zugerech46 Insofern, aber auch nur insofern erweisen sich die „ökonomischen Analysen des Haftungsrechts", insbesondere der Gefährdungshaftung (Kötz, Fn. 29, Rn. 340 ff., Blaschczok, Gefährdungshaftung und Risikozuweisung, 1993, S. 7 ff. und 141 ff.) als bemerkenswert und zutreffend, wenn sie davon ausgehen, daß den Haftungsprinzipien sowohl der Gefährdungshaftung als auch einer verhaltensbezogenen Deliktshaftung Gefahrenbewertungen und gefahrenrechtliche Entscheidungen vorausgehen und daß die hierbei erfolgende Abwägung zwischen einer Gefahrtragung von betroffenen Rechtsgutträgern und Gefahrenverursachern sich als ökonomische Risikoabwägung, insbesondere als ökonomischer Steuerungsvorgang mit Präventionszwecken, beurteilt werden. Die von Deutsch (Fn. 18, Rn. 638) an der „ökonomischen Analyse des Haftungsrechts" kritisierte „Negierung der Steuerungsfunktion des Rechts" erscheint insofern keineswegs zwingend. Die „Steuerungsfunktion des Rechts" wird nämlich bei einer „ökonomischen Analyse des Haftungsrechts" nur bereits auf das Gefahrenrecht vorverlagert. Weniger strikt, wenigstens zur gefährdungsbezogenen Haftung für materielle Schäden, ist die Kritik von Larenz/Canaris, aaO, § 76 III 4 h. 47 Zum Begriff der rechtlichen Zurechnung als ein „Urteil über die Frage, ob ein Geschehen Tat eines Subjekts" und „die eigene Tat vom zufälligen Geschehen abzugrenzen ist", siehe Larenz, Hegels Zurechnungslehre, 1927, Neudruck 1970, S. 60 ff. Zur haftungsrechtlichen Zurechnung als Wertentscheidung der Rechtsordnung über eine Haftungs- bzw. Gefahrenverantwortung Deutsch (Fn. 19), Rn. 84 ff. und 114. 48 Hierzu und zum folgenden Larenz, aaO, S. 100 ff.

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net werden, weil sie in seinen „Herrschaftsbereich" fallen, der willentlich und zweckhaft mit „besonderen Gefahren" für andere Rechtsgutträger verbunden ist. 49 Es wird auf die Willensfähigkeit des Gefahrenverursachers abgestellt, sich einen Herrschafts- und Willensbereich schaffen zu können, in dem fremde Rechtsgüter gefährdet werden. Die Gefährdungshaftung resultiert somit durchaus aus einer gefahrenrechtlichen Wertung, wonach eine Gefahrenlage dem betreffenden Gefahrenverursacher nicht bloß kausal, sondern teleologisch zugerechnet wird. Allerdings stellt sie hierbei nicht auf ein ganz bestimmtes willentlich zweckhaftes Verhalten des Gefahrenverursachers, nicht auf eine bestimmte „Tat" und einen bestimmten Willen desselben ab, die Realisierung einer willentlich und zweckhaft geschaffenen Gefahr in einem Schadensereignis noch durch Maßnahmen der Gefahrbeherrschung abwenden zu können. Vielmehr folgt das Zurechnungsprinzip der Gefährdungshaftung der gefahrenrechtlichen „Teleologie" eines „besonders gefährlichen" und deshalb voll gefahrenverantwortlichen „Willensbereichs". In diesem besonderen teleologischen Prinzip der Gefahrenzurechnung, das unabhängig von einem ganz bestimmten gefährlichen Verhalten auf die „Verwirklichung einer besonderen Sach- oder Betriebsgefahr" abstellt, unterscheidet sich das gefahrenrechtliche Prinzip der Gefährdungshaftung von demjenigen des regelmäßig geltenden Deliktsrechts. 4. Das im übrigen, d. h. von den spezialgesetzlichen Fällen einer Gefährdungshaftung abgesehen, regelmäßig in den Fällen von zulässigerweise unvermeidbaren Gefahrenlagen geltende Prinzip einer deliktsrechtlichen Gefahrenverantwortung wird gemeinhin mit dem Prinzip des bürgerlichen Deliktshaftungsrechts, also mit dem Haftungsprinzip einer Rechtswidrigkeits- und Verschuldenshaftung gleichgesetzt.50 Aber weder eine solche Gleichsetzung deliktsrechtlicher Gefahren Verantwortung mit dem haftungsrechtlichen Verschuldensprinzip der bürgerlichen Deliktshaftung ist zutreffend noch findet das Prinzip deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung überhaupt seine rechtskonstruktive Grundlage unmittelbar und allein in den Regelungen des bürgerlichen Deliktshaftungsrechts. Der allgemeine Deliktstatbestand des bürgerlichen Deliktshaftungsrechts erfaßt als solcher lediglich die unmittelbare „Verletzung" von Rechtsgütern.51 Eine solche erfolgt zum einen bei erfolgsgerichteten „Eingriffen" in Rechtsgüter. Dabei liegt der Deliktstatbestand in dem Verstoß gegen ein „Verhaltensgebot" bzw. in der Verletzung einer Erfolgs Vermeidungspflicht. 52 Der unmittelbare erfolgsgerichtete 49 Larenz, aaO, S. 103 f. 50 Zur Deliktshaftung Larenz/Canaris (Fn. 14), § 75. Zum deliktsrechtlichen Prinzip einer Rechtswidrigkeits- und Verschuldenshaftung Larenz/Canaris, aaO, § 75 I 2 und § 75 I I 2 und 3 sowie zur Unterscheidung von Delikts- und Gefährdungshaftung § 84 I 1 a und § 84 I 3; ferner Deutsch (Fn. 18), Rn. 5 und 21 (Verschuldenshaftung) sowie Rn. 226 ff. (Rechtswidrigkeitshaftung) . 51

Hierzu und zum folgenden bei Larenz/Canaris, ferner Deutsch, aaO, Rn. 237 ff. 52 Larenz/Canaris, aaO, § 75 II 3 b. 65*

aaO, § 75 II 3 sowie § 76 III 1 und 2;

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„Eingriff 4 in Rechtsgüter begründet grundsätzlich schon ohne weiteres wegen eines drohenden Schadens ein Gebot zu dessen Vermeidung. Bereits die Schutzwürdigkeit des betreffenden Rechtsgutes gibt hierbei den Ausschlag für die Verwirklichung eines Deliktstatbestandes. Insofern kann man von „Erfolgsunrecht" oder von „erfolgsbezogener Rechtswidrigkeit" sprechen.53 Zum zweiten erfaßt der allgemeine Deliktstatbestand des bürgerlichen Deliktshaftungsrechts Fälle einer Gefahrschaffung, deren Realisierung in einem Schadensereignis nicht mehr durch abwehrende Maßnahmen der Gefahrbeherrschung von Seiten des Gefahrenverursachers vermieden werden kann. 54 Unter solchen Voraussetzungen gilt im Schadensfalle allein schon die Gefahrschaffung als unmittelbare Rechtsgutverletzung. Ist dies fahrlässig geschehen, so handelt es sich um eine fahrlässige „Verletzung" des betreffenden Rechtsgutes. Es liegt ein gefährliches Tun vor und, unbeschadet bloßer Fahrlässigkeit eine unmittelbare „Verletzung" des betreffenden Rechtsgutes. Das Delikt besteht bereits in dem gefährdenden Tun. 55 Von den angeführten, im allgemeinen Deliktstatbestand des bürgerlichen Rechts unmittelbar und voraussetzungslos geregelten Fällen ist der hier interessierende Deliktstatbestand zu unterscheiden, der in den Fällen einer zulässigerweise unvermeidbaren Gefahrenlage nicht schon durch die Schaffung einer Gefahrenlage, sondern erst durch die pflichtwidrige Unterlassung einer möglichen Gefahrbeherrschung und durch eine hierdurch erfolgende mittelbare „Beeinträchtigung" von Rechtsgütern begründet wird. In diesem Falle ist nicht bereits die Rechtsgutgefährdung durch die Rechtsordnung verboten, also rechtswidrig. Vielmehr erkennt die Rechtsordnung die betreffende Gefahrschaffung wegen des überwiegenden „Nutzens" der betreffenden Handlung, Unternehmung oder Einrichtung und mit Rücksicht auf die Möglichkeit des Gefahrenverursachers, eine Realisierung der Gefahr noch vermeiden, also durch Maßnahmen der Gefahrbeherrschung verhindern zu können, durchaus als zulässig an. Der Verstoß gegen die Rechtsordnung liegt „in der Herbeiführung einer Gefahr in Verbindung mit der Unterlassung der zur Gefahrenabwehr erforderlichen Maßnahmen44.56 Mit einem solchen Deliktstatbestand einer bloß mittelbaren gefährdungsbezogenen „Beeinträchtigung44 von Rechtsgütern ist „das Deliktssystem des Gesetzes um einen weiten, wichtigen Bereich von Deliktstatbeständen ergänzt und das System abgerundet44 worden. 57 Voraussetzung einer deliktsrechtlichen Gefahrenverantwortung ist dabei eine Gefahrbeherrschungspflicht des Gefahrenverursachers, deren Verletzung erst den Deliktstatbestand verwirklicht. 58 Man kann von „Verhaltensunrecht 44 oder „gefähr53 Larenz/Canaris, 54

aaO, § 75 I I 3 a bzw. Deutsch (Fn. 18), Rn. 237.

Dazu v. Caemmmerer, Wandlungen des Delilktsrechts, in: v. Caemmerer u. a. (Hg.), Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben - Festschrift zum Hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, 1960, S. 49/71 ff.; ferner Deutsch, aaO, Rn. 94ff. bzw. 97 ff. 55 v. Caemmerer, aaO, S. 49/75. 56 v. Caemmerer, aaO. 57 v. Caemmerer, aaO, S. 49/80 f. mit rechtsvergleichenden Hinweisen zum schweizerischen, französischen und US-amerikanischen Recht (aaO, S. 79 ff.).

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dungsbezogener Rechtswidrigkeit" sprechen.59 Eine Verletzung der betreffenden Verhaltenspflicht begründet nicht erst die Rechtswidrigkeit der Schadensverursachung, sondern sie löst bereits die Frage des Deliktstatbestandes.60 Es läßt sich also insofern nicht zwischen Deliktstatbestand und Rechtswidrigkeit der Schadensverursachung unterscheiden; vielmehr fallen beide zusammen. Genauer besehen knüpft die betreffende Deliktshaftung an eine den Haftungsregelungen vorausliegende, einer allgemeinen gefahrenrechtlichen Deliktsordnung angehörende Gefahrbeherrschungspflicht an. Diese ist das Ergebnis einer rechtlichen Gefahrenbewertung im Rahmen eines den einschlägigen Haftungsregelungen vorgeordneten rechtsfunktional eigenständigen Gefahrenrechts. Danach haben Unfallschäden, die im Zusammenhang mit zulässigerweise gefährlichen oderrisikobehafteten Handlungen, Unternehmungen oder Einrichtungen als mittelbare „Beeinträchtigung" von Rechtsgütern eintreten, besondere deliktsrechtliche Haftungsvoraussetzungen, die sich aus dem sachlogisch gebotenen Umgang der Rechtsordnung mit unvermeidbar gefährlichem oder risikobehaftetem Verhalten erklären. Die Abgrenzung zwischen der grundsätzlich eigenen Risikozuständigkeit des Trägers eines Rechtsguts einerseits und der haftungsrechtlichen Schadensübernahme durch den Gefahrenverursacher andererseits erfolgt insofern nach den Pflichtanforderungen, welche die Rechtsordnung an die Gefahrenbeherrschung des letzteren stellt und nach denen sie die Zurechnung eines Schadens an diesen beurteilt. Es handelt sich um die spezifisch gefahrenrechtlichen Voraussetzungen einer Deliktshaftung bei Unfallschäden. Danach knüpfen Tatbestand und Rechtswidrigkeitsurteil der Deliktshaftung bei Unfallschäden wegen gefährlichen oder risikobehafteten Verhaltens an die Gefahrenbewertung des betreffenden Verhaltens an. Die Haftung für solche Unfallschäden ist eine Funktion des für den jeweiligen Normbereich geltenden Gefahrenrechts. Eine gefährdungsbezogene Deliktshaftung hat somit ein rechtsfunktional eigenständiges Gefahrenrecht zur Voraussetzung. Erst an die normbereichsspezifischen gefahrenrechtlichen Pflichten zur Gefahrbeherrschung vermögen die Haftungstatbestände anzuknüpfen. 5. Der Zivilrechtsdogmatik muß die Annahme eines rechtsfunktional eigenständigen Gefahrenrechts versagt bleiben, wenn und weil sie die grundsätzliche 58 Larenz/Canaris (Fn. 14), § 75 I 3 a im Unterschied zu einer Deliktstheorie vom „Erfolgsunrecht", die nicht nur durch jeden unmittelbaren „Eingriff' in ein Rechtsgut, sondern auch durch jede mittelbare, aus einem sonstigen Verhalten resultierende „Beeinträchtigung" eines Rechtsguts, wie sie im Zusammenhang mit einer gefährlichen oder risikobehafteten Handlung, Unternehmung oder Einrichtung erfolgen kann, den Tatbestand eines „Erfolgsunrechts" erfüllt sieht und die Frage einer haftungsrechtlichen Verantwortung erst anhand eines Rechtfertigungsgrundes entscheidet, der dem betreffenden Verhalten, vor allem gefährlichen oder risikobehafteten Tätigkeiten, die Rechtswidrigkeit zu nehmen vermag und auf diese Weise eine Haftungsverantwortung ausschließen kann. 59

Larenz/Canaris, aaO, § 75 I I 3 a und b bzw. Deutsch (Fn. 18), Rn. 237. Larenz/Canaris, aaO, § 75 I I 3 c und speziell zur Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflicht Deutsch, aaO, Rn. 71. 60

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Lösung des Prinzips der Gefahrenverantwortung und Gefahrenhaftung undifferenziert in der Festlegung des bürgerlichen Rechts auf das haftungsrechtliche Verschuldensprinzip sieht.61 Dies mag als inhaltlich summarische Formulierung und verkürzte Begriffsbildung hingehen und in der Fixierung der Zivilrechtsdogmatik auf die Haftungsregelungen des bürgerlichen Deliktsrechts eine Erklärung finden. Aber jedenfalls für den gegenständlich interessierenden und praktisch bedeutsamen Bereich der gefährdungsbezogenen Deliktshaftung ist mit der globalen Verwendung des Verschuldensprinzips kaum etwas gewonnen. Denn für den Deliktsbereich, in dem es nicht um unmittelbare Rechtsgutverletzungen, sondern um bloße mittelbare Rechtsgutbeeinträchtigungen aufgrund und infolge einer Gefahrschaffung geht, reduziert sich das Verschuldensprinzip im wesentlichen auf die „Fahrlässigkeit" des Gefahrenverursachers bei Wahrnehmung seiner Gefahrbeherrschungspflicht. Rechtsbegriff und Rechtsfunktion der „Fahrlässigkeit" bedürfen in dem Zusammenhang einer Differenzierung. Wie dargelegt, 62 konstituiert sich im gefährdungsbezogenen Deliktsbereich schon der Deliktstatbestand als solcher in einer Außerachtlassung objektiv gebotener Sorgfalt des Gefahrenverursachers im Umgang mit der betreffenden Gefahr, nämlich in der Verletzung einer Gefahrbeherrschungspflicht. Er bezieht schon den Fahrlässigkeitsbegriff insofern ein, als es um die sogenannte „äußere Sorgfalt" bzw. die „objektivierte Fahrlässigkeit" bei Wahrnehmung der Gefahrbeherrschungspflicht geht. Danach kennt die gefährdungsbezogene Deliktshaftung weder eine über den Deliktstatbestand hinausgehende, im Deliktsaufbau eigenständige Rechtswidrigkeitsvoraussetzung, noch kommt es auf ein „Verschulden" bei der Gefahrbeherrschung an, soweit unter dem „Verschulden" nicht nur eine Außerachtlassung der bloßen sogenannten „inneren Sorgfalt" im Sinne individuell konkreter Verschuldensanforderungen verstanden wird. Das objektivierte „Verschulden" des Gefahrenverursachers beim Umgang mit der Gefahr ist identisch mit einer Verletzung der ihm obliegenden Gefahrbeherrschungspflicht, die sowohl Rechtswidrigkeit wie Tatbestand der gefährdungsbezogenen Deliktshaftung begründet. Danach erfährt bei der gefährdungsbezogenen Deliktshaftung das angebliche „Verschuldensprinzip" eine Aufspaltung in die bereits tatbestandsbegründende Verletzung der sogenannten „äußeren Sorgfalt" bzw. der „objektivierten Fahrlässigkeit", die mit einer Verletzung der betreffenden Gefahrbeherrschungspflicht identisch ist, und in eine gegebenenfalls, wie nach dem bürgerlichen Deliktshaftungsrecht, letztlich erst haftungsbegründende Verletzung der sogenannten „inneren Sorgfalt". Hierbei kann die letztere erfahrungsgemäß kaum mehr eine praktische Bedeutung beanspruchen.63 61 Siehe bei Larenz/Canaris, aaO, § 75 I 1 und genauer zum dort interpretierten Verschuldensprinzip § 75 I 2. Zum Verschuldensprinzip als deliktsrechtlichem Haftungsprinzip im übrigen bei Deutsch, aaO, Rn. 21 ff. und Kreuzer (Fn. 39), S. 123 /124 f. 62 Oben unter 4 m. Nachw. Fn. 58 f. 63 So und deshalb kritisch gegenüber dem „Verschuldenserfordernis" überhaupt Kötz (Fn. 29), Rn. 118. Demgegenüber zur Gefahr einer „Aushöhlung" des Verschuldenserforder-

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Nicht zuletzt aus der hier gewählten Perspektive einer Verkehrssicherungshaftung und Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflicht für unvermeidbar mit einer Gefahrenlage verbundene öffentliche Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung, wie vornehmlich für öffentliche Straßen, wird deutlich, daß eine undifferenzierte Verwendung des Verschuldensprinzips für die normstrukturelle Analyse der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten nichts zu leisten vermag. Denn es ist nur gegenwärtig die positivrechtliche Lage bzw. maßgebliche Rechtsauffassung, daß für die Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten bei der hoheitsrechtlichen Bereitstellung öffentlicher Einrichtungen die haftungsrechtlichen Regelungen des bürgerlichen Deliktsrechts nach dem allgemeinen Deliktstatbestand des § 823 Abs. 1 BGB gelten, sei es unmittelbar oder mittelbar als Rechtsgrund einer Amtspflicht im Sinne der Amtshaftungsregelungen von § 839 BGB, Art. 34 GG. 6 4 Diese Rechtslage ist aber für eine künftige spezielle und andere gesetzliche Haftungsregelung dispositiv. Vor allem kann sie künftig durch eine echte unmittelbare Staatshaftung ersetzt werden, die sachlogisch und rechtskonstruktiv gar keine individuell verschuldensabhängige Deliktshaftung sein kann. 65 Deshalb ist jedenfalls bei der deliktsrechtlichen Verkehrssicherungshaftung für hoheitsrechtlich bereitgestellte öffentliche Einrichtungen, wie die öffentlichen Straßen, das Verschuldensprinzip lediglich ein aktuelles und dispositives, aber keinesfalls ein normstrukturell grundlegendes und wesentliches Haftungsprinzip. Eine undifferenzierte Verwendung des Verschuldensprinzips im bürgerlichen Deliktsrecht verkennt, daß dieses Prinzip jedenfalls bei der gefährdungsbezogenen Deliktshaftung zerfällt in ein Prinzip der Haftungszurechnung nach Maßgabe einer Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflicht, die als Zurechnungsprinzip nisses Larenz/Canaris (Fn. 14), § 76 III 7. Siehe zur Objektivierung des Fahrlässigkeitsmaßstabs auch Kreuzer (Fn. 39), S. 123/126. 64 Nachw.Fn. 11 f. Die unterschiedliche Ausgestaltung der spezifischen Haftungsregelungen unmittelbar nach dem allgemeinen Deliktstatbestand oder als Amtshaftung hat ihren Grund in der sogenannten Organisationsakttheorie der maßgeblichen Rechtsprechung (Urt. BGH 30. 4. 53, BGHZ 9, 373/388 f., 21. 6. 79, VersR 79, 1055 und 10. 7. 80, VersR 80, 946), wonach zwar Rechtsgrund für die betreffende Verkehrssicherungspflicht stets § 823 Abs. 1 BGB sei, es aber in die Organisationskompetenz der jeweiligen Verwaltung falle, ob sie für die so begründete Verkehrssicherungspflicht unmittelbar nach dem allgemeinen Deliktstatbestand oder nach den Amtshaftungsvorschriften haften wolle. Dazu Bartlsperger (Fn. 17), S. 177 f. sowie kritisch ders. y DVB1. 73, 465ff. und DÖV 82, 469/471 ff.; ferner bei Ossenbühl (Fn. 2), 2. Teil III 1 e (3). 65 Zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes für ein Staatshaftungsgesetz nunmehr Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG. Das lediglich aus bundesstaatsrechtlichen Kompetenzgründen gescheiterte Staatshaftungsgesetz von 1981 (Urt. BVerfG 19. 10. 92, BVerfGE 61, 149/174, 201) hatte schon einmal die Verkehrssicherungspflicht für öffentliche Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung aus dem bürgerlichen Deliktsrecht herausgenommen und „als eine Pflicht des öffentlichen Rechts" einer individuell verschuldensunabhängigen Staatshaftung unterstellt. Siehe insb. § 17 Abs. 3 und § 2 Abs. 1 S. 2 Staatshaftungsgesetz v. 26. 6. 81 (BGBl. I S. 553).

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einer allgemeinen gefährdungsbezogenen Deliktsordnung Geltung beansprucht, und in ein engeres eigentliches Verschuldensprinzip, das lediglich für den besonderen Bereich des bürgerlichen Deliktshaftungsrechts letztlich die Begründung einer Haftung mit nur noch eingeschränkter praktischer Bedeutung auch noch an die Verletzung individuell konkreter „innerer" Sorgfaltsanforderungen knüpft. 6. Zusammengefaßt liegt dem jeweiligen Deliktshaftungsrecht für Unfallschäden aufgrund und infolge einer zulässigerweise unvermeidbaren Gefahrschaffung, d. h. gegenwärtig auch dem nach maßgeblicher Auffassung für alle Fälle einer gefährdungsbezogenen Deliktshaftung umfassend und einheitlich geltenden bürgerlichen Deliktshaftungsrecht, ein der allgemeinen Deliktsordnung zugehöriges Prinzip der Gefahrenzurechnung voraus. Danach knüpft der Tatbestand einer gefährdungsbezogenen Deliktshaftung an die Verletzung einer dem Gefahrenverursacher aufgrund der staatlichen Verpflichtung zum Rechtsgüterschutz obliegenden Gefahrbeherrschungspflicht an. Dieses Prinzip deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung ist Gegenstand eines rechtsfunktional eigenständigen Gefahrenrechts, nach dem allein sich deshalb auch die Normstrukturen der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten bestimmen. Das Verschuldensprinzip des bürgerlichen Deliktsrechts dagegen hat als normstrukturelles Prinzip für die Bestimmung von Inhalt und Umfang der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten auszuscheiden. Mit diesen Feststellungen ist die grundlegende und wesentliche normstrukturelle Bedeutung bezeichnet, die einem den Delikthaftungsregelungen vorausliegenden, rechtsfunktional eigenständigen Gefahrenrecht zukommt. Die deliktsrechtliche Gefahrenverantwortung beurteilt sich ausschließlich nach dem Prinzip objektiver Rechtswidrigkeit beim Umgang des Gefahrenverursachers mit der von ihm geschaffenen Gefahrenlage; sie wird durch die Verletzung der jeweiligen Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten des Gefahrenverursachers begründet. Im Geltungs- und Anwendungsbereich des bürgerlichen Deliktshaftungsrechts mag letztlich für die Begründung einer Haftung des Gefahrenverursachers auch noch eine Verletzung individuell konkreter Verschuldensanforderungen des letzteren gefordert und so der staatliche Schutz von Rechtsgütern über eine Gefahrenverantwortung für rechtswidriges Gefahrenverhalten hinaus eingeschränkt sein. Aber mit Inhalt und Umfang der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten hat dies jedenfalls nichts zu tun. Der eingangs angesprochene Stand von Rechtspraxis und Rechtsdogmatik zu Inhalt und Umfang der Verkehrssicherungspflichten, der in seiner zugegebenermaßen starken Einzelfallbezogenheit kaum mehr Evidenz zu gewährleisten vermag und einer gerade hier geforderten technischen Normkonkretisierung gänzlich unzugänglich ist, 66 beruht auf einer Vermengung der rechtsfunktional eigenständigen Gefahrbeherrschungspflichten mit dem lediglich für das bürgerliche Deliktsrecht spezifischen Prinzip einer auch individuell konkrete Sorgfaltsanforderungen des Gefahrenverursachers berücksichtigenden n n

n 1 f.

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Verschuldenshaftung. Demgegenüber ist festzuhalten, daß die nach dem bürgerlichen Deliktshaftungsrecht letztlich haftungsbegründenden individuell konkreten Verschuldenselemente, soweit diese überhaupt noch praktische Bedeutung beanspruchen können, jedenfalls von den einer allgemeiner Deliktsordnung zugehörigen Normstrukturen der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten zu trennen sind. Danach gilt es das Rechtsprinzip und die Sachstrukturen klarzustellen, nach denen bzw. aufgrund deren die Rechtsordnung in den Fällen einer zulässigerweise unvermeidbaren Gefährdung von Rechtsgütern bei objektiver Gefahrenbewertung Inhalt und Umfang der den Gefahrenverursachern obliegenden deliktsrechtlichen Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten bestimmt.

I I I . Das Rechtsprinzip deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung 1. Einen bemerkenswerten Versuch, die Gefahrenhaftung aufgrund einer objektiven Gefahrenbewertung zu bestimmen bzw. zu verdeutlichen, unternimmt eine „ökonomische Analyse des Haftungsrechts". 67 Danach wird dem Haftungsrecht normstrukturell eine „Steuerungsfunktion", d. h. eine Anreizfunktion und ein Präventionszweck zur Erreichung des wohlfahrtsökonomischen Zieles einer ökonomischen Gesamteffizienz beigemessen.68 Dies verlangt in den Fällen gefährdungsbezogener Vorgänge, auf der einen Seite die Haftung des Gefahrenverursachers so zu regeln, daß für ihn ein Anreiz zur Haftungsvermeidung, also zur eigenen Gefahrbeherrschung besteht, auf der anderen Seite aber auch die eigene Risikozuständigkeit des von einer Rechtsgutgefährdung Betroffenen so zu bestimmen, daß für diesen ein Anreiz zu eigenen Selbstschutzmaßnahmen bzw. Sorgfaltsanforderungen geschaffen wird. Das gefährdungsbezogene Haftungsrecht sollte danach „so konstruiert sein, daß es denjenigen, der einen Unfall verursacht, immer dann zur Leistung von Schadensersatz verpflichtet, wenn er Sicherungsmaßnahmen unterlassen hat, die - wären sie getroffen worden - den Unfall verhütet und weniger Kosten verursacht hätten als der Unfall selbst."69 Mit anderen Worten sieht es die „ökonomische Analyse des Haftungsrechts" in den Fällen zulässigerweise 67 Dazu schon Fn. 46. Im übrigen Kötz (Fn. 29), Rn. 38 ff. und 119 f. mit empirischen Darlegungen in Rn. 121 ff., ders. (Fn. 42), S. 643/646ff. und 652 ff. sowie weitere Nachw. bei dems. (Fn. 29), Rn. 120. Zu einem ökonomischen Konzept des Schadensrechts besonders auch bei Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 1986, S. 85 ff. und 132 ff. Die „ökonomische Analyse des Haftungsrechts" ist allerdings zunächst und vor allem auf die Gefährdungshaftung bezogen worden; siehe dazu die Nachw. in Fn. 42. 68 Ausdrücklich zur Steuerungsfunktion Kötz (Fn. 29), Rn. 119, 121 ff. und 131 ff. sowie ders. (Fn. 42), 643/646 ff.; zur Steuerungsfunktion des Haftungsrechts als dessen Nebenzweck selbst in einer spezifisch rechtsdogmatischen Erörterung zum Haftungsrecht Deutsch (Fn. 18), Rn. 18 und 907. 69 Insofern zusammenfassend Kötz (Fn. 42), S. 643/648.

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unvermeidbar gefährlicher Handlungen, Unternehmungen oder Einrichtungen als wesentliches Ziel des Haftungsrechts an, das Verhalten der Beteiligten so zu steuern, daß von ihnen alle Schadensereignisse - insbesondere Unfälle - verhütet werden, die zu verhüten wegen des damit verbundenen Gewinnes an gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt sinnvoll ist. Es handelt sich um eine Methode, die Normstrukturen des Haftungsrechts, insbesondere der rechtlichen Gefahrenbewertung, mittels eines gesamtwirtschaftlichen bzw. gesamtgesellschaftlichen Kosten-Nutzen-Vergleichs nach der neueren wohlfahrtsökonomischen Theorie zu analysieren. 70 Die Inhalts- und Umfangsbestimmung der deliktsrechtlichen Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten wird hierbei anhand des Kriteriums rationalisiert, daß die Gefahrbeherrschungspflicht zu einer gesamtwirtschaftlichen Nutzenmehrung führen müsse, andernfalls der Aufwand für Gefahrbeherrschungsmaßnahmen nicht zu rechtfertigen sei. Es erfolgt ein wohlfahrtsökonomischer Opportunitätsvergleich zwischen dem Gefahrbeherrschungsaufwand und dem prognostizierbaren Unfallgeschehen. Rechtsdogmatisch ist an einer solchen „ökonomischen Analyse des Haftungsrechts" bemerkenswert, daß sie unbeschadet ihrer vordergründigen haftungsrechtlichen Betrachtungsebene den rechtlichen Anknüpfungspunkt der Gefahrenhaftung zutreffend aufgreift. Denn es geht ihr insofern um die Bestimmung der gefahrenrechtlichen Verhaltenspflichten auf der einen Seite des Gefahrenverursachers zur Gefahrbeherrschung und auf der anderen Seite des betroffenen Rechtsgutträgers zur Abwendung eigener Risikozuständigkeit. Im Rahmen der Betrachtungsebene des bürgerlichen Deliktsrechts wird die betreffende „ökonomische Analyse" ausdrücklich dazu unternommen, um die Maßstäbe für die sogenannte „äußere Sorgfalt" bzw. die ,4m Verkehr erforderliche Sorgfalt" des Gefahrenverursachers im Sinne von § 276 Abs. 1 S. 2 BGB sowie für die Feststellung eines gegebenenfalls beiderseitigen „Mitverschuldens" von Gefahrenverursacher und Betroffenem im Sinne von § 254 BGB zu bestimmen.71 Dabei handelt es sich um die Inhalts- und Umfangsbestimmung der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflicht des Gefahrenverursachers. Es wird also zutreffend der Blick darauf gelenkt, daß den gefährdungsbezogenen Haftungsregelungen stets ein rechtsfunktional eigenständiges Gefahrenrecht vorausgeht, das die nach dem jeweiligen Haftungsrecht tatbestandsauslösenden Gefahrvermeidungs-, Gefahrbeherrschungs- bzw. Gefahrtragungspflichten erst einmal begründet. Gleichwohl kann im wohlfahrtsökonomischen Grundprinzip der „Gesamteffizienz" kein Rechtsprinzip gesehen werden 72 und in der „ökonomischen Analyse des Haftungsrechts" nicht die für die 70 Zur gesamtwirtschaftlichen bzw. gesamtgesellschaftlichen Kosten-Nutzen-Analyse nach der neueren wohlfahrtsökonomischen Theorie Kiilp/Knappe, Wohlfahrtsökonomie I Die Wohlfahrtstheorien, 1984, S. 1 ff., Rothschild, Ethik und Wirtschaftstheorie, 1992, S. 71 ff., Hanusch, Kosten-Nutzen-Analyse, 2. Aufl. 1994, S. 1 ff., Mühlenkamp, Kosten-Nutzen-Analyse, 1994, Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 1995, S. 41 ff. und Frerich, Verkehrssicherheit und Kosten-Nutzen-Analyse, 1997, S. 2 ff. 7

1 Kötz (Fn. 29), Rn. 119 und 126 f.

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Bestimmung rechtlicher Gefahrenverantwortung maßgebliche Normstruktur erkannt werden. I m vorliegenden Zusammenhang kommt es nicht auf die Einwände und Bedenken an, die sich gegen die „ökonomische Analyse des Haftungsrechts" bereits in der Sache und wegen ihres zweifelhaften Ertrags „an sachhaltigen Argumenten" ergeben. 73 Auch braucht nicht bestritten zu werden, daß die wohlfahrtsökonomische Bewertung gefahrschaffender Handlungen, Unternehmungen und Einrichtungen i m Haftungs- und Gefahrenrecht bemerkenswerte Sacheinsichten i m Hinblick auf dessen ökonomische Gesamteffizienz und Steuerungsfunktion eröffnet. Denn diese beschränken sich jedenfalls auf die spezifisch ökonomische Perspektive, inwiefern eine rechtliche Gefahrenbewertung und das positivrechtlich geltende Gefahrenrecht einen Beitrag zur ökonomischen Gesamteffizienz leisten. Die wohlfahrtsökonomische Theorie und Methode liefert ein ökonomisches Zielfindungsbzw. Zielbewertungsverfahren, das die Kompetenz in Anspruch nehmen kann, Rechtszwecke und rechtliche Regelungen ökonomisch zu beurteilen; 7 4 man kann 72 Auch wenn der Begriff der „Gesamteffizienz" nicht ausschließlich ökonomisch, sondern unter Einbeziehung wertender Elemente in den Kosten-Nutzen-Vergleich definiert wird. Zu Werturteilen bei Anwendung der Kosten-Nutzen-Analyse Mühlenkamp (Fn. 70), S. 13 ff. 73 Zum einen stellt sich das Problem, daß eine wohlfahrtsökonomische Bewertung nicht ausschließlich nach dem Kriterium einer ökonomisch quantifizierbaren Nutzenmehrung erfolgen kann, weil es bei der Gefährdung von Rechtsgütern auch um immaterielle Werte, vor allem von Leben und Gesundheit, geht. Mit guten Gründen wird deshalb bezweifelt, ob der „Mehraufwand an schwieriger Terminologie" nicht außer Verhältnis zum Ertrag der ökonomischen Analyse stehe (so und insofern kritisch Larenz/ Canaris, Fn. 14, § 76 III 4 b und 4 a). Zum zweiten kann die angenommene Steuerungs- und Anreizfunktion sowie ein Präventionszweck des Haftungsrechts bzw. der Gefahrenverantwortung kaum in den nicht seltenen Gefahrensituationen zur Wirkung kommen, in denen das Verhalten von Gefahrenverursachern und betroffenen Rechtsgutträgern unter aktuellen Bedingungen steht, die gar keine Zeit lassen, um ökonomische Verhaltensfolgen rational abzuwägen und „planend zu überdenken" (siehe bei Kötz, Fn. 29, Rn. 131 ff. selbst). Aus der Sicht der „ökonomischen Analyse des Haftungsrechts" wird diesen durchaus eingeräumten Einwänden und Bedenken entgegengehalten, daß in den Fällen einer Gefährdung immaterieller Rechtsgüter und spontanen Gefahrenverhaltens die konkrete ökonomische Rationalität substituiert werden müsse durch strafrechtliche und verwaltungsrechtliche Verhaltensnormen, z. B. straßenverkehrsrechtliche Verhaltensregeln (Kötz, aaO, Rn. 128 ff. und ders., Fn. 42, S. 643/652 ff.). Damit wird indessen die Methode ökonomischer Rationalisierung im wesentlichen und im Grunde aufgegeben zugunsten der spezifisch rechtlichen Gefahrenbewertung. Soweit es sich im übrigen um verwaltungsrechtliche Maßnahmen einer Gefahrensignalisierung handelt, wie bei der straßenverkehrsrechtlichen Signalisierung straßenbaulicher Gefahren, liegt bereits ein haftungsvermeidendes Verhalten zur Wahrnehmung der Gefahrenverantwortung vor (für das Straßenrecht bzw. Straßenverkehrsrecht Bartlsperger, Fn. 17, S. 123 ff., insb. S. 145 f.). 74 Dabei ist die Optimierung im Kosten-Nutzen-Verhältnis selbst das Ziel; sie bestimmt in einem Spektrum beweglicher Ziele und Mittel, was als Effizienz zu gelten vermag. Insofern geht es ihr um Allokations- oder Produktionseffizienz. Dazu Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip, 1971, S. 31 ff., Rothschild (Fn. 70), S. 38 ff. und Eidenmüller (Fn. 70), S. 41 ff., 56 ff. und 158 ff.

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dieses Verfahren mit „Rationalität" gleichsetzen.75 Aber eine Kompetenz, Rechtszwecke durch das Ziel ökonomischer Gesamteffizienz zu ersetzen, kommt der Wohlfahrtsökonomie nicht zu. Sie vermag kein Rechtsprinzip zu begründen und keine rechtlichen Normstrukturen aufzuzeigen. 76 Das Prinzip und die Normstrukturen deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung haben nicht die Erhaltung oder Mehrung eines gesamtwirtschaftlichen bzw. gesamtgesellschaftlichen Nutzens zum Zweck, sondern den individuellen Rechtsgüterschutz. 2. Zutreffend wird zu den „Grundgedanken", die das bürgerliche Deliktshaftungsrecht tragen, festgestellt, das „Grundproblem jeder Deliktsordnung" bestehe „in dem Spannungsverhältnis zwischen Güterschutz und Handlungsfreiheit". 77 Damit ist die schon wiederholt angesprochene Problem- und Spannungslage gemeint, daß es zur Gewährleistung persönlicher Lebensentfaltung und zur Verwirklichung des Gemeinwohls notwendig und unvermeidlich sein kann, Rechtsgutgefährdungen zuzulassen und hierzu eine Risikoabwägung bzw. Opportunitätsentscheidung zwischen möglichen Schäden und der Bedeutung des Nutzens aus gefahrschaffenden Handlungen, Unternehmungen oder Einrichtungen vorzunehmen. 78 Auch wird im rechtlichen Ansatz zutreffend diese Spannungslage im Deliktsrecht als Kollison zwischen „Grundrechten" interpretiert, nämlich als Kollision von „vor allem Art. 2 II GG oder Art. 14 GG auf Seiten des Geschädigten mit Art. 21GG und Art. 14 GG auf Seiten des Schädigers". 79 Hierzu bedarf es allerdings einiger Klarstellungen. Zum einen geht es im Deliktsrecht sowie bei der Bestimmung deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung nicht um eine Kollision von Grundrechten in deren unmittelbarer Rechtsfunktion bei „Grundrechtseingriffen", sondern um die einfachrechtliche Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutze grundrechtlich gewährleisteter Rechtsgüter in „praktischer Konkordanz" mit hier75 Leisner, aaO, S. 23 f. Ein anderes Prinzip ökonomischer Effizienz vermag die Methode einer ökonomischen Kosten-Nutzen-Analyse zu begründen, wenn ein bestimmter Zweck bzw. ein bestimmtes Ziel vorgegeben ist. Dann dient sie, anders als im Rahmen der wohlfahrtsökonomischen Theorie, dazu, den geringsten Mitteleinsatz zu ermitteln. Insofern kann man von „Zielverwirklichungseffizienz" oder „Wirtschaftlichkeit" sprechen. Dazu Leisner, aaO, S. 6 ff. und 48 f. sowie Eidenmüller, aaO, S. 55 f. 76 Insofern zutreffend die Kritik von Deutsch (Fn. 18), Rn. 638; siehe schon oben Fn. 46. Aus der Perspektive des öffentlichen Rechts Leisner, aaO, S. 38 ff. 77 Larenz/Canaris (Fn. 14), § 75 I 1. 78 Oben unter I 2 und I I 2. 79 Larenz/Canaris (Fn. 14), § 75 I 1 unter Hinweis auf Isensee (Nachw. oben Fn. 19), der allerdings, wie hier dargelegt (oben unter I 2), genauer die beiden Grundrechtsfunktionen bei Grundrechtseingriffen und beim grundrechtlichen Rechtsgüterschutz unterscheidet. Ferner bei Canaris, JuS 89, 162 f. und 167 ff. Zu den Grundrechtswirkungen im Privatrecht im übrigen Konrad Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988 und Lerche, Grundrechtswirkungen im Privatrecht, Einheit der Rechtsordnung und materielle Verfassung, in: Böttcher u. a. (Hg.), Festschrift Odersky, 1996, S. 215 ff.

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bei kollidierenden anderen Grundrechtsgewährleistungen. 80 Die Deliktsordnung außerhalb des Bereichs von „Grundrechtseingriffen" ist staatlicher Rechtsgüterschutz in Wahrnehmung einer grundrechtlichen Schutzpflicht. Bislang offenbar überhaupt nicht grundrechtsdogmatisch aufgegriffen ist die weitere Frage, welche Grundrechtsfunktion die deliktsrechtliche Gefahrenverantwortung in denjenigen Fällen wahrnimmt, in denen es nicht um den Schutz vor Rechtsgutgefährdung zwischen privaten Dritten geht, sondern um den Rechtsgüterschutz bei gefährlichen öffentlichen Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung, wie öffentlichen Straßen. Hier erfolgt die Gefahrschaffung hoheitsrechtlich. Aber ein „Grundrechtseingriff 4 liegt gleichwohl nicht vor; denn dieser setzt begrifflich voraus, daß der Staat auf den Grundrechtsstatus gegen den Willen der Betroffenen einwirkt. 81 Davon kann bei der Bereitstellung unvermeidlich gefahrschaffender öffentlicher Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung zur Benutzung sowie bei der Inanspruchnahme der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung zur Benutzung nicht die Rede sein. Hierbei begeben sich die gegebenenfalls von einer Gefährdung ihrer Rechtsgüter betroffenen Benutzer in eine freiwillige und eigene „Interessenexponierung" zu der betreffenden öffentlichen Einrichtung hoheitsrechtlicher LeistungsVerwaltung.82 Es liegt kein Fall und kein Rechtsverhältnis der Eingriffsverwaltung vor. 83 Danach ist es augenscheinlich, daß der Geltungs- und Anwendungsbereich der staatlichen Schutzpflicht im Gefahrenrecht nicht ausgeschöpft wird, wenn er auf den Bereich „nicht-staatlicher" Rechtsgutverletzungen und Rechtsgutgefährdungen beschränkt und stets nur mit einem Dreiecksverhältnis in Verbindung gebracht wird, in dem den Staat die grundrechtliche Pflicht trifft, im Verhältnis zwischen Dritten vor Rechtsgutverletzungen und gefährdungsbezogenen Rechtsgutbeeinträchtigungen durch Verletzungsverbote und durch Gebote der Gefahrbeherrschung zu schützen.84 Die bislang mangelnde Berücksichtigung des Sonderfalles staatlicher Rechtsgutgefährdungen im Zusammenhang unvermeidlich gefahrschaffender öffentlicher Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung erklärt sich allein daraus, daß in diesen Fällen nach der maßgeblichen Rechtsauffassung so Oben unter 12. 81 Oben unter 12 m. Nachw., insb. Fn. 23. 82 Zum Begriff der eigenen „Interessenexponierung" von Benutzern Müller-Erzbach, AcP 106 (1910), 309/352 ff. im Zusammenhang der Abgrenzung zu Fällen einer Gefährdungshaftung. 83 Davon zu unterscheiden ist die Abgrenzung von „Grundrechtseingriffen" und dem Geltungsbereich grundrechtlicher Schutzpflichten des Staates bei öffentlichen Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung, wenn von diesen eine anlagentechnische Grundrechtsbetroffenheit Dritter, also nicht von Benutzern, ausgeht (dazu Isensee, Fn. 19, § 111 Rn. 117). Zur zweifelhaften Grenzziehung bei Zulassungsakten der Verwaltung für gefährliche bzw. risikobehaftete Vorhaben Weber-Dürer, VVDStRL 57 (1998), 59/81. 84 Zum regelmäßigen Dreiecksverhältnis bei der staatlichen Schutzpflicht Isensee, aaO, § 111 Rn. 5 und 103 f.; ebenso Bethge, VVDStRL 57 (1998), 10/15 und 50 sowie WeberDürer, aaO, 59/80 f.

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zu Rechtsgrund und Rechtsnatur der Verkehrssicherungspflicht diese in keinem „notwendigen inneren Zusammenhang" mit der betreffenden öffentlichrechtlichen Unterhaltungspflicht stehen soll, im Beispielfall der Verkehrssicherungspflicht also deren Inhalt und Umfang sich nicht aus der fachgesetzlichen Straßenbaulast ergeben sollen, daß vielmehr ihr sachlicher Anknüpfungspunkt und ihr Rechtsgrund in dem „davon rechtlich unabhängigen Tatbestand einer Gefahrschaffung liegen soll und deshalb für die rechtliche Beurteilung kein Unterschied zur Gefahrschaffung durch eine „Privatperson" gemacht werden könne.85 Dieses „Dauerthema" kann im vorliegenden Zusammenhang dahin gestellt bleiben. Gleichwohl enthält die positivistische Fixierung auf die für die Begründung der Verkehrssicherungspflichten allein verfügbaren „gesetzten Rechtsquellen" des bürgerlichen Deliktshaftungsrechts den Schlüssel, um die Normstrukturen der deliktsrechtlichen Gefahrenverantwortung klarzustellen. Denn zum einen ist auf jene Weise nicht ins Blickfeld gelangt, daß Rechtsgrund und leitendes Rechtsprinzip der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten unmittelbar und originär der verfassungsrechtlich begründete Rechtsgüterschutz ist. Zum zweiten hat sich aufgrund der Annahme einer umfassenden und einheitlichen Verkehrssicherungspflicht nach dem allgemeinen Deliktstatbestand des bürgerlichen Deliktsrechts sowie im Rahmen eines dabei angenommenen undifferenzierten Verschuldensprinzips keine Möglichkeit eröffnet, Inhalt und Umfang der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten unmittelbar auf der Grundlage des Rechtsprinzips staatlichen Rechtsgüterschutzes normbereichspezifisch zu bestimmen. Die Frage der Inhalts- und Umfangsbestimmung der Gefahrbeherrschungsbzw. Verkehrssicherungspflichten für den besonderen Fall gefährlicher öffentlicher Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung vermag insofern den zutreffenden Lösungsansatz zu liefern. Denn vor allem an diesem Bereich deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung wird deutlich, daß die von der maßgeblichen Rechtspraxis und Zivilrechtsdogmatik vorgenommene Aufspaltung in eine hoheitliche Wahrnehmung der öffentlichrechtlichen Unterhaltungspflicht für die betreffenden öffentlichen Einrichtungen und in eine davon getrennte, zweckhaft unerklärliche Gefahrschaffung des betreffenden Einrichtungsträgers, bei welcher dieser als Gefahrenverursacher „ohne Zweck" behandelt wird, nicht richtig sein kann. Es gibt keine Gefahrschaffung ohne willentlichen Zweck und keine von dem willentlichen Zweck der betreffenden Gefahrschaffung getrennte Gefahrbeherrschungspflicht des Gefahrenverursachers. Der Zweck der betreffenden gefährlichen Handlung, Einrichtung oder Unternehmung begrenzt auch Inhalt und Umfang der damit verbundenen Gefahrbeherrschungspflicht. Eine Inhalts- und Umfangsbestimmung der deliktsrechtlichen Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten ist nur möglich, wenn man den spezifischen Zweck einer zulässigerweise unvermeidbaren Gefahrschaffung und den damit zugleich verbundenen Schutzzweck der deliktsrechtlichen Gefahrenverantwortung in den Blick nimmt. Das allgemeine . n. 11.

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Verschuldensprinzip des bürgerlichen Deliktshaftungsrechts jedenfalls vermag den jeweiligen normbereichspezifischen Schutzzweck der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten nicht sichtbar zu machen.

IV. Der normbereichspezifische Schutzzweck der deliktsrechtlichen Gefahrenverantwortung 1. Der gefährdungsbezogene Deliktstatbestand kann nicht undifferenziert an ein „Verschulden" bzw. an eine „objektivierte Fahrlässigkeit" anknüpfen, sondern ausschließlich an die Verletzung einer durch den grundrechtlichen Rechtsgüterschutz begründeten und geleiteten jeweils normspezifischen Gefahrbeherrschungspflicht. Es kommt auf deren normspezifischen Schutzzweck an. Damit ist gemeint, daß bei unvermeidlich gefahrschaffenden Handlungen, Unternehmungen oder Einrichtungen deren willentliche Zweckrichtung und Zweckverwirklichung wegen des dabei geltenden Rechtsgüterschutzes auch den objektiv willentlichen Zweck umschließen muß, eine Realisierung der mit ihnen verbundenen Gefahr zu vermeiden. Die Gefahrbeherrschungspflicht und deren Schutzzweck bei zulässigerweise unvermeidbaren Gefahrenlagen liefern den Rechtsgrund dafür, daß die betreffende Gefahrschaffung im Rahmen der rechtlichen Gefahrenbewertung am Rechtsprinzip des staatlichen Rechtsgüterschutzes überhaupt zugelassen wird. Es ist also die Teleologie der jeweiligen zulässigerweise gefahrschaffenden Handlung, Unternehmung oder Einrichtung, die deren gefahrenrechtlichen Schutzzweck und damit Inhalt und Umfang der Gefahrbeherrschungspflicht bestimmt. Diese hat den Zweck, bei unvermeidlich gefahrschaffenden Handlungen, Unternehmungen oder Einrichtungen wenn schon nicht eine Gefahrenlage vermeiden zu können, so doch wenigstens deren Realisierung im Rahmen des Zwecks der betreffenden Handlung, Unternehmung oder Einrichtung durch eine Gefahrbeherrschung des Gefahrenverursachers entgegenzuwirken. Deshalb stehen Inhalt und Umfang der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten in einer zweckhaften Abhängigkeit von dem jeweiligen normbereichspezifischen gefahrenrechtlichen Schutzzweck. Dieser geht soweit, aber auch nur soweit, als die Nutzer der betreffenden Handlung, Unternehmung oder Einrichtung sich bei dieser ihrer eigenen „Interessenexponierung" innerhalb der Zweckbestimmung der betreffenden Handlung, Unternehmung oder Einrichtung bewegen. Denn nur insoweit umfaßt die objektivierte willentliche Zweckvorstellung des Gefahrenverursachers auch die Gefahrbeherrschung. Über die Zweckbestimmung der betreffenden gefahrschaffenden Handlung, Unternehmung oder Einrichtung reicht der dem Gefahrenverursacher obliegende Rechtsgüterschutz nicht hinaus. Die „Erwartung" und das „Vertrauen" der Nutzer bzw. Benutzer in die Gefahrlosigkeit ihrer eigenen „Interessenexponierung" sind nur im Rahmen der objektivierten willentlichen Zweckbestimmung der betreffenden Handlung, Unternehmung oder Einrichtung geschützt. Dies bedeutet letztlich, daß Inhalt und Umfang der Gefahrbeherrschungs- bzw. Ver-

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kehrssicherungspflichten nicht in Anknüpfung an eine „zwecklose" Gefahrschaffung und nicht anhand allgemeiner Verschuldensanforderungen beim Umgang mit einer „zwecklosen" Gefahrenlage bestimmt werden können, sondern ausschließlich aufgrund des jeweiligen normbereichspezifischen Schutzzwecks, der mit Rücksicht auf den staatlichen Rechtsgüterschutz mit der betreffenden zulässigerweise unvermeidbaren Gefahrschaffung verbunden ist. 2. Die dargelegte Schutzzweckbetrachtung deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung beruht zwingend auf der sachlichen Zweckstruktur zulässigerweise gefahrschaffenden Verhaltens sowie auf dem gefahrenrechtlich leitenden Rechtsprinzip der verfassungsrechtlich begründeten Pflicht des Staates zum Schutze grundrechtlich gewährleisteter Rechtsgüter vor einer Gefährdung bzw. einer Realisierung der betreffenden Gefahr. Daher beansprucht sie generelle Geltung für die deliktsrechtlichen Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten. Aber besonders anschaulich läßt sich der normbereichspezifische Schutzzweck der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten in den Fällen zulässigerweise gefahrschaffender öffentlicher Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung demonstrieren, wie z. B. in den Fällen öffentlicher Straßen. In dem Zusammenhang kann vernachlässigt werden, daß von der Rechtsprechung Rechtsgrund und Rechtsnatur jeder Verkehrssicherungspflicht, einschließlich derjenigen für öffentliche Einrichtungen der hoheitsrechtlichen Leistungsverwaltung, einheitlich dem allgemeinen bürgerlichen Deliktstatbestand des § 823 Abs. 1 BGB zugeordnet werden. Eine wesentliche Korrektur an dieser Rechtsprechung erscheint lediglich insofern geboten, als es der Rechtsprechung auf diese Weise bislang nicht gelungen ist und offenbar auch nur schwer gelingen kann, für die Inhalts- und Umfangsbestimmung der betreffenden Verkehrssicherungspflichten unter Berücksichtigung von deren spezifischem Normbereich zweckhafter Gefahrbeherrschung eine evidente, gesicherte und präzise Grundlage zu gewinnen. Die betreffenden Verkehrssicherungspflichten müssen mit der jeweiligen öffentlichrechtlichen Unterhaltungspflicht für die öffentliche Einrichtung verbunden werden, weil sich allein aus deren Inhalt und Umfang der Schutzzweck der betreffenden Verkehrssicherungspflicht bestimmen läßt. Für den Beispielfall öffentlicher Straßen bedeutet dies, daß die Straßenverkehrssicherungspflicht, auch solange sie weiterhin nicht staatshaftungsrechtlich als eine Pflicht des öffentlichen Rechts, sondern als Rechtspflicht nach § 823 Abs. 1 BGB konstruiert wird, jedenfalls ihren Schutzzweck nur aus der straßengesetzlichen Straßenbaulast erhalten kann. Danach ist die Straßenverkehrssicherungspflicht normbereichspezifisch dadurch bestimmt und begrenzt, daß in Wahrnehmung der straßengesetzlichen Straßenbaulast öffentliche Straßen zum Gemeingebrauch gemäß der betreffenden Straßenklasse und dem jeweils gewidmeten Ausbauzustand bereitgestellt werden und daß wegen der hiermit unvermeidlich verbundenen straßenbaulichen Gefahren und des insofern geltenden Rechtsgüterschutzes wenigstens eine dem Zweck dieser Verwaltungsleistung entsprechende Gefahrbeherrschungspflicht der Straßenbauver-

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waltung geboten ist. Der straßengesetzliche Zweck der Straßenbaulast, öffentliche Straßen in einem der jeweiligen Straßenklasse und dem jeweiligen gewidmeten Ausbauzustand entsprechenden gemeingebrauchsfähigen Benutzungsstatus zu bauen und zu unterhalten, umschließt auch den objektivierten willentlichen Zweck der Straßenbauverwaltung zu einer dem betreffenden Benutzungsstatus entsprechenden Gefahrbeherrschung. Der straßenrechtliche Benutzungsstatus bestimmt das Untermaßverbot, aber auch das Höchstmaßgebot der Straßenverkehrssicherungspflicht. Dies bedeutet auf der einen Seite, daß die Straßenverkehrssicherungspflicht den Straßenbenutzern keine völlige Gefahrlosigkeit der Straßenbenutzung garantiert, 86 daß eine „Nichtbeachtung technischer Straßenbauvorschriften" als solche allein noch keine Verletzung der Straßenverkehrssicherungspflicht darzustellen braucht, daß keine „ständige, sofortige Anpassung an neue technische Entwicklungen" vorausgesetzt wird und daß keine uneingeschränkte „Verpflichtung zum modernen Ausbau alter Straßen" besteht.87 Alle solchen Anforderungen an die Straßenverkehrssicherungspflicht könnten allenfalls auf Vorstellungen gestützt werden, die ohne Rücksicht auf den spezifischen fachgesetzlichen Normbereich des Gefahrenrechts öffentlicher Straßen auf allgemeine Sorgfaltsaspekte des „Verschuldensprinzips" bzw. einer „objektivierten Sorgfalt" zurückgriffen. Gleiches gilt auf der anderen Seite für das nach dem Schutzzweck der Straßenverkehrssicherungspflicht geforderte Minimum an straßenbaulicher Verkehrssicherung. Ebenfalls nur aus einer undifferenzierten Interpretation und Anwendung des „Verschuldensprinzips" erklärt es sich, wenn für Inhalt und Umfang der Straßenverkehrssicherungspflicht auf die „Erkennbarkeit der Gefahr" durch die Straßenbenutzer, auf „Gesichtspunkte der Zumutbarkeit (im Hinblick auf den finanziellen Aufwand) und der Verhältnismäßigkeit (in bezug auf das Ausmaß der drohenden Gefahr)", auf die Gefahrenbeurteilung eines verständigen und umsichtigen Menschen, auf die unverhältnismäßige Belastung der Straßenbauverwaltung durch „übermäßige Kosten" oder auf das „Ausmaß der drohenden Gefahr, d. h. die Verhältnismäßigkeit eines Schadens" und seines erwarteten Umfangs abgestellt wird. 88 Alle solchen Kriterien zur Inhalts- und Umfangsbestimmung der Straßenverkehrssicherungspflicht gehen an deren spezifisch straßenrechtlichem Schutzzweck vorbei, den gemeingebräuchlichen Nutzungsstatus der jeweiligen öffentlichen Straße straßenbaulich zu ge-

86 Kötz (Fn. 29), Rn. 252 und Greger (Fn. 13), § 16 Rn. 252. 87 So zutreffend Greger, aaO, Rn. 560, 563, 573. Ders. (aaO, Rn. 552) auch zur Maßgeblichkeit von „Verkehrsbestimmung und -bedeutung" öffentlicher Straßen für den Umfang der Straßenverkehrssicherungspflicht. 88 So aber Greger, aaO, 552 und 560. In solchen Fällen kann sich die Straßenbauverwaltung allenfalls und im Grundsatz, d. h. von besonderen straßenbaulichen Gefahrenlagen abgesehen, auf eine straßenverkehrsrechtliche Gefahrensignalisierung beschränken. Dabei handelt es sich aber bereits um eine Modalität zur Wahrnehmung der Straßenverkehrssicherungspflicht. Siehe zu diesem Fragenbereich Urt. BGH 2. 7. 59, VersR 59, 828/829, 12. 4. 73, VersR 73, 637/638, 5. 7. 90, NJW 91, 33/ 36 und 14. 5. 92, VKB1. 92, 460/462. Zum bloßen Haftungsausschluß durch straßenverkehrsrechtliche Gefahrensignalisierung Bartlsperger (Fn. 17), S. 152 ff. 66 FS Leisner

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währleisten. Sie sind mit Rücksicht auf diesen Schutzzweck außerstande, die „rechtliche" bzw. haftungsausfüllende Kausalität straßenbaulichen Verhaltens der Straßenbauverwaltung für ein Unfallgeschehen auszuschließen. 3. Generell ist zur Rechtsfunktion des normbereichspezifischen Schutzzwecks der Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten festzuhalten, daß dieser aus dem gesamten für ein Unfallgeschehen und für Schadensereignisse möglicherweise „real" kausalen Verhalten des Gefahrenverursachers dasjenige eingrenzt, das als ,»rechtlich" schadenskausal im Rahmen der betreffenden Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflicht gelten kann. 89 Im Unterschied zur „reinen" naturgesetzlichen Schadenskausalität steht also die ,»rechtliche" Kausalität unter dem Vorbehalt, daß das Schadensereignis im Schutzbereich des betreffenden Rechtsgüterschutzes geschieht. Zuletzt stellt sich indessen bei der Inhalts- und Umfangsbestimmung deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung noch ein weiteres sachliches und rechtliches Problem. Denn selbst dann, wenn ein möglicher Unfallschaden innerhalb des normbereichspezifischen Schutzzwecks einer Gefahrbeherrschungspflicht des Gefahrenverursachers liegt, bleibt immer noch die Frage zu beantworten, ob diesem die Gefahrenverantwortung letztlich zuzurechnen ist oder die betroffenen Rechtsgutträger aufgrund ihres Verhaltens in bezug auf die Gefahrendisposition einen Schaden in eigener Risikozuständigkeit zu tragen haben. Die Problemstellung resultiert aus der sachlogischen Struktur konkreter Gefahren, wonach diese immer erst eine Sekundärgröße darstellen. Denn eine konkrete Gefahr ergibt sich stets nur in dem wechselseitigen Beeinflussungszusammenhang mehrerer Gefahrenfaktoren, nämlich der vom Gefahrenverursacher geschaffenen Gefahrendisposition einer Handlung, Unternehmung oder Einrichtung und dem Verhalten, mit dem die Träger hierbei gefährdeter Rechtsgüter im Gefahrenbereich agieren bzw. reagieren. 90 Im wiederholt aufgegriffenen Beispiel der Straßenverkehrssicherungspflicht verlangt die Zurechnungsfrage eine gefahrenrechtliche Bewertung, ob ein nach dem spezifisch straßenrechtlichen Schutzzweck der Straßenverkehrssicherungspflicht im Rechtssinne straßenbaulich mitverursachter Schaden von der Straßenbauverwaltung zu übernehmen oder von dem betreffenden Straßenbenutzer mit Rücksicht auf dessen Verkehrsverhalten selbst zu tragen ist. Im übrigen ist davon auszugehen, daß öffentliche Straßen niemals völlig gefahrlos gebaut und unterhalten werden können, weil sie mit Rücksicht auf das für die Entstehung einer konkreten Unfallgefahr stets noch relevante und vorausgesetzte Verkehrsverhalten der Straßenbenutzer immer eine aktuelle straßenbauliche Gefahrendisposition aufweisen. Ver89

Zu Begriff und Funktion des Schutzzwecks im Deliktsrecht, der erst den Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen Schadensursache und Schaden herstellt und den eigentlichen Grund der Verkehrssicherungspflichten bildet, siehe bei Deutsch (Fn. 18), Rn. 297 ff. und Greger (Fn. 13), Rn.217f. 90 Siehe dazu die Darlegungen zur Gefahrenstruktur aus Anlaß und am Beispiel straßenbaulicher Gefahren bei Bartlsperger (Fn. 17), S. 27 ff., 37 ff., 42 und 50 f.

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allgemeinernd besagt dies, daß eine gefahrschaffende Handlung, Unternehmung oder Einrichtung mit Rücksicht auf das für die Entstehung einer konkreten Gefahr immer noch relevante und vorausgesetzte Verhalten von Seiten der betroffenen Träger gefährdeter Rechtsgüter stets ihre Gefährlichkeit behält. Deshalb stellt sich über die Kategorie rechtlicher Kausalität hinaus das Zurechnungsproblem. Es beruht darauf, daß eine dispositionelle Gefahrenabwehr durch den Gefahrenverursacher nach Inhalt und Umfang nur bis zu der Grenze gehen kann, jenseits derer die Beherrschung der betreffenden Gefahr nicht mehr in seiner Macht liegt, sondern dem Verhalten der betroffenen Rechtsgutträger anvertraut ist. Dieses Zurechnungsproblem verlangt rechtliche Wertungen. Aber diese sind nicht auf der Grundlage des Verschuldensprinzips nach dem bürgerlichen Deliktsrecht zu treffen. Bei der deliktsrechtlichen Gefahrenverantwortung als Kategorie objektiver Rechtswidrigkeit ersetzt die objektive Zurechnung das Verschulden.

V. Die Zurechnung deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung 1. Objektive Zurechnung im Rechtssinne bezeichnet eine Wertentscheidung der Rechtsordnung, ob ein Geschehen die Tat eines Subjekts ist. 91 Bei der Zurechnung gefahrenrechtlicher Verantwortung in den Fällen zulässigerweise unvermeidbar gefahrschaffender Handlungen, Unternehmen oder Einrichtungen geht es also um die gefahrenrechtliche Bewertung, ob die betreffenden Gefahren bzw. Unfallereignisse zum Pflichtenkreis des Gefahrenverursachers oder der Nutzer der betreffenden Handlung oder Unternehmung bzw. der Benutzer der betreffenden Einrichtung gehören. Dabei ist die rechtliche Zurechnung einer Gefahr bzw. eines Schadensereignisses durch die vorstehend erörterte Sachlogik der betreffenden Gefahrenlage vorstrukturiert. Aufgrund der dargelegten Teleologie dispositioneller Gefahrschaffung 92 ist von der „Tatsache" auszugehen, daß die objektivierte willentliche Zweckbestimmung bei Schaffung einer Gefahrendisposition lediglich auf eine Gefahrbeherrschung gerichtet ist, die im Rahmen der dem Gefahrenverursacher eröffneten Voraussicht und Handlungsmöglichkeit liegt. Allerdings ist es für die rechtliche Zurechnung einer Gefahrenverantwortung erst einmal zu begründen, ob die von einem Verursacher dispositioneller Gefahren „tatsächlich" objektiv gewollte und bezweckte Gefahrbeherrschung auch bestimmend sein kann für Art und Maß der Gefahrbeherrschung, die er von Rechts wegen leisten „soll". In der erkenntnistheoretisch und methodisch konsequentesten Ausgestaltung des staatsrechtlichen Positivismus wird es für die juristische Zurechnungslehre strikt in Abrede gestellt, darauf abheben zu können, ob ein bestimmter äußerer Erfolg einer handelnden Person deshalb zuzurechnen ist, weil diese den Willen gehabt oder den Zweck verfolgt hat, den betreffenden Erfolg zu bewirken bzw. verhindern zu 91 Larenz (Fn. 47), S. 60. 92 Oben unter IV 1 und 2. 66

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müssen.93 Eine derart psychische Willensverknüpfung oder objektive teleologische Zweckverbindung gilt hierbei als „der Welt des Seins" zugehörig und für eine normative Betrachtung als unerheblich. „Denn die Zurechnung beruht ausschließlich und allein auf dem Sollen, einer Norm". 94 Nach dieser strikt „juristischen" Zurechnungslehre wäre es ausgeschlossen, eine generelle gefahrenrechtliche „Norm" zu finden. Nur für die besondere gefahrenrechtliche Haftung nach dem bürgerlichen Deliktshaftungsrecht bestünde eine solche in dem dortigen Verschuldensprinzip. Dieses ist aber, ganz abgesehen von seiner „Uferlosigkeit und starken Einzelfallbezogenheit",95 lediglich eine Variable in den Regelungsfällen der Schadens- bzw. Gefahrenzurechnung. Die Gefahrbeherrschungspflichten als Pflichten einer allgemeinen gefahrenrechtlichen Deliktsordnung hingegen entbehrten einer inhaltlichen Normierung und wären ein inhaltsloses juristisches Konstrukt, wenn ihr Rechtsgrund nicht in der Sachlogik des Gefahrenrechts vorstrukturiert wäre. 2. Die rechtliche Begründung deliktsrechtlicher Gefahrenverantwortung beruht auf der Sachlogik und deren vernünftiger Beurteilung, wonach bei einer rechtlich zulässigerweise unvermeidbaren dispositionellen Gefahrschaffung der Verursacher wenigstens eine Rechtspflicht zur Gefahrbeherrschung haben soll. Es ist also ausschließlich die gedachte „Tatsache" und die gewollte „Tat" der dispositionellen Gefahrschaffung selbst, die aufgrund einer zweckrationalen, vernünftigen Abwägung zwischen ihrem rechtlichen Verbot einerseits und ihrer rechtlichen Zulassung in Verbindung mit einer Rechtspflicht zur Gefahrbeherrschung andererseits im letzteren Falle kraft ihrer Teleologie eine Gefahrbeherrschungspflicht begründet sowie deren Inhalt und Umfang bestimmt. Mit der rechtlichen Zulassung einer unvermeidbaren dispositionellen Gefahrschaffung erscheint auch bereits die rechtliche Norm verbunden, daß der Gefahren verursacher im Rahmen seiner objektiv willentlichen und zweckhaften „Tat", also der gefahrenrechtlichen Teleologie der Gefahrschaffung, die Gefahr beherrschen „soll". Die rechtliche Schadens- bzw. Gefahrenzurechnung kann „nicht willkürlich erfolgen, sondern verlangt einen vernünftigen Grund". 96 Sie muß so vorgenommen werden, daß ein vernünftiger Zusammenhang zwischen dem Zurechnungssubjekt und „dem sonstigen Ereignis besteht, der es ermöglicht, ihm dasselbe zuzurechnen". 97 Vernünftig ist eine teleologische Gefahrenzurechnung in dem dargelegten Sinne deshalb, weil sie in der rechtlichen Zulassung einer unvermeidbaren dispositionel93 Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl. 1923, Neudruck 1960, S. 73 ff. und 144 ff. 94 Kelsen, aaO, S. 75. 95 Larenz/Canaris (Fn. 14), § 76 II 4 vor a. Siehe schon oben unter 11. 96 Larenz (Fn 47), S. 101 unter Hinweis auf Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 722. 97 Larenz, aaO, S. 101 f.; siehe auch bei Deutsch (Fn. 18), Rn. 84ff. Daß die gefahrenrechtliche Zurechnung auf der Grundlage des Rechtsgüterschutzes nach dem Prinzip des „neminem laedere" nicht nach ökonomischer Rationalität erfolgen kann, ist im Zusammenhang der „ökonomischen Analyse des Haftungsrechts" dargelegt worden (oben unter III 1).

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len Gefahrschaffung eine zweckrationale Entscheidung der Rechtsordnung sieht, die in untrennbarer wechselseitiger Bedingtheit mit einer Rechtspflicht zur Gefahrbeherrschung verknüpft ist. Teleologisch ist eine solche zweckrational vernünftige Entscheidung der Rechtsordnung deshalb, weil sie die betreffende Gefahrenlage sowie die entsprechenden objektiven Möglichkeiten des Gefahrenverursachers zur Voraussicht und Abwehr einer Realisierung der Gefahr durch ein Unfallgeschehen in der Person des Gefahrenverursachers nicht nur als „gedacht" bzw. „denkbar" betrachtet, sondern diese auch für fähig hält, das Betreffende zu „wollen". Danach kann über eine teleologische Zurechnung das Urteil begründet werden, daß zwischen einem Ereignis und dem Verhalten einer Person ein Zusammenhang besteht. In der Frage einer Zurechnung von Gefahrenverantwortung scheidet die objektiv willentliche und zweckhafte Beherrschbarkeit einer Gefahr das verantwortliche Verhalten des Gefahrenverursachers vom bloßen Zufall. 98 3. Allerdings besteht in den gegenständlichen Fällen von Unfallereignissen infolge einer dispositionellen Gefahrschaffung ein besonderer Zweckzusammenhang mit dem gefahrschaffenden Verhalten einer Person. Es geht um die Zurechnung unterlassener Gefahrbeherrschung oder allgemein um die „Zurechnung der Unterlassung".99 In diesen Fällen einer bloß mittelbaren, infolge einer Gefahrschaffung eingetretenen Rechtsgutbeeinträchtigung wird ein Unfallgeschehen nicht „wirklich" vom Gefahrenverursacher herbeigeführt, sondern es ereignet sich als Folge eines von ihm gerade nicht mehr willentlich gesteuerten Kausalverlaufs. 100 Aber die Lösung dieses Zurechnungsproblems liegt gerade darin, „daß es hier nicht auf den kausalen, sondern auf den teleologischen Zusammenhang ankommt". 101 Denn danach ist Zurechnungsgrund die vom Gefahrenverursacher objektiv gewollte Möglichkeit, „den Erfolg vorauszusehen und ihn abzuwenden". Der Begriff der Zurechnung ist kein kausaler, sondern ein teleologischer. Somit beruht die rechtliche Zurechnung einer unterlassenen Gefahrbeherrschung an den Gefahrenverursacher ebenso wie eine „wirkliche" schadensursächliche Handlung auf der Fähigkeit des Willens, den Kausalverlauf zweckvoll zu beherrschen. 102 Der objektivierte Wille des Gefahrenverursachers zu der ihm objektiv eröffneten Voraussicht und Abwehr eines Unfallgeschehens bestimmt Inhalt und Umfang seiner Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflicht. 4. Auf der Grundlage einer teleologischen Zurechnungslehre lassen sich die Gefahrbeherrschungs- bzw. Verkehrssicherungspflichten sowie ihre Inhalts- und Umfangsbestimmung abschließend definieren. 98 Larenz, aaO, S. 43 ff., 54 ff., 60 ff. und 75 ff. 99 Dazu Larenz, aaO, S. 85 ff. 100 Insofern zu Problem und Rechtskonstruktion der Zurechnung Deutsch (Fn. 18), Rn. 97 ff.; ferner Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 29 ff.

101 Larenz (Fn. 47), S. 86 f. 102 Larenz, aaO, S. 88.

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Der Verursacher einer aktuell gefährlichen Gefahrendisposition hat die von der Rechtsordnung im Zusammenhang mit der zweckrationalen Zulassung der betreffenden Gefahrschaffung ihm auferlegte Pflicht, die hierbei denkbaren und deshalb seinem objektivierten Willen zurechenbaren Möglichkeiten zur Voraussicht und Abwendung von Unfallschäden wahrzunehmen, andernfalls ihn eine Gefahrenverantwortung und nach den daran anknüpfenden Haftungsregelungen eine Schadenshaftung trifft. Dabei kommt es auf die normbereichspezifisch objektivierte Willensmacht des Gefahrenverursachers an, die gegebenenfalls auch durch eine fachgesetzliche Regelung des betreffenden Rechtsgüterschutzes objektiviert sein kann. Eine solche Regelung besteht etwa, wie dargelegt, für die Straßenverkehrssicherungspflicht in den straßengesetzlichen Vorschriften zur Straßenbaulast.103 Danach sind der Straßenbauverwaltung diejenigen Unfallschäden zuzurechnen, die mit Rücksicht auf den betreffenden widmungsmäßig nach Straßenklasse, Verkehrsarten und Ausbauzustand bestimmten Gemeingebrauchsstatus einer öffentlichen Straße, also in Relation zu dem betreffenden straßenrechtlich eröffneten Verkehrsverhalten, straßenbautechnisch als voraussehbar und abwendbar beurteilt werden können. Diese straßenrechtlich objektivierte Zurechnung straßenbaulicher Gefahren an die Straßenbauverwaltung enthält ein Gebot des Mindestmaßes und ein Verbot des Untermaßes für die Straßenverkehrssicherungspflicht. An einem solchen objektiven Zurechnungsprinzip zur Bestimmung der Gefahrenverantwortung können sich gegebenenfalls auch Technische Regelwerke zur Gefahrbeherrschung bzw. Verkehrssicherung orientieren. Eine deliktsrechtliche Gefahrenverantwortung besteht, wenn und soweit der Verursacher einer zulässigerweise unvermeidbaren Gefahrenlage die innerhalb des Schutzzwecks der betreffenden normbereichspezifischen Gefahrbeherrschungsbzw. Verkehrssicherungspflicht liegenden Unfälle in Relation zu dem bei der gefährlichen Handlung, Unternehmung oder Einrichtung normbereichspezifisch eröffneten Nutzungs- bzw. Benutzungsverhalten objektiv voraussehen und abwenden kann.

103 Oben unter IV 2.

Zur Leistungsfalle für Professoren Von Burkhardt Ziemske

Politisch zeichnet sich breiter Konsens zwischen den Ländern und dem Bund ab, leistungsbezogene Besoldungselemente im Hochschulbereich einzubauen1. Auch aus den Reihen der Universitätsleitungen mehren sich Stimmen und Manifeste für die dringliche Einführung leistungsorientierter Besoldung2. Wer will denn schon den Eindruck erwecken, gegen Leistung zu sein? Vor allem der Status des Hochschullehrers soll dabei einer Neuregelung unterliegen. Professoren sollen es nach Verlautbarungen einiger Minister „gewaltig am Geldbeutel zu spüren bekommen". Aber nicht nur dies: Sie sollen - wie kein anderer Lehrberuf - permanenter Kontrolle unterliegen durch neuzuschaffende Hochschulgremien. Professoren stecken in der Leistungsfalle. Politische Forderungen dieser Art sind nicht neu und nicht gänzlich ohne Erfolg geblieben. Betrug das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Professors um die Jahrhundertwende noch 12.000 Mark, hingegen das eines Volksschullehrers noch 1.500 Mark, so hat sich dieses Verhältnis von 8:1 im Laufe eines Jahrhunderts - auch unter der Herrschaft des Grundgesetzes - deutlich nivellierend entwickelt und nähert sich dem Verhältnis von 2:1. Wenngleich die Dienstrechtsreform des Jahres 1997 diese Nivellierung nicht fortgesetzt hat und den Status des Hochschullehrers unverändert ließ, ist doch nach ihrer Begründung und der Stellungnahme des Bundesrates nicht vollends auszuschließen, dass Professoren-Ämter zukünftig gänzlich neu bewertet werden.

I. Neubewertung der Professoren-Besoldung 3 Verfassungsrechtlich steht es dem Gesetzgeber zu, Neubewertungen von Statusämtern vorzunehmen. Art. 33 V GG garantiert nicht den Bestand einer bestimmten 1 BR-Drs. 270/94, 25. 03. 94, S. 1 ff.; BR-Drs. 270/94, 08. 07. 94 (Anlage). Vgl. etwa das Berliner Manifest der drei Berliner Universitätspräsidenten, abgedruckt in F.A.Z. vom 12. 12. 1998, S. 7; nachstehender Besoldungsvergleich aus: Hartmer, Besoldung und Versorgung des wissenschaftlichen Personals, in: Handbuch des Wissenschaftsrechts, hrsg. von Flämig/Kimminich/Krüger u. a., 2. Aufl. Berlin 1996, S. 509/524. 2

3

Zum Begriff: Behrens, Beamtenrecht, München 1996, § 6 Rndr. 18; Mattern/Reinfried (Hrsg.), Grundlagen der öffentlichen Verwaltung, 6. Auflage, Berlin 1993, Rdnr. 192; bei-

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Besoldungsgruppe4. So überführte der Gesetzgeber verfassungsrechtlich unbedenklich mittels der Besoldungsreform aus dem Jahre 19575 das wissenschaftliche Personal von der früheren Hochschulbesoldungsgruppe H zur jetzt maßgeblichen Besoldungsgruppe C. Wohl aber muß der Gesetzgeber im Zuge einer Bewertung die Ämter in sachlich gebotener und angemessener Weise einer Besoldungsordnung zuweisen6. Die Ausrichtung der Besoldung etwa an einer einzigen Besoldungsgruppe wäre verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn sie sich sachlich rechtfertigen ließe. Daran aber könnte man hinsichtlich der unterschiedlichen Qualität von den Laufbahnämtern einerseits und den wissenschaftlichen Ämtern andererseits Zweifel erheben. Akademische Lehrer werden im Unterschied zu Laufbahnbeamten nicht befördert. Sie stellen sich statt dessen einem wissenschaftlichen Ausleseverfahren, nämlich der Berufung. Die jeweils maßgeblichen Beurteilungskriterien unterscheiden sich. Wissenschaftliche Beurteilung ist von Natur aus etwas anderes als Regel- und Bedarfsbeurteilung für Laufbahnbeamte. Zwar kommen Berufung und Beförderung gleichermaßen Auswahlfunktion zu, allerdings hinsichtlich der Berufung verfassungsrechtlich an den Vorgaben der Freiheit von Forschung und Lehre orientiert. Doch im Unterschied zur dienstlichen Beurteilung hat die Berufung keine hierarchische führungs- und personalrechtliche Schutzfunktion. Hochschullehrerämter sind ihrem Wesen nach gerade keine Beförderungsämter. Schon aus diesem Grunde müssen sie sich besoldungsrechtlich von den Laufbahnämtern abheben und können sich nicht beliebig in sie einreihen. Darüber hinaus garantiert Art. 33 V GG als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums die sogenannte amtsangemessene Besoldung7. Amtsangemessenheit beinhaltet keine nivellierende Gleichstellung aller Amtsbesoldungen auf einem für alle gleichen Niveau. Absolute verfassungsrechtliche Grenze einer Neubewertung des besoldungsrechtlichen Status von Berufsbeamten wäre demnach, sie unabhängig von ihrem Amt gleich zu entlohnen. spielhaft Berechnungen im Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Leistungsorientierte Besoldung von Professoren sowie Mitgliedern von Hochschul- und Fachbereichsleitungen", BMBF-312-41212- 19/15 vom 2. 1. 1998. 4 Model/Müller, Grundgesetz, 11. Auflage, Köln 1996, Art. 33 Rdnr. 20; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 8. Auflage, Neuwied 1995, Art. 33 Rdnr. 28. 5 Im einzelnen: Müller, Der Bestandsschutz des Unterhaltsrechts der Beamten im Grundgesetz (Diss.), Berlin 1997, S. 124 ff. 6 Jarras/Pieroth, Grundgesetz, 4. Auflage, München 1997, Art. 33 Rdnr. 17; Model/Müller (Anm. 4), Art. 33 Rdnr. 20; von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz - Kommentar, Band (Anm. 4), Art. 33 2, 3. Auflage, München 1995, Art. 33 Rdnr. 63; Schmidt-Bleibtreu/Klein Rdnr. 26. i /¿zrras/Pieroth (Anm. 6), Art. 33 Rdnr. 18; Model/Müller (Anm. 4), Art. 33 Rdnr. 20; von Münch/Kunig (Hrsg.) (Anm. 6), Band 2, Art. 33 Rdnr. 63; Schmidt-Bleibtreu/Klein (Anm. 4), Art. 33 Rdnr. 26.

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Wollte der Gesetzgeber seinem Neubewertungsrecht 8 aus §§ 18, 19 BBesG9 aber nachkommen, müßte er einer gesteigerten Begründungspflicht 10 genüge tragen. Änderungen im Bereich des Beamtenrechts einschließlich seiner hergebrachten Grundsätze sind zwar zulässig; dem Gesetzgeber steht insoweit ein weiter Gestaltungsspielraum zu 11 . Die erforderliche Wertigkeitsfeststellung muß allerdings sachlogisch zwingend sein und darf verfassungsverfestigte Vorgaben nicht verletzen. Verfassungsrechtlich ist das Beamtenrecht durchgängig nach dem Leistungsprinzip 1 2 strukturiert. Art. 33 II GG erklärt fachliche Leistung neben Eignung und Befähigung zum ausschließlichen Einstellungskriterium. Art. 33 V GG stellt zusätzlich die Geltung des Leistungsprinzips auch für begründete Beamtenverhältnisse als hergebrachter Grundsatz sicher. Fachliche Leistung prägt von daher auch die Wertigkeitsfeststellung von Ämtern in besoldungsrechtlicher Hinsicht 13 . Für den Hochschullehrer formuliert das Hochschulrahmengesetz in § 43 sein Leistungsprofil durch die Einstellungsvoraussetzungen. Neben einem abgeschlossenen Hochschulstudium, Promotion und pädagogischer Befähigung muß der Hochschullehrer seine besondere Leistungsfähigkeit durch die Habilitation unter Beweis stellen. Die Habilitation gilt seit ihrer Etablierung im 18. Jahrhundert als herausragende wissenschaftliche Leistung. Als Regelvoraussetzung für die Einstellung zum Professor gibt die Habilitation auch den Maßstab für einstellungsadäquate Ersatzleistungen. Die Habilitation hat auch insofern statusrechtliche Bedeutung, als sie wesentlich den Universitätsprofessor von dem Fachhochschulprofessor unterscheidet, der sie nicht als Einstellungsvoraussetzung nachweisen muß. Solange die Habilitation als statusbildender Akt in der Hochschulstruktur vorgegeben ist, setzte sich ein Gesetzgeber mit Nivellierungstendenz in Widerspruch zu seiner eigenen gesetzlichen funktionsgerechten Bewertung von Ämtern, wenn er den besoldungsrechtlichen Status des habilitierten oder adäquat qualifizierten Professors nicht deutlich von den Laufbahnämtern der herkömmlichen Besoldungsgruppe A abheben würde. 8 Schwegmann/Summer, Bundesbesoldungsgesetz, Band II, Stand: 01. Januar 1998, § 18 Rdnr. 16. 9 Während § 18 BBesG Vorgaben für die normative Ämterbewertung enthält und Pflichten für den Dienstherrn zu einer nicht normativen Ämterbewertung begründet, regelt § 19 die Verbindung von Amtsstatus bzw. amtsähnlichem Status und Anspruch auf das Grundgehalt, Schwegmann/Summer (Anm. 8), Band II, § 19 Rdnr. 1. 10 Schwegmann/Summer (Anm. 8), Band II, § 18 Rdnr. 19. Jarras/Pieroth (Anm. 6), Art. 33 Rdnr. 18; Model/Müller (Anm. 4), Art. 33 Rdnr. 20; von Münch/Kunig (Hrsg.) (Anm. 6), Band 2, Art. 33 Rdnr. 63; Schmidt-Bleibtreu/Klein (Anm. 4), Art. 33 Rdnr. 26. 12 Grundlegend dazu: Leisner, Das Leistungsprinzip, in: Berufsbeamtentum, in Isensee (Hrsg.), Schriften zum Beamtenrecht und zur Entwicklung des öffentlichen Dienstes 1968 1991 von Leisner, Berlin 1995, S. 273/275 ff. 13 Vgl. zur Vereinbarkeit des Leistungssystems mit dem Alimentationsprinzip: Ziemske, Öffentlicher Dienst zwischen Bewahrung und Umbruch, DÖV 1997, 605/607.

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Schließlich hätte der nivellierende Gesetzgeber in Bezug auf Hochschullehrer auch die Auswirkungen des Art. 5 III GG insofern zu berücksichtigen, als das allgemeine Beamtenrecht für sie um den Schutz der hergebrachten Grundsätze des Hochschullehrerrechts erweitert wird. Danach gelten für Hochschullehrer die Grundsätze der Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit, der Weisungsfreiheit 14 und der Vorgesetztenfreiheit 15. Der Hochschullehrer besitzt wie kein anderer Beamter verfassungsrechtlich verbürgt die Freiheit vor Abordnung, Versetzung, Umsetzung, Zuweisung, sachliche und persönliche Maßregel sowie Anweisung eines Vorgesetzten im Bereich von Lehre und Forschung. Wenngleich das BVerfG daraus weder das Erscheinungsbild noch die Qualifikationsmerkmale eines Hochschullehrers unabänderlich 16 in Art. 5 III GG festgeschrieben sieht 17 , so verleugnet es doch nicht, dass der Ausübende dieser Freiheit, des besonderen Freiraumes wegen, einen entsprechenden Vertrauensnachweis erbringen muß. Herkömmlich wird in der Habilitation dieser Vertrauensnachweis erblickt 18 . Die Habilitation prägt das deutsche Universitätsbild. Der auf ihrer Grundlage erworbene Status ist auch aus diesem Grunde verfassungsfest und muß im Besoldungsrecht seinen Niederschlag finden. Nur für die Zukunft wäre der Gesetzgeber frei, die Bedeutung dieses Leistungsnachweises zu minimieren. So wie er in der Vergangenheit - wenngleich nicht unumstritten - frei war, den Status des Emeritus zu Gunsten des pensionierten Hochschullehrers aufzuheben, so wäre er auch frei, pro futuro den habilitierten Hochschullehrer zu Gunsten eines ausschließlich durch pädagogische Fähigkeiten ausgewiesenen Hochschullehrers zu ersetzen. Das setzte allerdings eine entsprechend gleichförmige Änderung sowohl des Besoldungsrechts als auch der darauf zugeschnittenen Hochschulstrukturgesetze voraus und ihre sachliche Rechtfertigung. Allerdings fiele die erforderliche Begründung schwer. Zum einen sieht das HRG bereits gegenwärtig eine angemessene Berücksichtigung pädagogischer Befähigung als Einstellungsvoraussetzung für die Berufung vor. Zum anderen widerspräche es der gegenwärtig politischen Forderung, aus Statusgründen die Leistungen im Staate zu prämieren. 14 Ziemske in: Ziemske/Langheid/Wilms/Haverkate (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik - Festschrift für Martin Kriele zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 1241/ 1242: „Die Weisungsbefugnis der Hochschulleitung darf sich nur auf die äußerlich »ordnungsgemäße' Erfüllung der Lehrverpflichtungen beziehen, also beispielsweise die erforderliche Zahl von Stunden - wie im Studienplan vorgesehen - zu lesen." 15 Scholz in: Maunz/Dürig/Herzog (Hrsg.), Grundgesetz, Band I, Stand: November 1997, Art. 5 Rdnr. 172; Wendt in: von Münch/Kunig (Hrsg.) (Anm. 6), Band 1, Art. 5 Rdnr. 102. 16 Es wird bei der Definition des Begriffs der Hochschullehrer ausdrücklich auf die derzeitige Hochschulstruktur verwiesen, BVerfGE 35, 79/126. 17 Allerdings dürfen der Gruppe der Hochschullehrer keine Personen mit minderer Qualifikation zugerechnet werden, BVerfGE 39, 247/255.

« Schmidt-Bleibtreu/Klein

(Anm. 4), Art. 5 Rdnr. 16.

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Aus diesen Gründen scheint mir der Reformgesetzgeber auch im Rahmen der Umstrukturierung der Hochschulen gut beraten, sich ausschließlich an standortsicherenden Zielen auszurichten und sozialmotivierte Neidereien sowie gesellschaftspolitische Umverteilungsmotive nicht zum tragenden Baustein bei seinem Reformvorhaben werden zu lassen. In diesem besoldungsrechtlichen Zusammenhang erlaube ich mir, erinnernd daran hervorzuheben, dass die Bayerische Staatsregierung an der Habilitation als Regelvoraussetzung für die Berufung festhalten will.

II. Belohnungssystem: Prämien und Zulagen Verfassungsrechtliche Gründe sprechen demnach dafür, den politisch gewollten Einbau leistungsbezogener Elemente in das hochschulrechtliche Besoldungssystem nur auf der Basis eines leistungsbezogenen Besoldungssystems vorzunehmen. Nicht Sanktionen, sondern „Leistungsanreize" für Hochschullehrer sollen „zusätzlich" geschaffen werden 19. Dies unterstreichen die hochschulpolitischen Eckpunkte des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie vom Dezember 1996. Unter Zugrundelegung einer lebensnahen Betrachtungsweise bleibt ihre Realisierung nur zu hoffen. Vorausgesetzt nämlich, deutsche und insbesondere bayerische Universitäten würden tatsächlich nicht den Leistungsstandard von Harvard und Yale erreichen - wie vielfach behauptet - , wäre die Annäherung und Überbietung des dann hier sektoriell im Hochschulwesen geltenden amerikanischen Maßstabes sicher nicht von Leistungsträgern zu erwarten, die wie Oberstudienräte besoldet werden. Vorbild eines universitären Belohnungssystems könnten die in der am 29. 1.1996 verabschiedeten Dienstrechtsreform etablierten Leistungsprämien und Leistungszulagen einschließlich ihrer Öffnungs- und Experimentierklauseln zu Gunsten der Länder sein. Die Länder wären danach ermächtigt, neben dem Bund - unter Wahrung eines besoldungsrechtlichen Rahmens - Regelwerke für jenseits der Beförderung liegende Belohnungen auszuarbeiten. Kein Problem dürfte hierbei sein, die klassischen, an Hochschulen bereits bewährten und funktionstüchtig greifenden Anforderungsprofile leistungsorientiert zu überbieten. In dem klassischen System der Leistungsbeurteilung von Hochschullehrern bestehen leistungsbezogene Besoldungselemente für Professoren in der Anzahl ihrer Rufe. Die Anlage zum BBesG der Besoldungsgruppe C sieht die Möglichkeit vor, dass Hochschullehrer der Besoldungsgruppe C 4 durch Berufungen in begrenztem Umfang besser besoldet werden können. In diesem klassischen Bereich wäre daran zu denken, die rigiden, den Wettbewerb unter Hochschullehrern einengenden Regelungen zu Gunsten leistungs19

Schellenbach, Leistungsprämien und Leistungszulagen, DVB1. 1995, 1153.

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bezogener Freistellungen zu lockern, etwa durch Streichung der Berufungsaltersgrenze von 52 Jahren oder der dreijährigen Sperrfrist für Frischberufene sowie die Erweiterung des finanziellen Verhandlungsspielraums. Angesichts der Haushaltslage in Bund und Ländern reduziert sich aber die Reformdiskussion weg vom klassischen Bereich und hin zum Einbau modaler leistungsbezogener Lehr- und Forschungsbeurteilung. Vornehmlich die Gewichtung zwischen Lehre und Forschung soll verschoben werden; die Lehre soll mehr als bisher Leistungsbeurteilungskriterium sein 20 . Professoren sollen sich auch zum Zwecke der Berufung vermehrt der Lehrevaluation unterziehen. Lehrberichte aus den einzelnen Lehrveranstaltungen sollen den Dekanen und neu zu errichtenden Hochschulräten als Grundlage der Ausübung ihrer ausdrücklich einzuräumenden Leistungs- und Weisungsrechte werden. Sie könnten darüber hinaus auch Grundlage leistungsbezogener zukünftiger Prämien und Zulagen sein. An verfassungsrechtliche Grenzen stießen zusätzliche modale Leistungskriterien nicht, solange die Freiheit von Forschung und Lehre sichergestellt ist 21 . Auch das neue Leitungsgremium der bayerischen Hochschulen, der Hochschulrat, sowie der mit Machtbefugnissen ausgestattete Dekan gründen sich nur auf übertragener Gewalt des Staatsministeriums und sind - wie dieses - gegenüber den Hochschullehrern zur Achtung ihrer Lehrfreiheit verpflichtet 22. Daraus und aus der Gleichheit der Professoren folgt für sie, dass sie auch weiterhin am Konsensprinzip gebunden bleiben. Danach muß bei der Erfüllung professoraler Aufgaben alles auf Einvernehmlichkeit aufgebaut sein. Nur im Falle von erheblichen Funktionsbeeinträchtigungen sind die Leitungsorgane notfalls auch zur Anordnung im Einzelfall berechtigt. Die Lehrbeurteilung müßte sich darüber hinaus auf äußere Eckdaten wie Anzahl der Teilnehmer und Regelmäßigkeit der Veranstaltung beschränken23. Sie dürfte aber keinesfalls zur Kontrolle der Lehrinhalte führen. 20 Leistungskontrolle im Bereich der Forschung würde sich auch schwierig gestalten, versagt sie doch überall dort, wo es um die Erfassung und Wertung schöpferischer Leistung geht; vgl. Neeße, Der Leistungsgrundsatz im öffentlichen Dienst, München 1967, S. 74. 21 Bredendiek/Meier, Die Novelle des öffentlichen Dienstrechs: Reform oder Reförmchen?, NVwZ 1996, 444/448: „In den Besoldungsordnungen C und R ist jedoch von einem leistungsabhängigen Aufsteigen und der Aufstiegshemmung im Grundgehalt abgesehen worden. Im Hochschulbereich und bei Richtern soll damit jede exekutive Einflußnahme im Hinblick auf die Freiheit der Lehre und Forschung bzw. richterliche Unabhängigkeit über Besoldungsleistungen vermieden werden." 22 Schachtschneider/Beyer, Forschung und Lehre sind frei, BayVBl. 1998, 171 /173: „Bewertungen der Qualität der Lehre seitens der Hochschulorgane sind somit außer im Falle der Mißbrauchsaufsicht verfassungswidrig." 23 Finkenstaedt, Zweiundsiebzig Prozent, in: Enders/Teichler (Hrsg.), Der Hochschullehrerberuf, Neuwied 1995, S. 41 /49f.

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Das Karlsbader Bundes-Universitätsgesetz vom 20. September 1819 legt Zeugnis darüber ab, wie schädlich Inhaltskontrolle an Universitäten auf die Entwicklung eines Gemeinwesens ausstrahlen kann. Auch damals - wenngleich unter anderen politischen Zielen und verfassungsrechtlichen Vorgaben - wurde ein Exekutivorgan bemüht, erwünschte politische Ergebnisse an deutschen Universitäten zu erzielen. § 1 des provisorischen Bundesbeschlusses über die in Ansehung der Universitäten zu ergreifenden Maßregeln stattete ein bei jeder Universität mit zweckmäßigen Instruktionen und ausgedehnten Befugnissen versehenes und von den Regierungen für „tüchtig befundenes" Leitungsgremium mit der Aufgabe aus: „ . . . den Geist, in welchem die akademischen Lehrer bei ihren öffentlichen und Privatvorträgen verfahren, sorgfältig zu beobachten, und demselben, jedoch ohne unmittelbare Einmischung in das Wissenschaftliche und die Lehrmethoden eine heilsame, auf die künftige Bestimmung der studierenden Jugend berechnete Richtung zu geben ...".

Der historische Rückblick erklärt den Grund für die Sensitivität deutscher Hochschullehrer im Umgang mit staatlicher und staatlich abgeleiteter Reglementierung und verdeutlicht zugleich, wie problematisch unter Aufrechterhaltung der grundsätzlich garantierten Freiheit der Universitätslehre die Etablierung von auswirkenden Lehrevaluationen ist. Hier verpflichtet die Verfassung zur Verhältnismäßigkeit sowohl hinsichtlich besonderer inhaltlicher Zielsetzungen als auch verbaler Sorgfalt bei ihrer staatlichen Begründung. Insbesondere die Geeignetheit und Erforderlichkeit besoldungsauswirkender Lehrevaluationen ist staatlicherseits darzulegen und nicht in Angst evozierenden Wortsalven von oben herab zu verordnen. Zentrale Fragen bleiben bislang nicht ausreichend beantwortet: Worauf gründet sich das von politischen Stellen behauptete und in populistisch anmutenden Medienkampagnen dargestellte angebliche Defizit universitärer Lehre? Müssen der Besuch von Repetitorien und hohe Durchfallquoten im juristischen Studium und Staatsprüfungen per se auf das Versagen der Hochschullehrer zurückzuführen sein? Ein zusätzliches Problem besoldungsrechtlich auswirkender Lehrevaluation liegt in der Auswahl der Beurteilenden. Soweit Lehrevaluation aus verfassungsrechtlichen Gründen auf die rein äußerlichen Beurteilungskriterien beschränkt bleiben muß, wäre es auch unbedenklich, Studenten an der Lehrevaluation zu beteiligen. Allerdings bedarf es einer sorgfältigen Ausarbeitung der Beurteilungskriterien. Art. 5 III GG gebietet nämlich einen engen Zusammenhang24 von Forschung und Lehre 25 . Die Freiheit der Lehre garantiert das Recht, Lehre auf der Grundlage 24 BVerfGE 35, 79/113. 25

Vgl. zur Präferenz und Zeitverteilung von Universitätsprofessoren in Forschung und Lehre: Enders/Teichler, Der Hochschullehrerberuf, Neuwied 1995, S. 13/17 f.

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eigener Forschung zu betreiben. Universitätsausbildung ist von Verfassungs wegen qualitativ anders als Schul- oder Fachhochschulausbildung. Nach Art. 5 III GG ist die Universität gehalten, die Lehre einzubinden in die Forschung. Nicht der Lehre wegen garantiert das Grundgesetz die Universitäten; sie ist akzessorisch eingebunden in den Forschungsauftrag. Diesem verfassungsrechtlichen Leitbild ist die Reformdiskussion entrückt, wenn sie die Gewichtung der Lehrevaluation überzieht und als das einzige Kriterium im Hinblick auf die hochschulrechtliche Besoldung greifen läßt. Die Forschungsleistung eines Wissenschaftlers muß auch weiterhin das vorrangige Kriterium an Universitäten bleiben. Lehre ohne Forschung ist denkbar, aber wegen Art. 5 III GG an Universitäten verfassungsrechtlich nicht realisierbar. Bisher wurde auch die Forschungsleistung eines Hochschullehrers durch die Anzahl seiner Rufe gemessen. Das Verbot der Hausberufung stellt hierbei sicher, daß die Leistungsbeurteilung von externen Wissenschaftlern anderer Hochschulen wahrgenommen wird und in Berufungslisten verifizierbar ist. Die Forschungsbeurteilung durch hochschulinterne Gremien stellt neue Herausforderungen, insbesondere auch an die Objektivität. Soll künftig das Formalkriterium der Anzahl veröffentlichter Publikationen maßgeblich sein oder sind auch ihr Inhalt sowie ihre Wirkung zu berücksichtigen? Das gegenwärtige Besoldungssystem an deutschen Universitäten ist auf Vertrauen und Leistungswettbewerb gleichermaßen angelegt und stützt sich auf einen reichhaltigen Schatz von Erfahrungswerten. Dazu zählt auch das bis in die 60er Jahre etablierte Mischsystem aus Mindestbesoldung, Hörergeldern und Prüfungsgebühren für Hochschullehrer, das wegen seiner defizitären Anwendung durch das gegenwärtige Besoldungssystem abgelöst wurde. In der Praxis führte die Ausweitung des Fächerkanons dazu, dass immer mehr kleine Fächer mit geringeren Hörerzahlen entstanden. Damit schwanden die Kollegeinnahmen, mochten die Hochschullehrer auch noch so fleißig lesen und noch so gute Vorlesungen halten. Die Einrichtung von Parallelprofessuren zog nach sich, dass die dienstältesten Professoren immer wieder die lukrativen Pflichtvorlesungen und Übungen hielten, während die jüngeren Hochschullehrer an diese Veranstaltungen nicht herangelassen wurden. Ein auch für Studenten interessanter Wechsel fand nicht statt. Oft war nicht die Qualität einer Vorlesung, sondern der Zufall für die Besoldung maßgeblich. Die Hörer orientierten sich vielfach nur nach Prüfungen, d. h. sie belegten die Veranstaltungen unabhängig von der Güte nach der Prüfungsrelevanz des Vorlesenden, mochte dieser auch noch so langweilig sein. Eine Renaissance dieser Verhältnisse kann nicht wünschenswert sein. Hier stehen auch die Leitungsorgane in der Pflicht, möglichen Mißbräuchen in der Anwendung schon im Vorfeld zu wehren und Alternativkonzeptionen zu erarbeiten.

Schriftenverzeichnis 1 (Stand Februar 1999)

I. Gesammelte Schriften 1. * Staat. Schriften zu Staatslehre und Staatsrecht 1957-1991, Berlin 1994, 974 S. 2. ** Beamtentum. Schriften zum Beamtenrecht und zur Entwicklung des öffentlichen Dienstes 1968-1991, Berlin 1995, 707 S. 3. * * * Eigentum. Schriften zu Eigentumsgrundrecht und Wirtschaftsverfassung 1970 1996, Berlin, 1. Aufl. 1996, 2. Aufl. 1998, 1094 S.

II. Selbständige Veröffentlichungen 1. Grundrechte und Privatrecht, München/Berlin 1960, 428 S. 2. Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, Tübingen 1964, 72 S. 3. Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat. Dargestellt am Beispiel des Presseund Informationsamtes der Bundesregierung, Berlin 1966, 177 S. 4. ** Die Unvereinbarkeit von öffentlichem Amt und Parlamentsmandat, Wiesbaden 1967, 53 S. 5. Werbefernsehen und öffentliches Recht - ein Beitrag zur Problematik der öffentlichen Aufgabe sowie zu Grundlagen und Grenzen fiskalischer Staatstätigkeit, Berlin 1967, 266 S. 6. Unvereinbarkeit von öffentlichem Dienst und Abgeordnetenstellung, Stuttgart 1968, 80 S. 7. Die Bayerischen Grundrechte, Wiesbaden 1968, 137 S. 8. Monarchisches Hausrecht in demokratischer Gleichheitsordnung - Der Wittelsbacher Ausgleichsfonds in Bayern, Erlanger Forschungen, 1968, I I I S . 9. Bayerisches Verwaltungsrecht in der Rechtsprechung, 1. Aufl. München 1968, 2., völlig neu bearb. Aufl. München 1977, 248 S. 10. ** Mitbestimmung im öffentlichen Dienst, Bonn-Bad Godesberg, 1970, 101 S. 1

Abhandlungen, die in einen der drei Bände der Gesammelten Schriften aufgenommen worden sind, werden in der nachfolgenden Bibliographie jeweils durch den Hinweis * (Staat), ** (Beamtentum) oder * * * (Eigentum) gekennzeichnet.

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Schriftenverzeichnis

11. Verfassungsrechtliche Grenzen der Erbschaftsbesteuerung, Berlin 1970, 129 S. 12. ** Grundlagen des Berufsbeamtentums, Bonn-Bad Godesberg 1971, 80 S. 13. Beamtenstreik?, Bonn-Bad Godesberg 1971, 77 S. 14. * Effizienz als Rechtsprinzip, Tübingen 1971, 60 S. 15. SPD und Recht, Sonderheft „Die Politische Meinung", 1972, 32 S. 16. Sozialbindung des Eigentums, Berlin 1972, 245 S. 17. Grundeigentum und Versorgungsleitungen, Berlin 1973, 84 S. 18. Sozialversicherung und Privatversicherung, Berlin 1974, 189 S. 19. Zur Abgrenzung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung, Köln 1974, 57 S. 20. ** Vorgesetztenwahl?, Bonn-Bad Godesberg 1974, 91 S. 21. Das Lebensrecht, Hannover 1975, 59 S. 22. Änderung des Bundesbaugesetzes, Heft 46 der Schriftenreihe des Zentralverbandes der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer e.V., Düsseldorf 1975, 14 S. 23. Die Pressegleichheit, Berlin 1976, 188 S. 24 * * * „Kleineres Eigentum" - Grundlage unserer Staats- und Wirtschaftsordnung (zusammen mit Otmar Issing), Göttingen 1976, 94 S. 25. Das staatliche Aufsichtsrecht über den Religionsunterricht unter besonderer Berücksichtigung der Lehrpläne und Lehrmittel, München 1976, 106 S. 26. Wertzuwachsbesteuerung und Eigentum, Berlin 1978, 177 S. 27. Beamtensicherung zwischen Beihilfe und Krankenversicherung, München 1978, 92 S. 28. Verwalteter Wettbewerb - Verwaltungskontrolle gegen unlauteren Wettbewerb, Institut für angewandtes Wirtschaftsrecht, IaW - Schriften 1, München, o.J. (1978), 48 S. 29. Demokratie - Selbstzerstörung einer Staatsform?, Berlin 1979, 252 S. 30. Privatisierung der Risiken? Für eine Entstaatlichung nach wirtschaftlichen Grundsätzen, Institut für angewandtes Wirtschaftsrecht, IaW - Schriften 2, München, o. J. (1979), 61 S. 31. Der Gleichheitsstaat - Macht durch Nivellierung, Berlin 1980, 319 S. 32. Gewerkschaftsprogramm: Zwischen Gemeinwohlverpflichtung und Gruppeninteresse, Köln 1980, 150 S. 33. Die allgemeine Bindung der Finanz Verwaltung an die Rechtsprechung, Wiesbaden 1980, 130 S. 34. Stiftungen in der Rechtsprechung, Bd. I, Heidelberg 1980,190 S. 35. Stiftungen in der Rechtsprechung, Bd. II, Heidelberg 1982, 175 S. 36. Die Lenkungsauflage, Stuttgart 1982, 87 S. 37. Die Demokratische Anarchie - Verlust der Ordnung als Staatsprinzip?, Berlin 1982, 416 S.

Schriftenverzeichnis

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38. Verwaltungsvorschriften als „Nebengesetze" im Steuerrecht?, Kölner Steuerthemen 7, 1982, 64 S. 39. Der Führer - Persönliche Gewalt: Staatsrettung oder Staatsdämmerung, Berlin 1983, 398 S. 40. Waldsterben, öffentlich-rechtliche Ersatzansprüche, Köln 1983, 116 S. 41. Berufsordnungsrecht und Werbeverbote, München 1984, 109 S. 42. Versorgungsbeitragspflicht für Beamte?, Bonn 1984, 98 S. 43. Kostendeckung: Kostenmieten im sozialen Wohnungsbau, Köln 1984, 171 S. 44. Der Triumph - Erfolgsdenken als Staatsgrundlage. Gedanken zu einer Staatslehre der großen, dauernden Ordnung, Berlin 1985, 317 S. 45. Bodengewinnbesteuerung (zusammen mit Paul Kirchhof), Bonn 1985, 271 S. 46. Stiftungen in der Rechtsprechung, Bd. III, Heidelberg 1985, 203 S. 47. Wohnungsgemeinnützigkeit und Verfassungsrecht, Grundrechtliche Schranken einer Indienstnahme Privater, Köln 1986, 179 S. 48. Selbstbedienungsgroßhandel und Verfassungsrecht - Zu den Verfassungsschranken des Wettbewerbsrechts, Berlin 1986, 203 S. 49. Umweltschutz durch Eigentümer unter besonderer Berücksichtigung des Agrarrechts Zur Lehre von der Eigentümerverantwortung, Berlin 1987, 181 S. 50. Wohnungsgemeinnützigkeit, Bauträgerschaft, Verfassungsrecht, Köln 1987, 49 S. 51. Staatsrenaissance - Die Wiederkehr der „guten Staatsformen", Berlin 1987, 288 S. 52. Steuerliche Behandlung gemeinnütziger Wohnungsunternehmen beim Übergang von Steuerbefreiung zu Steuerpflicht, Köln 1988, 181 S. 53. ** Legitimation des Berufsbeamtentums aus der Aufgabenerfüllung - Ergebnisse einer Untersuchung zur Legitimation des Berufsbeamtentums aus deren Aufgaben, Bonn 1988, 216 S. 54. Gemeinnützige Wohnungsunternehmen - Firmennamen und Wettbewerb, Köln 1989, 173 S. 55. Der Monumentalstaat. „Große Lösung" - Wesen der Staatlichkeit, Berlin 1989, 335 S. 56. Staatliche Rechnungsprüfung Privater, Berlin 1990, 168 S. 57. Situationsgebundenheit des Eigentums - eine überholte Rechtssituation. Juristische Studiengesellschaft, Berlin 1990, Studienreihe Heft 119, 21 S. 58. Staatseinung - Ordnungskraft föderaler Zusammenschlüsse, Berlin 1991, 285 S. 59. Staatliche Rechnungsprüfung kirchlicher Einrichtungen, Berlin 1991, 103 S. 60. Arbeitsschutz im öffentlichen Dienst. Studien zum öffentlichen Recht und zur Verwaltungslehre, Bd. 47, München 1991, 74 S. 61. Eigentum, in: Deutschland-Report, Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin/Melle 1993,43 S. 62. Der Unsichtbare Staat - Machtabbau oder Machtverschleierung?, Berlin 1994, 285 S. 67 FS Leisner

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Schriftenverzeichnis

63. Das Eigentum Privater - Vertragsfreiheit und Sozialbindung, hg. vom Institut für Genossenschaftswesen, Münster 1995, 17 S. 64. Die verfassungsrechtliche Belastungsgrenze der Unternehmen - dargestellt am Beispiel der Personalzusatzkosten, Berlin 1996, 123 S. 65. Der Abwägungsstaat. Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit?, Berlin 1997, 251 S. 66. Demokratie. Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform, Berlin 1998, 1086 S. 67. Ökologische Steuerreform (zusammen mit Klaus D. Haase), München 1998,134 S. 68. Die Staatswahrheit. Macht zwischen Willen und Erkenntnis, Berlin 1999, 271 S.

I I I . Beiträge in Zeitschriften, Sammelwerken (ohne Rezensionen, Nachrufe, Diskussionsbeiträge, Tagungsberichte u.ä.) 1. * Verfassungswidrigkeit ausländischer Rechtsnormen, BayVBl. 1957, S. 108 ff. 2. Le Président de la République et le Gouvernement dans la Constitution de Bonn, Revue du Droit Public et de la Science Politique en France et à l'Etranger 1958, S. 1033 ff. 3. Soziale Härte. Ein Beitrag zur Sinnerfüllung der arbeitsrechtlichen Generalklauseln (insbesondere nach österreichischem Recht), Österreichisches Recht der Arbeit 1959, S. 15 ff. 4. Die Verfassungsgesetzgebung in der italienischen staatsrechtlichen Tradition - ein Beitrag zur Lehre von der „starren" Verfassung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1960, S. 225 ff. 5. La funzione governativa di politica estera e la separazione dei Poteri, Rivista trimestrale di Diritto pubblico, Mailand 1960, S. 342 ff. * (Übersetzung) Auswärtige Gewalt und Gewaltenteilung. 6. A propos de la répartition des compétences en matière de conclusion des Traités dans la République fédérale d'Allemagne, Annuaire français de Droit international 1960, S. 281 ff. 7. * Die schutzwürdigen Rechte im Besonderen Gewaltverhältnis, DVB1. 1960, S. 617 ff. 8. * Betrachtungen zur Verfassungsauslegung, DÖV 1961, S. 641 ff. 9. La conception du „Politique" selon la Jurisprudence de la Cour constitutionnelle allemande, Revue du Droit Public et de la Science Politique en France et à l'Etranger, Paris 1961, S. 754 ff. * (Übersetzung) Der Begriff des „Politischen" nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 10. Die klassischen Freiheitsrechte in der italienischen Verfassungsrechtsprechung, Jahrbuch des öffentlichen Rechts 10 (1961), S. 242 ff. 11. * Die verfassungsrechtliche Freiheit und ihre Begrenzung, „Von der Freiheit", Sammelband, Hannover 1961, S. 101 ff.

Schriftenverzeichnis 12. Öffentlich-rechtliche Fragen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, BayVBl. 1962, S. 329 ff. 13. Die verfassungsrechtliche Berufsfreiheit - BVerfGE 7, 377 (Apothekenurteil), JuS 1962, S. 463 ff. 14. * Begriffliche Grenzen verfassungsrechtlicher Meinungsfreiheit, Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht 1962, S. 129 ff. 15. * Gefährdungshaftung im öffentlichen Recht?, VVDStRL Heft 20 (1963), S. 185 ff. 16. Französisches Staatshaftungsrecht, VerwArch 54 (1963), S. 1 ff., 240 ff., 369 ff. 17. * Volk und Nation als Rechtsbegriffe der französischen Revolution. Zur „tradition révolutionnaire", Festschrift für Hans Liermann zum 70. Geburtstag, Erlangen 1964, S. 96 ff. 18. Grenzüberschreitende umsatzsteuerliche Organschaft nach deutschem Steuerrecht und Völkerrecht (Territorialität, GATT, EWG), Finanzarchiv 1964, S. 298 ff. 19. * Die Gesetzmäßigkeit der Verfassung, JZ 1964, S. 201 ff. 20. Struttura e funzionamento della pubblica Amministrazione nella Repubblica federale tedesca, Archivio dellTstituto per la Scienza dell'Amministrazione pubblica Bd. II, Mailand 1965, S.3ff., 135 ff. 21. Die Aufklärung und die Grundrechtsentwicklung in Deutschland, in: Die Probleme der Aufklärung und ihre Aktualität - Deutsch-italienisches Kulturinstitut, Meran 1965, S. 207 ff. 22. Artikel: Freizügigkeit, * Großbritannien, * Frankreich, Lebensrecht, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, in: Evangelisches Staatslexikon, 1. Aufl. 1996, überarbeitete 2. Aufl. 1975, Stuttgart/Berlin. 23. The Foreign relations of the Member States of the Fédéral Republic of Germany, Toronto Law Journal 1966, S. 346 ff. 24. Zur Verleihung des Erzeugernamens (Vaternamens) an das uneheliche Kind im Wege der Namensänderung, FamRZ 1966, S. 123 ff. 25. * Grundgesetz nach Landesrecht? Zur Erfüllung bundesverfassungsrechtlicher Begriffe durch landesrechtliche Inhalte, BayVBl. 1966, S. 329 ff. 26. * Grundgesetz nach Landesrecht oder Landesrecht nach Bundesverfassung?, BayVBl. 1966, S. 414 ff. 27. Urheberrechtsverwertung und Verfassungsrecht, Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht Bd. 48, 1966, S. 46 ff. 28. * Die Aufklärung und die Entwicklung der Grundrechte in Deutschland. Festschrift zur Zehnjahresfeier des Deutsch-Japanischen Kulturinstituts, Kyoto 1966, S. 80 ff. 29. Öffentlich-rechtliche Probleme der Beziehungen zwischen Film und Fernsehen, DÖV 1967, S. 693 ff. 30. Errichtung und Einrichtung juristischer Personen in Bayern, BayVBl. 1967, S. 329 ff. 31. * Verwaltungspreis - Verwaltungssteuer. Betrachtung zu den Gebührengrundsätzen, Gedächtnisschrift für Hans Peters, Berlin/Heidelberg/New York 1967, S. 730ff. 32. ** Öffentliches Amt und Berufsfreiheit, AöR 93 (1968), S. 161 ff.

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Schriftenverzeichnis

33. * Schwächung der Landesparlamente durch grundgesetzlichen Föderalismus. Vertikale gegen horizontale Gewaltenteilung, DÖV 1968, S. 389 ff. 34. * Antigeschichtlichkeit des öffentlichen Rechts?, Der Staat 7 (1968), S. 137 ff. 35. * Regierung als Macht kombinierten Ermessens - Zur Theorie der Exekutivgewalt, JZ 1968, S. 727 ff. 36. Haushaltsplan und Staatszielbestimmungen der Bayerischen Verfassung, BayVBl. 1968, S. 257 ff. 37. II diritto del pubblico impiego nella Repubblica Federale Tedesca, in: Archivio dell'Istituto per la Scienza dell'Amministrazione pubblica. La Letteratura e gli orientamenti sui problemi del pubblico impiego, Mailand 1968, S. 210 ff. 38. II Sistema delle Libertä commerciali e professional! nella Repubblica Federale di Germania. Centro italiano di Studi per la conciliazione internazionale, Rom 1968, S. 11 ff. 39. * Föderalismus als kooperativer Dialog. Vorschläge für eine Effizienzsteigerung der Bundesstaatlichkeit, ZRP 1969, S. 14 ff. 40. * Die quantitative Gewaltenteilung. Für ein neues Verständnis der Trennung der Gewalten, DÖV 1969, S. 405 ff. 41. * Imperium in fieri. Zur Evolutionsgebundenheit des Öffentlichen Rechts, Der Staat 8 (1969), S. 273 ff. 42. II controllo giurisdizionale della pubblica amministrazione nella Germania federale. Studi di Diritto pubblico comparato. Conziglio Nazionale delle Ricerche, Rom 1969, S. 199 ff. 43. * * * Die Unzulässigkeit steuerlicher Fiskalprivilegien. Unter besonderer Berücksichtigung der Forstwirtschaft, BB 1970, S. 405 ff. 44. * Die Grenzen rechtlicher Fixierung ethischer und sozialer Werte, Festschrift für Gaspare Ambrosini, Mailand 1970, S. 1177 ff. 45. * Privatinteressen als öffentliches Interesse, DÖV 1970, S. 217 ff. 46. ** Mitbestimmung im öffentlichen Dienst - innere Kontrolle der Staatsgewalt, ZBR 1971, S. 65 ff. 47. * Parteien Vielfalt bei gleichem Parteiprogramm? Ein Beitrag zur Verfassungsdogmatik des Mehrparteienstaats, DÖV 1971, S. 649 ff. 48. ** Das Leistungsprinzip, in: Grundlagen des Berufsbeamtentums, Godesberger Taschenbücher, Bd. 7, 1971, S. 60 ff. 49. Gewaltenteilung innerhalb der Gewalten. Ein Beitrag zum Problem der Hierarchie, Festgabe für Theodor Maunz, München 1971, S. 267 ff. 50. Eigentümer als Beruf. Zum Verhältnis von Art. 12 und Art. 14 GG, JZ 1972, S. 33 f. 51. * Landesverfassungsgerichtsbarkeit als Wesenselement des Föderalismus. Zur Theorie von der Eigenstaatlichkeit der Länder. Verfassung und Verfassungsrechtsprechung, Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, München 1972, S. 183 ff.

Schriftenverzeichnis 52. Leistungsprinzip, Die Bundesverwaltung 1972, S. 9 f. 53. Reform des öffentlichen Dienstrechts, Der Bayerische Beamte 1972, S. 1 ff. 54. * * Amtsbezeichnungen als Gebot der Rechtsstaatlichkeit, DÖV 1973, S. 145 ff. 55. * * Reform der Mitte. Der Beamte zwischen Staatsdiener und Staatsarbeiter, ZBR 1973, S. 97 ff. 56. Die Dienstrechtsreform - eine große politische Entscheidung, Politische Studien Heft 210, 1973, S. 359 ff. 57. * Das Gesetzesvertrauen des Bürgers. Zur Theorie der Rechtsstaatlichkeit und der Rückwirkung der Gesetze, Festschrift für Friedrich Berber zum 75. Geburtstag, München 1973, S. 273 ff. 58. Grundeigentum - von Gott und der Welt verlassen? Volkswirtschaftliche Korrespondenz der Adolf-Weber-Stiftung 1974, Nr. 10, S. 81 ff. 59. * * * Freiheit und Eigentum - die selbständige Bedeutung des Eigentums gegenüber der Freiheit, Festschrift für Herrmann Jahrreiß, Köln 1974, S. 135 ff. 60. * * * Die Bodenreform im Lichte einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in: Grund und Boden in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, Fachreferate des Deutschen Maklertages 1974, Hamburg 1974, S. 20 ff. 61. * * * Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz der Anwaltspraxis, NJW 1974, S. 478 ff. 62 Den Schulleiter wählen? Konsequenzen einer Versuchung, Schulreport 1974, Heft 3, S. 20 f. 63. Vörgesetztenwahl ist verfassungswidrig, Aspekte für Angestellte und Beamte 1974, Nr. 3, S. 13. 64. Moderne Gesellschaft - Moderner öffentlicher Dienst, Der Beamte 1974, S. 91 f. 65. Die Verantwortung der Beamten in der demokratischen Ordnung - zur Reform des öffentlichen Dienstrechts, in: Die Beamten in der demokratischen Ordnung, herausgegeben vom Deutschen Beamtenbund, DBB - Landesbund Nordrhein-Westfalen, Schriftenreihe Heft 12, 1974, S. 17 ff. 66. * * * Wertermittlung bei Inanspruchnahme von Grundstücken durch Versorgungsleitungen. Schriftenreihe des Hauptverbandes der landwirtschaftlichen Buchstellen und Sachverständigen, Heft 77, Entschädigungsaspekte in der Landwirtschaft, Bonn 1974, S. 56 ff. 67. Die Schule und das Elternrecht, 24. Jahresbericht der Landes-Elternvereinigung der Gymnasien in Bayern e.V., München 1974, S. 22 ff. 68. * * * Privateigentum ohne privaten Markt? Gibt es eine verfassungsrechtliche Garantie „des Marktes"?, BB 1975, S. 1 ff. 69. Die Pressegleichheit, ZV + ZV 1975, S. 1402 ff. 70. * Die Pressegleichheit, Archiv für Presserecht 1975, S. 905 ff. 71. * * * Sozialbindung des Eigentums nach privatem und öffentlichem Recht. Privates Nachbarrecht als Hilfsmittel zur Bestimmung der „Enteignungsschwelle", NJW 1975, S. 233 ff.

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72. ** Arbeitskampf gegen den allmächtigen Steuerstaat, ZBR 1975, S. 69 ff. (auch in: Der Bayerische Beamte 1976, S. 1 ff.) 73. * * * Der Eigentümer als Organ der Wirtschaftsverfassung. Gibt es ein „organisationsrechtliches Grundrechtsverständnis"?, DÖV 1975, S. 73 ff. 74 * * * D e r Sozialisierungsartikel als Eigentumsgarantie, JZ 1975, S. 272 ff. 75. * * * Politischer Einfluß des Eigentums - verfassungswidrig?, Volkswirtschaftliche Korrespondenz der Adolf-Weber-Stiftung, Nr. 1 /1975. 76. Der Bund-Länder-Streit vor dem Bundesverfassungsgericht. Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des BVerfG, Tübingen 1976, Bd. I, S. 260 ff. 77. * * * Das Eigentumssyndikat. Fondseigentum und Zwangsgenossenschaft als Formen der Sozialbindung?, DVB1. 1976, S. 125 ff. 78. ** Der Beamte als Leistungsträger - Die Anwendbarkeit des beamtenrechtlichen Funktionsvorbehalts (Art. 33 Abs. 4 GG) auf die Leistungsverwaltung, in: Das Berufsbeamtentum im demokratischen Staat (Hg. Walter Leisner), Berlin 1975, S. 121 ff. 79. Rechtsstaat - ein Widerspruch in sich?, JZ 1977, S. 537 ff. (in französischer Sprache in Festschrift für Charles Eisenmann, Paris 1975, S. 65 ff.) 80. Staatsethik (Hg. Walter Leisner), Köln 1977 * - Das Ebenbild Gottes im Menschen -Würde und Freiheit, S. 81 ff.; * * * _ Privateigentum als Grundlage der Freiheit, S. 136 ff.; * - Friede auf Erden - um jeden Preis?, S. 223 ff. 81. Caritas - innere Angelegenheit der Kirchen, DÖV 1977, S. 475 ff. 82. Keine Förderungsfreiheit im Bereich der Presse, ZV + ZV 1977, S. 1086. 83. * * * Entschädigung für enteignende Eingriffe in das Waldeigentum - unter besonderer Berücksichtigung des Verkehrswertprinzips, AgrarR 1977, S. 356 ff. 84. Eigentum als Schranke der Waldgesetzgebung, Allgemeine Forstzeitschrift 1977, H. 3, S. 62 ff. 85. - Staat und Stiftung, in: Deutsches Stiftungswesen 1966-1976 (Hg. Arbeitsgemeinschaft deutscher Stiftungen), Tübingen 1977, S. 85 ff. - Die Erfüllung des Stiftungszwecks bei sinkenden Einnahmen und steigenden Ausgaben, ebd., S. 93 ff. - Stifter und Stiftungen in der öffentlichen Meinung, ebd., S. 101 ff. - Welche neuen Stiftungen brauchen wir? ebd., S. 109 ff. - Stiftungsrecht in der Diskussion, ebd., S. 119 ff. - Zum Selbstverständnis von Stiftungen, ebd., S. 179 ff. 86. * * * Privateigentum - Grundlage der Gewerkschaftsfreiheit, BB 1978, S. 100 ff. 87. Berufsbeamtentum und Entstaatlichung, DVB1. 1978, S. 733 ff. 88. ** Entstaatlichung und Berufsbeamtentum, in: Schlankheitskur für den Staat (Hg. Hubertus Zuber), Stuttgart 1978, S. 196 ff. 89. ** Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst?, Der bayerische Beamte 1979, S. 5 ff.

Schriftenverzeichnis 90. * Die Verfassungsverbiegung. Durch „kleine Schritte" zu einem anderen Grundgesetz, Grundgesetz und politische Wirklichkeit, Sonderheft Politische Studien 1979, S. 55 ff. 91. * Organisierte Opposition in Verbänden und Parteien?, ZRP 1979, S. 275 ff. 92. * Flexibilität als Bewährungsprobe? Vom Grundgesetz der Werte zur Verfassung der Möglichkeiten, BayVBl. 1979, S. 518 ff. 93. * Minderheitenschutz und Opposition in der Einheitsgewerkschaft, Politeia, Bd. 31, Stuttgart 1979, S. 90 ff. 94. La actividad caritativa como caracteristica de la Iglesia en el moderno Estado social. Südamerikanisch-Deutsches Symposium über Kirche und Staat (Hg. Teräri Dutari), Quito 1980, Universidad Catolva, S. 149 ff. 95. * Chancengleichheit als Form der Nivellierung, Festschrift für Hans R. Klecatsky zum 60. Lebensjahr, Wien 1980, S. 535 ff. 96. ** Der Standort des höheren Dienstes im Beamten verfassungsrecht - Zur Laufbahngruppenordnung, DÖV 1980, S. 496 ff. 97. Verfassungskonflikt zwischen Kirchen und Gewerkschaften, BayVBl. 1980, S. 321 ff. 98. * * * Sozialbindung des Waldeigentums - zu Erwin Nießleins Studie „Waldeigentum und Gesellschaft", AgrarR 1980, S. 126 ff. 99. ** Müssen Lehrer Beamte sein?, ZBR 1980, S. 361 ff. 100. „Entschädigung falls Enteignung". Beachtung der Junktim-Klausel bei enteignenden Eingriffen?, DVB1. 1981, S. 76 ff. 101. * * * Spekulation - ein politisches Schlagwort, DWW 1981, S. 276 ff. 102. II Diritto edilizio nella Repubblica Federale di Germania. Urbanistica e Diritto in Europa, Turin 1981, S. 100 ff. 103. ** Beamtentum in Anarchiegefahr?, ZBR 1981, S. 143 ff. 104. * * * Jagdrecht und Eigentum - Unter besonderer Berücksichtigung des Jagdrechts der Länder, NuR 1981, S. 11 ff. 105. * * Sozialversicherungspflicht für Ruhestandsbeamte? Beamtenpensionen als Berechnungsgrundlagen der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung, in: Verantwortung und Leistung, Schriften der Arbeitsgemeinschaft der Verbände des höheren Dienstes, Heft 5, Sept. 1981, 25 S. 106. * „Gesetz wird Unsinn ..." - Grenzen der Sozialgestaltung im Gesetzesstaat, DVB1. 1981, S. 849 ff. 107. * Die allgemeine Bindung der Finanzverwaltung an die Rechtsprechung, DStZ 1981, S. 375 ff. 108. * Egalisierung - ein Anliegen der Gerechtigkeit?, Bitburger Gespräche, Jahrbuch München 1982, S. 81 ff. 109. * Der Staatspräsident als „demokratischer Führer", Festschrift für Johannes Broermann, Berlin 1982, S. 433 ff. 110. Das kirchliche Krankenhaus im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 17 (1983), S. 9 ff.

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111. II ruolo politico dei sindicati nelle democrazie occidentali, in: Individuo, Collettivitä e Stato (Hg. Lentini), Bd. I 1983, S. 221 ff. * (Übersetzung) Die politische Rolle der Gewerkschaften in den westlichen Demokratien. 112. * * * Eigentumswende? Liegt der Grundwasserentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein neues Eigentumsverständnis zugrunde?, DVB1. 1983, S. 61 ff. 113. * * * Von der Leistung zur Leistungsfähigkeit - die soziale Nivellierung. Ein Beitrag wider das Leistungsfähigkeitsprinzip, StuW 1983, S. 97 ff. 114. Die beabsichtigte Neuordnung des Beihilferechts - 1983. Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Bedenken, ZBR 1983, S. 141 ff. 115. * Der Vorrang des Gesellschaftsinteresses bei den Eigengesellschaften der öffentlichen Hand, Wirtschaft und Verwaltung 1983/84, S. 212 ff. 116. * * * Folgerungen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Gewährleistung des Eigentums, AgrarR, 1984, Beilage I, S. 21 ff. 117. Erfolgsdenken - Staatsgrundlage der Demokratie. Schriftenreihe der IHK LüneburgWolfsburg, Heft 12, 1984, 12, S. 23 ff. 118. * * * Kein Anrechnungsverfahren für Steuerbefreite?, StuW 1984, S. 244 ff. 119. * * * Regalien und Sozialbindung des Eigentums, DVB1. 1984, S. 697 ff. 120. * * Zulageneinfrierung auf Dauer - ein Verfassungsrisiko. Dargestellt am Beispiel der Bundesbankzulage, ZBR 1984, S. 225 ff. 121. Waldsterben - öffentlich-rechtliche Ersatzansprüche, Allgemeine Forstzeitschrift 1984, S. 1163 ff. 122. * Vom Gesetzesstaat zur Tarifvertragsgemeinschaft, Demokratie als Kartell der Sozialpartner?, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 29 (1984), S. 113 ff. 123. La Giustizia costituzionale in Germania oggi, Costituzione e Giustizia costituzionale nel Diritto comparato, Rom 1985, S. 372 ff. 124. Le commissioni d'inchiesta parlamentari in Germania, in: Le inchieste delle Assemblee parlamentarie (Hg. Vergattini), Bologna 1985, S. 361 ff. 125. Von der persönlichen Freiheit zum Persönlichkeitsrecht, Festschrift für Heinrich Hubmann zum 70. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1985, S. 295 ff. 126. L'"Anarchia istituzionale" nel pubblico impiego, Festschrift für Vezio Crisafulli II, Padua 1985, S. 445 ff. 127. Neue Technologien und Personalvertretung, Deutscher Beamtenbund, Schriftenreihe Gesellschaftspolitische Grundlagen (A) Bd. 1, S. 20 ff. 128. Gibt es für die Gemeinschaft Wichtigeres als Effizienz?, Hanns Martin Schleyer-Stiftung, Kongreß: Das europäische Erbe und seine christliche Zukunft, Köln 1985, S. 112 ff. 129. ** Sonderopfer - Solidaritätspflicht bei Arbeitslosigkeit und knappen Finanzen?, in: Der öff. Dienst zwischen Sparzwängen und wirtschaftlicher Teilhabe, Godesberger Taschenbücher 1985, S. 29 ff.

Schriftenverzeichnis 130. * * * Der Steuerstaat - Weg der Gleichheit zur Macht, StuW 1986, S. 305 ff. 131. * Richterrecht in Verfassungsschranken, DVB1. 1986, S. 705 ff. 132. * Zur Legitimität politischen Entscheidungshandelns. Vom Mehrheits- zum Minderheitsprinzip? Konsens und Konflikt. 35 Jahre Grundgesetz (Hg. Randelzhofer/Süß), Berlin/New York 1986, S. 287 ff. 133. Eigentum als Existenzsicherung? Das „soziale Eigentum" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Festschrift für Klaus Obermayer zum 70. Geburtstag, München 1986, S. 65 ff. 134. Das Juristenmonopol in der öffentlichen Verwaltung, in: Jurist und Staatsbewußtsein (Hg. Eisenmann/Rill), 1987, S. 53ff. 135. Le norme generali del Diritto internazionale in Germania, in: Costituzione dello Stato e norme internazionali (Hg. Leanza), Rom 1988, S. 151 ff. 136. Ladenschlußregelungen für den Großhandel?, BB 1988, S. 175 ff. 137. * * * Bestandsgarantie des Eigentums - vom Bergrecht unterminiert?, DVB1. 1988, S.555 ff. 138. „The Federalist" e lo Stato federale tedesco, in: II Federalista - 200 anni dopo (Hg. Negri) 1988, S. 311 ff. 139. Le régime juridique des fondations en droit allemand. La documentation française, notes et études documentaires 4, 1989, S. 97 ff. 140. ** Versetzung und Abordnung im Beamtenrecht - Rechtsfragen des „Amtswechsels", ZBR 1989, S. 193 ff. 141. * Urteilsverfassungsbesch werde wegen Nichtvorlage bei Abweichung - Das Bundesverfassungsgericht als Garant der „Großen Senate", NJW 1989, S. 2446 ff. 142. * * * Differenzierungen nach Betriebsgröße - Grundrechtsprobleme bei Eingriff und Förderung gegenüber „größeren Betrieben", DVB1. 1989, S. 1025 ff. 143. * * * § 149 Eigentum, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI: Freiheitsrechte (Hg. Isensee/Kirchhof), Heidelberg 1989, S. 1023 ff. 144. * * * § 150 Erbrecht, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI: Freiheitsrechte (Hg. Isensee/Kirchhof), Heidelberg 1989, S. 1100 ff. 145. ** * Situationsgebundenheit des Eigentums - eine überholte Rechtssituation?, in: Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 119, Berlin 1990, S. 5 ff. 146. Giustizia costituzionale e Länder nella Repubblica Federale Tedesca, Giustizia e Regioni, Padua 1990, S. 225 ff. 147. * * * Die Zulässigkeit der Subventionierung deutscher Steinkohle zur Verstromung nach europäischem Recht, GewArch 1990, S. 377 ff. 148. Der „Kohlepfennig" - eine zulässige Abgabe?, GewArch 1990, S. 265 ff. 149. * * * Altlastensanierung zu Lasten der Eigentümer? Sicherheitsrechtliche Zustandsverantwortlichkeit und Eigentumsgrundrecht. Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts 1990, S. 217 ff.

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150. * Das „Menschenbild" des Grundgesetzes. Vorträge und Beiträge der Politischen Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung, Heft 15, 1991, S. 7 ff. 151. * * * Das Bodenreform-Urteil des Bundesverfassungsgerichts - Kriegsfolge- und Eigentumsentscheidung, NJW 1991, S. 1569 ff. 152. * * * Der mündige Verbraucher in der Rechtsprechung des EuGH. Zur europarechtlichen Zulässigkeit abstrakter Gefährdungstatbestände, EuZW 1991, S. 498 ff. 153. * * * Eigentumsschutz - im Naturschutzrecht eine Ausnahme?, DÖV 1991, S. 781 ff. 154. I Länder tedeschi e le Regioni italiane, in: Regione Emilia-Romagna, Kongreß über das Thema, Bologna 1991, S. 33 f. 155. * * Verfassungsreform des öffentlichen Dienstrechts?, Aus Politik und Zeitgeschichte, Beil. zur Wochenzeitung „Das Parlament" 1991, Nr. 49, S. 29 ff. 156. * * * Forstwirtschaft-Ökologie und Ökonomie, NVwZ 1991, S.40ff. 157. * * * Eigentumsschutz von Nutzungsmöglichkeiten - Aufopferungsentschädigung für nicht realisierte Nutzungen in der Marktwirtschaft, BB 1992, S. 73 ff. 158. * * * Rückerwerbsrecht von Alteigentum Ost - nach Gesetz oder Verwaltungspraxis?, DVB1. 1992, S. 131 ff. 159. * * * Baufreiheit oder staatliche Baurechtsverleihung?, DVB1. 1992, S. 1065 ff. 160. * * * Die Höhe der Enteignungsentschädigung - Unterschreitung des Verkehrswertes?, NJW 1992, S. 1409 ff. 161. * * * Verfassungswidriges Verfassungsrecht - Nach dem „Bodenreform-Urteil" des BVerfG, DÖV 1992, S. 432 ff. 162. Federazzione di cittadini e Stati: un modello per l'Europa, in: Una Societä libera per l'Europa CIDAS 1992, S. 319 ff. 163. * * * Eigentumsrecht und Agrar(struktur)politik, in: Leit(d)bilder der Agrarpolitik, Schriftenreihe des Vereins für Agrarwirtschaft, Bd. 49, Bonn 1992, S. 51 ff. 164. Einsatz von Beamten in der Wirtschaftsverwaltung in den neuen Ländern, Volkswirtschaftliche Korrespondenz der Adolf-Weber-Stiftung 1992, Nr. 4. 165. * * * Degressive Ersatzleistungen. Ansätze zu einer „Sozialisierung" von Entschädigung und Schadensersatz, NJW 1993, S. 353 ff. 166. * * * Städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen und Eigentum Privater - Zum neuen Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz, NVwZ 1993, S. 935 ff. 167. * * * Wahrheitssuche statt Suggestionsvermutung - Ein neuer Anstoß des EuGH zur Wettbewerbsliberalisierung, EuZW 1993, S. 655 ff. 168. * * * Abkommensbruch durch Außensteuerrecht? Bilanz der Diskussion um die Novelle des Außensteuergesetzes von 1992, RiW 1993, S. 1013 ff. 169. * * * Eigentum in engen Rechtsschranken des Umweltschutzes, Wertermittlungsforum 1993, S. 125 ff.; 177 ff. 170. Die gewandelte Stellung des Eigentumsrechts in der Gesellschaft, in: Anforderungen an beratende Berufe, Schriftenreihe des Hauptverbandes der landwirtschaftlichen Buchstellen und Sachverständigen e.V., Heft 141, 1994, S. 25 ff.

Schriftenverzeichnis 171. * * * Das Eigentum zwischen privater Nutzung und sozialer Bindung, AgrarR 1994, Beilage II, S.3ff. 172. Ausforschungsdurchsuchung? Ermittlungsmaßnahmen im Bankenbereich, BB 1994, S. 1941 ff. 173. * * * Das Eigentum Privater - Grundpfeiler der sozialen Marktwirtschaft, Führungsakademie der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, Studienauftakt 1994, FWI-Report 1994, S. 3 ff. 174. * * * Handel mit Geist. Varia Antiquaria, Festschrift für Karl Härtung zum 80. Geburtstag, München 1994, S. 85 ff. 175. Auf dem Weg zum „Unsichtbaren Staat" - Entöffentlichung der Staatsgewalt, Festschrift für Herbert Schambeck, Berlin 1994, S. 295 ff. 176. „Gesetzlicher Richter" - vom Vorsitzenden bestimmt?, NJW 1995, S. 285 ff. 177. * * * Der europäische Eigentumsbegriff - Schwächerer Eigentumsschutz als in Deutschland?, Verfassungsrecht im Wandel - Wiedervereinigung Deutschlands - Deutschland in der Europäischen Union - Verfassungsstaat und Föderalismus, Festschrift zum 180jährigen Bestehen der Carl Heymanns Verlag KG, Köln/Berlin/Bonn/München, 1995, S. 395 ff. 178. Ausforschungsbeschlagnahme - Zur Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme von Bankbelegen, BB 1995, S. 525 ff. 179. * * * Das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz - ein Gleichheitsverstoß, NJW 1995, S. 1513 ff. 180. * * * Steuer- und Eigentumswende - die Einheitswert-Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, S. 2591 ff. 181. Einheitswert von Grundstücken und Privateigentum, in: Die Bedeutung des Eigentums in unserer Gesellschaft, Hanns-Seidel-Stiftung, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, 1995, S. 127 ff. 182. * * * Verfassungsschranken der Unternehmensbelastungen - Personalzusatzkosten und „finanzielle Leistungsfähigkeit" (BVerfG), NJW 1996, S. 1511 ff. 183. Welthöchste Personalzusatzkosten - und noch wettbewerbsfähig? Volkswirtschaftliche Korrespondenz 1996, Nr. 3. 184. * * * Fremdlasten der Sozialversicherung - ein schwerwiegender Verfassungsverstoß, NZS 1996, S. 97 ff. 185. * * * Ertragswertverfahren - sachgerechte Bewertung des Grundbesitzes. Verfassungsbedenken gegen ein verallgemeinertes Sachwertverfahren, DB 1996, S. 595 ff. 186. * * * Umbau des Sozialstaates - Besinnung auf die Grundlagen der Sozialversicherung, BB 1996, Beilage 6 zu Heft 13, 1996. 187. * * * Rückgabe der Schlösser - Ein Gebot von Recht, Geschichte, Kultur. Burgen, Schlösser, Gutshäuser in Sachsen. Veröffentlichungen der Deutschen Burgenvereinigung e.V., Reihe C, Stuttgart 1996, S. 530 ff. 188. Personalzusatzkosten - Belastungen der Betriebe ohne Grenzen?, GewArch 1996, S. 129 ff.

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189. Leitungsämter auf Zeit?, ZBR 1996, S. 289 ff. 190. * * * Marktoffenes Verfassungsrecht, Festschrift für Martin Kriele, München 1997, S. 253 ff. 191. „Abwägung überall" - Gefahr für den Rechtsstaat, NJW 1997, S. 636 ff. 192. Verfassungsgrenzen privater Selbstregulierung, in: Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich, in: Michael Kloepfer (Hg.), Selbststeuerung und Selbstregulierung in der Technikentwicklung und im Umweltschutz, Berlin 1998, S. 151 ff. 193. Demokratie - Auflösung der Staatseinheit, in: Die Einheit des Staates (Hg. Otto Depenheuer/Markus Heintzen/Matthias Jestaedt/Peter Axer), Heidelberg 1998, S. 29 ff. 194. Der Verfassungschutz des Handwerks - Die Abgrenzung Handwerk - Industrie, GewArch 1997, S. 393 ff. 195. Personaleinsparungen ohne Aufgabenreduktion?, ZBR 1998, S. 73 ff. 196. Handwerksrecht und Europarecht - Verstößt der Große Befähigungsnachweis gegen Gemeinschaftsrecht?, GewArch 1998, S. 445 ff. 197. Antithesen-Theorie für eine Staatslehre der Demokratie, JZ 1998, S. 861 ff. 198. Wege zum Bauland, Adolf-Weber-Stiftung, Volkswirtschaftliche Korrespondenz 1998, Nr. 8. 199. La revisione della Costituzione in Germania, in: La revisione delle Costituzioni, Studi dell'Universitä di Urbino 1999, S. 103 ff.

IV. Berichte Zusammenfassung der Aussprachen der wirtschaftswissenschaftlichen Kolloquien der AdolfWeber-Stiftung (jeweils zusammen mit den Referenten) - Bd. I, Berlin 1977, Werner Ehrlicher, Grenzen der steuerlichen Belastbarkeit des Produktivvermögens, S. 62 ff. - Bd. II, Berlin 1977, Helmuth Seidenfuß, Ostverkehr, S. 45 ff. - Bd. III, Berlin 1978, Wolfram Engels, Bankenbeteiligung an Industrieunternehmen, S. 39 ff. - Bd. IV, Berlin 1979, Karl-Heinrich Hansmeyer, Umbau des Steuersystems, S. 79 ff. - Bd. V, Berlin 1979, Norbert Kloten, Währungsunsicherheit, S. 36 ff. - Bd. VI, Berlin 1980, Helmut Winterstein, Steigende Sozialabgaben - eine zwangsläufige Entwicklung?, S. 45 ff. - Bd. VII, Berlin 1981, Hans Willgerodt, Die Krisenempfindlichkeit des internationalen Währungssystems, S. 75 ff. - Bd. VIII, Berlin 1981, Dietrich Kebschull, Nach Energiekrise - Rohstoffkrise, S. 29 ff. - Bd. IX, Berlin 1982, Willy Kraus, Die japanische Herausforderung, S. 110 ff.

Schriftenverzeichnis - Bd. X, Berlin 1983, Ernst Helmstädter, Wirtschaftsförderung - für „Starke" oder „Schwache"?, S. 32 ff. - Bd. XI, Berlin 1984, Manfred Neumann, Arbeitszeitverkürzung gegen Arbeitslosigkeit?, S.49ff. - Bd. XII, Berlin 1985, Konrad Littmann, Steuerreform statt Tarifanpassung, S. 50 ff. - Bd. XIII, Berlin 1986, Eduard Gaugler/Hans-Günter Krüsselberg, Flexibilisierung der BeschäftigungsVerhältnisse, S. 66 ff. - Bd. XIV, Berlin 1987, Norbert Kloten, Wege zu einer Europäischen Währungsunion, S. 31 ff. - Bd. XV, Berlin 1988, Franz Klein, Steuerreform und Wirtschaft, S. 34 ff. - Bd. XVI, Berlin 1989, Wolfgang Roller, Globale Finanzmärkte und Risikomanagement, S. 35 ff. - Bd. XVII, Berlin 1990, Paul Klemmer, Umweltschutz und Wirtschaftlichkeit, S. 43 ff.

Autorenverzeichnis Professor Dr. Peter Badura, Universität München Professor Avv. Antonio Baidassare, Présidente emerito della Corte Costituzionale Rom Professor Dr. Richard Bartlsperger,

Universität Erlangen-Nürnberg

Professor Dr. Ulrich Battis, Humboldt-Universität Berlin Professor Dr. Norbert Berthold, Universität Würzburg Professor Dr. Dieter Blumenwitz, Universität Würzburg Professor Dr. Yvonne Bongert, Université Paris I I Panthéon-Assas Professor Dr. Michael Brenner, Universität Jena Professor Dr. Rüdiger Breuer, Universität Bonn Professor Dr. Dr. h. c. Martin Bullinger, Universität Freiburg i. Br. Professor Dr. Joachim Burmeister, Universität Köln Professor Dr. Dr. h. c. mult. Claus-Wilhelm Canaris, Universität München Professor Dr. Otto Depenheuer, Universität Köln Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio, Universität München Professor Dr. Ernst Dürr, Universität Erlangen-Nürnberg Professor Dr. Dirk Ehlers, Universität Münster Professor Dr. Werner Ehrlicher,

Universität Freiburg i. Br.

Professor Dr. Dr. h. c. Michel Fromont, Université Paris I Panthéon-Sorbonne Professor Dr. Max-Emanuel Geis, Universität Konstanz Professor Dr. Volkmar Götz, Universität Göttingen Professor Dr. Markus Heintzen, Freie Universität Berlin Professor Dr. Christian Hillgruber,

Universität Erlangen-Nürnberg

Professor Dr. Peter M. Huber, Universität Jena Professor Dr. Dr. h. c. Josef Isensee, Universität Bonn Professor Dr. Dr. h. c. mult. Otmar Issing, Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank Frankfurt am Main, Universitäten Würzburg und Frankfurt am Main Professor Dr. Ulrich Karpen, Universität Hamburg Professor Dr. Paul Kirchhof,

Universität Heidelberg

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Autoren Verzeichnis

Professor Dr. Michael Kloepfer,

Humboldt-Universität Berlin

Professor Dr. Franz-Ludwig Knemeyer, Universität Würzburg Professor Dr. Helmut Lecheler, Freie Universität Berlin Professor Dr. Heinrich List, Präsident des Bundesfinanzhofs a. D., München Professor Dott. Armando Mannino, Université di Firenze Professor Dr. Hartmut Maurer, Universität Konstanz Professor Dr. Dr. h. c. Boris Meissner, Universität Köln Professor Dr. Dr. Detlef Merten, Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Professor Dr. Fritz Ossenbühl, Universität Bonn Professor Dr. Hans-Jürgen Papier, Universität München Professor Dr. Dr. Dietrich Pirson, Universität München Professor Dr. Günter Püttner, Universität Tübingen Professor Dr. Albrecht Randelzhofer,

Freie Universität Berlin

Professor Dr. Bernhard Raschauer, Universität Wien Professor Dr. Gerd Roellecke, Universität Mannheim Professor Dr. Walter Rudolf, Universität Mainz Professor Dr. Michael Sachs, Universität Düsseldorf Professor Dr. Karl Albrecht Schachtschneider, Universität Erlangen-Nürnberg Professor Dr. Dr. h. c. mult. Herbert Schambeck, Universität Linz Professor Dr. Reiner Schmidt, Universität Augsburg Professor Dr. Matthias Schmidt-Preuß, Universität Erlangen-Nürnberg Professor Dr. Rupert Scholz, Universität München Professor Dr. Udo Steiner, Universität Regensburg Professor Dr. Winfried

Veelken, Universität Erlangen-Nürnberg

Professor Dr. Max Vollkommen Universität Erlangen-Nürnberg Professor Dr. Christian Watrin, Universität Köln Professor Dr. Thomas Würtenberger,

Universität Freiburg i. Br.

Professor Dr. Burkhard Ziemske, Universität Erlangen-Nürnberg